Ordnung und Chaos: Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte 3515123229, 9783515123228

Die Frage nach dem Verhältnis von "Ordnung und Chaos" betrifft die Organisation von Gesellschaft, Staat und Wi

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German Pages 264 [266] Year 2019

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Table of contents :
INHALT
(Günther Schulz)
Ordnung und Chaos – Trends und Brüche
Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge – Zur Einführung
(Antje Schloms) Soziale Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft – Trends und Brüche in der Geschichte der Waisenfürsorge 1648 bis 1806
(Werner Scheltjens)
Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel
neukonfiguriert – Ein Werkstattbericht
(Margrit Schulte Beerbühl)
Coping with Chaos – Geographische Dimension und institutionelle
Neuerungen während der weltweiten Spekulationsblase von 1799
(Katharina Mühlhoff)
Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen – Life History Theorie und die
Evolution des Demografischen Übergangs in Baden im 19. Jahrhundert
(Matthias Morys)
Der weltweite Übergang zum klassischen Goldstandard
in den 1870er Jahren – Reiner Zufall oder tiefere Kräfte?
(Felix Selgert)
Die Politische Ökonomie des Investorenschutzes in Deutschland,
1870–1937
(Jochen Streb)
Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb
(Erik Grimmer-Solem / Alfred Reckendrees / Gerhard Wegner / Joachim Zweynert)
Das Konzept der „Limited and Open Access Orders“ und die politischökonomische
Entwicklung Deutschlands zwischen 1815 und 1933
(Marcel Boldorf)
Konflikte zwischen Industrieeliten und Arbeiterschaft in der
europäischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg
(Gisela Hürlimann)
Marktgerechtigkeit und Steuer(un)gerechtigkeit – Internationale
Ordnungsvorstellungen und die schweizerischen Steuerwelten
(Ute Engelen / Rüdiger Gerlach / Stephanie Hagemann-Wilholt / Nina Kleinöder)
Sozialpolitik im Wandel – Unternehmen nach 1945
zwischen Selbstverpflichtung und äußeren Zwängen
(Ole Sparenberg)
Rohstoffpolitik und Neue Weltwirtschafts ordnung in den 1970er Jahren
Autorinnen und Autoren
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Ordnung und Chaos: Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte
 3515123229, 9783515123228

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Ordnung und Chaos Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Herausgegeben von Günther Schulz

Geschichte Franz Steiner Verlag

VSWG – Beiheft 243

Günther Schulz (Hg.) Ordnung und Chaos

vierteljahrschrift für sozialund wirtschaftsgeschichte – beihefte Herausgegeben von Mark Spoerer, Jörg Baten, Markus A. Denzel, Thomas Ertl, Gerhard Fouquet und Günther Schulz

band 243

Ordnung und Chaos Trends und Brüche in der Wirtschaftsund Sozialgeschichte Herausgegeben von Günther Schulz Erträge der 26. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1. Deutscher Kongress für Wirtschaftsgeschichte) vom 11. bis 14. März 2015 in Münster

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Totalausverkauf in einem Goldwarengeschäft. Berlin, Friedrichstraße 150. Aufgenommen im September 1931. bpk | Bayerische Staatsbibliothek | Archiv Heinrich Hoffmann Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Satz: Jeanette Frieberg, Buchgestaltung | Mediendesign, Leipzig Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12322-8 (Print) ISBN 978-3-515-12323-5 (E-Book)

INHALT Günther Schulz Ordnung und Chaos – Trends und Brüche Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge – Zur Einführung ........................ 7 Antje Schloms Soziale Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft – Trends und Brüche in der Geschichte der Waisenfürsorge 1648 bis 1806..... 15 Werner Scheltjens Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert – Ein Werkstattbericht .......................................................... 29 Margrit Schulte Beerbühl Coping with Chaos – Geographische Dimension und institutionelle Neuerungen während der weltweiten Spekulationsblase von 1799 ............... 53 Katharina Mühlhoff Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen – Life History Theorie und die Evolution des Demografischen Übergangs in Baden im 19. Jahrhundert ...... 77 Matthias Morys Der weltweite Übergang zum klassischen Goldstandard in den 1870er Jahren – Reiner Zufall oder tiefere Kräfte? ............................. 95 Felix Selgert Die Politische Ökonomie des Investorenschutzes in Deutschland, 1870–1937 ................................................................................................... 113 Jochen Streb Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb .............................................. 135 Erik Grimmer-Solem / Alfred Reckendrees / Gerhard Wegner / Joachim Zweynert Das Konzept der „Limited and Open Access Orders“ und die politischökonomische Entwicklung Deutschlands zwischen 1815 und 1933 ........... 153 Marcel Boldorf Konflikte zwischen Industrieeliten und Arbeiterschaft in der europäischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg ............................ 169

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Inhalt

Gisela Hürlimann Marktgerechtigkeit und Steuer(un)gerechtigkeit – Internationale Ordnungsvorstellungen und die schweizerischen Steuerwelten .................. 187 Ute Engelen / Rüdiger Gerlach / Stephanie Hagemann-Wilholt / Nina Kleinöder Sozialpolitik im Wandel – Unternehmen nach 1945 zwischen Selbstverpflichtung und äußeren Zwängen .................................. 207 Ole Sparenberg Rohstoffpolitik und Neue Weltwirtschaftsordnung in den 1970er Jahren .. 241 Autorinnen und Autoren .................................................................................... 263

ORDNUNG UND CHAOS – TRENDS UND BRÜCHE WIRTSCHAFTS- UND SOZIALHISTORISCHE BEITRÄGE Zur Einführung Günther Schulz, Bonn Die 26. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) fand vom 11. bis zum 14. März 2015 in der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster, statt, erstmals gemeinsam mit dem Wirtschaftshistorischen Ausschuss im Verein für Socialpolitik. Aus der großen Zahl der aufgrund einer Ausschreibung eingereichten Beiträge wählte das Organisationskomitee 57 für die Tagung aus, gruppiert in 20 Sektionen. Ein Teil der Vorträge war, entsprechend der Tradition der GSWG, auf ein gemeinsames Thema ausgerichtet. Es lautete: „Ordnung und Chaos – Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte“. Darüber hinaus wurden, gemäß der Tradition des Wirtschaftshistorischen Ausschusses, weitere Beiträge ohne thematische Bindung in einem offenen Teil präsentiert. Entsprechend der thematischen und zeitlichen Weite des Faches waren Beiträge im Zeitraum vom Mittelalter bis zur jüngsten Vergangenheit erbeten worden, die die genannte Fragestellung aus der Perspektive von Individuen, Unternehmen, Gruppen bzw. Staaten etc. untersuchen. Fallstudien waren ebenso willkommen wie vergleichende Beiträge. Auf der Grundlage der themenbezogenen Vorträge entstanden die zwölf Aufsätze des vorliegenden Bandes. „Ordnung und Chaos“ ist ein großes, elementares Thema, eine anthropologische und transkulturelle Grundfrage. Die einschlägige Literatur füllt Bibliotheken. Das Thema ist eine Grundproblematik der Religionen – im Christentum ebenso wie im Judentum, im Konfuzianismus etc. – und der Wissenschaften – von der Philosophie über die Philologien, Politologie bis zur Mathematik, den Naturwissenschaften und darüber hinaus. Nicht zuletzt war es für Auguste Comte das Grund- und Gründungsthema der Soziologie. Es ist eine Grundfrage der Politik und betrifft die Organisation von Gesellschaft und Staat, der Verbände und Institutionen. Es tangiert das persönliche, individuelle Leben und den Alltag des Einzelnen und ist Gegenstand einer überaus vielfältigen populären Literatur. Es ist nicht zuletzt die Frage nach Sinn und Glück. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat immer wieder bedeutende Beiträge zu der Grundproblematik beigesteuert: auf dem Feld der Dogmengeschichte und Ordnungspolitik – pars pro toto genannt seien die Auseinandersetzung über den Keynesianismus, ferner über die Rekonstruktionstheorie im Anschluss an Ferenc Jánossy zur Erklärung des deutschen Wirtschaftsaufschwungs nach 1945 sowie im Kontext der jüngeren Diskussionen über die Soziale Marktwirtschaft („Rheinischer Kapitalismus“) und der Verteilung von Armut und Reichtum (Piketty und andere).

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Ferner sei auf die anregenden großen volkswirtschaftlichen Untersuchungen verwiesen – beispielsweise Mancur Olsons Rise and Decline of Nations (1982). Und nicht zuletzt auf die empirischen Untersuchungen im Anschluss an den von Joseph A. Schumpeter entwickelten Topos vom Unternehmer als schöpferischem Zerstörer und damit als entscheidender Kraft des Kapitalismus. Ferner sei auf die zahlreichen betriebswirtschaftlich angeregten historischen Untersuchungen zur Organisation von Unternehmen sowie auf soziologisch inspirierte Studien über die Organisation von Gewerkschaften, Arbeitnehmer- und weiteren Verbänden hingewiesen. Diese wenigen, willkürlich herausgegriffenen Beispiele mögen illustrieren, wie stark die Grundspannung von Chaos und Ordnung auch die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung stets angeregt hat und weiter anregt. Daran knüpfte die GSWG mit der Wahl des Tagungsthemas an und fragt mit der Fokussierung auf „Trends und Brüche“ insbesondere danach, was in den Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft Wandel bewirkte, was Beharrung, was Innovation, Modernisierung. Wie wurden Übergänge und neue Ordnungen gestaltbar und gestaltet? Damit rücken Fragen nach der Gewichtung der Gestaltungsmacht von Individuum und Gesellschaft in den Blick, von Struktur und Ereignis, push und pull, die Bedeutung von Norm und Abweichung, Invention und Innovation, Intensivierung und Beschleunigung. Ferner stellen sich methodische Fragen wie die nach der Konstruktion, Reichweite und Erklärungskraft von Modellen und Typen, nach Extrapolation und Parallelisierung. Das Thema bietet die Gelegenheit, sowohl makroökonomische als auch mikroökonomische Zugriffe zusammenzubringen, Innovationen, evolutorische ebenso wie Reformansätze einzubinden und auch methodisch über die Möglichkeiten und Probleme etwa von Modellbildung und Extrapolation, von Typenbildung und Individualisierung sowie der Wirkmächtigkeit von Strukturen und Institutionen (Rechtsformen, Staaten, Verbänden etc.) nachzudenken. Die zwölf Beiträge des vorliegenden Bandes gehen diesen Themenkomplex aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen empirischen Feldern an und ergänzen einander auf diese Weise. Kontinuitäten und Umbrüche in der Waisenfürsorge im Deutschen Reich vom Dreißigjährigen Krieg bis 1806 untersucht Antje Schloms. Sie fragt, welche politischen, ökonomischen und sozialen Einflüsse hier zu Umbrüchen führten. Auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung kommt sie zu dem Ergebnis, dass Gründungen sozialer Einrichtungen meist zugleich Teil einer inszenierten Wiederherstellung von Ordnung waren. Faktoren wie Finanzkrisen und Kriege hätten bei der Entwicklung der Waisenfürsorge nur selten eine Rolle gespielt, vielmehr eher als Legitimation gedient sowie als optisch sichtbare Mahnung, Ordnung wiederherzustellen. Hingegen hätten sich „echte Umbrüche in der Versorgung, Unterbringung und Erziehung von Waisenkindern“ von „innen heraus“ entwickelt: durch Einflüsse aus Theologie, Medizin, Pädagogik bzw. Philosophie. Freilich hätten auch diese Strömungen das Ziel vertreten, „nützliche Mitglieder des Staates und der Gesellschaft zu erziehen, deren Versorgung wiederum möglichst wenig kosten“ sollte. Werner Scheltjens Beitrag „Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert“ unternimmt eine Revision der wirtschaftlichen Bedeutung der polnischen Teilungen auf der Grundlage einer umfangreichen Aus-

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wertung der dänischen Sundzollregister in dem Projekt Sound Toll Registers Online (STRO): Von 2009 bis 2013 wurden die Angaben der im Kopenhagener Reichsarchiv aufbewahrten etwa 700 Zollbücher für den Zeitraum von 1633 bis 1857 in einer Datenbank elektronisch erfasst. Diese gewaltige quantitative Leistung ermöglicht Scheltjens eine neue Interpretation der maritimen Dimension der polnischen Teilungen. Als Ergebnis seines „Werkstattberichts“ hält er fest, dass die Teilungen „massiven Einfluss auf die Struktur des Transports und des Handels im Ostseeraum in den späten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts“ hatten. Er belegt dies empirisch, anhand der quantitativen Analyse im Einzelnen. Er zeigt, dass sich nicht nur die Position Memels und Danzigs erheblich veränderte, sondern auch, in einem langen Trend, die Warenströme zwischen Preußen, Russland, Großbritannien und weiteren Staaten. Margrit Schulte Beerbühl analysiert in ihrem Beitrag „Coping with Chaos: geographische Dimension und institutionelle Neuerungen während der weltweiten Spekulationsblase von 1799“ erstmals die Auswirkungen, die das Platzen einer gewaltigen Hamburger Spekulationsblase hatte. Sie ordnet das Geschehen in die Spekulationskrisen des 18. Jahrhunderts ein und analysiert im Detail die Hintergründe der Krise, die Hamburg am Ende eines „goldenen Zeitalters“ traf. Es handelte sich im Wesentlichen um eine Liquiditätskrise aufgrund des Preisverfalls von Zucker. Sie weitete sich rasch weltweit aus, riss innerhalb von sechs Wochen 136 Handels- und Bankhäuser mit sich und bewirkte „eine schwere Rezession“. Bald kam es zu innovativen Strategien der Krisenbewältigung. Die USA führten unter dem Eindruck der Krise ein föderales Konkursgesetz ein. Der Hamburger Senat setzte die Konkursordnung zeitweise außer Kraft und änderte das Konkursrecht. Umfangreich wurde Liquidität bereitgestellt. Gestützt wurde freilich meist nur der, der „too big to fail“ war. Katharina Mühlhoff unternimmt in ihrem Beitrag „Life History Theorie und die Evolution des Demografischen Übergangs in Baden im 19. Jahrhundert“ einen interdisziplinären „Erkundungsversuch“, um Ergebnisse der Evolutionstheorie für wirtschaftshistorische Fragestellungen nutzbar zu machen. Dazu skizziert sie zunächst die biologische Klassifikation und Deutung der Fortpflanzungsstrategien verschiedener Arten mittels der Life History Theorie, die Wachstum und Fortpflanzung eines Lebewesens als permanentes Optimierungsproblem versteht. Sodann demonstriert sie anhand der Entwicklung in Baden, „dass medizinischer Fortschritt unter bestimmten Umständen den herrschenden Selektionsdruck spürbar verändern konnte“. Und schließlich schätzt sie mittels eines ökonometrischen Modells die statistische „Wirkung fortschreitender Medikalisierung auf das Reproduktionsverhalten“. Ihr Ziel ist es, empirisch zu prüfen, ob bzw. inwieweit naturwissenschaftliche Befunde auf sozialwissenschaftliche Forschungsfelder übertragen werden können. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass hohe Risiken „schnelle“ Lebenszyklusstrategien begünstigen – demographisch gewendet: hohe Kinderzahl –, hingegen stabile Verhältnisse „langsame“ Strategien hervorbringen (demographisch: niedrige Kinderzahl). Ihr Fazit lautet, „dass menschliche Entscheidungen von physiologischen und psychosozialen Prozessen abhängen, die nur bedingt dem Bild des rational planenden und autonom handelnden Akteurs der klassischen ökonomischen Modellwelt entsprechen.“

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Matthias Morys fragt nach den Ursachen für den weltweiten Übergang zum klassischen Goldstandard in den 1870er Jahren. Dies schuf ein System fester Wechselkurse, das bis 1914 Bestand hatte und heute häufig herangezogen wird, um Lehren für das Funktionieren von Währungsunionen zu gewinnen – gerade auch mit Blick auf den Euro. Morys fragt erstens nach den Motiven bezüglich des Verhältnisses zwischen der Einführung des deutschen Münzgesetzes 1873 und der französischen Reaktion bezüglich der Prägung von Silbermünzen; zweitens nach dem Einfluss von äußerem Zwang bzw. lange gehegten Wünschen; drittens, warum sich auch viele andere Staaten dem Gold zuwandten. Er unterscheidet eine „deterministische“ Erklärung (Charles Kindleberger) und eine „chaotische“ (Marc Flandreau) und ordnet diese in das Schwerpunktthema ein, wobei Kindleberger für Ordnung bzw. Trend steht. Unter Einbeziehung auch der frühen englischen Entscheidung für den Goldstandard, der Lateinischen Münzunion 1865 und der ursprünglichen Silberstandardländer kommt Morys zu dem Ergebnis, dass, ausgehend von gewaltigen Goldfunden in Kalifornien und Australien, schon lange eine gesamteuropäische Bewegung zum Goldstandard eingesetzt hatte, der Deutschland und Frankreich folgten. Die Einführung des Goldstandards sei also, so Morys, kein „chaotischer“ Vorgang gewesen, sondern Ergebnis eines langen und nachhaltig wirkenden Trends. Felix Selgerts Beitrag „Die Politische Ökonomie des Investorenschutzes in Deutschland, 1870–1937“ ist im Dreieck von Macht, Ordnung und Spieltheorie verortet. Der Autor untersucht den Aktionärsschutz und die Offenlegungsstandards im deutschen Aktienrecht als Beitrag zur Analyse des Einflusses politischer Institutionen und Gruppen auf ökonomische Entwicklungsprozesse. Mithilfe der Veto-Spieler-Theorie von George Tsebelis analysiert er unter Auswertung von Quellen aus dem Bundesarchiv und aus Landesarchiven, welche Akteure beteiligt waren, welchen Einfluss sie auf die Gesetzgebung im Untersuchungszeitraum hatten und welche Motive sie dabei leiteten. Er zeigt, wie sich der Aktionärsschutz und die Offenlegungsstandards in Kaiserreich, Weimarer Republik und unter dem NS-Regime veränderten und arbeitet die jeweiligen Präferenzen, „optimalen Politikpunkte“ und Machtkonstellationen heraus. Sein Fazit lautet, „dass die durch politische Institutionen mitbestimmte Verteilung von Vetomacht sowie die Position der Präferenzen der Veto-Spieler bezüglich des Status quo wichtige Erklärungsvariablen sind“ und dass „politische Institutionen die Bildung wirtschaftlicher Institutionen [beeinflussten], die wiederum eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands spielten“. Der Beitrag von Jochen Streb widmet sich der „Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb“ und damit der Frage nach dauerhaften, nachhaltigen Entwicklungen in einem weitgehend von Unvorhergesehenem, Unerwartetem – von „Chaos“ – geprägten Feld. Streb untersucht Persistenz mithilfe der Auswertung von Patentstatistiken, vornehmlich in Deutschland, aber auch in den USA und weiteren Staaten, seit etwa den 1860er/70er Jahren. Eingangs diskutiert er ausführlich die Eignung der Patente als „Innovationsindikatoren“. Auf Grundlage der ermittelten Daten stellt er sodann die Rangfolge einzelner Länder und die Verteilungen dar. Er fragt nach Kontinuitäten über die Zeit und innerhalb von Regionen. Besondere Aufmerksamkeit richtet er auf die deutsche Chemieindustrie als eine der innovativsten Branchen. An ihrem

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Beispiel testet er ein Modell Harald Degners, das dieser in seiner Studie „Sind große Unternehmen innovativ oder werden innovative Unternehmen groß?“ (2012) entwickelt hat. Aufgrund seiner Daten kommt er zu einer differenzierten Antwort: Nicht zuletzt war auch die Verteilung der Patente in einzelnen Zeiträumen verschieden. Sein Fazit lautet, dass sich herausragende Innovationsfähigkeit „auf wenige Nationen, Regionen und Unternehmen“ beschränke und es insofern innerhalb des „Chaos“ wirtschaftlicher Kreativität ein wenn nicht Ordnungs-, so doch Systematisierungsmuster pfadabhängiger „Akkumulation von Innovationserfahrung“ gebe. Erik Grimmer-Solem, Alfred Reckendrees, Gerhard Wegner und Joachim Zweynert greifen in ihrem Beitrag „Das Konzept der ‚Limited and Open Access Orders‘ und die politisch-ökonomische Entwicklung Deutschlands zwischen 1815 und 1933“ einen vieldiskutierten Ansatz auf, den die amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker Douglass North, John Wallis und Barry Weingast in ihrem Buch „Violence and Social Orders“ (2009) entwickelt hatten. Diese hatten gefragt, warum manche Gesellschaften sehr reich wurden, während andere zurückblieben – und warum in manchen Staaten demokratische, wirtschaftlich leistungsfähige Marktwirtschaften entstanden, in weit zahlreicheren anderen hingegen Eliten Politik und Wirtschaft beherrschen. Die Autoren hatten eine Theorie entwickelt, um die Transformation in einigen westlichen Staaten von natural states bzw. limited access orders zu open access orders zu erklären, die allen Bürgern gleiche Rechte und Möglichkeiten gewähren. Die Autoren des vorliegenden Aufsatzes setzen sich das Ziel, diesen Ansatz in Bezug auf die politisch-ökonomische Entwicklung Deutschlands zwischen 1815 und 1933 zu prüfen. Dazu stellen sie das Konzept vor und skizzieren weit ausgreifend die politisch-ökonomische Entwicklung Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert, insbesondere in der Weimarer Republik. Als Ergebnis regen sie zu Modifikationen und Erweiterungen des Modells an: Zum einen beinhalte das Modell keine internationalen Dimensionen. Diese seien aber erforderlich, um die Entwicklungen hierzulande zu erklären, dies sei im Rahmen eines isolierten Nationalstaats nicht möglich. Zum anderen müsse das Modell auch die Möglichkeit einbeziehen, „dass offene Ordnungen durch demokratische Prozesse eingeschränkt werden können“. Demokratische Prozesse müssten keineswegs – so die Autoren des vorliegenden Beitrags, der aus einem Panel der Tagung hervorging – immer Stabilität hervorbringen, sondern könnten auch destabilisierend auf die politische und ökonomische Ordnung wirken. Eine entsprechende Modifikation des Modells sei angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik erforderlich, werde aber von North, Wallis und Weingast nicht vorgesehen. Marcel Boldorf untersucht „Konflikte zwischen Industrieeliten und Arbeiterschaft in der europäischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg“. Er fragt nach Zäsuren, Aufbrüchen und Kontinuitäten in den von Deutschland besetzten Ländern, nach Konflikten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrien europäischer Länder dadurch entstanden, dass Unternehmer und leitende Angestellte zuvor mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten. Schon die Nationalsozialisten hatten für ihr Verwaltungshandeln in den besetzten Gebieten unterschiedliche Typen entwickelt (Bündnis-, Aufsichts-, Regierungs- und Kolonialverwaltung). Bei den Nachkriegskonstellationen unterscheidet Boldorf das „Konfliktmodell“ (z. B.

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Frankreich, Italien, Jugoslawien und Griechenland) vom „Konsensmodell“ (z. B. skandinavische Länder) sowie das sozialistische Modell (z. B. die Tschechoslowakei) und die besondere Lage im geteilten Deutschland. Er analysiert die Strategien, mit denen die Eliten ihre Position in der Nachkriegszeit verteidigten: insbesondere durch Vermeidung von Strafverfolgung, Bildung von Netzwerken und Abwehr von Verstaatlichung. Ferner typisiert er Strategien der gesellschaftlichen Befriedung: Umgang mit Streikbewegungen, sozialpolitische und wirtschaftliche Maßnahmen. Auch wenn nationalstaatliche Prägungen überwogen hätten und keine trennscharfe Typologisierung möglich sei, so Boldorf, biete die Unterscheidung von Konfliktund Konsensmodell doch einen tragfähigen Ansatz, der zum Verständnis der unterschiedlichen politischen Kulturen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa beitragen könne. Gisela Hürlimann untersucht in ihrem Beitrag über „Internationale Ordnungsvorstellungen und die schweizerischen Steuerwelten“ Fragen der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit von 1945 bis zur Gegenwart. Die Schweiz mit ihrem weitgespannten und überaus differenzierten und verflochtenen System unterschiedlicher Fiskalhoheiten war und ist weitgehend noch „ein Universum aus Tausenden von Steuerwelten“. Neben der ordentlichen Besteuerung mit den Besteuerungsgrundsätzen Allgemeinheit, Gleichmäßigkeit und Leistungsfähigkeit existiert eine nicht selten konfligierende Sphäre der privilegierten Besteuerung nach markt- und wettbewerblichen Grundsätzen. Der Beitrag analysiert die spannungsreichen Auseinandersetzungen um die schweizerische Steuerpolitik zwischen Standardisierung und Differenzierung, die Pendelschläge zwischen der Dominanz von Umverteilungsund Marktorientierungspolitik – sowie die realisierten Veränderungen – unter sowohl internem Druck als auch unter dem Einfluss von OECD und den Beschlüssen und Appellen der G7- und G20-Staaten bis zu den jüngsten Entwicklungen der new global fiscal governance. Den Wandel der betrieblichen Sozialpolitik zwischen Selbstverpflichtung und äußeren Zwängen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren Ute Engelen, Rüdiger Gerlach, Stephanie Hagemann-Wilholt und Nina Kleinöder. Ziel der vier Autor/inn/en ist es, die These vom Bedeutungsverlust des freiwilligen Sozialengagements von Unternehmen zu prüfen. Dazu erörtern sie auf vier Themenfeldern, wie sich Formen, Motive und Funktionen der betrieblichen Sozialleistungen änderten, welche Akteure dies bestimmten und welche Rahmenbedingungen und Pfadabhängigkeiten herrschten. Die Untersuchungsfelder sind Arbeitsschutz bzw. Unfallverhütung in der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie (Kleinöder); betriebliche Wohnungspolitik in vergleichender Sicht am Beispiel des Volkswagenwerks in Wolfsburg und der Automobiles Peugeot in Sochaux (Engelen); die betriebliche Altersversorgung (Gerlach); und die Sozialberichterstattung („Sozialbilanzen“, seit 1972) als unternehmerische Publikationsoffensive in der sich ändernden Sozial- und Kommunikationspolitik am Beispiel der Deutschen Shell seit 1975 (Hagemann-Wilholt). Die Autor/inn/en fragen nach den jeweiligen Formen betrieblicher Sozialpolitik und deren Gewicht, nach dem Einfluss und Erfolg der Akteure und nach den Ursachen: innerbetriebliche Prozesse oder äußere Zwänge? Die aus einem gemeinsamen Panel hervorgegangenen Beiträge arbeiten, sorgsam aufeinan-

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der abgestimmt, ein Bündel von Kausalfaktoren aus äußeren Zwängen und innerbetrieblichen Triebkräften heraus. Diese führten u. a. zu mehr Verrechtlichung, Demokratisierung der betrieblichen Sozialleistungen und Professionalisierung. In den 1970er Jahren habe ein „Übergang von der freiwilligen zur gewerkschaftlichen Sozialpolitik“ stattgefunden (Gerlach), ein Bruch. Insofern sind die Befunde auch ein Beitrag zur gegenwärtigen Strukturbruchdebatte: Sozialpolitik sei „vom Gegenstand der Unternehmenspolitik zur Verhandlungsmasse im gesellschaftlichen Interessenausgleich“ geworden. Die Konzepte betrieblicher Sozialpolitik müssten, so das Fazit der vier Verfasser/innen, „um weitere Kategorien politischer Regulierung, gesellschaftlichen Anspruchsdenkens, einer (öffentlichen) Kostendebatte und Mitbestimmungsrechte […] ergänzt werden“. Ole Sparenberg untersucht „Rohstoffpolitik und Neue Weltwirtschaftsordnung in den 1970er Jahren“. Er setzt bei der Befürchtung an, die viele Zeitgenossen aufgrund des ersten Ölpreisschocks 1973 hegten, dass die für die Industriestaaten günstige Ordnung der Weltmärkte im Chaos versinken oder durch eine andere Ordnung abgelöst werden könne. Er analysiert die Entwicklung der – anders als die Öl(preis)politik von der Forschung bislang recht stiefmütterlich behandelten – Metallrohstoffmärkte und die entsprechende Rohstoffpolitik bzw. -sicherung der Industriestaaten, insbesondere der Bundesrepublik. Die These des Autors lautet: Auch wenn die metallischen Rohstoffe von den Produzentenstaaten nicht (in ähnlicher Weise wie das Öl) als Hebel genutzt werden konnten, verloren die Betroffenen damals dennoch an Regelvertrauen und Handlungsfähigkeit. Das Gewicht der Rohstoffe für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der siebziger Jahre sei bislang unterschätzt worden. Der Autor untersucht die internationalen Interessenkonflikte und Verhandlungen, insbesondere die Rolle der UN, der OPEC, von Vereinigungen Metall exportierender Staaten, zahlreicher Metallrohstoffkartelle und die Handelspolitik der Industriestaaten. Dabei bezieht er die Entwicklung der Metallpreise und des Verbrauchs ein, der in den Industrieländern durch zahlreiche Produktinnovationen gezielt gedämpft wurde, sodass die Rohstoffkartelle bedeutungslos wurden und nicht mehr als politisch-wirtschaftlicher Hebel genutzt werden konnten. Dennoch hätten diese Konflikte politische Ressourcen gebunden und zu letztlich unproduktiven Vermeidungsstrategien geführt. Insgesamt sei die Rohstoffpolitik der 1970er Jahre Ausdruck einer „Transformationskrise“ der Weltwirtschaftsordnung. *

Ein herzlicher Dank gebührt allen, die zu der vorliegenden Publikation beigetragen haben. Zu nennen ist zum einen das Organisationskomitee der 26. Arbeitstagung der GSWG. Es bestand aus Carsten Burhop, Gerhard Fouquet, Ulrich Pfister, Nikolaus Wolf sowie dem Herausgeber des vorliegenden Bandes. Zu nennen sind ferner die Kolleg/inn/en im Vorstand der GSWG mit Dank für Unterstützung bei der Auswahl und Evaluierung der hier abgedruckten Beiträge: Jörg Baten, Gerhard Fouquet, Margit Grabas, Reinhold Reith, Jochen Streb und Paul Thomes. Besonderer, großer Dank gilt Regine Jägers und Lena Foerster, die mit viel Sorgfalt und Engagement die Beiträge für den Druck vorbereitet haben, und nicht zuletzt allen Autorinnen und Autoren, die Beiträge zu der vorliegenden Publikation beigesteuert haben.

SOZIALE ORDNUNG DER VORINDUSTRIELLEN GESELLSCHAFT Trends und Brüche in der Geschichte der Waisenfürsorge 1648 bis 1806 Antje Schloms, Mühlhausen/Thüringen Der Dreißigjährige Krieg stürzte die überkommene Ordnung ins Chaos. Dass Kriegshandlungen immer mit Verwüstungen und Bevölkerungsverlusten einhergehen, liegt in der Natur der Sache und ist weithin bekannt, dennoch gelten die Folgen des Dreißigjährigen Krieges in der Forschung als besonders schwerwiegend.1 Mehr als zwanzig Prozent der Reichsbevölkerung wurden während der Kriegshandlungen bis 1648 getötet, und eine ganze Generation war in dieser Krisenzeit groß geworden.2 Umherziehende Bettler, Arme und Waisen galten zunehmend als störend. Um Herr dieses Chaos zu werden, ging man das Problem auf zwei Ebenen an: Ein Weg bestand in einer steigenden Verordnungstätigkeit im Bereich der Guten Policey, die eine normative Ebene der Ordnung restituierte. Ein weiterer Lösungsversuch waren die durch bürgerliches, kirchliches und landesherrliches Engagement gegründeten Institutionen und Anstalten, auch um die Aufräumarbeiten und Versorgungsbemühungen für alle Bevölkerungsteile optisch sichtbar und erfahrbar zu machen. Dabei stellte hauptsächlich der Waisen- und Arbeitshausgedanke eine Möglichkeit dar, soziale Ordnung wieder herzustellen.3 Er bildete einerseits eine latente Drohkulisse für die zu versorgende Zielgruppe der Armen, Bettler und Herumstreunenden oder wie es zeitgenössisch hieß, für das ‚liederliche Gesindel‘, und inszenierte andererseits mehr als deutlich die Bestrebungen der Obrigkeit, die gewollte Ordnung zu wahren. Dieses sozial-karitative Handeln und Stiften war dabei nie völlig selbstlos, sondern ermöglichte es etwa den städtischen Eliten, die kommunale Politik langfristig mitzubestimmen und neben ihrem Seelenheil sich auch dauerhaft Memoria zu sichern.4

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Vgl. etwa die Überlegungen Wilsons, inwieweit dieser Krieg als ein ‚totaler Krieg‘ definiert werden kann. Peter H. Wilson: Was the Thirty Years War a ‚Total War‘?, in: Erica Charters / Eve Rosenhaft / Hannah Smith (Hg.): Civilians and War in Europe 1618–1815 (Eighteenth-century Worlds). Liverpool 2012, S. 21–35. Vgl. ebd., S. 26, 34. Vgl. Artur Dirmeier: Hospitalanlagen in der Stadt. Bürgerspitäler in Bayern, in: Ders. (Hg.): Organisierte Barmherzigkeit. Armenfürsorge und Hospitalwesen in Mittelalter und Früher Neuzeit (Studien zur Geschichte des Spital-, Wohlfahrts- und Gesundheitswesens 1). Regensburg 2010, S. 37–65, hier 37. Dort auch eine bibliographische Zusammenfassung jüngster Forschung. Vgl. Dirmeier: Hospitalanlagen (wie Anm. 3), S. 41.

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Antje Schloms

Spätestens seit der Frühen Neuzeit betrachtete die Gesellschaft Armut und vor allem Bettelei zunehmend als Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Dass entsprechende Äußerungen häufig zweifellos überspitzt waren – auch um die Gründung einer eigenen Armenanstalt zu legitimieren – verdeutlicht die Beobachtung, dass sich gleiche Argumentationsstrukturen vom ausgehenden 14. Jahrhundert5 bis weit in das 19. Jahrhundert finden lassen.6 Christen erhoben zwar die Hilfe für Arme und Notleidende zur Pflicht – durch Spenden, Versorgung in Herbergen und Hospitälern und obrigkeitlichen Schutz. Dennoch gab es von Beginn an Kriterien, ob Hilfe gewährleistet wurde oder nicht, bspw. die Arbeitsfähigkeit des Einzelnen. Ein armer, jedoch gesunder und durchaus arbeitsfähiger Bettler galt als Täuscher; er wurde bereits im Codex Justinians genannt, erfuhr aber seit der Zeit Karls des Großen vermehrt rechtliche Sanktionen und Abgrenzungen von bedürftigeren Gruppierungen.7 Bedingungslose Hilfestellung, etwa in Hospitälern, wurde ihm selten gewährt. Eine gewisse Skepsis gegenüber arbeitsfähigen, aber -unwilligen Bettlern hält sich bis in die Moralvorstellung heutiger Zeit.8 Ein zentrales Ziel des Waisen- und Arbeitshausgedankens war die Formung nützlicher Mitglieder der Gesellschaft. Nützlich meinte im zeitgenössischen Kontext einen nicht nur zu Arbeitsamkeit erzogenen Menschen, sondern zu einem, der zudem ökonomischen Nutzen brachte und damit zugleich den merkantilen Interessen einer Herrschaft oder Stadt diente. Somit war die Versorgung von Waisen in einer Anstalt nicht nur bloße Verwahrung. Nun mag die Untersuchung eines einzelnen oder einiger weniger Waisenhäuser nicht dazu beitragen, Ordnungsvorstellungen der Entstehungszeit, Umbrüche und die Wiederherstellung ‚unordentlicher‘ Zustände im Verständnis der Zeit zu erläu5

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Bereits 1370 erließ man in Nürnberg eine erste Bettelordnung, Augsburg scheint vor 1459 ebenfalls eine ältere Verordnung besessen zu haben, denn, so die Argumentation, zu viele Bettler störten die gute Ordnung und falsche Bettler würden nicht nur dem Armenwesen beschwerlich fallen, sondern auch die Almosen für wahrhaft Bedürftige schmälern. Vgl. u. a. Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der frühen Neuzeit (UTB 3271). Stuttgart 2009, S. 46. Vgl. die Intentionen bei der Gründung des Düsseldorfer Armeninstituts 1800: „Das Übel der Betteley mit allen seinen abscheulichen Folgen würde fortfahren: den Wohlstand der Stadt allmählich zu untergraben, die Kräfte der arbeitsamen Classe zu lähmen und mit einer Menge namenloser Laster – Sittenlosigkeit und Verderben – über einen großen Theil der Einwohner zu verbreiten und ihre Nachkommenschaft gleichsam im Keim zu zerstören.“ Zitiert nach Eva Maria Hartleif: Die Düsseldorfer Armenversorgungsanstalt von 1800–1851. Diss. Köln 1998, S. 31. Vgl. Lutz Raphael: Armut zwischen Ausschluss und Solidarität. Europäische Traditionen und Tendenzen seit der Spätantike, in: Herbert Uerlings / Nina Trauth / Lukas Clemens (Hg.): Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, 10. April 2011–31. Juli 2011. Eine Ausstellung des Sonderforschungsbereichs 600 „Fremdheit und Armut“, Universität Trier in Kooperation mit dem Stadtmuseum Simeonstift Trier und dem Rheinischen Landesmuseum Trier, Begleitband zur Ausstellung. Darmstadt 2011, S. 23–31, hier 25. „Sprichwörtlich vermeinen wir zu fordern, wer nicht arbeitet, bekomme auch nichts zu essen.“ Ein Ausspruch von August Bebel (1840–1913), der damit die Übereinstimmung des Sozialismus mit Werten der Bibel rechtfertigte, vgl. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus. 31. Aufl., Stuttgart 1900, S. 339. Diese Vorstellung wurde etwa in der Hartz-IV-Debatte erneut von Franz Müntefering aufgegriffen. Vgl. Katharina Schuler: Arbeiten fürs Essen, in: ZeitOnline vom 10.5.2006, www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner (Zugriff: 7.12.2015).

Soziale Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft

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tern. Sie gewährt lediglich einen Blick in die Frömmigkeits-, Alltags- und Sozialgeschichte einer ausgewählten Region. Um aber die großen Trendlinien der Fürsorgegeschichte, beziehungsweise deren Brüche, nachzuverfolgen, ist es erforderlich, den Untersuchungsrahmen beträchtlich zu erweitern. Diese Studie stützt sich daher auf eine im Zuge meiner Dissertation erstellte Datengrundlage aller zwischen 1648 und 1806 gegründeten Waiseninstitute im Heiligen Römischen Reich. Der Beitrag stellt überblicksartig 150 Jahre Waisenhausfürsorge dar und geht dabei Fragen nach der Nutzbarmachung des Einzelnen für die Gesellschaft und den Staat nach. Welche politischen, ökonomischen und sozialen Einflüsse führten in diesem Zusammenhang zu Umbrüchen? Wie wirkten sich äußere Umstände auf einzelne Anstalten aus? Welche Ordnungsvorstellungen prägten die Versorgung von Waisenkindern im Verlauf dieser Periode? Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht es zu zeigen, dass Ordnung in der vormodernen Gesellschaft nach einem Bruch wieder hergestellt werden konnte. Eine erste Grundannahme ist, dass klassischerweise Kriege zu Brüchen in der Gesellschaft führen. Dies waren im Untersuchungszeitraum etwa der Dreißigjährige Krieg, der Siebenjährige Krieg und die kriegerischen Auseinandersetzungen zur napoleonischen Zeit. Aber auch neue, gelegentlich radikale Frömmigkeitsbewegungen veränderten die Gesellschaft sehr stark – im Falle der Waisenanstalten

Abb. 1: Verteilung der erfassten Anstalten im Heiligen Römischen Reich 1648–1806

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Antje Schloms

vermutet die Forschung seit langem einen solchen Einfluss durch das pietistisch geprägte Waisenhaus August Hermann Franckes in Halle.9 Mit diesen angenommenen Brüchen im Bewusstsein sollte man sich der deutschen Waisenhauslandschaft zunächst allgemeiner nähern. Die hier abgebildete Gesamtkarte zeigt sämtliche nachweisbaren Waisenhausgründungen in der Zeit von 1648 bis 1806. Die Verteilung im Reich überrascht im Großen und Ganzen kaum, gibt es doch gerade in denjenigen Gebieten die meisten Anstalten, in denen es auch die größte Bevölkerungsdichte gab: im mitteldeutschen Raum und im Südwesten des Reiches.10 Schaut man sich zusätzlich die zeitliche Verteilung der Anstalten an, ergibt sich folgende Grafik:

8

Waisenhäuser

6 4

0 -2

1648 1658 1668 1678 1688 1698 1708 1718 1728 1738 1748 1758 1768 1778 1788 1798 1808 1818 1828 1838 1848 1858 1868 1878 1888 1898 1908 1918 1928 1938 1948 1958 1968 1978 1988 1998 2008

2

-4 -6

Abb. 2: Gründungen undund Schließungen erfasster Waisenhäuser Abbildung 2: Gründungen Schließungen erfasster Waisenhäuser1648–2012 1648–2012

Zahlreiche Aussagen und Vermutungen der Forschung bestätigen diese Angaben. So erwähnte etwa Markus Meumann einen „Stillstand beim Ausbau des Armenwesens“ in Folge des Dreißigjährigen Krieges – diese verzögert einsetzende Gründungsaktivität zwischen 1648 und 1660 ist deutlich zu erkennen. Das darauf beginnende sogenannte „Jahrhundert der Waisenhäuser“ ist unverkennbar, gekennzeichnet durch eine „weiträumige Einrichtung von Waisenanstalten“11. Diese Begrifflichkeit impliziert allerdings ein Ende der Waisenhausgründungen seit Mitte des 18. Jahr9

10 11

Vgl. zur Wirkung des Waisenhauses Franckes auf weitere Gründungen weltweit z. B. Udo Sträter: Pietismus und Sozialtätigkeit. Zur Frage nach der Wirkungsgeschichte des „Waisenhauses“ in Halle und des Frankfurter Armen-, Waisen- und Arbeitshauses, in: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 201–230; Claus Veltmann / Jochen Birkenmeier (Hg.): Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 23). Halle/Saale 2009, S. 88–111. Vgl. zur Bevölkerung im Alten Reich u. a. Christian Pfister: Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500–1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 28). 2. Aufl., München 2010, S. 14–24. Markus Meumann: Unversorgte Kinder, Armenfürsorge und Waisenhausgründungen im 17. und 18. Jahrhundert. Eine sozialgeschichtliche Einführung, in: Udo Sträter / Josef N. Neumann

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hunderts. Ein als ‚Waisenhausstreit‘ benanntes Phänomen – dazu weiter unten mehr – führte zwar zu vielen Schließungen, wie anhand der ‚Negativbalken‘ ersichtlich wird; bisher für die Forschung aber nicht evident war eine im Zuge der Aufklärung einsetzende neue, jedoch kürzere Gründungswelle seit 1760, die 1788 beinah abrupt endete. Die gegenläufige Schließungswelle begann erst im Verlauf der 1760er Jahre und ging nahtlos über in die durch die Napoleonische Eroberung erzwungenen Schließungen. Bis auf die napoleonische Zeit lassen sich angenommene Brüche durch Kriege nicht finden. Ein Grund also, einzelne Parameter (Anstaltsform, konfessionelle Ausrichtung, Zahl der Insassen) der insgesamt 256 Waisenhaus-Datensätze näher zu analysieren. Waisenhäuser

1648 1653 1658 1663 1668 1673 1678 1683 1688 1693 1698 1703 1708 1713 1718 1723 1728 1733 1738 1743 1748 1753 1758 1763 1768 1773 1778 1783 1788 1793 1798 1803

6 5 4 3 2 1 0

Abb. 3: Verteilung der3:Gründung Anstalten 1648–1806 Abbildung Verteilungmonofunktionaler monofunktionaler Anstalten

In Abbildung 3 sieht man, dass sich monofunktionale Anstalten, also reine Waisenhäuser, gleichmäßig – ohne erkennbare Brüche – über den gesamten Untersuchungszeitraum verteilen. Außerdem konnte festgestellt werden, dass im direkten Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg weder mono- noch multifunktionale Anstalten errichtet wurden, obwohl es kriegsbedingte Strukturveränderungen der Bevölkerung gab, die sich nun in erheblichem Umfang aus Alten, Invaliden sowie unversorgten Kindern und Jugendlichen zusammensetzte. Auch die Zahl der verarmten Soldaten, Witwen und Bettler war nach 1648 beträchtlich.12 Die Auswertung der Datenbank zeigt, dass mit der Wiederherstellung der Ordnung, wie sie in den Policeyordnungen des Alten Reiches angestrebt war, frühestens 15 bis 20 Jahre nach Kriegsende begonnen wurde. Erst 166313 bzw. 166814 setzte eine zaghafte Gründungswelle institutioneller Waisen- und Armenfürsorge ein – zu einem Zeitpunkt, zu dem alle etwaigen Kriegswaisen der Versorgung durch eine Institution bereits entwachsen waren. Somit kann der Verweis auf die Kriegsfolgen als eine Legitimationsstrategie gekennzeichnet werden.

(Hg.): Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit (Hallesche Forschungen 10). Tübingen 2003, S. 1–22, hier 8. 12 Christoph Sachße / Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1998, S. 87, 101 f. 13 1663 wurden in Dessau und Wien je ein singuläres Waisenhaus gegründet, zuvor war 1661 in Immenstadt ein Waisen- und Pfründnerhaus entstanden. 14 1668 wurde das hochmittelalterliche St. Georgenhospital in Leipzig zu einem neuartigen Zucht- und Waisenhaus umstrukturiert.

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Antje Schloms

Waisenhäuser

7 6 5 4 3 2

0

1648 1653 1658 1663 1668 1673 1678 1683 1688 1693 1698 1703 1708 1713 1718 1723 1728 1733 1738 1743 1748 1753 1758 1763 1768 1773 1778 1783 1788 1793 1798 1803

1

Abbildung 4: Verteilung Gründungenevangelischer evangelischer Waisenhäuser 1648–1806 Abb. 4: Verteilung derder Gründungen Waisenhäuservon 1648–1806

  Verzeichnet man die evangelischen Gründungen über den gesamten Zeitraum von 1648 bis 1806, ergibt sich auch hier eine beinahe gleichmäßige Verteilung, zudem sind zunächst keine expliziten Brüche feststellbar. Nun bleibt stichprobenartig zu prüfen, ob sich eventuell bei der Zahl der versorgten Kinder gravierende Änderungen ergeben haben. Dies geschieht anhand dreier Anstalten, des Großen Waisenhauses B. M. V. (Beatea Mariae Virginis) in Braunschweig und der beiden 1671 gegründeten Erfurter Anstalten für jeweils katholische und protestantische Waisen.

1680 1683 1686 1689 1692 1695 1698 1701 1704 1707 1710 1713 1716 1719 1722 1725 1728 1731 1734 1737 1740 1743 1746 1749 1752 1754 1757 1760 1763 1766 1769 1772 1775 1778 1781 1784 1787 1790 1793 1796 1799 1802 1805 1808

Insassen

450 420 390 360 330 300 270 240 210 180 150 120 90 60 30 0

Jungen/Kinder

Mädchen

weitere Insassen

Abb.Abbildung 5: Anzahl5:der Insassen im Braunschweiger BMVbis 1681–1807 Anzahl der Insassen im BMV von 1681 1807

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Abbildung 5 gibt einen Überblick über die Zahl der versorgten Insassen in Braunschweig ab 1681.15 Die Graphen ergeben sich dabei aus der Summe der männlichen und weiblichen Waisenkinder16 sowie weiterer im Haus versorgter Insassen. Bis 1750 werden nur die unter dem Dach der Anstalt wohnenden Insassen angegeben. Hausarme und Reisende sind nicht erfasst, wenngleich ihre Zahl nicht unbeträchtlich war.17 Um 1750 lässt sich eine deutliche Veränderung feststellen: Nun wird die Zahl der Kinder, die nach dem benannten Arbeitsgedanken im Haus versorgt wurden, durch eine große Gruppe von Schülern ergänzt. Grund ist die 1750 erfolgte Abtrennung des bis dahin angegliederten Zuchthauses, im Gegenzug verband man nun eine Bildungseinrichtung mit der Waisenanstalt.18 Der Fokus der Ausbildung und Verwahrung wandelte sich also grundlegend – es lernten in der Schule nach 1750 nun weit mehr als 400 Schüler inklusive Waisenkinder. Obwohl die meisten Schüler nur den Tag in der Anstalt verbrachten, aber außerhalb nächtigten, bei Verwandten und Familien, muss sich der Alltag der Kinder dennoch stark geändert haben. Ein merklicher Anstieg der als Waisen gekennzeichneten Insassen ist dagegen erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erkennbar. In vergleichender Analyse des Erfurter lutherischen mit dem Erfurter katholischen Waisenhaus ist hingegen eine solche signifikante Änderung der Insassenzahlen nicht nachweisbar. 80 70

Kinder

60 50

Katholisch Lutherisch

40 30 20 0

1670 1674 1678 1682 1686 1690 1694 1698 1702 1706 1710 1714 1718 1722 1726 1730 1734 1738 1742 1746 1750 1754 1758 1762 1766 1770 1774 1778 1782 1786 1790 1794 1798 1802 1806

10

Abb. 6: Vergleich der der in den Erfurter Waisenhäusern versorgten Abbildung 6: Vergleich, in den Erfurter Waisenhäusern versorgtenKinder Kinder

15

16 17 18

Die Zahlen sind denen in meiner Doktorarbeit verwendeten Quellen und Literatur zum Braunschweiger BMV entnommen: Antje Schloms: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 129). Stuttgart 2017 (Kapitel 2.2.1.). Wenn nur eine Gesamtzahl der versorgten Kinder in den Quellen zu finden war, ist diese mit demselben Symbol wie bei den Jungen dargestellt. Vgl. Stadtarchiv Braunschweig, G IV 2:248, Jahrgang 1697. Vgl. Ludwig Hänselmann: Das erste Jahrhundert der Waisenhausschule in Braunschweig. Braunschweig 1897, S. 19–179. Diese Entwicklung lief parallel zur Einrichtung einer Braunschweiger Armenanstalt 1742. Vgl. Peter Albrecht: Armenpflege, in: Luitgard Camerer / Manfred R. W. Garzmann / Wolf-Dieter Schuegraf (Hg.): Braunschweiger Stadtlexikon. Braunschweig 1996, S. 23.

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Antje Schloms

Obwohl die Grundlage beider Erfurter Institute zunächst gleich war, hatte das lutherische Institut eine leicht höhere Versorgungskapazität als das katholische Haus, wie die (überlieferungsbedingt lückenhafte) Übersicht zeigt.19 Die Anzahl der Kinder im jeweils anderen Waisenhaus lässt sich auch anhand einiger Schriftstücke rekonstruieren, die zudem auf eine gegenseitige Beobachtung beider Anstalten verweisen.20 Dennoch konnte man die Konfessionen der Erfurter Waisen nicht immer exakt trennen. So nahm das katholische Waisenhaus gelegentlich sogar Kinder evangelischer Eltern auf, da „das Waisenhaus hauptsächlich zur Erhaltung und Vermehrung der katholischen Religion gestiftet“ sei, so eine Argumentation um 1801.21 Allerdings finden sich im lutherischen Waisenhaus ebenfalls katholische Kinder, vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Denn das katholische Haus hatte 1787 auf Familienpflege umgestellt. Bis dahin hatte man dort durchschnittlich 30 bis 40 Kinder im Haus und etwa acht bis zehn Lehrjungen außer Haus versorgt. Bei der Einrichtung der Familienpflege folgte die lutherische der katholischen Waisenanstalt nur zögerlich.22 Man kann also zunächst feststellen, dass der Dreißigjährige Krieg erst mit einer Verzögerung von 20 Jahren Auswirkung auf die Versorgung von Waisen und Armen hatte, obgleich direkte policeyliche Anordnungen unmittelbar nach dem Krieg erfolgt waren. Die neuen Frömmigkeitsbewegungen wie der Pietismus dagegen hatten einen Boom bei der Gründung der Waisenanstalten ausgelöst, den man später als das „Jahrhundert der Waisenhäuser“ bezeichnete. Ein Umbruch im Zuge des Siebenjährigen Krieges kann nicht ausschließlich mit diesem in Zusammenhang gebracht werden, da zeitgleich neue Bildungsbestrebungen und aufklärerische Tendenzen entstanden. Dieser Umbruch wird in der Forschung als „Waisenhausstreit“ 19 20

21 22

Die jeweilige Anzahl der Kinder wurde den in meiner Promotion verwendeten Quellen zu den Erfurter Waisenanstalten entnommen. Vgl. Schloms: Waisenfürsorge (wie Anm. 15). So wird in einer Beschwerde über den katholischen Waisenvater 1725 bemängelt, dass dieser nur 27 Kinder versorge, während es im lutherischen Waisenhaus bereits 60 Kinder seien. Vgl. Bistumsarchiv Erfurt, Geistliches Gericht, Älterer Bestand, VI o Nr. 35, unpag. Ebenso in den Akten des Evangelischen Waisenhauses, vgl. Stadtarchiv Erfurt, 1–1/XIII, 7 Nr. 1, fol. 15, passim. Schon allein die Aktenlage bestätigt eine ständige gegenseitige Beobachtung. So finden sich in den Akten des Bistumsarchivs Erfurt immer wieder Auszüge aus den Ordnungen der lutherischen Anstalt und im Erfurter Stadtarchiv die Privilegien für das katholische Haus in den Akten des lutherischen Hauses. Vgl. Bistumsarchiv Erfurt, Geistliches Gericht, Älterer Bestand, VI o Nr. 35, passim. Für Akten des lutherischen Waisenhauses vgl. Landeshauptarchiv SachsenAnhalt, Magdeburg, Standort Wernigerode, Rep. A 43 I, Nr. 725, passim. Zunächst interessierten sich die aufsichtsführenden Personen in den Anfangsjahren selbstverständlich für die allgemeine Organisation und den Zweck der Einrichtung. Die Gründer des lutherischen Waisenhauses boten dem Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn (1605–1673) als Erfurter Landesherrn 1669 sogar ihre Mithilfe bei der organisatorischen Einrichtung des katholischen Waisenhauses an, was die identischen Tagesabläufe, Instruktionen und vor allem die jährlichen Gaben erklären könnte. Vgl. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Magdeburg, Standort Wernigerode, Rep. A 37b IV, II b Nr. 11, fol. 26v. Bistumsarchiv Erfurt, Geistliches Gericht, Älterer Bestand, VI o Nr. 37, unpag. Vgl. ebd.; Bistumsarchiv Erfurt, Nachlass Feldkamm, MS 19. Im Findbuch des Archivs des lutherischen Waisenhauses ist vermerkt, dass um 1830 auch Kinder außerhalb des Waisenhauses untergebracht waren. Die Anstaltspflege ist jedoch nie unterbrochen worden.

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bezeichnet und entstand nicht durch äußeres Einwirken, sondern durch einen inneren Prozess, durch Kritik an der Sache selbst. Die napoleonische Gesetzgebung beschloss letztendlich durch einen Verwaltungsakt nur, was sich bereits angebahnt hatte. Der Waisenhausstreit kann als der gravierendste Umbruch in der Waisenfürsorge gelten. Er begann im Zuge der Aufklärung seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit europaweiten Bestrebungen, sich dem Armenwesen nicht mehr nur situativ und praktisch zuzuwenden, sondern auch grundlegende theoretische Fragen zur Diskussion zu stellen. Dabei galt es zu klären, in welcher Form die Versorgung von Armen, Waisen und Witwen wohl am besten zu bewerkstelligen sei. Am bekanntesten ist das Preisausschreiben der 1765 gegründeten Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe, aus dem eine Preisschrift von Johann Ernst Christian Haun und Georg Christoph Stark23 hervorging, die breit diskutiert wurde.24 Es ging dabei um den Vergleich „der Erziehung der Waisenkinder, entweder in einem gewöhnlichen Waisenhause, oder durch Beköstigung in oder außer der Stadt, wo sie ihrem Stande gemäß auferzogen und unterrichtet würden, einer Seits in Ansehung der Kosten, und anderer Seits in Ansehung der Kinder selbst und der Absicht des Staats, welcher künftigen Nutzen davon erwartet“25.

Dieses Preisausschreiben fand 1770 statt. Etwa zur selben Zeit gab es auch in der Göttinger Akademie der Wissenschaften eine ähnliche Preisfrage: „Wie sind Waisenhäuser anzulegen oder die jetzigen so anzurichten, daß mit wenigern Kosten als bishero in Zukunft eine größere Anzahl Waisenkinder für ihre Person und zum Nutzen des Staates christlich, gesund und arbeitsam erzogen werden.“26

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26

Vgl. Georg Christoph Stark / Johann Ernst Christian Haun: Zwey Abhandlungen über die Aufgabe der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe: Die Vergleichung der Erziehung der Waisenkinder, entweder in einem gewöhnlichen Waisenhause, oder durch Beköstigung in oder außer der Stadt, wo sie ihrem Stande gemäß auferzogen und unterrichtet würden, einer Seits in Ansehung der Kosten, und anderer Seits in Ansehung der Kinder selbst und der Absicht des Staats, welcher künftigen Nutzen davon erwartet, etwas ausführlich und erfahrungsmäßig darzulegen, welche beyde im Jahr 1780 den Preis erhalten haben. Hamburg 1780. Gerade im Hannoverischen Magazin wurden nach 1765 einige Aufsätze zu dieser Frage publiziert, die parallel zu weiteren zeitgenössischen Publikationen von Johann Ernst Haun, Georg Christoph Stark, August Zarnack, C. W. F. Walch und August Friedrich Rulffs erschienen. Vgl. eine Auflistung bei Veltmann/Birkenmeier (Hg.): Kinder (wie Anm. 9), S. 211 f. Aus dem Titel der Schrift von Stark/Haun: Zwey Abhandlungen (wie Anm. 23). Beide Autoren favorisierten die Familienpflege, die allerdings in Hamburg nicht umgesetzt wurde. Vgl. Wolfgang Müller: Jugendhilfe als patriotische Tat in der Zivilgesellschaft. Vortrag anlässlich der Gründung des hamburgischen Waisenhauses im Jahre 1604. Im Haus der Patriotischen Gesellschaft von 1765. 2004, Manuskriptseite 6. Vgl. den Titel und die Einleitung bei August Friedrich Rulffs: Versuch zur Beantwortung der Frage: Wie sind Waysenhäuser anzulegen oder die jetzigen so einzurichten, daß mit wenigern Kosten als bishero, in Zukunft eine größere Anzahl Waysenkinder für ihre Person und zum Nutzen des Staats christlich, gesund und arbeitsam erzogen werden. Göttingen 1785.

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Fortan beschäftigten sich Pädagogen, Theologen, Juristen und Ärzte mit der Thematik.27 Der sich daraus entwickelnde, zunächst auf dem Papier ausgetragene Streit ging als „Waisenhausstreit“ in die Geschichte ein. Viele der Schriften sind hochgradig idealisiert, doch zugleich detailliert ausgearbeitet: Die Autoren schlugen oft die Küchenordnung, die Art der Verwaltung und des Unterrichts, das Arbeitspensum der Kinder und selbst die Zimmereinrichtung vor.28 Diese idealisierten Streitschriften sind meines Erachtens hauptsächlich als Ratgeber zu verstehen, die dennoch kein völlig neues System der Armenfürsorge erzeugten, sondern althergebrachte Gewohnheiten und Einrichtungen von ihren angeblichen Fehlern befreiten und auf Gefahren hinwiesen.29 Genutzt wurden diese Ratgeber wohl nur als normative Vorgabe für die jeweilig neu zu erstellende Hausordnung. Gesundheitliche und räumliche Aspekte dominierten die Argumentationen des Waisenhausstreites – nicht umsonst wurden die Waisenhäuser „Pesthöfe und Mördergrupen des Staats“ genannt30 –, standen jedoch in engem Zusammenhang mit finanziellen Interessen, gefolgt von religiösen und pädagogischen Schwerpunkten. Offiziell konstatierte Stark zwar, dass „diejenige Waisen-Anstalt […] nothwendiger Weise den Vorzug haben [muß], welche die Gesundheit der Kinder auf ihre ganze Lebens-Zeit am besten erhält und befördert, sofort auch das Leben derselben am meisten sicherstellt“31, es findet sich aber in zahlreichen anderen Schriften ökonomisches Kalkül, welche Variante dem Landesherrn am billigsten käme.32 Die Argumente für oder gegen die Unterbringung von Kindern in zentralen Anstalten sind entsprechend untermauert. Gegen eine Zentralisierung sprach etwa die gleichförmige Unterbringung der Kinder, die keinerlei Rücksicht auf individuelle Versorgung nahm.33 Die Enge der meisten Häuser, das ungesunde Vermischen von Wohn-, Speise- und Schlafräumen, die Überbelegung der Betten mit drei oder vier Kindern seien der Gesundheit der Kinder höchst abträglich und Nährboden für epidemische Krankheiten.34 Anstelle zentraler Unterbringung plädierte man demzufolge für die Familienpflege. Für sie sprach zudem, dass den Kindern gemäß ihrer Herkunft aus Stadt oder Land so „eine freyere, ungezwungnere und bewegliche Lebensart, die dem menschlichen Körper so angemessen ist“, 27 Vgl. Christina Vanja: Waisenhäuser der Aufklärung und der Waisenhausstreit, in: Veltmann/ Birkenmeier (Hg.): Kinder (wie Anm. 9), S. 113–125, hier 121. 28 Vgl. zum Beispiel Johann Ludwig Hiltebrandt: Irrländische Preiß-Schrifft auf welche Weise alle Armen, Witwen und Waysen in jedem Land versorget, dem Umlauf der Bettlern gesteuret, und das Land von allem liederlichen Gesindel gereiniget werde: 1765 vermehrt und verbessert. Frankfurt 1766, S. 56 et passim, der seine Vorschläge in 58 Artikeln, jedoch ohne konkreten Ortsbezug unterbreitete. Er machte dabei auch keinerlei Unterschied zwischen evangelischen und katholischen Einrichtungen. 29 Vgl. ebd., Artikel 3, 38 oder 39. 30 Rulffs: Versuch zur Beantwortung (wie Anm. 26), S. 9. 31 Stark/Haun: Zwey Abhandlungen (wie Anm. 23), hier Stark, S. 7. 32 Als Beleg seien hier nur zwei Artikel genannt: [Christian Wilhelm Franz] Walch: Gedanken über die Frage, ob Waysenhäuser nützlich sind, in: Hannoverisches Magazin, 1766, Sp. 145– 160, der sich für eine Versorgung in Waisenhäusern ausspricht, und Aristipp: Sind Waysenhäuser nützlich?, in: Hannoverisches Magazin, 1767, Sp. 417–426, der sich gegen eine Versorgung in Waisenhäusern einsetzt. 33 Stark/Haun: Zwey Abhandlungen (wie Anm. 23), hier Stark, S. 4. 34 Vgl. ebd., hier Stark, S. 7 f.

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möglich wäre, und dass dann ungleich mehr Kinder zu geringeren Kosten in gesunder Umgebung versorgt werden könnten.35

Abb. 7: Übersicht über die Auswirkungen des Waisenhausstreits

Im Zuge dieser publizistischen Auseinandersetzung wurden zahlreiche Institute geschlossen und eine Familienpflege eingeführt, die jedoch selten so gut lief, wie es sich die Verantwortlichen wünschten. Die Tatsache, dass sich gerade arme Familien um ein Pflegekind bewarben, um über zusätzliche Arbeitskraft zu verfügen, widersprach den Intentionen der Familienpflegebefürworter.36 Deshalb wurde in manchen Waisenhäusern nach einem gescheiterten Versuch die institutionelle Versorgung in einer zentralen Anstalt wieder aufgenommen.37 Zudem gab es Schriften, die für die 35 Ebd., hier Stark, S. 11, 25, passim. Zu dem gleichen Ergebnis gelangt auch sein Mitstreiter Haun, S. 54 f. 36 Gut nachvollziehbar anhand des Erfurter Aktenmaterials. Vgl. Bistumsarchiv Erfurt, Geistliches Gericht, Älterer Bestand, VI o Nr. 38, Bd. 2, unpag. 37 In Potsdam etwa scheiterte die 1763 eingeführte Familienpflege nach 30 Jahren. Vgl. August Zarnack: Dass zweckmässig eingerichtete Waisenhäuser die vollkommensten und nützlichsten Erziehungsanstalten in dem Staat und für den Staat werden können. Ein Programm, womit der auf den 29. und 30. März 1819 angesetzten öffentlichen Prüfung der Zöglinge des Königl. Potsdamischen großen Militär-Waisenhauses die Hohen vorgesetzten Behörden, so wie alle Freunde des Schulwesens Ehrerbietigst und gehorsam einladet. Berlin 1819, S. 45. Im Zucht-,

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Antje Schloms

Unterbringung in einer gemeinsamen Anstalt plädierten. Ihre Autoren waren sich aber bewusst, dass auch in solchen Häusern eine Änderung vonnöten war und so mancher Missbrauch oder eingeschlichener Fehler abgestellt werden musste.38 Eines der häufigsten Probleme bei dezentraler Versorgung waren fehlende Einnahmen durch Spenden, da möglichen Spendenwilligen kein symbolisches Ganzes mehr repräsentiert werden konnte. In Erfurt etwa brachen nach der Einrichtung der Familienpflege die Fürbittgelder nahezu komplett weg. Nicht nur aus diesem Grund wurde nach kurzer Zeit die Anstaltspflege wieder eingeführt.39 An einigen Orten verlagerte sich das ehemals innerstädtische Institut hinaus ins Grüne vor die Tore der Stadt.40 Die oben gezeigte Überblickskarte wurde auf Grundlage der Datenbank erarbeitet und verdeutlicht die Vielfalt, mit der man auf die Kritik im Zuge des Waisenhausstreits reagierte. Ein Übergang zu Pflegefamilien, ob gescheitert oder erfolgreich, fand demnach bei 57 Anstalten statt.41 Außerdem wurden in 23 Instituten verbessernde Maßnahmen und Untersuchungskommissionen durchgeführt, die die Versorgung im Sinne der Kinder und der Obrigkeit nach modernen Gesichtspunkten veränderten. Vier Anstalten gründete man quasi erst unter aufgeklärten Gesichtspunkten in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. Die im Zuge des Waisenhausstreits bemängelten Zustände entsprachen weder den Ordnungsvorstellungen der Zeit noch halfen sie, arbeitsfähige und damit nützliche Glieder der Gesellschaft heranzuziehen – zu schweigen davon, dass ein Institut mit blassen und kranken Gestalten weder zur Rettung des Seelenheils der Stifter noch zur Inszenierung einer gesunden, ordentlichen Stärke der jeweiligen Stadt und Herrschaft taugte. Eine Veränderung der als unvollkommen angesehenen Situation hingegen war ein Zeichen für gute Ordnung im Sinne der Guten Policey und legitimierte somit die Herrschaft eines Territoriums oder einer Stadt aufs Neue. Zusammenfassend kann man überspitzt sagen, dass Karitas zwar immer zur christlichen Pflicht gehörte, sich jedoch für den Staat auch rechnen musste. Ein arbeitsfähiger Bettler galt seit der ausgehenden Antike als unwürdig jeglicher UnterArbeits- und Waisenhaus Rothenburg o. T. hielt die Familienpflege sogar 60 Jahre, bis man doch wieder zur institutionellen Versorgung zurückkehrte, vgl. L. Schnurrer: Zur Geschichte der Waisenversorgung in Rothenburg, in: Die Linde. Blätter für Geschichte und Heimatkunde von Rothenburg o. T. Stadt und Land 54 (1972), S. 81–88. In Mannheim benötigte man mehrere Anläufe, um die Umstellung endgültig durchzuführen, Versuche um 1790 scheiterten, erst 1803 konnte das Waisenhaus erfolgreich aufgelöst werden, vgl. Josef Jacobs: Der Waisenhausstreit. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik des 18. und 19. Jahrhunderts. Quakenbrück 1931, S. 82 f. Vgl. dazu eine umfassende tabellarische Auswertung zum Waisenhausstreit in Schloms: Waisenfürsorge (wie Anm. 15). 38 Vgl. Rulffs: Versuch zur Beantwortung (wie Anm. 26), S. 17. 39 Vgl. Bistumsarchiv Erfurt, Geistliches Gericht, Älterer Bestand, VI o Nr. 37, unpag. 40 Vgl. Rulffs: Versuch zur Beantwortung (wie Anm. 26), S. 18, sowie Veltmann/Birkenmeier (Hg.): Kinder (wie Anm. 9), Katalog, S. 207. 41 In München entstanden bereits während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zwei Waisenhäuser, die Bestandteil der Datenbank geworden sind, die man hier hinzu rechnen könnte und die die Zahl auf 59 erhöhen. Alle Waisenhäuser Münchens wurden 1809 zusammengeführt und die Versorgung in Familienpflege umgeändert, übrig blieb lediglich ein sogenanntes Depotwaisenhaus für nicht unterzubringende Kinder. Vgl. Lothar Meilinger: Das Münchener Waisenhaus. Eine Studie. München 1906, S. 9, 12.

Soziale Ordnung der vorindustriellen Gesellschaft

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stützung. In diesem Zusammenhang entwickelte sich über viele Jahrhunderte die Idee, die schwachen Glieder der Gesellschaft durch Arbeits- und Zwangsmaßnahmen zu arbeitsamen und damit nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu erziehen. Jedoch durfte diese Form der Erziehung keine zusätzlichen Kosten verursachen, stattdessen war es erklärtes Ziel, dass die Insassen einer Versorgungsanstalt sich ihren Unterhalt selbst erarbeiteten. Dieser Arbeitsgedanke schlägt sich auch und vor allem in der Erziehung der als unterstützungswürdig angesehenen Alten, Witwen und Waisen nieder. Hinzu kommt, dass diese christliche Pflicht zur Nächstenliebe nicht nur als Symbol für den wohlsorgenden Landesherrn stand, sondern dieser sich durch eine solche Initiative gleichfalls die eigene ewige Memoria sicherte. Die meisten Gründungen sozialer Anstalten waren außerdem Teil einer inszenierten Wiederherstellung von Ordnung, nachdem normative Grundlagen etwa in Form von Policey-Ordnungen dafür geschaffen worden waren. Das erklärt in Ansätzen auch, weshalb äußere Faktoren, wie Finanzkrisen und Kriege, in der Entwicklung der Waisenfürsorge nur selten eine Rolle spielten. Stattdessen dienten sie höchstens als Legitimation und als optisch sichtbare Mahnung, Ordnung wiederherzustellen. Echte Umbrüche in der Versorgung, Unterbringung und Erziehung von Waisenkindern entwickelten sich von innen heraus durch Einflüsse aus Theologie, Medizin, Pädagogik oder Philosophie und deren Kritik an der Sache selbst. Jedoch vertraten auch diese Strömungen das gemeinsame Ziel, nützliche Mitglieder des Staates und der Gesellschaft zu erziehen, deren Versorgung wiederum möglichst wenig kosten und mit Eintritt in die sie fördernde Gesellschaft tunlichst entfallen sollte. Alles in allem handelte es sich also um Idealvorstellungen, die ideale Bürger für einen idealen Herrscher erziehen sollten und die wohl deshalb so häufig nachjustiert werden mussten.

DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DER TEILUNGEN POLENS, ODER DER OSTSEEHANDEL NEUKONFIGURIERT Ein Werkstattbericht1 Werner Scheltjens, Leipzig EINLEITUNG In den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde die Polnisch-Litauische Union von den drei Großmächten Russland, Preußen sowie Österreich geteilt, und zwar so, dass sie 1795 komplett aufgelöst wurde. In der Historiographie werden die Teilungen Polens hauptsächlich als ein Ereignis europäischer Großmachtpolitik interpretiert: Sie werden als Einbrüche in die politische Ordnung des alten Europa sowie als entscheidende Schritte in der Entstehung und Verfestigung der Pentarchie im europäischen Mächtesystem verstanden.2 Die in der traditionellen Auffassung häufig erwähnten politischen, moralischen und militärischen Schwächen der Polnisch-Litauischen Union werden dabei als Gründe für die Unvermeidbarkeit der Teilungen angeführt.3 Jedoch erweist sich die Analyse der Ursachen und Auswirkungen der Teilungen Polens, womit sich vor allem die polnische Historiographie in den 1960er und 1970er Jahren beschäftigt hat, als vielfältiger, vor allem wenn auf wirtschaftliche sowie wirtschaftsgeographische Faktoren Rücksicht genommen wird.4 Von beson1

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Für die anregende Diskussion möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Prof. Dr. Ulrich Pfister, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, und Prof. Dr. Markus A. Denzel, Universität Leipzig, bedanken. Für die Unterstützung bei der Übersetzung von Teilen des Beitrages sowie beim Korrekturlesen danke ich Herrn Stefan Lehm, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Leipzig, sehr herzlich. Nach Michael G. Müller: Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795. München 1984, S. 7–11. Für einen Überblick des Forschungsstandes siehe: Markus Krzoska: Teilungserfahrungen und Traditionsbildung: Die Historiographie der Teilungen Polen-Litauens (1795–2011), in: Hans-Jürgen Bömelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens: Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, S. 37–104. Moralische Perspektive: Marian Henryk Serejski: Europa a rozbiory Polski. Warszawa 1970. Über die finanzielle und militärische Schwäche Polens: Jan Rutkowski: Gospodarcze podłoz˙e rozbiorów Polski, in: Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Socjologiczny 10 (1930), S. 236–245; Jan Rutkowski: Historia gospodarcza Polski (do 1864 r.). Warszawa 1953, S. 575–577. Unter anderem Marian Drozdowski: Die Historiographie über die ökonomischen Folgen der Preussischen Annexionen für die polnischen Gebiete und den Hohenzollernstaat, in: Polnische Weststudien 5 (1986), S. 145–153; Jerzy Topolski: Reflections on the First Partition of Poland (1772), in: Acta Poloniae Historica 27 (1973), S. 89–104; Emanuel Rostworowski: Na drodze do pierwszego rozbioru. Fryderyk II wobec rozkładu przymierza francusko-austriackiego w latach 1769–1772, in: Roczniki Historyczne 18 (1949), S. 181–204. Siehe daneben auch: Diet-

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Werner Scheltjens

derer Bedeutung sind die Einsichten des polnischen Wirtschaftshistorikers Jerzy Topolski, der darauf hinweist, dass – im Gegensatz zur gängigen Meinung in der deutschen Historiographie – die durch Preußen annektierten Gebiete durch eine Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung gekennzeichnet waren, welche derjenigen der angrenzenden preußischen Gebiete sehr ähnlich war.5 Nicht eine wie auch immer geartete wirtschaftliche Schwäche Polens, sondern das Interesse an Polens wirtschaftlichem Potenzial war demnach ein wichtiger Grund für die preußische Annexion. Ähnlich äußert sich Drozdowski, der feststellt, dass „[z]u den Teilungen […] Preußen nicht nur offensichtliche politische Vorteile [drängten], die vor allem zu einer territorialen Verbindung Ostpreußens mit Brandenburg führten, sondern in gleichem Maße auch die Hoffnungen auf eine Stärkung der staatlichen Wirtschaft mit den Erträgen dieses reichsten Teiles Polens sowie auch die Übernahme der Kontrolle über den gesamten Überseehandel“.6 Die Studien von Wilder und Herzfeld über den Preußisch-Polnischen Handelstraktat 17757 sowie die einschlägigen Forschungsarbeiten zu einzelnen Häfen (allen voran Danzig) von Cie´slak, Biernat, Hoszowski und Gierszewski,8 sind eine starke rechts- und wirtschaftshistorische Grundlage für diese Sichtweise. Dabei muss aber betont werden, dass die meisten Untersuchungen den internationalen Handel vorwiegend isoliert betrachtet haben und eher sparsam auf die machtpolitischen und binnenwirtschaftlichen Aspekte des Außenhandels eingegangen sind. Zudem beschränkt sich die entsprechende Historiographie hauptsächlich auf Preußen und lässt Russland größtenteils außer Acht. Veränderungen in den Distributionsstrukturen des Ostseehandels spielten bislang in der Geschichtsschreibung kaum eine Rolle. Dank des Projektes Sound Toll Registers Online (STRO)9 hat sich die statistische Grundlage für die Erforschung des Ostseehandels in der frühen Neuzeit in den

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ger Langer: Die Beurteilung der Teilungen Polens in der polnischen Geschichtswissenschaft, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 22 (1974), S. 580–592; Müller: Die Teilungen (wie Anm. 2). Jerzy Topolski: Pogla˛ dy na rozbiory Polski, in: Jerzy Krasuski (Hg.): Stosunki polsko-niemieckie w historiografii, Vol. 1. Poznan´ 1974, S. 410–515. Drozdowski: Die Historiographie (wie Anm. 4), S. 146. Siehe auch: Oskar Halecki: Why was Poland Partitioned?, in: Slavic Review 22 (1963), S. 432–441. Jan Antoni Wilder: Traktat handlowy polsko-pruski z roku 1775: gospodarcze znaczenie utraty doste˛pu do morza. Warszawa 1937; Margot Herzfeld: Der polnische Handelsvertrag von 1775, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte 32 (1919), S. 57–107; 35 (1923), S. 45–82; 36 (1924), S. 210–220. Edmund Cies´lak: The Influence of the First Partition of Poland in the Overseas Trade of Gdan´sk, in: W. G. Heeres u. a. (Hg.): From Dunkirk to Danzig: Shipping and Trade in the North Sea and the Baltic, 1350–1850: Essays in Honour of J. A. Faber on the Occasion of his Retirement as Professor of Economic and Social History at the University of Amsterdam. Hilversum 1988, S. 203–215; Czesław Biernat: Statystyka obrotu towarowego Gdan´ska w latach 1651– 1815. Warszawa 1962; Ders.: Wybrane problem handle Gdan´ska w okresie rozbiorów Polski, in: Rocznik Gdan´ski 33 (1973), S. 5–21; Stanisław Hoszowski: Polski eksport wis´lany w 1784 roku, in: Kwartalnik Historyczny 63 (1956), S. 64–80; Stanisław Gierszewski: Statystyka z˙eglugi Gdan´ska w latach 1670–1815. Warszawa 1963. Für eine historiographische Übersicht von kleineren Publikationen siehe: Drozdowski: Die Historiographie (wie Anm. 4). www.soundtoll.nl.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

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letzten Jahren stark erweitert, wodurch eine Vielfalt neuer Forschungsmöglichkeiten entstanden ist. Die dänischen Sundzollregister dokumentieren jenen Zoll, der vom dänischen König von allen Schiffen, welche den Sund passierten, erhoben wurde.10 Die Register werden im Reichsarchiv (Rigsarkivet) in Kopenhagen aufbewahrt. Sie umfassen annähernd 700 Zollbücher für den Zeitraum zwischen 1497 und 1857. Von 2009 bis 2013 wurde eine elektronische Datenbank der gesamten dänischen Sundzollregister für den Zeitraum von 1633 bis 1857 erstellt.11 Für das Habilitationsvorhaben des Verfassers wurden die ‚rohen‘, unbearbeiteten Daten der Sundzollregister für den Zeitraum von 1670 bis 1856 standardisiert, konvertiert und aggregiert. Der Gesamtumfang dieser Datenbank liegt bei etwa 3,4 Millionen Warenregistrierungen, verteilt auf fast 1,2 Millionen Durchfahrten. Nach Homogenisierung und Standardisierung der Waren-, Maß- und Gewichts- sowie Ortsregistrierungen, wurden die Warenregistrierungen in den dänischen Sundzollregistern mithilfe eines record linkage-Verfahrens in entsprechende Tonnenangaben konvertiert.12 Bei der Datenbearbeitung wurde größtmögliche Vollständigkeit angestrebt: So umfasst die quantitative Grundlage für die strukturelle Analyse des Ostseehandels etwa 87 Prozent aller Warenregistrierungen in STRO zwischen 1670 und 1856, was mit etwa 93 Prozent aller Durchfahrten in diesem Zeitraum übereinstimmt.13 Der heutige Stand der Datenbearbeitung versetzt den Forscher in die Lage, eine vorläufige statistische Auswertung der dänischen Sundzollregister durchzuführen, um somit einen ersten Ansatz zur Interpretation der maritimen Dimension der polnischen Teilungen zu formulieren. Hierbei soll festgehalten werden, dass gerade in den durch die Sundzollregister erfassten Güterströmen die wechselseitige Beeinflussung von Außenhandel, binnenwirtschaftlichen Faktoren und internationaler Mächtepolitik zum Ausdruck kommt. Die konvertierten Daten in STRO wurden für das Erzeugen einer Transportstatistik genutzt, nicht aber für eine Handelsstatistik. Der Unterschied ist nicht ohne Konsequenzen. Die auf STRO basierenden Transportstatistiken erfassen Güterströme und drücken ihre geschätzten Mengen in metrischen Tonnen aus. Auf der untersten Ebene wird für jede Warenregistrierung, für welche eine bestimmte Menge in einem bestimmten Maß oder Gewicht erfasst wird, die Tonnage berechnet. Das heißt, jede Komponente einer vollständigen Schiffsladung wird einzeln konvertiert und kann so für weitere statistische Verfahren genutzt werden. Auf einer höheren Ebene werden die einzelnen konvertierten Warenregistrie10 11

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Werner Scheltjens / Jan Willem Veluwenkamp: Sound Toll Registers Online. Introduction and First Research Examples, in: International Journal of Maritime History 24 (2012), S. 301–330. Jan Willem Veluwenkamp: Die „Sound Toll Registers Online“ als Instrument für die Erforschung des frühneuzeitlichen Ostseehandels, in: Peter Rauscher / Andrea Serles (Hg.): Wiegen, Zählen, Registrieren. Handelsgeschichtliche Massenquellen und die Erforschung mitteleuropäischer Märkte (13.–18. Jahrhundert) (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 25). Innsbruck/Wien/Bozen 2015, S. 365–386. Für eine ausführliche Beschreibung der Konvertierungsmethode siehe: Werner Scheltjens: The Volume of Dutch Baltic Shipping at the End oft the Eighteenth Century: A New Estimation Based on the Danish Sound Toll Registers, in: Scripta Mercaturae 43 (2009), S. 83–110; Ders.: Maße und Gewichte. Konvertierungsmöglichkeiten am Beispiel der Sundzollregister, in: Rauscher/Serles (Hg.): Wiegen (wie Anm. 11), S. 455–479. Scheltjens: Maße und Gewichte (wie Anm. 12), S. 469.

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Werner Scheltjens

rungen auf unterschiedliche Weise summiert. Erstens drückt ihre Summe das Gesamtvolumen einer Schiffsladung aus. Zweitens können die Gesamtmengen jeder einzelnen Ware berechnet werden. Drittens können die Gesamtmengen aller Waren in bestimmten geographischen Gebieten (Hafen, Region, Gruppe von Häfen, Nation oder sonstige politische Einheit) ermittelt werden. So werden die notwendigen Bestandteile für eine Analyse der geographischen Struktur von Güterströmen zur Verfügung gestellt. Aber auch eine andere Art der Aggregation ist möglich: Die einzelnen konvertierten Warenregistrierungen können verschiedenen Warengruppen zugeordnet werden. In den konvertierten Sundzollregistern wurde die Klassifizierung der Waren in mehrere Gruppen nach dem Vorbild der zwischen 1802 und 1914 publizierten russischen Import- und Exportstatistiken durchgeführt.14 Diese Klassifizierung unterscheidet zwischen Nahrungsmitteln, Rohstoffen, Manufakturwaren sowie Vieh (livestock). Als kleine Kategorien wurden ‚Rest‘ und ‚Ballast‘ hinzugefügt. Jede dieser umfassenden Kategorien hat eigene Subkategorien, z. B. Getreide, Holzprodukte und Textilien.

Maßeinheit Was wird gemessen?

Transportstatistik

Handelsstatistik

Metrische Einheit Handelsvolumina (Messung

Geldeinheit Handelswerte (Messung vor

vor Ort)

Ort)

Transportvolumina (Messung

der transportierten Mengen, z. B. bei der Durchfahrt durch den Sund oder an einer Zollstelle ‚auf dem Weg‘ zum Ziel)

Was kann analysiert werden? Analytische Perspektive  

Gütermenge, Güterströme

Handelsströme

Knotenpunkte; Verbindungen zwischen den Knotenpunkten

Knotenpunkte

(commodity flows)

(trade flows)

Tab. 1: Übersicht der Eigenschaften von Transport- und Handelsstatistiken Tab. 1: Übersicht der Eigenschaften von Transport‐ und Handelsstatistiken 

In dieser Form ermöglicht eine auf den konvertierten Sundzollregistern basierte Transportstatistik die Analyse von Güterströmen sowie ihrer Geographie, und dies nicht nur auf der Ebene der einzelnen Waren, Häfen oder gar Schiffe, sondern auch auf höheren Aggregationsebenen. Gerade durch ihre Perspektive erlaubt eine Transportstatistik andere Aussagen als eine Handelsstatistik. Denn Letztere enthält Informationen, die auf dem geschätzten Geldwert einer Ware basieren. Genauso wie die geschätzte Tonnage in einer Transportstatistik können diese geschätzten Geldwerte für einzelne Waren(registrierungen) oder Warengruppen auf unterschiedlichen Ebenen der Aggregation zur Verfügung stehen. Wo aber die geschätzten Tonnenanga14

Für eine kurze Beschreibung und weitere Hinweise über diese Statistiken siehe: Werner Scheltjens: Russia (1758–1766), in: Loïc Charles / Guillaume Daudin (Hg.): Eighteenth-Century International Trade Statistics: Sources and Methods (Special Issue of the Revue de l’OFCE 140). Paris 2015, S. 343 f.

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ben einen Hinweis auf das Volumen (die Menge) eines Güterstroms zwischen zwei (oder mehr) Orten liefern, bieten mit Geldwert formulierte Schätzungen lediglich einen Hinweis auf den Wert dieser Güterströme vor Ort, welcher dem gleichen berechtigten Zweifel wie die metrische Schätzung unterliegt. Eine Handelsstatistik ermöglicht einen Einblick in den Handelswert an einem bestimmten Knotenpunkt eines Handelsnetzwerks, wobei dieser Knotenpunkt ein einzelner Hafen, eine Region oder eine Nation sein kann. Die in Geldwerten ausgedrückten Schätzungen und die darauf basierenden Handelsstatistiken enthalten in der Regel wenig Information über die Verbindungen zwischen mehreren Knotenpunkten. Anders ist es mit der auf den konvertierten Sundzollregistern beruhenden Transportstatistik, welche genau diese Art der Information enthält: Dank der Struktur der ursprünglichen Register und des Bottom-Up-Verfahrens bei der Konvertierung bleiben alle Informationen bezüglich der Verbindungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten erhalten. Demzufolge stehen nicht nur detaillierte Angaben über die Knotenpunkte an sich zur Verfügung, sondern auch über die Verbindungen zwischen diesen. Hingegen enthält eine Transportstatistik keinerlei Information über den Geldwert eines Güterstroms. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass das Volumen der Güterströme während ihrer Bewegung in Raum und Zeit weitgehend unverändert bleibt; dies kann jedoch keinesfalls für den Wert dieser Güterströme behauptet werden. Infolgedessen führt jede Konvertierung einer Transport- in eine Handelsstatistik mithilfe eines auf Erstere angewandten Preisindexes unvermeidlich zu einem Verlust der Einsicht in die Verbindungen und so in das entscheidende Merkmal jener Transportstatistik. Daher erfüllen beide Statistiken unterschiedliche Funktionen und dienen unterschiedlichen Zwecken. Wegen des Fokus auf Güterströme sowie deren Bewegung in Raum und Zeit ist eine Transportstatistik bestens für eine Analyse der politischen Ökonomie des Transportwesens geeignet. Insbesondere kann sie dazu dienen, die Ursachen und Auswirkungen wirtschaftspolitischer Bestrebungen zu untersuchen, die eine Transportinfrastruktur mit dem Zweck des Erhalts politischer Macht, der Unterstützung der Binnenwirtschaft und der Beförderung des internationalen Handels kreieren, verbessern, kontrollieren und ausnutzen wollten. In diesem Aufsatz werden die berechneten Tonnenangaben für eine Aufgliederung auf einer Makro-Ebene der internationalen Güterströme aus dem zentralen Ostseeraum (Brandenburg-Preußen, Polen-Litauen, Kurland und Russland) nach West-Europa genutzt. Dabei stehen zwei Zeitabschnitte im Fokus: die Jahre 1776– 1778, die für die Zeit nach der Ersten Teilung der Polnisch-Litauischen Union und dem Abschluss von drei bilateralen Handelsverträgen zwischen Polen-Litauen und den Teilungsmächten stehen, sowie die Zeit nach der Zweiten und Dritten Polnischen Teilung, repräsentiert durch die Jahre 1796–1798. Die Intensität der Güterströme wurde sowohl indirekt mithilfe eines Gini-Koeffizienten, welcher das Maß der Ungleichheit in der Güterdistribution im zentralen Ostseeraum nach WestEuropa erfasst, als auch mit dem Hirschman-Herfindahl-Index berechnet, welcher den Grad der absoluten Marktkonzentration von Exporten aus dem zentralen Ostseeraum misst, sowohl aus der Perspektive der empfangenden Länder (HHI in den Tabellen) als auch aus der Perspektive der exportierenden Länder (HHI-2). Nach Hirschman und Herfindahl wurden die Indexzahlen arbiträr differenziert und in

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Regionen mit einer niedrigen absoluten Marktkonzentration (HHI ist weniger als 0,15), einer mittleren Marktkonzentration (HHI ist zwischen 0,16 und 0,30), einer hohen absoluten Marktkonzentration (0,31–0,45) und einer sehr hohen absoluten Marktkonzentration (0,46–0,60) kategorisiert. Werte von mehr als 0,60, welche ein Indiz dafür sind, dass die absolute Marktkonzentration außergewöhnlich hoch war, wurden nicht gesondert analysiert, denn sie resultierten zumeist aus sehr kleinen, nach einer oder zwei Zielregionen transportierten Volumina. Außerdem wurden die geschätzten Tonnenangaben für die Beurteilung der Rolle der Transporteure der exportierten Güter genutzt: Um ein umfassendes Bild der Hauptnutznießer des kommerziellen Austausches mit dem zentralen Ostseeraum zu gewinnen, ist abgesehen von der geographischen Struktur der Güterströme auch die Herkunft der Transporteure von Bedeutung, der sogenannten carriers of trade. Der Aufsatz ist wie folgt gegliedert: Im ersten Abschnitt wird die Lage im Ostseeraum vor der Ersten Polnischen Teilung erläutert, um einen Bezugsrahmen für die späteren Veränderungen zu schaffen. Im zweiten Abschnitt werden die Periode der Teilungen analysiert und die Unruhe bzw. die Veränderungen betont, denen der internationale kommerzielle Austausch zu dieser Zeit unterworfen war. Im dritten Teil wird das Ergebnis der Teilungen – die komplette Zerschlagung der PolnischLitauischen Union – und dessen Einfluss auf die Struktur des kommerziellen Austausches im Ostseeraum beurteilt. Der Aufsatz beschränkt sich dabei auf die Analyse der verschifften Exporte (maritime exports) aus dem Ostseeraum, während der Landhandel außen vor bleibt. I. Im Jahr 1763 beendeten die Verhandlungen und Verträge von Hubertusburg den Siebenjährigen Krieg (1756–1763). Trotz der Tatsache, dass ein status quo ante bellum in den Verträgen vorgesehen war, wurden die Bedingungen für die Zukunft der Polnisch-Litauischen Union durch eine komplexe Konstellation von internen wie externen Einflüssen bestimmt. Sofern die Einflüsse den Zustand des Handels in der Polnisch-Litauischen Union betreffen, sollen einerseits die Auswirkungen der internationalen kommerziellen und politischen Interessen der Teilungsmächte auf das Schicksal der Union, andererseits deren eigene kommerzielle Beziehungen aufgezeigt werden. Nach 1763 errangen die direkten Nachbarn der Polnisch-Litauischen Union die Oberhand, während Sachsen – mit welchem von 1697 bis 1763 eine Personalunion existiert hatte –, Österreich und das Osmanische Reich eine sekundäre Rolle spielten, zumindest im unmittelbaren Anschluss an den Siebenjährigen Krieg.15 Preußen hatte sich als ambitionierte, aufsteigende militärische Macht etabliert, und Russland hatte es geschafft, seine Kontrolle über die Polnisch-Litauische Union weiter zu verstärken, obwohl es die Union schon seit 50 Jahren als russisches Protektorat behandelt hatte.16 15 16

Norman Davies: God’s Playground: A History of Poland in two Volumes, Vol. 1: The Origins to 1795. New York 1982, S. 516. Ebd., S. 513.

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Die späteren Teilungsmächte, insbesondere Russland und Preußen, hatten weitreichende Pläne mit der Polnisch-Litauischen Union: Russland wollte sein Protektorat schwach und abhängig halten und positionierte es als einen Vorposten des Russischen Reiches; Preußen versuchte seine verstreuten Territorien in Brandenburg und dem Herzogtum Preußen mittels der Annektierung Westpreußens sowie des Hafens von Danzig zu vereinigen.17 Zur gleichen Zeit nahmen die internationalen kommerziellen Interessen der wichtigsten Handelspartner von Preußen und Russland einen großen Einfluss auf die Zukunft der Polnisch-Litauischen Union. In einer Reihe von strategischen Allianzen und Traktaten wurden diese Interessen institutionalisiert. Vor allem der Englisch-Russische Kommerzientraktat von 1766 ist hier von Bedeutung.18 Durch diesen Traktat, welcher eine Erneuerung und Anpassung eines früheren Abkommens von 1734 war,19 gewann Großbritannien zunehmend Einfluss auf das Schicksal der Polnisch-Litauischen Union, selbst wenn es immer unterlassen hatte, zu Gunsten oder gegen die Teilungen Stellung zu beziehen. Kennzeichnend ist Chancellor Lord Buckinghams Aussage über Großbritanniens kommerzielle Interessen im Ostseeraum am Ende des Siebenjährigen Krieges: „qu’il était de l’intérêt de l’Angleterre que le futur roi de Pologne soit dévoué à la Russie, parceque la conformité des principes dont les deux Couronnes s’inspirent, exige que, tout en conservant à la république ses libertés et ses privilèges, on puisse consolider sur des basis à toute épreuve la tranquillité générale en Europe et surtout au Nord“20

Der internationale Handel war Großbritanniens erste Sorge, und ein schwacher, abhängiger polnischer König diente seinen kommerziellen Interessen. Nach dem Abschluss der Russisch-Preußischen Defensivallianz 1764 wurde der Kommerzientraktat zwischen Großbritannien und Russland 1766 für eine Dauer von 20 Jahren erneuert und ein Handelsvertrag mit Preußen unterschrieben.21 Großbritannien lehnte eine andere als kommerzielle Stellungnahme ab und unterstützte Russland in seinen Bemühungen, Stanisław-August Poniatowski als polnischen König zu krönen. So akzeptierte Großbritannien stillschweigend die dramatischen Aussichten für die Zukunft der Polnisch-Litauischen Union, wie sie durch Preußen und Russland vorbereitet wurde.22 Angesichts dieser Tatsache verwundert es kaum, dass Großbritannien sich nach der Ersten Teilung in einer bevorzugten Position befand, um von deren Folgen zu profitieren. Nachdem die antirussische Konföderation von Bar (1768–1772) niedergeschlagen worden war,23 setzten Preußen, Russland und 17 18

19 20 21 22 23

Ebd., S. 515 f. Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii, poveleniem Gosudarja Imperatora Nikolaja Pavlovicˇa sostavlennoe (im Folgenden: PSZ). Sankt Petersburg 1830, Vol. XVII, Nr. 12682; Friedrich Fromhold Martens: Sobranie traktatov i konvencij zakljucˇennych Rossieju s inostrannymi deržavami / Receuil des Traités et Conventions, conclus par la Russie avec les Puissances Etrangères, Tom IX (X): Traktaty s Anglieju / Traités avec l’Angleterre (1710–1801). Sankt Petersburg 1892, S. 203–259. Martens: Sobranie traktatov, Tom IX (wie Anm. 18), S. 62–89. Ebd., S. 218. Jerzy Łojek: The International Crisis of 1791: Poland between the Triple Alliance and Russia, in: East Central Europe 2 (1975), S. 1–63, hier 2. Wolfgang Michael: Englands Stellung zur ersten Teilung Polens. Hamburg/Leipzig 1890. Über die Konföderation von Bar siehe: Józef Andrzej Gierszewski: The Polish-Lithuanian

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Österreich, das nicht länger nur zusehen konnte, die Erste Teilung Polen-Litauens in den geheimen Konventionen vom 4. Januar und 25. Juli 1772 sowie in der Deklaration des preußischen Königs vom 19. Januar 1773 durch.24 II. Zu bemerkenswerten Änderungen in der Zusammensetzung der Waren, die aus den Häfen des zentralen Ostseeraums exportiert wurden, kam es bereits nach der Ersten Polnischen Teilung. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Häfen von Danzig, Königsberg, Memel, Riga und Libau sowie auf die Warenmengen, die von dort in die Niederlande und nach Großbritannien exportiert wurden.25 Es wird deutlich, dass der Export über den Danziger Hafen nach der Ersten Polnischen Teilung stark beeinträchtigt wurde, wohingegen sich die Exportraten der anderen Häfen in verschiedene Richtungen bewegten. Als erstes ist das Volumen der Getreideexporte – oder im Allgemeinen der Export von Nahrungsmitteln – zu betrachten. Dieses erreichte zwar zwischen 1767 und 1770 einen Höhepunkt, wurde aber während der Jahre, die auf die Erste Polnische Teilung folgten, mehr als halbiert. Ebenso erfuhren der Export von Rohstoffen sowie der von Manufakturwaren einen starken Rückgang in den ersten Jahren nach der Teilung. Bemerkenswert ist auf der einen Seite der Aufschwung der Nahrungsmittelexporte aus Danzig nach Großbritannien 1774, der anzeigt, dass verschiedene Versorgungsstrukturen für den Export von Nahrungsmitteln aus dem zentralen Ostseeraum am Werk waren. Tatsächlich war die Nachfrage nach Nahrungsmitteln in Großbritannien ungewöhnlich hoch und zudem abhängig von äußeren Umständen, was umfangreiche Weizenimporte in den Jahren 1767/68 und 1773/74 zur Folge hatte. Auf der anderen Seite waren die Nahrungsmittelexporte in die Niederlande regulärer Natur, und obwohl sie hohen jährlichen Schwankungen unterlagen, spielten sie dennoch eine zentrale Rolle im niederländischen Handelssystem, denn für die Niederlande war ein regelmäßiger, großer Zufluss von Nahrungsmitteln aus dem zentralen Ostseeraum essentiell. Die restriktiven Maßnahmen Preußens gegen den Weizentransport entlang der Weichsel und dessen Verlagerung zum Hafen von Danzig führten nach 1772 zu einer Verschiebung der Routen hin zu anderen Häfen. Erstens scheinen, soweit Nahrungsmittelexporte in die Niederlande zwischen 1772 und 1775 betroffen waren, Riga und Libau am meisten von den unmittelbaren Folgen der Ersten Teilung profitiert zu haben. Im Unterschied dazu wurden die Nah-

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Commonwealth in the XVIIIth Century: From Anarchy to Well-organised State. Kraków 1996, S. 105–146. Friedrich Fromhold Martens: Sobranie traktatov i konvencij zakljucˇennych Rossieju s inostrannymi deržavami / Receuil des Traités et Conventions, conclus par la Russie avec les Puissances Etrangères, Tom VI, Traktaty s Germanieju / Traités avec l‘Allemagne (1762–1808), S. 64–98. Die genauen Mengenangaben für einzelne Jahren sowie manche Verweise auf die Entwicklung der Güterströme in einzelnen Häfen, die im Laufe des Aufsatzes vorkommen, basieren auf Statistiken, die Teil des Habilitationsvorhabens des Verfassers sind und dementsprechend erst nach Fertigstellung der Habilitationsschrift vollständig publiziert werden können.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

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rungsmittel nach Großbritannien in den Jahren 1773/74 sowohl von Danzig, wie bereits erwähnt, als auch – und dies erscheint noch wichtiger – von Königsberg sowie Memel aus ausgeführt; weniger entscheidend waren die Nahrungsmittelexporte aus Riga im Jahr 1774; Libau war unbedeutend. Zweitens verlagerten sich die Rohstoffexporte aus Danzig und Königsberg (Pillau), die vor der Ersten Teilung maßgeblich waren, zwischen 1772 und 1775 nach Memel und Riga. Der stärkste Anstieg kann bei den Rohstoffexporten aus Memel zwischen 1772 und 1774 sowie aus Riga im Jahr 1775 festgestellt werden. Für die Nahrungsmittelexporte erwies sich das Jahr 1776 als ein äußerst schlechtes Jahr, das mit sehr niedrigen Exportraten aus allen Häfen des zentralen Ostseeraums verbunden war. 1767‒1770 NL

1772‒1775 GB

NL

GB

NAHRUNGSMITTEL Danzig

75.214,52

12.527,71

35.046,93

4.976,63

Königsberg

27.612,93

5.885,64

21.017,46

13.608,64

Memel

1.873,87

1.262,66

1.681,61

4.061,97

Riga

6.003,16

165,41

35.681,48

2.487,73

Libau

12.665,21

1.152,34

18.515,50

328,35

ROHSTOFFE Danzig

4.112,86

4.019,02

4.211,61

2.866,01

Königsberg

13.478,10

4.836,38

11.397,90

3.719,91

Memel

2.404,43

6.284,17

4.185,06

11.903,46

Riga

31.461,83

11.552,60

41.675,69

12.322,57

Libau

1.364,93

97,24

1.284,61

96,77

MANUFAKTURWAREN Danzig

755,19

2.129,65

785,49

1.672,45

Königsberg

191,00

605,74

46,74

818,36

Memel

2,13

6,18

0,86

39,76

Riga

1.736,94

1.503,01

1.702,69

1.056,86

Libau

0,61

0,00

0,00

0,00

 

Tab. 2: Das durchschnittliche Volumen der Güterexporte von Häfen im zentralen Ostseeraum in die Niederlande und Großbritannien, 1767–1770 und 1772–1775. Basiert auf STRO Tab. 2: Das durchschnittliche Volumen der Güterexporte von Häfen im zentralen Ostseeraum in die  Niederlande und Großbritannien, 1767‒1770 und 1772‒1775. Basiert auf STRO. 

Entscheidend für die weitere Entwicklung der internationalen Handelsbeziehungen Polen-Litauens waren die bilateralen Handelsverträge, die jeweils von den Teilungsmächten und dem verbleibenden Teil der Polnisch-Litauischen Union 1775

38

Werner Scheltjens

unterzeichnet wurden.26 Obwohl diese Handelsverträge für die Zukunft der Union äußerst wichtig waren, schenkte ihnen die historische Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit. Weder wurde eine vergleichende Analyse der ökonomischen Auswirkungen vorgenommen, noch ihr zeitgleiches Entstehen genau untersucht.27 Der preußisch-polnische Handelsvertrag aus dem Jahr 1775, der den Verlust des polnisch-litauischen Zugangs zum Meer festschrieb, dürfte wohl die größten Auswirkungen – vor allem für die preußischen Handelsinteressen – besessen haben. Friedrich II. hatte bereits vor der Ersten Polnischen Teilung seinen Geheimen Finanzratgeber Brenckenhoff nach Polen gesandt, um Nachforschungen über künftige Möglichkeiten einer Verbindung dieser Gebiete mit dem Besitz der Hohenzollern anzustellen. Brenckenhoffs Plan sah zwei Maßnahmen vor: 1) die Erringung der Kontrolle über den polnischen Handel und 2) die Schaffung einer Verbindung zwischen Polen und Preußen durch ein System von Kanälen, welches die Zugehörigkeit beider Ufer des Flusses Netze (Notetz) zu Preußen erforderte. Gemäß Brenckenhoffs Bericht hätte die Umsetzung beider Ideen das preußische Steuereinkommen drastisch erhöhen können.28 Preußen verfolgte mit dem Preußisch-Polnischen Handelsvertrag mehrere Ziele: 1. den Schutz der einheimischen Industrie, 2. die Schädigung Leipzigs und seiner Messen unter gleichzeitiger Förderung der Messen von Frankfurt an der Oder, 3. den Kampf gegen Danzig und 4. die Eindämmung des Schmuggels. Damit war der preußisch-polnische Vertrag so gestaltet, dass die Rohstoffe von Polen zum niedrigstmöglichen Preis nach Preußen gelangen und die Importe der Polnisch-Litauischen Union aus anderen Ländern so weit wie möglich begrenzt werden sollten.29 Zudem etablierte Preußen Manufakturen und andere Gewerbebetriebe nahe der polnischen Grenze, welche die polnischen Importe aus anderen Ländern ersetzen sollten. In Pommern und Stettin wurden etwa englische Brauereien eingerichtet, um die britischen Bierimporte zu umgehen; Fayence-Einfuhren aus Frankreich wurden in Danzig durch solche aus Preußen ersetzt; Importe, die unter Umgehung der preußischen Zölle über die Leipziger Messen und die Route über Böhmen transportiert wurden, tauschte man durch preußische Produkte aus.30 Nach dem Vertrag war Preußen berechtigt, einen zwölfprozentigen Transitzoll auf alle polnischen Güter zu erheben; nur einige Rohstoffe, die für die Territorien der Hohenzollern bestimmt waren, wurden davon ausgenommen. Diese Steuern wurden in den Fahrwassern um Danzig erhoben. In der Praxis konnte der Zoll jedoch bis zu 30 Prozent des Wertes der transportierten Güter betragen, was von der Interpretation der Tarifregelungen durch Zwischenhändler und vom Wechselkurs des Złoty abhing. Dabei wurde allerdings der Wert der Güter normalerweise sehr viel höher eingeschätzt, als es ihr Marktwert tatsächlich war.31 26 27 28 29 30 31

Wilder: Traktat handlowy (wie Anm. 7); Herzfeld: Der polnische Handelsvertrag (wie Anm. 7); PSZ (wie Anm. 18), Vol. XX, Nr. 14271. Herzfeld: Der polnische Handelsvertrag (wie Anm. 7), S. 71. Wilder: Traktat handlowy (wie Anm. 7), S. 170 f., 193; Max Bär: Westpreußen unter Friedrich dem Großen, Bd. 2: Quellen. Leipzig 1909, S. 16. Wilder: Traktat handlowy (wie Anm. 7), S. 177. Ebd., S. 178 f. Ebd., S. 184.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

39

Die erste Strategie Friedrichs bei der Übernahme des polnischen Weizenhandels war die Einführung hoher Abgaben (Akzisen).32 Um dies umzusetzen, entschied der preußische König während der ersten Jahre nach der Teilung und bevor der Vertrag unterzeichnet wurde, eine Transitabgabe von 20 Prozent auf Getreidetransporte nach Danzig zu erheben, welche in Wirklichkeit ungefähr bei 50 Prozent lag, und er ordnete weiterhin an, den Weizen nach Schlesien statt nach Danzig zu exportieren.33 Langfristig beschlossen seine Berater jedoch, dass die Warenströme nach Elbing und Stettin verlagert werden sollten, wodurch Preußens Finanzkraft das polnische und ausländische Handelskapital ersetzen könnte, wenn der polnische Getreidehandel übernommen und der wirtschaftspolitische Kampf gegen Danzig erfolgreich sein würde.34 Insgesamt bewirkten die vertraglichen Regelungen bezüglich des polnischen Getreidehandels eher Chaos und Unordnung als eine reibungslose und gut organisierte Verlagerung an und Übernahme durch preußische Unternehmer. So wurden den Händlern in Elbing spezielle Vorteile gewährt, während notwendige Voraussetzungen für eine Verlagerung des polnischen Getreidehandels nach Stettin mit dem Bau eines Kanals in Bydgoszcz geschaffen werden sollten, welcher zwar von der polnischen Regierung bereits im Jahr 1766 – also vor der Ersten Teilung35 – geplant, aber nie realisiert worden war. Im Vertrag von 1775 wurden die Transitgebühren für Getreide auf zwölf Prozent fixiert, aber der jeweilige Wert wurde weiterhin viel höher als der Marktwert des Getreides eingeschätzt. 1776 ordnete Friedrich an, das Getreide in Elbing und Stettin unter Nutzung der Berliner Maßeinheit für Getreide zu verkaufen, welche zehn Prozent größer war als die von Warschau, während der Preis auf gleicher Höhe blieb.36 All diese Maßnahmen riefen eine schlagartige Verringerung der Getreidepreise nach der Ersten Teilung hervor. Darüber hinaus wurde der Transit über Schlesien nach Preußen so kostspielig, dass er unrentabel wurde, wobei die 1776 gegründete Polnische Getreide-HandlungsSocietät auch keine Erleichterung brachte und bald wieder eingestellt wurde.37 Ähnlich wie der polnische Getreidehandel wurde auch der Holzhandel der Union durch die neuen preußischen Regelungen in den Ruin getrieben.38 1770 wurde die sogenannte Haupt-Nutzholz-Administration (HNA) unter der Schirmherrschaft des preußischen Forstamtes gegründet. Auf diese Weise wurde faktisch ein preußisches Herrschaftsmonopol auf ausländische Holzexporte errichtet. Denn die HNA zahlte nicht die 50-prozentige Transitabgabe auf Holz, welche auf Transporte durch Preußen erhoben wurde und bereits 1737 eingerichtet worden war. Nachdem sie zwischenzeitlich schon einmal gesenkt worden war, wurde die Abgabe 1770 erneut auf 50 Prozent angehoben. Wieder sah der anfängliche Plan die 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Ebd. Jan Antoni Wilder: Plan projekt budowy kanalu Bydgoskiego, in: Przegla˛ d Bydgoski 4 (1936), S. 3–20. Wilder: Traktat handlowy (wie Anm. 7), S. 196. Ebd., S. 196–200; Herzfeld: Der polnische Handelsvertrag (wie Anm. 7), S. 211 f. Wilder: Traktat handlowy (wie Anm. 7), S. 202–210.

40

Werner Scheltjens

Verlagerung der Warenströme vor: in diesem Fall des Holzes, welches von der Weichsel zur Oder unter Ausschluss Danzigs transportiert werden sollte. Friedrich wollte den Holzhandel den Danziger Kaufleuten entziehen und ihn der Kontrolle der HNA unterstellen.39 Nach einem Entwurf von Neudi, dem delegierten Direktor des Hamburger Magazins, sollte die Verlagerung des Warenstromes für Holz weg von Danzig führen, über den Fluss Netze und dann über mehrere Kanäle nach Elbing, Stettin, Swinemünde oder Hamburg.40 Alternativ konnten die litauischen Holzvorräte von Memel aus exportiert werden, was Danzig ebenso schädigte.41 Die Zentralisierung der Holzexporte in der Hand der HNA sowie die Bemühungen, Danzig zu umgehen und in seinen Handelsaktivitäten zu behindern, führten zum Einbruch der polnischen Holzexporte: Es wurde zu kostspielig und schwierig für private Kaufleute, sich am direkten Handel zu beteiligen, und der Zwischenhandel durch die HNA machte den Holzhandel ohnehin so gut wie unrentabel. Darüber hinaus war dieses gesamte ‚Handelssystem‘ unter Druck geraten, als einige preußische Kaufleute Friedrich II. um spezielle Privilegien ersuchten.42 ABFAHRTSREGION ZIELREGION Kurland

Polen-Litauen

Preußen

TOTAL

Anteil

HHI

323,02

1,38%

1.111,41

2,63%

1.132,15

1,25%

1.561,04

0,99%

4.127,61

1,07%

0,30

Bremen

1.669,73

4,38%

256,48

0,43%

1.431,18

0,99%

1.668,81

0,74%

5.026,20

1,30%

0,30

Niederlande

26.607,28 86,29%

23.431,91 55,49%

43.537,72

41,84%

82.335,34

44,49%

175.912,26 45,59%

0,32

Irland

100,89

0,31%

2.800,97

5,21%

3.088,10

2,77%

2.236,67

1,14%

8.226,62

2,13%

0,33

Dänemark

110,04

0,79%

1.730,99

5,31%

1.435,16

2,16%

2.399,31

1,72%

5.675,49

1,47%

0,34

Frankreich

1.002,00

2,87%

4.223,72

8,10%

8.165,74

6,30%

12.184,32

6,04%

25.575,78

6,63%

0,36

Portugal

823,93

3,43%

1.281,50

2,23%

3.312,50

3,95%

5.288,40

2,58%

10.706,33

2,77%

0,36

Großbritannien 878,98

2,04%

9.138,96

16,30%

39.815,33

33,76%

69.026,19

31,21%

118.859,46 30,81%

0,46

Spanien

0,16%

1.744,73

3,29%

3.878,86

5,40%

9.448,01

5,12%

15.147,31

3,93%

0,47 0,60

Schweden

Russland

Hamburg/

75,71

Österreich

198,46

0,42%

834,26

1,52%

726,77

0,60%

5.641,36

3,16%

7.400,84

1,92%

Rest

437,75

1,36%

636,28

1,35%

1.581,04

1,46%

6.526,14

3,29%

9.181,21

2,38%

TOTAL

32.227,79

47.191,20

108.104,54

198.315,57

Anteil

8,35%

12,23%

28,02%

51,40%

HHI-2

0,71

0,31

0,32

0,32

385.839,10

 

Die geographische Struktur Exporte aus dem zentralen Tab. Tab. 3: Die 3: geographische Struktur der Exporte aus demder zentralen Ostseeraum, 1776‒1778. Basiert Ostseeraum, auf STRO.  

1776–1778.

Basiert auf STRO

Die Etablierung des preußischen merkantilistischen Handelssystems und die daraus resultierenden Schwierigkeiten in der Versorgungsstruktur der Häfen im zentralen Ostseeraum – und hier vor allem in Danzig – brachten deutliche Auswirkungen auf die Haupthandelspartner der Mächte im Baltikum und der westeuropäischen Staaten mit sich. Insbesondere die Abnahme der Exporte aus Polen-Litauen ist offensichtlich (siehe Tab. 3). Obwohl diese Ausfuhren weiterhin hauptsächlich in die Nieder39 40 41 42

Ebd., S. 203. Ebd., S. 203–205. Ebd., S. 205 f. Ebd., S. 208–210.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

41

lande gingen, war ihr Anteil am Gesamtvolumen aller Exporte aus dem zentralen Ostseeraum in die Niederlande nun deutlich geringer geworden. So rangierten sie 1776–1778 gewichtsmäßig sogar unter denen von Kurland und weit hinter den preußischen und russischen. Bemerkenswert ist, dass der Wert der absoluten Marktkonzentration Kurlands in den Jahren 1776–1778 0,71 betrug (HHI-2), was einen hohen Grad an absoluter Marktkonzentration widerspiegelt. Dies kann damit erklärt werden, dass die Versorgung mit Nahrungsmitteln, die bislang über Danzig abgewickelt worden war, nach der Ersten Polnischen Teilung über die Häfen von Kurland (vor allem Libau) erfolgte. Die anderen Staaten Westeuropas, deren internationaler Handel mit dem Baltikum nicht primär auf der Nachfrage nach Getreide basierte, nutzten hingegen nicht die Häfen von Kurland. Mit einem Anteil von 86,29 Prozent an den Exporten aus Kurland ‚monopolisierten‘ die Niederländer fast die gesamten Ausfuhren aus diesem Gebiet. Die größten Gewinne aus dem polnisch-litauischen Verlust der Marktanteile gingen an Russland und insbesondere an Preußen. Während der polnisch-litauische Anteil am Gesamtvolumen der Exporte aus dem zentralen Ostseeraum von 33,80 Prozent in den Jahren 1764–1766 auf 12,23 Prozent in den Jahren 1776–1778 fiel, stieg in der selben Zeit der Anteil Russlands von 44,04 auf 51,40 Prozent und der Anteil Preußens von 18,91 auf 28,02 Prozent (siehe Tab. 3). Beide Mächte profitierten sowohl vom wachsenden Exportvolumen in die Niederlande und besonders nach Großbritannien als auch von den steigenden Ausfuhren nach Frankreich, Portugal und Spanien. Im Gegensatz dazu haben Dänemark und die Hansestädte ihre Bedeutung als Zielregionen von Exporten aus dem zentralen Ostseeraum vollständig verloren (siehe Tab. 3). Der Anstieg des preußischen Exportvolumens nach Großbritannien dürfte jedoch der bemerkenswerteste Wandel sein, der sich nach der Ersten Polnischen Teilung zeigte. Zum größten Teil ist das Anwachsen des preußisch-britischen Exportvolumens nach 1772 dem vielfachen Anstieg im Rohstoffexport aus Memel – zumeist handelte es sich um Nutzholz – zuzuschreiben; hier scheinen die Briten in der Zeit der Ersten Polnischen Teilung ein besonderes Interesse entwickelt zu haben. Tatsächlich war der Handelsvertrag von 1775 wichtiger für das östliche Preußen als für die restlichen preußischen Kronlande, wie Herzfeld feststellt, da Ostpreußen keine große Landwirtschaft und auch keine eigenen Manufakturen besaß, weshalb es vollständig vom Güterhandel mit dem Königreich Polen und – noch wichtiger – mit dem Großherzogtum Litauen abhing.43 Jedoch untersuchte Herzfeld nur die Abnahme des polnisch-ostpreußischen Handels in Königsberg, der darauf zurückzuführen gewesen sei, dass Riga und Libau seit dieser Zeit in einer besseren Position waren, um Güter aus den nun russischen Territorien in Weißrussland und Litauen zu empfangen;44 aber sie versäumte es, den Aufstieg Memels und den Einfluss auswärtiger Handelsinteressen in Memel in ihre Darstellung aufzunehmen.45 So fiel der Aufstieg Memels mit der schnell steigenden Nachfrage nach Nutzholz und dem daraus resultierenden akuten Versorgungsmangel mit Holz in Großbritannien zusammen, als sich dort das 43 44 45

Herzfeld: Der polnische Handelsvertrag (wie Anm. 7), S. 45–49. Ebd., S. 49. Sofia Libiszowska: James Durno i jego misja w Polsce, in: Przegla˛ d Historyczny 1 (1973), S. 67–82.

42

Werner Scheltjens

Tempo der Industrialisierung beschleunigte. Der Durchschnitt des jährlichen Volumens an Rohstoffexporten von Memel nach Großbritannien stieg von 2 577,52 Tonnen in den Jahren 1764–1766 auf 22 155,72 Tonnen in den Jahren 1776–1778, was effektiv bedeutet, dass Memels Anteil an den preußischen Exporten nach Großbritannien von 21,1 auf 55,65 Prozent anstieg. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzte Großbritannien seit 1778 einen Konsul in Memel ein, den Holzhändler James Durno, der zugleich Repräsentant der Familie Radziwiłł und des britischen Hofes war. Um die Mitte der 1770er Jahre stammte die überwiegende Zahl der Transporteure für Exporte aus dem zentralen Ostseeraum wie in den Jahrzehnten zuvor aus den Niederlanden und Großbritannien – eben den maritimen Großmächten. Der Anteil an Ausfuhren, die von Transporteuren aus den Niederlanden verschifft wurden, stieg konstant mit den Exportrouten nach Frankreich und Portugal, sank aber ein wenig in absoluten und relativen Verhältnissen in Bezug auf die Exportrouten in ihr Heimatland. Die Anteile, welche die niederländischen Kaufleute verloren, könnten unter Umständen von preußischen übernommen worden sein, deren Anteil an Exporten signifikant im Vergleich mit der vorherigen Periode wuchs, und dies sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen (siehe Tab. 4). Außerdem kann eine starke Abnahme bei den maritimen Transportdienstleistungen festgestellt werden, die von hanseatischen Transporteuren bereitgestellt wurden, was möglicherweise mit dem generellen Abschwung Hamburgs und Bremens als Zielhäfen für Exporte aus dem Ostseeraum in Verbindung gebracht werden kann. ZIELREGION HEIMAT

NL

%

PT

Dänemark

3.155,13

0,60%

11.408,41 37,00%

%

FR

%

HT

%

GB

%

2.777,82

3,62%

25,69

0,20%

50,00

0,01% 0,17%

Niederlande

459.049,35 86,98%

15.148,74 49,12%

46.416,10 60,49%

267,72

2,04%

600,86

Großbritannien

527,46

0,10%

620,35

2,01%

180,04

0,23%

2.153,92

16,38%

312.616,53 87,89%

Hansestädte

7.111,09

1,35%

187,94

0,61%

6.419,67

8,37%

8.679,51

65,99%

1.172,72

8,92%

Oldenburg Polen-Litauen

5.067,41

0,96%

Portugal Preußen

41.108,65

7,79%

Russland

6.841,58

1,30%

194,89

0,63%

3.384,55

4,41%

1.059,51

3,44%

85,81

0,11%

60,49

0,20%

12.585,42 16,40% 726,04

14.620,52 146,53

1,11%

0,95%

Schweden

3.097,49

0,59%

1.686,80

5,47%

3.450,53

4,50%

608,20

4,62%

Rest

1.778,60

0,34%

470,36

1,53%

701,36

0,91%

98,10

0,75%

4,11%

26.239,70

7,38%

394,84

0,11%

1.176,95

0,33%

Legende: NL = Republik der Vereinigten Niederlanden, PT = Portugal, FR = Frankreich, HT = Hansestädte Hamburg und Bremen, GB = Großbritannien.

 

Tab. 4: Die regionale Verteilung der Teilnahme des maritimen Transportsektors an den Exporten aus dem zentralen Ostseeraum, 1776–1778. Basiert auf STRO

Tab. 4: Die regionale Verteilung der Teilnahme des maritimen Transportsektors an den Exporten aus dem zentralen Ostseeraum, 1776‒1778. Basiert auf STRO. 

Legende: NL = Republik der Vereinigten Niederlanden, PT = Portugal, FR = Frankreich, HT = Hansestädte Hamburg und Bremen, GB = Großbritannien

Nur wenige Jahre nach der Ersten Polnischen Teilung begannen die Exportvolumina aus der Polnisch-Litauischen Union abzunehmen, während parallel dazu eine neue Struktur des Ostseehandels entstand. Diese Umgestaltung wurde bereits um die Mitte der 1770er Jahre offensichtlich, als die nach 1772 eingeleitete preußische Handelspolitik die traditionelle Route der Getreideexporte von Danzig nach Amsterdam blockierte. Diese Handelsroute hatte für nahezu zwei Jahrhunderte die Han-

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

43

delsbeziehungen zwischen der Polnisch-Litauischen Union und den Niederlanden dominiert.46 Diese Blockaden führten zu Reaktionen bei den betroffenen Transportunternehmen im niederländischen Handelssystem, welche nun versuchten, den traditionellen Umschlagplatz für polnisches Getreide in Danzig gegen neue Routen über die Häfen Königsberg, Pillau, Libau und Riga auszutauschen. Die Verlagerung der Handels- und Transportbeziehungen aus Danzig weg und hin zu anderen Häfen erwies sich allerdings als nicht einfach: Der Verlust der traditionellen Route zwischen Danzig und Amsterdam ging mit der generellen Abnahme des maritimen Transportsektors in den niederländischen Regionen einher, die darauf spezialisiert gewesen waren, exakt diesen Typ der Transportdienstleistungen zur Verfügung zu stellen.47 Als Russland sich mehr und mehr in Angelegenheiten des Osmanischen Reiches einmischte, begann das nordische System der Diplomatie und der internationalen Beziehungen langsam seine Bedeutung zu verlieren.48 Auch wenn die russisch-preußische Allianz offiziell noch bis 1788 Bestand hatte, verlor sie ihre Relevanz bereits in den frühen 1780er Jahren, als der Bund der Bewaffneten Neutralität gebildet (1780) und ein russisch-österreichisches Abkommen unterzeichnet wurde (1781).49 Später in jenem Jahrzehnt garantierte Russland einen anderen Vertrag zwischen Preußen und der Stadt Danzig, der am 20. März 1785 unterzeichnet wurde und dank dessen Danzig seine autonome Position im stark geschrumpften Polen-Litauen beibehalten konnte, auch wenn Preußen dies öffentlich missbilligte.50 ABFAHRTSHAFEN

TOT

share

Sankt Petersburg

533.660,17

36,28%

Memel

340.234,50

23,13%

Stockholm

119.516,80

8,13%

Riga

125.052,74

8,50%

Vyborg

87.459,36

5,95%

Danzig

69.976,86

4,76%

übrige russische Häfen

39.160,83

2,66%

übrige preußische Häfen

109.326,73

7,43%

übrige schwedische Häfen

35.840,84

2,44%

 

Tab. 5: Geographie der Rohstoffexporte aus dem zentralen Ostseeraum nach Großbritannien, Tab. 5: Geographie der Rohstoffexporte aus dem zentralen Ostseeraum nach Großbritannien, 1780‒ 1780–1789 (Gesamtmengen). Basiert auf STRO 1789 (Gesamtmengen). Basiert auf STRO.  46

Werner Scheltjens: Dutch Deltas. Emergence, Functions and Structure of the Low Countries’ Maritime Transport Sector, ca. 1300–1850. Leiden/Boston 2015, S. 91–107. 47 Ebd., S. 107–130. 48 Derek McKay / Hamish M. Scott: The Rise of the Great Powers 1648–1815. London / New York 1983, S. 234–242. 49 Jerzy Łojek: British Policy towards Russia, 1790–1791, and Polish Affairs, in: The Polish Review 2 (1983), S. 3–17, hier 4. 50 Martens: Sobranie Traktatov, Tom VI (wie Anm. 24), S. 119–132.

44

Werner Scheltjens

Ende der 1780er Jahre dauerten die Auseinandersetzungen zwischen den Mächten im Ostseeraum, die an der Ersten Polnischen Teilung beteiligt waren, um die Stellung Danzigs an und wurden zunehmend bestimmend für die Zukunft der PolnischLitauischen Union. Darüber hinaus begannen die britischen Handelsinteressen im Ostseeraum einen immer größeren Einfluss auf die Struktur des kommerziellen Austausches innerhalb und mit dem Ostseeraum zu nehmen. Parallel zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und zum Vierten EnglischNiederländischen Seekrieg hatte Großbritannien seit der Mitte der 1770er Jahre kontinuierlich seine Position in allen Häfen des zentralen Ostseeraums gestärkt – außer in Libau und Riga, wo die Niederländer dominierend blieben. Danzig, Königsberg, Pillau, Memel und gelegentlich auch Riga wurden in den Kriegsjahren 1777/78 und 1783–1785 als Handelsorte für Nahrungsmittelexporte nach Großbritannien genutzt. Während dieser Jahre stieg das Volumen dieser Exporte um ein Vielfaches an, kehrte aber anschließend auf ein normales Niveau zurück. Nahrungsmittelexporte nach Großbritannien waren demnach noch nicht die Regel, denn eine externe Versorgung mit Nahrungsmitteln war nur nötig, wenn die lokale Produktion nicht ausreichte.51 Während dieser Periode und besonders in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre boomte der Export von Rohstoffen aus den traditionellen Förderregionen für Holz im Finnischen Meerbusen (Vyborg und Sankt Petersburg) und vor allem aus Memel,

Abb. 1: Anteile der Nachbarländer am Gesamtwert der Exporte aus dem Großherzogtum Litauen, 1786 und 1791 Quelle: Übernommen aus Truska/Jasas: Vnesnjaja torgovlja (wie Anm. 52), S. 50. 51

Siehe ausführlicher dazu Werner Scheltjens: The Changing Geography of Demand for Dutch Maritime Transport in the Eighteenth Century, in: Histoire et Mesure 37 (2012), S. 3–47.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

45

wo die Briten nun fest etabliert waren. Andere naval stores, wie Hanf und Flachs, wurden im litauischen Hinterland der baltischen Häfen angebaut und meist über Sankt Petersburg und Memel nach Großbritannien exportiert. Eisenexporte kamen aus Schweden (meist über Stockholm) und Russland (über Sankt Petersburg). Zur gleichen Zeit, als Großbritanniens Rohstoffimporte aus dem Ostseeraum anstiegen, kam es somit zu einer fundamentalen Änderung der Warenströme aus dem litauischen Hinterland (siehe Abb. 1). Obwohl dieser Aspekt der Teilung bisher kaum in der Forschung Berücksichtigung fand,52 erscheint es berechtigt anzunehmen, dass der britische Konsul in Memel mit seinen engen Kontakten zur Familie Radziwiłł Einfluss auf die Richtung der Warenströme nehmen konnte, um diese aus dem litauischen Hinterland in preußische, weniger in russische Häfen zu lenken. Die Neuausrichtung der litauischen Exporte passte jedoch ebenso gut in die sich herausbildende internationale politische Konstellation, denn in den 1780er Jahren war das Gesamtvolumen der Exporte von naval stores aus Russland nach Großbritannien so hoch, dass die britische Regierung wegen ihrer Abhängigkeit vom Russländischen Reich zunehmend beunruhigt war. Zur gleichen Zeit störte sich Großbritannien am „neuen“ internationalen Seerecht, welches im Bund der Bewaffneten Neutralität (1780) formuliert worden war, und wonach sich das Russländische Reich selbst als Seemacht zu positionieren versuchte.53 Besonders nach 1786, als der Handelsvertrag von 1766 nicht erneuert und stattdessen französisch-russische und portugiesisch-russische Handelsverträge geschlossen wurden, begann Russlands Haltung gegenüber Großbritannien ablehnender zu werden.54 Das half dem ostpreußischen Hafen Memel, sich als ein geeigneter Holzanbieter für Großbritannien zu etablieren. Memels Wachstum war wichtig für Preußen – sowohl aus rein kommerzieller als auch aus politischer Perspektive. Großbritanniens wachsender Einfluss auf die Struktur des Handelsaustausches mit dem Ostseeraum wurde besonders während der von Jerzy Łojek als Eastern Crisis bezeichneten Zeit von 1787–1791 offensichtlich – eine unruhige, vielschichtige und komplexe Episode in der zentral- und osteuropäischen Geschichte, welche sowohl den Russisch-Schwedischen Krieg (1788–1790) als auch den RussischTürkischen Krieg (1787–1792) und die Oczakow-Krise (1791) umfasste und deren ökonomische Konsequenzen bisher kaum bekannt und erforscht sind.55 Die hauptsächlichen Protagonisten der Eastern Crisis, die sich an mehreren Fronten zur gleichen Zeit entfaltete, waren Großbritannien, Preußen und Polen auf der einen, Russland, Österreich und das Osmanische Reich auf der anderen Seite. Eine sekundäre Rolle spielten die Niederlande, welche mit Preußen und Großbritannien seit 1788 in einer Triple-Allianz verbündet waren, und Schweden, dass 1788 eine Attacke gegen das Russländische Reich plante, sowie Danzig, welches von der Polnischen 52 53 54 55

Eine Ausnahme ist L. S. Truska / R. V. Jasas: Vnesnjaja torgovlja Velikogo Knjazestva Litovskogo v poslednie gody ego suscestvovanija (1785–1792), in: Lietuvos TSR Mokslu˛ akademijos darbai, A serija 32 (1970), S. 23–52. Hans Hopf: Danzig in der Vorgeschichte zur Zweiten Teilung Polens, in: Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins 76 (1941), S. 103–170. Łojek: The International Crisis (wie Anm. 21), S. 23–36. Ebd., S. 1.

46

Werner Scheltjens

Krone verteidigt wurde.56 Auch wenn in den historischen Studien zur Eastern Crisis die internationale Diplomatie der verschiedenen Höfe im Fokus steht, ist es evident, dass der Zugang zum Meer und die Schaffung neuer Möglichkeiten, um Warenströme zu jeweils anderen Häfen entweder im Ostseeraum oder im Schwarzen Meer zu verlagern, vorrangige Interessen auf beiden Seiten waren. An der südlichen Front war der Zugang zu den Häfen des Schwarzen Meeres das Hauptanliegen des Russländischen Reiches, wobei die Einstellung der Kämpfe um die Festung von Oczakow eine bedeutende Rolle in der Verwirklichung dieser Pläne spielte.57 Polen versuchte am Russischen Krieg gegen die Türken teilzunehmen und verband damit die Hoffnung, für sich selbst Vorteile zu erreichen, vor allem ebenfalls einen Zugang zu einem Hafen am Schwarzen Meer zu erhalten.58 Zur gleichen Zeit strebte Preußen noch immer danach, den Hafen von Danzig und die strategisch günstig gelegene Handelsstadt Thorn an der Weichsel zu übernehmen, doch weder England noch Russland und Polen waren bereit, eine solche territoriale Expansion zuzulassen. Der preußische Außenminister Herzberg entwarf einen Plan, nach welchem in einem Ländertausch Galizien als Kompensation für den Verlust von Danzig und Thorn an Polen zurückgegeben werden sollte; doch dieser Plan stieß auf russischen, polnischen und englischen Widerstand und schlug fehl.59 Jedoch stand die Danziger Frage von nun an – erneut – auf der preußischen, russischen und britischen Agenda. Dabei wurde dem britischen Außenminister William Pitt klar, dass Polen-Litauen eine brauchbare Alternative zum Russländischen Reich als Lieferant von naval stores darstellen könnte.60 Nicht überraschend ist dabei, dass Pitt in dieser Angelegenheit durch den britischen Konsul in Memel, James Durno, beraten wurde. Nach dem Fehlschlag von Herzbergs Ländertausch-Projekt versuchte Großbritannien in den späten 1780er Jahren Preußen und Polen zu überzeugen, einen Handelsvertrag zu unterzeichnen, in welchem Danzig als Freihafen für den britischen Handel mit Polen vorgesehen war; danach war die Unterzeichnung eines britischpolnischen Handelsvertrags geplant. Jedoch war die Danziger Frage durch die preußisch-polnische Allianz von 1790 noch nicht gelöst, und allmählich ließ sich Großbritannien davon überzeugen, dass eine preußische Einverleibung von Danzig und Thorn auch in seinem Interesse läge.61 Dem aber stellte sich Katharina II. entgegen,

56 57 58 59 60

61

Hopf: Danzig (wie Anm. 53), S. 138. Dietrich Gerhard: England und der Aufstieg Russlands. Zur Frage des Zusammenhanges der europäischen Staaten und ihres Ausgreifens in die außereuropäische Welt in Politik und Wirtschaft des 18. Jahrhunderts. München 1933, S. 275–308. Ebd., S. 280–285. Hopf: Danzig (wie Anm. 53), S. 106–109. Ein weiteres Zeichen des wachsenden britischen Interesses am internationalen Handel mit Polen ist ein Plan von 1788, mit britischer Hilfe einen Hafen in Polangen auf einem schmalen Landstreifen in Samogitien, welches zu dieser Zeit polnisch war, zu errichten. Siehe: Jan Antoni Wilder: Projekt Franciszka Piłsudskiego odbudowy portu pod Pola˛ga˛, in: Rocznik Gdan´ski, t. 9/10 (1935/36), S. 3–20; Romuald Misiuras: The Šventoji Project. 18th Century Plans for a Lithuanian Port, in: Journal of Baltic Studies 8 (1977), S. 28–50. Hopf: Danzig (wie Anm. 53), S. 121–133.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

47

nicht zuletzt in der Öffentlichkeit.62 In der ersten Jahreshälfte 1791 veränderten sich die strategischen Positionen aller großen Parteien, die involviert waren, drastisch. Großbritannien sah seine Hoffnung auf die Unterzeichnung eines Handelsvertrages mit Polen schwinden, nachdem Preußen Widerstand gegen die Abschaffung des Danziger Stapelrechtes leistete,63 weshalb sich Großbritannien entschied, einen einschneidenden Wandel in seiner Politik gegenüber Russland und der Türkei vorzunehmen. Am wichtigsten war Großbritannien dabei, seinen Handel in der Levante nicht gefährdet zu sehen. Es war daher nicht länger gegen eine Einnahme Oczakows durch das Russländische Reich.64 Zur gleichen Zeit fand eine neue Annäherung zwischen Russland und Preußen statt, welche die Position Polens gefährdete.65 Als am 3. Mai 1791 die erste polnische Verfassung verabschiedet wurde, zeigte sich Katharina II. verärgert und traf die Entscheidung, im Januar 1792 in Polen einzufallen. Preußen war zu dieser Zeit zu sehr im Krieg gegen Frankreich engagiert, um Polen beizustehen und es zu unterstützen, auch wenn dem preußischen König nun von polnisch-litauischer Seite angeboten wurde, Danzig und Thorn an Preußen abzutreten.66 Als Russland Preußen vorschlug, eine zweite Teilung Polens durchzuführen, stellte sich Preußen nicht gegen diese Idee.67 In der Zweiten Polnischen Teilung im Jahr 1793 fiel Danzig endgültig an Preußen.68 Zwei Jahre später wurden schließlich die verbliebenen Teile Polen-Litauens und sein Vasallenstaat Kurland zwischen Österreich, Russland und Preußen aufgeteilt.69 Preußen und Russland kontrollierten nun den Großteil der südlichen und östlichen Küstenlinie der Ostsee, an welcher die wichtigsten Umschlagplätze für die Produkte des riesigen nordeurasischen Hinterlandes lagen. Für dieses Hinterland wurde die Ostsee zum (See)Weg in die meisten Häfen Europas. III. Auch wenn es nicht möglich ist, die exakten Folgen der Zweiten und Dritten Polnischen Teilung auf die Entwicklung der Volumina der verschifften Exporte aus dem zentralen Ostseeraum unmittelbar zu benennen, so ist doch festzuhalten, dass in nur zwei Jahrzehnten die seewärtigen Exporte von Polen-Litauen und Kurland, welche in den Jahren vor der Ersten Polnischen Teilung noch bei ungefähr 150 000 Tonnen jährlich gelegen hatten, gegen Null gingen. Im gleichen Zeitraum verdoppelte sich das Exportvolumen Preußens, das später sogar das russische übertraf. Die Exporte aus Russland wuchsen allerdings signifikant und dominierten den Ostseehandel bis um 1800. 62 63 64 65 66 67 68 69

Gerhard: England (wie Anm. 57), S. 319–320; Hopf: Danzig (wie Anm. 53), S. 140–143. Hopf: Danzig (wie Anm. 53), S. 147. Ebd., S. 151. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd. Martens: Sobranie Traktatov, Tom VI (wie Anm. 24), S. 159–163. Ebd., S. 163–170.

48

Werner Scheltjens

Das größte wirtschaftliche Opfer der Teilungen war ohne Zweifel der Hafen von Danzig. Von einem Rekord-Hoch des Exportvolumens mit 193 072 Tonnen im Jahr 1770, das durch die große, bis 1772 dauernde Hungerkrise in ganz Europa ausgelöst worden war,70 fiel das Exportvolumen auf 40 015 Tonnen im Jahr 1775 und weiter auf 20 203 Tonnen im Jahr 1776, bevor es sich bei ca. 50 000 Tonnen pro Jahr stabilisierte. In den frühen 1780er Jahren übersprangen die seewärtigen Exporte aus Polen-Litauen nochmals die 100 000-Tonnen-Marke (1785: 101 663 Tonnen). Ein paar Jahre später sanken sie jedoch erneut drastisch ab: Die in den Jahren 1787 und 1788 verschifften Exporte aus Polen-Litauen beliefen sich auf jeweils 32 626 und 26 383 Tonnen. Mit der Annexion Danzigs durch Preußen in der Zweiten Polnischen Teilung erlebte die Stadt dann eine kurze Periode der Erholung. ABFAHRTSREGION ZIELREGION

Preußen

Papenburg

338,37

0,14%

330,16

Irland

3.919,80

1,42%

3.654,51

Großbritannien

148.324,14 54,47% 165.438,50 48,59% 313.762,64 50,74% 0,50

Portugal

20.542,36

8,07%

16.021,33

4,76%

36.563,69

5,91%

0,51

Preußen

8.722,15

3,42%

11.184,60

3,37%

19.906,75

3,22%

0,51

Batavische Rep.

52.256,13

19,08% 96.405,29

28,01% 148.661,42 24,04% 0,54

Schweden

6.502,74

2,56%

3.230,70

1,01%

9.733,44

1,57%

0,56

Spanien

6.952,79

2,63%

15.303,67

4,40%

22.256,47

3,60%

0,57

Frankreich

5.925,26

2,30%

2.027,06

0,63%

7.952,33

1,29%

0,62

Dänemark

11.760,88

4,62%

3.598,68

1,11%

15.359,56

2,48%

0,64

Hamburg/Bremen

2.788,98

1,04%

9.702,00

2,95%

12.490,97

2,02%

0,65

Vereinigte Staaten 52,01

0,02%

7.973,71

2,32%

8.025,72

1,30%

0,99

Rest

1.070,98

0,40%

14.403,57

4,12%

15.474,55

2,50%

TOTAL

269.156,58

349.273,78

Anteil

43,52%

56,48%

HHI-2

0,36

0,33

GINI

Russland

TOTAL

Anteil

HHI

0,09%

668,54

0,11%

0,50

1,01%

7.574,31

1,22%

0,50

618.430,37

0,79

 

Tab. 6: Die geographische Struktur der Exporte aus dem zentralen Ostseeraum, 1796–1798. Tab. 6: Die geographische Struktur der Exporte aus dem zentralen Ostseeraum, 1796‒1798. Basiert  Basiert auf STRO auf STRO.   

70 Dominik Collet: „Hunger ist der beste Unterhändler des Friedens“. Die Hungerkrise 1770– 1772 und die Erste Teilung Polen-Litauens, in: Bömelburg/Gestrich/Schnabel-Schüle (Hg.): Die Teilungen (wie Anm. 2), S. 155–171.

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

49

Nach der Dritten Polnischen Teilung waren die Exportvolumina aus dem zentralen Ostseeraum zwischen Preußen und Russland fast gleich verteilt (siehe Tab. 6). Während zwei Jahrzehnte zuvor die Niederlande noch den größten Anteil an diesen Exporten besessen hatten, übernahm nun Großbritannien diese Rolle. Mehr als die Hälfte des Gesamtvolumens der seewärtigen Exporte aus Preußen und Russland ging nach Großbritannien. Jedoch gibt es einen wichtigen Unterschied bezüglich des wachsenden Exportaufkommens beider Staaten: Der Großteil der russischen Exporte nach Großbritannien entstammte dem russischen Hinterland bis zum Ural, woher Eisen in zunehmender Menge nach Sankt Petersburg für den Export transportiert wurde,71 nicht jedoch den Territorien der ehemaligen Polnisch-Litauischen Union. Der Anstieg der preußischen Exporte basierte hingegen wohl primär auf der Übernahme der Ausfuhr aus der ehemaligen Polnisch-Litauischen Union. Die zunehmende Stärke Großbritanniens im Ostseehandel während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts und seine Beziehungen zu den Teilungsmächten Preußen und Russland sind unmittelbar mit dem Schicksal der Polnisch-Litauischen Union verknüpft. Der preußische „Kampf gegen Danzig“ ließ nach der Ersten Polnischen Teilung die traditionelle Route zwischen Danzig und Amsterdam aus dem niederländischen Seetransportsystem verschwinden. Nach der Zweiten und Dritten Polnischen Teilung wurde diese Veränderung der Handelsrouten sogar noch offensichtlicher, als Preußen und neutrale Transporteure die Beförderung aus dem zentralen Ostseeraum in die Niederlande übernahmen. Dabei wurde parallel zum ansteigenden Exportvolumen nach Großbritannien auch die Position der britischen Handelsflotte stärker (siehe Tab. 7). ZIELREGION HEIMAT

BR

%

PT

%

FR

%

HT

%

GB

%

Dänemark

73.300,82

16,44%

38.996,56

35,60%

4.020,73

16,85%

3.988,37

10,64%

3.863,75

0,41%

5.065,24

4,62%

134,88

0,57%

625,67

1,67%

754.856,12 80,70%

Hansestädte

14.870,51

3,33%

10.437,57

9,53%

1.211,95

5,08%

20.992,40

56,02%

699,12

0,07%

Mecklenburg

18.419,89

4,13%

597,20

0,55%

652,66

2,74%

1.323,62

3,53%

1.053,31

0,11%

Oldenburg

19.396,18

4,35%

602,42

0,55%

433,58

1,82%

682,01

1,82%

619,73

0,07%

Papenburg

32.046,31

7,19%

308,72

0,28%

155,91

0,65%

336,44

0,90%

1.059,22

0,11%

2.002,52

1,83%

Großbritannien

Portugal Preußen

258.349,30 57,94%

34.928,10

31,89%

15.359,43

64,38%

7.058,22

18,84%

169.834,82 18,16%

Schweden

29.516,56

13.322,53

12,16%

1.116,83

4,68%

1.923,66

5,13%

2.725,95

3.270,75

2,99%

771,00

3,23%

542,53

1,45%

680,47

0,07%

159,44

0,15%

5.895,41

0,63%

6,62%

Vereinigte Staaten Rest

84,68

0,02%

0,29%

Legende BR = Batavische Republik, PT = Portugal, FR = Frankreich, HT = Hansestädte Hamburg und Bremen, GB = Großbritannien.

Tab. 7: Die regionale Verteilung der Teilnahme des maritimen Transportsektors an den Exporten aus dem zentralen Ostseeraum, 1776–1778. Basiert auf STRO

Tab. 7: Die regionale Verteilung der Teilnahme des maritimen Transportsektors an den Exporten aus dem zentralen Ostseeraum, 1776‒1778. Basiert auf STRO. 

Legende BR = Batavische Republik, PT = Portugal, FR = Frankreich, HT = Hansestädte Hamburg und Bremen, GB = Großbritannien

71

Arcadius Kahan: The Plow, the Hammer and the Knout. An Economic History of EighteenthCentury Russia. Chicago u. a. 1985.

50

Werner Scheltjens

ZUSAMMENFASSUNG Die zahlreichen Veröffentlichungen, die diese turbulente Episode der europäischen Geschichte in den Blick nehmen, widmen sich kaum den ökonomischen Aspekten der Teilungen der Polnisch-Litauischen Union, weshalb die hier vorgestellten Ausführungen gewiss nicht mehr als ein erster Versuch sein können, die Konturen der politischen Ökonomie der Polnischen Teilungen nachzuzeichnen. Mehrere wesentliche Aspekte bedürfen demnach weiterreichender Analysen. Zunächst bliebe die Rolle der Niederlande bzw. das Ausbleiben einer aktiven Rolle der Niederlande in der Zeit der Ersten Polnischen Teilung zu klären. Die Niederländer sahen ihre hauptsächliche Verbindung in den Ostseeraum und ihre starke Position in Danzig auf eine noch nie dagewesene Weise gefährdet. Bislang scheint es so, als hätten sie nach einer anfänglichen diplomatischen Reaktion keine feste Position eingenommen,72 sondern nur versucht, ihre kommerziellen Interessen zu sichern. Ebenso bleiben die genauen Standpunkte (und die darin stattgefundenen Wandlungen) von James Durno und William Pitt dem Jüngeren sowie auch diejenigen der britischen Konsuln in Berlin und Warschau zu untersuchen, welche die besten Wege zur Sicherung britischer Wirtschaftsinteressen während der Eastern Crisis ausloteten. Schließlich ist der Einfluss der Triple-Allianz zwischen Preußen, Großbritannien und den Niederlanden auf die Struktur des internationalen Handels in und mit dem Ostseeraum während der Eastern Crisis im Kontext der politischen Ökonomie der Teilungen zu analysieren. Nichtsdestoweniger hat die Betrachtung der Zusammensetzung und geographischen Verortung der Warenströme aus dem zentralen Ostseeraum nach Westeuropa anhand der auf den Sundzollregistern basierenden Transportstatistiken klar gezeigt, dass die Teilungen der Polnisch-Litauischen Union einen massiven Einfluss auf die Struktur des Transports und des Handels im Ostseeraum in den späten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts ausübten. Insgesamt resultierten die territorialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die im zentralen Ostseeraum nach der Ersten Polnischen Teilung auftraten, aus nichts Geringerem als der Umgestaltung des Ostseehandels. Der Einfluss von komplexen, instabilen und variierenden Kombinationen aus ökonomischen und diplomatischen Zielen, die von den führenden politischen Kräften dieser Zeit verfolgt wurden – insbesondere Preußen, Russland und Großbritannien –, kann kaum überschätzt werden: Weder die Zusammensetzung des Warenstroms noch die geographische Verteilung blieben davon unberührt. Auf der Ebene der Exporte von einzelnen Häfen im zentralen Ostseeraum waren demnach zwei Veränderungen entscheidend: (1) die Schlüsselrolle Memels als Transithafen für die russischen Holzexporte aus den ehemaligen litauischen Gebieten, deren Bewirtschaftung erst 1764 durch den Prinz von Radziwiłł freigegeben wurde; und (2) der Kampf gegen Danzig, angelegt im ersten Teilungsvertrag von 1772 und operationalisiert im polnisch-preußischen Handelsvertrag von 1775, welcher zu einer Verlagerung der ehemaligen polnisch-litauischen Getreide- und Holzexporte zu den preußischen Häfen führte. 72

Michael: Englands Stellung (wie Anm. 22).

Die politische Ökonomie der Teilungen Polens, oder der Ostseehandel neukonfiguriert

51

Auf der staatlichen Ebene spielten die beobachteten Struktur- und Funktionsveränderungen in den Häfen eine entscheidende Rolle, denn die Umstrukturierung der preußischen Exporte nach der Ersten Polnischen Teilung 1772, die Einführung des preußisch-polnischen Handelstraktates 1775 und die Zweite und Dritte Polnische Teilung 1793 und 1795 können aus der Perspektive der internationalen politischen Ökonomie als eine Durchbruchphase in der machtpolitischen Entwicklung des Ostseeraums charakterisiert werden. Preußen und Russland, die sich schon seit längerem um eine Stärkung ihrer internationalen Machtpositionen bemüht hatten, konnten nun Großbritannien mit dem für dessen wirtschaftliche Entwicklung so unentbehrlichen Getreide und den wichtigen Rohstoffen Holz, Hanf und Leinen beliefern. Die Teilungen und die damit verbundenen strukturellen Änderungen im Außenhandel versetzten Preußen und Russland in die Lage, die westlichen Großmächte wirtschaftlich zu beeinflussen; zumindest war dies beabsichtigt. Umgekehrt verfolgte Großbritannien, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in erheblichem Maß in Abhängigkeit von Getreide-, Holz-, Hanf- und Leinenimporten aus dem Ostseeraum geraten war, das Entstehen eines durch Preußen und Russland gebildeten Machtblocks mit Argwohn. Durch ihre Auswirkungen auf die Struktur des Außenhandels und die damit verbundenen Veränderungen in den zwischenstaatlichen Machtverhältnissen waren die polnischen Teilungen also von höchster Bedeutung für ganz Europa. Sie waren langfristig prägend für die europäische politische Ökonomie des 19. Jahrhunderts.

COPING WITH CHAOS Geographische Dimension und institutionelle Neuerungen während der weltweiten Spekulationsblase von 17991 Margrit Schulte Beerbühl, Düsseldorf „Hier scheinen die Menschen alle Köpfe verloren zu haben und ich sehe nicht, dass zweckmäßige Mittel genommen werden, um dem Unheil Gränzen [sic!] zu setzen“2,

schrieb der Frankfurter Bankier Simon Moritz Bethmann aus Hamburg an seinen Vetter in London im Oktober 1799. Was war passiert? Mitte September 1799 war eine Spekulationsblase in Hamburg geplatzt, die innerhalb von sechs Wochen 136 Handels- und Bankhäuser mit einer Gesamtsumme von 38 Millionen Mark Banco mitriss. Dieses Ereignis löste eine internationale Schockwelle aus, die bis in die Neue Welt zu spüren war. Eine detaillierte Untersuchung über Ausmaß und Dimension dieser Spekulationsblase fehlt jedoch bislang. Dabei hat seit dem Zusammenbruch der amerikanischen Lehman Brothers-Bank 2008, in dessen Folge die Börsen weltweit abstürzten, das publizistische und wissenschaftliche Interesse an Krisen und Spekulationsblasen eine hohe Konjunktur erfahren. Inzwischen sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich jedoch vorwiegend mit der Neuzeit befassen.3 Ausnahmen sind die niederländische Tulpenmanie im 17. Jahrhundert sowie die beiden bekannten Spekulationsblasen des frühen 18. Jahrhunderts, die Südseeblase und der Mississippi-Schwindel. Sie haben eine gewisse Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden, doch ist die Literatur zur Geschichte der frühneuzeitlichen Spekulationsblasen recht übersichtlich.4 1

2 3

4

Mein Dank gilt dem LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ der Goethe-Universität Frankfurt a. M., dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte sowie dem German Historical Institute Washington für die Förderung dieses Projekts. Für Anregungen und Kritik danke ich Prof. Günther Schulz, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn, und Prof. Michael C. Schneider, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Bethmann Archiv Frankfurt, Briefbuch W1–92 Nr. 67: Simon Moritz Bethmann, Hamburg, an Simon Maurice Bethmann, Vetter), London, 8.10.1799. Auch für die Spekulationskrisen des 19. Jahrhunderts ist eine reichhaltige Literatur vorhanden, siehe u. a. Hans Rosenberg: Die Weltwirtschaftskrise 1857–1859 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1396). Göttingen 1974 (Stuttgart u. a. 1934); Gerhard Ahrens: Krisenmanagement 1857. Staat und Kaufmannschaft in Hamburg während der ersten Weltwirtschaftskrise (Veröffentlichung des Vereins für Hamburgische Geschichte 28). Hamburg 1986; Samuel B. Saul: The Myth of the Great Depression (Studies in Economic and Social History). Basingstoke 1985. Siehe u. a. Toni Pierenkemper: Von der Tulpenkrise zum Finanzkollaps. Das Allgemeine im Besonderen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2011/1, S. 139–159; Mike Dash: Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte. München 1999; Helen J. Paul: The South

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Margrit Schulte Beerbühl

Demgegenüber ist die eingangs angesprochene Hamburger Spekulationsblase von 1799 nahezu in Vergessenheit geraten. Sofern sie in der jüngeren wirtschaftshistorischen Forschung und lokalen Literatur zur Hansestadt überhaupt Erwähnung findet, wird sie als ein lokales und kurzfristiges Ereignis abgetan.5 Gleichwohl werteten Zeitgenossen, wie der Publizist Johann Georg Büsch, die Blase als ein ausgesprochen folgenschweres Geschehen, das in seiner Dimension neuartig war.6 Auch einige ältere Untersuchungen, wie die von Max Wirth und Mentor Bouniatian, betonen die Schwere der Krise. Ihre Arbeiten konzentrieren sich aber weitgehend auf die Ereignisse in Hamburg, während die Auswirkungen auf andere Städte und Länder nur am Rande erwähnt werden. Es fehlen somit eingehende Studien über Ursachen, Verlauf, geographische Dimension und Nachwirkungen der Krise. Ein wesentlicher Grund für das geringe Interesse der wirtschaftshistorischen Forschung an den Spekulationskrisen des 18. Jahrhunderts ist die immer noch vorherrschende Unterscheidung zwischen vormodernen Agrar- und Ernährungs- sowie modernen Krisen der kapitalistischen Wirtschaft. Letztere unterscheiden sich von den vormodernen durch ihren zyklisch wiederkehrenden Charakter sowie die gesamtwirtschaftlichen und sozialen Folgen.7 Es wird zwar zugestanden, dass es in der vormodernen Wirtschaft auch Staatsbankrotte und Spekulationskrisen gab, doch seien sie kein zyklisch wiederkehrendes Phänomen und nur von geringer Reichweite ohne schwerwiegende gesamtwirtschaftliche Folgen gewesen. Den Krisen des 18. Jahrhunderts wird zwar ein gewisser Übergangscharakter eingeräumt, doch werden auch sie noch als „vergleichsweise harmlos“ eingestuft, da sie „den ökonomischen Alltag nicht unbedingt erreichten“.8 Bevor die Spekulationskrise von 1799, ihr Typus, ihre Ursachen, geographische Dimension und Folgen analysiert werden, soll zunächst kurz auf die von der wirtschaftshistorischen Forschung entwickelten und als grundlegend angesehenen Kriterien moderner Spekulationskrisen eingegangen werden, um danach zu fragen, in welchem Umfang diese Kriterien auf die 1799er-Krise zutreffen. Gegenüber dem von der (neo-)klassischen Ökonomie vertretenen Gleichgewichtskonzept des Marktes gehen Krisenkonzepte von einer grundlegenden Insta-

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Sea Bubble. An Economic History of its Origins and Consequences (Routledge Explorations in Economic History 49). London 2010; Larry Neal: „I am not master of events.“ The Speculations of John Law and Lord Londonderry in the Mississippi and South Sea Bubbles (Yale Series in Economic and Financial History). New Haven, Conn. 2012. Werner Plumpe: Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart (Beck’sche Reihe 2701). München 2010, S. 40; Burghart Schmidt: Hamburg im Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleon (1789–1813). 2 Bde. Hamburg 1998, Bd. 1, S. 239 f. Johann Georg Büsch: Geschichtliche Beurtheilung der großen Handelsverwirrung im Jahre 1799, nebst Anmerkungen mit besonderer Bezugnahme auf die Krisis von 1857, von Hartwig S. Hertz. Hamburg 1858, S. 87 f.; Max Wirth: Geschichte der Handelskrisen. Frankfurt 1890, S. 106–109; Mentor Bouniatian: Geschichte der Handelskrise in England. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des englischen Wirtschaftslebens 1640–1840. München 1908, S. 196– 199. Allerdings bewertet er sie für England als nicht ganz so schwerwiegend. Freilich liegt Bouniatians Hauptaugenmerk auf der Bankenkrise von 1797. Siehe hierzu und zum Folgenden Plumpe: Wirtschaftskrisen (wie Anm. 5), S. 42; Pierenkemper: Tulpenkrise (wie Anm. 4), S. 139–159. Plumpe: Wirtschaftskrisen (wie Anm. 5), S. 41 f.

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bilität des modernen Wirtschaftssystems aus.9 Ihnen zufolge ist die moderne Marktwirtschaft durch zyklisch wiederkehrende Krisen geprägt, die zugleich als Indikatoren eines dynamischen Wirtschaftswachstums betrachtet werden. In ihrer Folge wird – nach Schumpeters klassischer Definition der schöpferischen Zerstörung – der Markt von überkommenen Wirtschaftsstrukturen befreit, um Raum für neue Entwicklungen zu schaffen. Spekulationsblasen entstehen durch gesteigerte, wenn nicht überzogene Gewinnerwartungen der Wirtschaftsakteure, die mit einer erhöhten Risikobereitschaft einhergehen. Das zugrundeliegende Modell moderner Spekulationskrisen unterscheidet je nach Autor zwischen vier und zehn Phasen.10 Hier werden – in Anlehnung an Kindleberger – die wesentlichen Phasen kurz vorgestellt. Nach dessen Modell steht am Anfang eine Periode der Innovation, der eine wirtschaftliche Belebung folgt, in der beträchtliche Gewinne abgeworfen werden. Ihr schließt sich eine Phase der Hochkonjunktur an, in deren Verlauf verschiedene Akteursgruppen – von weniger waghalsigen, unvorsichtigen oder mit unzureichenden Marktkenntnissen ausgestatteten Unternehmern bis hin zu Spekulanten und Schwindlern – auf den Markt treten, um an den neuen Profitmöglichkeiten teilzuhaben. Sie kulminiert in einer Phase, die durch Überhitzung des Marktes, Überproduktion oder Überakkumulation gekennzeichnet ist, und in der die Akteure in Erwartung hoher Profite zur Abkehr von normalem rationalen Verhalten neigen, also zur „Mania“ oder Euphorie. Diese Handlungsweise ist als „irrational exuberance“ bezeichnet worden oder als eine „andere […] Art von Rationalität“.11 Die Boomphase wird durch Über-Expansion des Kreditsystems und einen starken Anstieg der Preise und Gewinne genährt.12 Es baut sich eine Blase auf, die jäh und abrupt platzt – ausgelöst durch einen plötzlichen allgemeinen Vertrauensverlust – und viele Unternehmen mit sich reißt. Ihr schließt sich eine schwere Rezessions- bzw. Depressionsphase an. Mit dem Einsetzen einer wirtschaftlichen Belebung beginnt ein neuer Zyklus. Angesichts der Kettenreaktionen, die das Platzen einer solchen Spekulationsblase auf dem Markt auslöst, und den wirtschaftlichen Folgen von Rezession und Arbeitslosigkeit wird in der Forschung die Frage nach der Intervention eines „lender of last resort“ zur Wiederherstellung von Vertrauen auf dem Markt bzw. Abmilderung der 9

Siehe hierzu u. a. Charles P. Kindleberger: Manias, Panics, and Crashes. A History of Financial Crises (Wiley Investment Classics). London 1978; Edward Chancellor: Devil Take the Hindmost. A History of Financial Speculation. New York 1999; Carmen M. Reinhart / Kenneth S. Rogoff: Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen. München 2010; vgl. auch den Beitrag des Soziologen Georg Vobruba: Kein Gleichgewicht. Die Ökonomie in der Krise. Weinheim/Basel 2012. 10 Harald Pechlaner geht von einem Vierphasen-Modell aus (Harald Pechlaner u. a. [Hg.]: Scheitern: Die Schattenseite unternehmerischen Handelns. Die Chance zur Selbsterneuerung. Berlin 2010, Einleitung); Pierenkemper: Tulpenkrise (wie Anm. 4), entwickelt ein Zehnphasen-Modell, und Kindleberger: Manias (wie Anm. 9), unterscheidet in seiner bedeutenden Untersuchung fünf Phasen. 11 Pierenkemper: Tulpenkrise (wie Anm. 4), S. 145; Robert J. Shiller: Irrational Exuberance. Princeton, New Jersey 2000 (Dt.: Irrationaler Überschwang. Warum eine lange Baisse an der Börse unvermeidlich ist. Frankfurt a. M. 2000). 12 Kindleberger: Manias (wie Anm. 9), S. 15, 22.

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Rezession debattiert.13 Gerade die Krise von 2008 hat dieser Diskussion neuen Auftrieb verliehen. Ausgangspunkt sowie externe Ursachen der Spekulationsblasen variieren dabei deutlich: Beginn oder Ende eines Krieges, politische Eingriffe, Ernteausfälle oder Überangebote, um nur einige Faktoren zu nennen, können externe Auslöser sein. Ebenso unterschiedlich können die jeweils auslösenden Institutionen sein, z. B. eine Bank, ein Handels- oder ein Industrieunternehmen. Entsprechend wechseln die lokalen Epizentren der Blasen. Die Struktur und Dichte der wirtschaftlichen Verflechtung beeinflusst entscheidend die geographische Reichweite der Krise und ihre Folgen. Spekulationskrisen werden auch nicht ausschließlich durch Aktienspekulation und Bankenzusammenbrüche verursacht. Wie Toni Pierenkemper, Carmen M. Reinhart, Kenneth S. Rogoff u. a. hervorheben, gibt es zahlreiche Krisentypen, neben Börsen- und Bankenkrisen z. B. auch Handels-, Kredit-, Geld- und Staatsschuldenkrisen, die solche Blasen hervorrufen können.14 Von dem Phasen-Konzept moderner Spekulationskrisen ausgehend, soll danach gefragt werden, wo die Hamburger Wirtschaftskrise von 1799 verortet werden kann. DIE SPEKULATIONSKRISEN DES 18. JAHRHUNDERTS In ihrer Untersuchung über Finanzkrisen haben Reinhart und Rogoff auf die Relativität unserer Vorstellung von Zyklen hingewiesen und gefordert, dass die Zeitspanne im historischen Kontext betrachtet und keineswegs von der Vorstellung eines festen Zeitzyklus geleitet werden sollte. Ein Ereignis, das in einem kurzen Betrachtungszeitraum nur sporadisch auftritt, muss – so argumentieren sie – in einem längeren historischen Bezugsrahmen keineswegs selten sein.15 Spekulationskrisen gehen vor allem von den bedeutenden Finanz- und Wirtschaftszentren aus. Im 18. Jahrhundert war London zum führenden Finanz- und Handelszentrum aufgestiegen und wurde zur Drehscheibe eines weltweiten Finanzund Warenumschlags. Untersuchungen u. a. von Julian Hoppit haben gezeigt, dass Spekulationskrisen im Großbritannien des 18. Jahrhunderts keineswegs die Ausnahme waren. Sie nahmen insbesondere in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts deutlich zu und lösten wachsende Konkurswellen aus, die neue geographische Ausmaße annahmen.16 Bei den bereits genannten Spekulationsblasen, dem Mississippi-Schwindel und der Südseeblase, handelte es sich um reine Finanz- bzw. Aktienblasen. Doch die Mehrheit der Spekulationskrisen setzte sich im 18. Jahrhundert aus einer Kombination von Wirtschafts-, Handels- und Kreditkrisen zusammen. Eine der bekanntesten dieser Art ist die 1763 von Amsterdam ausgehende.

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Ebd., S. 20. Pierenkemper: Tulpenkrise (wie Anm. 4), S. 142; Reinhart/Rogoff: Dieses Mal ist alles anders (wie Anm. 9), S. 48–70. Reinhart/Rogoff: Dieses Mal ist alles anders (wie Anm. 9), S. 26. Julian Hoppit: Risk and Failure in English Business 1700–1800. Cambridge 1987.

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Externe Ursachen der 1763er-Krise waren zum einen eine inflationäre Kriegsnachfrage in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, wie der Waffen- und der Textilindustrie, die von einer rapiden Ausweitung des Wechselverkehrs und der -reiterei begleitet war, und zum anderen die Münzreform Friedrichs des Großen. Sie verursachten eine schwere Liquiditätskrise, die zum Zusammenbruch des Bankhauses von De Neufville Brothers in Amsterdam führte. Dieser löste einen Börsenkrach aus, in dessen Folge Amsterdam seine Rolle als führender Finanzplatz der damaligen Welt verlor und diese an London abtrat. Außerdem zog der Bankrott von De Neufville eine großflächige Kettenreaktion nach sich. In Hamburg brachen 95 Bankhäuser zusammen. Die Krise erfasste Berlin, und selbst in Venedig stellten zahlreiche international agierende Handelshäuser ihre Zahlungen ein. Die Folgen waren teilweise noch lange zu spüren.17 Weitere Spekulationskrisen brachen unter anderem 1772, 1783 und 1793 in Großbritannien aus. Bei diesen handelte es sich um Wirtschafts- und Finanzkrisen, verursacht durch erhebliches wirtschaftliches Wachstum infolge der einsetzenden Industrialisierung und der Kriege, verbunden mit gesteigerter Spekulation sowie Wechselreiterei. Sie lösten Bankenzusammenbrüche und Konkurswellen aus, die auch das europäische Festland erreichten.18 Infolge der rasch wachsenden Verflechtung der Märkte zogen die Konkurswellen immer weitere Kreise. Für die zweite Hälfte des Jahrhunderts ist ein deutlicher Anstieg der Bankrotte festzustellen.19 In England lagen die Firmenzusammenbrüche in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zwischen 172 und 278 pro Jahr. Ab 1766 stiegen sie dauerhaft auf über 350 jährlich.20 In Stockholm lag der jährliche Durchschnitt der Konkurse vor der Jahrhundertmitte um 50, in der zweiten Hälfte stieg ihre Zahl auf über 100 und ab den 17

Zur 1763-Krise siehe u. a. Isabel Schnabel / Hyun Song Shin: Liquidity and Contagion. The Crisis of 1763, in: Journal of the European Economic Association 2 (2004) S. 929–968; William O. Henderson: The Berlin Commercial Crisis of 1763, in: Economic History Review 15 (1962), S. 89–102; Stephan Skalweit: Die Berliner Wirtschaftskrise von 1763 und ihre Hintergründe (VSWG, Beiheft 34). Stuttgart/Berlin 1937; Johannes G. van Dillen: De Beurscrisis te Amsterdam in 1763, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 37 (1922), S. 241–253. 18 Vgl. ausführlich Henry Hamilton: The Failure of the Ayr Bank 1772, in: Economic History Review 8 (1956), S. 405–417; Richard B. Sheridan: The British Credit Crisis of 1772 and the American Colonies, in: Journal of Economic History 20 (1960), S. 161–186; Julian Hoppit: Financial Crises in Eighteenth-Century England, in: Economic History Review 39 (1986), S. 39–58; Bouniatian: Handelskrisen (wie Anm. 6), S. 127–172. 19 Willem Ferdinand Hendrik Oldewelt: Twee eeuwen Amsterdamse Faillissementen en het verloop van de conjunctuur (1736–1838), in: Tijdschrift voor Geschiedenis 75 (1962), S. 421–435, hier 432 f.; Ernst Baasch: Aus einer hamburgischen Fallitenstatistik des 18. Jahrhunderts, in: VSWG 15 (1919), S. 533–545, hier 536; Klas Nyberg / Håkan Jakobsson: Financial Networks, Migration and the Transformation of the Merchant Elite in 18th-Century Stockholm, in: Thomas Max Safley (Hg.): The History of Bankruptcy. Economic, Social and Cultural Implications in Early Modern Europe (Routledge Explorations in Economic History 60). London / New York 2013, S. 72–93, hier 73; für Hamburg sind die Daten zu lückenhaft, um eine zuverlässige Aussage zu erlauben. 20 Margrit Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute in London. Welthandel und Einbürgerung 1660–1818 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 61). München 2007, S. 352.

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1780er Jahren fielen sie nie unter 150 pro Jahr.21 Ein ähnlicher Anstieg ist auch für Amsterdam festzustellen: seit den 1770ern lagen sie im Jahresdurchschnitt bei 150.22 Während die Spekulationskrisen bis kurz vor Ende des Jahrhunderts ihren Ausgang im Ausland – vorwiegend in Großbritannien – nahmen, ergab sich 1799 insofern eine neue Situation, als erstmals Hamburg zum Epizentrum der Krise wurde. HINTERGRÜNDE DER HAMBURGER SPEKULATIONSKRISE VON 1799 Ausgelöst wurde sie im Herbst 1799 durch mehrere länger- und kurzfristige Faktoren. Nach der Besetzung der Niederlande durch die französischen Revolutionstruppen im Jahr 1795 und der Sperrung der französischen Häfen durch die englische Marine fiel Amsterdam als der nach London zweitwichtigste Handels- und Finanzplatz Europas weg. Der Seehandel verlagerte sich daraufhin an die norddeutsche Küste. Viele Waren, die zuvor über die holländischen Häfen ihren Weg den Rhein hinauf nach Süddeutschland, die Schweiz und Italien gefunden hatten, nahmen seitdem die Route über Hamburg oder Bremen. Von dem Aufschwung profitierten selbst kleinere Nordsee-Orte, wie Emden und Norden. Die nachfolgenden Jahre bis 1799 sind in die Annalen Hamburgs und Bremens als „goldenes Zeitalter“ eingegangen.23 Der Aufschwung des Hamburger Handels korrelierte mit einer ausgesprochen starken Verdichtung der Handelsbeziehungen mit England. Sie veranlassten François Crouzet zu der Feststellung, der Hamburger Hafen sei in den 1790er Jahren zur „Metropole des britischen Handels mit dem europäischen Festland“ geworden.24 Die Analyse der Krise steht daher im Kontext enger bilateraler Handels- und Finanzbeziehungen. Untersuchungen zur Entwicklung des Schiffsverkehrs mit Kolonialwaren vermerken für das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts eine auffallende Zunahme.25 1797/98 kam vor allem Zucker in solchen Mengen in Hamburg an, dass erhebliche Engpässe bei den Lagerstätten für Rohzucker entstanden und neue Lagerhäuser nicht in genügender Zahl vorhanden waren bzw. nicht kurzfristig errichtet werden konnten.26 Nicht nur mengen-, sondern auch wertmäßig ist eine außerordentliche Steigerung festzustellen. Allein der Wert des importierten Zuckers stieg nach Anga21 22 23 24 25

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Nyberg/Jakobsson: Financial Networks (wie Anm. 19), S. 73 f. Oldewelt: Amsterdamse Faillissementen (wie Anm. 19), S. 432 f. Zu Hamburg siehe Johann Ernst Friedrich Westphalen: Der Zustand des Handels in Hamburg während den letzten fünfzig Jahren. Eine Schrift, welche im Jahre 1806 bei Reparierung des Thurm-Kopfes der Kirch St. Petri in denselben gelegt worden. Hamburg 1806, S. 3. François Crouzet: L’économie Britannique et le blocus continental. Paris 1987, S. 129. Frauke Röhlk: Schiffahrt und Handel zwischen Hamburg und den Niederlanden in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Bd. 2 (VSWG, Beiheft 60). Wiesbaden 1973, S. 4; Silvia Marzagalli: Les boulevards de la fraude. Le négoce maritime et le Blocus continental (1806–1813) (Histoire et civilisations). Paris 1999, S. 76. Astrid Petersson: Zuckersiedergewerbe und Zuckerhandel in Hamburg im Zeitraum von 1814 bis 1834. Entwicklung und Struktur zweier wichtiger Hamburger Wirtschaftszweige des vorindustriellen Zeitalters. Stuttgart 1998, S. 56, Anm. 119.

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ben von Markus Denzel zwischen 1794 und 1798 von knapp unter eine Million Mark Banco auf etwas über 18 Millionen. Kaffee verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Anstieg von etwa 700 000 auf knapp unter 16 Millionen Mark Banco. Die Jahre 1797 und 1798 weisen besonders hohe Wertsteigerungen auf. Die Waren kamen vorwiegend aus London und Liverpool, Importe aus Frankreich waren dagegen bedeutungslos geworden.27 Eine auffällige Zunahme des Warenverkehrs ist auch aus den USA zu verzeichnen. Die Importe in Mark Banco für Zucker aus den USA stiegen von 668 590 im Jahr 1794 auf 5 090 766 bis 1798 und für Kaffee von 1 603 945 auf 8 459 110.28 In Bremen stieg die Einfuhr von Zucker allein aus den USA zwischen 1798 und 1799 von 2 370 Kisten, 949 Sack auf fast 8 920 Kisten, 1 300 Sack an.29 Die vom Verleger Johann Friedrich Cotta herausgegebene Allgemeine Zeitung berichtete von außerordentlichen Gewinnen der Kaufleute im Jahr 1798, die sie zu waghalsigen Spekulationen veranlassten und bemerkte ferner: „Es ist nicht zu läugen [sic!], daß zu Hamburg seit dem Kriege große Summen gewonnen worden sind, und mancher unvermögende Mann hat sich in dieser Epoche zum höchsten Gipfel des Wohlstandes hinaufgearbeitet.“30 Die exzellenten Aussichten und hohen Profite veranlassten offensichtlich Personen aus dem Hinterland mit unzureichenden Kenntnissen sowie junge und unerfahrene, aber risikofreudige Kaufleute in Hamburger und Londoner Handelshäuser zu investieren oder selbst eigene Niederlassungen zu gründen bzw. sich als Teilhaber in bestehende Unternehmen einzukaufen. Die Gewinnaussichten in London, dem weltweit führenden Warenumschlagplatz der damaligen Zeit, hatten schon seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert deutsche Kaufleute mehr und mehr angezogen.31 Die Verdichtung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen London und Hamburg nach dem Ausbruch der Revolutionskriege ließ die Zahl der Neugründungen von Niederlassungen sichtbar ansteigen.32 In den Städten an der Ostküste der USA hatten gleichfalls seit Beginn der 1790er Jahre vermehrt deutsche Jungkaufleute ein Geschäft eröffnet.33 Es waren vor allem diese jungen Handelshäuser, die in der Spekulationskrise von 1799 in Bedrängnis gerieten. Hohe Profiterwartungen an eine Niederlassung in London veranlassten unter anderem auch den Offenbacher Tabakhändler und Fabrikanten Bernard, 1797 ein Bankhaus in London zu eröffnen. Offensichtlich durch Versprechungen und hohe Gewinnerwartungen verleitet, beteiligte sich auch ein kleiner, aus dem benachbarten Frankfurt am Main stammender Tabakfabrikant mit einer Einlage von 150 000 Mark an dem Londoner Bankhaus von André & Bernard. 27 28 29 30 31 32 33

Markus A. Denzel: Der Seewärtige Einfuhrhandel Hamburgs nach den Admiralitäts- und Convoygeld-Einnahmebüchern (1733–1798), in: VSWG 102 (2015), S. 131–160, hier 142, 145. Ebd., S. 150, 152. Im Jahr 1792 vor dem Eintritt Großbritanniens in den Krieg gegen Frankreich betrug der Wert von importiertem Kaffee gerade einmal 109.850 Mark Banco. Franz Josef Pitsch: Die wirtschaftlichen Beziehungen Bremens zu den Vereinigten Staaten von Amerika bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen 42). Bremen 1974, S. 248. Allgemeine Zeitung, 23.9., 10.10.1799. Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute (wie Anm. 20). Ebd., siehe die Zahl der Einbürgerungen, S. 55. Pitsch: Beziehungen Bremens (wie Anm. 29), S. 22.

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Er steckte nicht nur sein gesamtes Vermögen in dieses Geschäft, sondern nahm auch noch Kredite auf, um die Summe aufzubringen.34 In Hamburg ließen sich vor allem Jungkaufleute unter dem Eindruck der guten Konjunkturaussichten zu riskanten Geschäften verleiten.35 Die verlockenden Gewinnchancen verführten außerdem Kaufleute und Unternehmer aus dem Hinterland, sich an Hamburger Firmen zu beteiligen. So hatte der westfälische Baron und Bergwerksunternehmer Giesbert von Romberg 1796 eine Beteiligung an dem Hamburger Handelshaus von Drewes, Adamy & Co. erworben. In der Hoffnung auf einen Zinsgewinn von 100 000 Talern hatte auch der preußische Minister und Direktor der Seehandlungs-Societät, Carl August von Struensee, ohne Wissen des Königs eine hohe Summe in dem Hamburger Handelshaus Popert & Co. angelegt, die zur Tilgung der Staatsschulden dienen sollte.36 Eine andere Ursache für das Entstehen der Spekulationsblase lag in England. 1797 war die Bank von England in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Sie sah sich vorübergehend gezwungen, ihre Barzahlungen einzustellen, nachdem zur Finanzierung des Krieges zu viel Barvermögen ins Ausland geflossen war. Ein Exportverbot von Bargeld durch die englische Regierung veranlasste viele Londoner Kaufleute, sich in Hamburg und anderen europäischen Städten mit Geld und Silber zu versorgen. Dies führte zu einer rapiden Ausweitung des Wechselverkehrs. Der durch hohe Gewinnerwartungen aufgeheizte Markt, in dem die Wechselverbindlichkeiten das real verfügbare Kapital um ein Vielfaches überstiegen, verleitete zur Wechselreiterei und dem Handel mit Keller-, d. h. ungedeckten Wechseln. DAS PLATZEN DER SPEKULATIONSBLASE Es waren nicht nur die Aufnahmefähigkeiten des Marktes überschätzt, sondern letztlich auch die Risiken des Wechselgeschäfts unterschätzt bzw. verdrängt worden. Die Blütezeit fand 1799 ein plötzliches Ende, als nach dem Wiederbeginn der Koalitionskriege und dem Wegfall der Märkte in Süddeutschland, Südeuropa, Russland, Holland und Schweden der Absatz stockte.37 In Erwartung eines sich fortsetzenden Preisanstiegs und hoher Gewinnmargen waren große Mengen Zucker geordert worden. Im Frühjahr 1799 wurde der Markt unerwartet mit einem Überangebot an Zucker überschwemmt, und ein starker Preisverfall setzte ein.38 Johann Georg Büsch zufolge sank der Zuckerpreis inner34 Stadtarchiv Offenbach, 0500: Peter Carl Wailand: An Hochlöbliches Stadtgericht der freien Stadt Frankfurt. Gehorsamste Klagschrift … 1821. 35 Allgemeine Zeitung, 23.9.1799; Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 16; vgl. auch Johann Smidt: Versuch einer Darstellung der Handlungskrisis in Hamburg im Herbst 1799, in: Hanseatisches Magazin 1800, S. 73. 36 Staatsarchiv Münster, Nachlass G. von Romberg B Nr. 2; Rolf Straubel: Carl August von Struensee. Preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik im ministeriellen Kräftespiel (1786–1804/6) (Bibliothek der brandenburgischen und preußischen Geschichte 4). Potsdam 1999, S. 67 f. 37 Allgemeine Zeitung, 23.9.1799. 38 [Anon.]: Bemerkungen über die gegenwärtigen Handlungsverhältnisse Hamburgs und gut gemeinten Rath von dem Verfasser. Hamburg 1799, S. 4 f., 16 (den Hinweis auf die Publika-

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halb kurzer Zeit um 30 Prozent. Auf dem Höhepunkt der Krise im September 1799 lag, wie die Londoner Times meldete, der Preis sogar 50 Prozent unter den Bezugskosten. Zucker war in Hamburg so billig geworden, dass Londoner Kaufleute ihn von dort orderten.39 Auch in Bremen stapelten sich die Kolonialwaren. Hier fiel der Preis für Havanna-Zucker von 24 auf acht Groten und für amerikanischen Tabak von 24–27 auf sieben Groten.40 Krisenzeichen deuteten sich schon seit Beginn des Jahres in Europa an. Die Londoner Times berichtete bereits im Januar von Firmenzusammenbrüchen in vielen Städten Frankreichs, bedingt durch den Niedergang zahlreicher Gewerbezweige, die Ausschaltung des französischen Seehandels durch England und die Bildung einer neuen Koalition. Die Lage verschärfte sich in Frankreich im Sommer durch die Zwangsanleihe der französischen Regierung, die die Times im Juli zu der Bemerkung veranlasste: „Bankruptcies multiply every day and every person who formerly wished to be rich now complains of distress and poverty.“41 Inwieweit die Probleme in Frankreich zur Verschärfung der Krise in Hamburg beitrugen, muss an dieser Stelle dahingestellt bleiben. In der Hansestadt zogen ebenfalls schon zu Beginn des Frühjahrs 1799 die ersten dunklen Wolken auf. Nach dem Ende des harten Winters begannen die Preise für Kolonialwaren zu fallen, und der Diskontsatz stieg von drei auf zwölf Prozent.42 Im Februar stellte in Hamburg als eines der ersten das Handelshaus Lutterloh & Söhne die Zahlungen ein, im April kam ein weiteres hinzu, und im Juni gaben mehrere Firmen auf. Dreißig Handelshäuser folgten im Juli, und im August soll es, dem Hamburger Juristen Ferdinand Beneke zufolge, wöchentlich zu mehreren kleineren Bankrotten gekommen sein.43 Im September spitzte sich die Lage dramatisch zu, als auch große Handelshäuser mit weitreichenden internationalen Geschäftsbeziehungen die Zahlungen einstellten und beinahe gleichzeitig in London große Handelshäuser aufgaben. Nach der Darstellung von Büsch brachte der Zusammenbruch des Londoner Handelshauses von Persent & Bodecker den Stein ins Rollen, dessen Verlust er auf £ 800 000 bis £ 900 000 bezifferte. Es ging am 12. September 1799 Bankrott. Nur einen Tag später folgte Cox & Heisch in London mit einer ähnlich hohen Summe.44 Ob Persent & Bodecker tatsächlich die Krise auslösten, ist auf Grund der Quellen-

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tion verdanke ich Herrn Boué); vgl. Heinrich Sieveking: Die Hamburger Bank 1619–1875, in: Festschrift der hamburgischen Universität ihrem Ehrenrektor […] Werner von Melle zum 80sten Geburtstag. Hamburg 1933, S. 86. Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 4; The Times, 16.9.1799, S. 3. Pitsch: Beziehungen Bremens (wie Anm. 29), S. 35. Groten ist die Bezeichnung für einen norddeutschen Kleingroschen. Er galt in Bremen und Oldenburg bis zur Einführung der Goldmark am 1.7.1872. The Times, 4.1., 31.7.1799. Sieveking: Hamburger Bank (wie Anm. 38), S. 86. Frank Hatje u. a. (Hg.): Ferdinand Beneke (1774–1848). Die Tagebücher, Erste Abteilung: 1792–1801. Göttingen 2012 (im Folgenden: Beneke: Tagebücher), 8.8.1799. Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 99 f.; Allgemeine Zeitung, 10.10.1799; Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute (wie Anm. 20), S. 362 f.; The National Archives Kew (im Folgenden: TNA), Persent & Bodecker Bankruptcy Records (B)3/3862; Cox & Heisch B3/824–7.

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lage nicht eindeutig festzustellen. Einiges spricht dafür, dass nicht das Londoner Unternehmen allein der Verursacher war, sondern die vorausgegangenen Hamburger Konkurse den Stein mit ins Rollen gebracht hatten. Auf beiden Seiten des Kanals entstand eine heftige publizistische Auseinandersetzung über die Schuldfrage. Während viele Hamburger dem Londoner Handelshaus die Schuld gaben, warfen die Londoner den Hamburgern vor, die Krise herbeigeführt zu haben.45 Die Londoner Evening Mail berichtete am 13. September – einen Tag nachdem Persent & Bodecker die Zahlungen eingestellt hatten – von den vielen Konkursen in der Elbmetropole, die auch zu ernsthaften Schwierigkeiten in London führten.46 Für den Bremer Christian A. Heineken brachte der Zusammenbruch eines großen Hamburger Handelshauses die Blase zum Platzen, dem dann mehrere Insolvenzen in Hamburg, London und Amsterdam folgten.47 Den Konkursakten von Persent & Bodecker zufolge geriet das Unternehmen durch die Zahlungseinstellungen Hamburger Häuser, u. a. von Milow, Henckel & Eimbcke und De Dobbeler & Hesse, ins Wanken. Letzteres scheiterte mit mehr als drei Millionen Mark Banco.48 Cox & Heisch nannten bei ihrer Befragung vor dem Chancery Court in London ausdrücklich Milow und De Dobbeler als Grund ihrer Schwierigkeiten.49 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der Darstellung in der Cottaschen Allgemeinen Zeitung. Unter „Hamburg, den 13. September“ ist zunächst nur die Rede von dem Preissturz für Zucker und Tabak, der viele Pleiten ausgelöst hätte. Erst Wochen später findet sich eine Schuldzuweisung auf das Londoner Haus.50 Insgesamt auffallend ist, dass allein dem Handelshaus von Persent & Bodecker die Schuld gegeben wurde, während das zweite Handelshaus, Cox & Heisch, in der zeitgenössischen Auseinandersetzung keinerlei Erwähnung findet, obwohl es nur einen Tag später aufgab. Dabei gleichen sich sowohl die Handelsstruktur beider Unternehmen als auch die Höhe der Schulden. Der geographische Schwerpunkt ihres Handels war Hamburg. Neben den oben genannten Handelshäusern von Milow, Henckel & Eimbcke unterhielten beide Londoner Unternehmen enge Geschäftsbeziehungen zu zahlreichen Hamburger Partnern, die ebenfalls im September und Anfang Oktober Bankrott gingen. Zudem handelten beide Häuser in großem Umfang mit Zucker, den sie unter anderem von Geschäftspartnern in Demerara (heute Guayana) bezogen und der vorwiegend in London raffiniert wurde.51 45 46 47 48 49 50 51

Margrit Schulte Beerbühl: Die Hamburger Krise von 1799 und ihre weltweite Dimension, in: Hamburger Wirtschaftschronik 10 (2012), S. 85–110. Evening Mail, 13.9.1799. Christian Abraham Heineken: Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu deren Unterwerfung unter das Französische Zepter, Bd. 2. Bremen 1812, S. 300. Observer, 29.9.1799; nach Sieveking scheiterte De Dobbeler sogar mit mehr als 2,5 Mill. Mark Banco (Ders.: Hamburger Bank [wie Anm. 38], S. 86). TNA, B3/824; Milow hatte schon am 6. September zu zahlen aufgehört, Henckel & Eimbcke am 13. September und kurz darauf De Dobbeler (Staatsarchiv Hamburg [im Folgenden: STA], Handelsgericht 222–3). Allgemeine Zeitung, 23.9.1799: unter Hamburg 13. September, und 10.10.1799: unter Hamburg 28. September. TNA, B3/3862; TNA, B3/824–7.

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Die Dramatik dieses Ereignisses und die Panik, die die Zusammenbrüche über Europa hinaus auslösten, sind an zahlreichen zeitgenössischen Äußerungen festzustellen. So schrieb der Hamburger Jurist Ferdinand Beneke im September nach dem Bankrott zweier großer angesehener Häuser in sein Tagebuch: „auf der Börse giebts kein Fahrwasser mehr […]. Jeder hukt in seinem Loche, und mag nichts mehr verdienen.“52 „Die Börse“, so notierte er nur kurze Zeit später, sei „eine wahre Marter Bank“.53 Als dann Anfang Oktober die ersten Gerüchte über die Zahlungsunfähigkeit des Handelshauses von Popert & Co. kursierten, bemerkte er: „bricht es, so ist halb Hamburg ruiniert“54. Zwischen Mitte September und Mitte Oktober stellten neben den genannten Handelshäusern weitere große Hamburger Firmen ihre Zahlungen ein, u. a. Diederich Rodde mit 2 200 000, Cornelius Otto Schütt mit 1,8 Millionen, Nootnagel, Schwartz & Roques und Bernd Roosen Salomons Sohn mit jeweils 1,5 Millionen Mark Banco. Da Hamburg nach dem Wegfall Amsterdams und Rotterdams zum führenden Warenumschlagplatz sowie Finanzplatz für das Hinterland geworden war, lösten die Zusammenbrüche eine europaweite Schockwelle aus. Innerhalb weniger Wochen stellten in Bremen, Lübeck, Frankfurt und zahlreichen anderen Orten Handelsfirmen ihre Zahlungen ein.55 Die Auswirkungen waren noch bis weit in den Süden, u. a. Leipzig und Augsburg, zu spüren, denn viele Unternehmen hatten Waren in Hamburg liegen oder Wechsel auf die Stadt gezogen. Nach dem Bericht der Commerziendeputation in Leipzig hatte die Michelismesse 1799 zunächst sehr vielversprechend begonnen. Als dann aber die ersten Nachrichten über die Fallissements aus der Hansestadt eintrafen, brach der Handel mit Hamburger und Londoner Wechselbriefen zusammen, wodurch vor allem russische und polnische Käufer getroffen wurden.56 Die Hamburger Krise weitete sich auf viele europäische Städte aus. Aus Amsterdam wurden 14 Konkurse gemeldet. Aus Brüssel kam Ende Oktober die Nachricht „commerce is in a state of consternation“. Vier der größten Handelshäuser hätten ihre Insolvenz erklärt.57 Anfang November erreichte die Welle Russland. Dort fallierte das deutsch-russische Haus Maas & Co. mit 2,2 Millionen Mark Banco. In Dänemark gingen 61 Häuser in Konkurs. Über die Lage in Kopenhagen berichtete die Times: „the bankruptcies there had put a complete stop to all trade in the city for the two preceeding days. There were no course of exchange, nor were any bills current; the only payments made were in ready money.“58 52 53 54 55 56 57 58

Beneke: Tagebücher, 13.9.1799. Den Hinweis auf den Tagebucheintrag von Beneke verdanke ich Herrn PD Dr. Frank Hatje. Beneke: Tagebücher, 25.9.1799. Ebd., 7.10.1799. Georgia Gazette, 2.1.1800: unter 19. Oktober 1799; Morning Chronicle, 21.10.1799: Es stellten kurz darauf in Bremen (7), Lübeck, in Frankfurt (11), in Amsterdam (14) Handels- und Bankhäuser ihre Zahlungen ein. Ernst Hasse: Geschichte der Leipziger Messen. Leipzig 1885 (ND Leipzig 1963), S. 391. Constitutional Diary and Philadelphia Evening Advertiser, 20.1.1800: Brussels, Oct. 31st. The Times, 29.10. und 20.11.1799.

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In London reagierte die Börse mit der Einstellung von Wechseln, die auf Hamburg gezogen waren, nachdem der Kurs um mehr als 25 Prozent gesunken war. Die Times meldete am 24. September: „We are concerned to hear of more failures in the City, in consequence of the many stoppages that have happened at Hamburg. Yesterday a very principal Mercantile House stopped payment, which is the fourth within the last fortnight. It had paid its drafts very regularly even on Saturday last.“

Neben Londoner Handelshäusern gerieten auch die Liverpooler Karibikhändler und deren Geschäftspartner, die Pflanzer auf den westindischen Inseln, in Schwierigkeiten. Zunächst hatte die Krise vor allem die jungen Häuser deutscher Immigranten in London erfasst. Sie zog bald weitere Kreise. So musste das Handelshaus des schwedischen Konsuls Claes Grill aufgeben, und es wurde befürchtet, dass seine Zahlungseinstellung mit Schulden von £ 400 000 weitreichende Folgen für Nordeuropa hätte.59 Nachdem auch das schweizerische Handels- und Bankhaus von Battier & Zornlin, das zur kommerziellen Elite der Londoner Geschäftswelt zählte, seine Zahlungen eingestellt hatte, riss die Welle neue Kreise mit sich. Battier & Zornlin unterhielt intensive Geschäftsbeziehungen in die Schweiz, aus der beide Geschäftspartner stammten.60 In Basel waren von dem Konkurs nicht allein viele Handelshäuser, sondern auch Frauen betroffen, die bei Battier & Zornlin ihr Geld angelegt hatten. Zahlreiche Gläubiger saßen außerdem in Augsburg und Wien sowie mehrere in Hamburg, Dresden, Leipzig, Italien, Lissabon, in New York, Philadelphia und Halifax (North Carolina). Der Konkurs von Battier & Zornlin hatte u. a. für Augsburg schwere Folgen. Das alteingesessene Augsburger Bankhaus von Conrad Schwarz ging mit Schulden in Höhe von über eine Million Gulden (fl) in Konkurs. Weitere acht große Augsburger Bankhäuser, u. a. von Carli, Liebert, Vinzenz, Jaccoud und Anton Herzog, mussten hohe Verluste einstecken.61 Battier & Zornlin schuldete beispielsweise dem Bankhaus von Francis Jaccoud mehrere tausend Pfund, zum Teil in Wechseln, die auf die bankrotten Häuser von Persent & Bodecker in London, C. O. Schutt und Pourtales & Co. in Hamburg gezogen und protestiert worden waren.62 Welche Folgen der Konkurs des Augsburger Bankhauses von Conrad Schwarz für dessen Geschäftspartner hatte, ist nicht klar und muss weiteren Forschungen vorbehalten bleiben. Die Konkursakte von Schwarz verzeichnet insgesamt 340 Gläubiger. Unter den Augsburger Gläubigern fanden sich wiederum Liebert und Carli, neben zahlreichen Handelshäusern in der Schweiz, Österreich, Italien, Moskau und an anderen Orten.63 Wien blieb gleichfalls nicht unberührt von der 59 60 61 62 63

Genius of Liberty, 29.5.1800: Extract of a letter from a respectable mercantile house in London. John Jacob Zornlin stammte aus St. Gallen und die Familie von John Jacob Battier aus Basel. Die Battiers besaßen schon seit der Mitte des Jahrhunderts Niederlassungen in London (vgl. Schulte Beerbühl: Deutsche Kaufleute [wie Anm. 20], S. 166, 172, 175, 358 f.). TNA, B3/205–6, Konkursakte von Battier & Zornlin. Ebd. Gerhard Seibold: Wirtschaftlicher Erfolg in Zeiten des politischen Niedergangs. Augsburger und Nürnberger Unternehmer in den Jahren zwischen 1648 und 1806, Bd. 1: Darstellung (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwabens 42,1). Augsburg 2014, S. 292–294.

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Krise. Karl Friedrich Glave Baron von Kolbielski von der Wiener Schwarzenberg Bank bemerkte in seinem Journal, dass mindestens fünf Häuser in Wien in Schwierigkeiten seien, dies aber zu verbergen suchten, und berichtete außerdem von einem starken Kursverfall sowie einer Kapitalflucht ins Ausland.64 In den USA griff gegen Ende des Jahres die Sorge um sich, von den Hamburger Ereignissen in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Seit 1790 hatte der Waren- und Schiffsverkehr der beiden Hansestädte Hamburg und Bremen mit den USA erheblich zugenommen. Deutschland stieg in diesem Jahrzehnt zum zweitwichtigsten Exportmarkt der USA auf. 1790 waren gerade einmal 15 Schiffe aus Baltimore, Charleston und New York nach Bremen gekommen, im Krisenjahr 1799 waren es bereits 68. Während zwischen 1791 und 1801 in Bremen 484 Schiffe aus den USA anlandeten, betrug die Gesamtzahl für Hamburg in dem genannten Zeitraum insgesamt 901. Ein deutlicher Anstieg ist in der Hansestadt vor allem 1799 festzustellen: 1798 liefen 99 Schiffe aus den USA hier ein, ein Jahr später waren es 135.65 Mitte Dezember äußerte der New Hampshire Sentinel die Sorge, dass angesichts des Preisverfalls auf dem Hamburger Markt für amerikanische Waren, wie Maryland und Virginia Tabak, Zucker, Kaffee und Baumwolle, die amerikanischen Kaufleute die großen Leidtragenden dieser Konkurswelle sein würden.66 Zu Beginn des Jahres 1800 erreichte die Krise die USA. Die ersten Handelshäuser stellten ihre Zahlungen ein. Aus Philadelphia berichtete Thomas Boylston Adams in einem Brief an Joseph Pitcairn, den amerikanischen Konsul in Hamburg, von zahlreichen Pleiten, „which, within a short period, have happened at Baltimore, New York & Boston“.67 Besonders schlimm sah die Lage in Baltimore aus. „I have of late seen such changes and distress here“, schrieb der amerikanische Kaufmann und Bankier George Salmon in Baltimore im Februar an Sylvanus Bourne, „families that lived in a superior style reduced to almost nothing, others that were thought to be worth many thousands are now men of straw“.68 In einem weiteren Brief hieß es: „such times were never known or experienced in Baltimore“, und der Autor befürchtete, dass sich die Welle über die ganze Union ausdehnen würde.69 Die Hamburger Krise erfasste vermutlich noch viele andere Orte in Europa und der außereuropäischen Welt, doch kann die gesamte geographische Reichweite auf Grund der Quellen- und Forschungslage nicht vollständig erfasst werden.

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Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Kolbielski Nachlass Karton 10, Nr 192F, vol.3, 19. Oktober 1799. Pitsch: Beziehungen Bremens (wie Anm. 29), S. 26 f., 29 f. New Hampshire Sentinel, 14.12.1799. Letters of Thomas Boylston Adams to Joseph Pitcairn 1796–1801, in: The Quarterly Publication of the Historical and Philosophical Society of Ohio 12 (1917), Nr. 1 January–March, S. 32. Library of Congress (im Folgenden: LoC), Bourne Papers, Bd. 7: George Salmon Baltimore 20.2.1800 an Sylvanus Bourne. LoC, Bourne Papers, Bd. 7: George Salmon Baltimore 20.2.1800 an Mrs. („Becky“) Bourne (Amsterdam).

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INNOVATIVE STRATEGIEN DER KRISENBEWÄLTIGUNG Der Zusammenbruch führender Häuser löste eine internationale Vertrauenskrise und Panik aus, deren Ursachen in der Überspekulation und den daraus resultierenden Liquiditätsproblemen lagen. Wirtschafts- und Finanzmärkte sind psychologische Märkte, denn sie sind zukunfts- und damit risikoorientiert. Sie funktionieren nur, wenn Vertrauen existiert.70 Dieses Vertrauen war im Herbst 1799 verlorengegangen. Die Hamburger sowie die Akteure in den übrigen betroffenen Städten und Ländern sahen sich vor zwei Anforderungen gestellt: zum einen der unmittelbaren Notwendigkeit, wieder Vertrauen und Ruhe auf den Märkten einkehren zu lassen, und zum anderen der Frage, wie mit der hohen Zahl der Insolvenzen verfahren werden sollte. Da das Ausmaß der Spekulationskrise von 1799 alle vorherigen Krisen in den Schatten stellte, reichten die gewohnten Instrumente der Konfliktbewältigung nicht aus. Unter dem Eindruck des ungeheuren Ausmaßes der Schwierigkeiten bemerkte Büsch: „außerordentliche Fälle bedürfen auch außerordentliche Hülfsmittel“.71 Auch in London und in den USA war man der Meinung, zur Eindämmung der Krise zu ungewöhnlichen Mitteln greifen zu müssen. In einem Artikel der New York Gazette hieß es, „friendship and interest“ seien zwar die besten Helfer für in Schwierigkeiten geratene Häuser, doch „when inconsiderate speculation […] have produced a public crisis like the present, both friendship and private interest are by far too feeble to stop the evil. Public interest and credit being at stake, publicspirited measures ought to be speedily adopted.“72 Die Krise in Hamburg war vor allem eine Liquiditätskrise, denn keiner war mehr bereit, neue Wechsel zu akzeptieren, und alte Wechsel wurden protestiert. Andere hielten Geldüberweisungen zurück, um die eigenen Bargeldreserven nicht zu gefährden. Zur Beruhigung der ausgebrochenen Panik galt es deshalb als erstes, Liquidität zu schaffen. Eine Maßnahme Hamburgs war die Einrichtung von Institutionen, die den bedrängten Kaufleuten Geld bereitstellten. Das Admiralitätskollegium machte drei Millionen Mark Banco verfügbar, die es gegen Waren auf Vorschuss gewährte. Diese Maßnahme war nicht ganz neu. In der Spekulationskrise von 1763 hatte das Admiralitätskollegium erstmals eine Summe von einer Million Mark Banco bereitgestellt, um den in Liquiditätsschwierigkeiten geratenen Kaufleuten zu helfen. Von dieser Zeit an hatte es an Kaufleute in den Spekulationskrisen der nachfolgenden Jahrzehnte mehrfach Kredite gegen Warenpfand vergeben. Die jeweils dafür bereitgestellte Gesamtsumme betrug jedoch nie mehr als 500 000 Mark Banco.73 1799 reichte diese Summe bei weitem nicht mehr aus, um die Lage zu beruhigen. Schon im Mai 1799, noch einige Monate vor dem Platzen der Spekulationsblase, als sich die Krisenzeichen mehrten, hatte das Admiralitätskollegium eine Mil70 71 72 73

Reinhart/Rogoff: Dieses Mal ist alles anders (wie Anm. 9), S. 37, 40: „Vertrauen ist launisch von Natur und kann sehr schnell wegbrechen.“ Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 130. New York Gazette and General Advertiser, 26.11.1799. Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden: STA Hamburg) 312–2, Bd. 17–19: Journal der Darlehnskasse des Admiralitätskollegiums 1763–1800.

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lion Mark Banco bereitgehalten. Mehr als dreißig Kaufleute beantragten im Mai und Anfang Juni daraufhin Kredite, deren Höhe zwischen 5 000 und 35 000 Mark Banco lag. Im September, als die Krise ausbrach, sah sich die Admiralität veranlasst, die Summe um weitere zwei Millionen zu erhöhen. Circa 40 Kaufleute erhielten zwischen dem 1. September und dem 10. Oktober Kredite bis zu einer Höhe von 80 000 Mark Banco.74 Sie wurden zunächst auf drei Monate mit einem Zinssatz von fünf Prozent gewährt und im Dezember um weitere drei Monate verlängert.75 Diese Kredite reichten jedoch zur Beruhigung der Lage nicht aus. Deshalb entschloss sich eine Gruppe weniger betroffener Handelshäuser, eine Darlehnskompanie mit einem Kapital von sechs Millionen Mark Banco einzurichten.76 Sie gewährte den Betroffenen ein Darlehen bis zu vier Monate auf hinterlegte Waren, die sie dann gegen Solawechsel oder Bargeld zurückerhielten.77 Diese Maßnahmen entspannten die Lage in Hamburg ebenfalls nicht. Angesichts der zahlreichen Zahlungseinstellungen bemerkte der Frankfurter Bankier Simon Moritz Bethmann: „Wenn nicht schleunigst durch Silbersendungen aus England mehr B-Geld [Bargeld] in Circulation gebracht wird, so sehe ich nicht, wie wir diejenigen Häuser, welche große Summen acceptiert haben, sich aus der Verlegenheit selbst mit vollem Vermögen retten können.“78

Der entscheidende Schritt kam in der Tat aus London. Londoner Kaufleute stellten mit Genehmigung der englischen Regierung mehr als eineinhalb Millionen Pfund Sterling in Geld und Wertmetallen zur Verfügung. Die Transaktion wurde durch das jüdische, in London ansässige Bank- und Handelshaus der Goldsmids durchgeführt. Das Schiff Lutine, mit mehr als 1,75 Millionen englischer Pfund in Wertmetallen an Bord, fuhr am 9. Oktober von Yarmouth los. Es kam jedoch nie an. Noch in der gleichen Nacht geriet es in einen Orkan und ging vor der holländischen Küste unter.79 Die Lutine war nicht das einzige Schiff, das mit Geld und Wertmetallen beladen nach Hamburg fuhr; es folgten weitere. Erst diese Maßnahme trug zur Beruhigung der Lage bei. Wie sehr die Hamburger Krise die Finanz- und Handelswelt erschütterte, ist daran zu ermessen, dass zahlreiche Städte im Reich nach dem Vorbild der Elbmetropole zum Teil präventiv Darlehnskassen einrichteten, so u. a. Bremen, Bielefeld und Frankfurt. In Sachsen stellte der Kurfürst aus seiner Privatschatulle eine Million zur Verfügung, um den in Schwierigkeiten geratenen Leipziger Kaufleuten zu helfen.80 In Kopenhagen ließ der König ebenfalls eine Darlehnskasse einrichten, für die er 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., Bd. 19. STA Hamburg 3711–2A 8, Bd. 6, fol. 450; 3711–2A 8, Bd. 7, fol. 17: Protokoll der Admiralitätsbürger 1793–1799. Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 142. Die Diskontkasse, eine private Einrichtung, erwies sich als wenig hilfreich. Ebd., S. 121–124. Bethmann Archiv Frankfurt, Briefbuch W1–92, Nr. 67: Simon Moritz Bethmann, Hamburg, an Simon Maurice Bethmann, London, 12.10.1799. Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 7. Das Geld wurde nach Büsch dann anderweitig beschafft. Ausführlich wurde das Schicksal der „Lutine“ beschrieben von Frederick Martin: The History of Lloyd’s and of Marine Insurance in Great Britain. London 1876, Kap. 11. Oracle and Daily Advertiser, 7.11.1799.

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die Garantie übernahm. Allerdings verleitete sie zum Missbrauch, indem hohe Scheinrimessen auf Hamburger Bankvaluta gemacht wurden. Die Kreditscheine der Darlehnskasse wurden, anders als in Hamburg, nicht als ein vertrauenswürdiges Zahlungsmittel betrachtet, weil sie aufgrund des Bargeldmangels in Dänemark nicht diskontiert werden konnten. Deshalb wurde der Wechselhandel erst wieder aufgenommen, nachdem sich die Lage in Hamburg entspannt hatte.81 In England sprach auch das Parlament von der „novel nature“ der Krise, die neue staatliche Strategien zur Eindämmung erforderte. Hier waren neben zahlreichen Londoner Handels- und Bankhäusern vor allem Liverpooler Zuckerhändler und Plantagenbesitzer auf den karibischen Inseln betroffen, die wegen der Schwierigkeiten in Hamburg ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkamen. Nach heftigen Diskussionen im Parlament und dem Umstand, dass Hamburg die Schuld an den Schwierigkeiten der Liverpooler Kaufleute und Plantagenbesitzer zugewiesen wurde, sprach sich eine Mehrheit der Abgeordneten dafür aus, dass das Schatzamt Schatzbriefe ausstellen sollte, um den bedrängten Liverpooler Kaufleuten und Plantagenbesitzern in der Karibik zu helfen.82 In den USA suchten zwar einige Kaufleute Sicherheiten für ihre Schiffsladungen von Washington zu erhalten, jedoch wurde dieses Ansinnen abgelehnt.83 Allerdings veranlassten die zahlreichen Firmenzusammenbrüche die amerikanische Regierung im April 1800, ein erstes föderales Konkursrecht auf Bundesebene zu verabschieden. Es hatte wohl seit 1793 wiederholt Initiativen für ein solches Gesetz gegeben, aber noch Anfang 1799 war ein solcher Vorstoß gescheitert. Erst unter dem Eindruck der durch Hamburg ausgelösten Konkurswelle in den wichtigen Handelsstädten an der Ostküste fand sich im Kongress eine Mehrheit für ein föderales Konkursgesetz.84 Obwohl es sich nicht grundlegend von dem englischen unterschied, wurde es von vielen Kaufleuten, die im Schuldgefängnis saßen, als eine Maßnahme begrüßt, die sie aus ihrer Gefangenschaft befreite.85 Neue Wege beschritt der Hamburger Senat auch im Umgang mit den Bankrotteuren. Das frühneuzeitliche Konkursrecht behandelte den Bankrotteur nach strafrechtlichen Aspekten, indem es die Zahlungsunfähigkeit als Ausdruck einer kriminellen Tat, d. h. von Betrug bzw. moralischer Verfehlung, wertete. Unter dem Eindruck der zunehmenden Risiken des Fernhandels und des Kreditwesens hatte der Hamburger Senat 1753 eine neue Konkursordnung verabschiedet, die zwischen drei Kategorien von Bankrotteuren unterschied: dem unglücklichen, der durch 81 82 83 84 85

Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 128 f., 144 f. Morning Chronicle, 1., 4., 8. und 10.10.1799. LoC, Bourne Papers, Bd. 7: Ed. Jones an Sylvanus Bourne, Washington 29.3.1800. A Law to Establish an [sic!] Uniform System of Bankruptcy Throughout the United States, Passed the Fifth Day of April in Congress, New York 1800; vgl. hierzu auch Charles Warren: Bankruptcy in United States History. New York 1972 (Cambridge, Mass. 1935), S. 18 f. Bruce H. Mann: Republic of Debtors. Bankruptcy in the Age of American Independence. Cambridge, Mass./London 2002, S. 218 f.; zu den Entlassenen gehörte auch Robert Morris. Er war Superintendent of Finance während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gewesen und einer der reichsten Männer Amerikas. 1798 machte er Bankrott und verbrachte sieben Monate im Prune Street Schuldgefängnis in New York (Mann: Republic of Debtors, S. 28, 98; Warren: Bankruptcy [wie Anm. 84], S. 20).

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äußere Umstände, z. B. Naturkatastrophen, Feuer, etc. zahlungsunfähig wurde; dem leichtsinnigen, der nicht in betrügerischer Absicht, aber durch Investitionen in riskante Unternehmungen, nachlässige Buchführung oder nicht rechtzeitige Einschränkung des Handels bei beginnenden Konjunkturrückgängen (Art. 104) nicht mehr zahlen konnte; und dem betrügerischen Bankrotteur.86 Bei allen dreien ging der Konkurs mit dem Verlust aller Ämter und des gesellschaftlichen Ansehens einher, d. h. dem Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft. Je nach Kategorie sah das Gesetz unterschiedliche Strafen vor. In den beiden ersten Fällen sollte, sofern genügend Masse vorhanden war, ein Akkord angestrebt werden. Überlieferte Konkursakten zeigen, dass weit über 90 Prozent der Firmenzusammenbrüche als leichtsinnig eingestuft wurden.87 Angesichts der Dimension der Krise von 1799, in die führende Handels- und Bankhäuser involviert waren, deren Inhaber auch öffentliche Ämter innehatten, beschritt der Senat insofern neue Wege, als er die Wechsel- und Fallitenordnung aufhob und insolvente Häuser unter Administration stellte. Eine neue Institution wurde geschaffen, deren Mitglieder entschieden, welche Häuser unter Verwaltung kamen und welche nicht. Hierdurch galten die Unternehmen nicht als falliert, die negativen gesellschaftlichen Folgen für die Betroffenen wurden vermieden, d. h. sie behielten ihre bürgerliche Ehre sowie ihr Vermögen und konnten unter Aufsicht weiterarbeiten. Diese Neuerung kommentierte der Hamburger Jurist Beneke mit den Worten: „Die neueste Mode, Banquerott [sic!] zu machen, ist jetzt um Administration zu bitten.“88 Die Einrichtung der Administration sollte eine bedeutsame Fernwirkung haben. Während der Finanzkrise von 1856 wurde sie ein wichtiges Instrument zur Krisenbewältigung. BEWÄLTIGUNG DER KRISE UND IHRE NACHHALTIGEN FOLGEN Durch die Bereitstellung von Liquidität beruhigte sich die Lage, doch ist nach den Folgen der Krise zu fragen. Zunächst sei angemerkt, dass jede Krise nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner hat. Zu den Letzteren zählten die Hamburger und die Bremer Bank. Die Hamburger Bank hatte der Admiralität drei Millionen für den Unterstützungsfonds geliehen und verzeichnete aus den Zinseinnahmen für 1799 einen außergewöhnlich hohen Gewinn.89 Die Bremer Warenbank schloss gleichfalls mit einem Gewinn ab, obwohl sie ursprünglich nicht als eine profitorientierte Institution gegründet worden war, sondern als temporäre Einrichtung allein zu dem Zweck der Bereitstellung von Liquidität. Die positiven Erfahrungen mit dieser Institution führten 1806 zur Gründung der Bremer Bank.90 86 87 88 89 90

Der Stadt Hamburg Neue Falliten-Ordnung. Auf Befehl E. Hochedlen Raths, publiziert 31.8.1753. Commerzbibliothek Hamburg: Fallitenbuch 1772–1800. Beneke: Tagebücher, 21.9.1799; Sieveking: Hamburger Bank (wie Anm. 38), S. 88 f.; Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 135 f. Heinrich Sieveking: Die Hamburger Bank, in: Johannes G. van Dillen (Hg.): History of the Principal Public Banks. Den Haag 1934, S. 125–160, hier 158. Ludwig Beutin: Bremisches Bank- und Börsenwesen seit dem XVII. Jahrhundert. Von der

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Der Markt für Zucker, der die Krise vor allem herbeigeführt hatte, begann sich schon bald wieder zu erholen. Noch vor Ende des Jahres 1799 berichtete der amerikanische Konsul Joseph Pitcairn aus Hamburg, dass die Preise für Zucker – „that is the article on which the glut has been principally manifested“ – wieder stiegen.91 Durch die Zerstörung der Zuckerplantagen auf Saint Domingue infolge des Sklavenaufstands hielt das Angebot mit der Nachfrage nicht Schritt, denn die Insel war eines der größten Zuckeranbaugebiete gewesen. Hierdurch stiegen die Preise bis 1801 wieder um 15 bis 20 Prozent. Hinsichtlich der mengenmäßigen Einfuhr von Zucker werden unterschiedliche Auffassungen in der Forschung vertreten. Nach Heinrich Sieveking lag sie 1803 noch deutlich unter der Menge von 1795. Astrid Petersen geht hingegen davon aus, dass die Einfuhr mengenmäßig wieder die Rekordhöhe von 1799 erreicht hatte.92 Obwohl der Markt für Zucker anscheinend Erholungstendenzen aufwies, stellen sich zwei grundlegende Fragen: zum einen nach der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Gewerbebereichen, zum anderen nach dem Umfang der Konkursverhinderungen infolge der finanziellen Stützungsmaßnahmen. Insgesamt scheint die Krise eine schwere Rezession ausgelöst zu haben. Wirth konstatiert in seiner Untersuchung sowohl für das Deutsche Reich als auch für das Ausland einen allgemeinen Konjunkturrückgang als Folge der Spekulationsblase.93 Auf die Krise von 1799 zurückblickend, bemerkte Büsch: „Der Schaden Hamburgs war verzweifelt böse, und die Nachwehen davon werden noch lange fühlbar bleiben.“94 Zahlreiche verstreute zeitgenössische Äußerungen sprachen nicht allein im Handel, sondern auch in zahlreichen Gewerben von einer tiefen Depression. So hatte der überraschende Wirtschaftsaufschwung nach 1795 zugleich eine Blase auf dem Hamburger Immobilienmarkt bewirkt und zu einem starken Anstieg des Konsums geführt. Die Preise für Häuser und die Nachfrage nach Luxusartikeln brachen in der Folge der Krise ein. So schrieb die Frau des Hamburger Kaufmanns Reimarus: „Wenn der Credit von Hamburg nicht ganz zu Grunde geht, so wird doch, hoffe ich, der Luxus gestürzt, mit dem es so ärgerlich weit ging. Kutschen und Cabriolets sind wohlfeil zu haben, der Kaufpreis für Häuser fällt, nicht die Miete, weil jeder doch wohnen muß. Zucker und Caffee werden wohlfeil.“95

Angesichts der Zahl der Firmenzusammenbrüche und der Höhe der Verluste musste das Schicksal der Betroffenen Auswirkungen auf das wirtschaftliche Allgemeinwohl haben. Durch die Einrichtung der Administration sowie Liquiditätshilfen konnten offensichtlich einige Kaufleute einen förmlichen Konkurs abwenden. Andere, die

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Wirtschaftsgesinnung einer Hansestadt (Bremer Wissenschaftliche Gesellschaft. Abhandlungen und Vorträge 10,4). Bremen 1937, S. 24. The Constitutional Diary and Philadelphia Evening Advertiser, 22.1.1800: Extract of a letter received from Mr. Joseph Pitcairn, consul of the United States of Hamburg, by a respectable mercantile house here – dated Hamburg 4th November ’99. Sieveking: Hamburger Bank (wie Anm. 38), S. 84; Petersson: Zuckergewerbe (wie Anm. 26), S. 56. Wirth: Handelskrisen (wie Anm. 6), S. 107. Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 149. Heinrich Sieveking: Das Handelshaus Voght und Sieveking, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 17 (1912), S. 54–128, hier 106.

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diese Hilfe nicht in Anspruch nahmen, versuchten ihre Zahlungsschwierigkeiten durch private Kredite oder den Verkauf von Immobilien zu überwinden. Vincent Nolte, der die Hamburger Krise als junger Angestellter im Handelshaus seines Vaters erlebte, vermerkte, dass sein Vater durch einen privaten Kredit der Barings vor dem Konkurs bewahrt wurde.96 Der Kaufmann und Senator Johann Siegmund Westphalen verkaufte einen großen Teil seiner Immobilien aus diesem Grunde.97 In Bremen hatte der Senat zur Überbrückung des Liquiditätsengpasses eine Warenbank eingerichtet. Sie half ebenfalls vielen Betroffenen, nach einer kurzen Zahlungseinstellung ihre Geschäfte wiederaufzunehmen.98 Überlieferte serielle Quellen für Hamburg und Altona zur Konkursentwicklung lassen erkennen, dass insbesondere mittlere und kleine Gewerbetreibende unter den Folgen der Spekulationskrise zu leiden hatten. Denn in den Genuss der Liquiditätshilfen der Admiralität und der Darlehnskassen kamen nur die größeren Handelshäuser. Kleine Unternehmen konnten nicht um Unterstützung bitten, da die Admiralität keine Kredite unter 1 500 Mark gewährte.99 Die nachhaltigen Folgen der Spekulationskrise sind daher am Schicksal dieser kleinen Händler und Gewerbetreibenden auszumachen, denn in ihrer Gruppe stieg die Zahl der Pleiten beträchtlich, während sie unter den großen Kaufleuten sank. Für Hamburg existieren zwei serielle Quellen mit Angaben über Bankrotte: zum einen die von Ernst Baasch untersuchte Hamburger Fallitenstatistik mit Angaben der lokalen Bankrotteure, deren Namen seit 1772 in der Hamburger Börse angeschlagen wurden100, und zum anderen eine 1754 begonnene Konkursstatistik, die sich unter den Akten des 1816 eingerichteten Handelsgerichts befindet101. Eine kursorische Überprüfung für den hier interessierenden Zeitraum ergab, dass die Baasch’sche Fallitenstatistik vorwiegend die Namen kleinerer Gewerbetreibender, Handwerker sowie anderer Berufe verzeichnet, nicht jedoch die der großen Kaufleute. Diese finden sich jedoch in der Liste des Handelsgerichts. Ein Vergleich zeigte einen deutlichen Anstieg der Zusammenbrüche unter den kleineren Unternehmen nach 1800, während die der großen Händler sanken. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für Bremen und das dänische Altona. Nach der Bremer Konkursstatistik stieg dort nach 1799 die Zahl der Bankrotte von 39 im Jahr 1799 auf 61 im folgenden Jahr und 1801 sogar auf 81.102 Im dänischen Altona nahm 1800 die Gesamtzahl der Firmenzusammenbrüche sogar um fast 90 Prozent zu. Hier lag kein einziger Konkurs über 100 000 Mark Banco. Der Anteil der Schulden über 10 000 Mark Banco lag 1800 bei 34, derjenige zwischen 1 000 und 10 000 Mark Banco bei 54 Prozent.103 In Stockholm, das vor allem eine mittelstän96 97 98 99 100 101 102 103

Vincent Nolte: The Memoirs of Vincent Nolte. Reminiscences in the Period of Anthony Adverse or Fifty Years in Both Hemispheres. New York 1934 (1854), S. 39. Beneke: Tagebücher 8.11.1799. Beutin: Bremisches Bank- und Börsenwesen (wie Anm. 90), S. 24. STA Hamburg, 371–2 A8, Bd. 6: Protokollbuch der Admiralität, 26.5.1799. Baasch: Fallitenstatistik (wie Anm. 19), S. 533–545. Das Original dieser zweiten Liste wurde vom Archiv vernichtet und es existiert nur noch eine kaum lesbare Kopie (STA Hamburg: 222–3, A.2.4; Bestand Fotoarchiv 741–4 K 188, Bd. 1). STA Bremen, 2-D.11.b.1.b, Bd. 8: Verzeichnis der eröffneten Konkursverfahren. Errechnet auf der Basis der Daten in Hans Arnold Plöhn: Liste der Altonaer Konkurse 1797–

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dische Kaufmann- und Unternehmerschaft besaß, stieg die Zahl der Konkurse nach 1799 ebenfalls noch weiter an.104 Die Entwicklung dieser Zahlen zeigt, dass gerade die mittleren und kleineren Gewerbetreibenden und Handwerker von den Folgen der Spekulationsblase erfasst wurden. Einiges deutet auf eine nachfolgende schwere Depression in den Gewerbegebieten des Hinterlands hin. So reduzierte beispielsweise der Textilkaufmann Ernst August Delius seine Leineneinkäufe um mehr als 50 Prozent. 1799 hatte er für 42 600 Taler eingekauft, 1800 nur noch für 18 800.105 Die Einschränkung seines Geschäfts hatte Rückkopplungswirkungen auf die protoindustrielle Leinenproduktion: Weber und Spinner mussten zwangsläufig Einnahmeverluste hinnehmen.106 Schwerwiegende Folgen hatte die Krise auch für die Seidenindustrie im Krefelder Wirtschaftsraum. Sie führte, Peter Kriedte zufolge, zu einer allgemeinen Stagnation von Gewerbe und Handel. Einer der führenden Seidenfabrikanten, von der Leyen, machte infolge der Krise erstmals Verluste, die in den beiden folgenden Jahren weiter stiegen. Die Zahl seiner Webstühle reduzierte er um mehr als zwei Drittel, wodurch viele Weber arbeitslos wurden.107 Wie weitreichend sich die Krise auch auf die ländlichen Gebiete insgesamt auswirkte, ist nur schwer einzuschätzen. Zu bedenken ist jedoch, dass zahlreiche Regionen in Deutschland nicht mehr rein agrarisch strukturiert waren. Viele Landbewohner waren von Einnahmen aus den proto-industriellen Gewerbezweigen, insbesondere dem Textilgewerbe, wirtschaftlich abhängig geworden, so dass zumindest von einer flächendeckenden Unterbeschäftigung als Folge der Krise, wenn nicht verbreiteter Erwerbslosigkeit, ausgegangen werden kann. Durch die von Hamburg ausgehende Konkurswelle mussten auch viele andere Handels- und Bankhäuser Verluste hinnehmen. Die Quellenlage lässt hierbei aller-

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1805, in: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 39 (1965), S. 125 f. Für 1802 und 1803 sind keine Angaben genannt, erst wieder für 1804 und 1805. In Stockholm stieg die Zahl der Konkurse von 159 im Jahr 1798 auf 205 im Krisenjahr 1799. Im folgenden Jahr waren es 214. 1801 sank sie vorübergehend auf 196, um dann 1802 wieder auf 217 anzusteigen (www.tidigmodernakonkurser.se, Zugriff: 14.2.2015), vgl. auch Nyberg/ Jakobsson: Financial Networks (wie Anm. 19), S. 72–93. Hans Schmidt: Vom Leinen zur Seide. Die Geschichte der Firma C. A. Delius & Söhne und ihrer Vorgängerinnen und das Wirken ihrer Inhaber für die Entwicklung Bielefelds, 1722–1925. Detmold 1926, S. 77 f. Der Einbruch der Nachfrage ist nicht auf das Vordringen der Baumwolle zurückzuführen. Leinen blieb der wichtigste Exportartikel bis gegen Ende der 1830er Jahre. Vor allem in den tropischen und subtropischen Gebieten Amerikas bestand eine hohe Nachfrage nach deutschem Leinen. Der erfolgreiche Wiederaufbau des Delius’schen Unternehmens nach 1815 basierte zunächst auf Leinen. Erst in den 1840er Jahre stellte die Firma auf Baumwolle und Seide um. (Schmidt: Vom Leinen zur Seide [wie Anm. 105]; vgl. Karl Ditt: The Rise and Fall of the German Linen Industry in the Nineteenth and Twentieth Centuries, in: Brenda Collins/Philip Ollerenshaw [Hg.]: The European Linen Industry in Historical Perspective. Oxford 2003, S. 259– 283; Pitsch: Beziehungen Bremens [wie Anm. 29], S. 241; Rolf Engelsing: Schlesische Leinenindustrie und Hanseatischer Überseehandel im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Würzburg 1959, S. 207–231, hier bes. 207 f.). Peter Kriedte: Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes (Mitte des 17. Jahrhunderts–1815) (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 223). Göttingen 2007, S. 362–364.

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dings nur Einzelbeispiele zu. So schrieb das Hamburger Bank- und Handelshaus Joh. Berenberg, Gossler & Co. einen Verlust über 90 000 Mark Banco ab, den es u. a. durch Wechsel auf London, und zwar auf Ruben Brothers, Goldsmid & Eliason und Louis Sack erlitten hatte. Es musste darüber hinaus durch Persent & Bodecker mehr als £ 1 654 abschreiben. Nach den Bilanzen der Jahre 1798 bis 1802 verzeichnete Berenberg, Gossler & Co. nach 1799 einen deutlichen Umsatzrückgang.108 Der Krefelder Seidenfabrikant von der Leyen gehörte zu den Gläubigern des in Konkurs gegangenen Augsburger Handels- und Bankhauses Schwarz mit einer Summe von über 5 877 Gulden.109 Im Vergleich mit anderen Häusern bedeutete diese Summe – so Peter Kriedte – zwar einen hohen Verlust, aber keinen existenzgefährdenden Einbruch.110 Weniger von der Krise betroffen war nach Untersuchung von Wilfried Reininghaus die Metallindustrie in der Grafschaft Mark, doch auch die große Firma von Joh. Rupe Wwe. & Co. erlitt einige Verluste durch den Konkurs von Bernard Salomon Roosen in Hamburg. Noch 1800 klagte Joh. Rupe über das verschwundene Vertrauen. Die Kunden würden schlecht zahlen und stellten Wechsel auf längere Zeit aus und, so bemerkte er ferner, „ungeachtet des großen Capitals, das in unseren Geschäften circulirt, gebricht es uns doch jetzt […] an Gelde“.111 In den englischen Industriegebieten wirkte die Krise gleichfalls nach. So hieß es in dem Brief eines Engländers vom Frühjahr 1800: „the manufacturing towns are in a state of idleness and starvation, never before experienced in England. […] The manufacturing interests have felt so severely the bankruptcies in our own and various capitals of Europe, that discredit & distrust have completely taken the place of confidence and credit that every man, from the highest merchant to the lowest labourer is suspicious even of their old customers.“112

FAZIT Im Hinblick auf das eingangs vorgestellte Phasenkonzept moderner Spekulationskrisen ist festzuhalten, dass die Hamburger Krise grundlegende Merkmale moderner kapitalistischer Krisen aufwies. Die Ausweitung des Handels seit dem späten 17. Jahrhundert, die Modernisierung des Finanzmarktes in England sowie die einsetzende Industrialisierung und Ausweitung des Kreditsystems im 18. Jahrhundert schufen neue aussichtsreiche Investitions- und Gewinnchancen, die durch die zahlreichen Kriege noch verstärkt wurden, deren Risiken jedoch nicht kalkulierbar waren. Spekulation war spätestens in dieser Epoche ein integraler Bestandteil des

108 Renate Hauschild-Thiessen: Geschichte der Unternehmung der Berenberg Bank (unveröffentlichtes Manuskript), STA Hamburg 1990, S. 122. 109 Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: 2 Augsburg 286–7. 110 Kriedte: Taufgesinnte (wie Anm. 107), S. 364 f. 111 Zit. nach Wilfried Reininghaus: Die Stadt Iserlohn und ihre Kaufleute (1700–1815) (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 13). Dortmund 1995, S. 387. 112 Herald of Liberty, Washington 19.5.1800.

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Marktes geworden.113 Sie äußerte sich in einer steigenden Zahl von Blasen und ausgedehnten Konkurswellen, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in immer kürzeren Abständen auftraten und rekurrierenden Charakter annahmen. Von den führenden Finanz- und Handelszentren Europas ausgehend, zogen sie immer entferntere geographische Regionen in ihren Sog und erfassten immer weitere soziale und wirtschaftliche Kreise. Die Finanz- und Handelskrise von 1799 war nicht die erste, die Hamburg erschütterte, doch wurde die Hansestadt erstmals zum Epizentrum einer Spekulationsblase. Sie wurde hervorgerufen durch die Ausschaltung des Amsterdamer Finanzmarktes und seine weitgehende Verlagerung an die norddeutsche Küste sowie eine inflationäre Kriegsnachfrage. Der überraschende Aufschwung löste eine geradezu euphorische Erwartungshaltung an zukünftige Gewinne aus, die die Risiken des Marktes unterschätzte bzw. ausblendete. In England und den USA entstand eine ähnlich überschwängliche Stimmung; in England durch den Wegfall des französischen Kolonialmarktes, in den USA durch die Rolle als neutraler Carrier (Transportträger) zwischen den Kriegsmächten. Unrealistische und überspannte Gewinnerwartungen mündeten in Überspekulation und eine extensive Kreditausweitung. Zeitgenossen in Hamburg und im Ausland hatten den Eindruck, eine neue Epoche mit langfristig guten Aussichten sei angebrochen: „Man brauchte fast nur handeln, um auch zu verdienen.“114 Im Herbst 1799 platzte in Hamburg die Blase. Der Schock, den der plötzliche Zusammenbruch und das Ausmaß der Krise auslösten, war groß. Zeitgenossen wie Büsch betrachteten die Spekulationskrise als etwas Neues. Er verglich sie mit einer schweren Krankheit, die „in den Eingeweiden der Handlung“ wüte; die Krise von 1763 erschien ihm dagegen nur als ein vorübergehender „Krampf“.115 Nicht nur im Hinblick auf die lokalen Auswirkungen und Reaktionen war die Krise ein Novum, sondern auch geographisch, denn sie erfasste mehr oder minder ganz Europa und darüber hinaus auch die großen Städte an der Ostküste der USA. Die panikartigen Reaktionen in vielen deutschen und ausländischen Städten offenbaren, wie eng die Märkte über nationale Grenzen hinweg schon vor der Jahrhundertwende verflochten waren. Mit dem herkömmlichen Instrumentarium der Konfliktregelung, d. h. der Bestrafung von Bankrotteuren, war diese Krise nicht zu bewältigen. Es mussten neue Schritte zur Überwindung von Vertrauensverlust und Liquiditätsmangel unternommen werden, die sich nicht mehr ausschließlich auf strafrechtliche Maßnahmen beschränkten. Wechselseitige Schuldzuweisungen von Leichtsinn und Verschwendung prägten zwar noch die Diskussion, auch wurde nicht jedem Bankrotteur Schuldgefängnis und Verlust des bürgerlichen Status erspart, doch sahen sich die politischen Vertreter gezwungen, neue Wege zur Bewältigung der Krise einzuschlagen. Es entbrannte eine heftige politische Diskussion – nicht nur in Hamburg, sondern u. a. auch in England –, ob politische Institutionen als Kreditgeber der letzten 113 Edward Chancellor setzt den Beginn der modernen Spekulation für das nordwestliche Europa im 16. Jahrhundert an (Chancellor: Devil [wie Anm. 9], S. 6–9). 114 Heineken: Hansestadt Bremen (wie Anm. 47), Bd. 2, S. 298. 115 Büsch: Handelsverwirrung (wie Anm. 6), S. 87 f.

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Instanz aktiv werden sollten, und mit welchen wirtschaftspolitischen Stützungsmaßnahmen eine Beruhigung der Märkte herbeigeführt werden konnte. Um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern, wurde in Hamburg die Konkursordnung zeitweise außer Kraft gesetzt, weitere Maßnahmen waren Kreditprolongationen und die Errichtung von städtischen sowie privaten Darlehnsbanken. Lokale Aktivitäten allein reichten in dieser Krise nicht mehr zur Beruhigung der Märkte aus, sondern sie erforderte eine transnationale Intervention. Erst hierdurch entspannte sich die Lage über die Grenzen der Stadt hinaus, wobei die Folgen noch lange zu spüren waren. Insgesamt mussten viele Kaufleute und Gewerbetreibende, nicht allein die Gescheiterten, hohe Verluste einstecken. Vielen Bankrotteuren wurden jedoch Schuldgefängnis, dauerhafte Handlungsunfähigkeit und Ehrverlust erspart und zudem der Weg für einen schnellen Neuanfang geebnet. Mehrheitlich wurden allerdings nur jene gestützt, die „too big to fail“ waren und durch deren Bankrott schwere gesamtwirtschaftliche Folgen befürchtet wurden. Die Spekulationskrise verursachte nicht nur einen langfristigen Vertrauensverlust, sondern leitete auch eine schwere Rezessionsphase ein mit steigenden Konkurszahlen in der Mittelschicht, deutlichen Gewinnrückgängen bei vielen Unternehmen und steigender Arbeitslosigkeit, insbesondere im Textilgewerbe. Obwohl man das quantitative Ausmaß der Arbeitslosigkeit quellenmäßig nicht feststellen kann, so ist davon auszugehen, dass die nachfolgende Depression in wesentlichem Umfang eine Folge der Spekulationsblase war, denn die wirtschaftliche Prosperität der 1790er Jahre kehrte nicht mehr zurück. Ein gewisser Einfluss der Kriegsereignisse ist zwar nicht auszuschließen, doch wirkten sich diese erst nach 1803 schwerwiegend auf die Wirtschaft aus.

DEM TOD DURCH LANGSAMKEIT DAVONLAUFEN Life History Theorie und die Evolution des Demografischen Übergangs in Baden im 19. Jahrhundert Katharina Mühlhoff, Madrid 1. EINLEITUNG Die Naturwissenschaften mussten in ihrer Geschichte viele Ernüchterungen verkraften: Zuerst verbannten Kopernikus und Galilei die Erde aus dem Zentrum des Universums. Dann degradierte Darwin den Menschen zum schlauen Affen. Und in den letzten Jahren schickten Genetik und Hirnforschung sich an, auch am letzten Bollwerk menschlicher Einzigartigkeit zu kratzen: an der Fähigkeit zur freien Willensentscheidung. Die Welt der Ökonomen schien dagegen von diesen Umwälzungen lange unberührt. Ihrem homo oeconomicus ist gleich, ob er auf einer Scheibe im Zentrum harmonischer Himmelssphären oder auf einer unbedeutenden Kugel inmitten eines unendlichen Universums lebt. Ebenso unverrückbar gehören seine Autonomie und die Fähigkeit zur rationalen Entscheidung noch immer zu den Standardannahmen vieler volkswirtschaftlicher Modelle. Dass es zwischen der mathematischen Eleganz des ökonomischen Modellkosmos und den Spielregeln der Natur tiefe Verwerfungen gibt, macht die Wirtschaftsgeschichte mit ihrem langen Betrachtungshorizont in besonderem Maße deutlich. Die Verzahnung des Faches mit der Neuen Institutionenökonomik und sein Interesse an „Bruchlinien“ der klassischen Theorie – etwa der Rolle von Erwartungen, sozialen Netzwerken, unvollständiger Information und begrenzter Rationalität – sind zweifellos Konsequenz dieser besonderen Perspektive. Angesichts der Fortschritte, die durch diese Offenheit gegenüber angrenzenden Fächern möglich wurden, erscheint es vielversprechend, die Ergebnisse der wirtschaftshistorischen Forschung auch im Licht der Lebens- und Verhaltenswissenschaften zu betrachten und – falls nötig – neu zu hinterfragen. Dass und wie diese methodologische Erweiterung gewinnbringend für das Verständnis langfristiger Entwicklungsprozesse sein könnte, lässt sich am besten anhand konkreter empirischer Beispiele aufzeigen. Daher soll im Folgenden – gewissermaßen als Erkundungsversuch für zukünftige Forschungsvorhaben – die Beziehung zwischen medizinischem Fortschritt und demografischem Übergang in Südwestdeutschland analysiert werden. Der spezielle Gegenstand bietet sich hierbei zum einen deswegen an, weil dem Reproduktions- und Aufzuchtverhalten in der Evolutionstheorie eine so zentrale Rolle zukommt, dass es von Biologen, Anthropologen und Psychologen in seinen vielseitigen Verästelungen gründlich erforscht wurde. Zum anderen lässt die demografische Entwicklung Europas während seiner Industri-

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alisierungsphase trotz der großen Aufmerksamkeit seitens der Geschichtswissenschaft noch einige Fragen offen.1 So ist insbesondere nach wie vor umstritten, welche Faktoren die Haupttriebkräfte hinter der sinkenden Fruchtbarkeit waren und worin genau die Wechselwirkungen zwischen Fertilität, Mortalität und Humankapitalakkumulation bestanden. Diese Forschungslücken weiter zu schließen, erscheint freilich nicht nur des historischen Erkenntnisinteresses wegen wünschenswert. Es empfiehlt sich auch aus entwicklungspolitischen Erwägungen. Denn Maßnahmen zur Armutsbekämpfung, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Gesundheitsförderung lassen sich zielgerichteter einsetzen und versprechen größeren Erfolg, wenn die demografischen Rückkopplungseffekte dieser Eingriffe genau verstanden werden. Um der geschichtswissenschaftlichen und der entwicklungsökonomischen Dimension des Phänomens gerecht zu werden und darzustellen, inwieweit die Evolutionstheorie bei seiner Interpretation helfen kann, wird der vorliegende „Erkundungsversuch“ drei Themenkomplexe genauer betrachten. Zunächst skizziert er, wie Biologen die Fortpflanzungsstrategien verschiedener Arten klassifizieren und wie sich beobachtete Unterschiede auf Basis natürlicher Selektionsmechanismen deuten lassen. Anschließend wird anhand der historischen Entwicklung im Großherzogtum Baden gezeigt, dass medizinischer Fortschritt unter bestimmten Umständen den herrschenden Selektionsdruck spürbar verändern konnte. Um die sozio-ökonomische Relevanz der veränderten Umweltbedingungen und somit die Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Ergebnisse auf sozialwissenschaftliche Forschungsfelder empirisch zu überprüfen, wird schließlich ein ökonometrisches Modell betrachtet, das die Wirkung fortschreitender Medikalisierung2 auf das Reproduktionsverhalten statistisch schätzt. Die Ergebnisse dieser quantitativen Analyse können jedoch nur angemessen interpretiert werden, wenn die zugrunde liegenden Theorien aus der Evolutionsbiologie und die wichtigsten Charakteristika des Fallbeispiels Baden hinlänglich bekannt sind. Die folgenden beiden Abschnitte führen daher sowohl in den biologischen als auch den historischen Hintergrund der Untersuchung ein.

1

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Siehe hierzu die Überblickdarstellungen bei John Caldwell: Demographic Transition Theory. Dordrecht 2006; Ansley J. Coale / Susan Cotts Watkins (Hg.): The Decline of Fertility in Europe. The Revised Proceedings of a Conference on the Princeton European Fertility Project. Princeton 1986; John E. Knodel: The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939. Princeton 1974. In Abgrenzung zur Soziologie wird „Medikalisierung“ im Folgenden ausschließlich als die allgemeine Verbreitung medizinischer Grundkenntnisse und Verhaltensweisen in der Bevölkerung verstanden.

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2. FORTPFLANZUNG ALS ÖKONOMISCHES OPTIMIERUNGSPROBLEM – DIE LIFE HISTORY THEORIE Der zentrale methodische Bezugsrahmen der modernen Evolutionsbiologie ist die Life History Theorie.3 Die Life History Theorie versteht Wachstum, Überleben und Fortpflanzung eines Organismus als fortlaufendes Optimierungsproblem. Jedes Individuum muss dabei entscheiden, wie es knappe energetische Ressourcen optimal zwischen seinen konkurrierenden Lebensbedürfnissen aufteilt. Der Organismus – so die Theorie – verhält sich dabei wie der rationale Investor in einer Marktwirtschaft: Er setzt das Kapital, das ihm sein Metabolismus zur Verfügung stellt, in den Bereichen ein, die eine größtmögliche Überlebensrendite versprechen. Als Maßstab für diese „Rendite“ gilt gemeinhin die sogenannte fitness, d. h. die Fähigkeit, das eigene Überleben zu sichern und Gene an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Die Gesamtheit aller Vorgänge, die zusammen genommen die fitness bestimmen, wird als Lebenszyklusstrategie (life history strategy) bezeichnet. Da die erwarteten Gewinne einer solchen Strategie von den natürlichen Gegebenheiten des jeweiligen Lebensraums abhängen, haben verschiedene Arten im Lauf ihrer Evolution eine enorme Bandbreite von Anpassungen in Gestalt, Stoffwechsel und Verhalten entwickelt. Schematisch lassen sich diese Strategien in ein Kontinuum von schnell nach langsam einordnen. „Schnelle“ Lebenszyklusstrategien beinhalten rasches Wachstum, frühe Geschlechtsreife, häufige Paarungen und eine große Nachkommenzahl. Demgegenüber zeichnen sich „langsame“ Lebenszyklusstrategien durch lange Wachstumsphasen, späte Reife, wenige Fortpflanzungsversuche und eine kleine Zahl Nachkommen aus, denen ein Höchstmaß elterlicher Aufmerksamkeit zuteilwird.4 Die evolutionäre Logik hinter diesen Unterschieden ist nicht schwer zu verstehen: Besetzt eine Spezies eine ökologische Nische, die sie widrigen oder extrem instabilen Umweltbedingungen aussetzt, ist der erwartete Nutzen aus Investitionen in einzelne Individuen gering. Anders ausgedrückt: Arten, wie Mäuse oder Kaninchen sind Teil grundverschiedener Ökosysteme und müssen sich gegen eine Vielzahl von Fressfeinden behaupten. Sie können den Tod also nur durch schiere Masse übertrumpfen und profitieren von früher Geschlechtsreife, häufigen Paarungen und großen Würfen. Anders verhält es sich bei Arten, die einen hohen Platz in der Nahrungskette einnehmen oder unter ungewöhnlich stabilen Umweltbedingungen leben. Unter diesen Umständen hängt der Überlebens- und Fortpflanzungserfolg maßgeblich von der Fähigkeit ab, sich gegen die eigenen Art3

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Einführungen hierzu sind u. a. Stephen C. Stearns: The Evolution of Life Histories. Oxford 1992; James S. Chisholm u. a.: Death, Hope, and Sex: Life-History Theory and the Development of Reproductive Strategies [and Comments and Reply], in: Current Anthropology 34 (1993), S. 1–24; Eckart Voland: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. Berlin/Heidelberg 2013. Hillard Kaplan / Jane Lancaster: An Evolutionary and Ecological Analysis of Human Fertility, Mating Patterns and Parental Investment, in: Kenneth Wachter / Rodolfo A. Bulatao (Hg.): Offspring. Human Fertility Behavior in Biodemographic Perspective. Washington D. C. 2003, S. 170–223; Jon Bielby u. a.: The Fast-Slow Continuum in Mammalian Life History. An Empirical Reevaluation, in: The American Naturalist 169 (2007), S. 748–757.

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genossen durchzusetzen. Folglich tun Eltern gut daran, die Zahl ihrer Nachkommen zu beschränken und intensiv in deren Wettbewerbsfähigkeit zu investieren. Menschen wie andere Primaten verfolgen eine im obigen Sinne „langsame“ Lebenszyklusstrategie. Im Gegensatz zu anderen Arten verfügen sie jedoch über ein ungewöhnlich vielfältiges Spektrum unterschiedlicher Reproduktionsstrategien.5 So entwickeln Menschen zwar selbst unter widrigsten Bedingungen keine Fruchtbarkeitsraten, die nur annähernd das Niveau von „schnellen“ Gattungen wie Mäusen erreichen. Zwischen traditionellen Großfamilien, in denen die elterliche Zuwendung zwangsläufig geteilt werden muss, und heutigen Vorstadtbewohnern, die ein einziges Kind mit Schach-, Chinesisch- und Geigenunterricht auf gesellschaftlichen Erfolg trimmen, bleibt jedoch ein breiter Raum für evolutionäre Anpassungen. Für Entwicklungsökonomen, Wirtschaftshistoriker und Demografen bliebe diese bemerkenswerte Flexibilität eine rein biologische Kuriosität, wenn sie nicht eng mit den langfristigen Wachstums- und Entwicklungsperspektiven der betroffenen Gesellschaft verknüpft wäre. So belegt eine stetig wachsende Literatur in den Lebens- und Verhaltenswissenschaften, dass menschliche Gesellschaften sowohl die als jeweils opportun angesehene Familiengröße als auch das elterliche Erziehungsideal den herrschenden Umweltbedingungen anpassen.6 Diese Evolution formeller und informeller Institutionen ist allerdings nur zum Teil die Folge planmäßiger Gestaltung. In weiten Bereichen hängt sie von physiologischen und psychosozialen Prozessen ab, die sich der bewussten Entscheidung des Einzelnen entziehen. Anders ausgedrückt: Menschen sind in einem gewissen Sinn genetisch darauf programmiert, die fitness ihrer Sippe zu maximieren. Doch während dieses evolutionäre Erbe zum Überleben unserer weit entfernten Vorfahren beitrug, ist zu vermuten, dass es in weiter fortgeschrittenen Gesellschaften die Bildung von Humankapital hemmt und damit einer Beschleunigung des Wachstums und nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen im Weg steht. Ob dieses Risiko eine reale Gefahr darstellt oder getrost in die theoretische Sphäre verbannt werden kann, lässt sich nur abschätzen, wenn klar ist, wie und in welchem Maß Umwelteinflüsse den Übergang von schnellen zu langsamen Lebenszyklusstrategien und von hohen zu niedrigen Geburtenraten mit gesteigertem Elterninvestment regulieren. Um diese Bewertung vorzunehmen, müssen die biologischen Grundlagen des Demografi5

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Siehe hierzu James H. Jones / Rebecca B. Bird: The Marginal Valuation of Fertility, in: Evolution and Human Behavior. Official Journal of the Human Behavior and Evolution Society 35 (2014), S. 65–71; Sarah B. Hrdy: Fitness Tradeoffs in the History and Evolution of Delegated Mothering with Special Reference to Wet-Nursing, Abandonment and Infanticide, in: Stefano Parmigiani u. a. (Hg.): Infanticide and Parental Care. Proceedings of a Workshop Held at the International School of Ethology, Ettore Majorana Centre for Scientific Culture, Italy, 13– 20 June 1990. Chur 1994, S. 3–42. Robert J. Quinlan: Human Parental Effort and Environmental Risk, in: Proceedings of the Royal Society B 274 (2007), S. 121–125; James W. Wood: Dynamics of Human Reproduction. Biology, Biometry, Demography. New Brunswick 1994 [ND 2009]; Vladas Griskevicius u. a.: The Influence of Mortality and Socioeconomic Status on Risk and Delayed Rewards. A Life History Theory Approach, in: Journal of Personality and Social Psychology 100 (2011), S. 1015–1026, hier 1015.

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schen Übergangs kurz skizziert werden. Hierbei gilt es zunächst – in der gebotenen Knappheit – festzustellen, welche physiologischen und psychologischen Prozesse die Herausbildung einer bestimmten Lebenszyklusstrategie begünstigen. Dies beinhaltet die Frage, welche Umweltsignale die jeweiligen Anpassungen auslösen und inwieweit diese durch bewusste Entscheidungen verstärkt bzw. unterdrückt werden. Im nächsten Schritt gilt es, die Betrachtung vom einzelnen Individuum auf gesamtgesellschaftliche Prozesse zu erweitern. Dieser Perspektivenwechsel soll aufzeigen, ob sich Lebenszyklusstrategien, die einzelnen Elternpaaren eine optimale Anpassung an den herrschenden Selektionsdruck ermöglichen, langfristig zu formellen und informellen Institutionen der gesamten Gesellschaft verfestigen. 2.1. INDIVIDUELLE ANPASSUNGEN DER LEBENSZYKLUSSTRATEGIE AN DAS LEBENSUMFELD Empirische Studien legen nahe, dass extremer Selektionsdruck in Form extrinsischer (d. h. von der Sorgfalt der Eltern nicht zu beeinflussender) Mortalität Menschen schnellere Lebenszyklusstrategien wählen lässt. Selektionsdruck durch intrinsische d. h. von Pflege, Erziehung oder sozialem Rang abhängige Faktoren begünstigen hingegen langsame Lebenszyklusstrategien. Diese Weichenstellung erfolgt durch ein komplexes Wechselspiel aus Umweltsignalen und den dadurch bedingten hormonellen und kognitiven Antworten. Dabei beeinflussen biochemische Prozesse nicht nur die grundlegende Fähigkeit zur Fortpflanzung, indem sie die Geschwindigkeit des Wachstums und das Einsetzen der Pubertät steuern. Ihnen kommt als Katalysatoren für die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern auch eine tragende Rolle bei der Herausbildung des elterlichen Fürsorgeverhaltens zu.7 Die entsprechenden Mechanismen werden in erster Linie von Hormonen der sogenannten Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (HHGA) ausgelöst. So regen konstant negative Lebensbedingungen – etwa in Form permanenter Unterernährung oder körperlicher Überanstrengung – die Ausschüttung großer Mengen von Stresshormonen wie Cortisol an und hemmen so die Wirkung von Wachstums- und Sexualhormonen. Infolgedessen bleibt der Organismus in seiner Entwicklung zurück, da Wachstum und Geschlechtsreife im Vergleich zur Situation bei günstigen Lebensbedingungen verzögert werden. Das Gegenteil ist der Fall, wenn Individuen unter rasch wechselnden Umwelteinflüssen oder moderatem Stress aufwachsen: Herrscht diese Konstellation vor, regt die dauerhaft leicht erhöhte Konzentration von Stresshormonen die Bildung von Gonadalhormonen an und beschleunigt den Eintritt der 7

Ruth Feldman u. a.: Evidence for a Neuroendocrinological Foundation of Human Affiliation. Plasma Oxytocin Levels Across Pregnancy and the Postpartum Period Predict Mother-Infant Bonding, in: Psychological Science 18 (2007), S. 965–970; Alice S. Rossi / Peter H. Rossi: Of Human Bonding. Parent-Child Relations across the Life Course. New York 1990; Ilanit Gordon u. a.: Oxytocin and the Development of Parenting in Humans, in: Biological Psychiatry 68 (2010), S. 377–382; Ruth Feldman / Ilanit Gordon / Orna Zagoory-Sharon: Maternal and Paternal Plasma, Salivary, and Urinary Oxytocin and Parent-Infant Synchrony. Considering Stress and Affiliation Components of Human Bonding, in: Developmental Science 14 (2011), S. 752–761.

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Pubertät. Der Organismus ergreift damit in dem möglicherweise vorübergehenden Zeitfenster günstiger Fortpflanzungsbedingungen jede Möglichkeit, seine Gene weiterzugeben.8 Unabhängig von willentlichen Entscheidungen regeln evolutionäre Algorithmen demnach einen nicht unerheblichen Teil der individuellen Fortpflanzungsfähigkeit. Da Wachstum und Reife dessen ungeachtet genetisch bedingten Grenzen unterliegen, bleibt die ökonomische und demografische Bedeutung dieser rein physiologischen Anpassungen allerdings begrenzt. Anders verhält es sich mit Investitionen, die Eltern für die zukünftige fitness ihrer Kinder aufbringen – oder zumindest aufzubringen bereit sind. Dass Menschen die Geschwindigkeit ihrer Lebenszyklusstrategie weniger durch direkte Veränderungen des Organismus als vielmehr auf indirektem Weg über das Verhalten der Eltern nach der Geburt anpassen, sollte nicht weiter verwundern. Denn auch wenn Zeugung, Schwangerschaft und Niederkunft körperliche Belastungen darstellen, werden diese weit von den energetischen Kosten übertroffen, die bei der Aufzucht des Nachwuchses entstehen. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass die Entwicklung des menschlichen Gehirns selbst im Vergleich zu anderen Primaten eine übermäßig lange Phase kindlicher Abhängigkeit bedingt. Im Lauf ihrer Evolution schufen unsere Vorfahren daher ein Gegengewicht zu diesen großen Elterninvestitionen mit ungewissem Ausgang: Sie entwickelten die Fähigkeit, die emotionale Bindung an ihre Kinder unter bestimmten Umständen aufzuschieben oder zu unterdrücken: Anders als viele Affenmütter, die sich bedingungslos um ein Junges kümmern, sobald es sich an ihren Pelz klammern kann, sind Menschen fähig, diesen Instinkt zu überwinden.9 Dazu kommt es insbesondere dann, wenn sich die Eltern nicht im Stande sehen, für ihr Kind zu sorgen, oder es für minderwertig erachten. Diese Besonderheit der menschlichen Lebenszyklusstrategie wurde u. a. in den Arbeiten von Quinlan, Volk und Atkinson empirisch belegt, die auf die im Vergleich zu Menschenaffen signifikant erhöhte Variabilität der Kindersterblichkeit (als Indikator der elterlichen Fürsorge) in historischen Gesellschaften sowie bei heutigen Naturvölkern hinwiesen.10 Derselbe Befund 8

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Bruce J. Ellis: Timing of Pubertal Maturation in Girls. An Integrated Life History Approach, in: Psychological Bulletin 130 (2004), S. 920–958, hier 920; Anne-Simone Parent u. a.: The Timing of Normal Puberty and the Age Limits of Sexual Precocity. Variations around the World, Secular Trends, and Changes after Migration, in: Endocrine Reviews 24 (2003), S. 668–693; Julia A. Graber / Jeanne Brooks-Gunn / Michelle P. Warren: The Antecedents of Menarcheal Age. Heredity, Family Environment, and Stressful Life Events, in: Child Development 66 (1995), S. 346– 359. Helen Ball / Catherine Panter-Brick: Child Survival and the Modulation of Parental Investment. Physiological and Hormonal Considerations, in: Peter T. Ellison (Hg.): Reproductive Ecology and Human Evolution. New Brunswick 2011, S. 249–266, hier 249; Sarah B. Hrdy: Variable Postpartum Responsiveness among Humans and Other Primates with “Cooperative Breeding”. A Comparative and Evolutionary Perspective, in: Hormones and Behavior 77 (2016), S. 272– 283. Robert J. Quinlan: Human Parental Effort and Environmental Risk, in: Proceedings of the Royal Society B 274 (2007), S. 121–125; Anthony Volk / Jeremy Atkinson: Infant and Child Death in the Human Environment of Evolutionary Adaptation, in: Evolution and Human Behavior 34 (2013), S. 182–192.

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spiegelt sich in psychopathologischen Auffälligkeiten wider, die auch in heutiger Zeit verbreitet auftreten – insbesondere im Krankheitsbild der postnatalen Depression (PND). Denn anders als in der früheren Forschung angenommen, entsteht die PND nicht zufällig oder allein durch die Hormonumstellung infolge von Geburt und Entbindung. Vielmehr erscheint sie gehäuft, wenn Mütter während der Schwangerschaft großem Stress ausgesetzt waren, oder zu erwarten steht, dass ihnen sozialer Rückhalt bei der Erziehung des Neugeborenen fehlt. Gefühle wie Antriebslosigkeit, emotionale Distanz oder gar Aggression führen dann – sofern eine Intervention von außen unterbleibt – dazu, dass auf Kinder mit geringer erwarteter fitness weniger Ressourcen aufgewendet und bei verbesserten Umweltbedingungen eine erneute Schwangerschaft schnell ermöglicht wird.11 Dieses Grundmuster bleibt auch dann erhalten, wenn es nicht zu einer klinischen Manifestation postnataler Depression kommt. So zeigt eine Reihe empirischer Studien in unterschiedlichen Gesellschaften, dass Eltern und Familienangehörige dazu neigen, ihre Investition in ein Kind bewusst oder unbewusst zu verringern, wenn es in ihren Augen einen „Mangel“ (z. B. eine Behinderung oder Erbkrankheit) aufweist. Beispielhaft für diese Literatur lassen sich die Arbeiten von Bereczkei anführen, der in einer Stichprobe mit 600 Müttern nachweisen konnte, dass Mütter von Kindern mit schweren Geburtsdefekten weniger körperlichen Kontakt mit ihrem Neugeborenen suchten und es seltener stillten als Mütter gesunder Kinder.12 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Kohortenstudie aus US-amerikanischen Krankenhäusern.13 Im Kontext heutiger Entwicklungs- und Schwellenländer weisen u. a. Montgomery und Koautoren in mehreren Studien auf einen kausalen Zusammenhang zwischen extremer Armut und vermindertem Elternengagement bis zu systematischer Vernachlässigung hin – ein Befund, der, wie zuletzt von Nettle bestätigt, auch in sozial benachteiligten Gegenden der Industriestaaten gilt.14 Historisch war die selektive Fürsorge bzw. die Diskriminierung einzelner Kinder ebenfalls kein unbekanntes Phänomen. So beschreibt Voland für die Bevölkerung der Krumhörn (Ostfriesland), dass Kinder höherer Geburtsränge, sofern ihre älteren Geschwister überlebten, gleichsam als „Überschussreserve“ einer signifikant erhöhten Sterblichkeit ausgesetzt waren.15 Zeitgenössische Quellen und jüngere Forschungen über andere deutsche Staaten liefern ähnliche Ergebnisse und weisen darauf hin, dass wirtschaftliche Not in vorindustri11 Emma Robertson u. a.: Antenatal Risk Factors for Postpartum Depression. A Synthesis of Recent Literature, in: General Hospital Psychiatry 26 (2004), S. 289–295; Michael W. O’Hara: Postpartum Depression. Causes and Consequences. New York 1995. 12 Tamas Bereczkei: Maternal Trade-Off in Treating High-Risk Children, in: Evolution and Human Behavior 22 (2001), S. 197–212. 13 Martin Daly / Margo Wilson: Discriminative Parental Solicitude. A Biological Perspective, in: Journal of Marriage and Family 42 (1980), S. 277–288. 14 Heather Montgomery: An Introduction to Childhood. Anthropological Perspectives on Children’s Lives. New York 2011; Daniel Nettle: Dying Young and Living Fast. Variation in Life History across English Neighborhoods, in: Behavioral Ecology 21 (2010), S. 387–395; Ders.: Ecological Influences on Human Behavioural Diversity. A Review of Recent Findings, in: Trends in Ecology & Evolution 24 (2009), S. 618–624. 15 Eckart Voland: Soziobiologie. Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz. Berlin/Heidelberg 2013, S. 154–160.

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eller Zeit nicht selten Vernachlässigung, Misshandlung oder gar bewussten Kindsmord nach sich zog. Diese Form der nachträglichen Geburtenkontrolle ließe sich ohne Zweifel als extremer Ausnahmefall ohne gesamtgesellschaftliche Konsequenz abtun. Ob dem tatsächlich so war oder ob hohe Risiken über den einzelnen Haushalt hinaus generellen Einfluss auf die allgemein verbreitete Lebenszyklusstrategie hatten, soll im folgenden Abschnitt näher beleuchtet werden. 2.2. INSTITUTIONELLE ANPASSUNGEN HISTORISCHER GESELLSCHAFTEN AN IHRE LEBENSBEDINGUNGEN Selbstverständlich blieben Ablehnung und „nachträgliche“ Geburtenkontrolle auch in vorindustriellen Gesellschaften die Ausnahme. Angesichts der hohen frühkindlichen Sterblichkeit war emotionale Distanz oder Ambivalenz gegenüber Neugeborenen und Kleinkindern jedoch nicht ungewöhnlich. So wurden früh verstorbene – und nicht etwa nur ungetaufte – Kinder oft am Rand oder außerhalb der Friedhöfe beerdigt.16 Auch wurde der Tod eines Kindes nicht im gleichen Maß als widernatürlich empfunden wie heute. Im Gegenteil: Kinder früh zu verlieren, war zwar ein beklagtes, aber dennoch als gottgegeben hingenommenes Schicksal.17 Diese Haltung war so allgemein verbreitet, dass sie Niederschlag in der Alltagssprache fand. So sprach man insbesondere in Süddeutschland davon, dass ein Kind „himmelte“, wenn es im Säuglingsalter verstarb.18 Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert bewerteten Statistiker das Leben eines Neugeborenen mit bescheidenen 100 Mark – also wenig mehr als 500 Euro in Preisen von 2015.19 Sich in den kritischen frühen Jahren emotional nicht zu eng an ein Kind zu binden, half den Eltern offenbar, selbst nach wiederholten Verlusterfahrungen ihre psychische Gesundheit zu bewahren. Dieser individuelle Selbstschutzmechanismus verwandelte sich im Lauf der Zeit in informelle Institutionen, die vorhandene Tendenzen zu schnellen Lebenszyklusstrategien weiter verstärkten. Beispiele für solche „beschleunigenden“ Institutionen sind u. a. die Praxis des Ammenwesens, die verbreitete Kinderarbeit oder die Gewohnheit, kleine Kinder tagsüber unbeaufsichtigt in der Obhut älterer Geschwister zu lassen. Hinzu kam – zumindest in Zeiten existentieller Not – als Ultima Ratio die Bereitschaft, nicht alles zu unternehmen, um das Leben aller Kinder zu retten. Neben entsprechenden Ergebnissen aus der Forschungsliteratur lassen sich für diese Verhaltensweisen direkte Belege aus dem medizinhistorischen Quellenbestand Südwest16 17

18 19

Petra Lindenhofer: „Traufkinder“ – ein besonderer Umgang mit ungetauft verstorbenen Kindern in der Frühen Neuzeit. Unv. Diss. Wien 2012. Siehe hierzu Viviana A. Zelizer: Pricing the Priceless Child. The Changing Social Value of Children. Princeton 1985; Olaf Briese: Angst in Zeiten der Cholera. Seuchen-Cordon. Berlin 2003; Eberhard Wolff: Einschneidende Maßnahmen. Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 10). Stuttgart 1998. Joseph Hazzi: Statistische Aufschlüsse über das Herzogthum Baiern, aus ächten Quellen geschöpft. Ein allgemeiner Beitrag zur Länder- und Menschenkunde. Nürnberg 1802, S. 182. [Vorname unbekannt] Seiffert: Säuglingssterblichkeit, Volkskonstitution und Nationalvermögen, in: Klinisches Jahrbuch 14 (1905), S. 65–94.

Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen

85

deutschlands anführen. So identifizierten sowohl das Württembergische Collegium Archiatrale als auch die Badische Sanitätskommission den Wunsch, „überzählige“ Nachkommen an die Pocken zu verlieren, als wichtigen Grund für Vorbehalte gegen die Schutzimpfung.20 In ähnlichem Sinn wetterte 1823 die Stuttgarter Medizinalsektion gegen Eltern, die mit Blick auf ihre eigenen ökonomischen „Glücksbedürfnisse“ eine hohe Kindersterblichkeit herbeisehnen würden.21 Wenige Jahre zuvor äußerte sich ein Mannheimer Gemeindepfarrer 1814 in der gleichen Sache einfühlsamer, als er schrieb, dass unter den Armen seiner Gemeinde in Zeiten großer materieller Not vor allem „die Häupter zahlreicher Familien“ die Seuche insgeheim begrüßten, erlaubten die Pocken es ihnen doch, ihre Last zu verringern und die Schuld am Tod ihrer Kinder „dem Herrgott zuzuschreiben“.22 Praktiken wie das Ammenwesen oder die flexible Anpassung der Familiengröße durch bewusste oder unbewusste ex-post Geburtenkontrolle erlaubten es den Eltern, die postnatale Amenorrhö zu verkürzen und die Kosten der Kindererziehung zu minimieren. Sie waren daher evolutionsbiologisch gerechtfertigt, solange eine große Nachkommenzahl die fitness der Sippe angesichts unkontrollierbarer Sterblichkeitsrisiken maximierte. Da sie jedoch die Reduktion der Geburtenfrequenz zugunsten intensiverer Investitionen in die „Qualität“ der Kinder verhinderten, wurden sie zusehends disfunktional, sobald die Umweltrisiken zu sinken begannen. Diese Beobachtung ist von zentraler Bedeutung, weil sie neben historischen auch weitreichende politische Schlussfolgerungen nach sich zieht. Insbesondere legt sie nahe, dass Politikmaßnahmen, die auf eine Verminderung des Bevölkerungswachstums bei gleichzeitiger Erhöhung der Bildungsanstrengungen abzielen, nur dann Erfolg haben können, wenn sie vor dem Hintergrund sinkender Sterblichkeit umgesetzt werden – wenn erhöhtes Elterninvestment also auch die fitnessmaximierende Lebenszyklusstrategie darstellt. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass historische wie gegenwärtige Gesellschaften ihre Verhaltensnormen nur dann in der gewünschten Weise anpassen, wenn sie hinreichend über die verbesserten Überlebensraten informiert sind. Inwieweit diese Hypothesen tatsächlich zutreffen, lässt sich aus der Geschichte der Medikalisierung in Deutschland – verstanden als Verbreitung medizinischer Grundkenntnisse und Verhaltensweisen – empirisch überprüfen. Diesen historischen Erfahrungen soll daher nachfolgend das Interesse gelten. 3. FALLBEISPIEL: MEDIKALISIERUNG, VERÄNDERTER SELEKTIONSDRUCK UND LEBENSZYKLUSSTRATEGIEN IM GROSSHERZOGTUM BADEN Ob verbesserte Überlebenschancen und das Wissen um grundlegende medizinische Zusammenhänge den Übergang von schnellen zu langsamen Lebenszyklusstrategien tatsächlich begünstigten, lässt sich aus der Medizingeschichte des 19. Jahrhun20 21 22

Das entsprechende Memorandum gehört zum Bestand Hauptstaatsarchiv Stuttgart E 31–1072. Vgl. Wolff: Einschneidende Maßnahmen (wie Anm. 17), S. 387–389. Das Schreiben gehört zum Bestand Generallandesarchiv Karlsruhe (im Folgenden: GLA Karlsruhe) 236–16024 (Sanitätskommission).

86

Katharina Mühlhoff

derts ableiten. Besondere Bedeutung kommt hierbei dem Kampf gegen übertragbare Infektionskrankheiten, allen voran die Pocken zu. Denn wenn die oben zusammengefassten Vorhersagen der Life History Theorie zutreffen, sollten junge Eltern nur dann ihre Familienplanung nachhaltig verändern, wenn medizinischer Fortschritt die Sterblichkeit drastisch vermindert und wenn den betroffenen Eltern die neuen Möglichkeiten der Medizin genau bekannt sind. Die Pocken erlauben die Überprüfung beider Kriterien. So waren sie seit dem 13. Jahrhundert in Europa endemisch. Große Ausbrüche gehörten bis zum 19. Jahrhundert zu den allgegenwärtigen Lebensrisiken und waren derart häufig, dass im Durchschnitt zwei Drittel eines Jahrgangs erkrankten und rund zehn Prozent der Seuche zum Opfer fielen.23 Da Überlebende nach überstandener Infektion für Jahrzehnte gegen den Erreger immun waren, galten die Pocken als Kinderkrankheit und wurden als entscheidender Faktor für die allgemein hohe Kindersterblichkeit angesehen. Die Situation änderte sich erst, als Edward Jenner 1798 auf die Möglichkeit hinwies, bisher nicht Erkrankte durch Impfung mit dem relativ harmlosen Kuhpocken-Virus vor einer Ansteckung mit den echten Pocken zu schützen. Den enormen ökonomischen und militärischen Nutzen dieser Entdeckung vor Augen, förderten nahezu alle europäischen Regierungen die flächendeckende Einführung der Pockenschutzimpfung. Dabei nahmen die süddeutschen Staaten eine Vorreiterrolle ein, indem sie, anfangend mit Bayern, 1807 die verpflichtende Impfung aller Kinder gesetzlich vorschrieben. Diese Maßnahme stellt für die heutige Wissenschaft und insbesondere für die empirische Überprüfung der Life History Theorie einen seltenen Glücksfall dar. Denn eine Zwangsimpfung ließ sich nur umsetzen, wenn die zuständigen Ärzte über ausreichende Mengen Impfstoff verfügten. Die termingerechte Bereitstellung, Lagerung, Verteilung und Kühlung von hochwertigen Impfstoffen ist bis heute nicht nur für die Gesundheitsbehörden in Entwicklungs- und Schwellenländern eine schwierige Herausforderung.24 Und angesichts der begrenzten technischen Möglichkeiten des 19. Jahrhunderts, drohten Engpässe beim Angebot des Kuhpockenimpfstoffs den Erfolg flächendeckender Impfkampagnen nachhaltig zu gefährden. So waren Impfungen mit getrockneter Kuhpockenlymphe zwar grundsätzlich möglich. In vielen Fällen war das Material jedoch durch die Lagerung degeneriert, sodass die erhoffte Immunreaktion beim Impfling ausblieb. Die größten Aussichten auf Erfolg versprach daher das ‚Arm zu Arm-Impfen‘, bei dem frische Lymphe aus den Impfpusteln eines kürzlich Geimpften entnommen und direkt unter die Haut der neuen Patienten geritzt wurde.25 Unter den Staaten mit gesetzlichem Impfzwang war insbesondere das Großherzogtum Baden bestrebt, das ‚Arm zu Arm-Impfen‘ zum allgemeinen Standard zu 23 24 25

Dieser Befund wird von Zeitgenossen ebenso bestätigt wie von heutigen Historikern: Peter Baldwin: Contagion and the State in Europe, 1830–1930. Cambridge 1999, S. 244. Jon Stuart Abramson: Inside the 2009 Influenza Pandemic. Hackensack 2011. Siehe hierzu Georg Cless: Impfung und Pocken in Württemberg. Aus amtlichen Quellen bearbeitet. Stuttgart 1871; Franz Heim: Historisch-kritische Darstellung der Pockenseuchen, des gesamten Impf- und Revaccinationswesens im Königreiche Württemberg innerhalb der fünf Jahre Juli 1831 bis Juni 1836. Stuttgart 1838.

Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen

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machen. Zu diesem Zweck wurden über das Staatsgebiet verteilt mehrere sogenannte Impfinstitute eingerichtet, deren Aufgabe darin bestand, für ein ununterbrochenes Angebot frisch geimpfter Kinder zu sorgen, die als Spender für Kuhpockenlymphe herangezogen werden konnten. Die in den Impfinstituten beschäftigten Ärzte waren angewiesen, unentgeltlich zu impfen, sofern sich der Impfling oder dessen Eltern verpflichteten, nach erfolgtem Eingriff als Spender zur Verfügung zu stehen. Diese besondere Logistik des Badischen Impfsystems kann heute für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen antizipierten Umweltrisiken und Reproduktionsverhalten herangezogen werden, weil sie in den Orten, die über ein Impfinstitut verfügten, zu einer allgemeinen Verbreitung medizinischer Grundkenntnisse führte. Paradoxerweise war dies gerade deshalb der Fall, weil die breite Öffentlichkeit der Impfung zunächst mit Misstrauen begegnete. In einer Zeit, in der selbst Ärzten die mikrobiologischen Grundlagen der Impfung unbekannt waren, behaupteten traditioneller Volksglauben und die neu aufkommende alternative Medizin eine exponierte Stellung im kollektiven Bewusstsein. Und selbst wenn die Eltern der Impfung gegenüber aufgeschlossen waren, ließen praktische Erwägungen sie oft davor zurückschrecken, ihre Kinder als Spender einzusetzen. Grund hierfür war zum einen die im öffentlichen Diskurs extrem übertriebene, aber dennoch vorhandene Gefahr einer Übertragung von Krankheiten wie Syphilis oder Tuberkulose durch verunreinigte Impfinstrumente. Zum anderen zögerten viele Eltern – zumal in der kalten Jahreszeit –, kleine Kinder auf dem Weg zum Abimpftermin dem Unbill des Wetters auszusetzen. Exemplarisch hierfür beklagte der Leiter des Mannheimer Impfinstituts, dass Kinder häufig nicht zum vorgesehenen Abimpftermin vorgeführt wurden, weil deren „übervorsichtige Mütter“ durch Gerüchte beunruhigt zunächst nicht erschienen. Die Ärzte hätten dann erneut Überzeugungsarbeit leisten oder – schlimmstenfalls – „nachdem sie über Stunden gewartet, eilen müssen, ein anderes [frisch geimpftes] Kind zu beschaffen um das ganze Geschäft von neuem zu beginnen – ein Ärgernis, welches selbst den Sanftmütigsten in Wut zu versetzen vermag.“26 Wollten sie ihrer Pflicht zur Aufrechterhaltung der Impfkette nachkommen, mussten die Beschäftigten eines Impfinstituts daher einen stetigen, vertrauensvollen Kontakt mit den Familien ihres Bezirks sicherstellen. In den Augen der Ärzte mochte dies eine oft lästige Pflicht sein. Für die Neugeborenen der näheren Umgebung konnte es jedoch lebensrettende Konsequenzen haben. Denn das Badische Sanitätsreglement sah zwar vor, dass Ärzte und Hebammen verpflichtet waren, die hygienischen Verhältnisse vor Ort zu überprüfen und junge Eltern zu gesundheitsförderndem Verhalten (etwa regelmäßigem Stillen) anzuhalten. Dass dieser zusätzlichen – und unentgeltlichen – Aufgabe tatsächlich entsprochen wurde, war jedoch umso wahrscheinlicher, wenn der betroffene Arzt Eltern und Kinder ohnehin zum Abimpfen aufsuchte oder einbestellte. Inwieweit der angenommene höhere Medikalisierungsgrad der Bezirke mit einem Impfinstitut Einfluss auf die Geburtenraten und das Elternverhalten nahm, soll im Anschluss empirisch untersucht werden. Datenbasis für die Analyse sind die 26

Schreiben des Direktors des Mannheimer Impfinstituts an die Sanitätskommission vom 1.11.1808 nachgewiesen, GLA Karlsruhe 236–16034.

88

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Medizinaltabellen und die Statistik der Leichenschau, die für die Jahre 1851 bis 1863 auf Amtsbezirksebene im Generallandesarchiv Karlsruhe verfügbar sind.27 Anhand dieser Quellen lassen sich die Geburtenraten und die Säuglingssterblichkeit sowie zentrale sozio-ökonomische Kontrollvariablen ermitteln. Ferner erlauben es die überlieferten Akten festzustellen, in welchen Bezirken und welchen Jahren jeweils ein Impfinstitut aktiv war. Auf Basis dieser Informationen lässt sich das folgende ökonometrische Modell schätzen: Totalferti,t = x1Totalmorti,t + x2VaccInsi,t + x3DOC + x4Povertyi,t + x5City + Time Controls + Regional Controls + «i,t. Die erklärte Variable Totalfert entspricht hierbei der Geburtenrate, die in Bezirk i im Jahr j zu beobachten ist. Die explizit betrachteten Einflussfaktoren beinhalten neben der Säuglingssterblichkeit Totalmort zwei Indikatoren für den Medikalisierungsgrad, DOC und VaccIns. Die erste dieser Variablen wurde anhand der amtlichen Leichenschautabellen konstruiert und entspricht dem Anteil der Totenscheine, die von einem Arzt unterzeichnet wurden. Da diese Aufgabe sowohl von Ärzten als auch lokalen Amtsträgern (etwa dem Bürgermeister oder einem Polizeibeamten) wahrgenommen werden konnte, deuten hohe Werte von DOC auf eine vergleichsweise günstige Ausstattung des Bezirks mit medizinischem Personal hin. Der zweite Medikalisierungsindikator, VaccIns, ist eine binäre Variable, die den Wert 1 annimmt, wenn im betrachteten Jahr im Amtsbezirk i ein Impfinstitut bestand, und QuantilRegression (Modell III)

OLS, Panel (Modell II)

Model

OLS (Model I)

Variable

Koeffizient

t-stat

Koeffizient

t-stat

Koeffizient

t-stat

Totalmort

1.0000306

20.02

1.175.945

24.16

1.089.841

23.37

VaccIns

-0.4718797

-4.96

-0.4563893

-5.37

-0.5315497

-5.98

DOC

-0.1364501

-1.37

-0.1667520

-1.34

-0.241978

-2.54

Poverty

-0.0453486

-7.91

-0.0393697

-7.54

-0.0443673

-8.08

City

-0.0636008

-1.12

-0.1561412

-2.96

-0.0377227

-0.7

Time Controls

Ja

Ja

Ja

Regional Controls

Keine

Ja (Amtsbezirke)

Ja (Amtsbezirke)

Adj-R2

0.51

0.62

Pseudo R2 = 0.39

Anzahl der Beobachtungen

801

801

801

 

Tab. 1: Geschätzter Einfluss der Sterblichkeit und Medikalisierung auf die Fertilität Tab. 1: Geschätzter Einfluss der Sterblichkeit und Medikalisierung auf die Fertilität   

27

GLA Karlsruhe: 236-16019-16045, 234–6041; Staatsarchiv Freiburg: 908/1–135 (Leichenschau) sowie Statistik der Inneren Verwaltung des Großherzogthums Baden, 1851–1893.

Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen

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0 andernfalls. Schließlich erfassen die Größen Poverty und City den Anteil der Ortsarmen an der Bevölkerung sowie den Urbanisierungsgrad des Bezirks. Sollten die Haushalte engmaschigere medizinische Versorgung und eine relativ weitgehende Verbreitung medizinischen Grundwissens als Zeichen gesunkener Umweltrisiken wahrgenommen haben, müsste das Regressionsmodell einen negativen Zusammenhang zwischen den Variablen DOC, VaccIns und Totalfert prognostizieren. Umgekehrt sollte eine hohe Säuglingssterblichkeit Selektionsdruck zugunsten schneller Lebenszyklusstrategien erzeugen und daher mit erhöhter Fruchtbarkeit einhergehen. Die auf Basis der historischen Daten geschätzten Koeffizienten sind nebenstehend in Tabelle 1 aufgeführt. Die Interpretation der statistischen Zusammenhänge deutet darauf hin, dass evolutionäre Anpassungen tatsächlich erheblichen Einfluss auf das Reproduktionsverhalten ausübten. So tragen die Koeffizienten der interessierenden Variablen durchwegs die erwarteten Vorzeichen und sind in den meisten Fällen signifikant von Null verschieden. An diesem positiven Befund ändert sich nichts, wenn das einfache lineare Regressionsmodell zu einem dynamischen Panel mit Kontrollvariablen auf Ämter- und Jahresbasis (siehe Spezifikation II) erweitert wird. Auch ist die Signifikanz der geschätzten Koeffizienten offenbar nicht auf wenige „Ausreißer“-Beobachtungen mit extremen Realisationen der betrachteten Variablen zurückzuführen, da das Ergebnis selbst dann erhalten bleibt, wenn nur die mittleren Quartile in der Regression berücksichtigt werden (Spezifikation III). Das bisher Gesagte liefert Belege für einen inversen Zusammenhang zwischen der Geburtenfrequenz und dem Medikalisierungsgrad der Bevölkerung. So bemerkenswert dieses Ergebnis für sich betrachtet sein mag, lässt es dennoch sowohl aus evolutionsbiologischer als auch ökonomischer Sicht wichtige Fragen offen. Denn langsame Lebenszyklusstrategien zeichnen sich nicht nur durch das passive Unterlassen weiterer Fortpflanzungsversuche aus, sondern auch durch verstärktes aktives Bemühen um die Qualität der einzelnen Nachkommen. Ökonomen würden diesem biologischen Aspekt noch hinzufügen, dass niedrigere Geburtenraten bei gleichzeitiger Verbesserung der Überlebenschancen den Eintritt einer malthusianischen Krise zwar hinauszögern, aber nicht verhindern können. Letzteres ist erst möglich, wenn zu gesunkener Fruchtbarkeit eine erhöhte Investition in die Sach- und Humankapitalausstattung nachfolgender Generationen kommt und eine nachhaltige Beschleunigung des Wachstums möglich wird. Für die angewandte Forschung gilt es daher zu klären, ob Eltern, die um wirksame Mittel gegen die hohe Kindersterblichkeit wussten, ihre Kinder bereits im Säuglingsalter intensiver umsorgten und früh in deren Entwicklung investierten. Hierfür spricht zunächst eine Reihe qualitativer Indikatoren. So war bereits vor den bahnbrechenden medizinischen Fortschritten des 19. Jahrhunderts bekannt, dass Kinder, die von ihren Müttern gestillt wurden, bessere Überlebenschancen hatten als Säuglinge, bei denen dies nicht der Fall war. Dieses Erfahrungswissen entfaltete jedoch keine größere Wirkung, solange Kindersterblichkeit als schicksalhaft angesehen wurde und Eltern Anreize hatten, die Phase postnataler Amenorrhö so kurz wie möglich zu halten. Erst als die ätiologischen Grundlagen der hohen Sterblichkeit allmählich erkannt wurden, rückte auch das Stillen in den Fokus des öffentlichen Bewusstseins. Mütter, die ihre Kinder an Ammen gaben

90

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oder mit der Flasche großzogen, sahen sich plötzlich einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der in früheren Epochen nicht bestanden hatte.28 Die Neubewertung des frühkindlichen Lebens schlug sich jedoch nicht nur in der Stillpropaganda, der Schaffung städtischer Milchabgabestellen und der zunehmenden Ablehnung des Ammenwesens nieder. Zur gleichen Zeit gerieten auch ehemals verbreitete, für die Kinder jedoch lebensgefährliche Praktiken wie das Ruhigstellen mit Branntwein oder durch exzessives Schütteln in das Kreuzfeuer der Kritik. Im Gegenzug gewannen Strömungen wie die Erziehungsmodelle von Fröbel, Pestalozzi und Montessori an Einfluss, die Kinder von Geburt an als Individuen mit speziellen Bedürfnissen und besonderem Förderbedarf betrachteten.29 Obwohl die genannten Entwicklungen auf eine Modifikation der repräsentativen Lebenszyklusstrategie hinweisen, erlauben sie noch keine Rückschlüsse auf die relative Bedeutung des Wirkungszusammenhangs zwischen der Medikalisierung und der Wertschätzung, die Kleinkindern entgegengebracht wurde. Genaueren Aufschluss liefert auch hier wieder die Analyse der badischen Medizinaltabellen.30 Neben den bereits untersuchten Daten zur Vitalstatistik enthalten diese nämlich auch Informationen über die sozialen Verhältnisse der Geborenen und Verstorbenen. So wird insbesondere zwischen der Mortalität ehelicher und unehelicher Kinder unterschieden. Diese Tatsache lässt sich analytisch nutzen, weil uneheliche Kinder aufgrund der herrschenden Wertvorstellungen einem ungleich höheren Risiko ausgesetzt waren, Opfer von Vernachlässigung oder Misshandlung zu werden, als ihre ehelich geborenen Altersgenossen. Die bedrückende Realität dieses Zustandes wurde gleichermaßen von Ärzten, Geistlichen und Sozialreformern beobachtet. Der folgende Ausschnitt aus einem Artikel der angesehenen medizinischen Staatszeitung kann daher als repräsentativ für die Vielzahl vergleichbarer Quellen gelten: „es bleibt ihr [der Mutter eines unehelichen Kindes] also nichts übrig, als ‚ihr Kind einer sogenannten Halte oder Peppelfrau zu überliefern.‘ Das sind arme Weiber, welche das traurige Geschäft übernehmen, ein meist schon vor oder in der Geburt, geschweige denn nachher vernachlässigtes Kind gegen eine kleine monatliche Entschädigung einem frühen Tode zuzuführen. Niemand als die Aerzte und die Freunde der Armen kennen wohl die Käfige und Winkel, in welche diese verkümmerten Geschöpfe für ihre kurze Lebensdauer gesteckt werden; den Schmutz, in welchem sie hausen; die Nahrung, welche ihnen gereicht wird, und die Behandlung, welche sie von den rohen Händen der Haltefrau erdulden, welche wohl weiß, daß sie in der Kundschaft nichts verliert, wenn diese auch erfährt, daß viele Kinder bei ihr sterben. Und dies ist eine Hauptursache der großen Kinder-Mortalität.“31 28 Hrdy: Fitness Tradeoffs (wie Anm. 5). 29 Linda A. Pollock: Forgotten Children: Parent-Child Relations from 1500 to 1900. Cambridge / New York 1983, S. 2–18; Petra Larass: Kindsein kein Kinderspiel. Das Jahrhundert des Kindes (1900–1999) (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 7). Halle 2000, S. 176; Karl Arnd: Die materiellen Grundlagen und sittlichen Forderungen der europäischen Cultur. Stuttgart/Tübingen 1835, S. 150. 30 Quelle der Daten sind wie bei der vorangegangenen ökonometrischen Schätzung der Fruchtbarkeit die folgenden Bestände: GLA Karlsruhe: 236-16019-16045, 234–6041, Staatsarchiv Freiburg, 908/1–135 (Leichenschau), sowie Statistik der Inneren Verwaltung des Großherzogthums Baden, 1851–1893. 31 Johann L. Casper: Beiträge zur medicinischen Statistik und Staatsarzneikunde, Bd. 1. Berlin 1825, S. 175 f.

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Dem Tod durch Langsamkeit davonlaufen

Wenn der Tod durch Vernachlässigung ein verbreitetes Phänomen war, sollte eine vergleichsweise geringe Übersterblichkeit unehelicher Säuglinge darauf hindeuten, dass Neugeborenen – mochten sie sozial erwünscht sein oder nicht – ein gewisses Mindestmaß an Wertschätzung entgegengebracht wurde, bzw. dass eine systematische Verletzung der elterlichen Fürsorgepflichten als inakzeptabel galt. Diesem Gedanken folgend soll im Anschluss die Wechselwirkung zwischen fortgeschrittener Medikalisierung und dem Wert des einzelnen Kindes – mithin die Neigung zu langsamen Lebenszyklusstrategien – quantitativ abgeschätzt werden. Das entsprechende ökonometrische Modell lässt sich folgendermaßen darstellen: Valuei,t = x1Totalmorti,t + x2DOCi,t + x3Povertyi,t + x4VaccInsi,t +x5City + Time Controls + Regional Controls + «i,t. Die abhängige Variable Value entspricht hierbei dem prozentualen Verhältnis der Übersterblichkeit unehelicher Kinder zur gesamten Kindersterblichkeit. Formal entspricht dies dem folgenden Ausdruck: Value = Legmort – Illegmort Totalmort Ist die Übersterblichkeit der Unehelichen gering, so nimmt Value große Werte an, ist sie hoch, trägt die Variable ein negatives Vorzeichen. Die erwarteten partiellen Effekte der Erklärungsvariablen auf die durch Value gemessene Neigung zu langsamen Lebenszyklusstrategien sind in Tabelle 2 wiedergegeben:

 

Model

OLS

OLS, Panel

Variable

Koeffizient

t-stat

Koeffizient

t-stat

Totalmort

-0.0019081

-3.07

-0.0018655

-2.71

DOC

0.0000264

2.08

0.0000242

1.89

Poverty

-0.0001432

-1.96

-0.0001312

-1.78

VaccIns

0.0011753

0.97

0.0013295

1.09

City

-0.0000692

-0.1

0.0001405

0.18

Time Controls

Ja

Ja

Regional Controls

Nein

Ja (Amtsbezirke)

Adj-R2

0.033

0.044

Anzahl der Beobachtungen

801

801

Tab. 2: Zusammenhang zwischen der „Wertschätzung“ des kindlichen Lebens und der vorherrTab. 2: Zusammenhang zwischen der „Wertschätzung“ des kindlichen Lebens und der  schenden Sterblichkeit sowie der Verbreitung medizinischen Grundwissens vorherrschenden Sterblichkeit sowie der Verbreitung medizinischen Grundwissens 

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Katharina Mühlhoff

Betrachtet man die geschätzten Koeffizienten, so wird deutlich, dass fortgeschrittene Medikalisierung nicht nur mit verminderter Fertilität, sondern auch mit relativ unverzerrter Säuglingssterblichkeit einherging. Denn Bezirke mit hohen Geburtenraten zeichneten sich durch besonders schlechte Überlebenschancen unehelicher Kinder aus, während die Medikalisierungsindikatoren DOC und VaccIns die Werte von Value günstig beeinflussen. Sofern die verbesserten Überlebensraten unehelicher Kinder als Hinweis auf die gesellschaftliche Tendenz zu langsamen Lebenszyklusstrategien angesehen werden, bestätigen die historischen Erfahrungen Badens daher auch im Hinblick auf die Wertschätzung des kindlichen Lebens die theoretischen Postulate der Life History Theorie. 4. FAZIT Unsere Intelligenz, unser Erfindungsreichtum und die damit verbundenen zivilisatorischen Errungenschaften sollten niemanden täuschen: Menschen sind vor allem eines – außergewöhnlich intelligente Primaten. Sie unterliegen mithin denselben ökologischen Prozessen und Gesetzmäßigkeiten wie andere Tierarten auch. Die Evolutionsbiologie weist darauf hin, dass erfolgreiche Arten sich im Lauf ihrer Entwicklung stets als findige Ökonomen erwiesen, die knappe Ressourcen optimal für ihr eigenes Leben und das Überleben ihrer Nachkommen zu nutzen verstanden. Für Menschen trifft das Gleiche zu – wobei die Bandbreite der Varianten in Gestalt und Verhalten angesichts der Vielzahl und Verschiedenheit menschlicher Siedlungsräume besonders groß ist. Die vorangegangene Analyse ist der Versuch, die Ergebnisse der Evolutionstheorie für wirtschaftshistorische Fragestellungen nutzbar zu machen. Gegenstand der Betrachtung waren die Ursachen und der Verlauf des Demografischen Übergangs in Deutschland im 19. Jahrhundert. Dieses spezielle Beispiel wurde mit Bedacht gewählt, da es zur Einbettung ökonomischer Phänomene in den methodischen Bezugsrahmen der Lebenswissenschaften geradezu prädestiniert ist. Denn kaum eine Erscheinung nimmt sowohl in der Evolutionstheorie als auch in der langfristigen Entwicklungsökonomik eine ähnlich zentrale Rolle ein wie das Reproduktionsverhalten. Für Wirtschaftshistoriker erweisen sich dabei insbesondere zwei Postulate der sogenannten Life History Theorie als wichtige Anknüpfungspunkte. Das erste besagt, dass Organismen bei der Wahl ihrer Lebenszyklusstrategie ökonomischen Zwängen unterliegen. Das zweite fordert darüber hinaus, dass die Lösungen dieses Optimierungsproblems vom Selektionsdruck abhängen, den Umweltrisiken auf die betroffenen Lebewesen ausüben. Hohe und unkontrollierbare Risiken begünstigen demnach „schnelle“ Lebenszyklusstrategien, während stabile Verhältnisse „langsame“ Strategien hervorbringen. Bezogen auf menschliche Gesellschaften legt diese Beobachtung den Schluss nahe, dass Gemeinschaften, die der Bedrohung von periodischen Hungersnöten, Seuchen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen und gewaltsamen Konflikten ausgesetzt sind, eher dazu neigen, diese Lebensrisiken durch eine hohe Kinderzahl zu kompensieren, als solche, die unter gesicherten Verhältnissen leben. Der entwicklungsökonomisch bedeutsame Schritt zu kleinen

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Familien und intensiver Investition in die Humankapitalausstattung der wenigen Nachkommen würde dann von zwei Bedingungen abhängen: erstens von einem bereits stattgefundenen oder unmittelbar zu erwartenden Rückgang der Sterblichkeit und zweitens von der Verbreitung medizinischer Grundkenntnisse in der breiten Öffentlichkeit. Für die Gültigkeit dieser Hypothesen konnte die vorliegende Arbeit sowohl qualitative als auch quantitative Belege identifizieren. Zum einen wiesen historische Entwicklungen wie die Entstehung und der Niedergang von Verhaltensnormen, die emotionale Distanz zwischen Eltern und Kindern begünstigten oder eine Erhöhung der Geburtenfrequenz ermöglichten, eine deutliche Korrelation mit den Lebens- und Überlebensbedingungen der betroffenen Gesellschaften auf. Aus diesen allgemeinen Indizien ließ sich unter der höheren Auflösung einer historischen Einzelfallbetrachtung auch quantitative Evidenz ableiten: So zeigte die Betrachtung der Pockenschutzpolitik im Großherzogtum Baden, dass Bezirke, denen als Sitz eines Impfinstituts eine Sonderstellung im öffentlichen Gesundheitswesen zukam, nicht nur über eine in medizinischen Dingen besser informierte Öffentlichkeit verfügten, sondern die betroffenen Gemeinden verzeichneten auch statistisch signifikant niedrigere Geburtenraten und wiesen Anzeichen für überdurchschnittlich frühe und intensive Bemühungen der Eltern um das Gedeihen ihrer Kinder auf. Der von der Evolutionstheorie postulierte negative Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Kontrolle über die fitness der Nachkommen – und damit über die Grenzproduktivität elterlicher Fürsorge – und der Fertilität wird damit ebenso durch historische Erfahrung gestützt wie das positive Verhältnis von erhöhter Kontrollierbarkeit und Humankapitalinvestitionen der Eltern in ihre Kinder. Die vorliegende Skizze legt damit – mit der nötigen Vorsicht, die für die Verallgemeinerung geschichtlicher Präzedenzfälle gilt – nahe, dass menschliche Entscheidungen von physiologischen und psychosozialen Prozessen abhängen, die nur bedingt dem Bild des rational planenden und autonom handelnden Akteurs der klassischen ökonomischen Modellwelt entsprechen. Der Blick auf die Lebens- und Verhaltenswissenschaften kann daher insbesondere für die Wirtschaftsgeschichte wertvolle Impulse liefern. Denn er erweitert nicht nur die Perspektive bei der Analyse historischer Zusammenhänge. Sofern sich die Wirtschaftsgeschichte als Zwilling der langfristigen Entwicklungsökonomik versteht, erlaubt er es auch, Rückschlüsse auf gegenwärtige und zukünftige Entwicklungsstrategien zu ziehen. Vordringlich ist hierbei die Erkenntnis, dass Maßnahmen, deren Ergebnis von Verhaltensänderungen abhängt, nur dann zum gewünschten Erfolg führen können, wenn sie der Ratio unseres inneren homo oeconomicus kein größeres Gewicht beimessen als dem evolutionären Erbe des Primaten.

DER WELTWEITE ÜBERGANG ZUM KLASSISCHEN GOLDSTANDARD IN DEN 1870ER JAHREN Reiner Zufall oder tiefere Kräfte? Matthias Morys, York 1. EINLEITUNG Die Entstehung des klassischen Goldstandards in den 1870er Jahren ist eines der zentralen Ereignisse der Währungsgeschichte. Erstmals verbanden alle maßgeblichen Industriestaaten ihre Währungen mit dem Gold alleine und bereiteten damit dem dreigleisigen Weltwährungssystem der 1850er und 1860er Jahre ein Ende, in dem parallel Gold, Silber und eine Kombination der beiden Edelmetalle – zumeist als Bimetallismus oder Doppelstandard bezeichnet – als Währungsanker fungiert hatten. Die weniger entwickelten, vorwiegend landwirtschaftlich geprägten und zumeist außerhalb Europas liegenden Volkswirtschaften folgten schrittweise nach, und spätestens mit dem Übergang Japans im Jahre 1897 hatte sich der Goldstandard als ein globales System fester Wechselkurse etabliert. Den Titel des „klassischen“ Goldstandards erhielt die Periode 1873–1914 in den 1920er Jahren, als man sich – mit leicht nostalgischer Verklärung – bemühte, nach den wirtschaftlichen Erschütterungen und Inflationserfahrungen des Ersten Weltkrieges zu stabilen Wechselkursen auf der Grundlage des Goldes zurückzukehren.1 Heutzutage steht der klassische Goldstandard als Monument des bisher längsten Systems fester Wechselkurse, aus dem sich Lehren für das erfolgreiche Funktionieren von Währungsunionen wie dem Euro ableiten lassen.2 Der Übergang zum klassischen Goldstandard wird gewöhnlich auf das Jahr 1873 datiert.3 Im Juli erließ das junge Deutsche Reich sein Münzgesetz, und zwei Monate später beschränkte Frankreich die Ausprägung von Silbermünzen durch Private bei der französischen Münze. Die französische Maßnahme – getragen von dem Bemühen, eine Silberinflation angesichts des schleichenden Silberpreisverfalls 1

2 3

Michael D. Bordo: The Gold Standard. The Traditional Approach, in: Ders. / Anna J. Schwartz: A Retrospective on the Classical Gold Standard, 1821–1931. Chicago 1984, S. 23–113; Barry Eichengreen: Golden Fetters. The Gold Standard and the Great Depression. 1919–1939 (NBER Series on Long-term Factors in Economic Development). Oxford 1992, 2. Kapitel. Matthias Morys: Gold Standard Lessons for the Eurozone, in: Journal of Common Market Studies 52 (2014), S. 728–741. Barry Eichengreen: Globalizing Capital. A History of the International Monetary System. 2. Aufl., Princeton 2008, S. 15–19; Marc Flandreau: The French Crime of 1873. An Essay on the Emergence of the International Gold Standard, 1870–1880, in: Journal of Economic History 56 (1996), S. 862–897.

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zu vermeiden – beseitigte mit der freien Silberprägung einen der zentralen Pfeiler des Bimetallismus und leitete den Übergang zum sogenannten hinkenden Goldstandard ein. Deutschland und Frankreich gehörten fortan jenem metallischen Standard an, auf dem England sich seit 1717 befand und den es 1821 formalisiert hatte. Mit den drei großen europäischen Volkswirtschaften auf ein- und demselben Standard waren die Würfel zugunsten des gelben Metalls gefallen. Doch hier schon hört die Gewissheit des Historikers auf, denn viel weniger klar sind die genauen Gründe hinter der deutschen und französischen Entscheidung. Es können drei Fragen unterschieden werden. Erstens, hing die Entscheidung Frankreichs von dem nur kurz zuvor erlassenen deutschen Münzgesetz ab? Zweitens, handelten beide Staaten unter „äußerem“ Zwang oder folgte ihr Entschluss einem länger gehegten Wunsch nach Übergang zum Goldstandard? Die zweite Frage mag im ersten Moment für Frankreich näher liegen; schließlich würde Deutschlands Übergang zum Goldstandard eine erhebliche Menge deutsches Silbergeld freisetzen, das der Stabilität des französischen Bimetallismus gefährlich werden könnte. Doch auch im Falle Deutschlands ist die Frage keineswegs abwegig; es könnte sich dort die Auffassung durchgesetzt haben, dass auf Grund der massiven Änderungen in den globalen Münzbeständen – namentlich dem Eindringen des kalifornischen und australischen Goldes nach Europa seit 1848 – eigentlich nur noch ein Goldstandard praktikabel sei. Last but not least, wie kann erklärt werden, dass andere Staaten bereits vor Deutschland und Frankreich zum Goldstandard übergingen? Sahen Dänemark, Schweden und Norwegen die deutschen und französischen Maßnahmen voraus und machten sie sich zu Eigen oder spiegeln alle Entscheidungen zugunsten des Goldstandards längerfristige Entwicklungen wider, welche die Welt gleichsam mit unsichtbarer Hand zum Goldmonometallismus hinführten? Die ersten beiden Fragen haben große Beachtung erfahren und sind kontrovers diskutiert worden. Zwei Extrempositionen lassen sich unterscheiden, zwischen denen sich sodann eine Vielzahl von vermittelnden Ansichten findet. Auf der einen Seite steht eine von Charles Kindleberger vorgetragene „deterministische“ Position, wonach der Übergang zum Goldstandard die natürliche Konsequenz der sich zwischen Gold und Silber ungleich entwickelnden Edelmetallvorkommnisse sei.4 Demgegenüber vertritt Marc Flandreau eine „chaotische“ Argumentationslinie, der zufolge die Entwicklungen auf dem Silbermarkt das dreigleisige internationale Währungssystem nicht gefährdet hätten und der Übergang zum Goldstandard nur einem „accident of history“5 geschuldet sei, namentlich dem Versuch der französischen Regierung, durch eine Beschränkung der freien Ausprägung des Silbers und dem sich daraus ergebenden Preisverfall des weißen Metalls die Silberverkäufe Deutschlands nach dessen Übergang zum Goldstandard zu erschweren.6

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Charles P. Kindleberger: A Financial History of Western Europe. 2. Aufl., New York u. a. 1993, S. 67 f. Flandreau: French Crime (wie Anm. 3), S. 863. Die ausführliche Argumentation findet sich in Marc Flandreau: L’or du monde. La France et la stabilité du système monétaire international 1848–1873 (Études d’économie politique). Paris 1995.

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Diese beiden Positionen fügen sich gut in das Schwerpunktthema „Ordnung und Chaos – Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ ein. Kindlebergers Position repräsentiert „Ordnung“ und „Trend“: Der Übergang zum Goldstandard sei von längerfristigen Entwicklungen – der Produktion und der Verwendung der Edelmetalle – bestimmt. Flandreaus Ansicht hingegen steht für „Chaos“ und „Brüche“: Eine Laune der Politik – das französische Bemühen, die deutschen Silberverkäufe zu erschweren – habe genügt, ein wohlfunktionierendes dreigleisiges Weltwährungssystem zu destabilisieren und zu einem neuen Gleichgewicht (globaler Monometallismus) zu führen. Ein genaues Verständnis des deutschen Münzgesetzes und der französischen Sistierung der freien Silberprägung ist wichtig und wird zentraler Bestandteil der nachfolgenden Abhandlung sein. Doch lässt sich die richtige Antwort nur finden, wenn auch die oben genannte dritte Frage beantwortet wird: Wie lässt sich erklären, dass sich seit Beginn der 1860er Jahre immer mehr Staaten dem Gold zuwandten und einige davon sogar bereits vor Deutschland und Frankreich eine entsprechende Gesetzgebung erließen? Diese Frage ist bis jetzt unzureichend gestellt und niemals auf gesamteuropäischer Ebene abgehandelt worden.7 Eine Antwort auf sie zu finden, ist das zentrale Anliegen dieses Beitrages. Dabei wird sich zeigen, dass Deutschland und Frankreich nur stellvertretend für die Bemühungen der übrigen Silber- bzw. Doppelstandardländer stehen, auf den Goldstandard überzuwechseln. Die Ähnlichkeit der Beweggründe der einzelnen Staaten legt dabei nahe, dass der Übergang zum Goldstandard eher strukturellen, alle Länder gleichermaßen betreffenden Faktoren geschuldet ist, denn der Eigentümlichkeit des deutsch-französischen Konfliktes, die Flandreau bemüht. Um welche Faktoren handelte es sich dabei? Ähnlich wie Kindleberger wird nachfolgend den Entwicklungen auf den Edelmetallmärkten eine zentrale Rolle eingeräumt, allerdings wird der Schwerpunkt dabei auf der seit 1848 deutlich ansteigenden weltweiten Goldproduktion in Folge der kalifornischen und australischen Goldfunde liegen. Der französische Bimetallismus diente als Einfallstor des Goldes aus der Neuen Welt in die monetäre Zirkulation Europas: als reguläres Zahlungsmittel im Falle der Doppelstandardländer, als allerorts anzutreffende Handelsmünze im Falle der Silberstandardländer. Die bimetallischen Länder waren darüber hinaus mit dem Verschwinden des Silbergeldes konfrontiert, wie man es nach dem Greshamschen Gesetz („bad money drives out good“) erwarten sollte. Schrittweise bahnte sich die Einsicht an, dass ein Übergang zum Goldstandard wohl die einfachste Lösung dieser Probleme sei und darin für Doppel- und Silberstandardländer gleichermaßen eine zukunftsweisende Entscheidung liege. Im zweiten Abschnitt wird zunächst dargelegt werden, dass das Vorbild Englands allein nicht genügte, um die anderen europäischen Länder auf den Goldstan7

Für die bimetallischen Länder sind von Luca Einaudi zwei Studien vorgelegt worden, die der hier vertretenen Position im Wesentlichen entsprechen. Luca Einaudi: From the Franc to the ‚Europe‘. The Attempted Transformation of the Latin Monetary Union into a European Monetary Union, 1865–1873, in: Economic History Review 53 (2000), S. 284–308, sowie Ders.: Money and Politics. European Monetary Unification and the International Gold Standard (1865– 1873). Oxford u. a. 2001.

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dard zu führen; von dort ausgehende Netzwerkexternalitäten waren dafür schlichtweg zu gering. Diese Ausführungen werden vorangestellt, um einer weitverbreiteten Ansicht entgegenzutreten, der zufolge Englands Beispiel für sich die Anziehungskraft des Goldstandards zu begründen vermochte. Der Weg ist sodann frei, um die Umformung der Währungssysteme der bimetallischen Länder (3. Abschnitt) und der Silberländer (4. Abschnitt) unter dem Einfluss der großen Goldfunde in Kalifornien und Australien zu schildern. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Zeitraum nach 1865, als beide Währungsblöcke aus ähnlichen Gründen zu dem Schluss gelangten, zum Goldstandard überzuwechseln (5. Abschnitt). Diese Ergebnisse werden im sechsten Abschnitt zu einer Neuinterpretation der deutschen und französischen Ereignisse des Jahres 1873 genutzt. Wichtig ist hierbei zu untersuchen, ob und inwieweit der von Kindleberger und Flandreau so stark diskutierten Silberschwemme seit den späten 1860er Jahren noch eine eigenständige Rolle neben den Goldfunden seit 1848 für den Übergang zum Goldstandard zukommt. Der siebente Abschnitt fasst zusammen und bettet die Ausführungen dieses Aufsatzes in das Schwerpunktthema „Ordnung und Chaos – Trends und Brüche in der Wirtschaftsund Sozialgeschichte“ ein. 2. WIE BEDEUTSAM WAR DER FRÜHE ENGLISCHE GOLDSTANDARD FÜR DIE ENTSTEHUNG EINES UNIVERSALEN GOLDSTANDARDS? England folgte seit 1717 dem Goldstandard und formalisierte diese Beziehung, als es nach der Suspensionsphase von 1797 bis 1821 die Konvertibilität von Banknoten in Gold wieder herstellte und Silbermünzen fortan nur noch unterwertig ausprägte. Dieser sehr frühe Übergang, verbunden mit der wirtschaftlichen und industriellen Stärke des Landes, hat mehrere Forscher argumentieren lassen, dass England eine führende, unter Umständen sogar die maßgebliche Rolle bei dem Übergang der anderen Staaten zum klassischen Goldstandard zukomme.8 Dabei kann wahlweise ökonomisch oder politisch argumentiert werden. Ökonomisch kann vorgebracht werden, dass das Gewicht Englands im Handel und bei Kapitalexporten so bedeutsam gewesen sei, dass die sich daraus ergebenden Netzwerkexternalitäten für andere Staaten die Annahme des Goldstandards als wirtschaftlich sinnvoll nahelegten. Möglich wäre auch, dass andere Staaten politisch in die Sogwirkung des finanziell und wirtschaftlich erfolgreichsten Landes gerieten und von England praktizierte Institutionen wie den Goldstandard für sich übernehmen wollten.

8

Alan S. Milward: The Origins of the Gold Standard, in: Jorge Braga de Macedo / Barry Eichengreen / Jaime Reis (Hg.): Currency Convertibility. The Gold Standard and Beyond (Routledge Explorations in Economic History 3). London / New York 1996, S. 87–101; Giulio M. Gallarotti: The Scramble for Gold. Monetary Regime Transformation in the 1870s, in: Michael M. Bordo / Forrest Capie (Hg.): Monetary Regimes in Transition (Studies in Monetary and Financial History). Cambridge 1993, S. 85–104.

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Bordo/Rockoff9 und Meissner10 haben auf der Grundlage von Netzwerkexternalitäten die Bedeutung von Kapitalimporten bzw. von Handelsverbesserung durch Annahme des Goldstandards betont. Eine genaue Lektüre ihrer Beiträge zeigt aber, dass sie solche Externalitäten erst für nach 1870 gegeben sehen und damit für einen Zeitraum, in dem mit Deutschland, Frankreich und Belgien alle namhaften Industrieländer bereits auf dem Goldstandard waren.11 Tabelle 1 zeigt die Handelsbeziehungen im Jahr 1867, als sich auf der Internationalen Münzkonferenz von Paris eine überwältigende Mehrheit für Gold aussprach (vgl. 5. Abschnitt). So lagen etwa englische Ausfuhren nach Frankreich, Belgien und dem Zollverein bei lediglich 10, 10,4 bzw. 12,5 Prozent der Gesamtimporte dieser drei Länder. Aus französischer Sicht waren Importe aus Italien, Belgien und der Schweiz zusammengenommen (d. h. den anderen bimetallischen Ländern, die seit 1865 die Lateinische Münzunion bildeten) beinahe doppelt so umfangreich (18,3 %), und der Handel mit dem Zollverein war ungefähr so bedeutsam wie der mit England (8,6 %). Für Belgien zeigt sich, dass der Warenaustausch sowohl mit Frankreich als auch mit dem Zollverein wichtiger war als der mit England. Einzig der Zollverein handelte mehr mit England als mit Frankreich, doch auch hier war der Güteraustausch mit den vier Staaten der Lateinischen Münzunion zusammengenommen umfangreicher als der mit England. Die Botschaft von Tabelle 1 ist klar und deutlich: Handelsbeziehungen alleine begründeten nicht die Anziehungskraft des Goldstandards in einem Zeitraum, in dem nur England diesem System angehörte.

Großbritannien Frankreich Italien Belgien Schweiz Zollverein Österreich-U. Niederlande Skandinavien Russland

Frankreich 10,0% 11,1% 2,7% 4,5% 8,6% 1,2% 3,2% 5,3% 9,4%

Belgien 10,4% 29,6% 0,2% 1,0% 13,9% 0,3% 2,2% 2,9% 6,3%

Zollverein 12,5% 7,0% 0,1% 4,2% 7,0% 29,9% 6,0% 0,4% 17,4%

Österreich-U. 26,3% 15,6% 9,3% 1,5% 2,5% 28,7% 0,5% 0,1% 2,6%

Niederlande 43,6% 7,8% 0,1% 6,2% 0,0% 23,1% 0,3% 3,3% 8,6%

Quelle: Markus Lampe: Bilateral Trade Flows in Europe, 1857‒1875: A New Dataset, in: Research in Economic Tab. 1: Importanteile europäischer Länder im Jahr 1867 History 26 (2008), S. 81‒155.

 

Quelle: Markus Lampe: Bilateral Trade Flows in Europe, 1857–1875: A New Dataset, in: Research in Economic History 26 (2008), S. 81–155. Tab. 1:  Importanteile europäischer Länder im Jahr 1867   

Gleiches war wohl der Fall für Kapitalimporte, wenn auch die diesbezügliche Datenlage weniger verlässlich ist. Relativ gut untersucht sind Kapitalexporte nach Österreich, eines der europäischen Hauptbestimmungsländer ausländischen Geldes in den 9

Michael M. Bordo / Hugh Rockoff: The Gold Standard as a „Good Housekeeping Seal of Approval“, in: Journal of Economic History 56 (1996), S. 389–428. 10 Christopher M. Meissner: A New World Order. Explaining the International Diffusion of the Gold Standard, 1870–1913, in: Journal of International Economics 66 (2005), S. 385–406. 11 Bordo/Rockoff: The Gold Standard (wie Anm. 9), S. 389, 396. Bei Meissner ergibt sich die zeitliche Beschränkung bereits aus dem Titel.

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1850er und 1860er Jahren.12 Der Großteil des in Österreich investierten Barvermögens kam aus Frankreich und war in französischer Währung gezeichnet; überhaupt erst 1876 sah sich das Land gezwungen, eine eigene Goldanleihe, die sogenannte vierprozentige österreichische Goldrente, herauszugeben. Ebenso wie im Fall des Handels kam es also im Kapitalverkehr erst dann zu starken Netzwerkexternalitäten, als mit Frankreich und Deutschland auch die beiden anderen großen Kapitalexporteure dem Goldstandard angehörten. Doch wo Netzwerkexternalitäten allein nicht genügten, könnte die politische Sogwirkung des englischen Beispiels nachgeholfen haben. So argumentiert etwa Gallarotti: „nations came to see monetary standards as economic and political status symbols. Gold monometallism came to confer high status, while silver and bimetallism came to confer low status […]. The status was compounded by the fact that Britain had been practicing a gold standard […]. The example of Britain was especially compelling because its elites were drawing associations between Britain’s monetary practices and its industrial successes.“13

Eine Analyse der einzelnen Vertreter dieser Schule zeigt, dass im Wesentlichen der Prozess der deutschen Währungsreform zwischen Reichsgründung (Januar 1871) und Münzgesetz (Juli 1873) als Beleg angeführt wird.14 Milward etwa argumentiert, dass sich Deutschland nach dem Sieg über Frankreich an England orientiert habe, das als wirtschaftlich weiter fortgeschritten und politisch freiheitlicher galt und mithin als Vorbild gedient habe. Gewiss lässt sich einiges Quellenmaterial zum Beleg dieser These aufbieten, doch greift ein solcher Ansatz auf einen zu kurzen Zeitraum von nur zweieinhalb Jahren zurück. Während der entscheidenden 1860er Jahre folgten die deutschen Staaten vielmehr der allgemeinen europäischen Entwicklung, die in den nächsten drei Abschnitten dargelegt wird: Annahme des Goldstandards durch Übernahme der französischen Goldmünzen, aber zugleich bewusste Zurückweisung der bimetallischen Komponente des französischen Systems. Der Orientierungspunkt für die deutschen Staaten war klar Frankreich und nicht England, wie in den Quellen immer wieder zum Ausdruck kommt.15 Der nächste Abschnitt ist der Frage gewidmet, wie Frankreich zum Dreh- und Angelpunkt der Währungsfrage in den 1850er und 1860er Jahren werden konnte.

12 Matthias Morys: The Classical Gold Standard in the European Periphery. A Case Study of Austria-Hungary and Italy, 1870–1913. Diss. London 2006, S. 167–188. 13 Giulio M. Gallarotti: The Anatomy of an International Regime. The Classical Gold Standard, 1880–1914. New York u. a. 1995, S. 9. 14 Milward: Origins of the Gold Standard (wie Anm. 8); Jacques E. Mertens: La naissance et le développement de l’etalon-or 1696–1922 (Nouvelle bibliothèque économique). Paris 1944, S. 118–123. 15 So äußert etwa ein Teilnehmer auf dem Handelstag von 1868: „Jedenfalls aber scheint mir dies Moment des Anschlusses an Amerika und England […] viel weniger in die Waagschale fallend als der Anschluss an unsere Nachbarländer, mit denen wir in täglichem Verkehr stehen.“ Verhandlungen des vierten deutschen Handelstages zu Berlin. Berlin 1868, S. 37 f.

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3. VOM SILBER ZUM GOLD: WÄHRUNGSUMSCHICHTUNG IN FRANKREICH UND DEN BIMETALLISCHEN LÄNDERN VON DEN ÜBERSEEISCHEN GOLDFUNDEN SEIT 1848 BIS ZUR GRÜNDUNG DER LATEINISCHEN MÜNZUNION IM JAHR 1865 Am Anfang waren Kalifornien und Australien. Diese Abwandlung von Thomas Nipperdeys berühmtem ersten Satz seiner magistralen deutschen Geschichte (der selbst wiederum dem noch bekannteren Satz des Johannesevangeliums nachempfunden war) möge die grundlegende Bedeutung unterstreichen, die den überseeischen Goldfunden für die Umgestaltung des internationalen Währungssystems in dem Vierteljahrhundert zwischen 1848 und 1873 zukommt. Die ältere Literatur befasste sich durchaus mit diesem Vorgang,16 doch hat das dadurch geschaffene Bewusstsein stark nachgelassen, als sich die jüngere Forschung mit den Konsequenzen der vermehrten Silberförderung seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre zu beschäftigen begann. Wie sah das – europäisch geprägte – Weltwährungssystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus und welche Veränderungen erfuhr es durch die überseeischen Goldfunde? Gold und Silber hatten seit alters her als Münzen Verwendung gefunden, doch überwog Silber in seiner praktischen Bedeutung bei weitem. Es war das Zahlungsmittel des Alltags, wohingegen Gold für besondere Erfordernisse reserviert war, darunter der Begleichung von Schulden über größere Entfernungen hinweg. Shakespeare verlieh der Rangordnung der beiden Edelmetalle in seinem „Kaufmann von Venedig“ (III, 2) Ausdruck, wenn er Gold als „hard food for Midas“ und Silber als „pale and common drudge between man and man“ bezeichnete. Die Knappheit des Goldes – und mithin sein hoher Preis – erklärten sich aus den geringen natürlichen Vorkommen in Europa; nicht einmal die frühneuzeitliche überseeische Expansion änderte daran etwas grundlegend, da den hohen Goldzuflüssen nach Europa bei weitem höhere Silberzugänge gegenüberstanden.17 Für die Münzsysteme bedeutete dies die Anbindung an das Silber. Goldmünzen wurden zwar geprägt, doch fungierten sie als Handelsmünzen, d. h. als Münzen, die zu einem variablen, sich im Wesentlichen nach dem jeweiligen Gold-Silber-Preisverhältnis richtenden Wert von der heimischen Münze verkauft wurden und hauptsächlich für den internationalen Zahlungsverkehr bestimmt waren. Die Verwendung im grenzüberschreitenden Verkehr wird u. a. daran deutlich, dass sich die Bezeichnung von Handelsmünzen oft nach ihrem Hauptbestimmungsland richtete; so wurden etwa die österreichischen Handelsmünzen, die Dukaten, nach den ducati, den venezianischen Goldmünzen, benannt. Dieses relativ einheitliche System wurde schrittweise aufgelöst, als sich die Anzahl der internationalen Transaktionen stark erhöhte und es mithin zweckmäßig erschien, dem Gold eine bedeutsamere Rolle einzuräumen. England und Frankreich kam hierbei eine zentrale Stellung zu. England, das reichste Land und die führende Handelsnation, drehte schlichtweg die Position der beiden Metalle um und folgte seit 16 David A. Martin: The Impact of Mid-Nineteenth Century Gold Depreciation upon Western Monetary Standards, in: Journal of European Economic History 6 (1977), S. 641–658. 17 Adolph G. Soetbeer: Edelmetall-Produktion und Werthverhältniss zwischen Gold und Silber seit der Entdeckung Amerika’s bis zur Gegenwart. Gotha 1879.

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1717 dem Goldstandard. Frankreich ging einen Mittelweg: Es gab den früher geltenden variablen Preis der Goldmünzen auf und setzte ihn im Jahre 1803 auf 15,5:1 gegenüber dem Silber fest. Diese Entscheidung wurde zur Grundlage des französischen Bimetallismus. Das französische Münzgesetz war langfristig von größter Konsequenz, doch blieb es zunächst für fast ein halbes Jahrhundert ohne nennenswerte Auswirkung. Da Gold auf den Edelmetallmärkten deutlich mehr wert als das 15,5-fache des Silbers war, wurde zunächst kaum Gold in Frankreich geprägt, und dennoch getätigte Ausmünzungen verließen das Land schnell. Bis 1848 bestand das alte System mit heimischem Silberumlauf und goldenen Handelsmünzen trotz der bimetallischen Gesetzgebung von 1803 also fort. Dies änderte sich erst nach den bedeutenden Goldfunden in Kalifornien (1848) und Australien (1851). Das neue Förderniveau war nicht ein geringfügiges Ansteigen im Vergleich mit der durchschnittlichen Produktion der vergangenen Jahrzehnte, sondern vielmehr ein „Quantensprung“. Waren zuvor ca. 20 Tonnen pro Jahr gefördert worden, so stieg die Menge fortan auf durchschnittlich 200 Tonnen in den 1850er und 1860er Jahren.18 Bei ungefähr gleichbleibender Silberproduktion zog dies einen Preisverfall des Goldes nach sich, das im Dezember 1850 erstmals unter 15,5:1 zum Silber notierte.19 Fortan sollte es sich lohnen, Gold in Frankreich

Abb. 1: Weltweite Goldproduktion 1801–1885 (in Tonnen pro Jahr) Quellen: Soetbeer: Edelmetall-Produktion (wie Anm. 17), S. 110 f.; Ders.: Literaturnachweis über Geld- und Münzwesen insbesondere über den Währungsstreit, 1871–1891. Mit geschichtlichen und statistischen Erläuterungen. Berlin 1892, S. 48, 73, 117. 18 19

Ebd. James Laurence Laughlin: The History of Bimetallism in the United States. 2. Aufl., New York 1896, S. 294.

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ausprägen zu lassen und dem Land im Gegenzug Silber zu entziehen. Der Bimetallismus wurde so zum Einfallstor des Goldes der Neuen Welt in die monetäre Zirkulation Europas. Frankreichs vormals fast ausschließlich vom Silber bestimmte Münzgeldmenge wurde zum Spielball des sogenannten Greshamschen Gesetzes, demzufolge das „schlechte“ Geld – im Sinne von billigem Geld, also nunmehr Gold – das „gute“ (nunmehr also Silber) verdrängt. Es gibt mehrere Schätzungen über die Geschwindigkeit und den Umfang der französischen Währungsumschichtung, aber selbst die für den zurückhaltendsten Verlauf argumentierende Arbeit von Flandreau geht von einer 25/75 Prozent Gold-Silber-Mischung im Jahr 1849 gegenüber einer 85/15 Prozent Gold-Silber-Komposition 1865 aus.20 Das Greshamsche Gesetz kann bekanntermaßen zu einer vollständigen Verdrängung des einen oder des anderen Metalls führen, doch ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Auswirkungen dabei grundlegend verschieden sind und nur im Falle des Silbermangels zu tatsächlichen Problemen im Zahlungsverkehr führen. Wird das Gold verdrängt, zirkuliert es oftmals weiter als heimische Handelsmünze unter nunmehr dem Edelmarktpreisverhältnis angepasstem Wert. Wird hingegen das Silber verdrängt, verlässt es das Land und es treten tatsächliche Zahlungsschwierigkeiten auf, da Goldmünzen auf Grund ihres hohen Wertgehaltes pro Volumeneinheit unhandlich klein ausgeprägt werden müssten. Genau daran scheiterte denn auch der erste französische Versuch, das Problem fehlender Silbermünzen in den Griff zu bekommen. Das anstelle des 5-Franken-Silberstückes geprägte 5-Franken-Goldstück wog nur noch 1,6 Gramm und wurde vom französischen Publikum nicht gut angenommen. Die Alternative dazu bestand in der Ausprägung von unterwertigen Silbermünzen durch eine Verminderung des Feinsilbergehaltes. Frankreich wich diesem Schritt lange Zeit aus, doch die sich akut verschärfende Zahlungsmittelknappheit ließ letztlich keine andere Wahl. Seit 1864 wurden die beiden kleinsten Silbermünzen (50 und 20 Centimes) mit einer Feinheit von 835/1000 gemünzt und konnten damit im Verkehr gehalten werden. Flandreau hat sich in den 1990er Jahren um eine revisionistische Perspektive bemüht und darzulegen versucht, dass die Währungsumschichtung zugunsten des Goldes nie zu einer gänzlichen Verdrängung des Silbers geführt habe; vielmehr habe sich der Bimetallismus als anpassungsfähig erwiesen und die immensen Goldfunde aus der Neuen Welt absorbiert.21 Es ist trotz aller aufgebotenen ökonometrischen Raffinesse schwer, dieser Argumentation zu folgen, wenn sich Frankreich gezwungen sah, im ersten Jahrzehnt alleine drei Währungskommissionen (1850, 1857 und 1861) einzuberufen, die sich ausschließlich mit dem Mangel an Silbergeld beschäftigen sollten, und das Land des Problems nur durch die Ausprägung unterwertiger Silbermünzen Herr werden konnte.

20 Marc Flandreau: Coin Memories. Estimates of the French Metallic Currency, in: Journal of European Economic History 25 (1995), S. 271–310, hier 308. 21 Marc Flandreau: As Good as Gold? Bimetallism in Equilibrium 1848–1873, in: Maria Cristina Marcuzzo / Lawrence H. Officer / Annalisa Rosselli (Hg.): Monetary Standards and Exchange Rates (Routledge Explorations in Economic History 6). London / New York 1997, S. 150–176.

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Die Schwierigkeiten Frankreichs wurden noch dadurch vergrößert, dass sich das eigene Währungssystem im Zuge der Napoleonischen Kriege nach Belgien, Italien und in die Schweiz ausgebreitet und sich faktisch ein einheitlicher Währungsraum herausgebildet hatte, in dem die gemeinsamen Gold- und Silbermünzen frei zirkulierten. Auch in den drei anderen Ländern wurde das Silber nach 1848 knapp, und es wuchs die Bereitschaft, auf unterwertige Ausmünzung überzugehen. In diesem Prozess handelte die Schweiz am schnellsten und am konsequentesten, als sie bereits 1860 alle Silbermünzen (mit Ausnahme des 5-Franken-Stückes) mit Feingehalt 800/1000 auszuprägen begann. Dieses Vorgehen barg eine große Gefahr. Das Land münzte die Silbermünzen nicht „moderat“ unterwertig aus (um sie im Land zu halten), sondern dermaßen unterwertig, dass erhebliche Seigniorage anfiel. Diese Gewinne wiederum mussten nicht nur von Inländern, sondern gleichfalls von die Münzen annehmenden Ausländern finanziert werden. Ein solches Vorgehen aber würde nicht lange toleriert werden und könnte schnell die Einheitlichkeit des Währungsraumes gefährden. Diese Bedenken veranlassten Belgien, Frankreich, Italien und die Schweiz, nach einer koordinierten Lösung zu suchen, und führten 1865 zur sogenannten Lateinischen Münzunion. Ziel dieser Union war es, ein weiteres Abfließen des Silbergeldes zu verhindern und zugleich die Einheitlichkeit des Währungsgebietes zu sichern bzw. wiederherzustellen. Dies wurde erreicht, indem alle Silbermünzen – mit Ausnahme des 5-Franken-Silberstückes – fortan mit einem Feingehalt von 835/1000 ausgemünzt wurden und zugleich eine Obergrenze für unterwertig ausgeprägte Münzen festgelegt wurde (um das Seigniorageproblem zu lösen). Bimetallismus mit dem Gold-Silber-Verhältnis 15,5:1 wurde mithin auf eine einzige Münze beschränkt, nämlich das 5-Franken-Stück, das sowohl in Gold als auch in Silber ausgeprägt werden konnte. Die Lateinische Münzunion war eine praktische Antwort auf sich aus dem Verfall des Goldpreises ergebende Probleme. Ziel war es, die Vorteile einheitlicher Münzprägung zu wahren bzw. wiederherzustellen. Fremd waren der Münzunion darüber hinausgehende Ziele; insbesondere darf aus dem einstweiligen Festhalten am Bimetallismus nicht der Schluss gezogen werden, dass alle vier Staaten von dessen Nachhaltigkeit überzeugt waren und sich eine Fortsetzung des Systems wünschten. Beide Gesichtspunkte sind wichtig, da die Lateinische Münzunion wohl mit zu den am häufigsten fehlverstandenen Institutionen der Wirtschaftsgeschichte zählt. Im angelsächsischen Raum gibt es eine lange Tradition, in ihr ein festes Bekenntnis zum Bimetallismus zu sehen und einen französischen Versuch zu wittern, das eigene, mit dem englischen Goldstandard konkurrierende Währungssystem zu exportieren.22 Für die revisionistische Perspektive Flandreaus ist das formale Festhalten der Lateinischen Münzunion am Bimetallismus wiederum wichtig, da es als indirekter Beleg für das Funktionieren des Bimetallismus – und damit eines dreigleisigen Währungssystems in den 1850er und 1860er Jahren – ins Feld geführt wird.

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Ein früher Ausdruck dieser Sichtweise findet sich bei Henry Parker Willis: A History of the Latin Monetary Union. A Study of International Monetary Action. Chicago 1901.

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Eine gründliche Untersuchung der Verhandlungen, die 1865 zur Lateinischen Münzunion führten, offenbart deren begrenzten Charakter und den starken Zweifel von Belgien, Italien und der Schweiz an der Nachhaltigkeit des Bimetallismus.23 Tatsächlich ist die Münzunion zu verstehen als der Kompromiss zwischen drei Staaten, die möglichst bald zum Goldstandard übergehen wollten, und einem zögerlichen französischen Hegemon. An mehreren Stellen der Verhandlungsprotokolle ist zu erkennen, dass sich Belgien, Italien und die Schweiz um einen sofortigen Übergang zum Goldstandard bemühten, jedoch am Widerstand Frankreichs scheiterten.24 Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang auf das Verschwinden des Silbergeldes verwiesen und damit auf den Umstand, dass das System weniger ein Doppeldenn vielmehr ein alternativer Standard war: Zu jedem gegebenen Zeitpunkt lag entweder ein Gold- oder ein Silberstandard vor. Zwar wollte Frankreich 1865 noch am Bimetallismus festhalten, doch bemühten sich die französischen Vertreter nicht einmal, dem eine Sicht der Dinge entgegenzuhalten, die der revisionistischen Perspektive eines sich im Gleichgewicht befindlichen Bimetallismus entspräche. Ein Kompromiss konnte nur dadurch erreicht werden, dass man am Bimetallismus einstweilen festhielt, einen späteren Übergang zum Goldstandard aber so leicht wie nur irgend möglich gestaltete. Genau aus diesem Grunde wurde fortan der Bimetallismus auf eine einzige Münze beschränkt – das 5-Franken-Stück –, alle kleineren Münzen jedoch unterwertig ausgeprägt. Belgien, Italien und die Schweiz konnten mit dieser Regelung leben, da ein weiteres Zuwarten nur minimale Kosten verursachen würde; schließlich wurde das 5-Franken-Stück aus Silber zum damaligen Zeitpunkt ohnehin nicht ausgemünzt. Günstiger war es in der gegebenen Situation, auf eine weitere Meinungsverschiebung in Frankreich zugunsten des Goldes zu hoffen. Die spätere Entwicklung (vgl. 5. Abschnitt) sollte den drei Staaten Recht geben. 4. WACHSENDE ANHÄNGERSCHAFT IN DEN SILBERSTANDARDLÄNDERN FÜR EINEN ÜBERGANG ZUM GOLD Die Entwicklungen in den Silberstandardländern waren verschieden von denen in den bimetallischen Ländern, da das Greshamsche Gesetz hier zu keiner Umschichtung der beiden Edelmetalle führen konnte. Interessanterweise jedoch waren die Schlussfolgerungen, die aus der überseeischen Goldschwemme für das eigene Währungssystem gezogen wurden, in beiden Blöcken sehr ähnlich. In allen Silberstandardländern wuchs im Verlaufe der 1860er Jahre die Anzahl der Goldstandardbefürworter und führte zu einer Vielzahl von Währungskommissionen und Gesetzgebungen mit dem Ziel eines Währungswechsels. Im Falle der deutschen Staaten lässt sich diese schrittweise Entwicklung an den Verhandlungen der deutschen Handelstage von 1861, 1865 und 1868 ablesen.25 Eine vollständige Vereinheitlichung der – fast ausnahmslos auf Silber basierenden – 23 24 25

Ministère des Affaires Etrangères, Conférence monétaire entre la Belgique, la France, l’Italie et la Suisse, Procès verbaux, novembre et décembre 1865. Paris 1865. Ebd., S. 6, 12, 21–31, 43, 72 f. Verhandlungen des ersten deutschen Handelstages zu Heidelberg. Heidelberg 1861; Verhand-

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Münzfüße war unter den deutschen Staaten, trotz gewisser Erfolge in dieser Richtung durch die Münzvereine von Dresden (1838) und Wien (1857), nicht erreicht worden, so dass sich in den 1860er Jahren die Fragen des Währungsmetalls und des Münzfußes gleichzeitig stellten. In dieser Situation versprach die teilweise Übernahme des französischen Systems, beide Probleme auf einmal zu lösen. Frankreich verfügte über Goldmünzen, die in allen Staaten der Lateinischen Münzunion Verwendung fanden und deren Münzfuß sich am modernen metrischen System orientierte; eine Übernahme schuf die Möglichkeit der Münzeinigung unter den deutschen Staaten und zugleich den Anschluss an das aus deutscher Sicht bedeutsamste Handelsgebiet (vgl. Tab. 1). Einer vollständigen Übernahme des französischen Währungssystems stand jedoch dessen bimetallischer Charakter entgegen, der auf Grund seiner ständigen Währungsumschichtung abgelehnt wurde. Hier nun bot sich folgender Ausweg an, dem sich die deutschen Staaten in den 1860er Jahren tastend näherten: der Übergang zum Goldstandard auf der Grundlage des französischen Goldmünzfußes, aber unter Außerachtlassung der bimetallischen Komponente jenes Währungssystems. Wie nachfolgend für andere Silberstandardländer gezeigt werden wird, gingen die deutschen Staaten hier keine eigenen Wege, sondern standen vielmehr für einen kontinentaleuropäischen Trend. Erstrebt wurde allerorten die selektive Übernahme des französischen Systems, d. h. nur jener Komponenten – Goldbindung und Münzfuß –, die als positiv wahrgenommen wurden. Die Ausführungen des vorhergehenden Abschnittes verdeutlichen zugleich, dass die bimetallischen Länder Belgien, Italien und die Schweiz – trotz sehr unterschiedlicher Ausgangslage – zu genau den gleichen Schlussfolgerungen wie die Länder des Silberstandards kamen. Was waren die genauen Beweggründe der deutschen Staaten, vom Silber- auf den Goldstandard zu wechseln? Schließlich hatte sich der Silberstandard bewährt und keinesfalls dem Bimetallismus ähnliche Defekte gezeigt. Drei Gesichtspunkte spielten eine zentrale Rolle. Die umfangreiche Goldausmünzung der 1850er und 1860er Jahre fand über französische Handelsmünzen ihren Weg auch in die deutschen Staaten, die damit erstmals eine nennenswerte Goldzirkulation erhielten. Eine gute Quelle zur Abschätzung des Umfangs der Goldzirkulation in einem Silberstandardgebiet sind die Bestände öffentlicher Kassen, die für einige deutsche Staaten zuverlässig überliefert sind. So befanden sich etwa in denen des Königreiches Württemberg im Jahr 1867 geringfügig mehr Gold- als Silbermünzen (50,2 zu 49,8 %); von diesen Goldmünzen wiederum kam fast die Hälfte aus Frankreich (46,1 %). Auf die deutschen Staaten insgesamt bezogen ergab eine zeitgenössische Schätzung, dass das umlaufende Gold das in den Notenbanken zur Währungsdeckung lagernde Silber um den Faktor 2,5 überstieg.26 Man konnte sich einen Übergang zum Goldstandard in den 1860er Jahren also erstmals plausibel vorstellen. In dieser neuen Welt einer realen Wahlmöglichkeit zwischen den beiden Edelmetallen begann man nun, Vor- und Nachteile von Gold und Silber miteinander zu

26

lungen des dritten deutschen Handelstages zu Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 1865; Verhandlungen des vierten deutschen Handelstages (wie Anm. 15). Zahlenangaben in diesem Absatz nach Karl Helfferich: Die Reform des deutschen Geldwesens nach der Gründung des Reiches. 2 Bde. Leipzig 1898, Bd. 1, S. 130–136.

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vergleichen. Dies führte schnell zum zweiten Beweggrund für Gold: es war das „leichtere“ Metall (im Sinne eines höheren Wertes bei gleichem Gewicht) und damit besser geeignet zur Bezahlung höherer Summen, insbesondere über größere Entfernungen hinweg. Die Stichhaltigkeit dieses Argumentes ist bereits von Zeitgenossen wie Walter Bagehot (1826–1877), dem einflussreichen englischen Journalisten, Essayisten und Herausgeber des Economist, bezweifelt worden mit der Begründung, dass der Großteil der Transaktionen bargeldlos abgewickelt werde.27 Doch findet sich das Argument in den meisten kontinentaleuropäischen Quellen der 1860er Jahre wieder,28 und anders lässt sich das starke Einströmen der französischen Goldmünzen in die deutschen Staaten auch kaum erklären. Vermutlich bedeutet Bagehots Einwand nur, dass England in der Entwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs einen zeitlichen Vorsprung hatte und die „Leichtigkeit“ des Goldes im englischen Fall kein Argument war. Last but not least wurde in den 1860er Jahren für einen Übergang zum Gold ins Feld geführt, dass ein Goldstandard angesichts der neuen Münzprägetechnologie einen Verzicht auf das für Kleingeld unumgängliche Silbergeld nicht mehr erforderlich mache. Zu früheren Zeiten war die unterwertige Ausprägung problematisch gewesen, da sie schnell Münzfälscher auf den Plan rief. Durch moderne und – auf Grund ihrer extrem hohen Kosten – praktisch der staatlichen Münze vorbehaltene Prägetechnologie konnten seit dem frühen 19. Jahrhundert unterwertige Münzen fälschungssicher hergestellt werden, doch war England über längere Zeit das einzige Land, das das neue Verfahren tatsächlich nutzte und Scheidesilbermünzen prägte. Überhaupt erst die unterwertige Ausprägung der (meisten) Silbermünzen durch die Staaten der Lateinischen Münzunion verschaffte genügend Erfahrung mit der neuen Technologie.29 Durch die nunmehr mögliche Kombination von vollwertigen Gold- und unterwertigen Silbermünzen erlaubte der Goldstandard, die ganze Palette der für den Zahlungsverkehr erforderlichen Münzen abzudecken. Auf Grund der Einbettung der vorliegenden Arbeit in den 1. Deutschen Kongress für Wirtschaftsgeschichte beziehen sich die vorstehenden Ausführungen auf Deutschland, doch fanden ähnliche Entwicklungen auch in den anderen Silberwährungsländern statt. In den skandinavischen Staaten – die seit längerer Zeit über gut funktionierende, konvertible Silberwährungen verfügten – führten sie sogar zum tatsächlichen Übertritt zum Goldstandard bereits im Jahr 1872 (vgl. 5. Abschnitt). Beispielhaft seien kurz die Fälle Österreichs und Rumäniens skizziert. Österreich war neben Preußen das zweite große Silberstandardland Europas, nahm sein Ausscheiden aus dem Deutschen Bund nach dem deutsch-deutschen Krieg von 1866 aber zum Anlass, sein Währungssystem neu zu ordnen; dabei spielte die Überlegung eine Rolle, dass man bei einer allgemeinen Neuorientierung der österreichischen Außenpolitik auch nicht mehr an den Wiener Münzvertrag der deutschen Staaten von 1857 gebunden sein wollte.30 Österreich berief daraufhin im April 1867 eine Kommission ein, die 27 28 29 30

Zit nach. Einaudi: Money and Politics (wie Anm. 7), S. 65. So etwa: Verhandlungen des vierten deutschen Handelstages (wie Anm. 15), S. 38 f., 42 f. Angela Redish: The Persistence of Bimetallism in Nineteenth-Century France, in: Economic History Review 68 (1995), S. 717–736. Morys: Classical Gold Standard (wie Anm. 12), S. 67–89.

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mit genau dem gleichen Vorschlag aufwartete, wie er oben für die deutschen Handelstage beschrieben wurde: die Übernahme des französischen Währungssystems, jedoch ohne dessen Verbindung zum Silber. Der umfangreiche Kommissionsbericht zeigt, dass die Beweggründe dabei dem deutschen Fall sehr ähnlich waren.31 Auch das rumänische Beispiel zeigt die Anziehungskraft eines auf Gold reduzierten französischen Währungssystems. Der 1859 aus der Vereinigung der Donaufürstentümer Moldau und Walachei hervorgegangene Staat hatte zunächst keine eigene Währung, sondern bediente sich einer Vielzahl von Silbermünzen umliegender Staaten. Als die Wahl eines eigenen Währungssystems anstand, entschied sich Rumänien für die Übernahme der Goldbindung und des Münzfußes Frankreichs.32 5. 1865–1872: DER UNAUFHALTSAME AUFSTIEG DES GOLDES In der Mitte der 1860er Jahre hatte sich in den Doppel- und Silberstandardländern die Ansicht durchgesetzt, dass die Zukunft des internationalen Währungssystems dem Gold gehören würde. Das einzige Land, das sich dieser gesamteuropäischen Bewegung lange Zeit verweigerte, war Frankreich. Dies mag aus doppeltem Grund verwundern. Zunächst einmal war das Land ganz besonders von den Problemen des Bimetallismus betroffen. Nicht weniger als sechs Kommissionen (1850, 1857, 1861, 1867, 1868/69, 1869/70) wurden zur Diskussion der Währungsfrage einberufen, die ein äußerst anschauliches Bild von der Verdrängung des Silbers und den sich daraus ergebenden Problemen vermitteln. Des Weiteren schien der Übergang zum Goldstandard eine besondere Chance für Frankreich zu bieten, da die anderen Länder die Übernahme des eigenen Münzfußes erstrebten. Dadurch ließen sich Transaktionskosten reduzieren, ohne selbst zur Ummünzung gezwungen zu sein. Die Erklärung für das lange Zögern liegt wohl darin, dass der Bimetallismus in Frankreich eine zwar zahlenmäßig nicht bedeutsame, politisch aber äußerst einflussreiche Gefolgschaft besaß. Willis33, Mertens34 und Einaudi35 haben sich alle ausführlich mit dieser Sonderrolle Frankreichs befasst, und ihre – sehr ähnlichen – Ergebnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass es mit dem französischen Finanzministerium, der Bank von Frankreich und Teilen der Hochfinanz im Wesentlichen drei Stützen des Bimetallismus gab. Das Interesse der – politisch äußerst einflussreichen – Hochfinanz ist dabei am einfachsten zu verstehen: Sie profitierte erheblich von der bimetallischen Arbitrage, indem sie Gold ausmünzen und Silbergeld einschmelzen bzw. exportieren ließ. Die Erwägungen der Bank von Frankreich waren schon vielschichtiger, lassen sich jedoch allesamt auf das Erfordernis einer 31 Verhandlungen der Special-Commission zur Berathung der Münzfrage vom 10. bis zum 14.4.1867. Wien 1867. 32 George Virgil Stoenescu u. a.: Romania: from 1880 to 1947, in: Austrian National Bank / Bank of Greece / Bulgarian National Bank / National Bank of Romania (Hg.): South-Eastern European Monetary and Economic Statistics from the Nineteenth Century to World War II. Athen u. a. 2014. 33 Willis: History of the Latin Monetary Union (wie Anm. 22), S. 57–60. 34 Mertens: La naissance et le développement (wie Anm. 14), S. 265–267. 35 Einaudi: Money and Politics (wie Anm. 7), S. 40–46.

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ausreichenden metallischen Bedeckung der Banknoten zurückführen. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Notenbank bei einer Währungsumschichtung keinen finanziellen Nachteil erlitt, da sie Banknoten im eigenen Belieben in Gold oder Silber umtauschen konnte.36 Gerade diese Wahlmöglichkeit bedeutete aber, dass unter Bimetallismus mehr Deckungsmittel zur Verfügung standen als unter einem reinen Silber- oder Goldstandard. Des Weiteren sah man im Bimetallismus die beste Garantie dafür, dass das Gold-Silber-Preisverhältnis annähernd stabil bleiben würde. Das Finanzministerium wiederum unterstützte die Bank von Frankreich, da es oftmals auf die Notenbank zur Erreichung der eigenen Ziele angewiesen war. Die in den 1860er Jahren lauter werdenden Rufe aus dem Ausland nach einem Goldstandard auf der Grundlage des französischen Münzfußes gaben nun innerhalb des Landes jenen Kräften Auftrieb, welche die Schwächen des Bimetallismus klar erkannt hatten und durch eine Demonetisierung des Silbers abstellen wollten. Das währungstechnisch sinnvolle erschien plötzlich außenpolitisch erfolgversprechend zu sein; man versprach sich nicht mehr nur eine Verringerung der Transaktionskosten, sondern auch einen Zuwachs an „soft power“. Auf Grund dieses neuen Interesses verwundert es nicht, dass sich das französische Außenministerium bald schon an die Spitze der französischen Goldstandardbefürworter stellte. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Einberufung einer Internationalen Münzkonferenz im Jahr 1867 nach Paris. Dort sprachen sich – mit Ausnahme der Niederlande – alle anwesenden 21 Staaten für einen Übergang zum Goldstandard auf der Grundlage des französischen Münzfußes aus.37 Diese Entscheidung bündelte gleichsam die vielen Diskussionen und Kommissionen innerhalb der europäischen Länder, die sich für den Goldstandard ausgesprochen hatten, und war das bis zu diesem Zeitpunkt eindeutigste Signal, dass der Übergang zum Goldstandard unmittelbar bevorstand. Dieser diplomatische Erfolg Frankreichs – und des französischen Außenministeriums im Besonderen – wiederum hatte Rückwirkungen auf die Diskussion innerhalb des Landes, indem er die Position der Goldbefürworter stärkte. Hatten bei der kurz vor der Internationalen Münzkonferenz abgehaltenen französischen Kommission noch weniger als die Hälfte der Teilnehmer für einen Übergang zum Gold gestimmt (38 %), sprachen sich in den beiden Kommissionen von 1868/69 und 1869/70 73 bzw. 70 Prozent für einen Übergang zum Goldstandard aus.38 Die Protokolle der drei Kommissionen lassen erkennen, dass die Überlegung, eine internationale Münzeinigung nur auf der Grundlage des Goldes erreichen zu können, bei diesem Stimmungswandel eine erhebliche Rolle spielte. Dies lässt sich bereits an den Fragestellungen ablesen, die den Kommissionen vorgelegt wurden. Bei der ers36 37 38

Das eingeschmolzene bzw. exportierte Silbergeld entstammte also ausschließlich der umlaufenden Geldmenge. Ministère des Affaires Etrangères, Conférence monétaire internationale. Procès-verbaux. Paris 1867. Ministère des Finances, Procès-verbaux et rapport de la commission monétaire, suivis d’annexes relatifs à la question monétaire. Paris 1869; Ministères des Finances et de l’Agriculture et du Commerce, Conseil Supérieur du Commerce, de l’Agriculture et de l’Industrie. Enquête sur la question monétaire. 2 Bde. Paris 1872.

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ten Kommission von 1867 wurde zunächst diskutiert, ob Gold, Silber oder eine Kombination der beiden Metalle als Grundlage des französischen Währungssystems gewählt werden sollten. Bei den beiden späteren Kommissionen hingegen zielte die erste Frage auf die angestrebte Münzeinigung und es wurde suggestiv gefragt, ob sich diese nur auf der Grundlage des Goldes erreichen lasse. Das eindeutige Votum der dritten französischen Kommission und die dahinter stehende ausführliche Begründung ließen Zeitgenossen vermuten, dass Frankreich sehr schnell zum Goldstandard übergehen werde.39 Dies jedoch wurde durch den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges im Juli 1870 vereitelt. Auch das neugegründete Deutsche Reich hatte zunächst vordringlichere Aufgaben und ließ dem 1868 auf dem Handelstag klar formulierten Antrag auf Einführung der Goldwährung längere Zeit keine Taten folgen. Dieser Stillstand in der Mitte Europas führte dazu, dass Dänemark, Norwegen und Schweden als erste die Beschlüsse der Internationalen Münzkonferenz umsetzten und zum Goldstandard übergingen. Schweden, dem größten skandinavischen Land, kam dabei eine gewisse zeitliche und inhaltliche Führungsrolle zu, und bis zum Dezember 1872 waren ihm Dänemark und Norwegen auf dem Goldstandard nachgefolgt.40 6. DEUTSCHLAND UND FRANKREICH IM JAHRE 1873 Der Umstand, dass zum Ende des Jahres 1872 bereits mehrere Staaten dem Goldstandard beigetreten waren, zeigt, dass eine auf Deutschland und Frankreich begrenzte Analyse zu kurz greift. Vielmehr erscheint der Übergang der beiden großen kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften zum Goldstandard im Jahr 1873 lediglich ein weiterer Ausdruck der gesamteuropäischen goldmonometallischen Bewegung zu sein. Gegen Ende der 1860er Jahre gesellte sich zu den oben dargelegten „positiven“ Gründen für einen Übergang zum Gold – ausreichende Quantität und „Leichtigkeit“ des Metalls verbunden mit der Praktikabilität des neuen Standards durch gleichzeitige Ausprägung von Silberscheidemünzen – noch ein weiterer Gesichtspunkt: Könnte das Silber seine Wertstabilität verlieren, wenn immer mehr Staaten auf das Gold übergingen und das frei werdende Silber verkauften? Sollte dies der Fall sein, könnten um die Stabilität ihrer Währung besorgte Staaten geradezu gezwungen sein, sich dem Goldstandard anzuschließen. Bei der Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, genau auf die Chronologie der Ereignisse zu achten. Bei der Internationalen Münzkonferenz von 1867 spielte 39 40

Helfferich: Reform des deutschen Geldwesens (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 133; Adolph Soetbeer: Litteraturnachweis über Geld- und Münzwesen insbesondere über den Währungsstreit, 1871– 1891. Mit geschichtlichen und statistischen Erläuterungen. Berlin 1892, S. 122. Die Vereinbarung der skandinavischen Staaten vom 18.12.1872 wird zumeist als skandinavische Münzunion bezeichnet. Diese Bezeichnung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um eine Umsetzung der Beschlüsse der Internationalen Münzkonferenz von 1867 handelt. Die darüber hinausgehende Regelung betraf die Vereinheitlichung der unterwertigen Silbermünzen, welche die drei Staaten auf Grund ihrer hohen wirtschaftlichen Integration für sinnvoll erachteten.

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die Sorge vor einem Preisverfall des Silbers noch keine Rolle; die Möglichkeit wird lediglich von einem einzigen Verhandlungsteilnehmer erwähnt, doch von den übrigen Anwesenden keiner ernsthaften Diskussion für würdig befunden.41 Dies festzuhalten erscheint wichtig, da es eine gemeinsame Schwäche der Position von Kindleberger und Flandreau aufdeckt: Beide Forscher verlagern die Entscheidung für den globalen Übergang zum Gold in die 1870er Jahre und verknüpfen sie mit Entwicklungen auf dem Silbermetallmarkt. Tatsächlich jedoch spielte dies bei der zentralen Internationalen Münzkonferenz von 1867 keine Rolle. Langsam aber erwuchsen Zweifel, ob ein viele Länder umfassender Übergang zum Gold nicht Rückwirkungen auf das Silber haben würde. Dabei legen die qualitativen Quellen nahe, dass sich die Angst vor einem Preisverfall des Silbers aus den erwarteten Demonetisierungen speiste und nicht aus der gesteigerten Produktion des weißen Metalls. Diese Interpretation wird gestützt durch Zahlenmaterial zur globalen Silberförderung, demzufolge der eigentliche Quantensprung der Produktionsmengen erst in den 1870er Jahren stattfand (als Folge der neuentdeckten Silbervorkommen in den Vereinigten Staaten). Die allgemein anerkannte Schätzung durch Soetbeer geht davon aus, dass die Förderung vom Jahrfünft 1861–1865 zum darauffolgenden Jahrfünft um 21,6, danach dann jedoch um ganze 47,1 Prozent stieg (1861–1865: 1 101 Tonnen pro Jahr; 1866–1870: 1 339 Tonnen; 1871– 1875: 1 969 Tonnen). Zur Kooperation beim Übergang zum Goldstandard – die ihren besten Ausdruck in der Internationalen Münzkonferenz von 1867 gefunden hatte – gesellte sich fortan ein kompetitives Element. In diesem Punkt ist Flandreaus Analyse durchaus zuzustimmen. Richtig ist auch, dass dieser Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich potenziell besonders schwerwiegend sein würde, da beide auf Grund der Größe ihrer Währungsgebiete umfangreiche Silbermengen demonetisieren könnten. Nicht richtig ist jedoch Flandreaus Verbindung mit der schwierigen politischen Situation zwischen den beiden Staaten nach dem deutsch-französischen Krieg. Jeder quellenmäßige Beleg einer spezifisch anti-deutschen Stoßrichtung bei der Sistierung der freien Silberprägung im September 1873 bleibt aus und konnte in den Archiven der Bank von Frankreich auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht gefunden werden.42 Die Beschränkung der Silberausprägung für Private folgte vielmehr aus dem Umfang der erwarteten Demonetisierung und der sich daraus ergebenden Sorge um einen denkbaren Preisverfall des Silbers. Doch genau diese Sorge findet sich in den französischen Quellen bereits vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges und der damit einhergehenden Verschlechterung des politischen Verhältnisses zwischen den beiden Staaten. So führt etwa der Bericht der letzten Währungskommission von 1869/70 aus: „il y a dans toute l’Allemagne un fort mouvement d’opinion en faveur de l’or, et, si cette vaste contrée démonétise son argent, tout ce métal déprécié va refluer en France, remplaçant notre or qui va passer le Rhin.“43 Von einem ausgeprägten Selbstbewusstsein bezüglich der Absorptionsfähigkeit des Bimetallismus, 41 42 43

Ministère des Affaires Etrangères, Conférence monétaire internationale (wie Anm. 37), S. 42. Archives de la Banque de France (Paris), Question Monétaire VII. Ministères des Finances et de l’Agriculture et du Commerce (wie Anm. 38), S. 384.

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das für Flandreaus Argumentation so zentral ist, kann in dieser – und anderen44 – Quellen also keine Rede sein. Vielmehr erscheint Frankreich auch hier stellvertretend für die goldmonometallische Bewegung zu stehen, in der langsam wachsende Zweifel an der Preisstabilität des Silbers den bereits länger gehegten Wunsch nach Übergang zum Gold nur noch weiter verstärkten. 7. SCHLUSSBETRACHTUNG Die vorliegende Studie hat sich mit der Herausbildung des klassischen Goldstandards in den 1870er Jahren beschäftigt. Obwohl der Zeitraum von 1873 bis 1914 zu den am besten erforschten Perioden der Währungsgeschichte zählt, standen sich bis jetzt sehr unterschiedliche Positionen gegenüber bei der Frage, aus welchen Gründen sich das dreigleisige Weltwährungssystem der 1850er und 1860er Jahre verengte und im Goldstandard aufging. Trotz aller Unterschiede im Einzelnen hat die bisherige Forschung dabei die seit den späten 1860er Jahre ansteigende Silberproduktion in den Mittelpunkt gerückt. In diesem Kontext wurden die Grenzen des von Frankreich geführten Bimetallismus diskutiert und gefragt, ob der deutsche Übergang zum Gold im Jahr 1873 einen Dominoeffekt auslöste, dem sich die anderen Staaten, Frankreich eingeschlossen, nicht mehr entziehen konnten. Die vorliegende Arbeit hat versucht aufzuzeigen, dass die maßgeblichen Entwicklungen zur Herausbildung des klassischen Goldstandards deutlich früher lagen und allgemeinerer Natur waren als die spezielle Interessenlage von nur ein oder zwei europäischen Staaten. Ausgangspunkt waren die gewaltigen Goldfunde in Kalifornien und Australien, die in den 1850er Jahren ihren Weg in die monetäre Zirkulation Europas fanden. Dort angekommen führten sie bald schon zu einer gesamteuropäischen Bewegung, welche den Übergang zum Goldstandard forderte. Spätestens als sich bei der Internationalen Münzkonferenz im Jahr 1867 alle namhaften Staaten für die Annahme des Goldstandards aussprachen, waren die Würfel gefallen – und damit zu einem Zeitpunkt, als von einer Schwäche des Silbers noch nichts zu spüren war. Deutschland und Frankreich, auf die die frühere Forschung ihr Hauptaugenmerk richtete, folgten also letztlich nur den allgemeinen Entwicklungen, wie sie für Länder des Silber- bzw. bimetallischen Standards in den 1860er Jahren üblich waren. Die Herausbildung des klassischen Goldstandards war also nicht ein „chaotischer“ Vorgang, wo ein eher beiläufiges Ereignis – wie die von Flandreau bemühten Revanchegedanken Frankreichs nach dem verlorenen deutsch-französischen Krieg – eine langfristig bedeutsame Transformation des Weltwährungssystems hervorgerufen hat. Vielmehr setzten die immensen Goldfunde in der Neuen Welt einen ca. 25-jährigen Prozess in Gang, der das Weltwährungssystem langsam, aber nachhaltig veränderte und gleichsam natürlich zur Entstehung des klassischen Goldstandards führte.

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Archives de la Banque de France (wie Anm. 42), S. 111–113.

DIE POLITISCHE ÖKONOMIE DES INVESTORENSCHUTZES IN DEUTSCHLAND, 1870–1937 Felix Selgert, Bonn I. EINLEITUNG Ziel dieses Aufsatzes ist es, den Wandel der formalen Regeln des gesetzlichen Aktionärsschutzes und der Offenlegungsstandards im deutschen Aktienrecht zwischen 1870 und 1937 zu beschreiben und zu erklären.1 Zu diesem Zweck konzentriert sich die Darstellung auf die Analyse der Entstehung formaler gesetzlicher Regeln im politischen Prozess des Deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“. Als analytischer Ausgangspunkt fungiert dabei die von dem Politikwissenschaftler George Tsebelis entwickelte Veto-Spieler Theorie.2 Unter Veto-Spielern werden diejenigen politischen Akteure verstanden, die in der Lage sind, eine gesetzliche Änderung des Status quo zu blockieren. Auf Basis von umfangreichem Quellenmaterial ist es möglich, die optimalen Politikpunkte dieser Veto-Spieler herauszuarbeiten und nachzuzeichnen, welche gesellschaftlichen Gruppen Einfluss auf die Bildung dieser Präferenzen nehmen konnten.3 Die Analyse der Verhandlungen zwischen den Veto-Spielern erlaubt darüber hinaus, Aussagen über die Bedeutung politischer Institutionen für ökonomische Entwicklungsprozesse zu treffen. Die hier vorgestellten vorläufigen Ergebnisse stehen in Beziehung zu zwei zusammenhängenden Fragenkomplexen: Zunächst leistet der Aufsatz einen Beitrag zur Erforschung des Einflusses von Interessengruppen auf politische Entscheidungen.4 Ökonomen verweisen in der Regel auf die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Gruppen. Die Spannbreite reicht dabei von Managern und Aktionären mit Leitungsinteresse5 über 1 2 3 4

5

Das Projekt wird von der DFG unter dem Titel „Die Beherrschung der Aktiengesellschaft“ (BU 1805 8/1) gefördert. George Tsebelis: Veto Players. How Political Institutions Work. Princeton, NJ 2002. Die Studie greift auf Quellenmaterial aus dem Bundesarchiv und aus zahlreichen Landesarchiven zurück. Für einen Überblick siehe: Gerold Ambrosius: Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 7). München 1990; Rudolf Boch: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 70). München 2004; Pablo M. Pinto / Stephen Weymouth / Peter Gourevitch: The Politics of Stock Market Development, in: Review of International Political Economy 17 (2010), S. 378–409. Ludan A. Bebchuk / Zvika Neeman: Investor Protection and Interest Group Politics, in: The Review of Financial Studies 23 (2010), S. 1089–1119; Marco Pagano/Paolo F. Volpin: The Political Economy of Corporate Governance, in: The American Economic Review 95 (2005), S. 1005–1030; Raghuram G. Rajan / Luigi Zingales: The Great Reversals: The Politics of Financial Development in the Twentieth Century, in: Journal of Financial Economics 69 (2003), S. 5–50.

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freie Aktionäre6 bis hin zu Vertretern der Arbeitnehmerschaft.7 Historiker betonen dagegen die Bedeutung von Verbänden und Vereinen wie dem Centralverband deutscher Industrieller, der Vereinigung zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen, dem Deutschen Handelskammertag und dem Juristentag.8 Neben dem Einfluss bestimmter Interessengruppen auf die Gesetzgebung wird in der Forschung auch die Art und Weise des Zusammenspiels von politischen Entscheidungsträgern und Interessengruppen innerhalb des politischen Systems beleuchtet.9 Im Zeitablauf änderte sich die Konstellation der Veto-Spieler beträchtlich. Durch die Einbeziehung der politischen Systeme des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des „Drittens Reichs“ können daher Aussagen über die Wirkung unterschiedlicher politischer Institutionen auf politische Entscheidungsprozesse getroffen werden.10 Dazu werden zunächst in Abschnitt II die Begriffe Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften genauer definiert und ein kurzer Überblick über materielle Veränderungen während des Untersuchungszeitraums gegeben. Der darauf folgende Abschnitt konzentriert sich auf die Rolle politischer Institutionen im Hinblick auf Entscheidungsfindungen. Der dritte widmet sich der Frage, wie unterschiedliche Interessengruppen die Präferenzen der Veto-Spieler beeinflussten. Abschnitt vier fasst die Ergebnisse kurz zusammen. II. DIE ENTWICKLUNG DES INVESTORENSCHUTZES: AKTIONÄRSSCHUTZ UND OFFENLEGUNG Die Notwendigkeit zur Entwicklung formaler Regeln des Aktionärsschutzes sowie von Offenlegungsverpflichtungen wird durch das für die Aktiengesellschaft charakteristische Auseinanderfallen von Besitz am Eigenkapital der Gesellschaft und der Kontrolle über die Gesellschaft erzeugt.11 Kontrolle kann dabei als die Befugnis definiert werden, die Leitung einer Aktiengesellschaft zu ernennen sowie grundle6 7 8

9 10 11

Bebchuk/Neeman: Investor Protection (wie Anm. 5); Pagano/Volpin: Political Economy (wie Anm. 5); Enrico C. Perotti / Ernst-Ludwig von Thadden: The Political Economy of Corporate Control and Labor Rents, in: Journal of Political Economy 114 (2006), S. 145–175. Mark J. Roe: Political Determinants of Corporate Governance. Political Context, Corporate Impact. Oxford 2003. Walter Bayer (Hg.): Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in den Beratungen des Deutschen Juristentages (Jenaer Studien zum deutschen, europäischen und internationalen Wirtschaftsrecht 26). Jena 2010; Wolfram Fischer: Unternehmerschaft, Selbstverwaltung und Staat. Die Handelskammern in der deutschen Wirtschafts- und Staatsverfassung des 19. Jahrhunderts. Berlin 1964; Gerd Hardach: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag 1861–2011. Der Spitzenverband der Industrie- und Handelskammern im Wandel der Zeit. Berlin 2011; Hartmut Kaelble: Industrielle Interessenpolitik in der wilhelminischen Gesellschaft. Centralverband dt. Industrieller 1895–1914. Berlin 1966. Pagano/Volpin: Political Economy (wie Anm. 5); Bebchuk/Neeman: Investor Protection (wie Anm. 5). Vgl. hierzu wieder Tsebelis: Veto Players (wie Anm. 2) sowie Roe: Political Determinants (wie Anm. 7). Dieser Zusammenhang wurde erstmals prominent von Berle und Means vertreten. Siehe: Adolf

Die Politische Ökonomie des Investorenschutzes in Deutschland, 1870–1937

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gende strategische Ziele definieren und ihre Implementierung überwachen zu können.12 Konflikte über die Unternehmenskontrolle entstehen dann, wenn Stakeholder gegensätzliche Interessen vertreten. Freie, nicht zur Unternehmensleitung gehörende Aktionäre können etwa an hohen Dividendenzahlungen und einem hohen Aktienkurs interessiert sein. Der Vorstand, Mitglieder des Aufsichtsrats und Aktionäre, deren Anteil an der Gesellschaft so groß ist, dass sie die Ernennung der Unternehmensspitze kontrollieren und strategische Ziele des Unternehmens vorschreiben können, mögen dagegen andere langfristige oder strategische Interessen haben. Diese können den Erhalt und Ausbau der eigenen (Macht-)Position, aber beispielsweise auch den Wunsch nach vorteilhaften Liefer-, Arbeits- und Kreditverträgen beinhalten.13 Informationen über das Unternehmensvermögen, die Gewinne und die Geschäftsperspektiven des Unternehmens sind ebenfalls ungleich zwischen den beiden Parteien zugunsten der Letztgenannten verteilt. Um das Problem zu lösen, würden beide Parteien in einer idealen Welt einen Vertrag unterschreiben, der das Handeln der Unternehmensleitung und der an der Leitung beteiligten Aktionäre in allen denkbaren Situationen festlegt und somit jede Eventualität abdeckt.14 Da es in der realen Welt nicht möglich ist, einen derartigen Vertrag aufzusetzen, müssen sich die beiden Parteien auf die Aufteilung der residualen Kontrollrechte einigen. Darunter versteht man die im Gesellschaftsvertrag festgelegte Verteilung des Entscheidungsvorbehaltes auf die verschiedenen, vom Gesetz vorgesehenen Gesellschaftsorgane15 in Situationen, die nicht vollständig geregelt sind.16 Bei der Verteilung dieser Rechte sind die Gesellschafter nicht völlig frei. Einige Teile des Gesellschaftsvertrages werden durch die Gesetzgebung festgelegt und können nicht durch individuelle Unternehmen modifiziert werden. Aktionärsschutz wird daher als die residualen Kontrollrechte definiert, die durch die Gesetzgebung festgelegt sind. Um das zweite, hier diskutierte Problem der asymmetrisch verteilten Informationen zu lösen, können sich freie Aktionäre und die Unternehmensleitung auf Offenlegungsvorschriften bezüglich der Bilanzberichterstattung sowie weiterer Informationen über den Vermögenswert und die Geschäftsentwicklung des Unter-

Augustus Berle / Gardiner Coit Means: The Modern Corporation and Private Property. New Brunswick u. a. 1991 (erstmals 1932). 12 Helge Pross: Manager und Aktionäre in Deutschland. Untersuchungen zum Verhältnis von Eigentum und Verfügungsmacht (Frankfurter Beiträge zur Soziologie 15). Frankfurt a. M. 1965, S. 18 f. 13 Sigurt Vitlos: Varieties of Corporate Governance: Comparing Germany and the UK, in: Peter A. Hall / David W. Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford / New York 2001, S. 337–360, hier 341 f. 14 Andrei Shleifer / Robert W. Vishny: A Survey of Corporate Governance, in: The Journal of Finance 52 (1997), S. 737–783. 15 Seit der Aktienrechtsnovelle vom 18.7.1884 gelten Aufsichtsrat, Generalversammlung und Vorstand als Gesellschaftsorgane. 16 Oliver D. Hart / John Moore: Property Rights and the Nature of the Firm, in: Journal of Political Economy 98 (1990), S. 1119–1158; Sanford J. Grossman / Oliver D. Hart: The Costs and Benefits of Ownership: A Theory of Vertical and Lateral Integration, in: Journal of Political Economy 94 (1986), S. 691–719.

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nehmens einigen. Auch in diesem Bereich hat die Gesetzgebung einige unumstößliche Klauseln bestimmt. Im Untersuchungszeitraum können drei Systeme des Aktionärsschutzes und der Offenlegungsvorschriften unterschieden werden, die in Abbildung 1 dargestellt sind. Die horizontale Achse von Abbildung 1 trägt das Niveau des Aktionärsschutzes ab. Die vertikale Achse zeigt das Niveau der Offenlegungsstandards. Dabei ist das Niveau von Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften umso höher, je weiter ein Punkt vom Ursprung entfernt liegt. Die eingezeichneten Punkte bezeichnen den Status quo (SQ), der von der Gesetzgebung festgelegt wurde; die tiefgestellten Jahresangaben beziehen sich dabei auf das Jahr der gesetzlichen Festsetzung.17 Die Basis für das vorherrschende System der Unternehmenskontrolle im Deutschen Kaiserreich wurde mit der Novelle zum Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch im Juni 1870 gelegt.18 Solange der Gesellschaftsvertrag nichts anderes bestimmte, teilte die Gesetzesnovelle die residualen Kontrollrechte der Generalversammlung und damit den freien Aktionären zu. Das Gesetz erlaubte es den Gründungsgesellschaftern jedoch, wichtige Kontrollrechte – wie die Entscheidung über Satzungsänderungen und Kapitalerhöhungen – nicht der Generalversammlung, sondern dem Aufsichtsrat zuzuteilen. Letzterer setzte sich oft aus den Unternehmensgründern und Mitgliedern der Gründerfamilien zusammen und konnte durch die später hinzukommenden freien Aktionäre nicht mehr wesentlich verändert werden. Das Stimmrecht der Aktionäre konnte ebenfalls durch die individuellen Satzungen beschränkt werden. Gleiches galt für die Gewinnverteilungsrechte. Verpflichtende Offenlegungsvorschriften gab es ebenfalls so gut wie keine. Nach einer schweren Börsenkrise im Jahr 1873, dem sogenannten Gründerkrach, einigte sich der Bundesrat im Jahr 1876 darauf, das Gesetz zu modifizieren.19 Das neue Gesetz wurde 1884 verabschiedet und verbesserte den Aktionärsschutz deutlich.20 Es verbot die Übertragung der residualen Kon17 18 19

20

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die eingezeichneten Punkte lediglich eine Rangordnung darstellen, da sich Unterschiede im Aktionärsschutz und den Offenlegungsstandards nur sehr schlecht beziffern lassen. Gesetz betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, in: Norddeutscher Bund (Hg.): Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1870, Bd. 4, S. 375–386. Zum Zusammenhang von Aktienrecht und Gründerkrise vgl. allgemein: Markus Baltzer: Spekulation als Anstoß für Kapitalmarktregulierung in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2013/2, S. 95–110; Ders.: Der Berliner Kapitalmarkt nach der Reichsgründung 1871. Gründerzeit, internationale Finanzmarktintegration und der Einfluss der Makroökonomie (Münsteraner Beiträge zur Cliometrie und quantitativen Wirtschaftsgeschichte 11). Berlin 2007; Carsten Burhop: Die Kreditbanken in der Gründerzeit (Schriftenreihe des Instituts für bankhistorische Forschung e. V. 21). Stuttgart 2004, S. 23 f.; Anja Weigt: Der deutsche Kapitalmarkt vor dem Ersten Weltkrieg. Gründerboom, Gründerkrise und Effizienz des deutschen Aktienmarktes bis 1914 (Schriftenreihe des Center for Financial Studies an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Monographien 21). Frankfurt a. M. 2005. Deutsches Reich: Gesetz betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, in: Deutsches Reich (Hg.): Reichsgesetzblatt für das Deutsche Reich, 1. Teil 1884, S. 123–170. Für einen allgemeinen Überblick über die Vorgeschichte des Aktiengesetzes von 1884 siehe: Werner Schubert / Peter Hommelhoff (Hg.): Hundert Jahre modernes Aktien-

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Offenlegungsverpflichtungen

trollrechte der Generalversammlung an den Aufsichtsrat und machte Vorstand und Aufsichtsrat stärker für ihr Handeln verantwortlich. Die Generalversammlung entschied nun über Satzungsänderungen sowie Kapitalerhöhungen, konnte die Ansätze in der Bilanz bemängeln und dem Vorstand die Entlastung verweigern. Außerdem bekamen Minderheitsaktionäre besondere Kontrollrechte zugesprochen, die es ihnen ermöglichten, ihre Interessen gegenüber der Unternehmensführung zu wahren. Um den Missbrauch dieser Rechte durch Spekulanten oder Konkurrenten zu verhindern, wurde die Ausübung des Minderheitenrechts allerdings an einige Bedingungen geknüpft – wie etwa Mindesthaltefristen von Aktien und Schadensersatzleistung bei böswilliger Schädigung der Gesellschaft. Weitere aktionärsfreundliche Maßnahmen stellten die Gewährung des Stimmrechts für jeden Aktionär und die Erleichterung der Teilnahme an der Generalversammlung dar. Schließlich wurden mit dem Gesetz von 1884 besondere Rechnungslegungsvorschriften eingeführt, die den Vorstand zwangen, das Unternehmen vorsichtig zu bewerten und einen Geschäftsbericht zu veröffentlichen, der die Aktionäre über Vermögenswerte und Geschäftsperspektiven des Unternehmens informieren sollte. Neu war auch die Verpflichtung zur Bestellung eines Aufsichtsrats, der den 1Vorstand in seiner Geschäftsführung zu kontrollieren Abbildung und die Bilanz zu prüfen hatte.21

SQ1937SQ1931 SQ1897 SQ1920s

SQ1884

SQ1870 Aktionärsschutz Abb. 1: Veränderung des Status quo des Aktionärsschutzes und der Offenlegungsverpflichtungen, 1870–1937 recht. Eine Sammlung von Texten und Quellen zur Aktienrechtsreform 1884 mit zwei Einführungen (Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Sonderheft 4). Berlin / New York 1985, S. 1–20. 21 In vielen Aktiengesellschaften existierten neben dem Vorstand bereits aus Großaktionären bestehende Verwaltungsräte, die die Unternehmenspolitik maßgeblich bestimmten.

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Die Reform des Handelsgesetzbuchs im Jahr 1897 vervollständigte schließlich das System der Unternehmenskontrolle im Kaiserreich.22 Wichtigste Neuerungen waren eine Ausweitung der Informationspflicht bezüglich wichtiger Generalversammlungsbeschlüsse, die Verpflichtung der Gesellschaft, den Aktionären im Vorfeld der Generalversammlung Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung (GuV) und Geschäftsbericht zuzusenden, sowie die Einführung von Gewinnverteilungsregeln zu Gunsten der Aktionäre.23 In den 1920er Jahren entfernte sich das gelebte Aktienrecht so stark von dem ursprünglichen Text des Handelsgesetzbuchs, dass man von einer „wilden“ Weiterentwicklung des Aktienrechts sprechen kann.24 Unternehmensjuristen schufen neue Rechtsfiguren, die der Leitung und den an ihr beteiligten Aktionären dabei halfen, die Teilnahme der freien Aktionäre an den strategischen Entscheidungen des Unternehmens zu verhindern.25 Zu diesen Rechtsfiguren zählten Vorzugsaktien, die bestimmten, der Unternehmensführung nahestehenden Aktionären Mehrstimmrechte gewährten.26 Im Gegenzug waren diese privilegierten Aktionäre vertraglich gebunden, ihre Stimmrechte im Interesse der Unternehmensleitung einzusetzen.27 Ergänzt wurde diese Rechtsfigur durch das Depotstimmrecht der Banken.28 Viele Banken 22 23 24

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27 28

Deutsches Reich: Handelsgesetzbuch vom 10.5.1897, in: Deutsches Reich (Hg.): Reichsgesetzblatt für das Deutsche Reich, 1. Teil 1897, S. 219–436. Das Handelsgesetzbuch trat am 1.1.1900 in Kraft. Dem Aufsichtsrat konnte nur dann eine Beteiligung am Jahresgewinn gewährt werden, wenn die Dividende der Aktionäre mindestens vier Prozent des Eigenkapitals betrug. Werner Schubert / Peter Hommelhoff / Wolfgang Schilling: Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik. Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats unter dem Vorsitz von Max Hachenburg. Berlin 1987, S. 25 f.; Gerald Spindler: Kriegsfolgen, Konzernbildung und Machtfrage als zentrale Aspekte der aktienrechtlichen Diskussion in der Weimarer Republik, in: Walter Bayer / Mathias Habersack (Hg.): Aktienrecht im Wandel. Tübingen 2007, S. 440–569, hier 445–448; Pross: Manager (wie Anm. 12), S. 76. Die Entfremdung der Rechtswirklichkeit vom geltenden Recht wurde auch von den Zeitgenossen so empfunden. Vgl. exemplarisch: Oswald von Nell-Breuning: Aktienreform und Moral: die sittliche Seite der Aktienrechtsreform (Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen 13). Berlin 1930, S. 1; Hans Planitz: Die Stimmrechtsaktie. Ein Beitrag zur Reform des Aktienrechts. Leipzig 1922, S. 3. Spindler: Kriegsfolgen (wie Anm. 24), S. 445–448; Knuth Wolfgang Nörr: Zur Entwicklung des Aktien- und Konzernrechts während der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 150 (1986), S. 155–181, hier 159 f. Vgl. allgemein die Zusammenfassung bei Spindler: Kriegsfolgen (wie Anm. 24), S. 454–460. Die Schaffung von Aktien mit Mehrstimmrechten war durch das Handelsgesetzbuch im Jahr 1897 möglich geworden. Trotzdem wurde sie vor der Hyperinflation im Jahr 1923 kaum genutzt. Prominente Ausnahme ist die Schaffung von Mehrstimmrechtsaktien durch die Hibernia AG im Übernahmestreit mit dem preußischen Staat. Siehe dazu: Dietmar Bleidick: Die HiberniaAffäre. Der Streit um den preußischen Staatsbergbau im Ruhrgebiet zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum 83). Bochum 1999, S. 188–281, insbesondere 229 f. u. 245–250. Die Bindung des Stimmrechts war eine genuine Erfindung der Weimarer Unternehmensjuristen. Carolin Fohlin: The History of Corporate Ownership and Control in Germany, in: Randall K. Morck (Hg.): A History of Corporate Governance Around the World. Family Business Groups to Professional Managers (A National Bureau of Economic Research Conference Report). Chicago 2007, S. 223–281, hier 254–256; Dies.: Finance Capitalism and Germany’s Rise to Indus-

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sicherten sich in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen das Recht zu, die Stimmrechte ihrer Kunden nach der Eröffnung eines Wertpapierdepots automatisch vertreten zu dürfen. In vielen Fällen wird vermutet, dass die Banken im Interesse der Leitung und der an der Leitung beteiligten Aktionäre abstimmten.29 Neben der Tatsache, dass die residualen Kontrollrechte der Generalversammlung in vielen Fällen faktisch der Unternehmensführung und den an der Leitung der Gesellschaft beteiligten Aktionären übertragen worden waren, enthielten Konzernabschlüsse und Geschäftsberichte in den 1920er Jahren deutlich weniger Informationen für Aktionäre als dies noch im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war.30 In Anbetracht mehrerer Bilanzierungsskandale31 zwischen 1929 und 1931, die zur Bankenkrise von 1931 beitrugen, führte die Reichsregierung mittels einer Notverordnung strenge Regelungen zu Bilanzierung und Berichtswesen ein.32 Im gleichen Zuge bestimmte die Notverordnung eine verpflichtende Bilanzprüfung durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer. Den Problemen, die von den Mehrstimmrechtsaktien und dem Depotstimmrecht der Banken ausgingen, nahm sich die Verordnung jedoch nicht an, sodass zwar die Offenlegungsvorschriften deutlich verbessert wurden, der Status quo des Aktionärsschutzes jedoch unverändert blieb. Mit dem Erlass der Notverordnung endeten auch die Bestrebungen der Ministerialbürokratie der Weimarer Republik, das Aktienrecht umfassend neu zu regeln.33 Eine solche Neukodifizierung konnte erst im „Dritten Reich“ verwirklicht werden. Das Aktiengesetz aus dem Jahr 1937 übernahm die strengen Offenlegungsvorschriften der Notverordnung von 1931.34 Gleichzeitig zementierte das Gesetz den Kontrollverlust der freien Aktionäre, indem die Generalversammlung nun auch formal entmachtet wurde – so wurde ihr unter anderem das Recht genommen, den Vorstand zu bestellen, Entscheidungen über die Geschäftsführung zu treffen, den Jahresabschluss zu beschließen und über die Gewinnverteilung zu verfügen. Stärkstes Gesellschaftsorgan war nun der Vorstand, der sich in der Leitung seiner Geschäfte am Wohl der Geselltrial Power (Studies in Macroeconomic History). Cambridge / New York 2007, S. 121 f.; Planitz: Stimmrechtsaktie (wie Anm. 24), S. 10–21. 29 Fohlin: Finance (wie Anm. 28), S. 134–144; Spindler: Kriegsfolgen (wie Anm. 24), S. 454–464. 30 Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der Deutschen Wirtschaft: Die innere Verflechtung der deutschen Wirtschaft (Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Allgemeine Wirtschaftsstruktur [I. Unterausschuß], 2. Arbeitsgruppe). Berlin 1930, S. 31–34; Planitz: Stimmrechtsaktie (wie Anm. 24), S. 20 f. 31 Am bekanntesten sind der Fall der Frankfurter Versicherungs AG (FAVAG) und der Nordwolle AG. Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning: Die externe Unternehmensprüfung in Deutschland vom 16. Jahrhundert bis zum Jahre 1931, in: VSWG 77 (1990), S. 1–28, hier 1, 25; Sylvia Engelke / Reni Maltschew: Weltwirtschaftskrise, Aktienskandale und Reaktionen des Gesetzgebers durch Notverordnungen im Jahr 1931, in: Walter Bayer / Mathias Habersack (Hg.): Aktienrecht im Wandel. Tübingen 2007, S. 570–618, hier 578 f. 32 Deutsches Reich: Verordnung des Reichspräsidenten über Aktienrecht, Bankenaufsicht und über die Steueramnestie, in: Deutsches Reich (Hg.): Reichsgesetzblatt für das Deutsche Reich, 1. Teil 1931, S. 493–509. 33 Vgl. Schubert/Hommelhoff/Schilling: Aktienrechtsreform (wie Anm. 24), S. 25–34. 34 Deutsches Reich: Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (Aktiengesetz), in: Deutsches Reich (Hg.): Reichsgesetzblatt für das Deutsche Reich, 1. Teil 1937, S. 107–165.

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schaft, der Belegschaft und des Reichs zu orientieren hatte. Die Aktionäre wurden in dem entsprechenden Paragraphen nicht erwähnt – andere Stakeholder waren den neuen Machthabern wichtiger.35 Insgesamt lassen sich für den Untersuchungszeitraum also drei verschiedene Systeme der Unternehmenskontrolle unterscheiden. Das System des Kaiserreichs war von einem immer weiter zunehmenden Aktionärsschutz geprägt, der sich deutlich rascher entwickelte als die Offenlegungsvorschriften. In den 1920er Jahren verschlechterten sich Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften rapide. Im letzteren Fall wurde diese Entwicklung im Jahr 1931 umgekehrt und erreichte danach ein deutlich höheres Niveau als im Kaiserreich. Der Aktionärsschutz folgte dieser Entwicklung jedoch nicht. Durch das Aktiengesetz von 1937 verloren die freien Aktionäre nun auch formal ihren schon in den 1920er Jahren unter das Niveau des späten 19. Jahrhunderts zurückgefallenen Einfluss auf die Aktiengesellschaft. III. DIE OPTIMALEN POLITIKPUNKTE DER VETO-SPIELER UND DIE ROLLE DES POLITISCHEN SYSTEMS In diesem Abschnitt soll gefragt werden, welche Bedeutung politische Institutionen für die Veränderung des Status quo gehabt haben. Dabei konzentriere ich mich auf zwei Dimensionen: Erstens: die Zahl der Veto-Spieler. Dahinter steht die theoretische Überlegung, dass eine Einigung mit zunehmender Zahl der Veto-Spieler immer schwieriger wird und damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich der gesetzliche Status quo kaum oder gar nicht verändert.36 Zweitens: Die Zuordnung von Agenda-Macht, d. h. die Möglichkeit, den anderen Veto-Spielern zuerst einen Verhandlungsvorschlag unterbreiten zu können, auf den diese dann reagieren müssen. Hat der Agenda-Setzer eine gewisse Vorstellung von den Präferenzen der anderen Spieler, kann er eine Verhandlungsstrategie wählen, die sicherstellt, dass das Verhandlungsergebnis den eigenen Wunschvorstellungen sehr nahe kommt.37 Auf der anderen Seite können aber auch die anderen Veto-Spieler das Verhandlungsergebnis maßgeblich beeinflussen, etwa wenn sie in der Lage sind, glaubhaft mit dem Abbruch der Verhandlungen zu drohen, oder überzeugende Argumente finden, die die anderen Spieler auf ihre Seite ziehen.38 Letzteres sollte umso einfacher sein, je früher ein Veto-Spieler in die Verhandlungen miteinbezogen wird.39 Denn zum einen erhöht sich mit der Zeit die Zahl der Verhandlungspartner, zum anderen wächst der Druck, den Gesetzgebungsprozess zu einem positiven Abschluss zu bringen. Die tatsächliche Agenda- bzw. Veto-Macht hängt daher auch von den Handlungsalternativen (Strategien) ab, auf die die Veto-Spieler zurückgreifen können, sowie von der Sequenz der Verhandlungen. 35 36 37 38 39

Siehe ebd., § 70. Tsebelis: Veto Players (wie Anm. 2), S. 24–26. Vgl. ebd., S. 35–37. Arthur Benz: Verhandlungen, in: Ders. u. a. (Hg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder. Wiesbaden 2007, S. 106–118, hier 107–111. Arthur Benz: Politik in Mehrebenensystemen (Lehrbuch 5). Wiesbaden 2009, S. 54.

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III.1. DIE ZAHL DER VETO-SPIELER UND DIE VERÄNDERUNG DES STATUS QUO Die Zahl der Veto-Spieler wurde durch die jeweilige, das politische System konstituierende Verfassung und Verfassungswirklichkeit bestimmt. Während im Deutschen Kaiserreich neben den preußischen Ministerien und der Reichsleitung auch Bundesrat und Reichstag eine politische Entscheidung verhindern konnten, ging die Bedeutung des Reichsrats in der Weimarer Republik zurück.40 Der Reichstag büßte seine Veto-Spieler-Funktion spätestens mit der Errichtung des durch die SPD parlamentarisch tolerierten Präsidialregimes Brünings vollständig ein.41 Als einziger starker Veto-Spieler blieb in der Weimarer Republik somit die Reichsregierung übrig. Der Kreis der Veto-Spieler verengte sich zwischen 1933 und 1937 noch einmal. Nach Ausschaltung des Reichsrats und der Verknüpfung des Amts des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in der Person Adolf Hitlers blieben neben Hitler, der sich aus dem Gesetzgebungsprozess heraushielt, einzig die Reichsministerien als miteinander konkurrierende Veto-Spieler erhalten.42 In Person des Stellvertreters des Führers, Rudolph Heß, war nun aber auch die NSDAP an der Entschei40

41 42

Ein guter Überblick über die politische Konstellation des Kaiserreichs findet sich bei Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie. München 1992, S. 85–108. Die Frage, ob der Reichstag im Kaiserreich als Veto-Spieler zu gelten hat, war lange Zeit in der Forschung umstritten. So betonen vor allem Michael Stürmer und Hans-Ulrich Wehler die Rolle Bismarcks und sprechen dem Reichstag einen Einfluss auf die deutsche Politik ab. Vgl. Michael Stürmer: Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871–1881. Cäsarismus oder Parlamentarismus (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 54). Düsseldorf 1974, und Hans Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich, 1871–1918 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1380). 7. Aufl., Göttingen 1994 (erstmals 1973). Meist neuere Arbeiten betonen dagegen verstärkt die Modernität des Kaiserreichs, in dem der Reichstag eine wichtige politische Rolle gespielt habe, auch wenn man nicht von einer Parlamentarisierung sprechen könne. Vgl. hierzu: Elisabeth Fehrenbach: Bonapartismus und Konservatismus in Bismarcks Politik, in: Karl Hammer / Claus Hartmann (Hg.): Der Bonapartismus. Historisches Phänomen und politischer Mythos (Francia, Beiheft 6). München 1977, S. 39–55; Lothar Gall: Bismarck und der Bonapartismus, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 618–637; Nipperdey: Deutsche Geschichte (wie oben), S. 101–106; Konrad von Zwehl: Zum Verhältnis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich (1871–1918), in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Regierung, Bürokratie und Parlament in Preussen und Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 73). Düsseldorf 1983, S. 90–116. Zum Bedeutungsrückgang des Reichsrats in der Weimarer Republik siehe: Hans Boldt: Die Weimarer Reichsverfassung, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans Adolf Jacobsen (Hg.): Die Weimarer Republik, 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 22). Düsseldorf 1987, S. 44–62, hier 50–57. Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Villingen 1971, S. 28–30; Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 16). 8., akt. u. erw. Aufl., München 2012, S. 181 f. Zum politischen System des „Dritten Reichs“ bis 1937/38 vgl.: Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung (DTV-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts). 15. Aufl., München 2000, S. 327 f., 349–359; Bernd Mertens: Rechtsetzung im Nationalsozialismus (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 62). Tübingen 2009, S. 20–32.

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dungsfindung der Reichsministerien beteiligt.43 Vergleicht man nun die Zahl der Veto-Spieler mit der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Verschiebung des Status quo, so fällt auf, dass die theoretische Annahme, eine große Zahl von Veto-Spielern erschwere eine Einigung und erlaube lediglich einen inkrementellen Wandel des Status quo oder führe zu einer Stagnation des politischen Wandels, für den deutschen Fall nicht zutrifft. Trotz einer im Vergleich zur Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ großen Zahl an Veto-Spielern verschob sich der Status quo im Jahr 1884 erheblich. Die Reformen von 1931 und 1937 führten auf der anderen Seite – verglichen mit dem Status quo der 1920er Jahre – trotz einer kleineren Zahl an Veto-Spielern lediglich zu einem geringen Wandel des Aktionärsschutzes.44 Die Reform des Jahres 1897 scheint die Theorie dagegen auf den ersten Blick zu bestätigen. Dass es in den 1890er Jahren nicht zu einem bedeutenden Wandel des Status quo kam, lag jedoch daran, dass der Agenda-Setzer das erst gut zehn Jahre alte Aktiengesetz im Zuge der Neuordnung des deutschen Handelsrechts nur in einigen Details verbessern wollte und nicht wie 1884 eine grundlegende Reform plante.45 Der hier beschriebene Widerspruch zwischen Theorie und empirischer Beobachtung löst sich auf, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass der von der Veto-Spieler Theorie postulierte Zusammenhang zwischen der Anzahl der VetoSpieler und der Wahrscheinlichkeit einer Änderung des Status Quo nur gilt, wenn bis auf die Anzahl der Veto-Spieler alle anderen Umweltbedingungen unverändert bleiben. Sobald jedoch, wie im Untersuchungszeitraum der Fall, die Verhandlungsmacht zwischen den Veto-Spielern unterschiedlich verteilt ist und sich die Konstellation der optimalen Politikpunkte der Veto-Spieler relativ zum Status quo verschiebt, ist diese Annahme verletzt. Eine genauere Analyse der Verhandlungen zwischen den Veto-Spielern ist daher unerlässlich.

43 Dieter Rebentisch: Innere Verwaltung, in: Kurt G. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus. Stuttgart 1985, S. 732–773, hier 739 f. 44 Auch wenn man berücksichtigt, dass 1931 die Offenlegungsvorschriften deutlich erhöht wurden, bleibt die Annahme, die Zahl der Veto-Spieler sei positiv mit politischer Stagnation korreliert, verletzt. 45 Vgl. die Begründung des Aktiengesetzes in: Bundesrat des Deutschen Reichs: Entwurf eines Gesetzes betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, in: Bundesrat des Deutschen Reichs (Hg.): Drucksachen zu den Verhandlungen des Bundesraths des Deutschen Reichs, Bd. 2 (Nr. 71–105). Berlin 1883, Nr. 74, hier S. 64. In der Begründung zum Entwurf des HGB von 1895 zeigte man sich dagegen sehr zufrieden mit dem Wirken des Gesetzes und sah keine Notwendigkeit, „grundlegende Änderungen am Systeme des geltenden Aktienrechts“ vorzunehmen. Siehe: Deutsches Reich: Begründung zu dem Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für das Deutsche Reich von 1895, in: Werner Schubert (Hg.): Quellen zum Handelsgesetzbuch von 1897, Bd. 2,1. Frankfurt a. M. 1987, S. 1–258, hier 105 f.

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III.2. OPTIMALE POLITIKPUNKTE, VERHANDLUNGEN UND VETOMACHT Der Zusammenhang von optimalen Politikpunkten der Veto-Spieler, der Verteilung von Vetomacht und der Veränderung des Status quo soll anhand der Gesetzgebungsprozesse 1882/84 und 1935/37 beispielhaft dargestellt werden. Diese beiden Gesetzgebungsverfahren wurden ausgewählt, da sie sich sowohl in der Zahl der beteiligten Veto-Spieler als auch in der Verteilung der Agenda-Macht deutlich unterschieden.46 Die optimalen Politikpunkte der Veto-Spieler lassen sich mit Hilfe der zahlreichen Gesetzentwürfe, den Begründungen zu diesen Entwürfen, den Änderungsanträgen von Reichstagsabgeordneten und Bundesratsbevollmächtigten, Protokollen kommissarischer Besprechungen zwischen dem Reich und den Ländern beziehungsweise den Reichsministerien sowie Schriftwechseln rekonstruieren. Die optimalen Politikpunkte der Veto-Spieler und der Wandel des Status quo im Jahr 1884 gegenüber dem Status quo des Jahres 1870 werden in Abbildung 2 dargestellt, wobei das Niveau des Aktionärsschutzes (der Offenlegungsstandards) wieder auf der horizontalen (vertikalen) Achse abgetragen ist. Die Agenda-Macht teilten sich das Preußische Ministerium für Handel und Gewerbe, das Preußische Justizministerium, das Reichsjustizamt und das Reichsamt des Inneren. Dabei legten die beiden preußischen Ministerien mit ihren Voten aus den Jahren 1873 und 1874 die Grundlinien der Gesetzgebung fest.47 Den beiden Reichsämtern fiel die Aufgabe der Ausarbeitung des Gesetzes nach den preußischen Vorgaben zu. Die optimalen Politikpunkte dieser vier Ressorts lagen nahe beieinander, so wurden in den Gesetzentwürfen der Reichsämter zahlreiche Anregungen der preußischen Ministerien aufgenommen.48 Auf der anderen Seite fanden Punkte, die von den preußischen Ministerien in ihren Gutachten nicht berücksichtigt und von den Reichsämtern eingebracht worden waren, die Zustimmung Preußens.49 In Abbildung 2 werden die Positionen der 46

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49

Der Gesetzgebungsprozess 1929/31 blieb dagegen unvollständig. Aufgrund der Bankenkrise war die Reichsregierung gezwungen, Teile des zweiten Gesetzentwurfs per Notverordnung in Kraft zu setzen. Danach ging der Entwurf dem vorläufigen Reichswirtschaftsrat zu. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die Pläne zu einer Reform des Aktienrechts zunächst auf Eis gelegt. Vgl. Werner Schubert: Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik (1926–1931). Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 21–25. Die beiden Gutachten vom 28.12.1873 (Handelsministerium) und 5.5.1874 (Justizministerium) finden sich in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: GStA PK) I. HA Rep. 120 Ministerium für Handel und Gewerbe, Abtl. A XII 5 Nr. 1 Bd. 7. Das Ergebnis der Gutachten fand Aufnahme in eine Ende 1876 an den Bundesrat gerichtete gemeinsame Denkschrift des preußischen Staatsministeriums. Die preußische Denkschrift findet sich in: Bundesarchiv Berlin (im Folgenden: BA) R 3001/2859. Dies wird deutlich, wenn man die Gutachten der beiden preußischen Ministerien mit den Gesetzentwürfen der Reichsämter von Juni und Dezember 1880 und Januar 1882 vergleicht. Die Entwürfe finden sich in: Schubert/Hommelhoff (Hg.): Hundert (wie Anm. 20). Die Originalentwürfe befinden sich in: BA R 3001/2859; R 3001/2860; R 3001/2861; R 3001/2862 und R 3001/2863. Vgl. das Protokoll der kommissarischen Besprechungen zwischen Preußen und dem Reich vom 2. und 3.7.1883, in: GStA PK I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 10446, und BA R 3001/2863.

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Offenlegungsverpflichtungen

vier Veto-Spieler daher vereinfachend in einem Punkt dargestellt.50 Der Vorschlag der Agenda-Setzer entsprach in seinen Grundlagen dem im vorangegangenen Abschnitt geschilderten Reformgesetz von 1884. In wichtigen Punkten ging er noch über das 1884 verabschiedete Gesetz hinaus. So war etwa die Ausübung von Minderheitenrechten an keine Bedingungen geknüpft, und der Reichskanzler sollte den Unternehmen Bilanzformulare vorschreiben können, die bei entsprechender Ausgestaltung zu einer Verbesserung der Transparenz und Vergleichbarkeit der Bilanzen beigetragen Abbildung hätten. 2

HAM DFP/NLP SQ1870

RT = SQ1884

DKP/DRP Z BR

Reichsleitung Preussen

BAY Aktionärsschutz

Abb. 2: Status quo des Gesetzes von 1870, optimale Politikpunkte der Veto-Spieler und Verhandlungsergebnis 1884 Anmerkung: SQ1870 = Status Quo des Jahres 1870, SQ1884 = Status Quo des Jahres 1884 / Verhandlungsergebnis, BAY = Präferenzen Bayerns, HAM = Präferenzen Hamburgs, BR = Präferenzen der Bundesratsmehrheit / Reichstagsvorlage, DFP = Deutsch Freisinnige Partei, NLP = Nationalliberale Partei, Z = Zentrum, DKP = Deutsch-Konservative Partei, DRP = Deutsche Reichspartei

Bei den beiden nachfolgenden Veto-Spielern, dem Bundesrat und dem Reichstag, lagen die optimalen Politikpunkte weiter auseinander.51 Während Bayern, das Zen50

Zwischen dem Reichsjustizamt und dem Reichsamt des Inneren lassen sich anhand des Schriftwechsels zwischen den Ressorts kleinere Meinungsverschiedenheiten nachweisen. Das Reichsamt des Inneren trat dabei für ein höheres Niveau des Aktionärsschutzes und strengere Offenlegungsvorschriften ein. Der Schriftwechsel findet sich in: BA R 3001/2860 und R 3001/2862. 51 Bezüglich des Bundesrats beschränkt sich die Analyse auf Bayern und Hamburg, die die Debatte innerhalb des Bundesrats maßgeblich mitgestalteten. Bezüglich des Reichstags kon-

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trum und die anderen konservativen Reichstagsparteien im Wesentlichen hinter den Vorschlägen der Agenda-Setzer standen und nur in einigen Punkten Nachbesserungen verlangten, traten die Hansestädte – allen voran Hamburg – und die liberalen Reichstagsparteien in Opposition zu den Regierungsvorschlägen.52 So sprach sich Bayern zwar für die Einführung einer Klausel aus, die die Minderheit bei einem böswilligen Missbrauch ihrer Rechte zu Schadensersatz verpflichtete; anders als Hamburg, das die Minderheitenrechte als unannehmbar kritisierte, stand der zweitmächtigste Staat des Kaiserreichs aber hinter dem Entwurf der Reichsleitung. Hamburg erzielte mit seiner radikalen Position keinen Erfolg, die Argumente Bayerns setzten sich dagegen durch. Der Standpunkt Hamburgs fand in den Positionen der Deutschen-Fortschrittspartei und der Nationalliberalen Partei seine Entsprechung im Reichstag. Hier setzten sich die Abgeordneten der liberalen Parteien zwar nicht für die Abschaffung der Minderheitenrechte ein; indem sie damit drohten, die Verhandlungen abzubrechen, konnten sie aber weitere Einschränkungen der Minderheitenrechte durchsetzen. So gelang es ihnen, das Minderheitenrecht auf Einsetzung einer Sonderkommission zur Überprüfung von Unregelmäßigkeiten bei der Geschäftsführung auf solche Fälle zu beschränken, die höchstens zwei Jahre zurücklagen. Zudem erreichten sie, dass Minderheitenrechte nur von Aktionären geltend gemacht werden konnten, die seit mindestens sechs Monaten im Besitz ihrer Aktien waren. Das hier skizzierte Beispiel zeigt, dass die Agenda-Macht der Reichsleitung und Preußens zwar recht groß war, daneben aber Veto-Spieler existierten, die aufgrund ihrer Bedeutung für das Reich (Bayern)53 beziehungsweise gestützt auf ihre große Fraktionsstärke im Reichstag – die liberalen Parteien hielten 1884 162 der 397 Sitze – ebenfalls faktisch Vetomacht besaßen.54 Es zeigt auch, dass der Reichstag durchaus in der Lage war, eine eigenständige politische Rolle zu spielen, und

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53 54

zentriert sich die Studie auf die fünf großen Parteien – die Deutsch-Freisinnige Partei, das Zentrum, die Deutschkonservative Partei, die Nationalliberale Partei und die Deutsche Reichspartei. Auf die bayrische Position lässt sich aus den Gutachten des bayrischen Innen- und Justizministeriums und den bayrischen Anträgen in den vereinigten Bundesratsausschüssen für Handel und Verkehr und für das Justizwesen schließen, wobei Letztere auch Positionen anderer Bundesmitglieder aufnahmen. Die Korrespondenz der bayrischen Ministerien findet sich in: Hauptstaatsarchiv München (im Folgenden: HStA München) MJu 17037. Die Anträge des bayrischen Bundesratsbevollmächtigten finden sich in: BA R 3001/2863. Auf die Position Hamburgs kann durch die Berichte der bayrischen Bundesratsbevollmächtigten (HStA München MJu 17037) sowie die Protokolle des Hamburger Senats geschlossen werden: Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden: StHa) 111–1 (Senat), Nr. 13855 (Cl. I, Lit. T, Nr. 9c, Vol. 6b, Fasc. 4a). Die Herleitung der optimalen Politikpunkte der Reichstagsparteien basiert auf Redebeiträgen von Abgeordneten während der ersten und zweiten Lesung des Gesetzes im Plenum sowie Anträgen und Diskussionsbeiträgen in der zur Vorbereitung der Reichstagssitzungen gebildeten Kommission. Die Sitzungsprotokolle befinden sich in Deutscher Reichstag (Hg.): Verhandlungen des Reichstags 1884. Die Protokolle der Reichstagskommission befinden sich in: BA R 101/797, sowie HStA München MJu 17038. Nipperdey bezeichnet Bayern als den „Vizehegemon des Reichs“. Siehe Nipperdey: Deutsche Geschichte (wie Anm. 40), S. 91. Vgl. Gerhard Albert Ritter / Merith Niehuss: Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871–1918 (Beck’sche Elementarbücher). München 1980, S. 39.

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Offenlegungsverpflichtungen

unterstützt so die Ergebnisse der neueren Literatur, die älteren Interpretationen des Reichstags als reinem Akklamationsorgan widersprechen.55 Die optimalen Politikpunkte der Veto-Spieler und der Wandel des Status quo im Jahr 1937 gegenüber dem Status quo der 1920er Jahre werden in Abbildung 3 dargestellt. Anders als im Kaiserreich besaß im „Dritten Reich“ nur das Reichsjustizministerium (RJM in Abb. 3) Agenda-Macht. Der Entscheidungsvorschlag des Reichsjustizministeriums vom Mai/Juni 1935 sah vor, die Stellung des Vorstandsvorsitzenden in der Aktiengesellschaft zu stärken.56 Gemäß dem Führerprinzip sollte dem Vorstandsvorsitzenden ein alleiniges Entscheidungsrecht gewährt werden und die Kontrollrechte der Aktionäre an den Vorstand übertragen werden.57 Darüber hinaus Abbildung sah der Entwurf vor, dem Vorstand ein besonderes Stimmrecht in 3 Höhe von 20 Prozent der auf der Generalversammlung – jetzt Hauptversammlung

RJM, MinH

SQ1937 SQ1931= RWM, RIM SQ1920s

Aktionärsschutz Abb. 3: Status quo der 1920er Jahre, optimale Politikpunkte der Veto-Spieler und Verhandlungsergebnis von 1937 Anmerkung: SQ1920s = Status Quo der 1920er Jahre, SQ1931 = Status Quo nach Erlass der Notverordnung im September 1931, SQ1937 = Status Quo des Aktiengesetzes von 1937, RJM = Reichsjustizministerium, MinH = Ministerium Heß (NSDAP), RWM = Reichswirtschaftsministerium, RIM = Reichsinnenministerium

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Vgl. Anm. 40. Der maschinenschriftliche Entwurf findet sich in: BA R 3001/20541. Dazu gehörten das alleinige Recht auf die Führung der Geschäfte (§ 101 E 1 1935), die Feststellung von Bilanz und GuV sowie die Gewinnverteilung (§ 124 E 1 1935) – alles Rechte, die bisher in den Händen der Generalversammlung und damit der Aktionäre gelegen hatten.

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genannt – vertretenen Stimmen zu gewähren. Im Gegenzug sollte das Mehrstimmrecht fallen und das Depotstimmrecht der Banken eingeschränkt werden. Das Reichwirtschaftsministerium (RWM in Abb. 3) lehnte das Führerprinzip, das Vorstandsstimmrecht und die Einschränkungen beim Depotstimmrecht der Banken ab.58 Auf der anderen Seite wollte es das Mehrstimmrecht nicht abschaffen. In seinem Eintreten für den Erhalt des mit der Notverordnung 1931 geschaffenen Status quo wurde das Reichswirtschaftsministerium durch das Reichsinnenministerium unterstützt.59 In den folgenden Verhandlungen zwischen dem Reichsjustizministerium und dem Reichswirtschaftsministerium gelang es Letzterem, das Führerprinzip aufzuweichen und das Vorstandsstimmrecht zu verhindern.60 Im Gegenzug blieb das Mehrstimmrecht erhalten. Entgegen anders lautender Verordnungen blieb das Ministerium Heß von den Verhandlungen der Fachministerien ausgeschlossen und wurde erst nach Fertigstellung des zweiten Entwurfs eingebunden.61 Es trat gegenüber dem Reichsjustizministerium unter anderem für eine rigorose Wiedereinführung des Führerprinzips ein, konnte sich in diesem Punkt gegenüber den Fachministerien aber nicht durchsetzen.62 Der zweite Entwurf aus dem Frühjahr 1936 wurde somit fast ohne Änderungen Anfang 1937 Gesetz.63 Vergleicht man die beiden hier skizzierten, auf ihre wesentlichen Streitpunkte reduzierten Verhandlungen zwischen den Veto-Spielern, fällt die unterschiedliche Verteilung von Vetomacht auf. So konnten die Agenda-Setzer im Kaiserreich einen größeren Teil ihres Programms umsetzen als dies dem Reichsjustizministerium 1935/37 gelang. Entsprechend muss die Vetomacht des Reichswirtschaftsministeriums als etwas größer als die Bayerns und der liberalen Reichstagsparteien im Kaiserreich eingeschätzt werden. Auffallend ist die geringe Vetomacht des Ministeriums Heß. Dies mag einmal in der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit von Heß

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Die Position des Reichsjustizministeriums ist gut aus den Stellungnahmen von Ministeriumsvertretern ersichtlich, die diese während der kommissarischen Besprechungen des ersten Entwurfs im Reichsjustizministerium am 8.10.1935 getätigt haben. Das Protokoll der Besprechung findet sich in: BA R 3001/10228. Siehe ebenfalls das Protokoll der kommissarischen Besprechungen vom 8.10.1935 in: BA R 3001/10228. Die Schriftwechsel finden sich in: BA R 3001/10228 und R 3001/10229. In einem Schreiben vom 27.7.1934 an die Reichsminister ordnete Hitler an, dass dem Ministerium des Stellvertreters des Führers in allen Gesetzesangelegenheiten der Status eines beteiligten Reichsministeriums zukommen sollte. Entsprechend der gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichsministerien musste das Ministerium Heß daher bereits in der Entwurfsphase in die Verhandlungen der Reichsministerien eingebunden werden. Siehe: Dokument Nr. 380, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Akten der Reichskanzler: Die Regierung Hitler, Bd. 1: 1933/34. Boppard a. Rhein 1983, S. 1381 f.; Deutsches Reich: Gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien. Besonderer Teil. Berlin 1927, § 26. Die Schriftwechsel finden sich in: BA R 3001/10229. Der zweite Entwurf findet sich in: BA R 3001/20542. Das Aktiengesetz wurde am 30.1.1937 vom Reichskabinett verabschiedet und trat am selben Tag in Kraft. Siehe: Deutsches Reich: Gesetz (wie Anm. 20).

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begründet gewesen sein.64 Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass die Fachminister in den ersten Jahren der NS-Diktatur versuchten, die Parteigremien möglichst von ihrem Machtbereich fernzuhalten.65 Die späte Einbindung des Ministeriums Heß in die Verhandlungen lässt sich daher auch als bewusste Strategie der Fachressorts interpretieren, um den Einfluss der NSDAP auf die (Fach-)Gesetzgebung zu minimieren. In diesem Abschnitt konnte gezeigt werden, dass die Verhandlungsergebnisse der Gesetzgebungsprozesse von 1882/84 und 1935/37 stärker von der faktischen Verteilung von Vetomacht und weniger von der Zahl der Veto-Spieler abhingen. Ob das Verhandlungsergebnis eine deutliche Änderung zum Status quo aufwies, wie dies für den Aktionärsschutz etwa 1884 der Fall war, oder ob sich Verhandlungsergebnis und Status quo nicht sonderlich stark voneinander unterschieden, wie dies für 1937 festgestellt werden konnte, hing nicht allein davon ab, welche Veto-Spieler sich in den Verhandlungen durchsetzen konnten. Die Wahl der optimalen Politikpunkte spielte hier ebenfalls eine Rolle. Im 19. Jahrhundert sprachen sich Preußen und die Reichsämter beispielsweise für einen im Vergleich mit dem Status quo deutlich höheren Aktionärsschutz aus. In den Verhandlungen 1935/37 präferierte dagegen ein Teil der Veto-Spieler den Erhalt des Status quo der 1920er Jahre, während der andere Teil für einen Abbau des Aktionärsschutzes eintrat. Daher soll im folgenden Abschnitt geklärt werden, wie die Veto-Spieler ihre optimalen Politikpunkte wählten. IV. INTERESSENGRUPPEN UND IHRE INTERAKTION MIT DEN VETO-SPIELERN Das Zusammenspiel zwischen Interessengruppen und politischen Entscheidungsträgern wurde bereits aus vielen Blickwinkeln analysiert. Während sich Sozialwissenschaftler auf die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Gruppen konzentriert haben, standen in der historischen Forschung Verbände und Vereine im Vordergrund des empirischen Interesses.66 Zwei, aufgrund ihrer besonderen Expertise wichtige Gruppen wurden dabei kaum behandelt: Vertreter von Universalbanken und juristische Experten.67 Andere Gruppen, die im Fokus der Sozialwissenschaften standen, z. B. freie Aktionäre und Arbeitnehmervertreter, hatten hingegen nur einen geringen Einfluss auf die Entscheidungen der Veto-Spieler. 64 65 66 67

Vgl. Broszat: Staat (wie Anm. 42), S. 311 f., und Christopher Kopper: Hjalmar Schacht. Aufstieg und Fall von Hitlers mächtigstem Bankier. München 2006, S. 265. Vgl. Mertens: Rechtsetzung (wie Anm. 42), S. 37, und Rebentisch: Innere Verwaltung (wie Anm. 43), S. 739 f. Vgl. Anm. 5–8. Schreiben unterschiedlicher Interessengruppen finden sich in folgenden Akten: Für das Kaiserreich siehe: BA R 3001/2865; R 3001/2866; R 101/5121; R 3001/2867 und R 1501/100006. Für die Weimarer Republik siehe: BA R 3001/2932; R 3001/2933; R 3001/2938; R 3001/2939; R 3001/2943; R 3001/3007 bis 3001/3021 und R 3101/17540. Für die Weimarer Republik und das „Dritte Reich“ siehe: BA R 3001/2934 und R 3101/17541. Für das „Dritte Reich“ siehe: BA R 3101/17542.

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Gemessen an ihrem Engagement und der Fähigkeit, die Präferenzen der VetoSpieler zu beeinflussen, waren Banken, an der Leitung beteiligte Aktionäre und juristische Experten die einflussreichsten Gruppen. In den meisten Fällen agierten sie mithilfe von Interessenverbänden. Im politischen System des Deutschen Kaiserreichs nutzten die beiden erst genannten Gruppen insbesondere die Handelskammern und den Deutschen Handelskammertag (DHT) für ihre Zwecke.68 So lässt sich beispielsweise der Einfluss der bayrischen Handelskammern auf die bayrische Position in den Bundesratsverhandlungen sehr gut nachweisen. Die vorsichtige Kritik der Handelskammern an den im Bundesratsentwurf vorgesehenen unbeschränkten Minderheitenrechten und die Empfehlung der Kammern, diese in einigen Punkten wieder einzuschränken, wurden durch das für Handel und Gewerbe zuständige Referat des bayrischen Innenministeriums teilweise aufgenommen und fanden sich auch in den bayrischen Anträgen im Bundesrat wieder.69 Das Ministerium stand den Vorschlägen der Handelskammern aber durchaus kritisch gegenüber. So sah es das Fachressort als nicht unbedingt „zwingend“ an, auf die Vorschläge der Handelskammern einzugehen. Im Falle Hamburgs war der Einfluss der Handelskammern ungleich größer. So übernahm die Deputation für Handel und Schifffahrt die Argumentation der Hamburger Handelskammer, die die Minderheitenrechte des Entwurfs für unannehmbar hielt.70 Die kritische Haltung der Handelskammern und des Deutschen Handelstags zu den Minderheitenrechten wurde auch von den liberalen Reichstagsabgeordneten rezipiert.71 Zwar lassen sich hier keine Eingaben an einzelne Abgeordnete nachweisen, die Argumentationsmuster der Kammergutachten und Redebeiträge auf der Vollversammlung des DHT glichen aber denen der Reichstagsabgeordneten.72 In der Regel wurde dabei vor der Gefahr des Missbrauchs der Minderheitenrechte durch Konkurrenten und Spekulanten gewarnt, die die Minderheitenrechte nutzen könnten, um mit Hilfe falscher Anschuldigungen und Prozesse den Aktienwert des Unternehmens zu vernichten, um es günstig zu übernehmen, auszuschalten oder durch entsprechende Gegengeschäfte Gewinne einzustreichen. Der relativ große Einfluss der Handelskammern auf Bundesrat und Reichstag kann durch ihren privilegierten Zugang zu den Veto-Spielern erklärt wer68

Der CDI und der Langnamverein, die beide einen großen Einfluss auf die Zollgesetzgebung hatten, hielten sich in Fragen der Aktienrechtsreform dagegen zurück. Zur Rolle der beiden Verbände in der Zollgesetzgebung siehe: Cornelius Torp: Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland, 1860–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 168). Göttingen 2005. 69 Siehe die Stellungnahme der Fachabteilung für Handel, Gewerbe und Landwirtschaft im bayrischen Staatsministerium des Inneren vom 15.2.1884, in: HStA München MJu 17037. Die bayrischen Änderungsanträge finden sich in: BA R 3001/2863. 70 Das Gutachten der Hamburger Handelskammer vom Januar 1884 findet sich in: BA R 3001/2867. Die Stellungnahme der Deputation für Handel und Schifffahrt aus dem Februar 1884 findet sich in: StHa 111-1 (Senat), Nr. 13855 (Cl. I, Lit. T, Nr. 9c, Vol. 6b, Fasc. 4a). 71 Die Kammergutachten sowie die stenographischen Protokolle der Vollversammlung des Deutschen Handelskammertags vom 2. und 3.4.1884 finden sich in: BA R 3001/2867. 72 Vgl. insbesondere die Argumentation der Abgeordneten Horwitz (Fortschritt) und Büsing (Nationalliberal) während der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 24.3.1884, in: Deutscher Reichstag: Verhandlungen (wie Anm. 52).

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den. Im Vorfeld der Bundesratsverhandlungen holten die Bundesstaaten die Expertenmeinung der Kammern zu dem vorliegenden Entwurf der Agenda-Setzer ein. Die Argumente der Handelskammern fanden so Eingang in die Argumentation der Ministerialbürokratie. Im Reichstag waren einige Interessengruppen sogar direkt vertreten. So beteiligten sich mehrere Mitglieder der Berliner Kaufmannschaft – die vor allem die großen D-Banken vertrat – an den die Plenumsberatungen vorbereitenden Sitzungen der Reichstagskommission.73 Nach 1924 verloren die Handelskammern ihre einflussreiche Rolle. Dies lag an einer Änderung der gemeinsamen Geschäftsordnung der Reichsministerien, die die Ministerien verpflichtete, nur noch mit reichsweit organisierten Verbänden zu kommunizieren.74 Diese sollten bereits recht früh zu den Beratungen der Reichsministerien hinzugezogen werden. Zu den so privilegierten Verbänden gehörten der Centralverband des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes, der Reichsverband der Deutschen Industrie und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. So gelang es den Verbänden, die vollständige Abschaffung von Mehrstimmrechtsaktien zu verhindern und das Depotstimmrecht der Banken zu erhalten.75 Dagegen schafften sie es nicht, die Einführung der Pflichtprüfung zu verhindern.76 Nach 1933 wurde die traditionelle Organisation der deutschen Industrie und des deutschen Finanzwesens aufgelöst und in Reichsgruppen neu organisiert.77 Die Reichsgruppen sollten dem nationalsozialistischen Staat den Zugriff auf die Wirtschaft erleichtern. 73

Die Liste der Kommissionsteilnehmer findet sich in: BA R 101/797. Die Zuordnung der Kommissionsteilnehmer zur Berliner Kaufmannschaft wurde vorgenommen anhand von: Christof Biggeleben: Das Bollwerk des Bürgertums. Die Berliner Kaufmannschaft 1870–1920 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 17). München 2006, S. 181–183. Zu den D-Banken zählten die Deutsche Bank, die Danatbank, die Dresdner Bank und die DiscontoGesellschaft. 74 Deutsches Reich: Gemeinsame Geschäftsordnung (wie Anm. 61), § 27. Die gemeinsame Geschäftsordnung der Reichsministerien trat am 1.8.1924 in Kraft. 75 Vgl. die Antworten der drei Verbände auf den Fragebogen des Reichsjustizministeriums, abgedruckt in: Schubert: Quellen (wie Anm. 46), sowie die Stellungnahmen der Verbände zu den Entwürfen der Reichsregierung in: BA R 3001/2943. Regelungen zum Stimmrecht fanden keine Aufnahme in die Notverordnung von 1931; die Entwürfe von 1930 und 1931 behielten jedoch mit Einschränkungen das Mehrstimmrecht bei und akzeptierten das Depotstimmrecht der Banken. Die Gesetzentwürfe finden sich in Schubert: Quellen (wie Anm. 46), S. 847–927 (E 1 1930) und Schubert/Hommelhoff/Schilling: Aktienrechtsreform (wie Anm. 24), S. 849– 902 (E 2 1931). 76 Dem RDI gelang es allerdings, die Inkraftsetzung einiger Offenlegungsvorschriften der Notverordnung um ein knappes Jahr zu verzögern. Siehe das Protokoll der Kabinettssitzung vom 19.9.1931, in: BA R 43-I/1082. Zum verspäteten Inkrafttreten der betreffenden Offenlegungsvorschriften siehe: Süddeutsche Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft: Kleine Aktienrechtsreform (Notverordnung vom 19. September 1931). Mannheim o. J., S. 12. 77 Für einen Überblick über die Organisation der Industrie vgl. Daniela Kahn: Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie (Europa der Diktatur 12). Frankfurt a. M. 2006, S. 205–208. Die Organisation des Verbandswesens im „Dritten Reich“ ist noch vergleichsweise wenig erforscht. Vgl. Harold James: Verbandspolitik im Nationalsozialismus. Von der Interessenvertretung zur Wirtschaftsgruppe. Der Centralverband des deutschen Bank- und Bankiergewerbes, 1932–1945. München 2001.

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Folglich verloren die Verbände an Einfluss. Einzelne Unternehmer und Bankiers waren allerdings im aktienrechtlichen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht vertreten, die als Beratergremium des Reichsjustizministeriums erste Vorschläge über eine Reform des Aktienrechts ausgearbeitet hat.78 Neben in die Führung der Geschäfte eingebundenen Unternehmeraktionären und Bankiers stellten juristische Experten die zweite einflussreiche Gruppe dar. Diese war sehr heterogen; während im Deutschen Kaiserreich Anwälte, Beamte, Rechtswissenschaftler und Richter dominierten, wurden in der Zeit der Weimarer Republik Firmenanwälte immer wichtiger. Nach 1933 verließen viele jüdischstämmige Experten Deutschland, wodurch die Gruppe auf Firmenanwälte und nationalsozialistische Ideologen reduziert wurde. Neben der Veröffentlichung von (wissenschaftlichen) Artikeln, Büchern und Gutachten übten diese juristischen Experten im Kaiserreich ihren Einfluss durch den Deutschen Juristentag aus. Der Juristentag fungierte dabei als eine Art Katalysator, der die vielen unterschiedlichen Reformvorschläge bündelte und der Gesetzgebung wichtige Impulse gab.79 So ging beispielsweise die Ausgestaltung der Minderheitenrechte in den Entwürfen der Reichsämter auf Anregungen der Juristentage von 1873 und 1880 zurück.80 In der Weimarer Republik nahmen mehr und mehr Firmenanwälte an den Juristentagen teil. Diese Anwälte verteidigten auf den Tagungen von 1924 und 1926 die von ihnen geschaffenen Rechtsfiguren.81 Auch in Offenlegungsfragen gab sich die Kommission des Juristentags sehr zurückhaltend und verzichtete darauf, weitgehende gesetzgeberische Maßnahmen vorzuschlagen. Kritische Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer sammelten sich daher in der Vereinigung für Aktienrecht. Unter der Führung des Berliner Handelsrechtlers Arthur Nußbaum gab sie eine Schriftenreihe heraus, deren Autoren sich für eine Reform des Aktienrechts einsetzten.82 Bei den Beiträgen handelte es sich oft um gedruckte Vorträge, die auf von 78

Zur Zusammensetzung des aktienrechtlichen Ausschusses vgl. Johannes Bähr: Unternehmensund Kapitalmarktrecht im „Dritten Reich“: Die Aktienrechtsreform und das Anleihestockgesetz, in: Ders. / Ralf Banken (Hg.): Wirtschaftssteuerung durch Recht im Nationalsozialismus. Studien zur Entwicklung des Wirtschaftsrechts im Interventionsstaat des „Dritten Reichs“ (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 199 / Das Europa der Diktatur 9). Frankfurt a. M. 2006, S. 35–69, hier 45–48. Siehe auch: Werner Schubert / Werner Schmid / Jürgen Regge: Akademie für Deutsches Recht, 1933–1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. 1: Ausschuß für Aktienrecht (Akademie für Deutsches Recht, 1933–1945 1). Berlin 1986. 79 Jan Lieder: Reformbestrebungen im Vorfeld der 2. Aktienrechtsnovelle von 1884. 11. DJT (1873) und 15. DJT (1880), in: Bayer (Hg.): Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht (wie Anm. 8), S. 59–115, hier 112 f. 80 Ebd., S. 89–112. 81 So sprach sich die Mehrheit der vom Juristentag eingesetzten Kommission in ihrem Abschlussbericht für die Beibehaltung des Mehrstimmrechts und des Depotstimmrechts der Banken aus. Siehe den Abschlussbericht der Kommission in: Schubert: Quellen (wie Anm. 46), S. 159–206. 82 Vgl. exemplarisch: Paul Gieseke: Das Aktienstimmrecht der Banken: Depotaktie und Legitimationsübertragung (Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen 2). Berlin 1926; Wilhelm Voß: Die obligatorische Revision im Rahmen der Reform des Aktienrechts (Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen 4). Berlin 1927; Arthur Nussbaum: Aktionär und Verwaltung: mit einem Anhang: Dokumente der Aktienrechtsreform (Gesellschaftsrechtliche Abhandlungen 8). Berlin 1928.

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der Vereinigung organisierte Vortragsabende zurückgingen. Die Forderungen der Vereinigung nach einer Beschränkung des Mehrstimmrechts83 und der Einführung einer Pflichtprüfung der Bilanz84 fanden dann auch Eingang in die Entwürfe des Reichsjustizministeriums. Wie im Fall der Unternehmeraktionäre und der Banken verloren auch die Juristen im „Dritten Reich“ an Einfluss. Viele bedeutende Handelsrechtler wurden in die Emigration getrieben.85 Juristen waren allerdings neben Bankiers, Unternehmern und nationalsozialistischen Ideologen ebenfalls im aktienrechtlichen Ausschuss der Akademie für Deutsches Recht vertreten.86 Mit seinen erfolgreichen Vorschlägen zur Schaffung eines Vorstandsstimmrechts, der Einschränkung des Depotstimmrechts der Banken und der Stärkung des Vorstands zu Lasten der Generalversammlung übte der Ausschuss sicherlich den größten Einfluss auf die optimalen Politikpunkte der Veto-Spieler im „Dritten Reich“ aus.87 Das hier skizzierte Zusammenspiel von Interessengruppen und Veto-Spielern zeigt zweierlei: Zum einen beeinflusste das politische System die Organisation von Interessengruppen. Dies ist für das „Dritte Reich“ am offensichtlichsten; aber auch der Bedeutungsverlust der Handelskammern nach 1924 lässt sich auf den Wandel politischer Institutionen zurückführen. Gleichzeitig bestimmten politische Institutionen so auch die Einflussmöglichkeiten unterschiedlicher sozialer Gruppen. Zum anderen wird deutlich, dass es keine Gruppe gab, die einen ausschließlichen Einfluss auf die Veto-Spieler geltend machen konnte. Zwar hatten Unternehmeraktionäre und Banken bis in die Weimarer Republik hinein einen privilegierten Zugang zu den Veto-Spielern. Andere Gruppen – allen voran juristische Experten – fanden mit ihren Argumenten jedoch ebenfalls Gehör. Indem sich diese Gruppe in der Regel für einen Ausbau von Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften aussprach, kompensierte sie das Fehlen einer starken Interessenvertretung der freien Aktionäre. V. FAZIT Das hier vorgestellte Projekt zielt darauf ab, Gesetzesänderungen hinsichtlich Aktionärsschutz und Offenlegungsvorschriften in Deutschland zwischen 1870 und 1937 durch das politische System und die Präferenzen der Veto-Spieler zu erklären. Die skizzierten Ergebnisse zeigen, dass die durch politische Institutionen mitbestimmte Verteilung von Vetomacht sowie die Position der Präferenzen der Veto-Spieler bezüglich des Status quo wichtige Erklärungsvariablen sind. Politische Institutionen 83 Nussbaum: Aktionär (wie Anm. 82). 84 Voß: Obligatorische Revision (wie Anm. 82). 85 Vgl. die Kurzbiographien in: Schubert/Hommelhoff/Schilling: Aktienrechtsreform (wie Anm. 24). 86 Siehe die Kurzbiographien der Mitglieder des Ausschusses in: Schubert/Schmid/Regge: Akademie (wie Anm. 78). 87 Vgl. die Berichte des Ausschussvorsitzenden aus den Jahren 1934 und 1935, in: Ebd., S. 471– 518.

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prägten zudem die Art und Weise, in der Interessen organisiert wurden, sowie die relative Macht der Interessenverbände, die in den Entscheidungsprozess involviert waren. Folglich beeinflussten politische Institutionen die Bildung wirtschaftlicher Institutionen, die wiederum eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands spielten.

PERSISTENZ IM SCHUMPETERSCHEN WETTBEWERB Jochen Streb, Mannheim EINLEITUNG Technischer Fortschritt wird gemeinhin mit wirtschaftlichen Strukturbrüchen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, mit großer Unsicherheit und manchmal sogar mit Zukunftsangst oder Chaos assoziiert. Prägend wirkte hierbei sicherlich das von Joseph Alois Schumpeter popularisierte Bild der schöpferischen Zerstörung. Im Jahr 1942 formulierte er: „Die Eröffnung neuer, fremder oder einheimischer Märkte und die organisatorische Entwicklung vom Handwerksbetrieb und der Fabrik zu solchen Konzernen wie den U. S. Steel illustrieren den gleichen Prozess einer industriellen Mutation – wenn ich diesen biologischen Ausdruck verwenden darf –, der unaufhörlich die Wirtschaftsstruktur von innen heraus revolutioniert, unaufhörlich die alte Struktur zerstört und unaufhörlich eine neue schafft. Dieser Prozess der ‚schöpferischen Zerstörung‘ ist das für den Kapitalismus wesentliche Faktum.“1 Oftmals übersehen wird hingegen, dass der von Schumpeter so eindrücklich beschriebene Innovationswettbewerb der kapitalistischen Unternehmen auch mit verblüffend persistenten Strukturen einhergeht. So sind (nicht erst) seit Beginn der Industrialisierung Innovationen2 sehr ungleich über Nationen, Regionen und Unternehmen verteilt, und, was vielleicht noch überraschender ist, viele der frühen Innovatoren waren offensichtlich in der Lage, ihre dominierende Stellung über lange Zeiträume hinweg zu verteidigen. Dieser Beitrag widmet sich dieser Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb zunächst aus einer beschreibenden und dann aus einer erklärenden Perspektive. Als empirischer Maßstab für Innovationskraft werden Patentstatistiken herangezogen, deren Vorzüge und Nachteile deshalb in einem ersten Abschnitt einleitend diskutiert werden. Danach wird anhand einiger Beispiele gezeigt werden, dass sich Volkswirtschaften, Regionen und vor allem Unternehmen in der Tat in einige wenige innovative und viele nicht-innovative unterteilen lassen. Im dritten Abschnitt wird schließlich der Versuch unternommen, diesen empirischen Befund zu erklären. Hierzu wird

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Joseph Alois Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (Uni-Taschenbücher 172). 4. Aufl., München 1975 (Erstveröffentlichung: Capitalism, Socialism and Democracy. New York 1942), S. 137 f. Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs der Innovation vgl. Mark Spoerer / Jörg Baten / Jochen Streb: Wissenschaftlicher Standort, Quellen und Potentiale der Innovationsgeschichte, in: Rolf Walter (Hg.): Innovationsgeschichte. Erträge der 21. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 30. März bis 2. April 2005 in Regensburg (VSWG, Beiheft 188). Stuttgart 2007, S. 39–59.

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ein Modell pfadabhängiger Innovationsfähigkeit generiert und am Beispiel der Entwicklung der deutschen Synthesefarbenindustrie überprüft. PATENTE ALS INNOVATIONSINDIKATOREN Um die Innovationskraft verschiedener Untersuchungseinheiten miteinander vergleichen zu können, greifen quantitativ arbeitende Wirtschaftshistoriker in aller Regel auf Patentstatistiken zurück. Dabei gilt es zunächst, zwischen Statistiken über die beim zuständigen Patentamt angemeldeten Patente und Statistiken über die vom Patentamt tatsächlich gewährten Patente zu unterscheiden. Angemeldete Patente sind eine Maßzahl für diejenigen Innovationen, die der Anmelder als neu und potentiell profitabel einschätzt. Gewährte Patente beschreiben hingegen nur diejenige Teilmenge angemeldeter Patente, die auch vor dem kritischen Blick der Experten des Patentamts bestehen konnte. Insbesondere dann, wenn ein nationales Patentgesetz eine rigorose technische Prüfung der angemeldeten Patente voraussetzt, wie das beispielsweise im deutschen Kaiserreich der Fall war, können sich beide Statistiken stark voneinander unterscheiden. So zeigen beispielsweise Carsten Burhop und Nikolaus Wolf, dass vor dem Ersten Weltkrieg nur etwa 40 Prozent aller angemeldeten Patente die technische Prüfung durch das kaiserliche Patentamt überstanden.3 Die naheliegende Schlussfolgerung, bei allen Vergleichen über Zeit und Raum ausschließlich eine der beiden Patentstatistiken zu benutzen, greift noch zu kurz. Zusätzlich muss man berücksichtigen, dass die jeweilige rechtliche Ausgestaltung eines nationalen Patentgesetzes maßgeblich Einfluss auf Umfang und Struktur der Patentstatistiken nimmt. Beispielsweise werden Patentsysteme mit reinem Anmeldeverfahren, wie etwa jenes der USA im 19. Jahrhundert, das keine technische Prüfung der angemeldeten Patente vorsah, unter sonst gleichen Bedingungen eine größere Zahl gewährter Patente aufweisen als Patentsysteme mit mehr oder minder strengem Prüfungsverfahren.4 Auch ist zu erwarten, dass Systeme mit niedrigen Gebühren mit insgesamt mehr (angemeldeten und gewährten) Patenten und vor allem mit mehr Patenten privater Erfinder mit geringen finanziellen Reserven einhergehen werden als Systeme mit hohen Gebühren.5 Ohne detaillierte Kenntnisse über die rechtlichen Bestimmungen der betrachteten nationalen Patentsysteme können internationale Vergleiche nationaler Patentstatistiken deshalb schnell in die Irre führen.6 3 4

5 6

Vgl. Carsten Burhop / Nikolaus Wolf: The German Market for Patents during the ‚Second Industrialization‘, 1884–1913: a Gravity Approach, in: Business History Review 87 (2013), S. 69–93. Vgl. Zorina Khan: Selling Ideas: an International Perspective on Patenting and Markets for Technological Innovations, 1790–1930, in: Business History Review 87 (2013), S. 39–68; Petra Moser: Patents and Innovations: Evidence from Economic History, in: Journal of Economic Perspectives 27 (2013), S. 23–44. Vgl. Tom Nicholas: Cheaper Patents, in: Research Policy 40 (2011), S. 325–339. Zur Entwicklung des deutschen Patentrechts vgl. Martin Otto / Diethelm Klippel (Hg.): Geschichte des deutschen Patentrechts (Geistiges Eigentum und Wettbewerbsrecht 102). Tübingen 2015; Margrit Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht

Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb

137

Traditionell konzentriert sich die Kritik an der Verwendung von Patentstatistiken jedoch in erster Linie auf den Umstand, dass manche Erfinder gar nicht erst versuchen, ein Schutzrecht zu erwerben, sondern stattdessen darauf hoffen, durch Geheimhaltung der technischen Details ihrer Innovation deren Imitation durch Konkurrenten zu verhindern.7 Wenn sich nun die relativen Vorlieben für Patentierung und Geheimhaltung systematisch zwischen verschiedenen Branchen unterscheiden, wäre es verfehlt, aus einer hohen Anzahl von Patenten in einer Branche automatisch darauf zu schließen, dass diese innovativer sei als eine andere Branche, die vielleicht nur deshalb vergleichsweise wenige Patente aufweist, da in ihr innovative Unternehmer vorrangig auf Geheimhaltung setzen. Um die Größenordnung dieses Problems für wirtschaftshistorische Untersuchungen einzuschätzen, greift Petra Moser auf eine alternative Quelle zur Identifizierung von Innovationen zurück, nämlich auf die zeitgenössischen Kataloge der Weltausstellungen zwischen 1851 und 1915.8 Diese Ausstellungskataloge enthalten Name und Heimatadresse des Ausstellers und eine Beschreibung der von ihm präsentierten Innovation, die Moser dazu nutzt, jedes Exponat genau einer von zehn verschiedenen Industriebranchen zuzuordnen. Da die Kataloge zusätzlich auch darüber informieren, ob ein Ausstellungsstück patentiert war oder nicht, kann Moser ermitteln, wieviel Prozent der Aussteller versuchten, ihre Innovation durch ein Patent zu schützen. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Prozentzahl überraschend niedrig: Auf der Weltausstellung von 1851 in London waren nur elf Prozent der britischen Exponate und 15 Prozent der amerikanischen patentiert. Hinzu kam, dass die Patentierungsraten der einzelnen Branchen erhebliche Unterschiede aufwiesen. Die Bandbreite reichte vom Maschinenbau, dessen Ausstellungsstücke zu 70 Prozent ohne Patent waren, bis hin zu Bergbau und Metallerzeugung, deren Exponate zu 95 Prozent keinen Patentschutz besaßen. Auch wenn die Patentierungsraten auf den folgenden Weltausstellungen stetig anstiegen, gilt es, die offensichtlich große Relevanz der Alternative Geheimhaltung bei der Interpretation von historischen Patentstatistiken angemessen zu berücksichtigen. Das zweite Argument, das gegen die Verwendung von Patentstatistiken regelmäßig ins Feld geführt wird, ist die Tatsache, dass diese jeder Erfindung das gleiche Gewicht einräumen, gleichgültig, ob es sich um eine bahnbrechende Basisinnovation oder nur um eine unbedeutende technische Veränderung mit wenig kommerziellen Konsequenzen handelt. Diesem Problem kann allerdings mit drei, sich keineswegs gegenseitig ausschließenden Methoden zur Identifizierung der vergleichsweise wertvollen Patente begegnet werden. Die erste stützt sich auf den Umstand, dass Patente jeweils nur in einem beschränkten geographischen Raum, nämlich im Gültigkeitsbereich des jeweiligen nationalen Patentrechts, Schutzwirkung entfalten. Will ein

7 8

im Deutschen Reich 1871–1914 (Recht in der industriellen Revolution 2 / Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 201). Frankfurt a. M. 2006. Für eine umfassende Kritik an der Verwendung von Patentstatistiken vgl. Rainer Metz: Korreferat zu Jochen Streb / Jörg Baten, in: Walter (Hg.): Innovationsgeschichte (wie Anm. 2), S. 277–293; vgl. Anm. 11. Vgl. Petra Moser: Innovations without Patents: Evidence from World’s Fairs, in: Journal of Law and Economics 55 (2012), S. 43–74.

138

Jochen Streb

Erfinder seine Innovation auch auf Märkten schützen, die außerhalb seines Heimatlands liegen, muss er zusätzlich zu seinem inländischen Patent Auslandspatente erlangen, von denen jedes einzelne mit weiteren Kosten für ausländische Patentanwälte, die Übersetzung der Patentschrift in die jeweilige Amtssprache sowie wiederum anfallende Gebühren verbunden ist. Die Abwägung von Nutzen und Kosten führt dazu, dass sich Erfinder dazu entscheiden, die meisten ihrer Innovationen nur im Inland durch Patente zu schützen. Ausländische Patente werden nur für die vielversprechendsten inländischen Innovationen erworben. Aufbauend auf diesen Beobachtungen gelten heute die sogenannten Triade-Patente, die gleichzeitig in den USA, Japan und Europa erworben werden, als Indikatoren für die wertvollsten Innovationen einer Volkswirtschaft. Hingegen konzentrieren sich wirtschaftshistorische Untersuchungen zumeist auf die ausländischen Patentaktivitäten auf dem fortschrittlichen amerikanischen Markt, da sich dort nur technologisch und ökonomisch überzeugende Erfindungen ausländischer Patentnehmer durchsetzen konnten.9 Die zweite Methode zur Identifizierung wertvoller Patente macht sich zunutze, dass in einigen historischen Patentsystemen wie etwa dem britischen und dem deutschen regelmäßig Verlängerungsgebühren für bereits gewährte Patente anfielen.10 Die jeweiligen Gesetzgeber hatten diese Bestimmung mit dem Zweck eingeführt, Patenthalter dazu zu veranlassen, ihre Patente frühzeitig aufzugeben, um das hierdurch geschützte neue technologische Wissen möglichst schnell einer Vielzahl von konkurrierenden Nutzern zugänglich zu machen und damit das volkswirtschaftliche Wachstum zu fördern. Hinter diesem staatlichen Kalkül stand die Erwartung, dass Patentinhaber, die ihr Patent zunächst vielleicht noch voller Hoffnung erworben hatten, ziemlich schnell lernen mochten, dass sie nicht in der Lage waren, dieses gewinnbringend zu nutzen, und deshalb angesichts fälliger Verlängerungsgebühren auf dessen Fortführung verzichteten. Diese Überlegungen bewahrheiteten sich augenscheinlich zumindest im deutschen Kaiserreich: Etwa siebzig Prozent der zwischen 1891 und 1907 gewährten Patente wurden bereits innerhalb der ersten fünf Jahre aufgegeben, nur zehn Prozent waren nach zehn Jahren immer noch in Kraft und lediglich knapp fünf Prozent erreichten die damals maximale Lebensdauer von 15 Jahren.11 Diese empirische Beobachtung stützt die Vermutung, dass in einem Patentsystem mit Verlängerungsgebühren eine lange Dauer eines Patents als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass es für seinen Inhaber einen vergleichsweise hohen Nutzen generierte. Jörg Baten und Jochen Streb definieren daher alle langlebigen Patente des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, die eine Laufzeit von mindestens zehn Jahren erreichten, als die wertvollen in der Grundgesamtheit aller gewährten Patente.12 9 10

11 12

Vgl. John Cantwell: Technological Innovation and Multinational Corporations. Oxford 1989. Vgl. Richard J. Sullivan: Estimates of the Value of Patent Rights in Great Britain and Ireland, 1852–1976, in: Economica 61 (1994), S. 37–58; Jochen Streb / Jörg Baten / Shuxi Yin: Technological and Geographical Knowledge Spillover in the German Empire, 1877–1918, in: Economic History Review 59 (2006), S. 347–373. Jochen Streb / Jörg Baten: Ursachen und Folgen erfolgreicher Patentaktivitäten im deutschen Kaiserreich, in: Walter (Hg.): Innovationsgeschichte (wie Anm. 2), S. 249–275, hier 254. Ebd., S. 255.

Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb

139

In der Wissenschaft gilt ein Fachartikel als einflussreich und bedeutend, wenn er in den Publikationen anderer Autoren häufig zitiert wird. Ein analoges Verfahren – und dies ist die dritte Methode – wird gegenwärtig angewendet, um wertvolle Patente zu identifizieren: Je öfter auf ein bestimmtes Patent in nachfolgenden Patentschriften verwiesen wird, um den aktuellen Stand der Technologie zu dokumentieren, als umso größer gilt dessen historischer Beitrag zum technischen Fortschritt.13 Für die wirtschaftshistorische Innovationsforschung ist die Analyse der Zitierhäufigkeit von Patenten allerdings in der Regel kein gangbarer Weg, da der Verweis auf vorangegangene Patente vor dem Zweiten Weltkrieg nicht üblich war.14 Allerdings nutzen Alessandro Nuvolari und Valentina Tartari dieses methodische Konzept zur Auswertung einer anderen historischen Quelle.15 Bennet Woodcrofts im Jahr 1862 veröffentlichter Band „Reference Index of Patents of Invention“ listet für jedes einzelne der zwischen 1671 und 1841 gewährten englischen Patente alle Artikel in technischen, ingenieurwissenschaftlichen und juristischen Fachzeitschriften auf, die das jeweilige Patent zum Thema haben oder zumindest erwähnen. Nuvolari und Tartari nehmen an, dass die absolute Zahl der einem einzelnen Patent zugeordneten Fachartikel dessen Sichtbarkeit in den zeitgenössischen Fachdebatten quantifiziert und deshalb auch als ein Maß für dessen Qualität genutzt werden kann. Fassen wir zusammen: Die nicht nachlassende Kritik an der Verwendung von Patentstatistiken ist insoweit durchaus berechtigt, als Patente kein perfekter Indikator für die Innovationsfähigkeit der jeweils betrachteten Untersuchungseinheiten sind. Aber welche qualitativen und quantitativen Quellen sind schon perfekt? Meiner Meinung nach bietet sich keine bessere Alternative an, um die Innovationsfähigkeit von Volkswirtschaften, Regionen oder Unternehmen über Zeit und Raum miteinander zu vergleichen.16 Ich plädiere daher für die Nutzung von Patentstatistiken in der wirtschaftshistorischen Innovationsforschung. Die genannten methodischen und inhaltlichen Probleme, die der Umgang mit Patentstatistiken aufwirft, gilt es dabei angemessen zu berücksichtigen.

13 14

15 16

Vgl. Adam B. Jaffe / Manuel Trajtenberg: Patents, Citations and Innovation. A Window on the Knowledge Economy. Cambridge/Mass. 2002. Immerhin kann Tom Nicholas zeigen, dass auf einige britische Patente der Zwischenkriegszeit noch in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in amerikanischen Patentschriften verwiesen wurde. Vgl. Tom Nicholas: Independent Invention during the Rise of the Corporate Economy in Britain and Japan, in: Economic History Review 64 (2011), S. 995–1023. Vgl. Alessandro Nuvolari / Valentina Tartari: Bennet Woodcroft and the Value of English Patents, 1617–1841, in: Explorations in Economic History 48 (2011), S. 97–115. Eine Übersicht über mögliche langfristige Innovationsindikatoren geben Hariolf Grupp / Icíar Dominguez-Lacasa / Monika Friedrich-Nishio: Das deutsche Innovationssystem seit der Reichsgründung. Indikatoren einer nationalen Wissenschafts- und Technikgeschichte in unterschiedlichen Regierungs- und Gebietsstrukturen (Technik, Wirtschaft und Politik 48). Heidelberg 2002.

140

Jochen Streb

DIE EXTREME UNGLEICHVERTEILUNG DER PATENTAKTIVITÄTEN Eine beeindruckende, gleichwohl häufig vernachlässigte Eigenschaft von Patentstatistiken ist, dass Patente sehr ungleich über die jeweiligen Untersuchungseinheiten verteilt sind. Sehr wenige bedeutende Innovatoren stehen in der Regel sehr vielen Nicht-Innovatoren gegenüber. Die beiden folgenden Abbildungen 1 und 2 sind die ersten hier aufgeführten empirischen Belege für diese Hypothese. Beide Abbildungen zeigen die Zahl der langlebigen deutschen Patente, die von ausländischen Unternehmen und privaten Erfindern im Kaiserreich (Abb. 1) und in der Weimarer Republik (Abb. 2) erworben wurden.17 Nach den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Konzepten handelt es sich hierbei um besonders wertvolle Patente, denn sie genügen gleich zwei der drei genannten Abgrenzungsverfahren zur Unterscheidung wertvoller und wertloser Patente: Sie wurden aus Sicht der Abbildung 1 Patenthalter im Ausland beantragt und trotz jährlich anfallender Verlängerungsgebühren mindestens zehn Jahre gehalten. 3000

2500

Wertvolle Patente

2000

1500

1000

500

pa n

Ja

Ka na d Sp a an ie Lu n xe m bu rg Fi nn la nd

n

an d

Irl

G

Po le

ro US ßb A r it an ni e Fr an n kr ei ch Ö st er re ic Sc h hw ei z Be lg Sc ie n hw ed Ts en ch ec hi en Ita li e Dä n ne m ar k Ru ss la Ni nd ed er la nd No e rw eg en

0

Land

Abb. 1: Langlebige deutsche Patente von Ausländern vor dem Ersten Weltkrieg, 1877–1914, Page 1 nach Herkunftsland Quelle: Degner/Streb: Foreign Patenting in Germany, 1877–1932 (wie Anm. 17), S. 24.

17

Für mehr Details vgl. Harald Degner / Jochen Streb: Foreign Patenting in Germany, 1877–1932, in: Pierre-Yves Donzé / Shigehiro Nishimura (Hg.): Organizing Global Technology Flows. Institutions, Actors, and Processes. New York / London 2014, S. 17–38.

Abbildung 2

Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb

141

2500

2000

Wertvolle Patente

1500

1000

500

US A Gr Sch w oß b r ei z it a nn ien Fr an kr eic Sc h hw ed e Ös n te rr e Ni ich ed er la nd Ts e ch ec hi en I ta lie n Be l gi e Dä n ne m ar k Un ga rn No rw eg en Ka na da Lu xe m bu rg Ru ss lan Fin d nl an d Ja pa n Po le n Sp an ien I rl an d

0

Land

Abb. 2: Langlebige deutsche Patente von Ausländern nach dem Ersten Weltkrieg, 1919–1932, Page 1 nach Herkunftsland Quelle: Degner/Streb: Foreign Patenting in Germany, 1877–1932 (wie Anm. 17), S. 24.

In beiden Teilperioden dominierten Patenthalter aus den USA die ausländischen Patentaktivitäten in Deutschland mit einem Anteil an allen von Ausländern gehaltenen langlebigen Patenten von 29 vor bzw. von 35 Prozent nach dem Ersten Weltkrieg. Die entsprechenden Anteile der fünf innovativsten Herkunftsländer beliefen sich im Kaiserreich auf 82 und in der Weimarer Republik auf 77 Prozent. Im Vergleich der beiden Abbildungen ist vor allem der Aufstieg der Schweiz bemerkenswert, die erst seit 1887 ein eigenes nationales Patentgesetz besaß. In ihrer Dissertation versucht Kirsten Labuske, die Struktur der ausländischen Patentaktivitäten im Kaiserreich mit Hilfe eines Regressionsmodells zu erklären.18 Sie kann zeigen, dass Unternehmen und Privatpersonen aus Ländern mit hohen Einschulungsraten im Primar- und Sekundarbereich vergleichsweise viele langlebige Patente (normalisiert mit der Bevölkerungszahl des Heimatlands) im Kaiserreich hielten. Diese statistische Korrelation lässt vermuten, dass nachhaltige Innovationserfolge in den damaligen „high-tech“ Industrien Chemie und Elektrotechnik, auf die sich die meisten langlebigen Patente in dieser Periode in Deutschland konzentrierten, das Vorhandensein eines hinreichenden Bestands an Humankapital voraussetzten. Das in außenwirtschaftlichen Analysen häufig eingesetzte „Gravity Model“ unterstellt, dass geographische und kulturelle Nähe einen positiven Einfluss auf den Umfang des Außenhandels zwischen zwei Ländern haben. Labuske belegt, 18

Vgl. Kirsten Labuske: Essays on High-Value Patents in Germany in an International Perspective 1880–1932. Diss. Tübingen 2007, hier S. 21–68.

142

Jochen Streb

dass auch die ausländischen Patentaktivitäten mit zunehmender geographischer Distanz zwischen dem jeweiligen Herkunftsland der Innovation und Deutschland systematisch sanken. Davon unabhängig patentierten insbesondere Erfinder aus ebenfalls deutschsprachigen Ländern im Kaiserreich. Eine gemeinsame Sprache erleichterte offensichtlich den Wissenstransfer zwischen zwei Volkswirtschaften. Deutschland

USA

USA

Deutschland

USA

Deutschland

USA

1877‒1914

1890‒1992

1910‒1912

1918‒1932

1963‒1983

2001

2001

USA (2.673)

UK (2.145)

D (3.961)

USA (2.193)

D (101.863)

USA (85.615)

J (66.578)

GB (1.658)

D (1.378)

UK (2.970)

CH (996)

J (94.046)

J (32.150)

D (27.015)

F (1.394)

CDN (975)

CDN (1.673)

GB (668)

UK (55.028)

GB (13.479)

GB (11.855)

A/H (895)

F (548)

F (1.031)

F (586)

F (38.956)

F (11.744)

F (9.213)

CH (891)

A/H (198)

A/H (439)

S (361)

CH (23.733)

NL (7.738)

CDN (8.364)

B (364)

AUS (147)

S (318)

A (268)

CDN (22.160)

S (7.292)

S (4.762)

S (316)

CH (139)

CH (310)

NL (244)

S (14.621)

I (5.055)

NL (3.631)

CZ (201)

S (101)

AUS (284)

CZ (231)

I (13.299)

CDN (4.055)

I (3.629)

I (172)

B/L (54)

I (175)

I (173)

NL (12.317)

FIN (3.508)

AUS (3.102)

DK (163)

IRL (44)

B/L (149)

B (149)

B/L (5.125)

AUS (3.478)

FIN (2.847)

Quelle: Für Deutschland, 1877‒1914 und 1918‒1932, langlebige Patente, vgl. Baten/Streb Patentdatenbank (nicht veröffentlicht); für USA, 1890‒1892, 1910‒1912 und 1963‒ 1968, gewährte Patente, vgl. John Cantwell: Technological Innovation and Multinational Corporations. Oxford 1989, S. 23; für Deutschland und USA, 2001, angemeldete Patente, Tab.of 1: Ausländische Patentaktivitäten Deutschland und den USA hier 2837. vgl. Kurt Haffner: The Pattern International Patenting and Technology Diffusion, in:in Applied Economics 40 (2008). S. 2819‒2837,

 

Quelle: Für Deutschland, 1877–1914 und 1918–1932, Tab. 1:  Ausländische Patentaktivitäten in Deutschland und den USA 

langlebige Patente, vgl. Baten/Streb Patentdatenbank (nicht veröffentlicht); für USA, 1890–1892, 1910–1912 und 1963–1968, gewährte   Patente, vgl. John Cantwell: Technological Innovation and Multinational Corporations. Oxford 1989, S. 23; für Deutschland und USA, 2001, angemeldete Patente, vgl. Kurt Haffner: The Pattern of International Patenting and Technology Diffusion, in: Applied Economics 40 (2008), S. 2819–2837, hier 2837.

Tabelle 1 präsentiert die erfolgreichsten ausländischen Nationen auf dem deutschen und dem amerikanischen Patentmarkt für verschiedene Zeitabschnitte zwischen 1877 und 2001. Zwei Punkte sind bei der Interpretation dieser Tabelle zu beachten. Erstens werden keine Angaben zu den Patenten gemacht, die Deutsche auf dem deutschen Patentmarkt und Amerikaner auf dem amerikanischen Patentmarkt hielten, da einheimische Patente, wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, eine grundsätzlich andere Durchschnittsqualität aufweisen als ausländische. Zweitens sind die Daten verschiedenen Typen von Patentstatistiken entnommen. Während sich die Angaben für das Kaiserreich (Deutschland 1877–1914) und die Weimarer Republik (Deutschland 1918–1932) nur auf langlebige Patente beziehen, umfassen die Informationen zu den USA in den Zeiträumen 1890–1892, 1910–1912 und 1963–1968 alle gewährten Patente, und für Deutschland und USA im Jahr 2001 sogar alle angemeldeten Patente. Die absoluten Zahlen der verschiedenen Spalten sollten also nicht miteinander verglichen werden – was sich schon deshalb verbietet, weil die betrachteten Zeiträume unterschiedlich lang sind. Was hingegen ver-

Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb

143

gleichbar ist, sind die Rangfolgen der einzelnen Länder und die jeweilige Verteilung der Patente auf diese. Der von Labuske angesprochene Einfluss geographischer und kultureller Nähe mag die Unterschiede zwischen den Rangfolgen in den USA und Deutschland erklären. Australische und kanadische Erfinder präferierten amerikanische Patente gegenüber den deutschen, während für Erfinder aus Österreich und dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik offensichtlich das Umgekehrte galt. Die wichtigste aus Tabelle 1 zu gewinnende Erkenntnis ist jedoch die langfristige Persistenz der technologischen Führerschaft weniger Volkswirtschaften. Die USA (auf dem deutschen Patentmarkt), Deutschland (auf dem amerikanischen Patentmarkt), Großbritannien (bzw. das Vereinigte Königreich) und Frankreich dominierten die ausländischen Patentaktivitäten für mehr als 120 Jahre. Diese Dominanz wird nicht nur durch die durchgängig oberen Rangplätze dieser Länder belegt, sondern auch durch ihre vergleichsweise sehr hohe Zahl an ausländischen Patenten. Das einzige Land, dem es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelang, in diesen exklusiven Club der traditionellen Technologieführer aufzusteigen, ist Japan.

Abb. 3: Regionale Verteilung langlebiger Patente je eine Million Einwohner, 1877–1914 Quelle: Streb/Baten/Yin: Technological and Geographical Knowledge Spillover (wie Anm. 10), S. 365.

144

Jochen Streb

Die sehr ungleiche Verteilung der Patentaktivitäten der verschiedenen Nationen wiederholt sich auf regionaler Ebene in den innovativen Ländern. Kenneth Sokoloff hat gezeigt, dass im frühen 19. Jahrhundert die Zahl der Patente pro Kopf der Bevölkerung im südlichen Neuengland und im Staat New York um den Faktor 20 grö-

Abb. 4: Patentanmeldungen nach Bundesländern 2017 Quelle: Deutsches Patent- und Markenamt, Jahresbericht 2017, S. 7; https://www.dpma.de/docs/ dpma/veroeffentlichungen/jahresberichte/jahresbericht2017 (Zugriff: 5.12.2018).

145

Persistenz im Schumpeterschen Wettbewerb

ßer war als im Rest der USA.19 Tom Nicholas belegt, dass zwischen 1890 und 1930 die meisten unabhängigen Erfinder Japans in den Großräumen Tokyo und Osaka lebten.20 Abbildung 3 verdeutlicht, dass sich auch im deutschen Kaiserreich die Patentaktivitäten inländischer Unternehmen und privater Erfinder nicht gleichmäßig im Raum verteilten. Es ist klar erkennbar, dass während Deutschlands Hochindustrialisierung die regionalen Patentaktivitäten ihre Schwerpunkte in den frühindustriellen Zentren Rheinpreußen, Sachsen und Großraum Berlin hatten. Überdies fällt aber auch auf, dass Teile des Südwestens, namentlich die Regierungsbezirke Pfalz Langlebige Patente

Langlebige Patente

Angemeldete Patente

1913‒1914

1925‒1928

2014

Siemens

201

I.G. Farben

251

Bosch

4.008

BASF

85

Siemens

240

Schaeffler Techn.

2.518

Hoechst

84

AEG

120

Siemens

1.806

AEG

83

Metallbank

53

Daimler

1.797

Bayer

71

Erich F. Huth

47

BMW

1.464

Krupp

30

Patent-Treuhand

43

Ford Global Techn.

1.390

Wanderer

30

Telefunken

38

GM Global Techn.

1.080

Griesheim Elektron

29

Krupp

34

Audi

960

Lorenz AG

28

MAN

27

Volkswagen

943

Dt. Maschinenfbrik

27

Carl Zeiss

26

ZF Friedrichshafen

909

Quelle: Für 1913‒1914 und 1925‒1928 vgl. Harald Degner: Schumpeterian German Firms before and after World Tab. 2: Die innovativsten Unternehmen langfristiger Perspektive War I: The Innovative Few and the Non-innovative Many, Deutschlands in: Zeitschrift fürinUnternehmensgeschichte 54 (2009), S. 50‒72, hier 60 f.; für 2014 vgl. http://presse.dpma.de/presseservice/datenzahlenfakten/statistiken/patente (Zugriff: Ford Global Global Technologies haben ihren German Firmenstammsitz in Quelle:22.6.2015). Für 1913–1914 undTechnologies 1925–1928 und vgl.GM Harald Degner: Schumpeterian Firms before den USA.

  and after World War I: The Innovative Few and the Non-innovative Many, in: Zeitschrift für Unter-

nehmensgeschichte 54 (2009), S. 50–72, hier 60 f.; für 2014 vgl. http://presse.dpma.de/

presseservice/datenzahlenfakten/statistiken/patente (Zugriff: 22.6.2015). Ford Global Technologies Tab. 2:  Die innovativsten Unternehmen Deutschlands in langfristiger Perspektive  und GM Global Technologies haben ihren Firmenstammsitz in den USA.

19 20

Vgl. Kenneth Sokoloff: Inventive Activity in Early Industrial America: Evidence from Patent Records, 1790–1846, in: Journal of Economic History 48 (1988), S. 813–850. Vgl. Nicholas: Independent Invention (wie Anm. 14).

146

Jochen Streb

und Neckarkreis, sowie Oberbayern trotz nachhinkender wirtschaftlicher Entwicklung bereits überdurchschnittliche Patentaktivitäten aufwiesen.21 Auch wenn die vom Deutschen Patent- und Markenamt erstellte Abbildung zu den Patentaktivitäten der deutschen Bundesländer im Jahr 2017 (vgl. Abb. 4) im Vergleich zu Abbildung 3 eine geringere geographische Trennschärfe aufweist, sich auf Patentanmeldungen und nicht auf langlebige Patente bezieht und die entsprechenden Zahlenangaben nicht mit der jeweiligen Bevölkerungsgröße normalisiert sind, verblüffen doch die Ähnlichkeiten zwischen beiden. Es scheint, dass Innovationskraft eher eine Eigenschaft von bestimmten Regionen als von ganzen Volkswirtschaften ist und dass diese Innovationskraft darüber hinaus über alle geschichtlichen Umbrüche hinweg mit diesen Regionen persistent verbunden bleibt. Selbst Sachsen hat zumindest einen Teil seiner traditionellen überdurchschnittlichen Innovationsfähigkeit über vierzig Jahre DDR hinweggerettet. Unternehmensspezifische Daten belegen wiederum, dass die überdurchschnittlichen Patentaktivitäten bestimmter Regionen in erster Linie auf die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen sehr weniger innovativer Unternehmen zurückzuführen sind. Harald Degner präsentiert das erstaunliche Ergebnis, dass zwischen 1877 und 1900 zwei Drittel und zwischen 1901 und 1932 immer noch 40 bis 55 Prozent aller langlebigen deutschen Patente, die an deutsche Unternehmen vergeben wurden, von den dreißig innovativsten deutschen Unternehmen gehalten wurden. Die extreme Ungleichheit dieser Verteilung wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass um 1930 in Deutschland mehr als 266 000 Unternehmen mit mehr als fünf Arbeitern existierten.22 Tabelle 2 zeigt die Top-10 der innovativsten deutschen Unternehmen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, in den „guten“ Jahren der Weimarer Republik und im Jahr 2014, wobei wiederum zu beachten ist, dass sich die Angaben in der rechten Spalte nicht auf langlebige Patente, sondern auf Patentanmeldungen beziehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es vor allem die Unternehmen der Chemieindustrie und Elektrotechnik, die als Vorreiter der Zweiten Industriellen Revolution in Deutschland die Patentaktivitäten dominierten. Selbst auf dieser sehr disaggregierten Ebene wiederholt sich noch einmal das inzwischen bekannte Muster einer schiefen Verteilung, denn die Top-2 bzw. Top-3 dieser Liste halten wiederum deutlich mehr Patente als die in der Rangordnung nachfolgenden Unternehmen. Von den innovativsten Unternehmen des frühen 20. Jahrhunderts hat es nur Siemens auch in die Liste der Top-10 von 2014 geschafft. Die dort versammelten Unternehmen dokumentieren, dass Deutschland inzwischen einen komparativen Innovationsvorteil in der Automobilwirtschaft besitzt. Zusammengenommen repräsentieren diese zehn Unternehmen bereits 25 Prozent aller im Jahr 2014 beim Deutschen Patent- und 21

22

Vgl. auch Jochen Streb / Nicole Waidlein: Industrialisierung und Innovation, in: Peter Steinbach / Reinhold Weber (Hg.): Wege in die Moderne. Eine Vorgeschichte der Gegenwart im deutschen Südwesten (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 38). Stuttgart 2014, S. 151–186. Vgl. Harald Degner: Schumpeterian German Firms before and after World War I: The Innovative Few and the Non-innovative Many, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 54 (2009), S. 50–72.

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Markenamt angemeldeten Patente. Dieser Befund mag beunruhigen, denn das Auto ist sicherlich nicht als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts zu interpretieren. In den USA führen ganz andere Unternehmen entsprechende Ranglisten an, nämlich IBM, Samsung, Canon, Sony, Microsoft, Google und Apple.23 Dieser Abschnitt sollte verdeutlicht haben, dass die sich auf allen Untersuchungsebenen wiederholende, extreme Ungleichverteilung von Patentaktivitäten eine Konstante im Prozess der fortdauernden schöpferischen Zerstörung im Schumpeterschen Innovationswettbewerb ist. Überdies sollte klar geworden sein, dass der so häufig vorgenommene Vergleich nationaler Innovationssysteme eher in die Irre führt, da die nationalen Patentaktivitäten von einer Handvoll Unternehmen in wenigen Regionen bestimmt werden. Offen bleibt, wie es zu der beobachtbaren Dominanz weniger innovativer Unternehmen kommen kann. Der Beantwortung dieser Frage widmet sich abschließend das nächste Kapitel. PFADABHÄNGIGE INNOVATIONSFÄHIGKEIT Um zu erklären, warum zwischen 1877 und 1932 sehr wenige Unternehmen – und zwar immer dieselben – die meisten wertvollen Patente erlangten, entwickelte Degner eine neue Hypothese, mit der er die bisher vernachlässigte Innovationserfahrung von Unternehmen in den Mittelpunkt rückt.24 Ausgangspunkt seiner theoretischen Überlegung ist die Erschließung einer neuen, bisher unbekannten Technologie. In einer ersten „Forschungs- und Entwicklungsrunde“ werden sich eine Vielzahl von Unternehmen mit durchaus gleichen Startchancen um die Entdeckung von profitablen Innovationen in diesem neuen technologischen Feld bemühen. Angesichts der mit solchen Innovationsaktivitäten generell einhergehenden großen Unsicherheit wird es aber nur wenigen Unternehmen tatsächlich gelingen, eine erfolgreiche Innovation hervorzubringen. Diese verfügen nunmehr in der zweiten „Forschungsund Entwicklungsrunde“ über einen doppelten Vorteil gegenüber den in der ersten Runde gescheiterten Unternehmen. Erstens können die Innovatoren die wissenschaftlichen, technischen, organisatorischen und betriebswirtschaftlichen Erfahrungen, die ihre Mitarbeiter während des ersten erfolgreichen Projekts erworben haben, in die zukünftigen Projekte einbringen. Zweitens mag aus der ersten erfolgreichen Innovation ein finanzielles Polster erwachsen sein, das zum Ausbau der eigenen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, mithin zur gleichzeitigen Durchführung von zwei oder mehr Projekten genutzt werden kann. Beide Vorteile zusammengenommen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Sieger der ersten Runde auch in der zweiten Runde erfolgreiche Innovationen entwickeln werden, die dann wiederum positive Auswirkungen auf die Projekte der dritten Runde haben. Unternehmen, die in den ersten „Forschungs- und Entwicklungsrunden“ scheitern, werden deshalb bald keine Chance mehr haben, den Erfahrungsvorsprung der frühen 23 24

Siehe: http://www.uspto.gov/web/offices/ac/ido/oeip/taf/topo_13.htm (Zugriff: 23.6.2015). Vgl. Harald Degner: Sind große Unternehmen innovativ oder werden innovative Unternehmen groß? (Stuttgarter historische Studien zur Landes- und Wirtschaftsgeschichte 19). Ostfildern 2012.

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Innovatoren aufzuholen. Somit entstehen in einem pfadabhängigen Selektionsprozess aus zunächst gleichen Unternehmen wenige sehr innovative und viele wenig innovative Unternehmen. Zur Überprüfung dieses theoretischen Modells untersucht Degner mit Hilfe einer Regressionsanalyse die Patentaktivitäten von mehr als 1 000 deutschen Unternehmen im Kaiserreich und der Weimarer Republik.25 Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Zahl der von einem Unternehmen in der Vergangenheit bereits angesammelten Patente, mithin seine „Innovationserfahrung“, in der Tat ein signifikanter Prädiktor für zukünftige Patente ist. Hingegen leisten andere denkbare Einflussfaktoren wie etwa die Größe und die Rechtsform des Unternehmens, die Marktstruktur oder das lokal verfügbare Humankapital in Degners Analyse keinen messbaren Beitrag zur Erklärung der unternehmerischen Patentaktivitäten. Die große Attraktivität von Degners Modell liegt sicherlich darin, sowohl die extreme Ungleichheit der Patentaktivitäten als auch den nachhaltigen Erfolg bestimmter Innovatoren wie etwa des Unternehmens Siemens erklären zu können, das sich, wie wir gesehen haben, über ein Jahrhundert lang in den Top-10 deutscher innovativer Unternehmen halten konnte. Natürlich wird aber auch durch die von Degner beschriebenen Mechanismen die Verteilung der Innovationsfähigkeit über Nationen, Regionen und Unternehmen nicht auf „Ewigkeit“ zementiert. Immer dann, wenn das Auftauchen einer neuen Schlüsseltechnologie vergleichbare Startbedingungen für viele Unternehmen schafft, werden die Karten neu gemischt. So ist es zu erklären, warum heutzutage die innovativsten Unternehmen in Deutschland nicht mehr der Chemieindustrie, sondern vorwiegend der Automobilindustrie und in den USA immer mehr der IT-Branche entstammen (vgl. Tab. 2 und Anm. 23). Zur Überprüfung von Degners Modell bietet sich im Rahmen dieses Aufsatzes die deutsche Chemieindustrie an, die ihren Aufstieg zu einer der innovativsten Branchen des frühen 20. Jahrhunderts der Erschließung einer bisher unbekannten Technologie verdankte und damit eine wesentliche Annahme von Degners Modell erfüllt. Bei dieser Technologie handelte es sich um die Erzeugung von synthetischen Farbstoffen auf Grundlage von Steinkohleteer, deren Geburtsstunde üblicherweise auf das Jahr 1856 datiert wird, in dem der britische Chemiker Wilhelm Henry Perkin durch Zufall einen violetten Farbstoff entdeckte, der zur Färbung von Seide genutzt werden konnte.26 Der Umstand, dass es um die Jahrhundertmitte in Deutschland kein einheitliches Patentgesetz gab, sondern die Ausgestaltung von entsprechenden Schutzrechten den Einzelstaaten überlassen blieb, die zum Teil keine oder nur schwache Patentgesetze etablierten, machte es den englischen und bald auch französischen Erfindern nahezu unmöglich, auf dem deutschen Markt einen wirksamen Patentschutz für ihre neuen, synthetisch hergestellten Farbstoffe zu erlangen. Nach Auffassung von Johann Peter Murmann profitierte die deutsche Chemieindustrie 25 Für eine ausführliche Erläuterung der methodischen Vorgehensweise von Degner vgl. auch Mark Spoerer / Jochen Streb: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. München 2013, S. 61–67. 26 Zur Entwicklung „künstlicher“ Farbstoffe im 18. und frühen 19. Jahrhundert vgl. Alexander Engel: Farben der Globalisierung: Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900 (Globalgeschichte 5). Frankfurt a. M. / New York 2009, S. 99–103.

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von der glücklichen und letztendlich zufälligen Kombination der Abwesenheit eines reichsweiten Patentrechts vor 1877 und eines relativen Überflusses gut ausgebildeter Chemiker im Bereich der organischen Chemie.27 Diese Startbedingungen führten nämlich im Gegensatz zu Großbritannien oder Frankreich, wo Patentmonopole existierten und das notwendige Humankapital kaum verfügbar war, zu einer großen Zahl von Firmenneugründungen wie etwa der BASF im Jahr 1865. Alle diese jungen Unternehmen verfolgten die gleiche Geschäftsstrategie, die ausländischen Farbstoffinnovationen schnell zu imitieren und auf dem ungeschützten deutschen Markt zu verkaufen. Die institutionellen Rahmenbedingungen änderten sich grundlegend mit der Einführung des deutschen Patentgesetzes im Jahr 1877.28 Zur Sicherung ihrer Marktanteile waren die deutschen Produzenten von Synthesefarben nunmehr darauf angewiesen, ihre traditionelle Strategie der schnellen Imitation aufzugeben und stattdessen eigene Innovationen zu entwickeln und für diese in Deutschland gültige Patente zu erwerben. Folgerichtig begannen einige der deutschen Chemieunternehmen, in den Aufbau professioneller Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zu investieren.29 Überdies wurden erste Versuche unternommen, die in diesen F&EAbteilungen beschäftigten Chemiker durch eine erfolgsabhängige Entlohnung zu höheren Innovationsleistungen zu motivieren.30 Gemäß Degners Modell einer pfadabhängigen Entwicklung der Innovationsfähigkeit würde man aufbauend auf diesen Startbedingungen nach 1877 eine zunehmende Konzentration der unternehmerischen Patentaktivitäten im Bereich der Synthesefarbentechnologie erwarten, da die Verlierer der ersten F&E-Runden aufgrund fehlender Innovationserfahrung bald nicht mehr dazu in der Lage gewesen sein dürften, im Innovationswettbewerb intellektuell und finanziell zu bestehen. Auch wäre zu vermuten, dass die innovativen Unternehmen weniger innovative Unternehmen in zunehmendem Maße aus dem Markt drängten, so dass sich die Zahl der selbständigen deutschen Synthesefarbenerzeuger in den Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg verringern sollte. Abbildung 5 scheint die zweite dieser Hypothesen zu bestätigen. Gemäß der „Homburg-Murmann Global Database of Synthetic Dye Firms and Plants“, die mir Johann Peter Murmann für diesen Aufsatz dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat, stieg die Zahl der selbständigen deutschen Synthesefarbenproduzenten 27 Vgl. Johann Peter Murmann: Knowledge and Competitive Advantage: The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions. Cambridge 2003. 28 Das Patentgesetz von 1877 untersagte die unmittelbare Patentierung von chemischen Erzeugnissen, erlaubte es aber den Chemieunternehmen, ein Verfahrenspatent für den zur Herstellung dieses Produkts entwickelten Produktionsprozess zu erwerben. Diese Form des mittelbaren Stoffschutzes wurde durch die Patentrechtsreform von 1891 gestärkt. Vgl. Ralf Uhrich: Die Geschichte des Stoffschutzverbots im deutschen Patentrecht (1877–1968), in: Otto/Klippel (Hg.): Geschichte (wie Anm. 6), S. 155–206. 29 Vgl. Georg Meyer-Thurow: The Industrialization of Invention: a Case Study from the German Chemical Industry, in: ISIS 73 (1982), S. 363–381. 30 Vgl. Carsten Burhop / Thorsten Lübbers: Incentives and Innovation? R&D Management in Germany’s Chemical and Electrical Engineering Industries around 1900, in: Explorations in Economic History 47 (2010), S. 100 f.

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Abb. 5: Selbständige deutsche Synthesefarbenproduzenten, 1850–1914, in absoluten Zahlen Quelle: Homburg-Murmann Global Database of Synthetic Dye Firms and Plants.

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Abb. 6: Anteil der drei innovativsten Chemieunternehmen an allen wertvollen Teerfarbenpatenten, 1877–1914, in Prozent Quelle: Baten-Streb Patentdatenbank (nicht veröffentlicht). Berücksichtigt wurden langlebige Patente in der Patentklasse 20 (Farben).

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noch bis 1894 auf schließlich 111 Unternehmen an, danach begann deren Zahl in Folge von Liquidationen und Fusionen aber schnell auf nur noch 20 im Jahr 1914 zu sinken. Hingegen kann die erstgenannte Hypothese einer zunehmenden Konzentration der Unternehmenspatente der Patentklasse 20 (Farben) nicht bestätigt werden. Abbildung 6 zeigt, dass bereits unmittelbar nach Einführung des Patentgesetzes von 1877 die drei jeweils innovativsten deutschen Synthesefarbenerzeuger31 bereits 80 bis 100 Prozent aller während eines Jahres gewährten langlebigen Patente besaßen. Wenn überhaupt, nahm die Konzentration der Unternehmenspatente in den 1880er Jahren leicht ab, um dann aber bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf hohem Niveau zu verharren.32 Abbildung 6 widerlegt nicht Degners Vorstellung von einem durch Innovationserfahrung getriebenen Selektionsprozess, sie verdeutlicht nur, dass sich diese Entwicklung in der Synthesefarbenindustrie nicht nach Einführung des deutschen Patentgesetzes von 1877 vollzogen hat. Die hohe Konzentration der Unternehmenspatente um 1880 lässt stattdessen vermuten, dass die entscheidenden Weichenstellungen im Kampf um die technologische Führerschaft in der deutschen Synthesefarbenindustrie bereits in den 1860er und 1870er Jahren erfolgten. Demnach wäre auch die Etablierung industrieller F&E-Abteilungen nicht der Startschuss des pfadabhängigen Entwicklungsprozesses gewesen, sondern eher eine Konsequenz. Die Richtigkeit dieser neuen Überlegungen lassen sich mangels Daten nun nicht anhand von Patentstatistiken überprüfen. Immerhin unterstützen die qualitativen Aussagen unternehmenshistorischer Fallstudien zur Frühphase der deutschen Synthesefarbenproduzenten die Hypothese, dass die betreffenden Unternehmen wichtige Innovationserfahrungen schon vor 1877 erwarben.33 SCHLUSSBEMERKUNG Dieser Aufsatz hat gezeigt, dass sich im Chaos der „kreativen Zerstörung“ des Schumpeterschen Innovationswettbewerbs überraschende Elemente der Ordnung finden lassen. Herausragende Innovationsfähigkeit war und ist auf wenige Nationen, Regionen und Unternehmen beschränkt, und diese Wenigen waren oftmals dazu in der Lage, ihre Innovationsvorteile über alle politischen und technologischen Umbrüche hinweg für lange Zeit zu verteidigen. Eine Erklärung für die extreme Schiefe und die Persistenz der Verteilung von Innovationen (bzw. Patenten) bietet das Modell der pfadabhängigen Akkumulation von Innovationserfahrung, in dem Unternehmen 31 32 33

Dies waren in wechselnder Zusammensetzung vor allem AGFA, BASF, Bayer, Cassella & Co. sowie die Farbenwerke Hoechst Der Herfindahl-Index der Verteilung der entsprechenden Unternehmenspatente schwankte zwischen 1880 und 1914 um den Wert 0,3, was nach gängiger Interpretation ebenfalls eine hohe Konzentration anzeigt. Vgl. Wolfgang von Hippel: Auf dem Weg zum Weltunternehmen (1865–1900), in: Werner Abelshauser (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München 2002, S. 17–116, hier 27–46.

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kleine Startvorteile dazu nutzen können, in längerer Frist eine schwer zu erschütternde technologische Führerschaft zu erlangen. Mehr empirische Studien sind notwendig, um die Allgemeingültigkeit dieses Konzepts zu bestätigen. Eine besondere Rolle kommt hierbei der Unternehmensgeschichte zu, denn eines sollte deutlich geworden sein: Die eigentlichen Ursachen für volkswirtschaftliche Innovationserfolge sind in erster Linie bei vergleichsweise wenigen Unternehmen zu verorten.

DAS KONZEPT DER „LIMITED AND OPEN ACCESS ORDERS“ UND DIE POLITISCH-ÖKONOMISCHE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS ZWISCHEN 1815 UND 19331 Erik Grimmer-Solem, Middletown, Conneticut / Alfred Reckendrees, Kopenhagen / Gerhard Wegner, Erfurt / Joachim Zweynert, Witten-Herdecke 1. EINLEITUNG Die amerikanischen Ökonomen und Wirtschaftshistoriker Douglass North, John Wallis und Barry Weingast haben vor einigen Jahren in ihrem Buch „Violence and Social Orders“ ihre Antworten auf zwei große Fragen der Geschichte vorgestellt.2 Die eine lautet, warum einige Gesellschaften in den vergangenen beiden Jahrhunderten sehr reich wurden, während andere wirtschaftlich dahinter zurück blieben, die andere, warum in einigen Staaten im 19. Jahrhundert demokratische, sich bis heute als stabil und wirtschaftlich leistungsfähig erweisende Marktwirtschaften entstanden, während in weiten Teilen der Welt privilegierte Eliten Politik und Wirtschaft beherrschen. In ihrem international viel beachteten und kritisch diskutierten3 Buch präsentieren North, Wallis und Weingast eine Interpretation der britischen, US-amerikanischen und französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, in dem diese beiden Phänomene unauflöslich miteinander verbunden sind,4 und entwi1

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3

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Die von uns durchgeführte Sektion „Violence and Social Order? The Political Economy of Germany in the 19th and 20th Centuries“ hat auf dem 1. Deutschen Kongress für Wirtschaftsgeschichte in Münster viele Gäste angezogen und kritische Kommentare evoziert, für die wir sehr dankbar sind. Wir danken auch dem Herausgeber dieses Bandes für die Gelegenheit, unsere Überlegungen hier in zusammengefasster Form vorstellen zu können. Douglass C. North / John Joseph Wallis / Barry R. Weingast: Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History. New York 2009. Das Konzept wurde vor etwa zehn Jahren zunächst in Form zweier Working Papers präsentiert: Douglass C. North / John Joseph Wallis / Barry R. Weingast: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History (NBER WORKING PAPER No. 12795), 2006; Douglass C. North u. a.: Limited Access Orders in the Developing World. A New Approach to the Problems of Development (World Bank Policy Research Working Paper 4359), 2007. Vgl. z. B. Knick Harley: Book Review: Violence and Social Orders, in: Economic History Review 63 (2010), S. 1199–1201; Robert H. Bates: A Review of Douglass C. North, John Joseph Wallis and Barry R. Weingast’s Violence and Social Orders, in: Journal of Economic Literature 48 (2010), S. 752–756; Mitja Stefancic: Book Review: Violence and Social Orders, in: Review of Social Economy 69 (2011), S. 395–398; Karim Khan: Book Review: Violence and Social Orders, in: Economic Systems 37 (2013), S. 138–140; Martin Lutz: Rezension zu: Douglass C. North / John J. Wallis / Barry R. Weingast: Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History. New York 2009, in: H-Soz-Kult, 30.10.2009 (www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13431). North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2), S. 77–105, 213–239.

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ckeln auf dieser Basis eine allgemeine Entwicklungstheorie, mit deren Hilfe sie die in einigen westlichen Staaten im 19. Jahrhunderts erfolgte Transformation von sogenannten natural states bzw. limited access orders zu open access orders, die allen Bürgern gleiche Rechte und Möglichkeiten gewähren, erklären wollen (LAO-OAO Konzept).5 In dem 2013 zusammen mit Steven B. Webb veröffentlichten Buch „In the Shadow of Violence“6 nutzen die Autoren das Konzept, um zu belegen, warum entsprechende Transformationen in neun Staaten Asiens, Südamerikas und Afrikas entweder ausgeblieben sind oder, wie im Falle Südkoreas, erfolgten. Dieser Band ist zugleich ein ‚empirischer Test‘ der Erklärungskraft des Konzepts, das, wie der wenig bescheidene Untertitel des 2009 erschienenen Buchs („A Framework for Interpreting Recorded Human History“) anzeigt, universelle Gültigkeit beansprucht. Allerdings beschränkt sich die vertiefte Interpretation erfolgreicher Übergänge von limited zu open access orders bislang auf Großbritannien, die USA und Frankreich, während die in einigen Fällen parallel und zum größeren Teil später erfolgte Durchsetzung offener Ordnungen in anderen Staaten noch nicht in dieser Perspektive analysiert wurde. Auch auf stark wachsende Volkswirtschaften, die dem Modell auf den ersten Blick weniger zu entsprechen scheinen, zum Beispiel Deutschland oder Japan im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist das Konzept bislang noch nicht angewendet worden. Wir, die Autoren dieses Beitrags, beschäftigen uns seit 2013 zusammen mit anderen Ökonomen und Wirtschaftshistorikern in intensiven Workshops mit dem Konzept der limited and open access orders zunächst im Kontext der politischen und ökonomischen Entwicklung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert.7 Der deutsche Fall erscheint besonders interessant, weil die Wirtschaft hier entgegen den Annahmen des Konzepts im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert sogar schneller gewachsen ist als die der open access orders Großbritannien und Frankreich. Die spannungsvolle und wechselhafte politische Vergangenheit Deutschlands erscheint uns zudem als eine interessante Herausforderung für das Konzept. Es geht uns nicht um neue empirische Studien oder eine Neuinterpretation der deutschen Geschichte. Sie ist in weiten Teilen gut untersucht. Im Zentrum steht die Frage, ob das LAO-OAO Konzept eine neue Perspektive auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eröffnet, oder ob sich die Vergangenheit gleichsam gegen ein solches, Allgemeingültigkeit beanspruchendes Entwicklungsmodell sperrt. Inzwischen haben wir die ersten Ergebnisse in sechs Aufsätzen in der Zeitschrift Constitutional Political Economy veröffentlicht.8 Darin argumentieren wir, dass das 5 6 7

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Das Konzept wird in seinen Grundzügen im zweiten Kapitel vorgestellt. Douglass C. North u. a. (Hg.): In the Shadow of Violence. Politics, Economics, and the Problems of Development. New York 2013. An den von Joachim Zweynert und Steven Webb initiierten Workshops, die am Walter Eucken Institut in Freiburg durchgeführt wurden, waren Jan-Otmar Hesse, Nils Goldschmidt, Erik Grimmer-Solem, Stefan Kolev, Alfred Reckendrees, Jan Schnellenbach, Richard Tilly, Martin Uebele, Steven Webb, Gerhard Wegner und Joachim Zweynert beteiligt. Für finanzielle Unterstützung bedanken wir uns bei der Reinhold-Maier-Stiftung, der Fritz Thyssen Stiftung und dem Walter Eucken Institut. Steven B. Webb / Joachim Zweynert: Introduction: A New Perspective on Modern German His-

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Modell die dynamischen Entwicklungen in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts teilweise, aber nicht vollständig erfassen kann.9 Allerdings sind die Entwicklungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr so leicht mit dem Modell in Übereinstimmung zu bringen. Die aus unserer Sicht wichtigsten Gesichtspunkte werden in Kapitel drei vorgestellt. Die Schwierigkeit, das Entwicklungsmodell uneingeschränkt zu bekräftigen, führen wir nicht auf einen ‚deutschen Sonderweg‘ zurück, sondern auf zwei konzeptionelle Gründe, die dazu anregen, über Modifikationen und Erweiterungen des Modells nachzudenken. Dazu stellen wir erste Überlegungen am Ende dieses Beitrags kurz vor. Diese beiden Gründe sind erstens, dass die wirtschaftliche und politische Entwicklung in den deutschen Staaten nicht hinreichend im Rahmen eines isolierten Nationalstaats zu erklären ist. Das LAO-OAO Konzept beinhaltet jedoch keine internationalen Dimensionen. Aus unserer Sicht deutet vieles darauf hin, dass die internationale politische Ökonomie spätestens seit der ersten Globalisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nationale Entwicklungen sehr wesentlich mitbestimmt hat. Die Mechanismen sind keineswegs eindeutig, doch es könnte sein, dass die Transformation wirtschaftlich erfolgreicher limited access orders zu open access orders durch die internationale Konstellation eher behindert wurde. Der zweite konzeptionelle Grund betrifft die Reproduktionsbedingungen von open access orders (die sogenannte doppelte Balance von wirtschaftlicher und politischer Offenheit, siehe unten). North, Wallis und Weingast unterstreichen die Stabilität einer solchen Ordnung und argumentieren, dass noch keine open access order in eine limited access order zurückgefallen sei. Aus unserer Sicht legt das Scheitern der Weimarer Republik jedoch nahe, dass das LAO-OAO Konzept die Möglichkeit berücksichtigen muss, dass offene Ordnungen durch demokratische Prozesse eingeschränkt werden können.10 Auch einer der ‚Erfinder‘ des Konzepts, John Wallis, versucht, die Kriterien für die Reproduktionsbedingungen von open access orders genauer zu bestimmen; er sieht vor allem die Fähigkeit des Staates, divergierende Interessen durch Legitimität (anstatt durch Gewalt) zu koordinieren, als eine wesentliche Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit offener Ordnungen an.11 Neben diesen konzeptionellen

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tory, in: Constitutional Political Economy 26 (2015), S. 1–3; Gerhard Wegner: Capitalist Transformation without Political Participation. German Capitalism in the First Half of the Nineteenth Century, in: Ebd., S. 61–86; Erik Grimmer-Solem: The Mature Limited Access Order at the Doorstep. Imperial Germany and Contemporary China in Transition, in: Ebd., S. 103–120; Alfred Reckendrees: Weimar Germany. The First Open Access Order That Failed?, in: Ebd., S. 38–60; Steven B. Webb: Becoming an Open Democratic Capitalist Society. A Twocentury Historical Perspective on Germany’s Evolving Political Economy, in: Ebd., S. 19–37; Joachim Zweynert: The Concept of Ordnungspolitik through the Lens of the Theory of Limited and Open Access Orders, in: Ebd., S. 4–18; Jan-Otmar Hesse: On the Stability of Open Access Orders. The Federal Republic of Germany since the 1960s, in: Ebd., S. 87–102. Das Entwicklungsmodell wird in Kapitel 2 vorgestellt. Siehe zu den konzeptionellen Herausforderungen auch Webb/Zweynert: Introduction (wie Anm. 8), S. 2. John Joseph Wallis: Unveröffentlichte Keynote-Lecture, gehalten auf der 11th European Historical Economics Society Conference „Leviathan Denied: Coordination, Coercion, Rules, and the Nature of Government“, London, 6.9.2013. Ähnlich argumentieren John Joseph Wallis / Doug-

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Problemen scheinen North, Wallis und Weingast der Elitendifferenzierung innerhalb von limited access orders zu wenig Rechnung zu tragen, wenngleich sie an vielen Stellen deren Anpassungs- und Reformfähigkeit betonen. Im folgenden Kapitel stellen wir das Konzept der limited and open access orders kurz vor. Anschließend präsentieren wir die politisch-ökonomische Entwicklung Deutschlands zwischen dem Wiener Kongress und der Machtübertragung an die Nationalsozialisten in dieser Perspektive. Im abschließenden vierten Kapitel skizzieren wir die Herausforderungen, die der deutsche Fall für das Konzept darstellt, und erste Überlegungen für dessen Erweiterung. 2. DAS KONZEPT DER „LIMITED AND OPEN ACCESS ORDERS“ (LAO-OAO KONZEPT)12 Douglass North, John Wallis und Barry Weingast identifizieren Gewalt als das Kernproblem, das alle Gesellschaften zu bewältigen haben, und klassifizieren soziale Ordnungen anhand des Kriteriums, welcher Strategie sich die Gesellschaften zur Einhegung der Gewalt bedienen. Diese an Hobbes anknüpfende Sicht eröffnet neue Perspektiven auf die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen und politischen Institutionen.13 Seit der neolithischen Revolution, so eine der Kernthesen des Buchs „Violence and Social Orders“, habe es weltweit im Wesentlichen zwei Ordnungsformen gegeben, limited access orders und open access orders. Der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden idealtypischen Ordnungsformen bestehe darin, dass nur in einer open access order die Staatsgewalt klar und deutlich in der Hand einer Koalition (der Regierung) liege und von ihr durchgesetzt werde. Die Zahl der Länder, in denen dies der Fall ist, sei bis heute überschaubar. Limited access orders hingegen seien dadurch gekennzeichnet, dass rivalisierende Gruppen um die Vorherrschaft innerhalb des Staates streiten. Gewalt werde dadurch eingehegt, dass die Gruppierungen einen Herrschaftskompromiss miteinander schließen. Die Grundlogik eines solchen „kollektiven Staats“ bestehe darin, dass innerhalb einer Gesellschaft zwei (oder mehrere) Gruppierungen vereinbaren, ihre Herrschaftsbereiche aufzuteilen, „and then to recognize each other’s rights to control the land, labour resources, and trading within their sphere“14. Das Zitat macht deutlich, dass limited access orders (LAO) keine strikte Trennung von Politik und Wirtschaft kennen. Es bestehe vielmehr eine double balance zwischen den Zugangsbeschränkungen zur wirtschaftlichen und zur politischen Sphäre: Der Kompromiss zwischen den rivalisierenden Gruppierungen innerhalb der Herrschaftskoalition basiert auf privilegiertem Zugang zu ökonomischen Ressourcen (Renten) und politischer Macht sowie auf

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lass C. North: Coordination and Coercion. The Nature of Rules, Governments, States and Social Dynamics, 2011 (http://www.econ.fudan.edu.cn/userfiles/file/20111025030527136.pdf). Die folgende Zusammenfassung basiert auf North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2). Vgl. die in den Anmerkungen 2 und 6 genannte Literatur. North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2), S. 19.

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(politischen und wirtschaftlichen) Wettbewerbsbeschränkungen, die es verhindern, dass solche Machtpositionen oder Renten durch newcomer herausgefordert werden. Die Wettbewerbsbeschränkungen im wirtschaftlichen und im politischen Bereich bedingen und verstärken sich gegenseitig (double balance): Wirtschaftliche Monopole basieren auf politischer Machtkonzentration und politische Machtkonzentration auf wirtschaftlichen Monopolen. Gewalt werde in der limited access order dadurch eingehegt, dass jede Gruppierung den Verlust ihrer Renten fürchten müsse, sollte es zum Ausbruch offener Gewalt kommen.15 Im Unterschied dazu sei der Zugang zu wirtschaftlichen und politischen Ressourcen in open access orders (OAO) nicht an die Zugehörigkeit zu einer Elite geknüpft, sondern grundsätzlich für alle Bürgerinnen und Bürger offen. Ihre individuellen Rechte werden durch Rechtsstaatlichkeit garantiert. Auch hier bestehe eine double balance zwischen der Offenheit der wirtschaftlichen und der politischen Konkurrenz: Der politische und der wirtschaftliche Wettbewerb bedingten und verstärkten sich gegenseitig. So führe politischer Wettbewerb dazu, dass wirtschaftliche Monopole keinen dauerhaften Bestand haben, weil diese durch neue politische Koalitionen schließlich beseitigt werden; wirtschaftlicher Wettbewerb führe dazu, dass es kein politisches Machtmonopol gebe, weil wirtschaftliche Organisationen schließlich durch die Schaffung neuer politischer Organisationen wieder Wettbewerb herstellen.16 In dieser auf zwei Idealtypen basierenden Theorie institutionellen Wandels unterscheiden North, Wallis und Weingast zwischen zwei Arten von polit-ökonomischen Prozessen: Entwicklungen innerhalb von LAO und Übergänge von LAO zu OAO. Für den erstgenannten Prozess konstatieren die Autoren eine Stufenfolge, die von fragile über basic zur mature LAO führe. Der Übergang zu einer mature LAO sei vor allem durch die Erweiterung der individuellen Rechte der Mitglieder der ruling coalition gekennzeichnet und durch die zunehmende Rolle unabhängiger Organisationen (perpetually lived organisations), innerhalb derer sich wirtschaftliches, politisches und zivilgesellschaftliches Engagement vollziehe.17 Doch der Übergang von einer limited zu einer open access order könne erst gelingen, wenn bestimmte doorstep conditions erreicht seien. Sie seien die Garantie einer rule of law innerhalb der Elitenkoalition, eine ausreichende Anzahl von perpetually lived organisations und eine konsolidierte Kontrolle über das Militär.18 So weit in der gebotenen Kürze die wesentlichen Bausteine des von North, Wallis und Weingast vorgeschlagenen Konzepts langfristiger wirtschaftlicher Entwicklung, bei dem es sich aus unserer Sicht um ein modernisierungstheoretisch aufgeladenes Konzept handelt, das sich normativ an jenen politischen und wirtschaftlichen 15

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Veränderungen im politischen oder wirtschaftlichen Kräfteverhältnis würden entsprechende Veränderungen im jeweils anderen Bereich nach sich ziehen: Würde etwa eine Gruppe eine neue Einkommensquelle erschließen, so könnte sie mehr Gewaltexperten unterhalten und ihren neu gewonnenen Reichtum in verstärkte politische Macht transformieren. Zu den Charakteristika der limited access orders vgl. ebd., S. 32–41. Zu den Charakteristika der open access orders vgl. ebd., S. 112–117. Vgl. ebd., S. 49–62. Vgl. ebd., S. 148–181.

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Institutionen orientiert, die wir aus den westlichen entwickelten Ländern kennen, und das auf einer idealisierten Perspektive der historischen Entwicklungen in Großbritannien, den USA und Frankreich basiert. Dieser Interpretation würden North, Wallis und Weingast vermutlich widersprechen; so benennen sie die NS-Diktatur in Deutschland als einen Rückschritt von einer mature in eine basic limited access order.19 Doch das Einräumen möglicher ‚Rückschritte‘ ändert nichts an der grundsätzlichen Zielgerichtetheit des Entwicklungsschemas. Entscheidender ist das Problem, dass in diesem Konzept das Erreichen einer open access order gleichsam als das ‚Ende der Geschichte‘ erscheint: Ein Rückfall einer open access order in eine limited access order sei zwar denkbar, habe sich aber noch niemals empirisch beobachten lassen. Wir glauben, dass der ‚Fall Deutschland‘ reichlich Anlass zur Diskussion bietet. Aus unserer Sicht trägt das LAO-OAO Konzept dazu bei, Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungsprozessen besser zu verstehen. Diese Interdependenz ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema der Institutionenökonomie geworden. Neben North, Wallis und Weingast haben vor allem Daron Acemoglu und James A. Robinson20 konzeptionelle Vorschläge zur Analyse der Wechselwirkungen gemacht. Beide Ansätze sind in den Wirtschaftswissenschaften breit diskutiert worden, doch in der Wirtschaftsgeschichte ist eine umfassende Debatte jenseits von Rezensionen bislang ausgeblieben. Uns erscheint die „Violence and Social Orders“ zugrunde liegende Theorie kollektiver Akteure und ihr Versuch, die Dynamiken innerhalb von LAO zu erfassen, für die wirtschaftshistorische Forschung anschlussfähiger zu sein als der Ansatz von Acemoglu und Robinson, der im Stile der Public Choice-Theorie implizit der Konzeption des Staats als ein einheitlicher Akteur verhaftet bleibt. North, Wallis und Weingasts Überlegungen erlauben es zudem, das Problem der Ungleichzeitigkeit politischer und wirtschaftlicher Entwicklung analytisch fassen zu können. Gerade im Fall der deutschen Geschichte muss dieses Problem thematisiert werden – und aus diesem Grund ist die Interpretation der deutschen Entwicklung für das Konzept und dessen Tragfähigkeit ein wichtiger Testfall. Die deutsche Entwicklung erweist sich zudem in der Perspektive des LAO-OAO Konzepts als relevant für den institutionellen Wandel, der sich in heutigen ‚Schwellenländern‘ vollzieht. Ähnlich wie Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert entwickeln sich diese Staaten in Konkurrenz zu wirtschaftlich erfolgreichen Ländern. Aufgrund dieser Parallele lässt die historische Analyse der kapitalistischen Transformation ‚verspäteter‘ Nationen Erkenntnisse erhoffen, die auch für das Verständnis der Gegenwart bedeutsam sind.21

19 Ebd., S. 49. 20 Vgl. insbesondere Daron Acemoglu / James A. Robinson: Why Nations Fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty. London 2012. 21 Am 4./5.12.2015 führten wir in München zusammen mit der Munich Graduate School for Eastern and South Eastern European Studies einen internationalen Workshop durch, um die Fälle Russland, Tschechien, Bulgarien, Griechenland, Italien und Portugal zu diskutieren.

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3. DIE POLITISCH-ÖKONOMISCHE ENTWICKLUNG DEUTSCHLANDS IN DER PERSPEKTIVE DES LAO-OAO KONZEPTS Eine der zentralen Annahmen des Konzepts ist also die wechselseitige Abhängigkeit der politischen und der wirtschaftlichen Ordnungen. In einer offenen Gesellschaft sind beide Sphären durch Wettbewerbsverhältnisse strukturiert, die jeweils der Möglichkeit „schöpferischer Zerstörung“ (der Ablösung dominanter Koalitionen und Prinzipien) ausgesetzt sind. In einer solchen OAO kann sich keine Gruppe dauerhafte Monopole sichern.22 Demgegenüber ist eine LAO durch begrenzten politischen Zugang und ökonomische Privilegien charakterisiert. In diesem Konzept beruht die Reproduktionsfähigkeit einer offenen Wirtschaftsordnung mithin auf Demokratie und die Demokratie auf wirtschaftlichem Wettbewerb. Die deutsche Geschichte stellt für diese Vorstellung eine Herausforderung dar. Im Folgenden betrachten wir sie durch die Linse des LAO-OAO Konzepts. 3.1. PREUSSEN IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS23 Die im Kontext der ‚Staatsbildung‘ und der Herstellung eines staatlichen Gewaltmonopols erfolgten preußischen Reformen, der weitere institutionelle Wandel sowie die wirtschaftliche Integration in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprechen den zentralen Annahmen von North, Wallis und Weingast. Doch in weiten Teilen Deutschlands etablierte sich eine (relativ) freie Wirtschaftsordnung innerhalb der bestehenden, keineswegs demokratischen (oder offenen) politischen Ordnung. Vor allem in Preußen besaß nur ein Teil der Eliten relative politische Freiheit, und dennoch zeichnete Preußen eine im europäischen Maßstab ausgesprochen liberale Wirtschaftspolitik aus. Nur in wenigen Bereichen der Wirtschaft war der Zugang begrenzt (z. B. durch die Genehmigungspflicht von Kapitalgesellschaften). Aus unserer Sicht erklären drei Faktoren diesen im Rahmen des LAO-OAO Konzepts leicht paradoxen Befund. Sie verweisen darauf, dass auch in limited access orders sehr unterschiedliche Interessen miteinander konkurrieren und dass dieser Prozess dazu beitragen kann, dass sich Institutionen durchsetzen können, die wirtschaftlichen Wandel begünstigen. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung basierte in Preußen wesentlich auf einer sich stark emanzipierenden Staatsbürokratie, die Verfahrensgerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen konnte. Zudem befanden sich die alten Eliten der landbesitzenden Adligen sowie die neuen kaufmännischen und industriellen Eliten nicht in einem ausgeprägten Konkurrenzverhältnis. In der Perspektive des LAO-OAO Konzepts lassen sich der mit den preußischen Reformen einsetzende Liberalisierungsprozess und die territoriale Konsolidierung der deutschen Staaten dadurch erklären, dass die Reformer die wirtschaftliche Interessenlage der herrschenden Koalition sowie die fiskalische Notlage Preußens dazu nutzen konnten, wirtschaft22 23

North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2), S. 24. Vgl. zu diesem Abschnitt Wegner: Capitalist Transformation (wie Anm. 8), dort auch Hinweise auf die Literatur.

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liche und politische Restriktionen zu beseitigen (Gewerbefreiheit; persönliche Freiheit; Freizügigkeit; das Recht, Grund und Boden zu erwerben; die Aufhebung der wirtschaftlichen Beschränkungen für Juden; etc.). Die alten agrarischen Eliten setzten dem institutionellen Wandel, der die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise begünstigte, kaum Widerstand entgegen, weil auch sie profitieren konnten, indem sie zu Agrarkapitalisten wurden. Die Bürokratie gewann in diesem Prozess weiter an Unabhängigkeit, und die Kontrolle des (Verwaltungs-)Staates über Wirtschaft und Militär wurde gestärkt. Die wirtschaftlichen Freiheiten wurden vor allem in den westlichen Provinzen für neue Aktivitäten genutzt; besonders hier emanzipierten sich die Unternehmer kontinuierlich vom paternalistischen Staat. Substantielle Einschränkungen blieben in Preußen vor allem im Bergbau erhalten, in dem bis 1856 das Direktionsprinzip galt, und durch die Zulassungspflicht der Aktiengesellschaften. Noch immer bestand kein umfassendes Gewaltmonopol des Staates – so besaßen die Gutsbesitzer im Osten Preußens bis 1848 die Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeifunktionen –, doch der Einfluss des regionalen Adels wurde in Preußen wie in den anderen Staaten zugunsten der Monarchie und der Verwaltung weiter eingegrenzt. Verfahrensgerechtigkeit sowie Rechtsstaatlichkeit ersetzten gleichsam dem Bürgertum verweigerte politische Rechte. Ein solches neues Regime konnte von den alten adligen wie von den neuen kapitalistischen Eliten akzeptiert werden, da sie sich komplementär zueinander entwickelten, nicht im Konflikt. In den beiden Jahrzehnten nach 1848 verlieh das beschleunigte wirtschaftliche Wachstum der bestehenden politischen Ordnung Legitimität; es schuf damit zugleich die Voraussetzungen weiterer Unabhängigkeit der Wirtschaft vom Staat. Doch in der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die deutschen Staaten in politischer Hinsicht noch weit von einer open access order entfernt. Der Zugang zur politischen Macht stand nur einer kleinen Elite offen. Innerhalb dieses Rahmens hatte die kapitalistische Transformation begonnen: Die ‚dominante Koalition‘ hatte sich aufgrund rationaler ökonomischer Erwägungen gleichsam freiwillig einiger ihrer ökonomischen Privilegien entledigt und zugunsten der staatlichen Verwaltung auf politische Machtfunktionen verzichtet. Dieser Prozess wurde durch die Rivalität der deutschen Staaten begünstigt, denn es konnte kein Zweifel bestehen, dass die Wirtschaftskraft eines Staates wesentlich dessen politische Durchsetzungsfähigkeit bestimmte. Die ‚Interessen des Staates‘ lösten sich auf diese Weise tendenziell von der ihn tragenden Nobilität. In gleicher Weise optierten die meisten deutschen Fürsten für die Mitgliedschaft im Zollverein, die ihnen wirtschaftlich geboten und ihre politische Selbständigkeit nicht zu beeinträchtigen schien. Zudem beeinflusste auch der Wettbewerb mit den europäischen Staaten die preußische Politik. Ob in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine verstärkte politische Repräsentanz der neuen kaufmännischen und industriellen Eliten (wie in Großbritannien) die Entwicklungen in den deutschen Staaten beschleunigt oder verstärkt hätten, ist keineswegs gewiss. Vielfach setzte die administrative Führungsschicht wirtschaftsliberale Prinzipien (beispielsweise in der Zollpolitik) gegen den Widerstand bürgerlicher Interessengruppen durch. Denn vor allem den Unternehmern ging es oft nicht um die allgemeine wirtschaftliche Freiheit, wie sie das Konzept der limited and

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open access orders voraussetzt, sondern nur um die Ausweitung der eigenen ökonomischen Handlungsmöglichkeiten. 3.2. DAS DEUTSCHE KAISERREICH24 Im Rahmen des LAO-OAO Konzepts muss das deutsche Kaiserreich spätestens im 20. Jahrhundert als eine reife limited access order begriffen werden, in der die Voraussetzungen für den Übergang zu open access (doorstep conditions) bestanden: (1.) Rechtssicherheit (rule of law) für die Eliten; (2.) private und öffentliche Organisationen, die unabhängig von bestimmten natürlichen Personen existieren (perpetually lived organisations); (3.) konsolidierte Kontrolle des Gewaltpotentials.25 Allerdings legt die deutsche Geschichte die Annahme nahe, dass die wechselseitige Abhängigkeit zwischen wirtschaftlichen und politischen Freiheiten nicht so strikt sein könnte, wie die Autoren von „Violence and Social Orders“ annehmen. Denn im Kaiserreich bestand in wirtschaftlicher Hinsicht vollständige Offenheit, im politischen Bereich waren die Zugangsmöglichkeiten hingegen substantiell beschränkt. Der Übergang zu wirtschaftlicher Offenheit in (fast) allen deutschen Staaten hatte bereits im Deutschen Bund begonnen, hier verankerte das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 liberale Prinzipen; 1870 wurde auch die freie Gründung von Aktiengesellschaften ermöglicht. Das deutsche Kaiserreich ist ein Beispiel dafür, dass es nicht unmöglich ist, wirtschaftlichen Wandel und Wettbewerbsprinzipien einerseits mit eingeschränkt demokratischen Strukturen andererseits zu verbinden, wenn Eigentumsrechte geschützt sind, Rechtsstaatlichkeit besteht, Verträge durchgesetzt werden und zivilgesellschaftliche Strukturen sich entfalten können. Spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts waren durch die gemeinsame Währung, Maße und Gewichte, die einheitliche Handelsgesetzgebung sowie liberale Prinzipien der Unternehmensgründung (GmbH-Gesetz) alle wirtschaftlichen Freiheiten einer open access order realisiert. Die Rechtsstaatlichkeit war fest etabliert und durch eine bemerkenswert unabhängige Justiz gesichert. Auf der Ebene des Reiches galt das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle Männer, und politische Parteien konnten relativ frei etabliert werden. In vielerlei Hinsicht war das Kaiserreich liberaler als seine Nachbarstaaten. Doch handelte es sich in Deutschland nicht um eine konstitutionelle Monarchie, in der die Staatsgewalt der demokratischen Kontrolle unterlag. Die Möglichkeiten des Reichstags waren begrenzt; er konnte zwar Gesetze initiieren, aber nicht eigenständig verabschieden. Jedes Gesetz bedurfte der Zustimmung des Reichstags. Die vom Kaiser eingesetzte Regierung (Kanzler und Minister) war dem Parlament allerdings nicht verpflichtet. Eine parlamentarische Kontrolle des Militärs bestand ebenfalls nicht. In der Sprache des LAO-OAO Konzepts erstreckte sich die Rechtsstaatlichkeit nicht auf den Kaiser. Auch die Institutionen, die Polizei und Militär kontrollierten, waren keinem politischen Wettbewerb ausgesetzt. Doch 24 25

Vgl. zu diesem Abschnitt Grimmer-Solem: Mature Limited Access (wie Anm. 8) und Reckendrees: Weimar Germany (wie Anm. 8), S. 41–45, beide mit Hinweisen auf die Literatur. North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2), S. 24–26, 151.

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ungeachtet der substantiellen parlamentarischen und demokratischen Defizite hatte die institutionelle Trennung der politischen Macht zwischen Kaiser, Bundesrat, Reichskanzler und Reichstag einerseits und zwischen den Einzelstaaten des Reiches andererseits sowie die resultierende ökonomische Schwäche des Zentralstaats einen stabilen Ordnungsrahmen für wirtschaftliche Entwicklung geschaffen. Diese Struktur begünstigte auch den ökonomischen (und kulturellen) Wettbewerb zwischen den Einzelstaaten.26 Legitimität erhielt das Regime zudem durch ein Bildungs- und Ausbildungssystem, das von open access orders als vorbildlich angesehen und kopiert wurde, durch das Sozialversicherungssystem sowie durch ausgedehnte öffentliche Dienstleistungen z. B. im Verkehrswesen, in der Gesundheitsversorgung, in der Infrastruktur (Wasser- und Abwasserversorgung). Die Verwaltung auf der staatlichen und kommunalen Ebene wurde als effizient und relativ neutral wahrgenommen. Bestechlichkeit oder Klientelismus scheinen weniger ausgebreitet gewesen zu sein als in vielen anderen Staaten, einschließlich der open access orders. Unter diesen Bedingungen entstand auch die Vorstellung eines positiv konnotierten deutschen ‚Sonderweges‘ oder eines ‚Dritten Weges‘:27 Es war dem deutschen Kaiserreich gelungen, seine Wettbewerber in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht einzuholen, ohne den Weg in den Parlamentarismus zu beschreiten, der weder für Großbritannien noch für die USA politische Stabilität mit sich brachte.28 Nicht besondere Instabilität oder Krisenanfälligkeit, sondern der Erste Weltkrieg und seine Folgen ließen das Regime letztendlich stürzen. Das Kaiserreich mag als Beispiel für die Möglichkeit angesehen werden, dass internationaler Wettbewerb dazu führen kann, dass eine open access order den wirtschaftlichen Eliten als weniger attraktiv erscheinen mag als eine eingeschränkt offene Ordnung. Die deutsche Volkswirtschaft war unter diesen Bedingungen schneller gewachsen als ihre europäischen Konkurrenten, und den wirtschaftlichen Eliten erschien die Demokratie nach britischem Vorbild wenig verlockend. Auch ‚Zivilisationskritik‘ an der modernen demokratischen Gesellschaft artikulierte sich eher im Bildungsbürgertum als bei den alten Eliten, wie es das LAO-OAO Konzept annehmen würde. Wirtschaftliche Prosperität und gute Verwaltung im öffentlichen Interesse scheinen in der öffentlichen Meinung wichtiger gewesen zu sein als eine demokratische Regierungsform. Der bürokratisch-rationale Verwaltungsstaat bot den neuen wirtschaftlichen Eliten größere Freiheit und mehr Sicherheit als sie von einer unsicheren parlamentarischen Mehrheitsbeschaffung erwarteten. Sie sahen ihre Vorstellungen und Interessen innerhalb der Ordnung des Kaiserreichs gut ver26

27 28

Es stellt sich hier die Frage, wie die Theorie des „market preserving federalism“ (Weingast) mit dem LAO-OAO Konzept verbunden werden kann; vgl. Barry R. Weingast: The Economic Role of Political Institutions. Market Preserving Federalism and Economic Development, in: Journal of Law, Economics and Organisation 7 (1995), S. 1–31. Vgl. mit weiterer Literatur Grimmer-Solem: Mature Limited Access (wie Anm. 8), S. 100 f. Die vielfältigen politischen Krisen in Staaten, die als OAO gekennzeichnet werden, können und brauchen hier nicht vorgestellt werden; sie reichen vom Burenkrieg und dessen Folgen zu Verfassungskrisen sowie gravierenden Armutsproblemen oder von Gewalt und Korruption hin zu imperialistischen Exzessen.

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treten. Forderungen nach einer weiteren Demokratisierung wurden in der Regel nicht unterstützt. Einerseits hatte bereits die Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Norddeutschen Bund eher den Konservativen genützt, andererseits befürchteten viele Bürgerliche eine weitere Stärkung der Sozialdemokratie, besonders als diese zur stärksten politischen Kraft im Reichstag geworden war. Große Teile des Bürgertums fungierten daher als Bewahrer der bestehenden Ordnung.29 Wesentlich für den Erfolg dieses politischen Systems war die internationale Wirtschaftsordnung, welche den politischen Konflikten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts standhielt. Auch wirkten die open access orders Großbritannien und Frankreich nicht immer zugunsten wirtschaftlicher und politischer Offenheit, sondern verfolgten (auch) eine nationalstaatlich orientierte Machtpolitik, die die limited access order des Kaiserreichs bekräftigte. 3.3. DIE WEIMARER REPUBLIK30 Jeder Versuch, eine Geschichte der Weimarer Republik zu erzählen, ist der Gefahr ausgesetzt, sie auf ihre Auflösung hin zu konstruieren. Viele Schlussfolgerungen, die in der Bundesrepublik aus dem Scheitern der Republik gezogen wurden, scheinen im Rückblick deren Versagen zu erklären.31 Hier wird eine andere Sicht vorgeschlagen und Weimar in den Jahren von 1924 bis 1930 als eine open access order angesehen, ähnlich wie Frankreich, Großbritannien und die USA. Während der Weltwirtschaftskrise versprachen sich jedoch starke Interessengruppen von einer autoritären Politik einen günstigeren Ordnungsrahmen. In ‚Weimar‘ wurden der schon im Kaiserreich realisierte offene Zugang zu wirtschaftlichen Aktivitäten sowie der wirtschaftliche Wettbewerb aufrechterhalten und um den offenen Zugang zu Politik und politischem Wettbewerb erweitert. Dabei waren die Bedingungen nach dem verlorenen Krieg, dem Revolutionsjahr 1918/19, bürgerkriegsähnlichen Zuständen und rechtsradikalem Terror in den Anfangsjahren keineswegs günstig. Die Kontrolle der Gewalt war ein zentrales Problem der jungen Republik. Doch seit 1924 wurde das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt; es wurde mit der Entlassung des Generals von Seeckt (1926) gefestigt. Eine zweite Herausforderung waren die sozialen und ökonomischen Probleme, vor allem die Finanzierung der Kriegsschulden, die (im Innern) durch Inflation bewältigt wurde. Trotz dieser Schwierigkeiten und Verwerfungen stabilisierte sich die Demokratie. Seit 1920 lag der Anteil der auf die Parteien der Weimarer Koalition 29

30 31

Mehrparteiensysteme und sozialistische Orientierungen stellen eine Herausforderung für das LAO-OAO Konzept dar, in dem Interessengegensätze von Kapital und Arbeit keine nennenswerte Rolle spielen. Die Schlussfolgerungen, die wir daraus ziehen, werden im Schlussteil weiter diskutiert. Vgl. zu diesem Abschnitt Reckendrees: Weimar Germany (wie Anm. 8), dort auch Hinweise auf die Literatur. Die plebiszitären Elemente der Weimarer Verfassung und die Machtbefugnisse des Präsidenten fanden keinen Eingang in die Verfassung der Bundesrepublik, und die Fragmentierung des Parlaments wurde unterbunden.

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entfallenden Stimmen zwischen 43 und 45 Prozent; seit 1924 verloren die Rechtsparteien deutlich an Unterstützung. Dies änderte sich erst während der Weltwirtschaftskrise. Im Sommer 1924 waren die Revolutionswirren überstanden, die Ruhrbesetzung beendet, die Inflation überwunden, eine neue Währung eingeführt, der Dawes-Plan unterzeichnet – die Nachkriegszeit war vorbei und die Voraussetzungen für wirtschaftliche Stabilität waren gegeben, obschon schwierige wirtschaftliche Bedingungen und die durch die Kriegsfolgen verschärfte internationale Konkurrenz zu Anpassungen sowie Konzentrations- und Rationalisierungsprozessen zwangen. ‚Weimar‘ erfüllte nun die Kriterien einer open access order. Einschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit waren durch demokratische Gesetze festgelegt und konnten durch politischen Wettbewerb verändert werden. Die politische Offenheit war entsprechend groß, auch wenn viele Mitglieder der bürgerlichen Parteien, insbesondere der Deutschen Volkspartei, sich eher als ‚Vernunftrepublikaner‘ verstanden. Nicht zu wenig, vielleicht eher zu viel politischer Wettbewerb und politische Fragmentierung scheinen problematisch gewesen zu sein. Beides hatte zu kostspieligen Kompromissen geführt. Doch trotz vieler Wahlen und Regierungswechsel erwies sich die tragende Koalition der Republik zwischen 1924 und 1930 als stabil. Implizit hatten sich die wirtschaftlichen Eliten und die Mehrheit der Parteien auf eine open access order verständigt; Politik und Wirtschaft ‚kontrollierten‘ sich in dieser Zeit weitgehend. Selbst der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital war weitgehend moderiert. Nach 1924 akzeptierten die Gewerkschaften sogar längere Arbeitszeiten und Rationalisierung, solange die Löhne der wirtschaftlichen Entwicklung folgten und die betriebliche Mitbestimmung akzeptiert wurde. Im LAO-OAO Konzept wird davon ausgegangen, dass die beiden Ordnungen sich dadurch unterscheiden, dass in einer limited access order die Eliten durch ihre politisch privilegierte Stellung Renten kreieren können. Dies war in Weimar nicht möglich. Allerdings hatte sich die Wirtschaftsordnung in Richtung einer ‚mixed economy‘ geändert, in der Umverteilung und privatwirtschaftliche Autonomie Gegenstände des politischen Konflikts waren. Die Kooperation von Arbeit und Kapital war ein konstituierender Faktor der Republik. In Form des Stinnes-Legien-Abkommens (1918) hatte sie die privatwirtschaftliche Ordnung gerettet, indem sie eine Nationalisierung der Schwerindustrie zu vermeiden half. In den kommenden Jahren wurden die Tarifparteien jedoch aufgrund des Systems der staatlichen Schlichtung von Tarifkonflikten aus der politischen Verantwortung entlassen. Es ließ den Staat je nach Perspektive als Gewerkschaftsstaat oder Arbeitgeberstaat erscheinen. Ein zweiter konstituierender Faktor war die Sozialpolitik, deren Ausweitung widersprüchliche Effekte hatte. Sie half, die Republik zu legitimieren (insbesondere die Jugend- und Gesundheitsfürsorge, die Kriegsversehrten- und Witwenversorgung sowie der soziale Wohnungsbau), und sie erschien den Arbeitgebern als eine Vorstufe des Sozialismus (insbesondere die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung). Doch Sozialpolitik half auch, den wirtschaftlichen Wettbewerb und die „schöpferische Zerstörung“32 bestehender Strukturen politisch akzeptabel zu machen. 32

North/Wallis/Weingast: Violence and Social Orders (wie Anm. 2), S. 115–117, verweisen aus-

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Dennoch ist Weimar gescheitert. Ein wichtiger Grund war die außerordentliche Belastung der sozialen Ordnung durch die Weltwirtschaftskrise, die zu politischer Radikalisierung führte. Zudem waren die Handlungsspielräume des Staats durch die internationale politische Ökonomie – den Goldstandard, die Vereinbarungen im Zusammenhang des Dawes-Plans und die Reparationspflichten – eng begrenzt. Als ab 1930 weltweit beggar-thy-neighbor politics nationale Ressentiments verstärkten, resultierte dies nicht nur in einer weiteren Schwächung der Weltwirtschaft, sondern auch in einer Delegitimierung des politischen Systems. Zugleich stellten die wirtschaftlichen Eliten den sozialen Kompromiss der Republik in Frage, als die unternehmerischen Gewinne wegen steigender Reallohnkosten und sinkender Nachfrage schrumpften und ausblieben. Sicher waren die Löhne in ‚Weimar‘ im historischen Vergleich hoch, vielleicht sogar ‚zu hoch‘, wie Knut Borchardt argumentiert hat.33 Doch 1918 war diese Lohnstruktur der Preis gewesen, zu dem sich Sozialdemokratie und Gewerkschaften mit dem Fortbestand der Privatwirtschaft in der Schwerindustrie einverstanden erklärt hatten. Unter den Krisenbedingungen behinderte die Politisierung der Frage der Wirtschaftsordnung (ebenso wie mangelnde internationale Kooperation) die Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Die Regierung war bald nicht mehr in der Lage, die Verteilungskonflikte auf eine Weise zu lösen, die von allen Beteiligten akzeptiert wurde, und die politischen Institutionen besaßen keine hinreichende Integrationsfähigkeit mehr. Die Republik hatte ihre „output“ Legitimität34 verloren; darunter litt die Legitimität der politischen Demokratie („input“ Legitimität). Auch die Wahrnehmung der Inflationsperiode veränderte sich, und die „goldenen Zwanziger“ Jahre erschienen vielen nun lediglich als kurze Unterbrechung einer dauerhaften Krise. Seither setzte ein wachsender Teil der Bevölkerung auf autoritäre Lösungen. Nach Karl Dietrich Bracher fehlten der Demokratie die Demokraten;35 in Bezug auf das LAO-OAO Konzept könnte man argumentieren, dass die doppelte Balance zwischen Politik und Wirtschaft (die wechselseitige Durchsetzung der Offenheit im jeweils anderen System) Anfang der 1930er Jahre nicht mehr wirkte. Rechte Parteien und Gruppen in unterschiedlichen politischen Organisationen versprachen sich von einer Einschränkung der Demokratie bessere wirtschaftliche Chancen. Und viele Unternehmer, die aus ihrer Sicht in der Revolution von 1918 zu viele Kompromisse mit den Gewerkschaften hatten machen müssen, sahen die Wirtschaftskrise als Chance, die kostspieligen Zugeständnisse nachhaltig zu revidieren. Dazu wünschten sie einen Regimewechsel. Anders als es das LAO-OAO Konzept annehmen würde, sahen die wirtschaftlichen Organisationen die Einschränkung des offenen Zugangs drücklich auf „Schumpeter’s insights“. 33 Knut Borchardt: Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.): Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 50). Göttingen 1982, S. 183–205, und Ders.: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der Großen Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision eines überlieferten Geschichtsbildes, in: Ebd., S. 165–182. 34 Fritz W. Scharpf: Governing in Europe. Effective and Democratic? Oxford 1999. 35 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Düsseldorf 1984 (Erstveröffentlichung Stuttgart 1955).

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zur Politik nicht als Bedrohung an, sondern die meisten unterstützten antidemokratische Politik. Schließlich wurde die parlamentarische Demokratie durch eine parlamentarische Mehrheit abgeschafft. 4. IMPLIKATIONEN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE FÜR DAS LAO-OAO KONZEPT Für Historiker und Historikerinnen bringt eine Erzählung der deutschen Geschichte in der Perspektive des Konzepts von „Violence and Social Orders“ keine tiefgreifenden neuen Erkenntnisse im Sinne von „Fakten“ hervor. Doch das zugrunde liegende Modell ermöglicht es, die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert in einer vergleichenden Perspektive zu diskutieren. Dies kann auch dazu beitragen, die Vorstellung von einem „deutschen Sonderweg“ zu überwinden. Limited access orders sind in der Perspektive von North, Wallis und Weingast die historische Regel, nicht die Ausnahme. Die Nutzung des Konzepts lässt Dynamiken in der Wechselwirkung von Politik und Wirtschaft erkennen, die bislang nicht für einen langen Zeitraum in den Blick genommen worden sind. Sie konnten hier nur angedeutet werden; die bereits erwähnten, diesem kurzen Beitrag zugrunde liegenden Aufsätze36 liefern eine umfassendere Argumentation. Eine Erzählung der deutschen Geschichte in der Perspektive des LAO-OAO Konzepts ist vor allem institutionenökonomisch interessant, denn die deutsche Geschichte fügt sich nicht ohne weiteres in dieses Modell, obschon die Autoren des Konzepts ihre These mit internationalen Beispielen aus der Gegenwart und der Geschichte untermauern. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, wie unter spezifischen Bedingungen ein Liberalisierungspfad eingeschlagen werden kann, ohne dass nennenswerte politische Partizipationsrechte außerhalb der dominanten Koalition bestehen. Das Kaiserreich führt vor Augen, wie eine nahezu vollständig liberalisierte Wirtschaftsordnung (und eine hoch entwickelte Zivilgesellschaft) mit eingeschränkten Partizipationsrechten konform gehen und ein erstaunliches Maß an Stabilität bei hoher ökonomischer (und kultureller) Dynamik aufweisen kann. Die Weimarer Republik wiederum ist ein Beispiel für eine open access order, der es trotz weitreichender ökonomischer und politischer Handlungsmöglichkeiten an gesellschaftlicher Unterstützung ermangelt. Wenn sich also die deutsche Geschichte gegen eine einfache Subsumption unter das Modell sperrt, so führen wir dies auf sehr weitreichende Komplexitätsreduzierungen des Modells zurück. Im Folgenden möchten wir skizzieren, welche Richtung eine Weiterentwicklung des LAO-OAO Konzepts einschlagen könnte, um seine Aussagekraft zu vergrößern. Wir sehen vor allem zwei große Herausforderungen für das Konzept: (1.) Wenn sich doch politischer und wirtschaftlicher Wettbewerb (und damit auch Leistungsfähigkeit) gegenseitig bedingen und bestärken, wie kann dann der große wirtschaftliche Erfolg von LAO (wie dem deutschen Kaiserreich oder den sogenannten „Tiger36

Vgl. Anm. 8.

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staaten“) erklärt werden? (2.) Der Vergleich zwischen dem Kaiserreich und der Weimarer Republik zeigt, dass wirtschaftliche sowie politische Offenheit sich vielleicht nicht immer gegenseitig bedingen und dass eventuell die Stabilitätsbedingungen von open access orders präzisiert werden müssen. (1.) Ein wichtiger Schritt zur Erklärung des ersten Phänomens könnte die Einbeziehung internationaler Dimensionen sein. Das in „Violence and Social Orders“ vorgestellte Konzept betrachtet die historische Entwicklung von limited zu open access orders auf der Ebene voneinander unabhängiger nationalstaatlicher Entwicklungen. Zwar verbreiten sich Ideen, doch die politischen und wirtschaftlichen Organisationen agieren unbeeinflusst von der internationalen Politik und Wirtschaft. Falls eine solche Interpretation für die Epoche der Bildung der europäischen Nationalstaaten möglich sein sollte, so verweist die deutsche Geschichte darauf, dass damit eine stark abstrahierende und spätestens für das 20. Jahrhundert nicht mehr vertretbare Reduzierung der für wirtschaftliche und politische Entwicklung relevanten Faktoren einhergeht. So sind seit Ende des Ersten Weltkriegs internationale Organisationen Akteure in der deutschen Politik und Wirtschaft. Und bereits im späten 19. Jahrhundert hat die wirtschaftliche sowie politische Konkurrenz zwischen den Staaten internationale Koalitionen jenseits politischer und wirtschaftlicher Offenheit hervorgebracht und damit open access beziehungsweise limited access orders bekräftigt. Es könnte daher sein, dass internationale Politik die Transformation wirtschaftlich erfolgreicher limited access orders zu open access orders eher behindert als befördert hat.37 Wir sind derzeit noch nicht im Stande, diese Beobachtungen zu modellieren, doch könnten internationale Dimensionen im Rahmen des Konzepts von „Violence and Social Orders“ vielleicht als Anwesenheit oder Abwesenheit äußerer Bedrohung modelliert werden, oder über den Nationalstaat hinausweisende Verflechtungen als „Empire“ Berücksichtigung finden. Die Geschichte Deutschlands, Japans, Singapurs und vielleicht auch Chinas zeigt, dass wirtschaftliche Offenheit und Konkurrenz auch in autoritären Staaten bestehen und erheblichen Wohlstand erzeugen können. Diese Regime sind nicht unbedingt instabil, können vielleicht sogar langfristig überleben – das deutsche und das japanische Kaiserreich wurden nicht durch innere Widersprüche, sondern durch Kriege beseitigt. Demgegenüber bauen North, Wallis und Weingast implizit auf der sogenannten Hayek-Friedman These auf, nach der ein hoher Grad politischer Freiheit auch einem hohen Grad wirtschaftlicher Freiheit entsprechen muss und umgekehrt. Diese Annahme bestätigt die deutsche Geschichte nicht ohne weiteres. (2.) „Violence and Social Orders“ lässt open access orders per se als stabil erscheinen. In der Logik des Modells sind Politik und Wirtschaft als eine Art Schaukel abgebildet. Wenn eine herrschende politische Koalition zu sehr in wirtschaftliche Freiheit eingreift (oder die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu sehr begrenzt), werden wirtschaftliche Organisationen andere politische Kräfte unterstützen oder neue Parteien bilden, die das politische Gleichgewicht zugunsten wirtschaftlicher Freiheit verschieben. Falls wirtschaftliche Monopole entstehen, artikulieren sich in 37

Grimmer-Solem: Mature Limited Access (wie Anm. 8) diskutiert die Parallelen zwischen dem deutschen Kaiserreich im 19. Jahrhundert und dem modernen China.

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offenen politischen Systemen die benachteiligten Interessen und führen ein neues politisches sowie wirtschaftliches Gleichgewicht herbei. Die gewollte Selbstabschaffung der politischen Offenheit durch eine Massenbewegung (wie am Ende der Weimarer Republik) sieht das LAO-OAO Konzept nicht vor. Wenn man das Scheitern der Weimarer Republik als Scheitern einer open access order betrachten möchte, hat sich nach 1930 wirtschaftliche Offenheit nicht mehr in Unterstützung für offenen Zugang zur Politik umgesetzt, sondern eine politische Mehrheit hat diesen Zugang vielmehr begrenzt. Anstatt politischen Wettbewerb zu befördern, wie es das Modell annimmt, hätten sich dann die wirtschaftlichen Organisationen gleichsam „entschieden“, dass die reife limited access order des Kaiserreichs mehr Wohlstand und Prosperität als die bestehende open access order hervorbringen würde. Im Rahmen des Modells bestehen zwei Möglichkeiten, diesen Befund zu interpretieren: (1.) Die Stabilitäts- oder Reproduktionsbedingungen von open access orders sind in dem Konzept nicht hinreichend spezifiziert. (2.) Die Hypothese, dass die Weimarer Republik für wenige Jahre eine open access order gewesen sei, ist falsch (weil keine double balance von wirtschaftlicher und politischer Offenheit bestand). Unsere Überlegungen verweisen auf die erste Möglichkeit. Demokratische Prozesse müssen keineswegs immer Stabilität hervorbringen, sondern können auch destabilisierend auf die politische wie die ökonomische Ordnung wirken. Soll eine open access order stabil bleiben, müssen die Gruppen ihre Verteilungskonflikte so bewältigen, dass die Funktionsfähigkeit der wirtschaftlichen und der politischen Ordnung gewahrt bleibt. Allerdings unterliegen die Gruppen in einer open access order keineswegs automatisch einer Verhaltensdisposition, die diesem Ziel entspricht. Sie können durchaus politische Macht für Gruppeninteressen einsetzen und die open access order gefährden. Dies verweist darauf, dass einer open access order bestimmte Verhaltensnormen (informelle Institutionen) zugrunde liegen dürften, die den Organisationen Selbstrestriktionen auferlegen, zum Beispiel den Verzicht, Minderheiten ihrer Rechte zu berauben. Eine realitätsnähere Modifikation des Konzepts wird beschreiben müssen, wie divergierende Interessen durch Legitimität statt durch staatliche Gewalt koordiniert werden können. Denn es kommt nicht nur darauf an, wer politische Macht ausübt, worauf das Konzept von „Violence and Social Orders“ abstellt, sondern auch wie diese Macht ausgeübt wird. Ein besonderes Problem stellt sich vermutlich für neue open access orders, in denen die Willensbildungs- und Aushandlungsprozesse noch nicht eingeübt sind und eine enttäuschende ökonomische Performanz der Ordnung selbst (und nicht ihren Akteuren) zugerechnet wird. Denn eine soziale Ordnung, dies zeigt die positive Wahrnehmung des Kaiserreichs in der Weimarer Zeit, legitimiert sich nicht (allein) durch Verfahren, sondern auch durch ihre wirtschaftlichen und sozialen Ergebnisse. Wir denken, dass Erweiterungen und Anpassungen des LAO-OAO Konzepts möglich sind und dass es sich lohnt, dessen Gedanken weiter zu entwickeln, um politische sowie wirtschaftliche Dynamiken in ihrer komplexen Interdependenz analytisch zu erfassen.

KONFLIKTE ZWISCHEN INDUSTRIEELITEN UND ARBEITERSCHAFT IN DER EUROPÄISCHEN NEUORDNUNG NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Marcel Boldorf, Lyon 1. EINLEITUNG Die deutschen Angriffe des Zweiten Weltkrieges überzogen die angrenzenden Länder mit militärischen Handlungen, die Tod und Vernichtung mit sich brachten. Für eine kriegswirtschaftliche Nutzbarmachung wurde in den besetzten Gebieten ein Verwaltungsapparat aufgebaut, der für eine Steigerung der Wirtschaftsleistung zu sorgen hatte. Zu diesem Zweck wurde eine kleine Zahl von Ministerialbeamten und sonstigen Fachleuten in die Länder entsandt. Um ihre Aufgaben zu erfüllen, waren sie in der Regel auf die Mitarbeit der existierenden Verwaltungen und vor allem der kriegsrelevanten Unternehmen angewiesen. Unternehmer wurden in den seltensten Fällen enteignet, sondern verblieben in ihrer Funktion. Mangels verfügbarer Truppen wurden sie meist nicht einmal kontrolliert oder überwacht. Diese europaweit im deutschen Hegemonialbereich anzutreffende Konstellation führte zur Frage nach Mitschuld und Mittäterschaft der kollaborierenden Industrieelite. In besonderer Schärfe stellte sich das Problem nach Kriegsende, als die Eigentümer und leitenden Angestellten der Industriekonzerne, die für deutsche Zwecke gearbeitet hatten, zur Rechenschaft gezogen wurden. In vielen Ländern formierten sich soziale Bewegungen, die teilweise der alten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung entsprangen. Sie bemühten sich um Verfolgung und Festsetzung der beschuldigten Unternehmer. Der Grundkonflikt um diese „Säuberungen“ steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Die Art der kriegswirtschaftlichen Ausbeutung, die sich Deutschland als Besatzungsmacht in zahlreichen Ländern Europas zuschulden kommen ließ, hing eng mit der Organisation der Besatzungsherrschaft zusammen. Je nach Typus waren die einheimischen Verwaltungs- und Industrieeliten als kollaborierende Kräfte mal stärker, mal weniger stark in die Herrschaftsausübung einbezogen. Entsprechend war die Frage, in welcher Weise die Industrieeliten nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, eng mit der Besatzungsorganisation im Krieg verknüpft. Von diesem Ansatz ausgehend sollen im Folgenden verschiedene Modelle der Besatzungsherrschaft sowie die mit ihnen zusammenhängenden Verfolgungspraktiken im Nachkriegseuropa typologisch erfasst werden.

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2. PRÄGEKRAFT DES BESATZUNGSREGIMES Als die Macht des nationalsozialistischen Regimes 1942/43 ihren Höhepunkt erreichte, kontrollierte die Wehrmacht großflächige Gebiete, die in allen Himmelsrichtungen an das Reich angrenzten. In diesen entwickelten sich verschiedene Typen von Besatzungsherrschaft, die bereits der NS-Ideologe Werner Best 1941 in vier Verwaltungsformen eingeteilt hatte:1 a) Bündnisverwaltung, b) Aufsichtsverwaltung, c) Regierungsverwaltung, d) Kolonialverwaltung. Einzig in Dänemark war die deutsche Besatzungsmacht nur durch einen Reichsbevollmächtigten vertreten und enthielt sich tiefer Eingriffe in die Rechts- und Staatsordnung, sodass hier der erste Typus vorherrschte. Für die Länder im Westen und Norden Europas wie Frankreich und Belgien sowie die Reichskommissariate Niederlande und Norwegen lässt sich in Anschluss an Best von einer Aufsichtsverwaltung sprechen. Die „Beauftragten des Führungsvolkes“ sollten die landeseigene Verwaltung mit Hilfe von einheimischen Fachleuten aller Ressorts anleiten und kontrollieren.2 Trotz gewisser Spielräume für die einheimischen Verwaltungen ließ diese Herrschaftstechnik keinen Zweifel an der Überordnung der Besatzungsmacht, deren Weisungshoheit eindeutig festgelegt war. Den dritten Typus der Regierungsverwaltung verkörperte vor allem das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Dort nahmen zugewanderte Deutsche oder die ansässigen nordböhmischen Sudetendeutschen immer mehr strategisch wichtige Positionen ein, aus denen sie die Tschechen verdrängten. Auch für den Bereich der Wirtschaft lässt sich dies als Germanisierungsstrategie deuten.3 Die Forschung ordnet alle genannten Typen – mit Abstrichen auch das so genannte Reichsprotektorat – einem westlichen Grundmuster der Besatzungsorganisation zu. In diesen Fällen kann der Verzicht auf die Durchsetzung eines ideologisch bestimmten Gesellschaftsmodells als Voraussetzung für die erfolgreiche Etablierung der Kollaboration gedeutet werden.4 Obwohl die Einflussnahme der Industrie- und Verwaltungseliten auf grundsätzliche Fragen der Wirtschaftsordnung begrenzt blieb, war ihre Zusammenarbeit mit der feindlichen Besatzungsmacht doch sehr entscheidend für die Integration der okkupierten Gebiete in die deutsche Kriegswirtschaft. Von diesem westlichen lässt sich ein östlicher Typus der Besatzungsherrschaft unterscheiden, den Best euphemistisch als Kolonialverwaltung bezeichnete. In Mittelost- und Osteuropa erlaubte es die nationalsozialistische Ideologie- und Rassen1 2

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Werner Best: Großraumordnung und Großraumverwaltung, in: Zeitschrift für Politik 32 (1942), S. 406–412. Zit. nach: Werner Röhr: System oder organisiertes Chaos? Fragen einer Typologie der deutschen Okkupationsregime im Zweiten Weltkrieg, in: Robert Bohn (Hg.): Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940–1945 (Historische Mitteilungen, Beiheft 26). Stuttgart 1997, S. 11–46, hier 14. Jaromír Balcar / Jaroslav Kucˇ era: Von der Fremdherrschaft zur kommunistischen Diktatur. Die personellen Umbrüche in der tschechoslowakischen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/2, S. 71–94, hier 76–85. Johannes Bähr / Ralf Banken: Ausbeutung durch Recht? Einleitende Bemerkungen zum Einsatz des Wirtschaftsrechts in der deutschen Besatzungspolitik 1939–1945, in: Dies. (Hg.): Das Europa des „Dritten Reichs“. Recht, Wirtschaft, Besatzung (Das Europa der Diktatur 5 / Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 181). Frankfurt a. M. 2005, S. 1–30, hier 6.

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politik nicht, dass eigenständige Verwaltungsformen erhalten blieben. Der Umgestaltungswille bezog sich auf das Gesellschaftssystem als Ganzes, und die Industrieeliten wurden aufs Schärfste verfolgt. In Polen wurden Angehörige der Industrieelite von der deutschen Sicherheitspolizei nach vorbereiteten Listen verhaftet und teilweise erschossen.5 Die Enteignung ihrer Unternehmen lag in den Händen der Berliner Haupttreuhandstelle Ost und ihr nachgeordneter Treuhandstellen in den besetzten Territorien.6 Die NS-Unterwerfungsstrategie verband sich mit einer Entrechtung der wirtschaftlichen Führungsgruppen der besetzten Länder Osteuropas. Die Vernichtungsmaßnahmen der sog. Kolonialverwaltung zielten auf die Versklavung der besetzten Gebiete. Obwohl das Reichsprotektorat zu dem rassistisch abgewerteten Teil Ostmitteleuropas zählte, erlaubte seine industrielle Struktur es nicht, dass die Unterwerfung dort in gleicher Weise wie in Polen sowie den Reichskommissariaten Ukraine und Weißrussland praktiziert wurde. 3. TYPOLOGISIERUNG DER NACHKRIEGSKONSTELLATIONEN Die Formierung sozialer Bewegungen nach dem Krieg lässt sich im Hinblick auf Wiederherstellung zivilgesellschaftlicher Verhältnisse interpretieren. Vor allem einte sie das Bindeglied des Antifaschismus sowie der Wille zur Beseitigung der Spuren der NS-Herrschaft. In diesem Kontext wurden die Industrieeliten häufig als wesentliche Kriegsverantwortliche ausgemacht, was in der Forderung der Entfernung und Degradierung der Unternehmer und leitenden Manager mündete. Zudem schien manchem Vertreter der Arbeiterbewegung der notwendige Aufbau nur ohne Beteiligung der alten Eliten machbar zu sein. Die sozialen Bewegungen hatten mehrere Ursprünge: In Ländern wie Frankreich und Italien, zum Teil auch in Deutschland, fußten sie in den Widerstandsbewegungen gegen Faschismus und Nationalsozialismus. In den beiden romanischen Ländern hatte der Widerstand ein großes Gewicht, denn er stand unter Waffen und hatte einen aktiven Beitrag zur nationalen Befreiung geleistet. In diesem Kontext entwickelte die politische Linke eine besondere Stärke, die sich teilweise im Widerspruch zu bürgerlichen Kreisen befand, z. B. in Frankreich zur ehemaligen Exilregierung unter General Charles de Gaulle. Aus dieser Konfliktsituation entsprangen meist wirkungsmächtige soziale Bewegungen, während ihre Bedeutung dort geringer war, wo der Widerstand weniger aktiv gewesen war. Diese Beobachtungen lassen eine Differenzierung für die besetzten Länder auf regionaler Ebene zu. Parallel zu neuen sozialen Bewegungen formierte sich die alte Arbeiterbewegung neu, 5 6

Michael G. Esch: „Gesunde Verhältnisse“. Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939–1950 (Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung 2). Marburg 1998, S. 26. Ingo Loose: Kredite für NS-Verbrechen. Die deutschen Kreditinstitute in Polen und die Ausraubung der polnischen und jüdischen Bevölkerung 1939–1945 (Studien zur Zeitgeschichte 75). München 2007, S. 323; vgl. auch: Bogdan Musial: Recht und Wirtschaft im besetzten Polen (1939–1945), in: Bähr/Banken (Hg.): Europa des „Dritten Reichs“ (wie Anm. 4), S. 31– 57, hier 41 f.

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vor allem die Gewerkschaften, doch war auf dieser Seite der Wille zu einer radikalen politischen Umgestaltung weniger ausgeprägt. Auf der Ausgangsüberlegung beruhend, dass die Nachkriegssituation in enger Weise mit der Besatzungskonstellation und der Gegenformation der sozialen Bewegungen verknüpft war, sollen hier zwei idealtypische Modelle eingeführt werden: ein Konflikt- und ein Konsensmodell. Der erste Begriff bezieht sich auf Fallstudien zu Ländern mit starken sozialen Bewegungen, der zweite auf solche, in denen diese schwach entwickelt oder sogar abwesend waren. Letzteres schloss allerdings eine Etablierung links orientierter Nachkriegsregime nicht aus. Danach erfolgen eine Beschreibung des sozialistischen Modells und zuletzt eine Einordnung des geteilten Deutschland, das Elemente aller drei genannten Modelle aufwies. a) Konfliktmodell Ein wichtiges gemeinsames Kennzeichen der deutsch besetzten Länder des europäischen Südens war die tiefe Spaltung zwischen Sympathisanten und Gegnern des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft, die zu einer schweren Belastung der Stabilität führte. Beispielhaft für diese Konstellation stehen Frankreich und Italien, aber auch Jugoslawien und Griechenland. Hier waren Partisanengruppen für wilde Verfolgungen sowie Akte der Selbstjustiz gegenüber den Kollaborateuren verantwortlich.7 Den scharfen Gegensatz zwischen Nachkriegsregierungen und den kollaborationsbereiten Regimes im Krieg brachte die Bezeichnung „Nationales Befreiungskomitee“ zum Ausdruck. In Algier wurde im Juni 1943 das Comité français de la Libération nationale (CFLN) unter Charles de Gaulle gebildet. In Italien stellte sich seit 1943 das Comitato di Liberazione Nazionale als provisorische Regierung der letzten Bastion des Faschismus, der Repubblica Sociale Italiana, entgegen. Die politische Neuformierung stand in beiden Ländern maßgeblich unter Kontrolle dieser nationalen Befreiungsregierungen. Die Organisation des politischen Säuberungsprozesses erfolgte unter Rahmenbedingungen, die durch eine unversöhnliche Zweiteilung der Gesellschaften geprägt waren. Beispielsweise drohten in Frankreich bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen den Lagern der Gaullisten, d. h. der Exilregierung der Kriegszeit, und den Pétainisten, also den Anhängern der kollaborierenden Vichy-Regierung. Auch in Italien hatte eine starke Partisanenbewegung existiert, sodass das Land von tiefen politischen Gräben durchzogen war. Allgemein erlebten die unter dem Faschismus und Nationalsozialismus Verfolgten und Entrechteten, namentlich die Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschaftler, in dieser Zeit politisch einen erheblichen Auftrieb.

7

Ekkehard Völkl: Abrechnungsfuror in Kroatien, in: Klaus-Dieter Henke / Hans Woller (Hg.): Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1991, S. 358–394, hier 371; vgl. auch: Žarko Lazarevic´: The Replacement of Economic Elites in Slovenia after World War II, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/2, S. 147–164.

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Dieser tiefe Bruch ging meist schon auf Maßnahmen der Gegenregierungen zurück: Im französischen Fall entwickelte das CFLN konkrete Vorstellungen über die Befreiung Frankreichs, die mittels regionaler Comités de Libération nationale organisatorisch durchgeführt werden sollte. Nach der erfolgten Befreiung definierte ein Gesetz vom 26. August 1944 eine indignité nationale, die zu einer dégradation nationale führen konnte.8 Daraus legitimierte sich die Einrichtung von Säuberungskommissionen, den comités interprofessionnels d’épuration, die mit der beruflichen Sanktionierung von Kollaborateuren beauftragt waren. In Frankreich richtete sich die öffentliche Meinung spätestens gegen die Unternehmerschaft, als Charles de Gaulle im Oktober 1944 deren Kollaborationsverhalten offen kritisierte.9 Für das Entstehen einer sozialen Bewegung, die gegen Unternehmer vorging und nach der Übernahme von Betrieben trachtete, war ein zeitweiliges Machtvakuum eine wichtige Voraussetzung: a) Zwar waren die genannten Kommissionen als Mittel einer neuen Herrschaft vorgesehen, doch bargen sie gleichzeitig die Möglichkeiten einer linken Zuspitzung. Angesichts der Bewaffnung der Résistance schienen radikalere Ziele mitunter durchsetzbar zu sein. b) Zu Fabrikbesetzungen infolge dieses Machtvakuums kam es jedoch nur in einigen ausgewählten Regionen Frankreichs. Die seit Anfang 1945 gebildeten comités de gestion waren Arbeiterausschüsse, die spontan die Macht in mehreren Fabriken übernahmen, z. B. in der Region Marseille und im Departement Allier.10 Sie symbolisierten eine Arbeitermacht in den Betrieben, wie sie schon aus der alten Arbeiterbewegung bekannt war, erwiesen sich aber als kurzlebig. Sie gingen bald in den comités d’entreprise auf, in denen die Gewerkschaftsvertreter mit den Unternehmensleitungen institutionell kooperierten. In manchem glich die italienische Entwicklung der französischen: Die Resistenza war bewaffnet und erwuchs aus einer geeinten Linken, die im Kampf gegen den Faschismus zusammengerückt war. Die Förderung der Arbeiterselbstorganisation stand politisch hoch im Kurs. Auf dem ehemaligen Gebiet der faschistischen norditalienischen Republik konnte man auf die unter den Faschisten gebildete Organisation der consigli di gestione zurückgreifen. Markante Beispiele für solche betrieblichen Rätebildungen waren die Maschinenfabrik Ivrea, Fiat in Turin und Alfa Romeo in Mailand. Die Fabrikräte behaupteten sich teilweise bis in die späten vierziger Jahre.11 Dadurch, dass die consigli di gestione an die korporatistische Tradition des Faschismus anknüpften, hatten sie von Beginn an eine spezifische Struktur, denn sie umfassten sowohl Ingenieure als auch Vertreter der Unternehmensleitungen. Insgesamt erinnerten sie stark an die französischen comités d’entreprise, 8

Henry Rousso: L’Épuration en France. Une histoire inachevée, in: Vingtième siècle 33 (1992), S. 78–105, hier 87. 9 Hervé Joly: Französische Unternehmen unter deutscher Besatzung, in: Christoph Buchheim / Marcel Boldorf (Hg.): Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 77). München 2012, S. 131–145, hier 135. 10 Claire Andrieu / Lucette Le Van / Antoine Prost (Hg.): Les nationalisation de la libération. De l’utopie au compromis. Paris 1987, S. 128–130. 11 Ferruccio Ricciardi: L’échec de la démocratie industrielle dans l’Italie d’après-guerre: l’expérience du „conseil de gestion“ chez Alfa Romeo, 1945–1951, in: Histoire, Economie & Société 26 (2007), S. 125–142, hier 127.

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die sich im Nachbarland als Organisationsform nach der ersten revolutionären Welle etabliert hatten. Warum solche Basisbewegungen an anderen Orten Europas nicht entstanden, kann in einer kontrafaktischen Argumentation erklärt werden. Andere besetzte Länder wiesen markante Unterschiede zu den für Frankreich und Italien geschilderten Strukturen auf. In Belgien wurde der Widerstand schnell entwaffnet, und die Regierung traf weitere Vorkehrungen, um ihn als Machtfaktor in der Nachkriegszeit auszuschalten.12 Auch in den Niederlanden kam keine vergleichbare Bewegung auf, weil sich der Widerstand nicht durch straffe Organisationsstrukturen auszeichnete.13 Da in beiden Ländern soziale Konflikte, z. B. mit Streiks, durchaus ausgetragen wurden, rangieren sie im Spektrum der Möglichkeiten im Übergangsfeld zwischen Konflikt- und Konsensmodell. Letzteres war wiederum vor allem in den nordeuropäischen Ländern anzutreffen. b) Konsensmodell Die unterschiedlichen Konzepte der Besatzungsherrschaft und -verwaltung in den vier skandinavischen Ländern reichten vom besetzten Reichskommissariat Norwegen, wo mit der Nasional Samling eine stark NS-affine Kollaborationspartei regierte, über die vergleichsweise laxe Besatzungsherrschaft in Dänemark, die spezifisch finnischen Problemlagen zwischen nationaler Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion und Anlehnung an das NS-Regime, bis zum neutralen Schweden, das keine Besatzungssituation erlebte. Wie im Folgenden zu zeigen ist, waren trotz der Unterschiede die Verbindungslinien zwischen den skandinavischen Ländern stärker als die Differenzen. Sie stehen stellvertretend für die zweite zu präsentierende typologische Kategorie, das konsensuelle Modell. In den nordischen Ländern gründeten sich im Verlauf bzw. im Gefolge des Ersten Weltkrieges kommunistische Parteien (Finnland 1917, Dänemark 1919, Schweden 1917/21, Norwegen 1921), die allerdings sehr schwach blieben.14 Im finnischen Fall befand sie sich wegen der geografischen Grenzlage und der verflochtenen Geschichte mit der Sowjetunion in einer komplizierten Situation. Seit dem finnischen Bürgerkrieg (1917/18) trat die ideologische Nähe zur Moskauer Sowjetregierung in einen dauerhaften Konflikt mit der nationalen Frage. Der Sieg der „Weißen“ und die Befreiung von der russischen Herrschaft beruhten auf der Anlehnung an Deutschland. Auch der Parlamentarisierungsprozess der zwanziger Jahre vollzog sich unter weißer Dominanz. Aber selbst das „rote Finnland“ eignete sich nicht den 12

Rik Hemmerijckx: Social Movements and the Change of Economic Elites in Europe after 1945. The Belgian Case, in: Stefan Berger / Marcel Boldorf (Hg.): Social Movements and the Change of Economic Elites in Europe after 1945 (Palgrave Studies in the History of Social Movements). Cham 2018, S. 81–94. 13 Sjaak van der Velden: The Dutch Postwar Social Movement and the Elite’s Reaction, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 95–111. 14 Patrick Salmon: Scandinavia and the Great Powers, 1890–1914. Cambridge, Mass. 1997, S. 227–229.

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Sowjetbolschewismus an. Aufgrund der spezifischen finnischen Erfahrungen stand jedwede Form autonomer Selbstorganisation stets unter Sowjetisierungsverdacht. Schließlich geriet Finnland in den „Jahren der Gefahr“ von 1944 bis 1948 im aufkeimenden Kalten Krieg zwischen die Fronten, vermochte jedoch erneut, sein westliches parlamentarisches System gegen den Druck der Sowjetunion zu behaupten. Die latente Gefahr der Vereinnahmung für sowjetische Interessen erklärt die fehlende Grundlage für eine basisorientierte soziale Bewegung, die sich gegen die Wirtschaftselite stellte.15 Die Perzeption der finnischen Situation wirkte sich auf die innere Entwicklung anderer skandinavischer Länder aus. Besonders das benachbarte Schweden war in das skizzierte Konfliktfeld einbezogen, wie die ambivalente Rolle der schwedischen Kommunisten zeigt: Während des finnisch-sowjetischen Winterkrieges 1939/40 unterstützten sie als einzige politische Kraft des neutralen Landes die Sowjetunion. Aufgrund dieser Entscheidung konnte die gleichzeitig gebildete Koalition der linken Parteien nur unter der Bedingung des Krieges Bestand haben. Unmittelbar nach dem Krieg setzte eine sozialdemokratische Kampagne ein, um kommunistische Funktionsträger aus leitenden Stellungen in der Gewerkschaftsbewegung zu entfernen.16 Die Aufreibung der Kommunisten zwischen dem Gefolgschaftsglauben an Stalins Sowjetunion sowie den innerskandinavischen Problemlagen sorgte für eine anhaltende Schwäche ihrer Parteiorganisation und für eine Diskreditierung ihrer politischen Positionen in der Öffentlichkeit. Diese Konstellation erklärt die über lange Jahre unangefochtene Machtposition der sozialdemokratischen Partei. Für Norwegen lässt sich beobachten, dass mit der Installierung einer sozialdemokratischen Regierung nach Kriegsende eine politische Neuerung eintrat, mit der man vorher kaum rechnen konnte. Daraus entwickelte sich ein Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Arbeiterbewegung, und sogar die norwegischen Kommunisten waren davon überzeugt, dass während der Zeit des Wiederaufbaus alle Konflikte ohne Streik oder Boykott geregelt werden sollten.17 Im Falle Dänemarks schien die Nachkriegskonstellation weniger konfliktbeladen zu sein, weil es schon in der Kriegszeit keinen ausgeprägten Bruch innerhalb der Gesellschaft gegeben hatte. Dies hing mit dem vergleichsweise milden Besatzungsregime zusammen, das zudem einen relativ hohen Lebensstandard garantiert hatte. Infolgedessen entstand in dem nordischen Land keine nennenswerte bewaffnete Widerstandsorganisation und folglich auch keine gegen die Industrieelite gerichtete soziale Bewegung nach 1945.18

15

Niklas Jensen-Eriksen: Capitalism under Attack: Economic Elites and Social Movements in Post-war Finland, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 199–217; Harald Espeli: Political Radicalization and Social Movements in Liberated Norway (1945– 1947), in: Ebd., S. 179–198. 16 Lars Ekdahl: The Swedish Labour Movement and Post-war Radicalization: Social Democracy between Economic Elite and Trade Union Movement, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 219–237, hier 227. 17 Espeli: Political Radicalization (wie Anm. 15), S. 191. 18 Niels Wium Olesen: Change or Continuity in the Danish Elites? Social Movements and the Transition from War to Peace in Denmark (1945–1947), in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 155–178, hier 160 f.

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Trotzdem kann über die Frage intensiver nachgedacht werden, warum es in den skandinavischen Ländern nicht doch zu einer radikalen Aufbruchbewegung von unten kam, denn immerhin waren die Bewegungen in den übrigen europäischen Ländern bekannt. Ein Effekt der Unterschiedlichkeit der Besatzungssituation war, dass die Unternehmer nicht so massiv am Pranger standen wie beispielsweise seit Oktober 1944 in Frankreich, als de Gaulle sie der Kollaboration bezichtigte. Trotz des mitunter aufkommenden öffentlichen und publizistischen Drucks fand in Skandinavien keine mit den romanischen Ländern vergleichbare Stigmatisierung der Unternehmerkreise statt. In diesem Kontext ist anzufügen, dass Nord- im Vergleich zu Mitteleuropa wesentlich ärmer an industriellen Zentren war. Nur in Norwegen griff der Staat beispielsweise auf wichtige Industrien zu, indem er regional bedeutende Minengesellschaften verstaatlichte. Als sich die deutschen Unternehmer mit Ende der Besatzung zurückzogen, übernahm die norwegische Regierung deren Anlagevermögen. Jedoch entstand zu keinem Zeitpunkt das für Italien und Frankreich beschriebene Machtvakuum, in dem die sozialen Bewegungen ihre Aktionen entwickelten. Für Schweden war das Entstehen eines solchen Machtvakuums in größeren Betrieben wegen der fehlenden Besatzung ohnehin nicht zu erwarten. In Finnland wachte letztlich die sowjetisch dominierte alliierte Kommission darüber, dass es nicht zu einer revolutionären Überspitzung kam. Zudem waren die finnischen Kommunistenführer überzeugt, dass die Zeit für ihre ideologischen Absichten arbeite.19 Als Fazit ist festzuhalten, dass Fabrikbesetzungen und andere Formen der sozialen Auseinandersetzung im Wirkungskreis der sozialen Bewegungen Skandinaviens nicht existent waren. c) Sozialistisches Modell Das sozialistische Modell gründete in der Verstetigung des Klassenkonflikts zwischen Arbeiterschaft und dem Unternehmertum. Hier sollten die Unternehmer und leitenden Manager nicht allein für ihre Kriegsvergehen und die Unterstützung der deutschen Kriegswirtschaft bestraft, sondern durch ein von der Arbeiterbewegung dominiertes politisches System auf Dauer unter Kontrolle gehalten werden. Insbesondere dienten die Anklagen gegen die „Kapitalisten“, die die Produktionsmittel besaßen, als Legitimation, um die Enteignungen mit Schwerpunkt im Industriesektor zu rechtfertigen. Wie in der Tschechoslowakei zu sehen, spielten Kommissionen und Arbeiterausschüsse in der Frühphase der Systemtransformation eine wichtige Rolle. Mit den Betriebsräten entwickelte sich eine lokale Form der Arbeiterselbstorganisation, die mit den antifaschistischen Kommissionen in west- und südeuropäischen Ländern vergleichbar war. Ihre Entstehungsgeschichte entspricht dem Muster, das als Konfliktmodell beschrieben wurde: Anfangs bündelten die wieder entstehenden Arbeiterräte und Gewerkschaften viele unzufriedene Kräfte. Bald reihte sich diese soziale Bewegung in den gesellschaftlichen Aufbau ein und beteiligte sich am kom19

Jensen-Eriksen: Capitalism under Attack (wie Anm. 15).

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munistischen Staatsstreich von 1948. Obwohl die Arbeiterrätebewegung ein großes Potential hatte, gelang es der kommunistischen Partei, sie in den Zentralrat der revolutionären Gewerkschaften einzugliedern, d. h. sie wurde ein Teil der zentralistischen Staatsstrukturen. Man integrierte sie in die „nationale Revolution“, wie der Transformationsprozess in der Tschechoslowakei offiziell bezeichnet wurde. Die gesellschaftlichen Konflikte der osteuropäischen Länder im Transformationsprozess wurden durch den Sieg der traditionellen Arbeiterbewegung rasch befriedet. Zudem fehlte nicht der Verweis auf übergeordnete Notwendigkeiten, denn der Prozess der „nationalen Säuberung“ durfte das Wiederanlaufen der Produktion nicht behindern, sondern sollte es befördern.20 Dem sozialistischen Modell lagen tiefe Konflikte zugrunde, die aber sehr rasch in ein konsensuelles Modell überführt wurden. Der antagonistische Gegensatz zwischen der Arbeiter- und Kapitalistenklasse wurde durch Errichtung einer Diktatur des Proletariats entschärft. Die verstetigte Überordnung der Arbeiterpartei wirkte auf die sozialen Bewegungen dauerhaft lähmend, denn ihre Ausdrucksformen, z. B. Streiks, wurden in der Praxis immer stärker beschränkt. d) Das geteilte Deutschland Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem besiegten Deutschland und den übrigen europäischen Ländern war die Nachkriegspräsenz der Alliierten, die der bedingungslosen Kapitulation folgte. Die alliierte Besatzungsverwaltung gab wesentliche politische Veränderungen vor und überwachte deren Umsetzung durch die wieder installierten deutschen Verwaltungen. Die Siegermächte sahen die Möglichkeit politischer Kontinuität in Deutschland als reale Gefahr an, sodass sie bereits auf ihrer Kriegskonferenz in Jalta eine allgemeine Erklärung über die Liquidierung von Nationalsozialismus und Militarismus bei totaler Entwaffnung und Entnazifizierung abgegeben hatten.21 Nimmt man diese Absichtserklärung zum Maßstab, konnte mit der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten ein strenger Säuberungsprozess unter ihrer Hoheit erwartet werden. Unmittelbar nach Kriegsende herrschte in Deutschland erst einmal ein politisches Vakuum vor. Sowohl in den Westzonen als auch in der Ostzone erfolgten spontane antifaschistische Komiteebildungen. Fabrikbesetzungen mit allgemeinpolitischem Anspruch waren im Süden Sachsens und Thüringens lediglich eine Episode zwischen der amerikanischen und der sowjetischen Besatzung.22 Solche Formen der lokalen Aneignung wirtschaftlicher und politischer Macht blieben in allen deutschen Besatzungszonen von kurzer Dauer, weil ihnen die alliierten MilitärverJaromír Balcar / Jaroslav Kucˇ era: The Works Councils in Czechoslovakia 1945–1949. Remarks on the Fate of a Social Movement in the Process of Transformation, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 113–135, hier 121. 21 Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. 5. Aufl., Göttingen 1991, S. 30. 22 Jeannette Michelmann: Aktivisten der ersten Stunde. Die Antifa in der sowjetischen Besatzungszone. Köln/Weimar/Wien 2002, S. 245–265. 20

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waltungen als maßgebliche Ordnungskraft die Unterstützung versagten. Im weiteren Verlauf waren die politischen Säuberungen in der Wirtschaft, nach Zonen differenziert, wesentlich von der jeweiligen Gesetzgebung der Besatzungsmächte geprägt. Die Gewerkschaften und die öffentlichen Verwaltungen begannen, die politische Neuorganisation zu dominieren, indem sie die spontan entstandenen sozialen Basisgruppen vereinnahmten. Zur Formierung einer Bewegung, die politische und wirtschaftliche Macht an sich band, fehlte es an einer breiten sozialen Basis. Im Krieg hatte sich der Widerstand organisatorisch weitaus weniger als z. B. in Frankreich und Italien entwickeln können. Im Gegenteil identifizierten sich die Belegschaften stark mit ihren Betrieben und machten jenseits aller Klassengegensätze die Sache des Betriebes zu ihrer eigenen.23 Sogar in der SBZ arbeiteten die Betriebsräte mit den provisorischen Betriebsleitungen zusammen, vornehmlich um den Demontagen ein Ende zu setzen.24 Trotz einer konfliktreichen Ausgangssituation begannen sich in Deutschland bald wieder konsensuelle Strukturen zu entwickeln, die in den korporatistischen Traditionen gründeten. Prinzipiell lässt sich diese Traditionsverhaftung auch in der östlichen Besatzungszone nachweisen, obwohl die Staatspartei SED mit ihrer umfassenden Hegemonie die realsozialistische Transformation dominierte. 4. BEHARRUNGSKRAFT DER ELITEN a) Abwehr justizieller Strafverfolgung Die juristische Verfolgung der Eliten, insofern sie den Zugriff auf deren Eigentumsrechte betraf, ist besonders am deutschen Beispiel zu verfolgen, weil das Täterland nach der Kapitulation unter alliierter Kontrolle stand. Die Militärverwaltungen traten als maßgebliche Akteure neben innerstaatliche Oppositionskräfte. Mit ihrer Gesetzgebung prägten die Alliierten, nach Zonen differenziert, die Entnazifizierungsmaßnahmen im Wirtschaftssektor. Als oberste Instanz war darüber hinaus das Nürnberger Tribunal für die Anklage der Hauptkriegsverbrecher zuständig. Neben hochrangigen NS-Funktionären standen auch 42 Industrielle und Bankiers unter Anklage.25 In den meisten Fällen wurden sie zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, die aber keiner der Industriellen in voller Länge absaß. Einige Belastete und Kriegsverbrecher flohen vor den Alliierten, beispielsweise in südamerikanische Länder, doch gab es keine Anzeichen dafür, dass hierunter die Wirtschaftselite überrepräsentiert war. Ebenso wenig waren industrielle Kreise von den ersten ungeregelten sowjetischen Säuberungs- und Verfolgungsmaßnahmen stark betroffen, sofern sie nicht zugleich eine repräsentative NS-Funktion bekleidet 23 24 25

Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. München 2003, S. 964. Marcel Boldorf: Governance in der Planwirtschaft. Industrielle Führungskräfte in der Stahl- und Textilindustrie der SBZ/DDR (1945–1958) (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 18). Berlin 2015, S. 86 f. Norbert Frei u. a.: Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht. München 2009, S. 406.

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hatten. Außerdem gab es im deutschen Fall eine Besonderheit: Häufig fand eine Flucht der Unternehmer und der wirtschaftlichen Führungskräfte aus dem Osten in die westlichen Besatzungszonen statt. Ein wesentlicher Effekt dessen war, dass in der SBZ keine Vertreter des Top-Managements mehr waren, als die juristische Verfolgung dort einsetzte.26 Ansätze zu einem ähnlichen Vorgehen gab es auch in anderen Ländern, insbesondere in den unter dem Konfliktmodell eingeordneten Beispielen. In Frankreich betraf die gerichtliche Verfolgung (épuration judiciaire) eine Reihe größerer Unternehmer, die eng in die deutsche Rüstungswirtschaft verstrickt waren. Eine strenge Bestrafung erfuhren beispielsweise die Automobilbauer Louis Renault und Marcel Berliet sowie eine Reihe weiterer Industrieller.27 Die Résistance drang auf die Säuberung und trieb ihre Durchführung voran. Auch in Italien entstanden auf Druck der Befreiungskomitees außerordentliche Schwurgerichte, die allerdings politisch umstritten waren und nur eine geringe Durchschlagskraft in Bezug auf die Bestrafung von Unternehmern besaßen.28 Interessanterweise nahm sich in Belgien die Militärgerichtsbarkeit der Verfahren wegen Kollaboration an, um die Einflussnahme der Kämpfer und Sympathisanten des Widerstandes auf die Verurteilungen zu verhindern.29 Das Ergebnis war, dass dort nur eine kleine Schar von Kollaborateuren verurteilt wurde. In Dänemark entwickelte sich gleichfalls auf öffentlichen Druck hin der Versuch eines juristischen Zugriffs. Der eingesetzte Staatsanwalt gehörte sogar der Kommunistischen Partei an, dennoch wurden mehr als 90 Prozent der Verfahren eingestellt. Die wenigen Urteilssprüche wurden nur zögerlich umgesetzt, denn die Enteignungsbescheide für Unternehmen wurden fast nie vollstreckt, und verurteilte Unternehmer kamen allenfalls kurzzeitig in Haft. All diese Länderbeispiele zeigen, dass die angestrengten Verfahren, selbst wenn neutrale Instanzen der Justiz eingeschaltet waren, einem starken politischen Einfluss unterlagen. Hierbei waren nicht nur die sozialen Bewegungen, sondern auch die Gegenformation der Unternehmerseite von Bedeutung, die oft erfolgreich auf Verfahrenseinstellungen oder milde Urteile hinwirkte. b) Selbstbehauptung durch Netzwerke In den west- und nordeuropäischen Ländern weisen empirische Untersuchungen und exemplarische Studien auf die hohe personelle Kontinuität in den Führungsetagen der Großunternehmen hin. Es stellt sich die Frage, wie die Wechsel in der Führungs26

Peter Hübner: Durch Planung zur Improvisation. Zur Geschichte des Leitungspersonals in der staatlichen Industrie der DDR, in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 197–233, hier 200. 27 Dominique Barjot: Die politische Säuberung der französischen Wirtschaftselite nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/2, S. 131–146. 28 Hans Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 38). München/Wien 1996, S. 296–307. 29 Dirk Luyten: The Belgian Economic Elite and the Punishment of Economic Collaboration after the Second World War: Power and Legitimacy (1944–1952), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/2, S. 95–105, hier 99.

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ebene abgewehrt werden konnten und warum das kriegswirtschaftliche Leitungspersonal nur selten zur Verantwortung gezogen wurde? Zur Erklärung sind die Beharrungsstrategien zu erläutern, mit deren Hilfe sich die kompromittierten Unternehmer und Manager in ihren Stellungen behaupteten. Im Folgenden werden verschiedene Barrieren analysiert, die einen umfassenden Elitenwechsel verhinderten. In den von Deutschland besetzten Gebieten konnten sich die einheimischen Eliten als Opfer darstellen. In Autobiografien, öffentlichen Stellungnahmen oder Anhörungen vor Gericht behaupteten sie, dass sie keine andere Wahl gehabt hätten, als sich mit der Besatzungsmacht einzulassen. Zu ihren am häufigsten gebrauchten Argumenten gehörte, dass sie sich in einer extremen Zwangslage befunden hätten, in der es ihnen an Handlungsspielräumen gefehlt habe. Diese Schutzbehauptungen sind durch die historische Forschung vielfach revidiert worden.30 Wenig spricht dafür, dass die Kollaboration aufgezwungen wurde oder dass der deutsche Druck auf die wirtschaftlich Verantwortlichen allgegenwärtig gewesen wäre. Wie gesehen, führte diese nach dem Krieg angewandte Verteidigungsstrategie selbst in den Ländern zu zahlreichen Freisprüchen, die eine eigene Strafrechtsprechung zur Verfolgung der kriegswirtschaftlichen Kollaboration errichteten. Der Fall des neutralen Schweden zeigte, dass die Netzwerkbildung von Unternehmern kein allein durch die Besatzung, sondern allgemein durch den Krieg bedingtes Phänomen war. Die Führungsetagen der industriellen Großbetriebe rückten ohne den Druck eines Besatzungsapparates eng zusammen. Ihre Zusammenarbeit war die Reaktion auf ein internationales Wirtschaftsklima, das von kriegsbedingten Einschränkungen und Regulierungen des internationalen Warenverkehrs geprägt war. Offensichtlich war es rational, unter den herrschenden Bedingungen des Protektionismus Marktabsprachen zu treffen und nach gemeinsamen Lösungen zur Bewältigung der Krise zu suchen. Dieses Phänomen war in der Zwischenkriegszeit offenkundig geworden und hatte eine Tendenz zur Kartellierung hervorgebracht. In Schweden blieben die aus dem Krieg resultierenden Verflechtungen auch für die Nachkriegsjahre prägend.31 Unter den Bedingungen des konsensuellen Modells gestaltete sich der norwegische Fall trotz der Besetzung des Landes durchaus vergleichbar: Der Norwegischen Arbeitgebervereinigung gelang es, die Gleichschaltung durch das Quisling-Regime abzuwenden. Deshalb war die alte Führungsriege nach der Befreiung weiter aktiv und genoss ein unbescholtenes öffentliches Image. Ohne auf Gegenwehr zu stoßen, ließ die Nachkriegsregierung viele der kriegswirtschaftlichen Regulierungen bestehen. Im Konfliktmodell mit seinem schroffen Gegensatz der politischen Kräfte erwiesen sich Netzwerkstrukturen für die Unternehmerseite als noch entscheidender. Sie entwickelten sich umso stärker, je mehr die Unternehmer einzelner Branchen, wie vor allem in Vichy-Frankreich, in korporatistischen Organisationskomitees zusammenarbeiteten. Hinzu kam das traditionelle Argument, dass der Zusammenhalt der Wirtschaftseliten ohnehin durch die gemeinsamen Studienjahre an den prestige30 31

Marcel Boldorf: Neue Wege zur Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Europas unter nationalsozialistischer Hegemonie, in: Ders./Buchheim (Hg.): Europäische Volkswirtschaften (wie Anm. 9), S. 19 f. Ekdahl: The Swedish Labor Movement (wie Anm. 16), S. 220.

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trächtigen Bildungsinstitutionen, den Grandes Écoles, gefördert würde.32 Um diese Einrichtungen bildeten sich langlebige personelle Netzwerkstrukturen. Die VichyKollaboration auf administrativer Ebene war zum Beispiel stark durch den Zirkel der Polytechniciens gekennzeichnet. Diese gewachsenen und erneuerten Bande wirkten in der Nachkriegszeit weiter und formierten sich zu einem Abwehrbündnis gegen die drohende Säuberung. In fast allen Fällen verlief die Selbstbehauptung der französischen Wirtschaftseliten erfolgreich. In Italien ordnete sich die Kriegswirtschaftsordnung in die faschistischen Kontinuitätslinien seit Mitte der 1920er Jahre ein. Die Netzwerkverbindungen führender Unternehmerkreise reichten bis in den Justizsektor, sodass nach dem Krieg entweder die Verfolgung abgewendet oder die Durchsetzung verhängter Urteile verhindert werden konnte. Besonders die Führungskräfte in größeren Unternehmen vermochten unter Einbeziehung politischer Kreise einen Schutzwall um ihre Person aufzubauen.33 Die Stärkung der Unternehmer durch Bildung sozialer Netzwerke wirkte sich auch in den Niederlanden und Dänemark auf die Rekonstituierung der Arbeitgeberverbände aus, die sich in der Nachkriegsgesellschaft als starke Kraft behaupten konnten.34 c) Abwehr von Verstaatlichungen Sozialisierungsforderungen standen im Nachkriegseuropa ganz oben auf der politischen Agenda. Wie gesehen, gelang der organisierten Arbeiterbewegung ihre Durchsetzung aber nur ausnahmsweise. Frankreich war das einzige besetzte westliche Land, in dem Verstaatlichungen nach 1945 in größerem Maßstab stattfanden. Dadurch stellte der Staat in wichtigen Branchen eine Hegemonie, wie es hieß, über den Industriesektor her.35 Betroffen waren der Energiebereich, der Flugzeugbau, das Transportwesen, die Autoindustrie und die größten Banken. Grundlage war die beschriebene moralische Verurteilung der Kriegsgewinnler, die als Schubkraft für die Nationalisierungen wirkte. Zudem war der politische Wille vorhanden, die Lenkung der Wirtschaft mittels der Installierung des Systems der Wirtschaftsplanung (planification) voranzutreiben.36 In der Mehrzahl der untersuchten Länderbeispiele gelang es den Unternehmern jedoch, eine Verstaatlichung zu vereiteln.37 Für Italien, wo sie Kontakte in Justizkreise knüpften, klang dies bereits an, ebenso wie für Dänemark, wo die Urteile der eigens eingesetzten Sondergerichte kaum negative Folgen für das Unternehmertum 32 33 34 35 36 37

Pierre Bourdieu: La noblesse d’État. Grandes écoles et esprit de corps. Paris 1989. Woller: Abrechnung mit dem Faschismus in Italien (wie Anm. 28), S. 390. van der Velden: The Dutch Postwar Social Movement (wie Anm. 13); Oleson: Change or Continuity in the Danish Elites (wie Anm. 18). Guy Groux: France: The State, Trade Unions, and Collective Bargaining: Reform or Impasse?, in: Craig Phelan (Hg.): Trade Unionism since 1945. Towards a Global History, Bd. 1: Western Europe, Eastern Europe, Africa and the Middle East. Bern u. a. 2009, S. 37–63, hier 43. Barjot: Die politische Säuberung (wie Anm. 27), S. 135. Vgl. die entsprechenden Kapitel in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12).

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hatten. In Finnland war die Abwehr von Verstaatlichungen wiederum ein integraler Bestandteil der nationalen Sorge um Abgrenzung von der sowjetischen Entwicklung. In Norwegen gelang der staatliche Zugriff durch Konfiskation vor allem dann, wenn vormals deutsches Anlagevermögen betroffen war. In Belgien wurden seit den 1930er Jahren viele Forderungen nach einem geplanten Sozialismus laut, doch setzten sich weder größere Nationalisierungen noch Vorstellungen zur Umgestaltung der Wirtschaftsordnung durch. In der deutschen antifaschistischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg kam – wie schon in der Rätebewegung des Jahres 1918 – die Forderung nach Sozialisierungen nur ausnahmsweise auf.38 Außerdem geriet die Frage der Verstaatlichung bald in den Sog der Auseinandersetzungen des aufkeimenden Kalten Krieges. Im Westen ebbten die Forderungen nach Sozialisierung infolge des Systemkonflikts bald ab. Nur im schwerindustriellen Bereich verfügten die Westalliierten aus Sicherheitsgründen eine Sequestrierung und eine Zerschlagung der Kartelle.39 In der Bundesrepublik Deutschland waren Arbeitgeberorganisationen durch die Alliierten teilweise geschwächt worden, organisierten sich aber bald wieder und agierten bei der Abwehr von Sozialisierungsforderungen sehr erfolgreich. Insofern erwies sich die Sicherungsmaßnahme der Sequestrierung nicht als Vorstufe zur Sozialisierung, sondern dauerte nur wenige Jahre und mündete in die Restitution der Eigentumsrechte. Im Ostblock gelang es den Unternehmern unter dem Druck der Systemtransformation nicht, ihre Eigentumsrechte zu behaupten. Exemplarisch ist der Weg in der sowjetischen Besatzungszone zu beschreiben. Kurz nach dem Krieg forderten nur vereinzelte Kommunisten eine Verstaatlichung der Basisindustrien, insbesondere der sächsischen Steinkohlebetriebe und der Flick’schen Stahlwerke.40 Mit dem Sequesterbefehl im Oktober 1945 beabsichtigte die sowjetische Militäradministration lediglich die Sicherung der Reparationslieferungen. Erst auf Druck der KPD wurde durch den sächsischen Volksentscheid vom Juni 1946 die Sozialisierung des Industriesektors eingeleitet. Ohne weitere Abstimmungen wurde das Ergebnis des Volksentscheids auf die anderen Länder der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands übertragen. In der Folge rissen die Zwangsenteignungen durch zentrale staatliche Kontroll- und Überwachungsbehörden sowie durch die gelenkte Justiz nicht ab. Diese Entwicklung entsprach einem sozialistischen Modell, das im gesamten sowjetischen Hegemonialgebiet in vergleichbarer Weise Anwendung fand.

38

39 40

Vgl. Marcel Boldorf: Arbeiterselbstorganisation in Frankreich und Deutschland nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Étienne François / Winfried Loth (Hg.): Gewerkschaften, Arbeitswelt und Arbeiterkultur in Frankreich und Deutschland von 1890 bis 1990 / Syndicats et comportement ouvrier en France et en Allemagne de 1890 à 1990 (Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees 13). Stuttgart 2017, S. 71–91. Volker Berghahn: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik (Neue historische Bibliothek N. F. 265). Frankfurt a. M. 1985, S. 84–111. Boldorf: Governance in der Planwirtschaft (wie Anm. 24), S. 56 f.

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5. WEGE ZUR BEFRIEDUNG DER SOZIALEN KONFLIKTE a) Ziele der Streikbewegungen In begrenztem Umfang waren Arbeiterstreiks bereits ein Kriegsphänomen. Es gab beispielsweise in den Niederlanden trotz der zu erwartenden harten Reaktion der deutschen Usurpatoren spontane Streiks gegen die Umstände der Besatzung und den Krieg sowie für bessere Lebensbedingungen.41 In Frankreich fanden unter vergleichbaren Bedingungen Streiks der Bahnarbeiter und der Bergleute gegen die Arbeitsverpflichtung statt. Legendär wurde der große Bergarbeiterstreik 1941 im französischen Norden, an dem sich 100 000 Arbeiter beteiligten. Zu Arbeitskämpfen kam es auch 1942 in Belgien sowie 1943 in Italien und Dänemark.42 Nicht selten waren die Protagonisten gleichzeitig in der Widerstandsbewegung gegen die NS-Herrschaft aktiv. Die Befreiung setzte Kräfte für eine Ausweitung der Streiks und die Artikulation lang unterdrückter Forderungen frei. In einigen Ländern nahmen die Protestierenden prinzipielle Forderungen der Kriegszeit wieder auf, indem sie für Lohnerhöhungen sowie eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen streikten, wie etwa in den Niederlanden, Frankreich und Finnland, aber auch in der Tschechischen Republik, Norwegen und Schweden.43 Allgemeine politische Forderungen standen meist noch nicht im Vordergrund, sondern die lebensnahen Alltagsbedürfnisse überwogen. Sofern sich die Widerstandsbewegung als Machtfaktor zu behaupten wusste, brachte sie als Hauptforderung vor, in den Wiederaufbau des politischen Systems der Nachkriegszeit integriert zu werden. Ein bis zwei Jahre später erhielten die Streikbewegungen schärfere politische Konturen. Zum einen ließen sich die Konfliktfelder auf die Interessen der organisierten Kräfte des ehemaligen Widerstands zurückführen: Zum Beispiel reflektierten die Streiks in Frankreich 1947/48 die nach dem Krieg andauernde Spaltung der Résistance. Auch in Belgien lag den Arbeitskämpfen ein Bruch der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zugrunde. Die Auseinandersetzungen verliefen entlang von Problemlinien, die teils durch die Kollaboration, teils aber auch durch ältere Zerwürfnisse, z. B. zwischen der sozialistischen und christlichen Gewerkschaftsbewegung, entstanden waren.44 Andererseits hing die Persistenz der Streikbewegungen mit der Stärke und der politischen Ausrichtung der kommunistischen Parteien zusammen. In den Niederlanden zeigte sich, dass der Streikneigung meist ein Drängen der Kommunisten zugrunde lag und sie daher zu dem Zeitpunkt nachließ, als sich diese Partei als zuverlässiger politischer Partner zu profilieren suchte. Zum Beispiel brach der Rotterdamer Dockarbeiterstreik 1948 nur aufgrund der Agitation einer kleinen linksradi41 42 43 44

van der Velden: The Dutch Postwar Social Movement (wie Anm. 13). Vgl. die entsprechenden Kapitel in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12). Vgl. die entsprechenden Kapitel ebd. Hemmerijckx: Social Movements (wie Anm. 12); Xavier Vigna: France after the Liberation. The Labour Movement, the Employers and the Political Leaders in their Struggle with the Social Movement, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 63–80.

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kal orientierten Splittergewerkschaft aus. Auch in Belgien und Frankreich verloren die kommunistische Partei bzw. ihr nahestehende Gewerkschaften mit ihrer Einbindung in Regierungsgeschäfte an Kampfkraft und -willen und schlugen in Bezug auf die Austragung von Arbeitskonflikten einen moderaten Kurs ein. Die französische Confédération Générale du Travail brandmarkte die wilden Streiks des Jahres 1946 sogar als unerträgliche trotzkistische Agitation.45 In den nordischen Ländern kam es dagegen nur sporadisch zu Arbeitsniederlegungen. Lediglich in Finnland wurden 1947 nennenswerte wilde Streiks verzeichnet, von denen sich die dortige kommunistische Partei ebenfalls skeptisch distanzierte. In Norwegen verbot die Nachkriegsregierung sogar bis 1950 Arbeitsausstände, wobei diese Bestimmung selbst von der norwegischen kommunistischen Partei mitgetragen wurde. b) Mitbestimmung und Sozialpolitik In den drei Jahrzehnten nach 1945 erreichten die europäischen Gewerkschaften den Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses.46 Besonders im konsensuellen Modell der skandinavischen Länder wurde die Partizipation der Arbeiterschaft ausgebaut und das Aufkommen sozialen Unmuts dadurch im Keim erstickt. In Finnland entstanden zur Befriedung der sozialen und betrieblichen Konflikte Produktionskomitees, die sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber vereinigten. Ihre Gründung war erfolgreich, trotz der verbreiteten Furcht, dass sie einen ersten Schritt im Hinblick auf eine Verstaatlichung der finnischen Industrie darstellen könnten.47 Dass der Weg des Konsensuellen keineswegs auf die nordischen Länder beschränkt war, zeigt der Blick auf die Entschärfung sozialer Konflikte durch eine Mitbestimmungspolitik in anderen europäischen Ländern. Zumindest in den westlich orientierten Staaten führte der Ausbau der Arbeitnehmermitbestimmung zum sukzessiven Abbau sozialer Konflikte. Die spontan gebildeten comités de gestion in Frankreich gingen in den comités d’entreprises auf.48 Damit war die Phase der Arbeiterselbstverwaltung zwar rasch beendet, aber es entstanden langlebige Strukturen für die Institutionalisierung der Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite. Dass die Arbeitgeberorganisationen zum Teil eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit an den Tag legten, zeigt der belgische Fall. Unternehmer versuchten durch Gewährung verschiedener Sozialleistungen, die Opposition im Keim zu ersticken. Die betriebliche Mitbestimmung wurde 1948 durch die Installation von Betriebsräten mit Arbeiternehmer- und Arbeitgeberbeteiligung reinstalliert.49 Auch in Westdeutschland wurde sie bald nach Kriegsende wieder fest verankert, indem man politisch an 45 46 47 48 49

Hemmerijckx: Social Movements (wie Anm. 12); van der Velden: The Dutch Postwar Social Movement (wie Anm. 13); Vigna: France after the Liberation (wie Anm. 44), S. 78. Craig Phelan: Introduction, in: Ders. (Hg.): Trade Unionism since 1945 (wie Anm. 35), S. IX. Jensen-Eriksen: Capitalism under Attack (wie Anm. 15), S. 212. Vigna: France after the Liberation (wie Anm. 44). Patrick Pasture: Belgian Trade Unions. Between Social Movement and Service Centre, in: Phelan (Hg.): Trade Unionism since 1945 (wie Anm. 35), S. 3–36, hier 14; Hemmerijckx: Social Movements (wie Anm. 12).

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das Betriebsrätegesetz von 1920 anknüpfte. Zugleich wurde die Präsenz der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten der Aktiengesellschaften eingeführt.50 Gleichzeitig erfolgte die Abkehr von den Richtungsgewerkschaften der Weimarer Republik. Die Abwesenheit größerer Streiks und Arbeitskämpfe schuf ein günstiges Klima für beträchtliche Lohnerhöhungen in der Rekonstruktionsphase. Ähnlich wie in Schweden gab es ein hohes Maß an gewerkschaftlicher Beteiligung an den betrieblichen Entscheidungen. In manchen Teilen Europas wurden die Gewerkschaften damit zu Stützen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Speziell in Westdeutschland trafen sie sich mit den Arbeitgebern in einem Misstrauen gegenüber ihrer eigenen Klientel, der Arbeiterschaft, der sie nach der NS-Erfahrung skeptisch gegenüberstanden.51 Zu einem weiteren vereinigenden Glied wurde der Antikommunismus, der im Kalten Krieg aufkam. Die Idee der Sozialpartnerschaft, die durch diese Annäherung begünstigt wurde, fügte sich im deutschen Fall zugleich in korporative Traditionen ein. Schließlich wurde in vielen europäischen Ländern nach 1945 der Wohlfahrtsstaat stark ausgebaut, was ebenfalls zahlreiche Konflikte hinsichtlich der Ungleichverteilung von Einkommen entschärfte. In den meisten Fällen ging man von einer partiellen und selektiven Zuerkennung von Sozialleistungen zu einem umfassenden Sozialstaat über, dessen Konzeption vielfach von dem Bericht des britischen Politikers William Beveridge beeinflusst war. In Belgien wurde z. B. eine nationale Arbeitersozialversicherung eingeführt. Schweden und Großbritannien wurden zum Sinnbild für den Ausbau des Sozialstaates, wobei dies in beiden Fällen die Errichtung korporativer Gesellschaftsmodelle förderte. Die Sozialstaatlichkeit in der Nachkriegszeit diente als Ventil im Hinblick auf die schwelenden sozialen Konflikte. c) Paradigmen des Wachstums und des Wiederaufbaus Die in allen europäischen Ländern erforderliche wirtschaftliche Rekonstruktion führte die Nachkriegsregierungen rasch zu einem pragmatischen Verhalten. Die Überwindung des Krieges und die Zukunftsorientierung mündeten in eine Zweckrationalität und ließen eine Zurückhaltung bei der Verurteilung sowie Vollstreckung von Sanktionen gegenüber den wirtschaftlichen Führungskräften geboten erscheinen. In Nordrhein-Westfalen waren prominente Entlastungsurteile den wirtschaftlichen Erfordernissen des Wiederaufbaus in diesem industriellen Kerngebiet geschuldet.52 Doch auch in den ehemals deutsch besetzten Ländern überwogen derartige Einsichten bald nach Kriegsende, wie das Beispiel Frankreichs belegt.53 Die dort 50 51 52 53

Stephen J. Silvia: German Trade Unionism in the Postwar Years: The Third and Fourth Movements, in: Phelan (Hg.): Trade Unionism since 1945 (wie Anm. 35), S. 65–96, hier 72. Till Kössler: Confrontation or Cooperation? The Labour Movement and Economic Elites in West Germany after 1945, in: Berger/Boldorf (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 21– 41. Ralf Ahrens: Von der „Säuberung“ zum Generalpardon. Die Entnazifizierung der westdeutschen Wirtschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2010/2, S. 25–45, hier 33. Barjot: Die politische Säuberung (wie Anm. 27), S. 135–137.

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stattfindenden Verstaatlichungen waren in ein umfassenderes Konzept eingebettet und erfolgten nicht primär zur Bestrafung einzelner Kriegsbelasteter. Das Erlahmen des Verfolgungswillens sorgte für Straffreiheit der vormals kollaborierenden Industrieelite. Mit den Anforderungen des Wiederaufbaus in Verbindung zu bringen ist auch der Erlass von Amnestiegesetzen, z. B. in Italien im Juni 1946, in der sowjetischen Besatzungszone im März 1948 und in Österreich im April 1948.54 6. SCHWIERIGKEIT EINER EUROPÄISCHEN TYPOLOGISIERUNG Zusammenfassend ist auf die Problematik bei der Konstruktion eines typisierenden europäischen Ansatzes hinzuweisen. Bei einer detaillierten Betrachtung überwog in allen skizzierten Fällen die eigenständige nationalstaatliche Entwicklung. Dennoch kann ein „Konfliktmodell“ oder „Konsensmodell“ identifiziert werden. Sogar das neutrale Schweden ließ sich in das Konsensmodell einbeziehen, denn schließlich bedeutete der Krieg in allen europäischen Ländern, egal ob sie Krieg führten oder Neutralität wahrten, eine tiefe Zäsur. Gleichwohl kann man gegen die vorgeschlagene taxonomische Einteilung einwenden, dass sie zu schematisch ist. Denn auf der einen Seite gab es im Konfliktmodell auch konsensuelle Züge, z. B. bei Errichtung der Sozialpartnerschaft und dem Ausbau der Sozialversicherung, auf der anderen Seite wurden auch konsensuelle Länder von Streiks und gesellschaftlichen Konflikten heimgesucht. Alles in allem leistet die hier vorgelegte Betrachtung zur Nachkriegszeit einen Beitrag, um die unterschiedlichen politischen Kulturen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihren Bezügen zum Zweiten Weltkrieg zu verstehen.

54

Woller: Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien (wie Anm. 28), S. 378–391; Dieter Stiefel: Entnazifizierung in Österreich. Wien/München/Zürich 1981, S. 307–310; Marcel Boldorf: Social Movements and the Change of Industrial Elites in East Germany after World War II, in: Berger/Ders. (Hg.): Social Movements (wie Anm. 12), S. 43–62, hier 58.

MARKTGERECHTIGKEIT UND STEUER(UN)GERECHTIGKEIT Internationale Ordnungsvorstellungen und die schweizerischen Steuerwelten Gisela Hürlimann, Zürich Im frühen 21. Jahrhundert soll eine globale fiscal governance die Wucherungen des zwischenstaatlichen Steuerwettbewerbs und der Steuerumgehung einhegen. Der Forderung globalisierungskritischer Kreise, es sei eine weltweite Finanztransaktionssteuer zu erheben, schloss sich kürzlich auch Thomas Piketty in seinem Opus „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ an.1 Die Vorschläge zielen letztlich auf mehr internationale wie interpersonale Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit. Solche sozialkritisch unterfütterten Global-Order-Visionen bringen die Sehnsucht zum Ausdruck, das sozioökonomische Durcheinander, das ein entfesselter Finanz- und Handelskapitalismus im Zeitalter der beschleunigten Globalisierung anrichte, auch mittels transnationaler Steuerpolitik eindämmen zu können. Als internationale Neu-Ordnungspolitik lassen sich auch mehrere, konvergierende Initiativen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und der überbordenden legalen Steuervermeidung begreifen: Die multilaterale Initiative gegen steuertechnische Gewinnverlagerung („BEPS“)2, die neuen Standards für Doppelbesteuerungsabkommen und das Abkommen über einen automatischen Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten sind Projekte, die in der jüngsten Vergangenheit von der OECD, den G20-Staaten und der Europäischen Union lanciert wurden. Nebst fiskalischen Motiven im Nachgang zur jüngsten Finanzmarkt- und Schuldenkrise verfolgen sie auch das Anliegen der Marktgerechtigkeit. Auf EU-Ebene soll die BEPS-Initiative zudem zu konsolidierten Bemessungsgrundlagen für die Körperschaftssteuern führen, womit das 2011 eingeleitete Projekt einer europäischen Fiskalunion eine steuertechnische Konkretisierung erfährt.3 Solche Zusammenhänge zeugen von der Verflechtung nationaler Fiskalpolitiken in einer wirtschaftlich zunehmend integrierten Welt. Gleichzeitig weckt das Vorhaben einer EU-Fiskalunion Erinnerungen an die ehrgeizigen europäischen Steuerharmonisierungspläne der 1960er Jahre.4 Auch damals 1 2 3

4

Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014. Base Erosion and Profit Shifting. Siehe dazu auf der Website der OECD: http://www.oecd.org/ tax/beps-reports.htm (Zugriff: 14.1.2016). Gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage (GKKB), (IP/11/319), Brüssel 16.3.2011. Online: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-11-319_de.htm?locale=en (Zugriff: 7.9.2015); Erläuterungen von Heinz Zourek, Generaldirektion Steuern und Zollunion der Europäischen Union, am Europa Institut der Universität Zürich, 29.10.2015: „BEPS und erhöhte Transparenz: Die neue Steuerwelt in der EU und ihre Auswirkungen für Unternehmen und Berater“. Vgl. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Steuer- und Finanzausschuss: Bericht des Steuerund Finanzausschusses [Neumark-Bericht]. Brüssel 1962.

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ging es um Marktgerechtigkeit, um gleich lange Spieße („arm’s length principles“) und um die Erleichterung des transnationalen Handels und Konsums, etwa mittels einer harmonisierten Umsatzsteuer. Währenddessen sollten zwischenstaatliche Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) dafür sorgen, dass die wirtschaftliche Prosperität und Integration nicht durch mehrfache Steuerbelastungen getrübt wurden. Die DBA wurden aber auch zum Einfallstor für Steuerprivilegien, welche die Fiktion des fairen Wettbewerbs verletzten und eine Debatte auslösten, in der sich volkswirtschaftliche win-and-lose- und Steuergerechtigkeitsargumente vermischten. Ein Land, an welchem sich die transnationale Gerechtigkeitsdimension nationaler und subnationaler Steuerpolitik exemplarisch aufzeigen lässt und das sich durch die geballte internationale fiscal governance gegenwärtig zu einem Politikwandel veranlasst sieht, ist die Schweiz. Der vorliegende Beitrag vergleicht die Auseinandersetzungen um die schweizerische Politik attraktiver Steuern in den 1960er Jahren mit den jüngsten Entwicklungen. Er ist Teil einer größeren Studie um die historische Entwicklung der schweizerischen Steuerpolitik seit den 1950er Jahren mit Fokus auf Fragen der Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit.5 Ein aus den dortigen Erkenntnissen generiertes Analysemodell mag auch vorliegend erklären, warum die Schweiz ein historischer showcase für die Transnationalität nationaler Steuerpolitik und für die Verflochtenheit von Markt- und Steuergerechtigkeit ist. DIE SCHWEIZERISCHEN STEUERWELTEN: EIN ANALYSEMODELL Die schweizerische Steuerpolitik ist ein Universum aus Tausenden von Steuerwelten, die sich teilweise überlagern, konkurrieren oder komplementieren und nicht selten über die Landesgrenzen hinaus wirken. Das in Anlehnung an die Politikwissenschaft entwickelte Konzept der Swiss worlds of taxation6 spricht somit erstens die föderalistische Dimension der zwischen dem schweizerischen Bundesstaat, den 26 Kantonen und den heute rund 2 300 Kommunen mitunter geteilten und mehrfach verflochtenen Fiskalhoheiten an: Das Einkommen natürlicher und die Gewinne juristischer Personen werden in der Regel auf allen drei staatlichen Ebenen vom Fiskus erfasst, und die Kantone sind direkt an der Erhebung sowie indirekt via Finanzausgleich am Ertrag mancher Bundessteuern beteiligt. Die geteilten Fiskalhoheiten im Bereich der direkten Besteuerung bildeten sich seit 1915 und insbesondere seit 1940 heraus, als der Bund, der zuvor die Einkommen, Vermögen und Gewinne seiner Bürger nicht besteuert hatte, sich in den Weltkriegen zur Finanzierung der Verteidigungskosten dazu veranlasst sah.7 Damit griff er in die Domäne der Kantone und Kommunen ein, deren Steuergesetze er seit den 1940er Jahren durch seine eigene Gesetzes- und Erhebungsarbeit beeinflusste. Nach langem Rin5 6 7

Gisela Hürlimann: Schweizerische Steuerwelten, 1945–1980. Gerechtigkeit, Wettbewerb und Harmonisierung im transnationalen Kontext (Manuskript Zürich 2019). Vgl. Klaus Armingeon / Fabio Bertozzi / Giuliano Bonoli: Swiss Worlds of Welfare, in: West European Politics 27 (2004), S. 20–44. Siehe u. a. Hanspeter Oechslin: Die Entwicklung des Bundessteuersystems der Schweiz von 1848 bis 1966. Einsiedeln 1967.

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gen und heftigen Referendumskämpfen wurde der kriegs- und krisenbedingte föderalistische Fiskalkompromiss zwischen Bund und Kantonen, durch welchen der Bund nebst einer Warenumsatzsteuer auch eine direkte Bundessteuer auf Einkommen und Gewinne erheben konnte, 1958 schließlich konstitutionell verankert, wenn auch mit begrenzter Dauer und damit wiederholt erneuerungsbedürftig.8 Die Vermögensbesteuerung fiel nun erneut ausschließlich bei den Kantonen an. Unter den weiteren Steuern, die der Bund erhob, besaßen vor allem die Verrechnungssteuer auf den kantonal nicht versteuerten Vermögenswerten sowie die Stempelsteuern Gewicht. Eine Standardisierung oder Harmonisierung der direkten Steuern von Kantonen und Bund war Thema, seit sich Letzterer als vormaliger „Zollstaat“ von seiner lediglich subsidiären steuerpolitischen Rolle emanzipiert hatte. Im Zeichen eines kooperativen Föderalismus verzichtete man allerdings auf eine materielle Harmonisierung – auch wenn entsprechende Forderungen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren Hochkonjunktur hatten – und beschränkte sich auf eine ab 1990 wirksam werdende formale Angleichung. In den 1980ern, vor allem aber seit den 1990er Jahren befruchtete dieses Arrangement den schon seit Jahrzehnten existierenden Steuerwettbewerb in und unter den Kantonen und Kommunen. Die fiskalischen Instrumente für diesen Wettbewerb – Steuerprivilegien für bestimmte Unternehmenstypen und Personengruppen in Kombination mit allgemein niedrigen Steuersätzen – wirkten, in einer zweiten Dimension des Steuerwelten-Modells, als funktionale Äquivalente für eine regionale Außenwirtschaftspolitik, in der die kantonalen und kommunalen Steuerwelten internationale Unternehmen sowie internationales Kapital anzogen und sich auf diese Weise mit der weiteren Welt verbanden. Damit dieser Steuerwettbewerb die freundeidgenössische Harmonie im Innern nicht zu sehr störte, wurde ein Teil seiner Erträge in die föderalistische Umverteilungsmaschinerie eingespeist. Als zuständige Koordinationsagentur wirkte der Bundesstaat, der zudem, und drittens, die andere transnationale Achse im dynamischen helvetischen Steuerwelten-Dreieck bespielt, indem er als Ansprechpartner für andere Nationalstaaten, die EG/EU und internationale Organisationen wie die OECD agiert. In dieser Funktion übernahm der Bund in jüngster Zeit vermittelnde und re-regulierende Funktionen, nachdem das Bankgeheimnis und kantonale Steuerprivilegien für zu viel internationale Marktungerechtigkeit gesorgt hatten. Die äußere Unruhe traf sich zudem mit interner, gerechtigkeitspolitisch motivierter Kritik. Weder das eine noch das andere ist neu, noch sind es die Versuche größerer Staaten, Kleinstaaten davon abzubringen, im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb ihre Steuerpolitik einzusetzen. Der folgende Ausflug in diese schweizerischen Steuerwelten setzt 1945 ein, fährt in den späten 1950ern weiter und verweilt in den 1960er Jahren, bevor er in einem raschen Ritt durch die 1970er bis 1990erJahre wieder in der jüngsten Gegenwart ankommt.

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Vgl. Olivier Longchamp: La politique financière fédérale (1945–1958). Lausanne 2014.

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FRÜHE KRITIK AN STEUERPRIVILEGIEN UND RUFE NACH STANDARDISIERUNG Im März 1945 reichte die Regierung des Kantons Zürich beim Bund eine Initiative für eine „gleichmässige Einschätzung und Erfassung der Steuerpflichtigen“ sowie für ein „Verbot der Steuerabkommen“ ein. Diese Zürcher Standesinitiative forderte, dass im Zusammenhang mit der anstehenden Bundesfinanzreform und „unter Berücksichtigung der Unterschiede in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der verschiedenen Landesgegenden“ Maßnahmen für eine gleichmäßige Einschätzung und Erfassung der Steuerpflichtigen zu treffen sowie Steuerabkommen zwecks individueller Privilegien zu verhindern seien.9 Der Kanton Zürich erhoffte sich damit auch bundesstaatliche Unterstützung in seinem Bemühen, die Begehren von Unternehmen um Steuerabkommen abzuwehren, ohne sie an freundeidgenössische Wettbewerber zu verlieren.10 Regierung und Parlament konzentrierten sich von Anfang an auf den zweiten Teil – das Verbot von Steuerabkommen –, der in den Gesetzesvorlagen für die Bundesfinanzordnung von 1950 und 1953 verankert wurde, die allerdings beide in der Volksabstimmung scheiterten. Die Bundesfinanzordnung von 1958 räumte dem Bund schließlich die Befugnis ein, gesetzgeberische Vorschriften gegen Steuerabkommen zu erlassen.11 Gleichzeitig wurde die Zürcher Initiative für abgeschlossen erklärt, ohne dass der erste Teil ihres Anliegens behandelt worden wäre. In der Folge blieben die kantonalen Unterschiede in der Besteuerung bestehen und mit ihnen auch die Vorzugsbehandlung von Beteiligungs- und Statusgesellschaften (Holdings, gemischte Gesellschaften, Domizilgesellschaften). Als Alternative zur Realisierung einer gleichmäßigen Unternehmensbesteuerung bot sich die Idee einer Bundessteuer auf juristische Personen (BJP) an. Dieser Vorschlag von 1947/48, die kantonalen Unternehmenssteuerregime durch eine Bundessteuer zu ersetzen und als Kompensation auf die Besteuerung der natürlichen Personen durch den Bund zu verzichten, war ab 1956 erneut geprüft worden. Der dafür eingesetzten Studienkommission fehlte aber angesichts der politischen Gemengelage der Glaube an die Machbarkeit einer konsequenten Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen. Sie schlug eine Art BJP light vor, die lediglich die kantonal-kommunale Unternehmensbesteuerung überlagern sollte und aus fiskalischen Gründen durch eine Bundeseinkommenssteuer auf natürliche Personen zu ergänzen wäre.12 Aber auch dieser Vorschlag stieß auf weitgehende Ablehnung. Man führte neben der Angst vor dem zentralistischen Leviathan auch die „Unmög9

10 11 12

Gleichmässige Steuereinschätzung. Initiative des Kantons Zürich: Schreiben des Regierungsrates des Kantons Zürich vom 1.3.1945, zit. von Berichterstatter Hauser, in: Amtliches Bulletin [Protokolle der schweizerischen Bundesversammlung], Sommersession Nationalrat, 2.7.1957, S. 529. Michael van Orsouw: Das vermeintliche Paradies. Eine historische Analyse der Anziehungskraft der Zuger Steuergesetze. Zürich 1995, S. 88. Bundesbeschluss über die verfassungsmässige Neuordnung des Finanzhaushaltes des Bundes vom 31.1.1958, Art. 42quater. Grundlagen und Entwurf für eine Bundessteuer der juristischen Personen. Bericht vom 21.3.1956 der Studienkommission für eine Bundessteuer juristischer Personen an das Eidg. Finanz- und Zolldepartement. [Bern 1956].

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lichkeit, durch steuerliche Massnahmen Industrien anzuziehen“, ins Felde – also das Standortwettbewerb-Argument.13 Ende der 1960er Jahre wurde die BJP als Idee neu lanciert – im Rahmen eines wachsenden Unbehagens über die föderalistische Steuerdifferenzmaschine.14 Damit traf sich die interne Kritik mit den internationalen Irritationen über kantonale Steuerprivilegien. USA, BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, FRANKREICH: UNTERNEHMENSVERLAGERUNGEN UND DOPPELBESTEUERUNGSABKOMMEN Kantonale Steuerprivilegien beförderten seit den späten 1950er Jahren den massierten Influx von ausländischen Unternehmen in die Schweiz, was sich auf die Zahl der dort registrierten Aktiengesellschaften (AG) auswirkte. Diese nahm zwischen 1955 und 1964 um über 20 000 bzw. um 78 Prozent zu.15 Zwischen 1964 und 1975 verdoppelte sich die absolute Zahl der Aktiengesellschaften annähernd.16 Eine besonders hohe Nettozunahme erfolgte in den Jahren 1962 und 1963. Erst ab 1969 wurde diese Wachstumsrate übertroffen, indem die Nettozunahme der Aktiengesellschaften von 1969 bis 1977 jährlich zwischen rund 4 000 und über 5 900 Unternehmen betrug.17 Ein Teil dieser Gesellschaften hatte die rechtliche Form eines Konzerndachs mit Beteiligungen bzw. einer Holding. Ende 1964 gab es 5 789 Holdinggesellschaften in der Schweiz; sie hatten seit 1955 um 42 Prozent zugenommen. Überdurchschnittlich viele solcher Gesellschaften befanden sich in den Kantonen Genf, Graubünden, Tessin, Zürich und Zug.18 Ein Teil der neu verzeichneten Aktien- und Holdinggesellschaften wurde durch Sitzverlagerung oder durch Neugründung seitens ausländischer Kapitalgeber in der Schweiz ansässig. Das sorgte in den Herkunftsländern für Ärger. Bereits Anfang der 1960er Jahre monierte die US-amerikanische Regierung die negative Zahlungsbilanz und die Abwanderung US-amerikanischen Kapitals in Steueroasen („tax havens“).19 Präsident John F. Kennedy nannte im April 1961 die 13 14 15 16

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Ebd., S. 10. Max Weber: Bundessteuer für juristische Personen (eingegangenes Postulat), in: Amtliches Bulletin, Wintersession Nationalrat, 3.12.1968, S. 34. Eidg. Statistisches Amt: Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1965. Basel 1965, S. 394: Bewegung der Aktiengesellschaften seit 1902. Im Handelsregister am Jahresende eingetragene Firmen nach Rechtsform 1883–2003. Jahr 1964: 46 267; 1975: 92 149 Firmen, in: Bundesamt für Statistik: Historische und statistische Tabellen der Schweiz; Tabelle hs-d-06.02.03.01. Online: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/ de/index/dienstleistungen/history/01/00/06/02.html (Zugriff: 14.1.2016). Aktiengesellschaften: Bestand, Gründungen, Kapitalerhöhungen, Kapitalsenkungen, Löschungen und Nettozunahme 1902–1985; Tabelle hs-d-06.02.03.05, in: Ebd. Statistisches Jahrbuch 1965 (wie Anm. 15), S. 398: Bestand der Holdinggesellschaften sowie Bewegung seit 1953. John F. Kennedy: Special Message to the Congress on Gold and the Balance of Payments Deficit, February 6, 1961, darin Punkt 10. Online: http://www.jfklink.com/speeches/jfk/publicpapers/1961/jfk23_61.html (Zugriff: 12.8.2015). Zu den Kennedy-Johnson-tax-cuts siehe: Molly

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günstigere Besteuerung US-amerikanischer Firmen und Direktinvestitionen im Ausland als einen der Gründe für die von ihm geplante Senkung der Bundeseinkommenssteuer. Während Kennedy sich davor hütete, die US-Investoren für die Verschiebung („deferral“) von Unternehmensaktivitäten direkt anzugreifen, richtete sich sein Ärger unverhohlen gegen die Steueroasen. Eine nannte er in seiner Botschaft explizit beim Namen: „The undesirability of continuing deferral is underscored where deferral has served as a shelter for tax escape through the unjustifiable use of tax havens such as Switzerland.“20 Schon in der Zwischenkriegszeit hatten diskrete Schweizer Vermögensverwaltungspraktiken in Kombination mit einer geringen Steuerlast und den Standortfaktoren Zentralität, Sicherheit und Neutralität zu einer Verlagerung von privatem sowie unternehmerischem Kapital in die Schweiz geführt.21 Dies betraf anfänglich insbesondere Deutschland und Frankreich. Die gesetzliche Verankerung der Diskretionspraxis als Bankkundengeheimnis, die Rolle der Schweiz als Golddrehscheibe für das Naziregime und als Hort nachrichtenloser Vermögen verfestigten in den USA zunehmend das Negativimage der Schweiz als skrupellosem Bankenplatz und Oase für zwielichtiges Kapital. 1957 untersuchte die US Securities and Exchange Commission Hinweise, wonach ausländische Investoren amerikanischer Unternehmen sich via Schweiz ihrer Steuerpflicht entzogen. Hinzu kam – mitten im Kalten Krieg – der Verdacht, der schweizerische Bankenplatz ziehe osteuropäisches Kapital an, das im Schutz der Anonymität Beteiligungen an US-amerikanischen Firmen erwerbe und auf diese Weise die US-Wirtschaft kommunistisch unterwandere.22 In den frühen 1960ern standen für die Kennedy-Administration hingegen weniger politisch-moralische Gründe als vielmehr volkswirtschaftliche Effekte von ausländischen Banken- und Steuerpraktiken im Vordergrund. Mit Blick auf die drohende Umkehrung der Handels- und Zahlungsflüsse im wirtschaftlich prosperierenden Europa war es nicht länger hinzunehmen, dass US-amerikanische Firmen ihre Unternehmensstrukturen künstlich in Mutter- und Tochterfirmen aufteilten, um Profite in Steueroasen anzuhäufen und auf diese Weise die „multiplicity of foreign tax systems and international agreements“ auszunutzen.23 Damit sprach Kennedy nicht nur schweizerische und andere Steueroptimierungswelten an, sondern auch die Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), die von einem Handelserleichterungsinstrument zu einem Steuervermeidungskniff zu verkommen drohten.

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22 23

C. Michelmore: Tax and Spend. The Welfare State, Tax Politics, and the Limits of American Liberalism. Philadelphia 2012. John F. Kennedy: Special Message to the Congress on Taxation, April 20, 1961: III. Tax Treatment of Foreign Income. Online by Gerhard Peters / John T. Woolley: The American Presidency Project, http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=8074 (Zugriff: 12.8.2015). Vgl. auch: Jakob Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München 2015, Kap. 5; Christophe Farquet: Tax Avoidance, Collective Resistance, and International Negotiations: Foreign Tax Refusal by Swiss Banks and Industries between the Two World Wars, in: Journal of Policy History 25 (2013), S. 334–353; Robert U. Vogler: Das Schweizer Bankgeheimnis. Entstehung, Bedeutung, Mythos (Beiträge zur Finanzgeschichte 7). Zürich 2005. Siehe etwa: o. V.: U. S. Acts to Ease Swiss Data Curb, in: New York Times, 11.4.1957, S. 44; o. V.: Rude Surprise, in: Time Magazine 69, H. 22 (3.6.1957), S. 84. Kennedy: Special Message to the Congress on Taxation (wie Anm. 20).

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Doppelbesteuerungsabkommen waren eine zentrale Handlungsarena der 1948 gegründeten Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) und ihrer Nachfolgeorganisation OECD und führten in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zur Gründung eines Fiskalausschusses der OEEC/OECD.24 1963 legte die OECD ein von diesem Ausschuss erarbeitetes Musterabkommen für die zwischenstaatliche Doppelbesteuerungsvermeidung vor. Trotzdem nahmen sich die Staaten die Freiheit, Ausnahmen vom Prinzip der Steuererleichterung vorzusehen, wenn es um eine Anpassung an neues nationales Steuerrecht ging oder wenn sie ihre fiskalischen und wirtschaftspolitischen Interessen beeinträchtigt sahen – zum Beispiel durch Steueroasen wie die Schweiz. Die internationale Kritik an schweizerischen Institutionen, die Steuerhinterziehung begünstigen konnten, veranlassten den Schweizer Bundesrat im Dezember 1962 zur Einführung einer Anti-Missbrauchsregelung bei DBA. Dieser Beschluss sah vor, dass Herkunftsstaaten ausländischer Investoren und Beteiligungen bei nicht gerechtfertigten Steuerentlastungen Quellensteuern erheben durften.25 Aus der Sicht von Staaten wie Deutschland und Frankreich war die Problematik aber struktureller Natur. Seit 1960 hatten sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete die Abwanderung von deutschen Unternehmen in die Schweiz thematisiert. 1962 mündete die Kritik in einen Auftrag des Parlaments an die deutsche Regierung, einen Bericht „über die Wettbewerbsverfälschungen, die sich aus Sitzverlagerungen und aus dem zwischenstaatlichen Steuergefälle ergeben können“, zu erstatten. Der in Volksmund und Medien als „Oasenbericht“ titulierte Report vom Juni 1964 zählte fiskalische Institutionen auf wie die Pauschalbesteuerung für vermögende ausländische Personen und Holding- sowie Domizilgesellschaften nebst allgemein niedrigeren Steuertarifen, welche ein Steuergefälle zwischen der Bundesrepublik und Niedrigsteuerländern schufen.26 Selbst wenn legale Steuervermeidung zu illegaler Steuerhinterziehung würde, würden Staaten mit niedrigem Steuerniveau „wie z. B. die Schweiz“ regelmäßig ein „absolutes Steuergeheimnis“ garantieren und es daher auch ablehnen, „Rechtshilfeabkommen abzuschließen oder ausländischen Staaten steuerliche Auskünfte zu erteilen“.27 Immerhin erlaubte die schweizerische Publikationspflicht von Gesellschaftsgründungen es den deutschen Behörden, den unternehmerischen Aderlass in Richtung Schweiz grob zu schätzen. Gestützt auf das Schweizerische Handelsamtsblatt (SHAB) ging die deutsche Regierung davon aus, dass in den Jahren 1961 und 1962 ungefähr 150 Holdinggesellschaften in der Schweiz gegründet worden waren, an denen in der Bundesrepublik ansässige natürliche und juristische Personen „erkennbar in größerem Umfang beteiligt“ waren. Bei weiteren Gesellschaften, die 24

Committee for Fiscal Affairs (CFA), Comité des affaires fiscales (CAF). Die Akten befinden sich im OECD-Archiv in Paris. 25 Bundesratsbeschluss betr. Massnahmen gegen die ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Doppelbesteuerungsabkommen des Bundes (14.12.1962), in: Systematische Rechtssammlung 672.202, Art. 4 Abs. 1 lit. d. 26 Bericht der Bundesregierung über Wettbewerbsverfälschungen, die sich aus Sitzverlagerungen und aus dem zwischenstaatlichen Steuergefälle ergeben können (23.6.1964), S. 4 f. Online: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/04/04026.pdf (Zugriff: 12.8.2015). 27 Ebd., S. 8.

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Grundstücksverwaltung, Patentverwertung und Vermittlungsgeschäfte betrieben, vermuteten die deutschen Behörden, „daß sie zur Verlagerung von Einkünften und Vermögen“ benutzt würden.28 Die deutsche Seite erkannte einen klaren Zusammenhang zwischen dem Wachstum von Aktien- und Holdinggesellschaften in der Schweiz seit den späten 1950ern und deutschen Sitzverlagerungen. Trotz des schweizerischen Beschlusses gegen den DBA-Missbrauch werde das deutsch-schweizerische Steuergefälle durch das existierende Abkommen gestützt, so die Sicht der Bundesregierung.29 Entsprechend forderte Deutschland die Schweiz im Dezember 1964 formell zu einer Revision des gemeinsamen Doppelbesteuerungsabkommens auf, das 1931 erstmals geschlossen und in den Jahren 1957 sowie 1959 erneuert worden war.30 Dieser Vorstoß ordnet sich in die zeitgleichen Bemühungen anderer Staaten ein, den Wechsel vom steuerlichen Wohnstaat- zum Quellenstaatprinzip durchzusetzen, um der Steuervermeidung und -flucht durch Unternehmensabwanderung Einhalt zu gebieten. Mitte der 1960er Jahre sah sich die Schweiz deshalb von mehreren Staaten mit der Forderung nach einer Revision bestehender DBA sowie mit dem Ruf nach Amtshilfe bei vermuteter Steuerflucht konfrontiert: Zwischen 1965 und 1967 wurden sieben DBA revidiert oder neu auf den Weg gebracht.31 Die OECD und die EWG stellten zudem multilaterale Kommunikationskanäle dar, die es der Schweiz erschwerten, bei jedem ihrer Verhandlungspartner die für die Eidgenossen jeweils besten Bedingungen herauszuholen. Nach dem Revisionsbegehren durch Deutschland Ende 1964 folgte im Juli 1965 auch die französische Regierung, die ihren Wunsch mit der Entwicklung der schweizerisch-französischen Kapitalbewegungen und mit dem Zahlungsbilanzdefizit gegenüber der Schweiz begründete. Letzteres führten die Franzosen auch auf die der Schweiz zugutekommenden Kapitalerträge und Lizenzgebühren durch ausländische Unternehmen zurück.32 Frankreich vermutete, die schweizerischen Bank- und Steuerinfrastrukturen würden auf Diskretion bedachte ausländische Investoren anziehen, die vom Schweizer Boden aus ohne unerwünschte Kontrollen und fiskalische Abschöpfungen in Frankreich investierten. Es ist nicht ohne Ironie, dass die Franzosen hier eine Unterwanderung ihrer Industrie durch insbesondere amerikanisches Privatkapital von der Schweiz aus befürchteten, während die Amerikaner zuvor die Schweiz als Hort angeprangert hatten, von dem aus osteuropäisches Kapital seine Unterwanderungsversuche auf westliche Industrien starte. Gegenüber ihren schweizerischen Verhandlungspartnern zeigten sich die 28 29 30

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Ebd., S. 10. Ebd., S. 8 und 13 f. Schweizerisches Bundesarchiv (im Folgenden: BAR), E2001E#1978/84#873*: Ständerätliche Kommission für die Vorberatung der Bundesbeschlüsse über die Genehmigung der von der Schweiz mit Spanien, Grossbritannien, den Niederlanden und Frankreich abgeschlossenen Vereinbarungen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (vertrauliches Protokoll der Sitzung vom 23.11.1966 in Bern, geführt von der ESTV), S. 2. BAR, E1004.1#1000/9#725*: EFZD (Roger Bonvin) an den Bundesrat, Ausführungsvorschriften zu Doppelbesteuerungsabkommen; pauschale Steueranrechnung, Bern 21.7.1967. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Genehmigung des zwischen der Schweiz und Frankreich abgeschlossenen Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 18.10.1966, in: Bundesblatt II 1966, S. 577–615, hier 579.

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französischen Behörden überzeugt, dass der Umweg über die Schweiz nur deshalb benützt werde, weil die „niedrigen schweizerischen Steuern im allgemeinen und die den Holding- und Domizilgesellschaften, Familienstiftungen und Treuhändern zukommenden kantonalen Steuerprivilegien im besondern hiefür einen grossen fiskalischen Anreiz“ bildeten.33 Im Frühling 1965, als der französische DBA-Revisionswunsch angekündigt wurde, verhandelten die Eidgenossen mit den Niederlanden und Deutschland. Mit Irland und Spanien standen neue DBA bevor, und von Seiten des OECD-Fiskalausschusses sowie der EFTA-Arbeitsgruppe für Doppelbesteuerung kamen ebenfalls Forderungen an die Schweiz. Angesichts dieses Drucks, und damit schweizerische Wirtschafts- und Finanzinteressen später keine Obstruktion betreiben würden, musste die helvetische Aushandlungsklaviatur abgestimmt werden. Im April 1965 traf sich deshalb ein Zirkel aus Kadern der Bundesverwaltung, der kantonalen Steuerverwaltungen sowie aus Vertretern von Privatwirtschaft und Finanzplatz in Bern zu einer vertraulichen Aussprache – ein im Rahmen der liberal-korporatistischen schweizerischen Politikgestaltung durchaus übliches Verfahren. Das Protokoll dieser Aussprache zeigt nicht nur, wie die Forderung nach einer Amtshilfe in Steuersachen, die im frühen 21. Jahrhundert den schweizerischen Steuerpolitikwandel mit befördern sollte, den eidgenössischen Akteuren bereits damals unter den Nägeln brannte, sondern vor allem auch, wie zwischenstaatliche Steuerabkommen außenwirtschaftliche Beziehungen modellierten und Kräfteverhältnisse widerspiegelten. Während manche der anwesenden Wirtschaftsvertreter sich verächtlich über den „Oasenbericht“ äußerten und den deutschen Änderungswünschen möglichst energisch entgegentreten wollten, zeichnete der Vertreter des Außenministeriums (damals Eidgenössisches Politisches Departement, EPD) Emanuel Diez ein differenziertes Bild der Situation. Der Jurist situierte den „Oasenbericht“ und die deutschen Forderungen in einen größeren Zusammenhang. Das geltende DBA datierte aus der besonderen Nachkriegssituation, als Deutschland sich „der Schweiz gegenüber schuldig fühlte“, erklärte Diez. Diese Zeiten seien nun aber vorbei. Das Geschrei in der Schweiz wegen der Überfremdung – Diez spielte hier auf eine 1964 lancierte Volksinitiative „gegen die Überfremdung“ an – werfe die Frage auf, warum man „nicht selbst auch auf diesem Gebiet [des steuerlich begünstigten Zuzugs von ausländischen Personen und Unternehmen, G. H.] etwas dagegen tue?“ Die Deutschen seien sich „der Zusammenhänge bewusst und gut im Bild“.34 Hinter geschlossenen Türen verhehlten auch die schweizerischen Steuerverwaltungsakteure nicht ihre Frustration über die kantonalen Steuerpraktiken. Als „unschön“ bezeichnete der Vizedirektor der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV) Kurt Locher die „Tatsache, dass Leute in die Schweiz kommen, die nicht, wie früher, sich hier zur Ruhe setzen, sondern als 33 34

Ebd. BAR, E2001E#1978/84#873*: Internes und vertrauliches Protokoll der Aussprache mit Vertretern der Kantone und Wirtschaftsverbände vom 7.4.1965 in Bern, Eidg. Steuerverwaltung, betr. die Revision der Doppelbesteuerungsabkommen mit den Niederlanden und Deutschland, die Orientierung über die Doppelbesteuerungsverhandlungen mit Irland und Spanien sowie die Arbeiten des Fiskalkomitees der OECD und der EFTA-Arbeitsgruppe für Doppelbesteuerung [Dr. Diez, EPD; gez.: Le 5.5.65], S. 13.

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Grossindustrielle das Abkommen missbrauchen und der gerechten Besteuerung entgehen“, womit er das Privileg der Besteuerung nach dem Aufwand ansprach.35 Und der Chef des Rechtsdiensts der Zürcher Steuerverwaltung konterte die Vorschläge der Wirtschaftsakteure, wie deutsche Holding- und Basisgesellschaften trotz DBA-Revision auch weiterhin vor dem Zugriff des deutschen Fiskus geschützt werden könnten, mit der Aussage: „Wir selbst haben es, durch Schaffung kantonaler Sitzprivilegien, so weit kommen lassen und sollten dafür sorgen, dass die Kantone diese Privilegien wieder rückgängig machen, auch wenn dies nicht von heute auf morgen möglich ist.“36 Die Wirtschaftsvertreter hingegen bemühten sich auf der Sitzung, den schweizerischen Status quo zu verteidigen. Auf die Bemerkung des Repräsentanten schweizerischer Unternehmen in Deutschland, „[w]arum schaffen sie [die Deutschen, G. H.] nicht selbst eine Basisordnung analog unserer kantonalen Sitzprivilegien? Sie haben Angst vor der SPD“37, reagierte der ESTV-Vizedirektor Locher verärgert: Er sehe nicht, wie man den Deutschen eine solche Gesetzgebung suggerieren könne, denn „was bei uns nicht sittlich ist, bleibt auch in Deutschland unsittlich“.38 Auf diese moralschwere Bemerkung folgte das pragmatisch-zynische Fazit des EPD-Juristen Diez: „Die Deutschen wissen, dass wir die Amtshilfe drei Staaten gegenüber akzeptiert haben, es hat demnach keinen Sinn, sich länger dagegen zu stemmen.“ Für Diez war die Konzession einer Amtshilfe das kleinere Übel im Vergleich mit der „Gefahr, die dem Abkommen und den schweizerischen Interessen durch Massnahmen gegen schweizerische Basis- und Holdinggesellschaften droht“.39 Zumindest der Versicherungsvertreter schien teilweise beeindruckt zu sein, denn er fragte, ob man den Kantonen, die durch die Sitzprivilegien „grosse Schuld“ an der Situation trügen, die Gefahr einer Kündigung des DBA durch Deutschland nicht klar machen sollte.40 Seltsam fern schien 1965 der Sieg, den die Finanzplatzvertreter 1962 und 1963 über die Steuerverwaltung und den Bundesrat errungen hatten. Damals hatten sie es geschafft, dass die mediale Öffentlichkeit und die bürgerliche Parlamentsmehrheit einen bundesrätlichen Bericht zur Steuerdefraudation in der Schweiz angewidert als einen Irrläufer entrückter Bürokraten behandelten und die vorgeschlagene Verschärfung von Kontroll- und Strafmaßnahmen verwarfen. Die mutige, aber ungeschickte Infragestellung des Bankgeheimnisses in diesem von der ESTV verfassten Bericht war einer der Hauptangriffspunkte gewesen.41 Doch jetzt schienen sich die Gewichte verschoben zu haben. Seitens der Wirtschaftsverbände und der Banken konnte man höchstens noch dafür sorgen, dass die äußere Kritik an den Schweizer Steuerspezia35 36 37 38 39 40 41

Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18 [Dr. Oeri]. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 19. Bericht des Bundesrates zur Motion Eggenberger betr. wirksamere Bekämpfung der Steuerdefraudation vom 25.5.1962, in: Bundesblatt I 1962, S. 1057–1117. Siehe dazu: Gisela Hürlimann: Einträglich und gerecht? Steuern und Umverteilung in Nachkriegsboom, 1970er-Krise und darüber hinaus, in: Dies. / Jakob Tanner (Hg.): Steuern und umverteilen. Effizienz versus Gerechtigkeit? (Zürcher Hochschulforum 48). Zürich 2012, S. 55–81.

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litäten und am Bankgeheimnis nicht (wieder) das Inland anstecken würde. Und man musste versuchen, die für manche Kantone so einträgliche Privilegierung der Basisgesellschaften in den DBA mindestens im Kern aufrechtzuhalten. Das war nicht einfach. Denn das am 9. September 1966 in Paris unterzeichnete Abkommen mit Frankreich (DBAF) rang der schweizerischen Seite einige Konzessionen ab. Dazu gehörte auch die Besteuerung von Zins- und Lizenzeinkommen durch ausländische Gesellschaften in der Schweiz bzw. der Ausschluss dieser Tatbestände von der Doppelbesteuerungsvermeidung, sofern es sich um Domizilgesellschaften handelte, die aufgrund kantonaler Steuerprivilegien keine Kantonssteuern bezahlten.42 Damit zielte die von Frankreich durchgesetzte Regelung direkt ins Herz des Domizilprivilegs. Von deutscher Seite konnte dasselbe drohen. Die Äußerungen in der Kommission des schweizerischen Ständerats, der kleinen Parlamentskammer, zeigen, dass die DBAVerhandlungen den binnenschweizerischen Befindlichkeiten mehr als Haarrisse zufügten. Die DBA-Revision mit Frankreich sei als eine Frage der (Steuer)Moral – „un souci de moralité“ – verhandelt worden, stellte der eidgenössische Finanzminister, der freisinnige Roger Bonvin, klar. Dem Wehklagen im Kanton Glarus, man befürchte infolge des DBAF eine Million Franken Steuerausfall, hielt Bonvin ungerührt entgegen, die Kantone sollten daran denken, dass sie diese Millionen zuvor jahrelang ungerechtfertigter Weise eingenommen hätten.43 ESTV-Vizedirektor Locher schob nach, die Schweizer Seite habe das französische Ansinnen, die Holdings gänzlich von der Doppelbesteuerungsbefreiung auszunehmen, nur mit Mühe und Not abwenden können.44 Kommissionspräsident Paul Torche, Ständerat des Kantons Fribourg, zeigte für die Verhandlungsführung der Schweizer Unterhändler viel Verständnis. Es sei klar, dass auch im Hinblick auf eine künftige europäische Integration Opfer gebracht werden müssten, hielt Torche fest und wünschte sich, das Finanzdepartement und die ESTV könnten mit den kantonalen Finanzdirektoren Mittel und Wege finden, um einige Steuerprivilegien zu „eliminieren“.45 Während er als Vertreter der konservativ-christlichsozialen Volkspartei so sprach, hatte ein sozialdemokratischer Politiker, Otto Stich, im Nationalrat das neue Abkommen mit Frankreich bereits zum Anlass genommen, um eine angemessenere Besteuerung der Domizilgesellschaften in der Schweiz zu fordern.46 UMVERTEILUNGSKONJUNKTUR, DER WUNSCH NACH MEHR HARMONIE UND DER „LIBERAL RETURN“ Offiziell wurde dieses Postulat von Stich, der 1984 bis 1995 als eidgenössischer Finanzminister wirkte, nicht weiter verfolgt, bis es 1968 schließlich abgeschrieben wurde. Hinter den Kulissen sorgte es jedoch für Unruhe: Bundesrat Bonvin habe 42 43 44 45 46

Botschaft vom 18.10.1966 (wie Anm. 31), S. 584. Ständerätliche Kommission (wie Anm. 29), S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Otto Stich: Besteuerung der Domizilgesellschaften (eingegangenes Postulat), in: Amtliches Bulletin, Herbstsession 1966 Nationalrat, Sitzung vom 21.9.1966, S. 87.

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ihn gebeten, auf eine Behandlung des Postulats im Winter 1966 zu verzichten und erst den DBA-Abschluss mit Deutschland abzuwarten, weil es nicht opportun sei, „die schmutzige Wäsche der Schweiz in aller Öffentlichkeit zu waschen“, gab Stich später zu Protokoll.47 Die Taktik, dem Ausland mit interner Geschlossenheit entgegenzutreten, ging aber nicht auf. Im DBA mit Deutschland musste die Schweiz ähnliche Zugeständnisse machen wie gegenüber Frankreich. Zwischen 1966, als Stich sein Postulat eingereicht hatte, und 1971, als er sich veranlasst sah, mit einer Initiative zur Steuerharmonisierung einen höheren Gang einzulegen, konvergierten die Bemühungen der Bundesverwaltung, das enge Fiskalkorsett, das ihr von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit auferlegt worden war, zu weiten und die Bundessteuern auszubauen, mit weitreichenden Vorschlägen für eine Harmonisierung der schweizerischen Steuerwelten, den Abbau von Steuerprivilegien, die individuelle Veranlagung erwerbstätiger Ehefrauen sowie eine stärkere Besteuerung der Wohlhabenden. Diese steuerpolitische Gerechtigkeits- und Umverteilungskonjunktur, die im weiteren Kontext der mit „1968“ chiffrierten mentalen und kulturellen Veränderungen zu verorten ist, sich aber auch auf ein international wachsendes wissenschaftlich-statistisches Verteilungs- und Inzidenzwissen stützte, flaute in den späten 1970ern auch unter dem Eindruck der rezessiven Folgen auf die Staatsfinanzen ab. Die Umbauvorschläge der schweizerischen Fiskalverfassung vonseiten der Sozialdemokratie und modernistischer Unabhängiger, die eine materielle Harmonisierung der schweizerischen Steuerwelten und Reichensteuern gebracht hätten, wurden 1976 und 1977 in Volksabstimmungen verworfen.48 Ein plebiszitärer Misserfolg war 1977 und 1979 auch dem Versuch des Bundesrats beschieden, eine Mehrwertsteuer nach europäischem Vorbild einzuführen.49 Zu diesem Zeitpunkt beklagten bürgerliche Interessenvertreter den relativen Anstieg der schweizerischen Steuer- und Staatsquote, analysierten „Steuerausweichungen“ als Folge der „Zerstörungseffekte“ zu hoher Steuern und verwiesen mahnend auf die letztlich Ronald Reagan den Weg weisende kalifornische Bewegung gegen höhere Grundeigentumssteuern.50 Solche (neo-)liberalen Diskurse markieren eine weitere steuerpolitische Strukturperiode, deren Merkmale eine ausgeprägte Mittelklasse- und Familienorientierung der Steuerpolitik war und die sich in der verstärkten 47 48

49 50

So Otto Stich, in: Amtliches Bulletin, Sommersession 1976 Nationalrat, Sitzung vom 23.6.1976, S. 752. Es handelte sich um die Volksinitiative des Landesrings der Unabhängigen (LdU) für eine „Gerechtere Besteuerung und Abschaffung der Steuerprivilegien“, lanciert 1973 und abgestimmt 1976, sowie die Volksinitiative der SP Schweiz „zur Steuerharmonisierung, zur stärkeren Besteuerung des Reichtums und zur Entlastung der unteren Einkommen (Reichtumssteuerinitiative)“, lanciert 1973 und abgestimmt 1977. Zu den Forderungen der LdU-Initiative siehe auch: Heinz Haller / Walter Biel: Zukunftsgerechte Finanzreform für die Schweiz. Zürich 1971. Bundesbeschluss vom 17.12.1976 über die Neuordnung der Umsatzsteuer und der direkten Bundessteuer, abgelehnt am 12.6.1977; Bundesbeschluss vom 15.12.1978 über die Neuordnung der Umsatzsteuer und der direkten Bundessteuer, abgelehnt am 20.5.1979. Die Steuerlawine – und was danach? Referat von Ständerat Prof. Dr. Hans Letsch, Aarau, auf Einladung der Bank Hofmann AG am 22.11.1979 im Hotel Savoy Baur en Ville in Zürich, S. 1. Letsch stützte sich auch auf: Rudolf Rohr: Schweizer Steuern auf gefährlichem Kurs. Fakten, Folgerungen und Vorschläge. Zürich 1978.

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Steuerentlastung mittels Abzügen, dem Ausgleich der Kalten Progression und durch steuerbegünstigte Vorsorge äußerte. Nicht allein in der Verwendung steuerlicher Instrumente für die private Sparbildung zeigte sich eine Tendenz, die mit Selbstverantwortung konnotiert werden kann. Indem das seit den späten 1960ern diskutierte Projekt der Steuerharmonisierung bis 1990 auf eine formale Standardisierung eingedampft wurde, die privilegierende Sonderbestimmungen kaum antastete, wurde dem Prinzip föderalistischer Subsidiarität Nachdruck verschafft. Im Zeichen des Angebotsparadigmas gewann auch eine regionale Standortpolitik durch Steuerdifferenzierung und Steuerwettbewerb gegenüber der umverteilungsbewegten Vorperiode wieder an Legitimität. 1993 kam die Mehrwertsteuervorlage beim vierten Anlauf endlich durch, was mit dem Wunsch, EWR-kompatibel zu werden, ebenso zu tun hatte wie mit der partiellen wohlfahrtstaatlichen Zweckbindung der neuen Steuer und der Hoffnung, eine Verlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern zu bewirken. Bis 199651 schwoll das marktliberale Lüftchen auch unter dem Eindruck weltpolitischer und wirtschaftlicher Entwicklungen zu einem kräftigen Sturm an, der mit den Forderungen nach Liberalisierung, Deregulierung und marktwirtschaftlicher Reform durch die politische Landschaft wirbelte. Die zwecks Steuerharmonisierung notwendigen Anpassungen kantonaler Steuergesetze gerieten zum Anlass, um unter Verweis auf den intensivierten globalen Standortwettbewerb und auf die infolge der erneuten Rezession stark gestiegenen öffentlichen Schulden eine neue Runde im interkantonalen und internationalen Steuerwettbewerb einzuläuten. Mehr Steuerertrag durch niedrigere Steuern, hieß das Motto, das in der Schweiz nicht erst seit Arthur Laffers Kurve, die die US-Steuerreformen der 1980er-Jahre mit inspiriert hatte, bekannt und beliebt war.52 Neu wurde die Forderung nach Kompetitivität auch an die Bundessteuern gestellt. Sie stieß bei den freisinnigen eidgenössischen Finanzministern und ihren Stäben zwischen 1996 und 201053 auf Resonanz und führte in einem Parlament, in welchem die rechtspopulistisch-neokonservative Schweizerische Volkspartei, die in der Steuerpolitik ultra-neoliberale Haltungen vertrat, zur stärksten Fraktion aufgestiegen war54, zwischen 1997 und 2008 zu umfangreichen Reformen in der Unternehmensbesteuerung (USR I und II).55 Doch auch die großen Volkswirtschaften und ihre institutionellen Alliierten blieben nicht untätig. 51 52 53 54 55

Siehe für die folgende Analyse auch Hürlimann: Schweizerische Steuerwelten (wie Anm. 5), Kap. 9. Zur Laffer-Kurve siehe: Jude Wanniski: Taxes, Revenues, and the „Laffer Curve“, in: The Public Interest 50 (1978), S. 3–16; Arthur B. Laffer / Jan B. Seymour: The Economics of Tax Revolt: A Reader. New York 1979. Kaspar Villiger, FDP, 1996–2003; Hans-Rudolf Merz, FDP, 2004–2010. Der Wähleranteil der SVP im Nationalrat betrug im Jahr 1991: 11,9 %; 1995: 14,9 %; 1999: 22,5 %; 2003: 26,7 % und 2007: 28,9 %. Siehe: Bundesamt für Statistik: Statistik der Nationalratswahlen, Aktualisierung 11/2015, Tabelle je-d-17.02.03.03.01. Botschaft zur Reform der Unternehmensbesteuerung 1997 (vom 26.3.1997), in: Bundesblatt II 1997, S. 1164–1220; Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeiten und Investitionen (Unternehmenssteuerreformgesetz II) (vom 22.6.2005); in: Bundesblatt 2005, S. 4733–4874. Die parlamentarisch bereinigte USR I trat 1998 in Kraft. Zur USR II fand am 24.2.2008 eine Referendumsabstimmung statt. Ihre Maßnahmen traten 2009 und 2011 in Kraft.

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SUSTAINABLE GROWTH: OECD UND G7/G20 FÜR FAIREN WETTBEWERB Seitens des OECD-Fiskalausschusses nahm die Thematisierung der gerechten Steuerbelastung, der Verteilungswirkung von Steuern und ihrer Umgehung seit den 1970er Jahren zu.56 1977 verabschiedete der OECD-Rat eine vom Fiskalausschuss erarbeitete Empfehlung zum Umgang mit Steuervermeidung und Steuerflucht, die 1978 auch der Europarat rezipierte.57 Deutlicher in die Offensive ging die OECD mit ihrer Kritik an Steueroasen und Bankgeheimnis jedoch seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.58 Mitte der 1990er und damit fast gleichzeitig mit dem Fahrplan der ersten Bundes-Unternehmenssteuerreform in der Schweiz fokussierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Thematik des „schädlichen“ Steuerwettbewerbs. Schädlich galt ihr der Steuerwettbewerb dann, wenn er erstens Investitions- und Finanzierungsentscheide „verzerrte“ und zweitens, wenn darunter die nationalen Besteuerungskapazitäten litten.59 Diese Beobachtungen waren das Resultat der Debatten und Beschlüsse des OECD-Ministerratstreffens vom Mai 1996. Geleitet wurde das Treffen von hohen österreichischen und portugiesischen Regierungsvertretern – beide Länder wurden damals sozialdemokratisch regiert – und vom Ökonom Joseph Stiglitz, Vorsitzender des wirtschaftlichen Beraterstabs von US-Präsident Bill Clinton.60 Ähnlich wie in der Schweiz veranlasste die Rezession der 1990er Jahre die führenden OECD-Köpfe zu grundsätzlichen Überlegungen in Bezug auf die Reaktivierung der wirtschaftlichen Prosperität. Zwar hatte man die Inflation wieder in den Griff bekommen, und die Wachstumsindikatoren zeigten erneut aufwärts. Aber die öffentlichen Schuldenberge drückten, die Arbeitslosigkeit blieb in vielen Ländern hoch und verstärkte den von wissenschaftlichen Untersuchungen genährten Eindruck, wonach die Einkommensungleichheit zunahm.61 Diese Trends fanden vor dem Hintergrund einer nun immer stärker thematisierten Globalisierung der Wirtschaft statt. Anders als die globalisierungskritische Bewegung der späten 1990er Jahre betonten (sozialdemokratische) Regierungsakteure und die Vertreter multinationaler Gremien wie der OECD, der Welthandelsorganisation und der G7-Länder die Chance und 56 Dies belegen die internen Akten des CFA/CAF im OECD-Archiv, Paris. 57 Recommendation of the Council of 21st September 1977 on Tax Avoidance and Evasion, [C(77)149/FINAL]; European Council, Recommendation 833 (1978) concerning the cooperation between the member states in order to combat international tax avoidance and evasion (Pettersson). 58 OECD (Hg.): Taxation and the Abuse of Bank Secrecy. Paris 1985. Erschienen in der Reihe: OECD (Hg.): International Tax Avoidance and Evasion. Four Related Studies. Paris 1987. 59 OECD-Communiqué: Meeting of the Council at Ministerial Level, Paris, 21–22 May 1996. Online: http://www.g8.utoronto.ca/oecd/oecd96.htm (Zugriff: 4.12.2015). 60 Leitung: Franz Vranitzky und Viktor Klima (österreichischer Bundeskanzler und Finanzminister, beide SPÖ). Vice-Chairmen: Antonio Luciano de Sousa Franco und Francisco Manuel Seixas da Costa (portugiesischer Finanzminister und Staatssekretär für europäische Angelegenheiten in der sozialdemokratischen Regierung von Mario Soares) sowie Joseph Stiglitz. Siehe: Ebd. 61 Zeitgenössisch: Anthony B. Atkinson / Lee Rainwater / Timothy M. Smeeding: Income Distribution in European Countries (Cambridge Working Papers in Economics 9535). Cambridge 1995.

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Notwendigkeit, dass alle Volkswirtschaften möglichst gleichberechtigt an einer Globalisierung partizipieren sollten, die auch die Arbeitsmarkt- und Konsumchancen in den Ländern des Südens und Ostens erhöhen würde. Der Weg dahin führte allerdings über eine verschärfte Konkurrenz, die Unternehmen und nationale Volkswirtschaften unter permanenten Innovations-, Bildungs-, Investitions- und Kostenkalkulationsdruck setzte: Die Unschuld des Wachstumsparadigmas der 1960er Jahre62 war dahin. Nicht nur wachsende Ungleichheit, sondern auch die seit den 1970ern thematisierten Umwelt- und Klimaproblematiken machten die pro-growth- und pro-Globalisierungsinitiativen anspruchsvoller. Zukünftiges Wachstum sollte so hoch wie möglich sein, aber gleichzeitig nachhaltig („sustainable“) und dem sozialen Zusammenhalt nicht abträglich. Multilaterale Regeln wurden notwendig, um das ordentliche Funktionieren einer globalisierten Wirtschaft abzusichern. Ein besonderer Balanceakt versprach die OECD-Offensive einerseits im Bereich weltweiter Handelsliberalisierung und Investitionsförderung und andererseits im Kampf gegen steuergünstige Gewinnverschiebungen („Transfer Pricing“) zu werden. Erste Richtlinien zum Thema Gewinnverrechnung und -verschiebung hatte der OECD-Fiskalausschuss bereits 1979 erarbeitet. Doch erst 1995 verabschiedete der OECD-Rat diese Richtlinien zu „Transfer Pricing and Multinational Enterprises“ offiziell.63 1996 knüpfte man in Paris daran an und ging noch einen Schritt weiter, indem der schädliche Steuerwettbewerb per se in den Fokus geriet. Die Minister beauftragten die OECD, für die Verankerung und Ausweitung der Transfer-Pricing-Guidelines zu sorgen und Maßnahmen zur Bekämpfung der „harmful tax competition“ zu entwickeln.64 Gut einen Monat später, Ende Juni 1996, bekräftigte der Gipfel der G7Staaten in Lyon diese Stoßrichtung. Die dort versammelten Staatschefs und hohen Minister aus den führenden „westlichen“ Industrienationen und Japan betonten die Chancen der ökonomischen Globalisierung, deren gleichzeitige Herausforderungen durch die verstärkte internationale Kooperation zu bewältigen seien.65 Eine solche Kooperation schien den G7-Akteuren auch auf dem Feld der Steuerpolitik wichtig. Denn Steuersysteme („tax schemes“), die darauf abzielten, Finanzkapital und andere geografisch mobilen unternehmerischen „Aktivitäten“ anzuziehen, könnten zu einem „schädlichen Steuerwettbewerb“ zwischen den Staaten führen, der sich verzerrend auf Handel, Investitionen und das nationale Steueraufkommen auswirken könne. Auf und an die OECD-Initiativen in diesem Feld hoffte, drängte, appellierte man seitens der G7 „strongly“ und versicherte die Unterstützung dafür „warmly“.66 62 63 64 65 66

Siehe auch Matthias Schmelzer: „Expandiere oder stirb“. Das Wachstumsparadigma, die OECD und wie sich die Erwartung exponentiellen Wirtschaftswachstums durchsetzte, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 1–37. OECD: OECD Transfer Pricing Guidelines for Multinational Enterprises and Tax Administrations (22.7.2010). Paris 2010, S. 3. Siehe Punkt vii in: OECD-Communiqué (wie Anm. 59). G7, Economic Communiqué: Making a Success of Globalization for the Benefit of All, Lyon, France, 28 June 1996: Preamble. Online: http://www.library.utoronto.ca/g7/summit/1996lyon/ communique.html (Zugriff: 4.12.2015). Ebd., Punkt 16: „Tax schemes aimed at attracting financial and other geographically mobile activities can create harmful tax competition between states, carrying risks of distorting trade and investment and could lead to the erosion of national tax bases“.

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Besonders bemerkenswert ist im G7-Communiqué, dass es die Schuldigkeit am schädlichen Steuerwettbewerb expliziter als die OECD-Minister bei einer bestimmten Form staatlicher Politik ansiedelte: Mit den kritisierten „tax schemes“ war eindeutig die Steuerpolitik von Ländern gemeint, die ein steueroptimierendes Gebaren von Investoren und Unternehmen durch ihre Anziehungskraft förderten. Eine solche Feststellung fiel den G7-Akteuren umso leichter, als keiner der von ihnen vertretenen Staaten auf zentralstaatlicher Ebene eine offensive Steuerstandort-Strategie verfolgte bzw. sich dies hätte leisten können. Der doppelte Auftrag, Maßnahmen gegen einen schädlichen Steuerwettbewerb und gegen die Gewinnverlagerung aus Steuergründen zu erarbeiten, ging an das OECD-Fiskalkomitee, das damit von einer Advokatur zur Steuererleichterung und Handelsliberalisierung in den 1950ern und 1960ern zu einer Instanz wurde, die Marktgerechtigkeit durch transnationale Steuergerechtigkeit absichern sollte. 1998 lag der Bericht mit dem Titel „Harmful Tax Competition: An Emerging Global Issue“ vor.67 Der Kampf gegen schädliche Steuerpraktiken ordnete sich in den Kontext eines weltweiten Wirtschaftsgeschehens ein, das in Kategorien eines optimalen, fairen Wettbewerbs zu denken war – für den auch die Metaphern „arm’s length“ oder „level playing field“ herangezogen wurden.68 Deutlich unterschied der Bericht die gleichsam künstlich durch entsprechende Steuerpraktiken motivierten ökonomischen Aktivitäten im wolkigen Bereich des mobilen Finanzkapitals und der mobilen Dienstleistungen von einer handfesten Realwirtschaft, die durch den Verzicht auf die inkriminierten Steuerpraktiken wieder zum Blühen gebracht werden könnte. Nur zwei Mitgliedstaaten hatten im OECD-Rat dem Dokument und seinen Empfehlungen nicht zugestimmt, sondern sich der Stimme enthalten: Luxemburg und die Schweiz.69 DIE LETZTEN MOHIKANER ODER: DIE UBS, DAS IRS, STEINBRÜCK UND EIN POLITIKWANDEL Nach 2008 waren solche Positionen allerdings nicht mehr lange haltbar. Die jahrzehntelang als Ausfluss einer spezifischen helvetischen „Finanzgesinnung“70 verteidigten Besonderheiten im Umgang mit Steuerwettbewerb und nicht deklarierten Vermögenswerten wurden von großen Staaten, der EU und der OECD nun als eine moralisch nicht (mehr) vertretbare peculiar institution wahrgenommen, gegen die es ähnlich entschlossen vorzugehen galt, wie einst gegen die Sklaverei und andere föderalistische Souveränitätsansprüche der Konföderierten in den US-Südstaaten.71 67 68 69 70 71

OECD (Hg.): Harmful Tax Competition: An Emerging Global Issue. Paris 1998, S. 3. Ebd., S. 9. Ebd., S. 65. Siehe bspw. Eugen Grossmann: Die Finanzgesinnung des Schweizervolkes im Lichte der politischen Statistik, in: Ders.: Gedanken über Finanzpolitik in der reinen Demokratie. Bern 1948, S. 7–15. Vgl. Kenneth M. Stampp: The Peculiar Institution. Slavery in the Ante-Bellum South. New York 1956.

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Oder gegen die integrationsunwilligen Indianer. So lautete sinngemäß eine in der Schweiz berühmt-berüchtigte Bemerkung des damaligen deutschen Finanzministers Peer Steinbrück vom März 2009. Darin brachte Steinbrück seine Genugtuung über die Tatsache zum Ausdruck, dass vor allem der Druck vonseiten der USA und der OECD zwischen Mai 2008 und März 2009 das vermocht hatte, woran die deutschen Behörden seit geraumer Zeit wenig erfolgreich appelliert hatten: nämlich ein Einlenken der Schweizer Regierung auf die Forderungen nach Amtshilfe und Auskunft in Fällen von (vermuteter) Steuerhinterziehung.72 Den Stein ins Rollen hatte der ehemalige UBS-Banker Bradley Birkenfeld mit seinen Aussagen vor einem USamerikanischen Gericht im Juni 2008 gebracht, die zur Anklage der US-Regierung gegen die größte Schweizer Bank wegen Beihilfe zur Steuerflucht führten. Der court case gipfelte darin, dass die UBS den US-Behörden zwischen Februar und Juli 2009 knapp eine Milliarde US-Dollar an Bußgeldern bezahlte und die Übergabe sowie Offenlegung von Tausenden Bankkundendaten in Aussicht stellte.73 Ein solches Vorgehen hätte gegen das schweizerische Bankengesetz verstoßen, wenn die schweizerischen Behörden es nicht gedeckt und gutgeheißen hätten. Too big to fail – gemäß dieser Überzeugung hatten der Bundesrat und die Schweizerische Nationalbank die tief in die internationale Finanzmarktkrise verstrickte UBS bereits im Oktober 2008 refinanziert und ihren Entscheid erst nachträglich vom Parlament bestätigen lassen. Weshalb sollten sie also 2009 dieselbe Bank der Gefahr einer Kriminalisierung in den Vereinigten Staaten aussetzen, die auch zum Hinauswurf aus dem US-Bankgeschäft geführt hätte? Solche Dynamiken lösten eine Anpassung der schweizerischen Steuerwelten aus. Dazu gehörte die hektische Entwicklung einer Regelung, die das nicht mehr bewährte Bankgeheimnis und die international nicht mehr goutierten Sonderbestimmungen in Doppelbesteuerungsabkommen ersetzen sollte. Dabei drehten die Spitzen der schweizerischen Diplomatie, der Banken und der Bundesverwaltung selbst noch einige Runden, in welchen sie Eigenentwicklungen zur Problemlösung wie die automatische Abgeltungssteuer erprobten. Doch das Vorgehen zur Lösung des „Steuerstreits“ mit den USA, die seit 2010 die weltweite Erfassung von US-Steuerpflichtigen im Ausland durchzusetzen begannen, gab bald den Takt vor. Und so war hinter den Kulissen schnell klar, dass man sich auf den OECDStandard zum automatischen Informationsaustausch in Steuersachen (AIA), den auch die EU ihren Mitgliedern empfahl, einlassen müssen würde.74 Im Herbst 2012 begann das schweizerische Finanzministerium, die Öffentlichkeit und das Parlament auf die neuen, internationalen Realitäten einzustimmen. Zu diesen neuen Realitäten gehören auch die Teilnahme der Schweiz an von der OECD koordinierten Maßnahmen zur Durchsetzung der Besteuerung multinationaler Unternehmen (die BEPS-Initiative) und eine dritte Unternehmenssteuerreform, die mit einer anderen 72

Monika Rosenberg: Deutscher Botschafter muss antraben: Empörung über verbale Ausrutscher des deutschen Finanzministers Steinbrück, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.3.2009, S. 13. 73 Kritisch: Bernhard Lötscher: Beschönigte Realitäten im Abkommen Schweiz – USA. Wie der Vertrag in Sachen UBS Schweizer Recht verletzt, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.9.2009, S. 27. 74 Siehe zum AIA sowie zu den weiteren Anpassungen des schweizerischen Steuerrechts die Dokumentation des Staatssekretariats für Finanzfragen (SIF): https://www.sif.admin.ch/sif/de/ home.html (Zugriff: 14.1.2016).

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Spezialität der schweizerischen Steuerwelten aufräumen will: nämlich mit dem kantonalen Sonderstatus für die privilegierte Besteuerung von Beteiligungsgesellschaften.75 Fünfzehn Jahre, nachdem die offensive Steuerwettbewerbslogik der entfesselten 1990er die Bundessteuern erreicht hatte, warfen die Finanzakteure das Steuer wieder herum: Im vorläufig dritten Teil dieser Reformserie gilt es, die helvetische Steuerpolitik mit den Vorstellungen internationaler tax compliance zu versöhnen: „Wiederherstellung der internationalen Akzeptanz“ lautete eines der drei Ziele der Reform, nebst der „Gewährleistung einer weiterhin kompetitiven Unternehmenssteuerbelastung“ und der „Sicherung der finanziellen Ergiebigkeit der Gewinnsteuern für Bund, Kantone und Gemeinden“.76 Mehr marktförmige Steuergerechtigkeit durch diese Reform könnte mitunter auf Kosten herkömmlicher Vorstellungen von Steuerund Verteilungsgerechtigkeit gehen – nämlich dann, wenn sogenannte Patentboxen unternehmerische Innovationen steuerlich belohnen, eine zinsbereinigte Gewinnsteuer die unternehmerische Steuerlast senkt und die kantonalen Gewinnersteuersätze generell auf das Niveau Irlands gesenkt werden, um Steuerausfälle infolge der Abschaffung des alten Sonderstatus für Holdings und Domizilfirmen zu kompensieren.77 Doch in direktdemokratischen Systemen droht plebiszitärer Einspruch gegen eine transnational orientierte Steuerpolitik, die im Empfinden der einheimischen Steuerpflichtigen und Stimmberechtigten aus der Gerechtigkeitsbalance gerät. Und so schlug der erste Versuch, die geplante Unternehmenssteuerreform III durch die Volksabstimmung zu bringen, im Februar 2017 fehl.78 2018 raufte sich das Bundesparlament zu einer typisch schweizerischen Kompromissformel zusammen, die einerseits compliance mit den internationalen Regeln und Erwartungen ermöglichen und anderseits den consent seitens der einheimischen StimmbürgerInnen und Steuerzahler erhöhen sollte. Die revidierte Vorlage reduzierte einige besonders umstrittene Steuerermäßigungen für Unternehmen. Und sie verklammerte das Steuerreformpaket mit der Sanierung des wichtigsten Bundessozialwerks, der eidgenössischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).79 Für streng wirtschaftsliberale 75 Botschaft zum Unternehmenssteuerreformgesetz III vom 5.6.2015, in: Bundesblatt 2015, S. 5069–5208. 76 Ebd., S. 5072. 77 Zur Patentbox siehe ebd., zahlreiche Fundstellen; zur Patentbox aus Steueroptimierungssicht: Rainer Hausmann / Philipp Roth / Sathi Meier-Nandi: Die Patentbox als Steuerplanungsmodell für KMU, in: Expert Focus 3 (2016), S. 189–196; zur zinsbereinigten Gewinnsteuer: Hansruedi Schöchli: Steuerkunde für den Stimmbürger. Grosser Erklärungsbedarf beim verbliebenen Knackpunkt der Unternehmenssteuerreform, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.6.2016, S. 19; zur Senkung der ordentlichen kantonalen Gewinnsteuersätze siehe bspw.: Christina Neuhaus: „Das ist kein Steuergeschenk“. Wie der Zürcher Finanzdirektor Ernst Stocker die Unternehmenssteuerreform III umsetzen will, in: Neue Zürcher Zeitung, 1.7.2016, S. 17; zu Irland als Vergleichsgröße siehe: Elias Hafner: USR III lanciert Steuerwettbewerb neu, in: UBS Outlook, 3. Quartal 2015: Steuersystem im Umbruch (Juli 2015), S. 6–10. 78 Über das „Bundesgesetz vom 17.06.2016 über steuerliche Massnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensstandorts Schweiz (Unternehmenssteuerreformgesetz III)“ wurde in der Schweiz am 12.2.2017 abgestimmt. Eine Mehrheit von 59,1 % lehnte das Gesetz ab. Siehe: https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20170212/index.html (Zugriff: 10.1.2019). 79 Die überarbeitete Gesetzesvorlage trug den Titel „Steuervorlage und AHV-Finanzierung (SV17/ STAF)“ und war am 28.9.2018 vom Parlament beschlossen worden. Siehe dazu: https://www.

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Kommentatoren und rechtspopulistische Politiker handelte es sich um einen unerträglichen helvetischen „Kuhhandel“80, während ein Teil der politischen Linken sich beschwerte, dass die Schweiz auch mit dieser Gesetzesfassung die internationale Lokomotive des Steuerdumpings bleibe.81 Das Ringen um Marktgerechtigkeit und Steuer(un)gerechtigkeit dürfte die schweizerischen Steuerwelten in ihren vielfältigen und transnationalen Verflechtungen auch in naher Zukunft prägen.

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efd.admin.ch/efd/de/home/themen/steuern/steuern-national/steuervorlage17/fb-steuervorlage17. html (Zugriff 10.1.2019). Siehe nebst vielen anderen: Peter Morf: Fragwürdiger Kuhhandel. Der Ständerat beschliesst die Verknüpfung der Steuervorlage 17 mit der AHV-Finanzierung. Ein Kommentar von FuWRedaktor Peter Morf, in: Finanz und Wirtschaft, 7.6.2018, online: https://www.fuw.ch/article/ fragwuerdiger-kuhhandel/ (Zugriff 10.1.2019). Sarah Schmalz: Steuervorlage 17: Fröhliches Steuerdumping, in: Die Wochenzeitung, Nr. 13/ 2018 vom 29.3.2018, online: https://www.woz.ch/-88a3 (Zugriff 10.1.2019).

SOZIALPOLITIK IM WANDEL Unternehmen nach 1945 zwischen Selbstverpflichtung und äußeren Zwängen Ute Engelen, Mainz / Rüdiger Gerlach, Potsdam / Stephanie Hagemann-Wilholt, Hannover / Nina Kleinöder, Marburg EINLEITUNG (AUTORENGEMEINSCHAFT) Aus heutiger Perspektive erscheint die betriebliche Sozialpolitik als Relikt der Industrialisierung, das zu einer flexiblen Arbeitswelt, zum Grundsatz der Selbstbestimmung der Arbeitnehmer und zum Anspruch des Staates auf die Gestaltung der sozialen Verhältnisse nicht mehr so recht zu passen vermag. Neu geschaffene betriebliche Sozialleistungen – wie das „social freezing“ – ziehen schlimmstenfalls ein mediales Tribunal nach sich, in dessen Verlauf sich die Unternehmen für „unangemessene“ Eingriffe in gesellschaftliche Prozesse oder das Privatleben der Beschäftigten rechtfertigen müssen. Die Geschichte der betrieblichen Sozialpolitik ist eng mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Industriegesellschaften verwoben und wurde traditionell von Unternehmern bestimmt. Unsere Beiträge1 widmen sich dem Wandel der betrieblichen Sozialpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach verschiedenen grundlegenden Studien2 blieb die betriebliche Sozialpolitik fast 15 Jahre lang ein Stiefkind der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In jüngster Zeit erschienen gleich mehrere Untersuchungen zu diesem Thema, die nun die zweite Hälfte

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Die vier Autoren stellten die Beiträge im Rahmen ihres Panels auf dem „I. Deutschen Kongress für Wirtschaftsgeschichte“ mit dem Thema „Ordnung und Chaos – Trends und Brüche in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ vor. Almuth Bartels und Christian Müller vom Arbeitskreis Junge Wirtschaftsgeschichte sei für ihre konstruktiven Anmerkungen gedankt. Vgl. u. a. Susanne Hilger: Sozialpolitik und Organisation. Formen betrieblicher Sozialpolitik in der rheinisch-westfälischen Eisen- und Stahlindustrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 94). Stuttgart 1996; Sanford M. Jacoby: Modern Manors. Welfare Capitalism since the New Deal. Princeton 1998; Pascale QuincyLefebvre: Le système social Michelin de 1945 à 1973 ou l’épuisement d’un modèle, in: André Gueslin (Hg.): Les hommes du pneu. Les ouvriers Michelin à Clermont-Ferrand de 1940 à 1980 (Collection Mouvement Social). Paris 1999, S. 93–219; Günther Schulz: Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Hans Pohl (Hg.): Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart (VSWG, Beiheft 95). Stuttgart 1991, S. 137–176; Thomas Welskopp: Betriebliche Sozialpolitik im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Eine Diskussion neuerer Forschungen und Konzepte und eine Branchenanalyse der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1870er bis zu den 1930er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994), S. 333–374.

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des 20. Jahrhunderts in den Fokus stellen.3 Sie greifen frühere Ergebnisse auf, bringen aber neue Fragestellungen und methodische Zugänge ein. Während unter dem allgemeinen Begriff der „Sozialpolitik“ in erster Linie staatliche Maßnahmen aus den Bereichen der Sozialversicherung wie Einkommen, Gesundheit bzw. Erwerbsfähigkeit, Arbeitslosigkeit, aber auch Fragen des allgemeinen Arbeitsmarktes, der Unternehmensverfassung und allgemeine Familien- und Bildungspolitik subsumiert werden, stellt „die von den Unternehmungen getragene betriebliche Sozialpolitik“4 per Definition eine Ergänzung dar. In der historischen Perspektive wurde dabei bislang von der Forschung für den Zeitraum nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Bedeutungsverlust dieses freiwilligen Sozialengagements von Unternehmen angenommen.5 Die vier hier vorgestellten Studien möchten diese These überprüfen. Denn die Reduzierung unternehmerischer Beweggründe auf die Pole von Engagement und Zwang greift zu kurz. Sich wandelnde soziale Rahmenbedingungen, neue betriebliche und gesellschaftliche Akteure, dadurch veränderte Machtverhältnisse und Unternehmensstrukturen legen eine Differenzierung dieses Befundes nahe. Hier werden erstmals die zentralen Ergebnisse jüngster Forschungsarbeiten zusammengeführt und daraus eine historische Bewertung der betrieblichen Sozialpolitik nach 1945 abgeleitet. Die folgenden Beiträge erörtern, wie sich Formen, Motive und Funktionen der betrieblichen Sozialleistungen wandelten, welche Rahmenbedingungen, maßgeblichen Akteure und Pfadabhängigkeiten diesen Prozess bestimmten und wie sich die Bedeutung der betrieblichen Sozialpolitik insgesamt veränderte. Trotz unterschiedlicher Themenschwerpunkte stützen sich die Ergebnisse dieser Studien in vielen hier vorgestellten Entwicklungen. Um gerade diese Übereinstimmungen als einen übergreifenden Forschungsbeitrag zur betrieblichen Sozialpolitik nach 1945 insgesamt herauszustellen, wurde bewusst die Form einer 3

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Vgl. Almuth Bartels: Monetarisierung und Individualisierung. Historische Analyse der betrieblichen Sozialpolitik bei Siemens (1945–1989) (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 32). München 2013; Ute Engelen: Demokratisierung der betrieblichen Sozialpolitik? Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und Automobiles Peugeot in Sochaux 1944–1980 (Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa 2). Baden-Baden 2013; Rüdiger Gerlach: Betriebliche Sozialpolitik im historischen Systemvergleich (VSWG, Beiheft 227). Stuttgart 2014; Stephanie Hagemann-Wilholt: Das „gute“ Unternehmen. Zur Geschichte der Unternehmenskommunikation (Histoire 90). Bielefeld 2016; Nina Kleinöder: Unternehmen und Sicherheit. Strukturen, Akteure und Verflechtungsprozesse im betrieblichen Arbeitsschutz der westdeutschen Eisenund Stahlindustrie nach 1945 (VSWG, Beiheft 234). Stuttgart 2015; Inga Nuhn: Entwicklungslinien betrieblicher Nachhaltigkeit nach 1945. Ein deutsch-niederländischer Unternehmensvergleich (Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 10). Münster u. a. 2013; Klaus Tenfelde u. a. (Hg.): Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des Bayer-Konzerns. Essen 2007; Gérard Vindt: Les hommes de l’aluminium. Histoire sociale de Pechiney 1921–1973 (Collection Mouvement Social). Paris 2006. Heinz Lampert / Jörg Althammer (Hg.): Lehrbuch der Sozialpolitik. 8., überarb. u. akt. Aufl., Berlin u. a. 2007, S. 3. Herbert Hax: Sozialpolitik. II: betriebliche, in: Willi Albers (Hg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Zugl. Neuauflage des „Handwörterbuch der Sozialwissenschaften“, Bd. 7. Stuttgart u. a. 1977, S. 76–85, hier 84; Schulz: Sozialpolitik (wie Anm. 2), S. 175.

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den einzelnen Beiträgen übergeordneten Einleitung und eines gemeinsamen Fazits gewählt. Die Einzelbeiträge nehmen jeweils beispielhaft einen Trend in den Blick, der in den anderen Forschungsprojekten ebenfalls, wenn auch anhand anderer Beispiele, zu beobachten war. Erkenntnisleitend für die Fallstudien waren dabei die folgenden Fragestellungen: 1. Welche Erscheinungsformen von betrieblicher Sozialpolitik herrschten vor? Wie veränderten sich ihre Gewichtungen? 2. Welche Akteure nahmen Einfluss auf diesbezügliche Entscheidungen? Inwiefern realisierten sich ihre Ziele? 3. Handelte es sich eher um innerbetriebliche Prozesse oder äußere Zwänge? 1. NUR BETRIEBLICHE KOSTEN UND RECHTLICHE VERPFLICHTUNG? DIE UNFALLFRAGE AUS SICHT DER WESTDEUTSCHEN EISEN- UND STAHLINDUSTRIE (NINA KLEINÖDER) Der betriebliche Arbeitsschutz stellt ein vermeintlich dankbares Untersuchungsthema dar, dessen Kosten-Nutzen-Rechnung auf den ersten Blick ebenso naheliegend wie verlässlich scheint. Doch gilt der Arbeitsschutz überhaupt als ein Feld der betrieblichen Sozialpolitik? Die enge Gratwanderung zwischen Selbstverpflichtung und Regulierung tritt hier besonders deutlich hervor: Vieles, aber nicht alles, war und ist staatlich oder verbandlich reguliert.6 Dagegen zeichnete sich in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik zunächst eine Phase ab, in der sowohl die Institutionalisierung als auch die inhaltliche Ausweitung des Arbeitsschutzes auf betrieblicher Ebene stark forciert wurden – obwohl oder gerade weil sich in dieser Zeit eine deutliche Abwesenheit öffentlicher Arbeitsschutzpolitik bemerkbar machte.7 Nach einer knappen Einordnung des betrieblichen Arbeitsschutzes in der Eisenund Stahlindustrie (I) wird im Folgenden an Fallbeispielen zur Kostendebatte und der Einführung des Arbeitssicherheitsgesetzes der 1950er (II) bis 1970er Jahre (III) verdeutlicht, wie und nach welchen Motiven zunächst das politische Vakuum durch die Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie freiwillig gefüllt wurde und sich dann mit wachsender staatlicher Regulierung ihr Engagement seit den späten 1960er Jahren zunehmend verschob. Dabei wird gezeigt, dass die Unternehmen auch jenseits staatlicher Regulierung den betrieblichen Arbeitsschutz vorantrieben bzw. damit auch selbst zum Vorbild für legislative Eingriffe wurden. Der Beitrag folgt 6 7

Vgl. zu einem allgemeinen Überblick zum deutschen Arbeitsschutz noch immer Wolfhard Weber: Arbeitssicherheit. Historische Beispiele – aktuelle Analysen. Reinbek bei Hamburg 1988. Vgl. ausführlich Lutz Wienhold: Arbeitsschutz, in: Günther Schulz (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 3: Bundesrepublik Deutschland 1949–1957. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität. Baden-Baden 2005, S. 227–265; Dietrich Bethge: Arbeitsschutz, in: Michael Ruck (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 4: Bundesrepublik Deutschland 1957–1966. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes. Baden-Baden 2007, S. 195–233.

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damit der These, dass am Beispiel des Arbeitsschutzes konkret gezeigt werden kann, auf welche Weise sich die betriebliche Sozialpolitik bei einem Wandel von Freiwilligkeit zu immer mehr Regulierung zunehmend auch neue Aktionsfelder erschloss. Wie positionierten sich die Unternehmen bei diesen gewandelten Gewichtungen betrieblicher Sozialpolitik? Welche Motive bewegten sie bei ihren sozialpolitischen Entscheidungen?8 I. Verortung des betrieblichen Arbeitsschutzes in der Eisen- und Stahlindustrie Die Zäsur des Jahres 1945 ist gleich zu Beginn des Beitrags für den betrieblichen Arbeitsschutz zu relativieren. Die Untersuchungen von Christian Kleinschmidt und Wolfhard Weber haben bereits in den 1990er Jahren die eigentliche Innovationskraft der Weimarer Republik für einen modernen betrieblichen Arbeitsschutz (Sicherheitsingenieure, Zentralstellen für Unfallverhütung) hervorgehoben.9 Es ist daher wichtig darauf hinzuweisen, dass die Anfänge einer Institutionalisierung des betrieblichen Arbeitsschutzes vor allem in den 1920er Jahren zu verorten sind. Er wurde dann bei einer vergleichsweise hohen Kontinuität und wachsenden Dynamik über den Ausbau von Arbeitsschutzstellen und hauptamtlich beschäftigten Sicherheitsingenieuren über 1945 hinweg forciert. Dazu bildete insbesondere das gefährliche Arbeitsumfeld, das über weite Strecken des Untersuchungszeitraumes als Schwerstarbeit in Zwangshaltung unter Belastungen von Hitze, Lärm und Vibration zu charakterisieren ist, eine wichtige Triebkraft.10 Die Branche war lange eine der unfallträchtigsten Industrien nach dem Bergbau, konnte jedoch die Unfallzahlen insbesondere seit den 1970er Jahren stark reduzieren.11 Allgemeine Argumente der Verringerung des Gefahrenpotenzials durch Technisierung und Automatisierung, aber auch der gesetzliche Ausbau von Arbeitsschutzmechanismen bieten eine zu kurz gegriffene Antwort. Vielmehr

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Die hier präsentierten Thesen sind Teilergebnisse meiner Dissertation, die im Kern sechs Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie behandelt, u. a. Hoesch, Krupp, Mannesmann und Thyssen. Vgl. Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3). Vgl. u. a. Christian Kleinschmidt: Rationalisierung als Unternehmensstrategie. Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 2). Essen 1993, S. 89–95, 185–189, 284–297, 324–330; Wolfhard Weber: Gedanken zum Arbeitsschutz in der Schwerindustrie der Weimarer Republik, in: Ottfried Dascher / Christian Kleinschmidt (Hg.): Die Eisen- und Stahlindustrie im Dortmunder Raum. Wirtschaftliche Entwicklung, soziale Strukturen und technologischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 9). Dortmund 1992, S. 215–232; Ders.: Auf dem Weg zum modernen Arbeitsschutz. Arbeitsschutzstrategien in der Schwerindustrie der Weimarer Republik, in: Gerhard Kilger / Ulrich Zumdick (Hg.): Mensch, Arbeit, Technik. Katalog zur Deutschen Arbeitsschutzausstellung. Dortmund 1993, S. 202–211. Vgl. International Labour Office: Safety and Health in the Iron and Steel Industry (ILO Code of Practice). Geneva 2005, S. 33–82. Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung (wie Anm. 9), S. 89; Statistische Jahrbücher der Eisenund Stahlindustrie, 1959/60–2012.

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hilft der Blick in die Unternehmen selbst: Denn insbesondere die betriebliche Praxis hat die Zahlen maßgeblich bestimmt und bestimmt sie noch immer.12 Als Erklärung für das Engagement der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie in Fragen des Unfallschutzes ist insgesamt ein ganzes Motivkonglomerat zwischen Regulierung und Freiwilligkeit heranzuziehen.13 Dabei ist für die Zeit nach 1945 auch explizit auf die Besonderheit der Montanmitbestimmung hinzuweisen. Dies bezieht sich nicht nur auf die Institution von Betriebsräten (mit entsprechenden Ausschüssen) und Arbeitsdirektoren, also direkten Sprachrohren der Arbeitnehmerschaft für die Sicherheit am Arbeitsplatz.14 Vielmehr hat Stefan Remeke auch noch für die gesamtgewerkschaftliche Sozialpolitik in den 1970er Jahren auf die Strahlkraft und Kontinuität besonders unfallträchtiger Branchen und Arbeitswelten der 1950er und 1960er Jahre verwiesen.15 Auch wenn dieser Aspekt mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung nicht vertiefend aufgegriffen werden kann, so muss jedoch gerade von dieser Seite eine wachsende, auch institutionell verankerte Einflussnahme auf Interessen der Arbeitnehmerseite berücksichtigt werden. Darüber hinaus lohnt aber vor allem der Blick auf die unternehmensimmanenten Beweggründe, wie sie sich etwa über eine kontinuierliche Kostendebatte in der Unfallfrage abzeichneten. II. Sozialpolitik als Argument der Wirtschaftlichkeit: Die Kostendebatte zur Unfallverhütung in den 1950er und 1960er Jahren Für die Untersuchung von Strukturen und Motiven betrieblicher Unfallverhütungsarbeit ist es wichtig, dass der Arbeitsschutz bis in die 1960er Jahre aus staatlicher Sicht kaum thematisiert wurde.16 Trotzdem drängte sich die Unfallfrage mit steigenden Unfallzahlen unter zunehmendem Arbeitskräftemangel, Produktionsdruck und Arbeitsintensität in den Unternehmen umso mehr auf.17 Die inhaltliche Unfallverhütungsarbeit war dabei noch stark patriarchalischen Mustern verhaftet, die z. B. gerade in der Arbeitsschutzwerbung die familiäre An12 13 14

Vgl. Weber: Gedanken zum Arbeitsschutz (wie Anm. 9), S. 220. Vgl. Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3), S. 324–326. Vgl. zur Rolle der Arbeitsdirektoren allgemein Karl Lauschke: Mitbestimmungseliten in der Eisen- und Stahlindustrie – das Beispiel der Arbeitsdirektoren, in: Rainer Bovermann u. a. (Hg.): Das Ruhrgebiet – Ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen 1946–1996 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte 7). Essen 1996, S. 320–334; Ders.: Die halbe Macht. Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945 bis 1989. Essen 2007, S. 26–36; Ruth Rosenberger: Experten für Humankapital. Die Entdeckung des Personalmanagements in der Bundesrepublik Deutschland (Ordnungssysteme 26). München 2008, S. 198–226; sowie mit Blick auf den Arbeitsschutz ausführlich Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3), S. 192–211. 15 Vgl. Stefan Remeke: Gewerkschaften und Sozialgesetzgebung. DGB und Arbeitnehmerschutz in der Reformphase der sozialliberalen Koalition (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A: Darstellungen 33). Essen 2005, S. 181–183, 190–195. 16 Vgl. Wienhold: Arbeitsschutz (wie Anm. 7), S. 263; Bethge: Arbeitsschutz 1957–1966 (wie Anm. 7), S. 198–200. 17 Vgl. Jahresbericht Gewerbeaufsicht NRW 1955, in: BMA (Hg.): Jahresberichte Gewerbe-Aufsicht 1955, S. NrW 12.

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sprache (z. B. „Vati, das passiert Dir nicht wieder!“18) und den Einfluss bis in den privaten Bereich hinein in den Mittelpunkt stellten.19 Als Kennzeichen des betrieblichen Arbeitsschutzes können in diesen Jahren u. a. ein starker Ausbau der Arbeitsschutzabteilungen, ein verstärktes Engagement im Maschinenschutz, Investitionen im Bereich der Verbreitung persönlicher Schutzausrüstungen (z. B. Helme und Sicherheitsschuhe) sowie umfassende Werbekampagnen (z. B. Prämienwettbewerbe) identifiziert werden.20 Es stellt sich jedoch die Frage, warum es überhaupt zu dieser Intensivierung in den Betrieben kam und wie diese begründet wurde. Dabei tritt in den Unternehmensquellen, auch in Kontinuität zu Debatten der 1920er Jahre, die Argumentation über die Kosten von Unfällen deutlich in den Vordergrund.21 Zentrales Problem war jedoch die Bezifferung der genauen Kosten, die Unfälle erzeugten.22 Zunächst gingen die Unternehmen daher dazu über, Maßnahmen zur statistischen Erhebung auszuweiten, um eine möglichst hohe Vergleichbarkeit herzustellen. Ziel war die Einführung neuer Parameter und damit die Vorstellung, einen erfolgreichen Arbeitsschutz auch quantifizieren zu können. Im Ergebnis ist daher in den Unternehmen eine deutlich ausgeweitete Berichterstattung zur Entwicklung der Unfallzahlen und des Arbeitsschutzes zu beobachten. Hierzu zählten sowohl die regelmäßigen und immer umfangreicheren internen Sozialberichte mit Angaben zu Unfallstand und Schutzmaßnahmen, die für die Werksleitung bzw. den Aufsichtsrat bestimmt waren, als auch Veröffentlichungen in Werkszeitungen und Geschäftsberichten.23 Doch woher kamen diese Impulse? Dazu gilt es, die Verflechtung der Unternehmen auf internationaler und hier insbesondere auf europäischer Ebene zu berücksichtigen. So richtete sich der transnationale Blick – wie auch schon in der Zwischenkriegszeit – zunächst auf die amerikanische Unfallverhütung der „SafetyFirst“-Bewegung:24 So betonte etwa Peter Wilhelm Haurand (Mitglied des Aufsichtsrates der Westfalenhütte AG, Dortmund) die Erfahrungen aus den USA, wonach Unfallverhütung „immer ein gutes Geschäft“25 sei. Diese amerikanischen Einflüsse forcierten nun auch eigene, deutsche Forschungsbemühungen im Bereich der Kostenanalyse. Eine erste betriebliche Untersuchung wurde über die Wirtschafts18 19

DHHU (Hg.): Arbeitsschutz-Mitteilungen. Beilage zum Mitteilungsblatt, Folge 3, Titelblatt. Vgl. dazu auch erste kritische Stimmen: „Frauen nahmen Stellung zum Arbeitsschutz“, in: Echo der Arbeit (1961), Nr. 1, S. 9. 20 Vgl. Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3), S. 158–186. 21 Vgl. zu den 1920er Jahren Kleinschmidt: Rationalisierung (wie Anm. 9), S. 287–293. 22 Vgl. als erste Studie dieser Art eine Untersuchung des Ausschusses für Sozialwirtschaft der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie zu Beginn der 1950er Jahre in sechs Werken: August Brinkmann u. a.: Die direkten und indirekten Kosten von Arbeitsunfällen (Sozialwirtschaftliche Schriftenreihe vom Ausschuss für Sozialwirtschaft der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie 6). Düsseldorf 1954. 23 Vgl. u. a. ThyssenKrupp Konzernarchiv, Duisburg (im Folgenden: TKA), A/3611, Meldungen an die Werksleitung, 1957–67; A/31819, Meldungen der Unfälle an die Direktion ATH AG, 1951–1962; TKA, Hoesch-Archiv, HO 10/917, Tätigkeitsberichte Arbeitsschutzstelle 1956– 1969; Historisches Archiv Krupp, WA 70/988, Arbeitsschutzberichte 1954–58. 24 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung (wie Anm. 9), S. 294. 25 Peter Wilhelm Haurand: Denkschrift zur Unfallverhütung, in: Werk und Wir (1954), Nr. 2, S. 100 f., hier 101.

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vereinigung der Eisen- und Stahlindustrie 1950 durchgeführt, die eine Berechnung direkter und indirekter Kosten von Unfällen auf Grundlage amerikanischer Daten vornahm.26 Diese Bemühungen wurden dann durch eine erneute Untersuchung durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zu Beginn der 1960er Jahre aufgegriffen. Hierbei ging es den Projektteilnehmern jedoch nicht mehr nur um die generelle Ermittlung der durchschnittlichen Unfallkosten. Vielmehr emanzipierte sich der Ansatz zunehmend von seinem amerikanischen Vorbild: So sollte jetzt ein verfeinertes Instrumentarium entwickelt werden, um eine differenziertere Kostenaufstellung u. a. unter Berücksichtigung von spezifischen Schwereklassen zu ermöglichen. Auch die Aufwendungen für die Betriebskrankenkassen und die Berechnung der Unfallkosten nach einzelnen Betrieben wurden berücksichtigt.27 Neben diesen inhaltlichen Verschiebungen ist das Beispiel aber auch geeignet, um nationale Vorprägungen, insbesondere in grundlegenden Ansätzen betrieblicher Unfallverhütungsarbeit, zu veranschaulichen. In den Quellen des Unterausschusses Eisen- und Stahlindustrie des Ausschusses der Produzenten und Arbeitnehmer für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin bei der EGKS treten die Grenzen einer Arbeitsschutzdebatte, die vor allem nach dem ökonomischen Wert des Arbeitsschutzes fragt, deutlich hervor. Die Harmonisierung des europäischen Arbeitsschutzes war über die legislative Ebene hinaus insbesondere in der grundsätzlichen politischen Argumentation stark national orientiert und begrenzt: Während in der deutschen Delegation das Wirtschaftlichkeitsargument zum festen „Vokabular“ des betrieblichen Arbeitsschutzes zählte, stellten insbesondere die belgischen und französischen Arbeitgebervertreter die Berechtigung einer betriebswirtschaftlich orientierten Grundlagenforschung grundsätzlich infrage. Als Kompromiss wurde zwar eine gemeinsame, international besetzte Arbeitsgruppe für die oben geschilderten Voruntersuchungen gegründet; ein Interesse an Fragen der Wirtschaftlichkeit in der Unfallverhütung wurde also über eine zunächst innerbetrieblich beschränkte Untersuchung bewahrt. Eine konkrete politisch-moralische Positionierung aller Mitglieder wurde jedoch bewusst vermieden, indem der Ausschuss lediglich eine koordinierende Funktion übernahm.28 Insbesondere vor dem Hintergrund einer national, aber auch international geführten Debatte rückten damit Arbeitsschutzmaßnahmen, insbesondere als implizite wie explizite, rechnerisch durchgeführte Kosten-Nutzen-Analysen, verstärkt in das Blickfeld der betrachteten Unternehmen. Zugleich muss mit der politischen und gesellschaftlichen Zurückhaltung das individuelle Vorgehen der Unternehmen in dieser Phase inhaltlich vor allem als „Trial-and-Error-Prozess“ charakterisiert wer26 27 28

Vgl. Brinkmann: Kosten (wie Anm. 22). Vgl. Alfred Kurz / Axel F. Schulze: Untersuchung der betrieblichen Unfälle und ihrer Kosten in einem gemischten Hüttenwerk, in: Stahl und Eisen 84 (1964), Nr. 22, S. 1444–1453, hier 1445. Vgl. Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (im Folgenden: AdsD), 5/IGMA 280230b, Bericht Sitzung Unterausschuss Eisen- und Stahlindustrie der Produzenten und Arbeitnehmer für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin, 30.6. und 1.7.1959; 5/IGMA 280230a, Bericht Sitzung Unterausschuss Eisen- und Stahlindustrie der Produzenten und Arbeitnehmer für Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin, 23.11.1959.

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den. Sie versuchten im Sinne betrieblicher Sozialpolitik selbst die legislativen Lücken zu schließen: Motive waren zu diesem Zeitpunkt also hauptsächlich innerbetriebliche Wirtschaftlichkeitsargumente. Darüber hinaus haben aber auch der Wunsch nach Rechtssicherheit und der wachsende Druck der Mitbestimmungsstrukturen eine wichtige Rolle gespielt.29 III. Betriebliche Sozialpolitik als Maßstab staatlicher Regulierung: Das Arbeitssicherheitsgesetz (1973) Das Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) von 1973 gilt als fester Bestandteil der Reformpolitik der sozialliberalen Koalition seit den späten 1960er Jahren. Anders als in den Jahrzehnten zuvor hatte sich damit der Rahmen des betrieblichen Arbeitsschutzes deutlich gewandelt: Neben allgemeinen Fragen der „Humanisierung der Arbeitswelt“ nahm der Staat nun erstmals auch wieder die Sicherheit der Arbeit in den Fokus.30 Das folgende Beispiel stellt somit den Wandel von der Freiwilligkeit der Sicherheitsorganisation zu einer verstärkten externen Regulierung dar. Konkret wurden mit dem neuen Gesetz der Einsatz und die Aufgaben von Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften in allen Betrieben endgültig vorgeschrieben. Sie wurden der Unternehmensleitung organisatorisch unmittelbar unterstellt, um sie in Sicherheitsfragen umfassend zu beraten.31 De facto waren Sicherheitsingenieure in den großen Unternehmen der Eisenund Stahlindustrie jedoch bereits seit der Weimarer Republik im Einsatz.32 Diese Entwicklung wurde mit steigendem personellem Umfang seit den 1950er Jahren weiter institutionalisiert. Hinzu kamen auch Empfehlungen und freiwillige Richtlinien etwa bei der Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie, die ebenfalls im Umfeld der eben dargestellten Debatten seit den 1950er Jahren zu verorten sind.33 Neu war also die staatliche Regulierung der ehemals weitestgehend freiwilligen Sicherheitsorganisation, die nun vor allem ein quantitatives Richtmaß (Anzahl der beschäftigten Sicherheitsingenieure und Betriebsärzte) betrieblicher Sicherheitsarbeit setzte. Akuter Handlungsdruck bestand für die betrachteten Großunter29

Dies kann hier nicht vertieft werden; vgl. aber Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3), S. 81– 211. 30 Vgl. Dietrich Bethge: Arbeitsschutz, in: Hans Günter Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5: Bundesrepublik Deutschland 1966–1974. Eine Zeit vielfältigen Aufbruchs. Baden-Baden 2006, S. 277–330, hier 311–318; Remeke: Gewerkschaften (wie Anm. 15), S. 101–184. 31 Vgl. Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit vom 12.12.1973, online verfügbar, URL: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/ asig/gesamt.pdf (Zugriff: 12.8.2015); Bethge: Arbeitsschutz 1957–1966 (wie Anm. 7), S. 211– 215; Ders.: Arbeitsschutz 1966–1974 (wie Anm. 30), S. 311–318. 32 Vgl. Kleinschmidt: Rationalisierung (wie Anm. 9), S. 188; Weber: Gedanken (wie Anm. 9), S. 224–229. 33 Vgl. Richtlinie für die Arbeitssicherheit in der Eisen- und Stahlindustrie, in: Stahl und Eisen 78 (1958), Nr. 17, S. 1218.

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nehmen der Eisen- und Stahlindustrie jedoch kaum. Bestehende Maßnahmen und Organisationsstrukturen wurden vielmehr dem neuen gesetzlichen Rahmen angepasst, indem die Zahl der Sicherheitsingenieure und Betriebsärzte – wenn nötig – aufgestockt wurde.34 Dabei war es sicherlich kein Zufall, dass das Gesetz in seiner Ausrichtung bereits stark dieser betrieblichen Praxis entsprach. Davon zeugt auch die relative Ruhe, mit der die betrachteten Unternehmen das ASiG aufgriffen – obwohl es tief in ihre innerbetriebliche Organisationsstruktur eingriff. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) äußerte sich zu den Entwürfen des neuen Gesetzes dagegen viel kritischer und lehnte das ASiG bereits in seiner grundsätzlichen Ausrichtung ab. Sie verteidigte stattdessen die Freiwilligkeit von betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen, indem sie in traditioneller Form auf die Selbstreglementierung der Unternehmen verwies.35 Dies ist sicherlich auch damit zu begründen, dass die BDA neben den hier besprochenen großindustriellen Betrieben auch kleine und mittlere Unternehmen vertrat – die das ASiG mit Auf- und Ausbau betrieblicher Arbeitsschutzinstitutionen viel stärker betreffen sollte. Doch nicht allein aufgrund des bereits bestehenden hohen Organisationsgrades betrieblicher Unfallverhütung konnten die betrieblichen Akteure der betrachteten Unternehmen dieser Entwicklung vergleichsweise ruhig entgegensehen. Ein Blick auf den Gesetzgebungsprozess offenbart vielmehr ihre aktive Rolle in den entsprechenden Gremien: Über eigene Sicherheitsingenieure und direkte Kontakte im Umfeld der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Verbandes der Sicherheitsingenieure (VDSI) vernetzte sich die Eisen- und Stahlindustrie strategisch und verschaffte sich über eigene „Sicherheitsexperten“ im Vorfeld unmittelbar Gehör.36 Persönliche Verbindungen der betrieblichen Akteure sicherten also bereits in der konzeptionellen Phase des Gesetzes eine inhaltliche Einflussnahme und Mitgestaltung der späteren Regulierung.37 Wie bereits erwähnt, hat Stefan Remeke für diesen Zeitraum insgesamt eine weitgehend rückwärtsgewandte DGB-Sozialpolitik herausgearbeitet, die sich noch stark an der Arbeitswelt der 1950er und 1960er Jahre und damit auch an unfallexponierten Branchen wie der Eisen- und Stahlindustrie orientierte. Übertragen auf 34

Vgl. u. a. Übersicht in: TKA, A/5881, Sicherheitsprogramm ATH AG 1971, S. 27; Salzgitter AG-Konzernarchiv/Mannesmann-Archiv, Mülheim/Ruhr, M 21.530, Personal- und Sozialberichte Mannesmann AG 1974, S. 30 u. 35, 1975, S. 27 f. und M 21.530.1, 1977, S. 27. 35 Vgl. Bundesarchiv, B 149/41045/6, BDA, Stellungnahme Gesetzentwurf Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (Bundestags-Drucksache 7/260), Mai 1973, S. 1; B 149/27531/6, Interner Vermerk BMA/Referat IIIb, Beratung über das Gesetz zum Ausbau des arbeitsmedizinischen und technischen Gesundheitsschutzes im Betrieb, Besprechung mit Verbänden vom 25.10.1971, 28.10.1971, S. 1. Vgl. dazu auch bereits die Debatten der 1920er Jahre, etwa zum Maschinenschutz und den Berufskrankheiten bei Weber: Arbeitssicherheit (wie Anm. 6), S. 122–161; Kleinschmidt: Rationalisierung (wie Anm. 9), S. 286; sowie zur These über die „Bewahrung der größtmögliche[n] unternehmerische[n] Handlungsautonomie“ Welskopp: Betriebliche Sozialpolitik (wie Anm. 2), S. 364. 36 Vgl. Remeke: Gewerkschaften (wie Anm. 15), S. 134, 181 f. 37 Vgl. ausführlich Kleinöder: Unternehmen (wie Anm. 3), S. 244–249.

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die neuen Gesetzesinitiativen wie das Maschinenschutzgesetz (1968) und insbesondere das Arbeitssicherheitsgesetz (1973) ist so auch inhaltlich die besondere Vorbildfunktion der hier betrachteten Großbetriebe zu erklären, an deren Praktiken sich die Konzepte deutlich orientierten.38 Insgesamt kann das Beispiel des ASiG damit auch die Interpretation staatlicher Arbeitsschutzgesetzgebung und betrieblicher Sozialpolitik als eines allein von staatlicher Seite gelenkten Prozesses relativieren. Letztendlich blieben sowohl über die strategische Vernetzung als auch die inhaltliche Vorbildfunktion die Auswirkungen der staatlichen Regulierung auf die Eisenund Stahlindustrie relativ gering. Den Unternehmensleitungen war es vielmehr gelungen, ehemals freiwillige Maßnahmen als Maßstab staatlicher Regulierung zu wahren; sie begriffen dies daher auch als eine Bestätigung ihres bisherigen Wirkens.39 2. ZUR KOMPLEXITÄT VON ENTSCHEIDUNGEN ZUR BETRIEBLICHEN SOZIALPOLITIK. BEISPIELE AUS DER DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN AUTOMOBILINDUSTRIE (UTE ENGELEN) Nicht selten wird betriebliche Sozialpolitik schwarz-weiß-malerisch auf eine paternalistische Einstellung des Unternehmers (eher in der Geschichtswissenschaft) oder eine effiziente Personalpolitik (eher in der Betriebswirtschaft) zurückgeführt.40 Beide Interpretationslinien schreiben die Entscheidungshoheit über Sozialleistungen der Unternehmensleitung zu, was spätestens für die Zeit nach 1945 nicht mehr überzeugt, da die betriebliche Sozialpolitik zunehmend zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräten ausgehandelt, an den (vermuteten) Erwartungen der Beschäftigten ausgerichtet und verstärkt staatlich reglementiert wurde. Der zeitliche Verlauf dieses Prozesses variierte je nach Betrieb. Insgesamt wurden die sozialpolitischen Leistungen in vielen großen Industriebetrieben in der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre ausgeweitet. In einer Studie zum Volkswagenwerk (VWW) in Wolfsburg und zu Automobiles Peugeot (AP) in Sochaux von 1944 bis 1980 konnte ein Trend von der Managementbestimmung hin zur Aushandlung zwischen einigen 38 Vgl. Remeke: Gewerkschaften (wie Anm. 15), S. 181–183, 190–195. 39 Vgl. u. a. Am Hamborner Tor 1. Bauzeit weniger als ein Jahr, in: Unsere ATH (1975), Nr. 3, S. 10. 40 Vgl. für Erstere u. a. Günther Kalbaum: Erfolgsbeteiligung und Vermögensbildung der Arbeitnehmer in der privaten Versicherungswirtschaft (1820–1948) (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 77). Stuttgart 1993, S. 157; Carola Sachse: Siemens, der Nationalsozialismus und die moderne Familie. Eine Untersuchung zur sozialen Rationalisierung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hamburg 1990. S. 245; für Zweitere u. a. Eduard Gaugler: Betriebswirtschaftlich-soziologische Grundprobleme bei der Gewährung betrieblicher Sozialleistungen, in: Theodor Tomandl (Hg.): Betriebliche Sozialleistungen (Wiener Beiträge zum Arbeits- und Sozialrecht 2). Wien 1974, S. 1–22, hier 16; Ute Klammer: Handlungsoptionen von Betriebsund Personalräten im Rahmen der betrieblichen Sozialpolitik, in: Bernd Frick / Renate Neubäumer / Werner Sesselmeier (Hg.): Betriebliche und staatliche Sozialpolitik komplementär oder substitutiv? (Organisationsökonomie humaner Dienstleistungen 7). München 2000, S. 147– 171, hier 150.

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Akteuren, d. h. zur Demokratisierung der Entscheidungsfindung über betriebliche Sozialmaßnahmen, nachgewiesen werden.41 Im Folgenden werden Fallbeispiele aus der betrieblichen Wohnungspolitik42 in den Blick genommen, die die Einflussnahme von Akteuren neben dem Management auf Entscheidungen zur betrieblichen Sozialpolitik in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg demonstrieren. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Werksunterkünfte wie auch Verkehrsmittel war am Ende des Zweiten Weltkrieges für das VWW in Wolfsburg wie für AP in Sochaux zu gering, um erneut eine größere Belegschaft aufbauen zu können.43 In Wolfsburg hatten vor und während des Krieges nicht in ausreichender Zahl Wohnungen für die Belegschaft gebaut werden können, und so hatten nicht nur die zahlreichen Zwangsarbeiter in Barackensiedlungen gelebt,44 während in Sochaux 1943 bei dem Bombardement und bei der Zurückeroberung viele Häuser in der Gemeinde sowie ca. 140 der 1 000 werks- und werksgeförderten Wohnungen zerstört worden waren.45 Infrastrukturmaßnahmen erschienen aber zur Rekrutierung von Arbeitskräften und Eindämmung der Fluktuation dringend notwendig.46 AP zufolge ergaben sich durch die erneute Ausweitung der Beschäftigung „Probleme bezüglich Wohnung, Versorgung, Beförderung und sogar Freizeit, was das Unternehmen nicht ignorieren“47 könne. Ähnlich erklärte VWW-Generaldirektor Heinrich Nordhoff 1956: „Der Wohnungsbau ist für uns nicht nur ein soziales, sondern auch ein betriebliches Problem ersten Ranges.“48 Aus Zeit- und Kostengründen nutzten beide Automobilhersteller bis in die frühen 1950er Jahre zu einem bedeutenden Anteil Kollektivunterkünfte wie Wohnheime und bauten bestehende Gebäude zu Unterkünften um.49 In diesen im Allge41 42

Vgl. Engelen: Demokratisierung (wie Anm. 3), S. 438. Zur Wohnungs- und Transportpolitik des VWW in Wolfsburg und AP in Sochaux von 1944 bis 1980 vgl. ebd., Kapitel 3.3, 4.3 u. 5.3; Ute Engelen: Betriebliche Wohnungspolitik im „fordistischen“ Zeitalter. Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und Automobiles Peugeot in Sochaux von 1944 bis 1979, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 55 (2012), S. 180–203. 43 Vgl. Musée l’Aventure Peugeot (im Folgenden: MP), 34/47, AP Sochaux, Rapport technique (RT), März 1947, S. 2 f.; Unternehmensarchiv der Volkswagen AG (im Folgenden: UVW), Z 69 Nr. 701, VWW, Sozialbericht zum Bericht des Haupttreuhänders per 30.6.1947, S. 2 f. 44 Vgl. Hans Mommsen / Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996, S. 268 ff. 45 Vgl. MP, 34/43, AP Sochaux, RT August-November 1944, S. 10, u. Dezember 1944, S. 3; Zeitzeugengespräch mit Camille Bac am 3.12.2008. 46 Vgl. MP, 34/47, AP Sochaux, RT März 1947, S. 2; UVW, Z 69 Nr. 198/1, VWW, Sozialbericht zum Bericht des Haupttreuhänders per 30.6.1947, S. 2. 47 AP, Geschäftsbericht 1953, S. 10. 48 VWW, Geschäftsbericht 1956, S. 18. 49 Im Dezember 1945 lebten nur noch 743, 1951 wieder über 2 300 Beschäftigte in Sochaux in Werkswohnheimen. Vgl. MP, 34/61, AP Sochaux, RT Dezember 1951, Abb. 30. Das Volkswagenwerk verfügte in den ersten Nachkriegsjahren im Wesentlichen über ehemalige Kriegsund Barackengefangenenlager. 1949 bis 1951 gab die britische Militärregierung dem Unternehmen zusätzlich das Gästehaus sowie das Beschädigtenheim zurück. Überdies errichtete Volkswagen ein neues Wohnheim. Vgl. UVW, Z 69 Nr. 882/2, Goransch, Aktennotiz über die Gemeinschaftsläger des Werks, 9.2.1948, S. 1 f.; Z 69 Nr. 198/1, VWW, Sozialbericht zum Bericht des Haupttreuhänders per 30.6.1947, S. 2 f.; Z 69 Nr. 701, VWW, Jahresbericht des Personalwesens 1951, S. 6.

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meinen werkseigenen Gebäuden unterlagen die Beschäftigten starker Kontrolle vonseiten der Unternehmen,50 z. B. war kein Frauenbesuch erlaubt. Parallel dazu erweiterten Volkswagen und Peugeot ihr Angebot an Werksbussen sowie an werksgeförderten Bussen zur Fabrik.51 In den 1950er Jahren baute Peugeot seine alten Schlafsäle überwiegend zu Mehrbettzimmern um und erhöhte die Mieten.52 Überdies steigerten Volkswagen wie Peugeot in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Zahl der ihnen zur Verfügung stehenden Mietwohnungen erheblich. I. Werksgeförderter Wohnungsbau Werkseigene Wohnungen spielten nach 1945, im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit, bei beiden Automobilherstellern kaum noch eine Rolle. Stattdessen erhielten weitere interne und auch externe Institutionen durch den werksgeförderten Wohnungsbau zunehmend Einfluss auf die Wohnungspolitik. Neben Kollektivunterkünften und Wohnbaracken in Lagern besaß das Volkswagenwerk im Juli 1946 nach eigenen Angaben 100 werkseigene Wohnungen in Wolfsburg, die von der Deutschen Arbeitsfront (DAF) gegründete Neuland Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft 600.53 Sie errichtete von 1948 bis 1953 etwa 1 500 weitere Unterkünfte.54 Um Landeszuschüsse für den Wohnungsbau zu erhalten, musste Volkswagen werksgeförderte Wohnungen in Auftrag geben, war aber mit der Politik der Neuland nicht einverstanden. Daher gründete Volkswagen 1953 eine eigene Wohnungsbaugesellschaft, die VW-Wohnungsbau. Obwohl gemeinnützig, musste sie Werksfremden nur Wohnungen zur Verfügung stellen, für die sie keine eigenen oder Mittel von Volkswagen aufgewendet hatte.55 Der Leiter der Bauabteilung des Werks war der Geschäftsführer, während der Aufsichtsrat aus Mitgliedern der Geschäftsleitung bzw. des Managements des VWWs bestand. Nach Beanstandung durch das Land

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Vgl. Archiv des Comité d’établissement de PSA-Sochaux innerhalb des Werks (im Folgenden: CE1), PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 27.3.1953, S. 3; Jean-Paul Goux: Mémoires de l’Enclave. Arles 2003, S. 437; Hedwig Richter / Ralf Richter: Der OpferPlot. Probleme und neue Felder deutscher Arbeitsmigrationsforschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), S. 61–97, hier 70 f. Im Dezember 1945 bezuschusste Peugeot Busse und Züge für den Transport von 16,3 % der Belegschaft, 1951 waren es durchschnittlich bereits 31 %. Vgl. MP, 34/43 ff., AP Sochaux, RT Dezember 1945, Abb. Transport de personnel; Januar 1947 u. 1948, Abb. Personnel transporté; Januar 1953, Abb. 38. Volkswagen stellte zunächst nur Busse für Kriegsbeschädigte zur Verfügung; 1952 beförderte das Werk 11,8 % der Pendler, d. h. fast 1 000 Beschäftigte, mit Werksbussen. Vgl. UVW, Z 119 Nr. 9/1, Protokoll der VWW-Betriebsvertretungssitzung am 19.12.1945; Z 69 Nr. 701, VWW, Personalbericht 1952, S. 6. Vgl. u. a. MP, 34/71, AP Sochaux, RT September 1956, S. 49, u. 34/72, Juni 1958, S. 19. Vgl. UVW, Z 69 Nr. 198/1, Werksleitung VWW an Kreiswohnungsamt Gifhorn, 26.7.1946, S. 2; VWW, Aktenvermerk über die Besprechung am 27.7.1946. Vgl. UVW, Z 174 Nr. 426/5, VW-Wohnungsbau an Koch, 21.5.1953. Vgl. UVW, Z 174 Nr. 426/5.

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Niedersachsen benannte das VWW einen weiteren Geschäftsführer ohne Bezug zum Unternehmen.56 Von den durch Volkswagen seit 1948 vergebenen Darlehen erhielt die Gesellschaft 75 Prozent, die Neuland elf und andere Bauträger 14 Prozent. Die VW-Wohnungsbau errichtete bis Anfang 1963 ca. 5 500 Mietwohnungen des Unternehmens in Wolfsburg und Braunschweig, wohingegen die Neuland nach Gründung der VWTochtergesellschaft nur noch auf einige hundert neue Wohnungen kam.57 Ab dem Jahr 1964 hielt Volkswagen eine 20-prozentige Beteiligung an der Neuland, deren Haupteigentümer nun die Stadt Wolfsburg war. Von Ende 1964 bis 1973 bauten die VW-Wohnungsbau und die neue VW-Siedlungsgesellschaft über 4 500 Mietwohnungen, andere Bauträger fast 5 000. Auch ihr Anteil an den VW-Darlehen stieg, blieb aber aufgrund öffentlicher Mittel weiterhin niedriger. Die VW-Wohnungsbau errichtete nach der Unternehmenskrise von 1973 bis 1975 kaum noch neue Wohnungen und verwaltete vorwiegend den Bestand. Zum Verkauf einer größeren Zahl von werksgeförderten Wohnungen kam es zunächst nicht.58 Peugeot war bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts Mitglied von Wohnungsbaugesellschaften, u. a. mit dem Metallzweig der Peugeots sowie der befreundeten Familie Japy: 1893 wurde die Société Immobilière de Valentigney Beaulieu TerreBlanche (SIV), 1911 die Société immobilière de Sochaux (SIS), 1951 die Société immobilière d’Allan (SIA) gegründet.59 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verfügte Peugeot wohl nicht über hinreichende Mittel, um die Wohnungsbedürfnisse seiner Beschäftigten zu decken; die werksseitig dominierten Gesellschaften errichteten kaum noch Unterkünfte.60 Stattdessen strebte der französische Automobilhersteller eine gemeinsame Wohnungsgesellschaft der Unternehmen vor Ort an. Zumindest einem Teil der wirtschaftlich Verantwortlichen war bewusst, dass es außer Frage stand, wieder Arbeitersiedlungen anzulegen, in denen der Mietvertrag an den Arbeitsvertrag gekoppelt war. Im Oktober 1946 wurde daher das Comité régional de logement de Belfort-Montbéliard-Haute-Saône (CRL) gegründet. Die beteiligten Gesellschaften beschäftigten rund 25 000 Menschen, davon über die Hälfte bei Unternehmen der Familie Peugeot61, und der langjährige Vorsitzende gehörte Peugeot Frères an. Neben Vertretern von Unternehmen und Institutionen wie den Indus56 57 58 59 60

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Vgl. UVW, Z 174, Nr. 426/5, Nordhoff an Oeftering, 3.2.1953; VW-Wohnungsbau an Koch, 21.5.1953. VWW, Geschäftsbericht 1963, S. 25; UVW, Z 373 Nr. 785/2, VWW, Niederschrift über die Sitzung des Sozial-Ausschusses des Aufsichtsrats am 5.2.1963, S. 5. Vgl. VWW, Geschäftsberichte 1974 ff. Vgl. Francis Brisswalter: L’Immobilière de l’Allan ou un regard sur 110 ans d’immobilier au service des salariés du groupe Peugeot. Montbéliard 2003, S. 4 f., 16. „[…] nous nous efforçons d’obtenir des pouvoirs publics les moyens nécessaires pour permettre la mise sur pied en 1951 et dans les années suivantes d’un large programme de constructions“. AP Sochaux, Geschäftsbericht 1950, S. 7. Z. B. wurde erst im Oktober 1950 eine Reaktivierung der SIV in Erwägung gezogen. Vgl. MP, 34/54, AP Sochaux, RT Oktober 1950, S. 48. AP stellte mit dem Verwaltungsdirektor des Werks Sochaux eines der zwölf Mitglieder des vorbereitenden Ausschusses des CRL. Er war in der Folge im Conseil d’administration der Gesellschaft vertreten. Vgl. CE1, ALTM/CRL, CRL, 12.10.1946; CRL, PV de l’AGO du 19 Octobre 1946 au théâtre municipal de Montbéliard.

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trieverbänden und den Gewerkschaften stellten die comités d’établissement (CE) der Unternehmen, ähnlich deutschen Betriebsräten, ein Drittel der Mitglieder des CRL. Ziel der Gesellschaft war die Erhebung eines jährlichen Beitrags der Mitgliedsunternehmen für den Wohnungsbau, der möglichst durch staatliche Förderung und Steuererleichterung ergänzt werden sollte. Bereits kurz nach der Gründung drohte das CE von Peugeot-Sochaux, das CRL aus Unzufriedenheit zu verlassen, und konnte sich zumindest langfristig in Bezug auf die Anhebung der Beiträge sowie die Bevorzugung des Mietwohnungsbaus gegenüber Eigenheimen durchsetzen.62 Zunächst lief der Wohnungsbau für das Werk Sochaux schleppend an; von 1949 bis 1957 entstanden für Peugeot 1 140 Wohnungen, davon 712 durch das CRL. Der Anteil der SIA und SIS blieb langfristig gering.63 Von 1958 bis 1961 stellte das CRL nochmals über 3 000 Wohnungen bereit. Bis in die 1970er Jahre folgten weitere. Im Einzugsgebiet von Montbéliard verwaltete das CRL 1979 schließlich fast 10 000 Wohnungen.64 Dass Peugeot mit der Einbeziehung weiterer Akteure in die Wohnungspolitik offener umging als Volkswagen, ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus der stärkeren Eigenheimpräferenz der Beschäftigten wie der Unternehmensleitung sowie geringeren finanziellen Spielräumen. Daher überrascht es nicht, dass sich gerade Peugeot für ein soziales Experiment wie eine gemischtwirtschaftliche Gesellschaft zur Errichtung moderner Wohnheime hergab. Am 24. März 1961 wurde die Association pour le logement des jeunes travailleurs de la région de Montbéliard gegründet. Ziel war es, Wohnheime mit Verpflegung und Freizeitaktivitäten vor allem für französische junge Männer, bald auch Frauen, bereitzustellen.65 Bereits 1947 war ein Vertreter des CE durch Europa gereist, um sich Anregungen für die Wohnungspolitik zu holen. Er favorisierte u. a. als Wohnheim das umfassende „Wohnhotel“.66 Umgesetzt wurde das Projekt erst mehr als zehn Jahre später. Beteiligt waren neben zwei Vertretern von AP und dem CE auch das CRL, die SIS, die Caisse d’allocations familiales, Vertreter der Gemeinden Montbéliard, Grand-Charmont und Valentigney, die Industrie- und Handelskammer und die Arbeitsinspektion.67 Die drei Wohnheime, deren Bewohner zu einem großen Teil bei AP arbeiteten, umfassten Sozialräume wie ein Restaurant, Fotolabor und Musikzimmer. Der Erfolg des Projekts blieb begrenzt, da Peugeot ab den späten 1960er Jahren vorwiegend ausländische Beschäftigte einstellte und die beteiligten Institutionen sich u. a. über die Preispolitik nicht einig waren.68 So waren die Wohnheime nicht ausgelastet und wurden Ende der 1970er Jahre geschlossen. 62 63 64 65 66 67 68

CE1, ALTM/CRL, CRL, PV de la réunion du Conseil d’administration du 6 janvier 1947. In den Jahren 1955 und 1956, für die die Planungen überliefert sind, sollten SIA und SIS für AP Sochaux insgesamt 93 Mietwohnungen erstellen, das CRL hingegen 2 376 Häuser und Mietwohnungen. Vgl. CE1, ALTM/CRL, AP Sochaux, Constructions totales prévues, 1955. Vgl. CE1, ALTM/CRL, CRL/Société Immobilière du CRL, PV des réunions de l’AGO et rapports du conseil d’administration. Vgl. CE1, PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP Sochaux am 8.2.1961, Annexe II. Vgl. CE1, ALTM/CRL, Schmid, La question du logement, 13.1.1947. Vgl. CE1, ALTM/CRL, ALTM, Compte-rendu de l’Assemblée Générale du 10 juin 1965, S. 1. Vgl. u. a. Archiv des Comité d’établissement de PSA-Sochaux außerhalb des Werks (im Fol-

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Ab 1969 professionalisierte und liberalisierte AP seine Wohnungswirtschaft: So überließ das Unternehmen seine werkseigenen Unterkünfte der SIA. Den Mietern der SIA, SIS und des Crédit Immobilier Sochaux-Montbéliard wurde ab dem folgenden Jahr die Miete nicht mehr von Peugeot direkt vom Einkommen abgezogen, sondern sie zahlten an die Gesellschaften.69 Auch verkaufte AP Anteile an der Immobiliengesellschaft des CRL an eine öffentliche Wohnungsbaugesellschaft und legte den Vorsitz des CRL nieder. Peugeot sei ein Automobilhersteller und es sei besser, den Wohnungsbau Spezialisten zu überlassen, zumal das Wohnungsproblem in Sochaux quasi gelöst sei.70 Zunehmend begann der Automobilhersteller, sich von seinen werksgeförderten Unterkünften zu trennen,71 was einem länderübergreifenden Trend entsprach. Durch die verstärkte Etablierung von Wohnungsbaugesellschaften mit mehreren Eigentümern, die auch der stärkeren industriellen Prägung der Region geschuldet war, konnte sich AP langfristig eher aus der Wohnungspolitik zurückziehen als das VWW in Wolfsburg. II. Die Rolle des Betriebsrats In der Wohnungspolitik zeigt sich die veränderte Rolle des Betriebsrats bzw. CE nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Seit 1946 wurden bei Volkswagen die Wohnungen von der Abteilung Wohnungswesen vergeben, die mit Vertretern der Stadt Wolfsburg und des Betriebsrats zusammenarbeiten sollte. Der Einfluss beider Institutionen blieb allerdings in dieser Zeit begrenzt.72 1947 wurde das Mitwirkungsrecht des Betriebsrats per Betriebsordnung verbrieft,73 das Information und Meinungsäußerung, aber kein Blockaderecht einschloss. Auch erstreckte es sich nur auf Erstzuteilungen und Wohnungen, nicht aber auf Zimmer bzw. Mansarden.74 Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 sah ein Mitbestimmungsrecht nur bei werkseigenen, nicht aber bei werksgeförderten Wohnungen vor.75 Der Wohnungsausschuss des Betriebsrats zog dreimal – 1951, 1955 und 1963 – seine Selbstauflösung in Betracht, da seine Ansichten übergangen wür-

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73 74 75

genden: CE2), Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 12.7.1962, S. 4, u. CE1, PV du CE, am 15.12.1967, S. 24. Vgl. MP, 34/84, AP Sochaux, RT November 1969, G XVI. Aussage von Lucien Collaine, Personalleiter von Sochaux, in: CE1, PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 29.12.1969, S. 35. Vgl. Brisswalter: L’Immobilière (wie Anm. 59), S. 3, 9. Vgl. UVW, Z 119 Nr. 5, VWW, Bericht des Betriebsrats auf der Betriebsversammlung am 15.10.1948; Hermann Hilterscheid: Der Einfluß des Volkswagenwerks auf die Kommunalpolitik im Wohnungssektor, in: Friedrich Fürstenberg (Hg.): Industriesoziologie III. Industrie und Gesellschaft (Soziologische Texte 104). Darmstadt 1975, S. 143–157, hier 146. Vgl. UVW, Z 119 Nr. 104/2, VWW, Betriebsvereinbarung vom 10.5.1947, S. 2. Vgl. UVW, Z 119 Nr. 19/2, VWW, Protokoll der Betriebsratssitzung Wolfsburg am 25.9.1954, S. 2, u. Z 119 Nr. 22/1 am 29.4.1963, S. 2. Vgl. Gerhard Erdmann: Das Betriebsverfassungsgesetz vom 11. Oktober 1952 (B. G. Bl. I. S. 681). Neuwied 1952, S. 195 f.

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den.76 Auf einer Betriebsversammlung erklärte der Betriebsratsvorsitzende Ernst Rahm 1950, „dass ein ständiges Übereinkommen zwischen Werksleitung und Betriebsrat wohl nie und nimmer erzielt werden kann. […] Der Betriebsrat lässt sich in erster Linie von sozialen Gesichtspunkten leiten, während die Werksleitung vom sachlichen Standpunkt ausgeht.“77 Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 räumte dem Betriebsrat zumindest bei der Vergabe von Wohnungen und den Modalitäten ein Mitbestimmungsrecht ein;78 vermutlich nahm von da an der Einfluss des Wohnungsausschusses bei Volkswagen zu.79 Teilweise konnte der Betriebsrat auch zu geplanten Bauten Stellung beziehen. Was und wo gebaut wurde, bestimmten jedoch weiterhin vor allem das Unternehmen und die Baugesellschaften. Dieses grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer war bei Peugeot ebenso vorhanden. Das CE machte sich aber früh zum Sprachrohr diverser Klagen von Mitarbeitern, die zumeist berücksichtigt wurden.80 Die Wohnungsvergabe oblag in Sochaux der Commission d’attribution de logements, in der neben den Verantwortlichen der Personalabteilung und der Sozialleiterin u. a. auch ein Mitglied des CE vertreten war. Sie teilte alle Wohnungen zu, bis auf jene, die für Fach- und Führungskräfte vorgesehen waren. Sukzessive81 erhielt das CE in der Kommission bis 1952 eine eigentlich überparitätische Vertretung, nachdem es im Vorjahr aus Protest nur noch als Beobachter an den Sitzungen teilgenommen hatte.82 Wohl in dem Maße, wie die Zahl der zu vergebenden Wohnungen zunahm, wurde die Zusammenarbeit in den folgenden Jahren konfliktfreier. Über die Vergabe hinaus konnte das CE sich von Anfang an auch zur Festsetzung der Mieten äußern. Es zeigt sich, dass das CE von Sochaux in der Wohnungspolitik institutionell über mehr Einflussmöglichkeiten verfügte als der Betriebsrat von Wolfsburg und diese auch nutzte. Ein Grund hierfür wird der stärkere Mangel an Wohnraum in Sochaux im Vergleich mit Wolfsburg gewesen sein, d. h. es wurde über knappere

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80 81 82

Vgl. UVW, Z 119 Nr. 16 ff., Protokolle des Betriebsrats Wolfsburg vom 4.10.1951, 21.5.1955 u. 29.4.1963. VWW, Protokoll der Betriebsversammlung Wolfsburg am 15.12.1950, S. 8, in: UVW, Z 119 Nr. 1191/2. Vgl. Karl Fitting / Fritz Auffarth / Heinz Kaiser: Das neue Betriebsverfassungsrecht. Zur Einführung erläutert. München 1972, S. 116 ff. Dies legen die Schilderungen im Zeitzeugengespräch mit Hans Ziegler am 20.1.2009 nahe, ebenso wie der Geschäftsverteilungsplan für den Betriebsrat Wolfsburg, 13.7.1978, S. 3, in: UVW, Z 119 Nr. 1303/2. Zumeist habe der Betriebsrat jedoch den Wohnungsbaugesellschaften die Entscheidung über den Wohnungsbau überlassen, so Werner Oepen am 21.1.2009. Vgl. CE1, PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 25.3.1948, S. 3, u. am 1.7.1949, S. 4. Vgl. CE1, PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 2.5.1949, S. 2, u. am 21.9.1950, S. 1; MP, Courrier des usines (CU), Nr. 36, Mai 1953, S. 5. Neben dem Personalleiter und dreien seiner Mitarbeiter nahmen die Leiterin der Sozialabteilung des CE sowie vier stimmberechtigte Mitglieder des CE und zwei beratende teil. Vgl. CE1, PV du CE, Protokoll der Sitzung des CE von AP-Sochaux am 30.11.1951, S. 6, u. am 27.6.1952, S. 3; MP, CU, Nr. 36, Mai 1953, S. 5.

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Ressourcen verhandelt. Hingegen hatte der Betriebsrat in Wolfsburg in anderen Bereichen, z. B. bei den finanziellen Zusatzleistungen, mehr Einfluss. Der nach 1945 dominierende werksgeförderte Wohnungsbau mit spezialisierten Gesellschaften spricht für die zunehmende Einbeziehung interner und externer Akteure, wenn auch zunächst in begrenztem Umfang. Gleiches gilt für die Berücksichtigung von Vertretern der Betriebsräte. Bis in die 1960er Jahre blieb der werksgeförderte Wohnungsbau das vorherrschende Mittel gegen Wohnungsnot. Durch die Einwerbung öffentlicher Mittel, deren Bezug an Bedingungen geknüpft war, erhielten staatliche Stellen Einfluss auf die betriebliche Wohnungspolitik, während die Unternehmen auf noch höhere Aufwendungen verzichten konnten. Ab den 1960er Jahren nahm die betriebliche Eigenheimförderung sowohl in Bezug auf die Zahl als auch die Höhe der vergebenen Baudarlehen stark zu. Hierbei gaben die Unternehmen das Heft fast völlig aus der Hand. Gründe dafür waren, dass die Betriebe kaum noch wuchsen, der Wohnungsbau sich stark verteuert hatte, Eigenheimdarlehen viel günstiger waren und nicht zuletzt, dass die Beschäftigten sich den Bau eines Hauses mehr und mehr leisten konnten und auch wünschten. An der Ausweitung der Eigenheimförderung in Deutschland wie in Frankreich zeigen sich eine Monetarisierung und Individualisierung der betrieblichen Wohnungspolitik. Insgesamt verbesserte sich die Qualität der zur Verfügung gestellten Wohnungen sukzessive. Den geschilderten Tendenzen entgegen lief die Wohnungspolitik für die ausländischen Beschäftigten, die in den 1960er Jahren dort begann, wo sie für die einheimischen Mitarbeiter in den späten 1940er Jahren gestanden hatte. 3. STAAT UND BETRIEBLICHE SOZIALPOLITIK IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND – AM BEISPIEL DER BETRIEBLICHEN ALTERSVERSORGUNG (RÜDIGER GERLACH) Betriebliche Sozialpolitik wurde bislang überwiegend aus Unternehmensperspektive untersucht. Weitgehend unbeachtet blieb hingegen die Rolle des Staates bei ihrer Gestaltung und letztlich die Frage nach ihrem gesellschaftlichen Nutzen. Neuere Untersuchungen der betrieblichen Sozialleistungen in der Bundesrepublik deuten darauf hin, dass der Staat diese nicht nur indirekt durch Sozialreformen beeinflusste, sondern auch zunehmend mitgestaltete und deren Rahmenbedingungen grundlegend veränderte. Ziel dieses Beitrags ist es, die wichtigsten Motive, Maßnahmen und Diskurse staatlicher Akteure bezüglich der betrieblichen Sozialpolitik in der Bundesrepublik zu skizzieren, um weiterführende Forschungen auf diesem Gebiet anzuregen. Die zentralen Entwicklungslinien werden am Beispiel der betrieblichen Altersversorgung verdeutlicht, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten betrieblichen Sozialleistungen wurde. In der jungen Bundesrepublik wurde die künftige Rolle der betrieblichen Sozialpolitik aus mehreren Gründen intensiv diskutiert. Erstens hatten die Unternehmen im Zusammenhang mit den Missständen der Kriegs- und Nachkriegsjahre ihre Sozialeinrichtungen und Sonderzuwendungen an die Belegschaften erheblich aufgestockt.

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Mit der Normalisierung der Wirtschaft stand die Zukunft dieser Sonderleistungen zur Debatte.83 Zweitens war zu klären, inwieweit die betriebliche Sozialpolitik mit dem demokratischen System der Bundesrepublik vereinbar war. So lag der Regierung ein Gutachten vor, das auf paternalistische, industriefeudalistische und gewerkschaftsfeindliche Züge der Sozialpolitik deutscher Unternehmen verwies. Diese Schlussfolgerungen wurden zwar als überzogen bewertet, dennoch sollte überprüft werden, inwieweit die Praxis der betrieblichen Sozialpolitik den tatsächlichen Bedürfnissen der westdeutschen Gesellschaft entsprach.84 Drittens stellte sich vor dem Hintergrund des expandierenden Sozialstaates, der sozialen Marktwirtschaft und der Konsumgesellschaft die grundsätzliche Frage, welche Bedeutung betriebliche Sozialleistungen noch hatten, wenn soziale Sicherheit vom Staat und der Zugang zu Waren und Dienstleistungen über steigende Löhne und funktionierende Märkte gewährleistet wurden.85 Aufgrund des schnellen Wirtschaftswachstums und der damit verbundenen Arbeitsmarktsituation in der Wirtschaftswunderzeit wurde die Diskussion über eine grundlegende Neuordnung der betrieblichen Sozialpolitik jedoch schnell von ökonomischen Herausforderungen überlagert. In Anknüpfung an den Fordismus und die Industriesoziologie der 1920er und 1930er Jahre wurden betriebliche Sozialleistungen vornehmlich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten bewertet: Sie sollten die Arbeitsproduktivität in den Unternehmen verbessern, die Gewinnung von Beschäftigten erleichtern und die Fluktuation von Personal verringern. Der soziale Wettbewerb zwischen den Unternehmen um Arbeitskräfte galt zudem als volkswirtschaftlich sinnvoll, da er die Allokation der Beschäftigten hin zu leistungsfähigen Industriezweigen begünstigte und somit den wirtschaftlichen Strukturwandel förderte. Daneben sollte die Beteiligung der Arbeitnehmer am (Rationalisierungs-) Erfolg der Unternehmen durch variable Zusatzleistungen nicht nur deren Leistungsbereitschaft heben, sondern auch zu einem sozialen Ausgleich führen, der Klassenkämpfe obsolet machen würde. Ökonomischer und sozialer Fortschritt würden dabei Hand in Hand gehen. Die positive Wirkung betrieblicher Sozialleistungen auf die Produktivität sollte wiederum weitere soziale Verbesserungen und Ergänzungen des noch lückenhaften Sozialsystems ermöglichen. Nach Ansicht von Experten, Staats- und Wirtschaftsvertretern würden die Unternehmer auf diesem Gebiet jedoch nur aktiv bleiben, wenn die Leistungen weiterhin nach den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Unternehmen flexibel gestaltbar, freiwillig und steuerbegünstigt blieben.86 83

Vgl. Karl Osterkamp / Heinz Lelonek: Betriebliche Aufwendungen für den arbeitenden Menschen. Probleme der betrieblichen Sozialpolitik. Stuttgart 1956, S. 18–54. 84 Vgl. Bundesarchiv (im Folgenden: BArch), B 149/37262, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMAS), Stellungnahme zu den Berichten der EPA-Projekte 178 und 312. 85 Vgl. Hermann Bues: Freiwillige betriebliche Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland. Köln 1969, S. 2 und Literaturhinweise. 86 Vgl. Gesellschaft für sozialen Fortschritt e. V. (Hg.): Die betrieblichen Sozialleistungen. Vorträge und Aussprache. 14.4.1955. Berlin 1955; BArch, B 149/37262, BMAS, Berichte und Material über berufliche und soziale Auswirkungen der Automatisierung in 1956–1957; B 149/31599, BMAS, Bundesfinanzministerium Abt. IV, Mersmann an den Diskussionskreis der CDU-CSUFraktion des Deutschen Bundestages, 17.4.1959.

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Da betriebliche Sozialaufwendungen steuerlich abzugsfähig waren, finanzierte der Staat diese zu einem erheblichen Teil mit. Nach Einschätzung des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahre 1955 trug der Staat 55 Prozent dieser Kosten durch Steuerverzicht. Der naheliegende Zugang zur Regulierung der betrieblichen Sozialpolitik lag daher in einer geeigneten Steuergesetzgebung, die eine Förderung gewünschter und eine Reduzierung unerwünschter Leistungen ermöglichte. Überlegungen, die steuerliche Abzugsfähigkeit betrieblicher Sozialleistungen auf sechs Prozent der Lohnsumme zu begrenzen, wurden angesichts ihrer vermeintlichen Vorteile verworfen.87 Stattdessen wurde die steuerliche Behandlung bestimmter Leistungen wesentlich zu Gunsten der Wirtschaft umgestaltet. Ein Beispiel hierfür ist die Förderung der betrieblichen Altersversorgung, die nach Ansicht der Bundesregierung „ein wertvolles und eigenständiges Glied der gesamten Altersversorgung, das soziale und ökonomische Zielsetzungen harmonisch in sich vereinigen kann“, darstellte.88 Aus ökonomischer Perspektive ermögliche sie es leistungsstarken Unternehmen, Beschäftigte zu gewinnen, langfristig zu binden und so Stammbelegschaften aufzubauen. Darüber hinaus sei sie „mobilitätsfreundlich, als sie für den Arbeitgeber ein zusätzliches Mittel im Wettbewerb um Arbeitskräfte darstelle und daher deren Einsatz an der gesamtwirtschaftlich richtigen Stelle fördern könne“.89 Gleichzeitig sollte sie helfen, die Lücke zwischen erwarteter gesetzlicher Rente von ca. 45 Prozent und einer auskömmlichen Altersversorgung von 75 Prozent des letzten Bruttoeinkommens zu schließen.90 Besondere Bedeutung erlangte die steuerliche Behandlung der Ruhegeldverpflichtungen. Es handelte sich um Versprechen auf spätere Rentenzahlungen, die erst nach Jahrzehnten zu echten Auszahlungen führten, aber bereits mit ihrer Zusage steuermindernde Rückstellungen ermöglichten. Praktisch wurde sie zu einem attraktiven Instrument staatlich subventionierter Unternehmensfinanzierung, das 1965 bereits bei 70 Prozent der Betriebsrenten Anwendung fand.91 In Folge der Steuer- und Finanzierungsvorteile wurde die betriebliche Altersversorgung zur bedeutsamsten betrieblichen Sozialleistung in Großunternehmen, wo sie Mitte der 1950er Jahre 37 Prozent des betrieblichen Sozialaufwands ausmachte.92 Gleichzeitig entwickelte sie sich zu einer Säule des Rentensystems. Im Jahr 1965 hatten ca. 60 Prozent der Arbeitnehmer einen Anspruch auf betriebliche Leistungen erworben, und die Rückstellungen der Unternehmen für die Pensionsleistungen von 34 Mrd. DM übertrafen die Rücklagen der Sozialversicherungsträger um sieben Mrd. DM.93

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Vgl. BArch, B 149/31599, BMAS, Vermerk Abteilung I – II, 10.10.1958; Etzel an Wieninger, 7.3.1958; Entwurf Wieninger, Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für freiwillige soziale Leistungen. BArch, B149/31603, BMAS, Coester/Fink an den Präsidenten des Bundestages, Juni 1968. BArch, B 149/31602, BMAS, Ergebnisniederschrift über die Hausbesprechung am 1.2.1967. BArch B 149/31602, BMAS, Referat IIIc6, Kurzübersicht betriebliche Altersvorsorge. Ebd. Vgl. Eduard Gaugler: Zusätzliche Sozialleistungen in der betrieblichen Praxis. München 1957, S. 42. BArch, B 149/31602, BMAS, Referat IIIc6, Kurzübersicht betriebliche Altersvorsorge.

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Der staatlich geförderte Ausbau der betrieblichen Sozialleistungen in der Wirtschaftswunderzeit brachte allerdings auch unerwünschte Folgen mit sich, welche die Bundesregierung zunehmend beschäftigten: – Ein grundsätzliches Problem war der Niederschlag steigender betrieblicher Sozialaufwendungen auf die Verbraucherpreise – was dem Ziel der Preisstabilität zuwiderlief. Gerade Monopolgewinne führender Unternehmen sollten nicht in betriebliche Zusatzleistungen, sondern in Preissenkungen fließen.94 – Große Werke warben mit ihren überdurchschnittlichen Sozialleistungen Arbeitskräfte weniger leistungsfähiger Branchen ab, wodurch in ihrem Umfeld wirtschaftliche Monokulturen entstanden.95 – Betriebliche Sozialleistungen boten „Möglichkeiten zur Gewinnverschleierung“ oder zur Schaffung von „Steuerverstecken“, die der Staat – beispielsweise mit der Regelung der Ruhegeldverpflichtungen – selber geschaffen hatte.96 – Betriebliche Sozialpolitik wurde zunehmend als Hindernis für den ökonomischen Strukturwandel wahrgenommen, da sie Arbeitskräfte an die alten Wirtschaftszweige band und deren Mobilität in Richtung neuer Branchen verringerte. Gerade die Altersversorgung galt als „goldene Kette“, da Beschäftigte, die ihren Arbeitgeber vor Erreichen des Rentenalters wechseln wollten, mit dem Verlust ihrer gesammelten Pensionsansprüche rechnen mussten.97 Trotz wachsender Kritik wurde bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre an dem System der freiwilligen steuerbegünstigten betrieblichen Sozialpolitik festgehalten. In Reaktion auf eine kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur betrieblichen Altersversorgung stellte die Regierung fest, dass die Bildung von „Risikokapital“ in den Unternehmen durch Steuerverzicht ausdrücklich gutgeheißen werde, die unternehmerische Freiheit bei dieser Leistung gewahrt bleiben solle und eine Aushöhlung des bestehenden Systems nicht gewünscht sei.98 Grundsätzlich in Frage gestellt wurde die Praxis betrieblicher Sozialpolitik erst im Kontext der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche zwischen 1966 und 1975. Vier zentrale Kritikpunkte der Gewerkschaften fanden zunehmend gesellschaftliche Resonanz:99 – das Verteilungsproblem: Manager verwenden Teile der Wertschöpfung ihrer Unternehmen für soziale Leistungen, die ihnen nicht zustehen. Je nach Position des Kritikers handelte es sich um vorenthaltene Löhne, Steuern, Gewinne der Gesellschafter oder Preissenkungen für die Konsumenten. 94

Vgl. Osterkamp/Lelonek: Aufwendungen (wie Anm. 83). S. 86 f. Exemplarisch: BArch, Kabinettsprotokolle der Bundesregierung Online, 298. Kabinettssitzung am 23.6.1953, Top [J.]. 95 Exemplarisch: BArch, B 102/76038, Bundeswirtschaftsministerium, Schriftverkehr Erhard / Schäffer / Handwerks- und Arbeitnehmerverbände, März 1957 bis August 1959. 96 Vgl. BArch, B 149/31602, BMAS, Vermerk Referat Ib1 Hentrich, Finanzierungseffekt von Pensionsrückstellungen, Mai 1967. 97 BArch, B 149/31599, BMAS, Auszug aus „Das Wirtschaftsbild“ 1966 Nr. 62 vom 1.9.1966. 98 Vgl. BArch, B149/31603, BMAS, Coester/Fink an den Präsidenten des Bundestages, Juni 1968. 99 Vgl. Heinz Pahlke: Die betrieblichen Sozialleistungen als Herrschaftsinstrumente der Unternehmer, in: Eberhard Dähne (Hg.): Betriebe unter der Lupe. Handbuch der Betriebs- und Unternehmensanalyse. Frankfurt a. M. 1975; Milton Friedman: The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits, in: The New York Times Magazine, 13.9.1970.

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das Akteursproblem: Unternehmer handeln in der Regel nicht nach sozialen Maßstäben, sondern eigennützig – oft zu Lasten Dritter. Begründet wurde dieser Punkt mit der Beobachtung, dass betriebliche Sozialleistungen oft zur Abwehr der Gewerkschaften oder als Steuersparmodelle genutzt wurden. – das Gerechtigkeitsproblem: Der Staat kann soziale Aufgaben für die Bevölkerung zielgerichteter und gerechter wahrnehmen als Unternehmen. Ein wichtiges Argument war, dass leistungsstarke Unternehmen ihre ohnehin relativ gut gestellten Beschäftigten oder gar nur besonders wertvolle Fachkräfte begünstigten. Betriebliche Sozialleistungen gingen also per se kaum an Bedürftige und schufen auch innerhalb der arbeitenden Bevölkerung soziale Ungleichgewichte. – das Unsicherheitsproblem: Betriebliche Sozialleistungen sind von der jeweiligen ökonomischen Situation der Unternehmen abhängig und taugen daher nicht zur längerfristigen sozialen Absicherung. Das wurde in den Wirtschaftskrisen der „langen“ 1970er Jahre besonders deutlich, als die zusätzlichen Leistungen der Boomperiode zur Disposition standen. In der ersten Regierungszeit Brandts zeichnete sich ein Paradigmenwechsel in der Behandlung betrieblicher Sozialleistungen ab. Wenn der Staat diese durch Steuerverzicht mitfinanziere, sollten sie auch gewisse sozialstaatliche und demokratische Mindestanforderungen erfüllen: Ungerechtigkeit und Unsicherheit, die sich aus ihrer Freiwilligkeit und Widerrufbarkeit ergaben, seien notfalls per Gesetz zu regulieren. Gleichzeitig sollte der Einfluss der Arbeitnehmerseite in sozialen Fragen – im Rahmen der Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen – gestärkt werden.100 Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 ermöglichte den Arbeitnehmervertretern zunächst erweiterte Mitbestimmungsrechte bei der Gestaltung betrieblicher Sozialeinrichtungen.101 Bedeutsamer war aber deren – auch durch das Mitbestimmungsgesetz – verbesserte Verhandlungsposition, die teilweise erhebliche „Vertretungserfolge“ im Bereich der betrieblichen Sozialleistungen ermöglichte.102 Ein weiteres Ziel war die Absicherung der betrieblichen Sozialleistungen durch Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge und gesetzliche Bestimmungen. So sah das von der Regierung forcierte dritte Vermögensbildungsgesetz (1970) bereits eine enge Verknüpfung von betrieblichen Leistungen, tariflicher Bindung und steuerlicher Förderung vor.103 Am Beispiel der betrieblichen Altersversorgung wird deutlich, wie weit der Regelungsanspruch der Regierung ging. Im Sommer 1970 wurde im Rahmen der „sozialpolitischen Gesprächsrunde“ eine Arbeitsgruppe zur Überprüfung und Fortentwicklung der betrieblichen Altersversorgung gegründet, um sich der bestehenden Probleme bei den etablierten betrieblichen Alterssicherungssystemen anzunehmen. Die Ansprüche der Beschäftigten sollten gegen Verlust – durch die Insolvenz des Arbeitgebers oder Verfallbarkeitsklauseln bei vorzeitigem Ausscheiden aus 100 Exemplarisch: AdsD, 5/IGMA 120113, Sozialpolitische Gesprächsrunde 25.9.1970, Bonn 23.10.1970; BArch, B 149/31606, BMAS, Entwurf Auerbach, 28.4.1970. 101 Betriebsverfassungsgesetz 1972, 15.1.1972, § 87 Abs. 1 Nr. 8. 102 Exemplarisch: Gerlach: Betriebliche Sozialpolitik (wie Anm. 3), S. 190–206. 103 Vgl. Yorck Dietrich: Vermögenspolitik, in: Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 5 (wie Anm. 30), S. 887–907.

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dem Arbeitsverhältnis – sowie gegen „Auszehrung“ – durch Inflation oder die oft praktizierte Aufrechnung betrieblicher Pensionsansprüche mit staatlichen Rentenerhöhungen – abgesichert werden. Aufgrund der großen sozialpolitischen Bedeutung der Leistungen drohte die Regierung a priori mit einer verbindlichen gesetzlichen Lösung, sollten die „Sozialpartner“ nicht zu einer Einigung kommen.104 Die Arbeitgeberseite kritisierte die geplante Beschränkung der unternehmerischen Autonomie, die zum Rückbau der betrieblichen Sozialleistungen und zur Weigerung der Betriebe führen würde, in Zukunft weitere soziale Maßnahmen zu tragen.105 Den Gewerkschaften ging das Regulierungsvorhaben mitunter nicht weit genug. Die Vermögensbildung breiter Volksschichten könne nicht durch steuerliche Privilegierung eines kleinen Kreises geschehen. Wenn der Staat vermögensbildende Maßnahmen oder Leistungen der Altersversorgung über Steuerverzicht wesentlich mitfinanziere, sollte er sie gleich in Eigenregie durchführen: auf Kosten der Unternehmen und zum Beispiel in Form einer Investivlohnabgabe an einen staatlichen Fonds.106 Angesichts der verhärteten Fronten zwischen Gewerkschaften, Sozialpolitikern und Unternehmern erschien eine gesetzliche Regelung unausweichlich. Das 1974 verabschiedete Gesetz zur Sicherung der betrieblichen Altersversorgung, die darauf folgenden Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichtes und die aus rechtlichen Erwägungen zwingende Festschreibung der Versorgungszusagen durch Betriebs- oder Tarifvereinbarung trugen den Forderungen nach einem weitgehenden Schutz der Betriebsrenten Rechnung. Auf der anderen Seite verloren die Unternehmen ihre Gestaltungsmöglichkeiten auf die nun weitgehend von außen geregelten Leistungen.107 Die Regulierung der betrieblichen Altersversorgung steht symptomatisch für die Verrechtlichung der betrieblichen Sozialpolitik. In Folge der gesetzlichen und tariflichen Vorstöße existierten in Großbetrieben Ende der 1970er Jahre kaum noch freiwillige betriebliche Sozialleistungen im eigentlichen Sinne.108 Dieser Verrechtlichungsprozess veränderte die Funktionsweise betrieblicher Sozialpolitik grundlegend. Die Gewerkschaften wurden nun zu ihrer treibenden Kraft. Betriebliche Sozialleistungen dienten zunehmend als Verhandlungsmasse im Interessenausgleich zwischen den Tarifpartnern und letztlich der viel beschworenen kooperativen Konfliktlösung bei der Restrukturierung der bundesdeutschen Wirtschaft. In diesem Zusammenhang gelang es den Gewerkschaften, betriebliche Sozialleistungen nicht nur über die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zu retten, sondern sie auch deutlich auszuweiten und zu vereinheitlichen. Die Unternehmer zogen sich hingegen weitgehend aus der Gestaltung der betrieblichen Sozialpolitik zurück, die sie 104 Vgl. BArch, B 149/31606, BMAS, Entwurf Auerbach, 28.4.1970. 105 Vgl. Jürgen Paulsdorff: Betriebliche Altersversorgung, in: Der Arbeitgeber 25 (1972), Nr. 10, S. 457 f. 106 Vgl. AdsD, 5/igma120045, Janzen, Vorlage für die Sitzung der geschäftsführenden Vorstandsmitglieder am 24.6.1974, 20.6.1974. 107 Vgl. Werner Doetsch: Betriebliche Altersversorgung. Ein Schlag ins Gesicht, in: Der Arbeitgeber 26 (1974), Nr. 23, S. 980. Zur Unternehmensperspektive Gerlach: Betriebliche Sozialpolitik (wie Anm. 3), S. 208–211, 272 f. 108 Ebd., S. 204.

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immer weniger selber bestimmen oder nach ihren spezifischen Erfordernissen gestalten konnten. Aus ihrer Perspektive waren die klassischen Unterscheidungen zwischen gesetzlichen, tariflichen und zusätzlichen Sozialleistungen nicht mehr tragfähig – Sozial- und Personalpolitik beziehungsweise Sozial- und Personalaufwendungen verschmolzen weitgehend.109 Der wichtigste Kritikpunkt an den hohen Sozialkosten war, dass sie die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland untergraben würden. Die nun überwiegend tariflich geregelten betrieblichen Sozialaufwendungen stiegen überproportional an und betrugen 1980 im Bundesdurchschnitt über die Hälfte der Personalnebenkosten und 21 Prozent der Personalaufwendungen. Bei dem inzwischen zum Pilotbetrieb der IG Metall gewordenen Volkswagenwerk schlugen sie mit 28 Prozent des Personalaufwands und 7,3 Prozent des Umsatzes zu Buche. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatten die Pensionsrückstellungen, deren Anteil an der Bilanzsumme des Werks bis zum Jahr 1984 auf 22 Prozent anwuchs. Die gewerkschaftliche Sozialpolitik wurde zu einem Bestandteil des Rheinischen Kapitalismus und erodierte erst mit den gewandelten ökonomischen Bedingungen der 1990er Jahre: Neue Branchen – wie die IT-Wirtschaft – scheuten die mit unnötigen Risiken und Verwaltungskosten verbundenen, langfristigen sozialen Verbindlichkeiten und zahlten lieber gleich höhere Gehälter.110 In den alten Industrien erschienen die sozialen Zugeständnisse angesichts des globalen Wettbewerbs nicht mehr haltbar. So brachte die „Konjunktur- und Strukturkrise“ zwischen 1992 und 1994 einen deutlichen Rückbau betrieblicher Sozialleistungen mit sich.111 Schließlich gerieten die immer noch hohen sozialen Standards der westdeutschen Großunternehmen und deren Politik des Workholder Value zunehmend in Konflikt mit dem Paradigma des Shareholder Value. Das Wall Street Journal Europe schrieb in diesem Zusammenhang über Volkswagen: „VW is kind of a socialist company, it’s getting harder and harder to see why VW shares should be held at all.“112 Letztlich kann man feststellen, dass die Verrechtlichung und Demokratisierung der betrieblichen Sozialleistungen in den langen 1970er Jahren den wesentlichen Bruch für die Geschichte der betrieblichen Sozialpolitik in der Bundesrepublik darstellt. Maßgebliche Akteure, Motive und Handlungsmuster verschoben sich mit dem staatlich forcierten Übergang von der freiwilligen zur gewerkschaftlichen Sozialpolitik in den Betrieben so grundlegend, dass Erkenntnisse aus älteren Forschungsarbeiten zur betrieblichen Sozialpolitik in Deutschland nur noch sehr bedingt für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts anwendbar scheinen. 109 Ebd., S. 260–281; Fritz-Jürgen Kador: Personalaufwand. Betriebliche Sozialpolitik, in: Der Arbeitgeber 28 (1976), Nr. 21, S. 897–901. 110 Vgl. Boy-Jürgen Andresen: Funktionen und Perspektiven betrieblicher Sozialpolitik aus Sicht der Praxis, in: Winfried Schmähl (Hg.): Betriebliche Sozial- und Personalpolitik. Neue Herausforderungen durch veränderte Rahmenbedingungen (Schriften des Zentrums für Sozialpolitik 9). Frankfurt a. M. 1999, S. 41–53, hier 42. 111 Karl Feuerstein: Betriebliche Sozialleistungen auf dem Prüfstand. Veränderungen unter dem Druck von Rezession und verschärfter Wettbewerbssituation, in: Eduard Gaugler / Günther Wiese (Hg.): Gegenwartsprobleme und Zukunftsperspektiven betrieblicher Sozialleistungen. Baden-Baden 1996, S. 43–58. 112 Wall Street Journal Europe, 8.6.2001, zitiert aus: Ulrich Jürgens: Corporate Governance, Innovation, and Economic Performance – A Case Study on Volkswagen. Berlin 2002, S. 15.

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4. WERBUNG FÜR DIE EIGENE SACHE ODER RECHENSCHAFT GEGENÜBER DER GESELLSCHAFT? DIE ROLLE VON SOZIALBILANZEN ALS UNTERNEHMERISCHE PUBLIKATIONSOFFENSIVE IN DEN 1970ER JAHREN (STEPHANIE HAGEMANN-WILHOLT) I. Die 1970er Jahre als Dekade der Herausforderungen In der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Forschung wird den 1970er Jahren ein ambivalenter Charakter zugeschrieben. Auf der einen Seite verzeichnete die Dekade eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, die sich seit den späten 1960er Jahren forttrug und mehr Freiheiten verhieß: das Bildungssystem öffnete sich; Frauen erhielten ein höheres Maß an Selbstbestimmung; die fortschreitende Säkularisierung räumte mit überkommenen Traditionen auf. Der erste sozialdemokratische Kanzler der Nachkriegszeit erklärte zu Beginn seiner Amtszeit im Herbst 1969 Egalisierung, Emanzipation und Partizipation zu den zentralen Zielen seiner Regierungspolitik und läutete damit das „sozialdemokratische Jahrzehnt“113 ein. Erhöhte Sozialausgaben, ein restriktiverer Umweltschutz und humanere Arbeitsbedingungen sollten für einen Anstieg der Lebensqualität auf breiter Ebene sorgen. Auf der anderen Seite gelten die 1970er Jahre als Dekade der „kleinen Weltwirtschaftskrise“114: Eingerahmt von den zwei Ölkrisen zeigten sich die Auswirkungen des industriellen Strukturwandels mit einer sprunghaft ansteigenden Arbeitslosenquote, die die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Umweltprobleme als Folgen wirtschaftlichen Wachstums und industrieller Produktion gerieten stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit, und wachsende Protestbewegungen zweifelten an der Legitimationsgrundlage von Atompolitik, NATO-Doppelbeschluss und Radikalenerlass. Unternehmen bewegten sich in einem komplexen Feld divergierender gesellschaftlicher Ansprüche, die Auswirkungen auf ihre Positionierung im gesellschaftlichen Gefüge hatten.115 113 Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Übersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982 (Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945 3). Bonn 2011. 114 Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart (Beck’sche Reihe 1587). 2., überarb. u. erw. Aufl., München 2011, S. 392–396. 115 Vgl. Knud Andresen u. a. (Hg.): ‚Nach dem Strukturbruch?‘ Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren (AdsD Politik- u. Gesellschaftsgeschichte 89). Bonn 2011; Bernhard Dietz u. a. (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren (Wertewandel im 20. Jahrhundert 1). München 2014; Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008; Thomas Raithel u. a. (Hg.): Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer). München 2009; Ders. / Thomas Schlemmer (Hg.): Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im sozialpolitischen Kontext 1973 bis 1989 (Zeitgeschichte im Gespräch 5). München 2009; Morten Reitmayer / Ruth Rosenberger (Hg.): Unternehmen am Ende des ‚goldenen Zeitalters‘. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 16). Essen 2008;

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II. Sozialbilanzen: Eine Strategie, den Imageproblemen zu begegnen „Wir verkaufen uns selbst am schlechtesten“116, titelte das Magazin Spiegel im Dezember 1973 und zitierte damit den frisch gewählten BDA-Präsidenten Hanns Martin Schleyer. Schleyer forderte Unternehmen auf, ihrem schlechten Image in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken und auf ihre wohlfahrtsmehrende Funktion in der Gesellschaft aufmerksam zu machen.117 Die BDA selbst verabschiedete 1975 ein Grundsatzprogramm, das auf die Kernthemen öffentlicher, medialer und gewerkschaftlicher Kritik antworten und die sozialpolitische Position der Vereinigung und ihrer Mitglieder formulieren sollte: zur Sozialpflichtigkeit des Eigentums, zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen, zum Wachstumsparadigma und Demokratieverständnis, zur Arbeitsmarktlage und zur sozialen Sicherung.118 Der Sorge um ihr Image in der Öffentlichkeit begegneten Unternehmen seit den frühen 1970er Jahren aber auch mit eigener Initiative: 1972 veröffentlichte die Essener Steinkohlen-Elektrizität AG (STEAG) als erstes Unternehmen in Deutschland einen Sozialbericht unter dem Titel „Sozialbilanz“, der sich nicht mehr nur an die Beschäftigten, sondern an eine erweiterte Öffentlichkeit richten sollte.119 Ihr folgten zahlreiche Unternehmen nach. Im Unterschied zu den tradierten Sozialberichten früherer Dekaden war es das erklärte Ziel von Sozialbilanzen, den sozialen Nutzen von Unternehmensaktivitäten im Hinblick auf die Mitarbeiter, die Umwelt und die Gesellschaft quantitativ darzulegen. Das Konzept firmierte bereits seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in den USA unter dem Begriff des social accounting. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die sich in den USA selbst mit Konzepten des social accounting beschäftigt hatten, propagierten diese seit Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik. Den größten Einfluss in der wissenschaftlichen Diskussion, die auch von Unternehmens-, Unternehmensverbands- und Gewerkschaftsvertretern ebenso wie von Juristen verfolgt wurde, hatte Meinolf Dierkes. Der Sozialwissenschaftler wurde Berater eines Arbeitskreises aus Unternehmen (Arbeitskreis Sozialbilanz-Praxis), die nach geeigneten Konzepten zur Umsetzung von Sozialbilanzen suchten und durch ihre gemeinsame Arbeit einen Standard für die Sozialberichterstattung der 1970er Jahre in Deutschland setzten. Zu diesen Pionierunternehmen im Arbeitskreis zählte auch die Deutsche Shell. Am Beispiel von Shell soll im Folgenden die Veränderung der Sozialberichterstattung von Unternehmen seit den 1970er Jahren skizziert werden. Die zugrundeliegende Annahme ist, dass die unternehmerische Sozialberichterstattung in dieser Zeit eine neue Qualität gewann, die bis in die heutige gesellschaftsbezogene Bericht-

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Tim Schanetzky: Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 17). Berlin 2007. Erich Böhme / Werner Funk: „Wir verkaufen uns selbst am schlechtesten“. Arbeitgeberpräsident und Daimler-Vorstand Hanns Martin Schleyer über Unternehmertum und Konjunktur, in: Der Spiegel 27 (1973), Nr. 50, S. 63–66. Ebd. Vgl. BDA (Hg.): Fortschritt aus Idee und Leistung. Erklärung zu gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen. Köln 1975. Vgl. STEAG Sozialbilanz 1971/72.

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erstattung nachwirkt und aus den soziopolitischen Herausforderungen der Dekade hervorgegangen ist. Die Sozialberichterstattung fungiert dabei als Spiegel einer sich verändernden Sozial- und Kommunikationspolitik von Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern und der Gesellschaft.120 III. Die Sozialberichterstattung der Deutschen Shell Die Deutsche Shell veröffentlichte für das Geschäftsjahr 1975 erstmalig eine Sozialbilanz und integrierte diese als erstes Unternehmen in der Bundesrepublik in den Geschäftsbericht. Das Hamburger Tochterunternehmen der niederländisch-britischen Royal Dutch / Shell hatte Dierkes als wissenschaftlichen Berater in das Unternehmen geholt, um es in der Konzipierung eines eigenen Sozialbilanzansatzes zu unterstützen.121 Über ihre sozialen Leistungen zu berichten, war für die Deutsche Shell nicht grundsätzlich neu: Bereits Mitte der 1930er Jahre veröffentlichte ihre Vorgängerin Rhenania-Ossag Sozialberichte – tat dies allerdings vor allem auf politischen Druck hin. So forderte die DAF die Veröffentlichung von Sozialberichten, in denen beispielsweise Daten zur Mitarbeiterstruktur und zur Summe der Sozialausgaben enthalten sein sollten.122 In den 1950er und 1960er Jahren dokumentierte die 1947 gegründete Deutsche Shell ihre mitarbeiterbezogenen und philanthropischen Leistungen innerhalb der Geschäftsberichte. Dies umfasste sowohl quantitative Daten als auch Sozialaufwendungen, Mitarbeiterzahlen sowie eine qualitative Berichterstattung über die Leistungen an die Mitarbeiter und die Gesellschaft wie beispielsweise die Verkehrserziehung für Schüler. War die Sozialberichterstattung in den Geschäftsberichten der 1950er Jahre jedoch noch von Inhalten wie dem unternehmerisch geförderten Wohnungsbau oder Ferienfahrten für die Beschäftigten und deren Angehörige bestimmt, so wurden in den 1960er Jahren erstmals vereinzelt die Rolle von Shell in der Gesellschaft und das Verhältnis zwischen Beschäftigten und Unternehmen reflektiert. Die Ausbildung und Förderung des akademischen Nachwuchses im Unterneh120 Vgl. Ariane Berthoin Antal u. a.: Zur Zukunft der Wirtschaft in der Gesellschaft. Sozial verantwortliche Unternehmensführung als Experimentierfeld, in: Jürgen Kocka (Hg.): Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays (WZB-Jahrbuch 2006). Berlin 2007, S. 267–290; Meinolf Dierkes: Die Sozialbilanz. Ein gesellschaftsbezogenes Informations- und Rechnungssystem. Frankfurt a. M. / New York 1974; Manfred Moldaschl: Audit Explosion and Controlling Revolution: Zur Verstetigung und Verselbständigung reflexiver Praktiken in der Wirtschaft, in: Soziale Welt 56 (2005), S. 267–294; Elmar Pieroth (Hg.): Sozialbilanzen in der Bundesrepublik Deutschland. Ansätze – Entwicklungen – Beispiele (Mensch und Kapital 3). Düsseldorf/Wien 1978. 121 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsbericht/Sozialbilanz 1975; Volker Hoffmann: Die Sozialbilanz als Motor der Veränderung. Reflexionen über die gesellschaftsbezogene Rechnungslegung, in: Ariane Berthoin Antal / Camilla Krebsbach-Gnath (Hg.): Wo wären wir ohne die Verrückten? Zur Rolle von Außenseitern in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Meinolf Dierkes zum 60. Geburtstag. Berlin 2001, S. 205–218. 122 Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln (im Folgenden: RWWA) 121-135-5: DAF Betriebs-Information. Sonderausgabe „Der Sozialbericht“ (1940); Rhenania-Ossag Sozialberichte 1935/36–1939.

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men wurde ebenso thematisiert wie Führungstechniken, der Einsatz sozialwissenschaftlicher Methoden in der Personalführung und Frauen als Beschäftigte.123 Doch erst mit Beginn der 1970er Jahre nahm der Anteil dieser mitarbeiter- und gesellschaftsbezogenen Berichterstattung signifikant zu: Lag er 1969 noch bei 0,87 Prozent am Geschäftsbericht, so stieg er im Jahr darauf auf 6,52 Prozent. Im Geschäftsbericht 1975, dem ersten, der unter der Mitwirkung von Dierkes entstanden war, wuchs der Anteil auf 14,9 Prozent an und erreichte 1976 schließlich seinen Höhepunkt mit 23,6 Prozent. Die Umweltberichterstattung der Deutschen Shell setzte überhaupt erst mit dem Jahr 1969 ein und verzeichnete Mitte der 1970er Jahre ebenfalls einen merklichen Anstieg, gewann vor allem aber in den 1990er Jahren deutlich an Gewicht.124 Mit der quantitativen Zunahme der Sozial- und Umweltberichterstattung ging auch die inhaltliche Ausdifferenzierung der Berichtsthemen einher. Hierin spiegelten sich die Herausforderungen, mit denen sich das Unternehmen seit den 1960er Jahren zunehmend konfrontiert sah und auf die es durch seine gesellschaftsbezogene Berichterstattung zu reagieren versuchte. Viele dieser Herausforderungen betrafen die Deutsche Shell als Tochterunternehmen eines multinationalen Konzerns, einige resultierten aus den spezifischen soziopolitischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik. Neben der erhöhten Aufmerksamkeit für Belange des Umweltschutzes, auf deren Problematik für Shell an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll, sorgte die erste Ölpreiskrise von 1973/74 für ein Krisenszenario unter den Ölunternehmen wie unter den Verbrauchern. Zunehmend machte die Deutsche Shell in ihrer Berichterstattung auf ihre Rolle als Energieversorger aufmerksam und betonte den wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert, den sie durch ihre umsichtige Geschäftstätigkeit damit innehabe. Die Berichterstattung sollte erstens der Kritik an der Marktmacht multinationaler Konzerne entgegenwirken, zweitens zur Rechtfertigung der hohen Mineralölpreise dienen und stellte drittens die wieder zunehmende staatliche Subventionierung des Kohlesektors ebenso in Frage wie die strikte gesetzliche Regulierung der Ölbevorratung. Die Verbraucher rückten nun stärker in den Fokus der Berichterstattung, und Shell nutzte die Publikationen, um die Ergebnisse von Marktforschungsumfragen über die Kundenzufriedenheit zu veröffentlichen. Hier schlug sich die wachsende Bedeutung der Verbraucher als meinungstragende Anspruchsgruppe nieder, deren Rechte durch eine zunehmende Regulierung des Verbraucherschutzes in den 1970er Jahren gestärkt worden waren.125 Auch die sozialdemokratischen Reformthemen der 1970er Jahre – bessere Chancen für Frauen und Menschen mit Behinderung im Beruf, Lohngerechtigkeit 123 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte 1951–1969; Rainer Karlsch / Raymond G. Stokes: Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974. München 2003, S. 253. 124 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1951–1999. 125 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1970–1983; Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft, Verbraucherschutz und Soziale Marktwirtschaft. Verbraucherpolitische Aspekte des „Modells Deutschland“ (1947–1975), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2006/1, S. 13–28; Karlsch/Stokes: Faktor Öl (wie Anm. 123), S. 366 f.; Keetie Sluyterman: Keeping Competitive in Turbulent Markets, 1973–2007. A History of Royal Dutch Shell, Vol. 3. Oxford 2007, S. 19–53 u. 84–93.

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und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen – spiegelten sich deutlich in den Sozialbilanzen der Deutschen Shell wider. Zwar berichtete die Shell weiter über traditionelle Sozialleistungen wie die Mitarbeiterverpflegung oder die Altersversorgung, aber sie weitete sie auch um aktuelle politische Themen aus. Quantitative Angaben zur Personalstruktur wurden differenzierter und um Grafiken und Tabellen ergänzt. Auch in der qualitativen Berichterstattung etablierten sich neue Themen. Es wurde nun über Fördermöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer, für Menschen mit Behinderung und über die Karriereförderung für Frauen geschrieben. Die Auswahl dieser Themen resultierte gleichermaßen aus dem gesellschaftlichen Druck, der von nationalen wie internationalen Debatten um die Diskriminierung im Arbeitsleben dieser Beschäftigtengruppen ausging.126 Der Einfluss des Programms zur Humanisierung der Arbeitswelt schlug sich in der Berichterstattung über Maßnahmen zur geeigneten Arbeitsplatzauswahl, -gestaltung und -verbesserung nieder. In den Sozialbilanzen wurden Mitarbeiter- und Arbeitsplatzbewertungssysteme als objektive Instrumente zur Auswahl von Beschäftigten und die Karriereplanung der Shell als Weg für den akademischen Führungsnachwuchs zum verantwortungsbewussten Manager gepriesen. Eine individuelle, leistungsabhängige Entlohnung, flexible Arbeitszeitregelungen, das Vorschlagswesen, der Abbau von Hierarchien und eine auf Transparenz gerichtete Informationspolitik würden die Motivation, Verantwortung und Identifikation der Mitarbeiter fördern. Ergonomische und arbeitsmedizinische Maßnahmen trügen zur Reduzierung von Unfällen und Krankheiten bei. Indikatoren wie Fluktuation, Krankenstand und Fehlzeiten sollten das Betriebsklima in der Sozialberichterstattung ebenso abbilden wie die Ergebnisse von Mitarbeiterbefragungen. Der Unterschied zur Darstellung solcher Maßnahmen zur Förderung der Mitarbeitermotivation gegenüber der Sozialberichterstattung früherer Dekaden lag vor allem darin, dass auf die individuelle Förderung des einzelnen Mitarbeiters und zugleich auf dessen Eigenverantwortung verwiesen wurde. Denn letztlich sollten sich die Mitarbeiter – so die Intention – als „Kommunikationsmittler zwischen Shell und der Öffentlichkeit“127 verstehen. Ohne deren Identifikation mit dem Unternehmen sei dieses Ziel nicht zu erreichen.128 Zwar berichtete die Deutsche Shell bereits seit den 1950er Jahren wie auch schon ihre Vorgängerin Rhenania-Ossag in den 1930er und 1940er Jahren über ihre Beziehungen zur Öffentlichkeit, indem beispielsweise Spendenleistungen oder die von ihr seit 1949 betriebenen Verkehrserziehungsschulen in den Geschäfts- und Sozialberichten Erwähnung fanden. Das Themenspektrum zur Abbildung der Beziehung zwischen Shell und der Gesellschaft wurde in den 1970er Jahren jedoch deutlich erweitert: Nun ging es darum, die Interessen von Staat, Bevölkerung, Jugend, 126 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1970–1980; Monika Mattes: Krisenverliererinnen? Frauen, Arbeit und das Ende des Booms, in: Andresen u. a. (Hg.): Strukturbruch (wie Anm. 115), S. 127–140; Wilfried Rudloff: Behinderte und Behindertenpolitik in der „Krise der Arbeitsgesellschaft“, in: Raithel u. a. (Hg.): Auf dem Weg (wie Anm. 115), S. 95– 106; Sluyterman: Keeping Competitive (wie Anm. 125), S. 256–260. 127 Deutsche Shell: Geschäftsbericht/Sozialbilanz 1977, S. 43. 128 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1975–1986.

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sozial schwachen und benachteiligten Gruppen, der Umwelt und das Interessengefüge aus Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft mit seinen Wechselwirkungen publizistisch einzubeziehen. Die Berücksichtigung der Informationsanforderungen aller Interessengruppen gelang allerdings nicht immer widerspruchsfrei. So versuchte sich Shell einerseits gegen Vorwürfe der Preistreiberei zu erwehren, beschrieb auf der anderen Seite aber „Bemühungen um die Erhöhung der Preise für Mineralölprodukte“129 als positiven Beitrag für die Kapitalgeber und Anteilseigner des Unternehmens.130 In Zusammenarbeit mit Dierkes entwickelte die Deutsche Shell ein Modell zur Abbildung all dieser Interessenlagen, deren Berücksichtigung als Ziel der Unternehmenspolitik formuliert wurde und die maßgeblich die inhaltliche Gestaltung der Sozialberichterstattung bestimmten. Fünf zentrale Unternehmensziele, aus denen sich Teilziele ableiten ließen, sollten in Zukunft den Handlungsrahmen für die Unternehmenspolitik der Deutschen Shell bilden: (1) die langfristige Unternehmenssicherung, (2) die Erwirtschaftung einer angemessenen Rendite, (3) die marktgerechte Versorgung der Verbraucher, (4) die Berücksichtigung der Mitarbeiterinteressen und (5) die Beachtung der Belange des Gemeinwesens. Mit der Veröffentlichung dieses Modells definierte das Unternehmen erstmals seine Stakeholder und deren Forderungen. Auch die Kapitalgeber wurden zum ersten Mal in Geschäftsbericht und Sozialbilanz von 1975 als Anspruchsgruppe des Unternehmens identifiziert, obwohl sie schon von jeher die eigentlichen Adressaten der Geschäftsberichte waren. Der Anspruch an die Aufnahme der Ziele in die Berichterstattung war es, sich an den formulierten Zielen und deren erfolgreicher Umsetzung messen zu lassen und damit die Kontrolle über die Unternehmenspolitik auch in die Hände der Stakeholder des Unternehmens zu legen. Shell folgte damit dem von Dierkes entworfenen Modell des goal accounting-Ansatzes, der mehr Transparenz über die Unternehmenspolitik herstellen sollte.131 Mit der kommunikativen Öffnung versprach sich die Deutsche Shell, die Schwierigkeiten offenzulegen, die aus den divergierenden Ansprüchen der Stakeholder entstehen konnten. Letztlich versuchte sie damit, der wachsenden Kritik an der eigenen Unternehmenspolitik entgegenzuwirken, die seit den 1960er Jahren immer mehr zugenommen hatte: Striktere Umweltschutzauflagen schränkten den Handlungsfreiraum von Industrieunternehmen zunehmend ein; die Kritik an multinationalen Unternehmen, die Gewinne und Arbeitsplätze verschieben würden, manifestierte sich durch den Wunsch, Verhaltenskodizes für diese Unternehmen zu entwickeln – Bestrebungen hierzu gab es von der UN, der ILO und der OECD132 – 129 Deutsche Shell: Geschäftsbericht/Sozialbilanz 1977, S. 14. 130 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1951–1980; Rhenania-Ossag Sozialberichte 1935/36–1939. 131 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsbericht/Sozialbilanz 1975, S. 10, 1977, S. 12; Dierkes: Sozialbilanz (wie Anm. 120), S. 122–127; Johannes C. Welbergen: Unternehmensziele und Sozialbilanz, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 48 (1978), S. 610–616. 132 BDA Bibliothek Rundschreiben, Abt. IX (Europapolitik): Protokolle des Gesprächskreises Multinationale Unternehmen (1972–1979); ebd.: ILO, Report of the Meeting on the Relationship between Multinational Corporations and Social Policy (Oktober/November 1972); OECD (Hg.): International Investment and Multinational Enterprises. Declaration by the Governments

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und erforderte von Unternehmen wiederum eine Rechtfertigung der Erwirtschaftung von Gewinnen; der Suche nach qualifiziertem akademischem Nachwuchs stand aus Sicht der Arbeitgeberverbände eine sich radikalisierende Generation von jungen Akademikern gegenüber; die partnerschaftliche Beziehung zwischen Arbeitgeberund Arbeitnehmerseite in der Bundesrepublik war den Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung gewichen.133 Die Sozialberichterstattung der 1970er Jahre legte den Grundstein für die weitere Entwicklung der gesellschaftsbezogenen Berichterstattung des Unternehmens. In den 1990er Jahren professionalisierte die Deutsche Shell insbesondere ihre Umweltberichterstattung. Auch hier ließ sie sich wissenschaftlich beraten: Die Berichte entstanden in Kooperation mit dem IFEU-Institut in Heidelberg. Parallel dazu bemühte sich der Mutterkonzern Royal Dutch / Shell um eine Weiterentwicklung der sozial- und umweltbezogenen Berichterstattung, die für den Gesamtkonzern zu Beginn des neuen Jahrtausends vereinheitlicht wurde. In Deutschland schlug der Fall der Brent Spar134 hohe Wellen, und die Deutsche Shell versuchte mit einer reumütigen Imagekampagne Schaden vom Unternehmen abzuwenden. Aber auch für den internationalen Konzern bedeutete die Berichterstattung um die Brent Spar und kurz darauf über die ökologische Katastrophe im Nigerdelta durch anhaltende Ölverschmutzung seit den 1950er Jahren im Zusammenhang mit der Hinrichtung des nigerianischen Aktivisten Ken Saro-Wiwa einen Imageverlust. So suchte auch Royal Dutch / Shell nach einem Weg aus der Kommunikationskrise mit der Öffentlichkeit und erstellte gemeinsam mit dem Londoner Thinktank Sustainability ein Konzept für eine Nachhaltigkeitsberichterstattung, die mehr Glaubwürdigkeit besitzen sollte.135 of OECD Member Countries and Decisions of the OECD Council on Guidelines for Multinational Enterprises, National Treatment, International Investment, Consultation Procedures. Paris 1976. 133 Vgl. Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 114), S. 387 f.; Hermann Josef Abs: Gewinn ist gut, aber nicht alles. Das Selbstverständnis des Unternehmens heute, in: Handelsblatt (16./17.2.1973), S. 26; Volker R. Berghahn: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik (Neue historische Bibliothek 265). Frankfurt a. M. 1985, S. 312–321; Werner Bührer: „… insofern steckt in jedem echten Unternehmer auch ein künstlerisches Element“. Die Erneuerung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren, in: Reitmayer/ Rosenberger (Hg.): Unternehmen am Ende (wie Anm. 115), S. 233–248, hier 240; Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1970–1980; Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt. München 2000, S. 306–313. 134 Die seit den 1970er Jahren und bis 1991 von Shell UK und Esso UK gemeinsam vor der britischen Küste betriebene Ölplattform Brent Spar sollte 1995 im Meer versenkt werden. Mitglieder der Umweltorganisation Greenpeace enterten die Plattform im Frühjahr 1995. Die Kampagne sorgte weltweit für Aufsehen, führte zu Kaufboykotten in Deutschland und fügte Shell einen erheblichen Imageschaden zu. 135 Vgl. Deutsche Shell: Geschäftsberichte/Sozialbilanzen 1980–1989, Geschäftsberichte 1989– 1999, Umweltberichte 1997, 1998; Shell Report 1998–2000; Sluyterman: Keeping Competitive (wie Anm. 125), S. 172 f., 223–238; Christian Stadler: Unternehmenskultur bei Royal Dutch / Shell, Siemens und DaimlerChrysler (Beiträge zur Unternehmensgeschichte 18). Stuttgart 2004, S. 143–170, 258–268; Anna-Katharina Wöbse: Die Brent-Spar-Kampagne. Plattform für diverse Wahrheiten, in: Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme (Historische Mitteilungen, Beiheft 57). Stuttgart 2004, S. 139–160.

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Durch die Analyse der Berichterstattung der Deutschen Shell in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich eine deutliche Veränderung für die Zeit nach 1970: Das Unternehmen reagierte nun auf Legitimationsanforderungen von außen und versuchte, mit einer erweiterten Berichterstattung Informationsbedürfnisse jenseits ökonomischer und staatlicher Interessen zu erfüllen. Das Unternehmen positionierte sich damit als gesellschaftlicher Akteur im Interessengefüge seiner Stakeholder und verfolgt – inzwischen durch das Corporate Social Responsibility Reporting des Mutterkonzerns – diese Strategie bis in die Gegenwart.136 FAZIT (AUTORENGEMEINSCHAFT) Um den gemeinsamen Mehrwert der Studien herauszustellen, werden nun die einzelnen Ergebnisse gebündelt vorgestellt. Diese orientieren sich an der Reihenfolge der Beiträge und fokussieren inhaltlich die Fragen nach Formen der Sozialpolitik sowie Brüchen, nach den Akteuren und den Motiven betrieblicher Sozialpolitik nach 1945. Bei der Frage nach den Motiven betrieblicher Arbeitsschutzmaßnahmen konnte Nina Kleinöder zeigen, dass vor allem die Kostendebatte eine innerbetriebliche Triebkraft auch über die Zäsur von 1945 hinweg war. Über die öffentliche Arbeitsschutzpolitik hinaus wurde so auch ein betriebliches, freiwilliges Engagement belegt. Zugleich muss der Blick auf ein gesteigertes gesellschaftlich-politisches Anspruchsdenken im Kontext von Humanisierung und Arbeitsgestaltung seit den späten 1960er Jahren geweitet werden: Die Unternehmen traten erneut als proaktive Akteure auf. Dieses Mal versuchten sie jedoch, die neuen externen, legislativen Eingriffe frühzeitig im eigenen Interesse strategisch zu nutzen und so den weiteren Regulierungsprozess im Arbeitsschutz selbst mitzugestalten. Dies ist durchaus anschlussfähig an „klassische“ Modelle der betrieblichen Sozialpolitik; so wurde hier – im Sinne Thomas Welskopps – versucht, die „Handlungsautonomie“137 über eine strategische Einflussnahme zu wahren. Trotz zunehmender staatlicher Regulierung handelte es sich also keineswegs um eine einfache „top-down-Beziehung“, vielmehr muss deutlicher zwischen tatsächlichen äußeren Zwängen und innerbetrieblichen Triebkräften differenziert werden. Auch das Beispiel der Wohnungsbaupolitik beim Volkswagenwerk und bei Automobiles Peugeot von Ute Engelen hat gezeigt, dass „klassische“ Maßnahmen betrieblicher Sozialpolitik sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in modifizierter Form in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgeführt und weiterhin als notwendig zur Rekrutierung und als Instrument zur Eindämmung der Fluktuation erachtet wurden. Doch die zu betrachtende Akteursebene gewann deutlich an Komplexität. Hierzu zählten Wohnungsbaugesellschaften, die zumeist von den Automobilherstellern dominiert wurden, und später zunehmend gemischtwirtschaftliche Gesellschaften. Staatliche Stellen nahmen auch indirekt über Kredite, Steuerrege136 Vgl. Shell Report 1998–2013. 137 Welskopp: Betriebliche Sozialpolitik (wie Anm. 2), S. 364.

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lungen und die hiermit verbundenen Vorgaben Einfluss auf die betriebliche Sozialpolitik. Insbesondere waren die Betriebsräte und damit in beiden Unternehmen Gewerkschaften in die Wohnungsvergabe, teilweise auch in die Festlegung der Wohnungskonditionen und -planungen involviert. Die Beschäftigten selbst rückten durch die Eigenheimförderung als handelnde Akteure ins Zentrum der Wohnungspolitik. Insgesamt fand ein Demokratisierungsprozess der betrieblichen Sozialpolitik nach 1945 statt, der sowohl gesellschaftlich als auch – nicht zuletzt aus Kostengründen – betrieblich gewollt war. Er wird erkennbar in einer Professionalisierung und einer verstärkten Zugänglichkeit bzw. Berechenbarkeit der Sozialleistungen. So wurden statt eigener zunehmend externe Leistungen unterstützt, der Empfängerkreis ausgeweitet und die einzelnen Leistungen erhöht. Darüber hinaus erhielten vor allem die Beschäftigten durch Diversifizierung, Monetarisierung und Individualisierung wachsende Einflussmöglichkeiten. Wie Rüdiger Gerlach herausgestellt hat, trug dabei auch der Staat mit der Stärkung der Arbeitnehmervertreter und der Verrechtlichung betrieblicher Sozialleistungen wesentlich zum Wandel der traditionellen betrieblichen Sozialpolitik bei, die er in der Wirtschaftswunderzeit noch – überwiegend aus volkswirtschaftlichen Gründen – steuerlich gefördert hatte. Seit Mitte der 1960er Jahre erschienen den staatlichen Akteuren die sozialen Praktiken in den Betrieben immer weniger mit dem Sozialstaatsgedanken und den veränderten ökonomischen Bedingungen vereinbar. Mit der verstärkten gesetzlichen und tariflichen Regulierung der ehemals freiwilligen betrieblichen Sozialleistungen wurden die sozialen Errungenschaften der Wirtschaftswunderzeit abgesichert, weiter ausgebaut und stärker nach wohlfahrtsstaatlichen Gesichtspunkten umgestaltet, wie das Beispiel der betrieblichen Altersversorgung zeigt. Mittelfristig trugen solche sozialen Zugeständnisse zum Interessenausgleich zwischen den Sozialpartnern und zur relativ konfliktfreien Modernisierung der deutschen Wirtschaft bei. Die Einschränkung der unternehmerischen Autonomie in sozialen Fragen führte jedoch auch dazu, dass sich die Betriebsleitungen aus der aktiven Gestaltung dieses Feldes zurückzogen, neue soziale Verpflichtungen mieden und versuchten, den Anstieg der sozialen Kosten zu reduzieren. Die staatlich und gewerkschaftlich gesteuerte betriebliche Sozialpolitik verlor in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund neuer ökonomischer Krisen, veränderter betriebswirtschaftlicher Leitlinien und wirtschaftlicher Strukturveränderungen an Bedeutung. Wie Stephanie Hagemann-Wilholt ergänzt hat, sind daher gerade auch Sozialberichte als Spiegel ihrer jeweiligen Zeit zu verstehen, die das Verhältnis von Unternehmen zu ihren Mitarbeitern und ihrer Umwelt reflektieren. So zeigten sich in den 1970er Jahren auch hier erstens Tendenzen zu einer veränderten Wahrnehmung der Mitarbeiter als Individuen, denen mehr Eigenverantwortung zugeschrieben wurde, und zweitens spielte nun die natürliche Umwelt als schützenswertes Gut eine Rolle in der Kommunikation von Unternehmen. Die Ausweitung der unternehmerischen Berichterstattung begegnete den gestiegenen Anforderungen, die von außen an die Unternehmen gestellt wurden. Sie war damit durch äußeren Zwang motiviert und diente zur Legitimation des unternehmerischen Handelns. Es ging nicht mehr nur darum, die sozialen Leistungen als solche

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zu präsentieren, sondern die Position des Unternehmens in der Gesellschaft und im Interessengefüge der gewachsenen Anspruchsgruppen zu definieren. Indem Unternehmen ihre Leistungen für Mitarbeiter, den Umweltschutz und die Gesellschaft dokumentierten, versuchten sie aber eben auch, weitere staatliche und überstaatliche Regulierungsversuche zu unterbinden. Inwiefern zeigten sich in den Beispielen aus der Sozialpolitik nach 1945 Brüche und Zäsuren? Die ökonomischen Krisen zwischen 1966 und 1975 stießen eine verstärkte Diskussion über die Zukunft der betrieblichen Sozialleistungen an, auch mit Blick auf die immer wichtigere internationale Wettbewerbsfähigkeit. So können die Ergebnisse der hier vorgestellten Forschungsprojekte also durchaus als ein Beitrag zur aktuellen „Strukturbruchdebatte“ verstanden werden.138 Einerseits stand die Finanzierung der sozialen Errungenschaften der Wirtschaftswunderzeit in Frage, andererseits sollte die betriebliche Sozialpolitik auch neuen sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Strukturelle und situative Aspekte wie die geographische Lage der Betriebe bzw. ihre aktuelle Wirtschaftssituation spielten eine wichtige Rolle für die betriebliche Sozialpolitik. Auch die Unternehmensgröße – bei allen betrachteten Fallbeispielen handelt es sich um industrielle Großunternehmen – und ihr daran geknüpfter finanzieller Rahmen, der Organisationsgrad und die Reichweite (Zahl der Mitarbeiter) sowie nicht zuletzt die Branche müssen berücksichtigt werden. Entscheidende Impulse für den Wandel gingen von der Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen, dem größeren Einfluss von Gewerkschaften, dem Gestaltungsanspruch des Staates in sozialen Fragen, der wachsenden Bedeutung der öffentlichen Meinung sowie dem größeren Gewicht von Expertenwissen aus. Neben die bis dahin in sozialen Fragen relativ autark agierenden Unternehmer traten nun zunehmend andere Stakeholder der Betriebe wie die Beschäftigten selbst, Sozialpartner, Kunden, Staat und Gemeinden und Experten als handelnde Akteure auf. So zeichnete sich ein deutlicher Wandel der Sozialpolitik vom Gegenstand der Unternehmenspolitik zur Verhandlungsmasse im gesellschaftlichen Interessenausgleich ab. Mit wachsendem staatlichem Interesse und der zunehmenden Sozialpflichtigkeit mussten sich die Unternehmen seit den 1960er Jahren neu positionieren. Zugleich haben die unterschiedlichen Beispiele aber auch gezeigt, dass es nötig ist, genau zu differenzieren, aus welchen Bereichen sich die Unternehmen in der Folge zurückzogen, oder ob sie vielmehr versuchten, diese weiterhin vor Eingriffen zu schützen oder zumindest die Ergebnisse dieser Eingriffe zu beeinflussen. In Anerkennung der gestiegenen Komplexität der Thematik gilt es dabei auch, betriebliche Maßnahmen über die reine Sozialleistung hinaus zu berücksichtigen. Nicht allein eine andere Form zusätzlichen Arbeitsentgeltes, sondern umfassende Ansprüche einer attraktiven, sicheren, gesunden, umweltschonenden und gestaltbaren Arbeitsumgebung müssen in die „Sozialbilanz“ der Unternehmen nach 1945 einbezogen werden. 138 Vgl. dazu mit Blick auf die Arbeitswelt u. a. Andresen u. a. (Hg.): Strukturbruch (wie Anm. 115); Doering-Manteuffel/Raphael: Perspektiven (wie Anm. 115); Reitmayer/Rosenberger (Hg.): Unternehmen am Ende (wie Anm. 115).

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Auch die Bewertung macht eine deutlichere Schattierung zwischen Philanthropie, Ökonomisierung und Regulierung der betrieblichen Sozialpolitik nötig. Die Beiträge haben angedeutet, inwieweit ältere Konzepte betrieblicher Sozialpolitik daher um weitere Kategorien politischer Regulierung, gesellschaftlichen Anspruchsdenkens, einer (öffentlichen) Kostendebatte und Mitbestimmungsrechte insbesondere mit Blick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt werden müssen.

ROHSTOFFPOLITIK UND NEUE WELTWIRTSCHAFTSORDNUNG IN DEN 1970ER JAHREN Ole Sparenberg, Karlsruhe EINLEITUNG Am 19. November 1973 berichtete das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ über die Auswirkungen des ersten Ölpreisschocks sowie des arabischen Lieferboykotts und befürchtete zugleich analoge Entwicklungen bei anderen mineralischen Rohstoffen: „Ähnlich Fürchterliches ahnen westliche Bankiers inzwischen schon von anderen Rohstoff-Monopolisten wie etwa den Kupfer-Herren aus Sambia und den ZinnSchürfern in Malaysia.“1 Im März des folgenden Jahres äußerte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter der Überschrift „Ein Dutzend Rohstoffkartelle?“ dieselbe Sorge: „Die in der Opec zusammengeschlossenen Ölexportländer haben es mit Erfolg vorexerziert: Man braucht sich nur zu einem Kartell zusammenzuschließen, dann ist man nicht länger ein ‚Sklave des Marktes‘, des launenhaften Spiels von Angebot und Nachfrage, sondern kann der ganzen Welt den Preis diktieren, den man für seine Rohstoffe oder landwirtschaftlichen Produkte zu erzielen wünscht.“2 Hinter den beiden Zitaten steht die zu dieser Zeit weitverbreitete Erwartung einer Verschärfung der bereits krisenhaften Entwicklung auf den Rohstoffmärkten, die durch den Konflikt zwischen rohstoffproduzierenden Entwicklungsländern im globalen Süden und den westlichen Industrienationen als den Rohstoffkonsumenten geprägt war. Die bisher für die Industriestaaten günstige und von ihnen gestaltete Ordnung der Weltmärkte schien in ein Chaos abzurutschen bzw. einer anderen, von den Entwicklungsländern maßgeblich nach ihren Interessen und Vorstellungen geformten Struktur zu weichen. Gegenstand der folgenden Ausführungen sind die Entwicklung der Metallrohstoffmärkte und deren zeitgenössische Wahrnehmung aus der Perspektive der westlichen Industrienationen, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland. Kennzeichnend für die damaligen Diskussionen waren Begriffe wie „Rohstoffpolitik“ und

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O. A.: „Mit knappen Vorräten sorglos geaast“, in: Der Spiegel, 19.11.1973, S. 25–30, hier 29. Hans Jürgensen: Ein Dutzend Rohstoffkartelle?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.4.1974, S. 13.

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„Rohstoffsicherung“3, „commodity power“4 und „mineral crisis“5; bereits 1976 war rückblickend von einer „commodity scare“6 in den vorangegangenen Jahren die Rede. Bezogen auf die Erwartung weiterer Rohstoffkartelle oder Produzentenabkommen nach dem Muster der OPEC und die von den Entwicklungsländern eingeforderte Neue Weltwirtschaftsordnung (New International Economic Order / NIEO) bildete das Jahr 1974 einen Höhepunkt, insgesamt aber erstreckt sich der Betrachtungszeitraum von den späten 1960er bis in die frühen 1980er Jahre. Der Untersuchungsgegenstand fällt somit größtenteils in eine Zeit, die als „kleine Weltwirtschaftskrise“7 (Werner Abelshauser) oder Epoche „nach dem Boom“8 (Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael) beschrieben wurde. Im kollektiven Gedächtnis sind die Jahre 1973/74 und damit der Übergang von der Nachkriegsprosperität zu den krisenhaften 1970ern vor allem mit dem ersten Ölpreisschock verbunden.9 Während Hans-Ulrich Wehler ihn als wesentlichen Grund für das Ende des Booms sieht, relativieren Werner Abelshauser sowie Harm G. Schröter die Bedeutung des externen Schocks durch Energiepreise und heben stattdessen strukturelle Gründe wie den Niedergang des fordistischen Produktionsmusters hervor.10 In jedem Fall hat der Ölpreis im Rückblick die Erinnerung an die Entwicklungen auf anderen Rohstoffmärkten weitgehend verdrängt, die bereits früher einsetzten und in großen Teilen unabhängig vom Preis des Rohöls verliefen. Diese Entwicklungen und mögliche Auswirkungen weiterer Kartelle nach dem Muster der OPEC werden in der Literatur meist nur am Rande erwähnt.11 Eine Ausnahme bildet die Welternährungskrise von 1972–1975, die auf eine grundlegende Transformation des Weltgetreidemarktes

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Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 4.4.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1681, S. 1–3. O. A.: The New Commodity Rich, in: The Economist, 11.5.1974, S. 76. Robert H. Swansbrough: The Mineral Crisis and U. S. Interests in Latin America, in: The Journal of Politics 38 (1976), S. 2–24. Edward R. Fried: International Trade in Raw Materials: Myths and Realities, in: Science 191, 20.2.1976, S. 641–646, hier 642. Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart (Beck’sche Reihe 1587). 2. Aufl., München 2011, S. 392. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. 3., erg. Aufl., Göttingen 2012. Rüdiger Graf: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 103). Berlin/München/Boston 2014; Jens Hohensee: Der erste Ölpreisschock 1973/74. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (Historische Mitteilungen, Beiheft 17). Stuttgart 1996. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949– 1990. München 2008, S. 60–63; Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7), S. 366 f., 392; Harm G. Schröter: Von der Teilung zur Wiedervereinigung. 1945–2004, in: Michael North / Gerold Ambrosius (Hg.): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick. 2. Aufl., München 2005, S. 356–426, hier 389 f. Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 7), S. 366, 393.

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zurückging.12 Der Konflikt zwischen den rohstoffverbrauchenden Industriestaaten und den Rohstoffproduzenten unter den Entwicklungsländern ist außerhalb der Ölproblematik bisher vor allem als Teil der Geschichte der Vereinten Nationen sowie in seinem Einfluss auf die europäische Integration untersucht worden,13 zudem anhand der United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD).14 Bis Ende der 1970er Jahre zeichnete sich ab, dass die Befürchtungen der westlichen Industrienationen – und die Hoffnungen vieler Entwicklungsländer – nicht eintraten. Es kam zu keinen gravierenden Versorgungsunterbrechungen bei metallischen Rohstoffen; diese hatten sich somit für die Produzentenstaaten nicht als Hebel erwiesen, um den Industrienationen grundlegende wirtschaftliche und politische Zugeständnisse abzuringen. Dennoch – so die These dieses Aufsatzes – verdient die Rohstoffpolitik eine größere Aufmerksamkeit als ihr bisher im Schatten des Ölpreisschocks zuteilwurde, denn erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die gesicherte Rohstoffversorgung – und damit ein grundlegender Bereich der wirtschaftlichen Ordnung einer Industrienation – in Frage gestellt. Die Akteure verloren an Regelvertrauen sowie Handlungsfähigkeit und sahen sich zu einer Reihe letztlich unproduktiver Gegenmaßnahmen veranlasst. Der Rohstoffthematik dürfte daher eine höhere Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den 1970er Jahren zukommen als bisher angenommen. ROHSTOFFE VOR 1973/74 Eine mögliche Gefährdung der Rohstoffversorgung der westlichen Industrienationen und insbesondere der stark importabhängigen Bundesrepublik wurde nicht erst in den Jahren 1973/74 angesprochen. Ein kurzer Verweis auf die notwendige Vorratsbildung zur Rohstoffversorgung in Krisensituationen findet sich z. B. bereits in der Regierungserklärung Willy Brandts vom Oktober 1969.15 Die Bundesrepublik konnte ihre Rohstoffeinfuhren unter normalen Umständen durch ihre Exportkraft bei Industrieprodukten sicherstellen, aber politische Krisen konnten jederzeit die Importwege beeinträchtigen oder ganz versperren, wie ein Artikel des „Handelsblatts“ aus dem folgenden Monat hervorhob. Die bundesdeutsche Wirtschaft sei überdies kaum an Bergbauprojekten im Ausland beteiligt. Diese würden überwiegend von anglo-amerikanischen Firmen beherrscht, die bei Knappheit eher Kunden im eigenen Land statt der deutschen Industrie belieferten. Dieser Fall sei bei Nickel 12 Christian Gerlach: Die Welternährungskrise 1972–1975, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 546–585. 13 Mark Mazower: Die Welt regieren. Eine Idee und ihre Geschichte von 1815 bis heute. München 2013; Klaus Dieter Wolf: Die UNO. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. 2. Aufl., München 2010; Paul Kennedy: Parlament der Menschheit. Die Vereinten Nationen und der Weg zur Weltregierung. München 2007; Giuliano Garavini: After Empires. European Integration, Decolonization, and the Challenge from the Global South 1957–1986. Oxford 2012. 14 Sönke Kunkel: Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und „global governance“. Eine kurze Geschichte des Nord-Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), S. 555–577. 15 Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll vom 28.10.1969, 6. Wahlperiode, 5. Sitzung, S. 28.

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bereits gegeben.16 In der Tat war es in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu einer „Nickelkrise“ gekommen, die jedoch nicht auf politischen Effekten beruhte, sondern auf dem Unvermögen der Bergbauindustrie, mit der Nachfrage Schritt zu halten. Für die bundesdeutsche Wirtschaft ergab sich in dieser Situation ein Wettbewerbsnachteil, da sie nicht an Nickelgruben beteiligt war.17 Dennoch galt die Rohstoffversorgung der Bundesrepublik vor 1973 im Allgemeinen als gesichert. Die Vereinigten Staaten waren traditionell deutlich weniger auf Rohstoffimporte angewiesen, auch wenn die Einfuhren mit dem Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte zunahmen. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges begannen die USA mit dem Stockpiling Act von 1946 strategische Reserven wichtiger Rohstoffe anzulegen. Bereits 1960 stufte die Kennedy-Administration die Ziele jedoch herab, da man für die Zukunft mit weltweiten, aber kurzen, nuklearen oder mit konventionellen, regional begrenzten Konflikten rechnete. In beiden Fällen waren solche Vorratslager nicht erforderlich.18 Noch 1973 erwog die US-Regierung, die strategischen Reserven zur Inflationsbekämpfung drastisch abzubauen.19 Zugleich erhielt jedoch während der 1960er und frühen 1970er Jahre das Thema Rohstoffe verstärkte Aufmerksamkeit. Angesichts des Bevölkerungswachstums und Rohstoffverbrauchs der Nachkriegsjahrzehnte entstand ein neo-malthusianischer Diskurs, der auf die Begrenztheit der verfügbaren Nahrungsmittel und Rohstoffe verwies und für die nähere Zukunft ein Zeitalter von Mangel und Ressourcenkonflikten vorhersagte. Bis heute am bekanntesten ist der 1972 veröffentlichte erste Bericht an den Club of Rome „Limits to Growth“,20 aber hierzu zählen auch Veröffentlichungen wie Georg Borgstroms „The Hungry Planet“ (1965), Garret Hardins Aufsatz „The Tragedy of the Commons“ und Paul R. Ehrlichs „The Population Bomb“ (beide 1968), die alle ein wachsendes Missverhältnis zwischen der Größe der Weltbevölkerung und den auf der Erde verfügbaren Ressourcen feststellten.21 1974 prophezeite Ehrlich in „The End of Affluence“ auch für die Bürger westlicher Industrienationen ein „worldwide age of scarcity“ mit zunehmenden Ressourcenkonflikten und empfahl seinen Lesern, Überlebensvorräte im Haushalt anzulegen.22 Zwar wiesen besonnenere Stimmen darauf hin, dass mit einer Erschöpfung der geologischen Reserven 16

Werner Freyberg: Rohstoffversorgung für Deutschland muß langfristig gesichert werden, in: Handelsblatt, 21./22.11.1969, S. 29. 17 Bundesarchiv Koblenz (im Folgenden: BA) B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 11. 18 Karel Holbik: US-Reliance on Foreign Mineral Resources, in: Intereconomics 6 (1971), S. 375– 378. 19 Jürgensen: Rohstoffkartelle (wie Anm. 2), S. 13. 20 Donella H. Meadows u. a.: The Limits to Growth: A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. New York 1972; siehe auch: Patrick Kupper: „Weltuntergangsvision aus dem Computer“. Zur Geschichte der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, in: Frank Uekötter / Jens Hohensee (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme (Historische Mitteilungen, Beiheft 57). Stuttgart 2004, S. 98–111. 21 Georg Borgstrom: The Hungry Planet. The Modern World at the Age of Famine. New York u. a. 1965; Garret Hardin: The Tragedy of the Commons, in: Science 162, 13.12.1968, S. 1243– 1248; Paul R. Ehrlich: The Population Bomb. New York 1968. 22 Paul R. Ehrlich / Anne H. Ehrlich: The End of Affluence. A Blueprint for Your Future. New York 1974, S. 21, 242 f.

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nicht sobald zu rechnen sei,23 aber diese Fragen wurden gestellt und Vorhersagen wie die des Club of Rome beeinflussten die Vorstellungen der Zeitgenossen.24 Für die reale Entwicklung wurden jedoch politische Faktoren, nämlich die Beziehungen zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern, wichtiger als die physische Begrenztheit der Ressourcen. Der amerikanische Ökonom C. Fred Bergsten veröffentlichte im Sommer 1973 einen Artikel unter dem programmatischen Titel „The Threat from the Third World“, in dem er die wachsende Interdependenz zwischen den USA und den Entwicklungsländern als Verwundbarkeit für Erstere interpretierte. Hierbei spielte der Bereich der Rohstoffe, insbesondere der Erze, eine bedeutende Rolle, da die USA zunehmend auf Importe aus den Entwicklungsländern angewiesen waren und sich insofern Westeuropa und Japan anglichen. Erschwerend kam für Bergsten hinzu, dass bei vielen Ressourcen jeweils eine kleine Gruppe von Staaten einen dominierenden Anteil am Weltexportmarkt besaß. So entfielen laut Bergsten 80 Prozent der Kupferexporte auf nur vier Staaten, zwei Staaten kontrollierten über 70 Prozent des Zinnmarktes und vier Staaten besaßen mehr als 50 Prozent der Weltvorräte an Bauxit. Die Entwicklungsländer hätten daher eine bedeutende Marktmacht, die sie über Lieferstopps oder Preissteigerungen gegenüber den Industriestaaten insgesamt oder selektiv gegen einzelne wie die USA einsetzen könnten.25 Die Rohstoffpolitik war ein Teil des Nord-Süd-Konflikts zwischen Industriestaaten im globalen Norden und den Entwicklungsländern im Süden geworden. Dieser Konflikt, der Anfang der 1970er Jahre die Blockkonfrontation zwischen Ost und West in den Hintergrund zu drängen schien, entstand, als die wirtschaftliche Kluft zwischen den reichen Ländern der nördlichen Halbkugel und der überwiegenden Zahl der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sich in den Nachkriegsjahrzehnten nicht schloss, sondern noch weitete. Die Ursache hierfür sahen die Staaten des Südens in ihrer auch nach dem Ende der Kolonialreiche fortbestehenden ökonomischen Abhängigkeit, den ungünstigen Austauschrelationen zwischen den von ihnen produzierten Rohstoffen und den Industriewaren des Nordens sowie dem Protektionismus der entwickelten Länder.26

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Freyberg: Rohstoffversorgung (wie Anm. 16), S. 29; BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 15; Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1981, S. 2. 24 Fried: Trade (wie Anm. 6), S. 641. 25 C. Fred Bergsten: The Threat from the Third World, in: Foreign Policy 11 (Summer 1973), S. 102–124. Bergsten wurde auch in der deutschen Presse als Referenz für Rohstoffpolitik und Nord-Süd-Beziehungen rezipiert, vgl. Jürgensen: Rohstoffkartelle (wie Anm. 2), S. 13; o. A.: „Wir erzwingen die neue Ordnung“, in: Der Spiegel, 1.9.1975, S. 96–106, hier 101. 26 Kennedy: Parlament (wie Anm. 13), S. 149 f.; Rüdiger Graf: Between National and Human Security. Energy Security in the United States and Western Europe in the 1970s, in: Historical and Social Research 35 (2010), S. 329–348, hier 331 f.

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Bereits 1955 begannen sich die Entwicklungsländer auf der Konferenz von Bandung als politische Kraft zu organisieren. Die Vielzahl unabhängiger Staaten, die in den folgenden Jahren durch die Dekolonisation neu entstanden, veränderten die Staatengemeinschaft grundlegend, so dass die unterentwickelten Länder in den Vereinten Nationen nun eine Mehrheit besaßen. Dieser neue Einfluss zeigte sich in der Einberufung der ersten UNCTAD Konferenz 1964, auf der die seitdem zur „Gruppe der 77“ (G77) zusammengeschlossenen Entwicklungsländer eine umfassende Regulierung des Welthandels einforderten. Allerdings besaßen diese Staaten zunächst zwar eine numerische Stärke in internationalen Foren, aber keinen wirksamen Hebel zur Durchsetzung ihrer Forderungen.27 Einen Weg, auf dem mehrere Entwicklungsländer versuchten, Unabhängigkeit und Kontrolle über ihre Außenwirtschaft zu erlangen, bildete die Verstaatlichung von ausländischen Bergbauunternehmen. Die wichtigsten Kupferexportländer Zaire, Sambia, Chile und Peru nationalisierten zwischen 1966 und 1974 die Minen USamerikanischer, britischer und belgischer Bergbaukonzerne.28 Insgesamt verloren Rohstoffkonzerne aus den USA binnen weniger Jahre 75 Prozent ihrer Investitionen in den Entwicklungsländern.29 Die Verstaatlichungen waren nicht nur ein betriebswirtschaftliches Problem für die betroffenen Unternehmen, sondern gefährdeten auch die Stabilität der Rohstoffversorgung der Industriegesellschaften. Schon 1966 wäre die Schaffung neuer Produktionskapazitäten für Kupfer angesichts der hohen Nachfrage erforderlich gewesen, aber potentiellen Investoren fehlte bereits das notwendige Vertrauen in die Stabilität ihrer Verfügungsrechte in Sambia, Chile oder Zaire.30 Noch 1976 sah die deutsche Bundesregierung den Ausbau der Kapazitäten und damit die Versorgungssicherheit gefährdet, weil die politische und rechtliche Unsicherheit die Investitionsbereitschaft der Unternehmen aus den Industrieländern senke, während den Entwicklungsländern selbst das notwendige Kapital und Knowhow fehle; zudem könnten nach der Übernahme in nationale Regie Schwierigkeiten im Management zu Produktionseinbußen führen.31 Die Preisentwicklung auf den internationalen Rohstoffmärkten – insbesondere bei Metallen – gab ebenfalls schon vor Oktober 1973 Anlass zu krisenhaften Erwartungen bzw. spiegelte diese wider. Die Preisindizes für Rohstoffe (ohne Energieträger) insgesamt und für Metalle, die das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ aufstellte, entwickelten sich seit 1949 im Wesentlichen parallel zueinander und pendelten um einen Mittelwert ohne steigende Tendenz, bis Anfang 1964 die 27 Garavini: Empires (wie Anm. 13), S. 744; Kunkel: Globalisierung (wie Anm. 14), S. 555; Mazower: Welt (wie Anm. 13), S. 268, 308. 28 Wolf Radmann: CIPEC – The Copper Exporting Countries, in: Intereconomics 8 (1973), S. 245–249, hier 245; Karen A. Mingst: Cooperation or Illusion. An Examination of the Intergouvernemental Council of Copper Exporting Countries, in: International Organization 30 (1976), S. 263–287, hier 277 f. 29 Mazower: Welt (wie Anm. 13), S. 312. 30 George Abrahamson: The Crisis of the World Copper Market, in: Intereconomics 1 (1966), S. 16–18, hier 17. 31 BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 15 f.

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Metallpreise deutlich anhoben.32 Ende 1971 zogen dann auch die allgemeinen Rohstoffpreise entsprechend an, gefolgt etwa ein Jahr später von einem noch steileren Anstieg der Metallpreise (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Rohstoffpreisindex des „Economist“ (1963=100), Januar 1949 bis Februar 1974 Quelle: [O. A.]: The Economist World Commodity Price Index 1949–1973, in: The Economist, 7.7.1973, S. 70 f. und folgende Ausgaben.

Der Metallpreisindex des „Economist“ war stark vom Preis für Kupfer geprägt, das zu dieser Zeit vom Handelsvolumen her – mit allerdings weitem Abstand – der zweitwichtigste Rohstoff nach Öl war. Der Kupferpreis wurde in den 1960er Jahren von mehreren Faktoren mitbestimmt: 1966/67 erreichten Lieferungen aus Sambia nicht den Weltmarkt, da das weiße Minderheitsregime im benachbarten Rhodesien den Transit blockierte, in Zaire fiel die Produktion nach der Nationalisierung der Minen, und in Chile, aber auch in US-amerikanischen Kupferhütten behinderten Arbeitskämpfe die Industrie, während gleichzeitig die Nachfrage aufgrund der Eskalation des Vietnamkriegs anstieg.33 Der Boom der Rohstoffpreise insgesamt 32

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Die einzelnen Rohstoffe gehen in den Gesamtindex (1963=100) gewichtet nach ihrem Anteil am Handel der wichtigsten Industriestaaten ein. Die Zusammensetzung betrug für den Gesamtindex („all items“) 1973: 53,2 % Nahrungsmittel, 21,7 % Metalle, 16,8 % Fasern und 8,3 % Verschiedenes. Der Metallpreisindex wurde geprägt von Kupfer (81,3 %), gefolgt von Zinn (12,2 %), Blei (5,9 %) und Zink (0,6 %). Die zugrundeliegenden Preise für den 1963-Index sind teils in US-$ und teils in £; o. A.: The Economist World Commodity Price Index 1949–1973, in: The Economist, 7.7.1973, S. 70 f.; o. A.: The Economist Commodity Indicator Updated, in: The Economist, 5.1.1974, S. 60 f. Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 270 f.

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seit 1972 ging zunächst auf den verstärkten Verbrauch durch das Wirtschaftswachstum in den Industrienationen zurück; Spekulation und eine Flucht in Sachwerte traten hinzu – insbesondere aufgrund des Wertverlusts von US-Dollar und Britischem Pfund seit 1971.34 Der Geschäftsbericht der Frankfurter Metallgesellschaft AG für 1972/73 erkannte auf den Märkten eine „allgemeine Rohstoffnervosität“35, und der „Economist“ sprach im November 1973 von „Metal Madness“ an der Londoner Metallbörse36. Wie der Index für Rohstoffpreise insgesamt erkennen lässt, fiel der Anstieg der Metallpreise in eine Zeit inflationärer Entwicklungen und Versorgungsschwierigkeiten bei zahlreichen Rohstoffen, die dem Ölpreisschock vom Oktober 1973 vorangingen. Die Welternährungskrise ab Ende 1972 führte in vielen Entwicklungsländern zu Hungersnöten, aber auch zu empfindlichen Steigerungen der Verbraucherpreise für Lebensmittel in den USA ab Frühjahr 1973.37 Von einer Energiekrise war in den westlichen Industriestaaten angesichts der Verknappung und Verteuerung von Erdölprodukten bereits ab Beginn des Jahres die Rede – also schon deutlich vor dem JomKippur-Krieg im Oktober.38 In Großbritannien traten seit Sommer 1973 Versorgungsprobleme bei Produkten wie Stahl, Grundchemikalien, Baumaterial, Papier und Glas auf, deren Ursachen z. T. in Arbeitskämpfen lagen, vor allem aber in der gestiegenen Nachfrage und unzureichenden Erweiterungsinvestitionen in der Vergangenheit.39 Dagegen erlebte die Bundesrepublik 1972/73 zwar eine seit der unmittelbaren Nachkriegszeit beispiellose Inflation von um die sieben Prozent, allerdings kaum eine Warenverknappung. Für den Endverbraucher spürbare Lieferprobleme bei Zeitungs- und anderem Papier z. B. erschienen in der westdeutschen Presse nur als britisches, italienisches und amerikanisches Phänomen.40 DIE NEUE WELTWIRTSCHAFTSORDNUNG Die stabile und ausreichende Versorgung mit Rohstoffen war somit schon seit den späten 1960er Jahren in Frage gestellt, und 1973 trug die Entwicklung auf zahlreichen Rohstoffmärkten schon vor dem Oktober krisenhafte Züge. Dennoch bildeten erst die Zeit nach dem arabischen Ölboykott im Oktober 1973 und das folgende Jahr mit der sechsten Sondersitzung der UN-Generalversammlung zu Rohstoffund Entwicklungsfragen (9.4.–2.5.1974) sowie der abschließenden Resolution zur Etablierung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung den Höhepunkt der „commodity 34

35 36 37 38 39 40

O. A.: Commodity Rich (wie Anm. 4), S. 77; Metallgesellschaft AG: Geschäftsbericht 1972/73, S. 11; o. A.: No OPEC this, in: Economic and Political Weekly 9 (1974), S. 2079 f.; C. Fred Bergsten: A New OPEC in Bauxite. The Success of the International Bauxite Association Shows that Oil is not Unique, in: Challenge 19 (1976), S. 12–20, hier 13. Metallgesellschaft: Geschäftsbericht 1972/73 (wie Anm. 34), S. 11. O. A.: Key Indicators: World Commodity Prices, in: The Economist, 17.11.1973, S. 128. Gerlach: Welternährungskrise (wie Anm. 12), S. 553; Ehrlich/Ehrlich: End (wie Anm. 22), S. 26. Hohensee: Ölpreisschock (wie Anm. 9), S. 59 f. O. A.: What Is Short and Why, in: The Economist, 8.12.1973, S. 108. O. A.: Knappes Zeitungspapier, in: Der Spiegel, 22.10.1973, S. 111; o. A.: Noch eine Knappheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.1.1974, S. 7.

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scare“ in den Industrienationen sowie der Konfrontation zwischen Rohstoffproduzenten im globalen Süden und -konsumenten im Norden. Das Thema hielt sich bis mindestens Ende des Jahrzehnts in der Diskussion, auch wenn die – aus Sicht der Industriestaaten – pessimistischen Erwartungen nicht eintraten und die Rohstoffpreise zunächst wieder nachließen. In der Bundesrepublik legte der Interministerielle Staatssekretär-Ausschuss zu Rohstoff-Fragen erst im März 1976 seinen Bericht vor.41 Im Bundestag wurde die „Rohstoffpolitik der Bundesregierung“ in Form einer Großen Anfrage der Opposition noch 1978 verhandelt, zu einem Zeitpunkt, als erneut steigende Rohstoffpreise zu verzeichnen waren und die politische Lage im südlichen Afrika Anlass zur Sorge gab.42 Nach 1973 schien es, als ob die Entwicklungsländer in ihren Rohstoffvorräten – und indem sie dem Beispiel der OPEC folgend effektive Kartelle bildeten – zum ersten Mal einen Hebel gefunden hätten, um ihre Forderungen gegenüber den Industrienationen durchzusetzen.43 Während die damals schon gängige Dependenztheorie die Unterentwicklung des Südens damit erklärte, dass diese Länder von den Industriestaaten bewusst auf den Status von Rohstoffproduzenten beschränkt und damit in Abhängigkeit gehalten würden, fragten sich Beobachter in der industrialisierten Welt angesichts knapper Rohstoffe sowie der Konzentration der Lagerstätten in wenigen Ländern nun, wer eigentlich von wem abhängig sei.44 Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die sechste Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die Anfang 1974 kurzfristig einberufen wurde. Ursprünglich hatte Frankreichs Außenminister Michel Jobert im Januar 1974 eine UN-Konferenz zu Energiefragen vorgeschlagen, um die amerikanische Einladung an einige Industriestaaten zu Gesprächen über den Ölpreisschock zu kontern. Die OPEC-Staaten fürchteten jedoch auf einer solchen UN-Konferenz von der Mehrheit der Entwicklungsländer, für deren Volkswirtschaften der neue Ölpreis eine kaum zu tragende Belastung darstellte, an den Pranger gestellt zu werden. Algerien besaß als OPEC-Mitglied und als eine führende Stimme der Blockfreien-Bewegung eine Scharnierfunktion zwischen den reichen Ölstaaten und den übrigen Entwicklungsländern, weshalb der algerische Staatschef Houari Boumedienne dem UN-Generalsekretär Kurt Waldheim vorschlug, statt nur über Energie allgemein über Rohstoffe und Entwicklung zu reden, da das Vorgehen der OPEC im Kontext der Souveränität der Rohstoffstaaten über ihre Ressourcen und der NordSüd-Beziehungen zu sehen sei. Die Politik der OPEC sei somit Vorbild und Chance für die anderen Entwicklungsländer.45 41 42

43 44 45

BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976. Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 4.4.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1681. Kunkel: Globalisierung (wie Anm. 14), S. 570; Wolf: UNO (wie Anm. 13), S. 42. Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 3. Rudolf Herlt: Das Tribunal der Zornigen, in: Die Zeit, 19.4.1974, S. 1; o. A.: Questions Concerning Establishment of a New International Order, in: Yearbook of the United Nations 1974. New York 1977, S. 305–357, hier 305 f.

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Die Rohstoffpreisentwicklung hatte bis zum Frühjahr 1974 die Entwicklungsländer bereits in drei Gruppen gespalten: An der Spitze standen die ölexportierenden Staaten, insbesondere, wenn sie hohe Ölreserven und eine geringe Bevölkerung besaßen, wie Saudi-Arabien und Kuwait. Dann folgte eine weitere Gruppe, die vom jüngsten Rohstoffboom profitierte, wie Sambia (Kupfer) und Malaysia (Zinn, Kautschuk sowie Palmöl), und schließlich Staaten, an denen der Boom vorüberging, da sie keine entsprechenden Rohstoffe besaßen. Diese letzte Gruppe, zu der beispielsweise Indien, Bangladesch und die meisten Länder der Sahelzone zählten, sah nun, wie der gestiegene Ölpreis den Großteil ihrer Deviseneinnahmen aufzehrte, während zusätzlich die Hilfsbereitschaft der Industriestaaten angesichts eigener Zahlungsbilanzprobleme einbrach.46 Trotz dieser Interessenkonflikte innerhalb der Entwicklungsländer gelang es den Rohstoffländern, den Grundton der UN-Sondersitzung zu bestimmen und die Politik der OPEC als wegweisendes Vorbild darzustellen. Die Haltung der Entwicklungsländer verfehlte nicht ihren Eindruck auf den industrialisierten Norden: „For the first time“, so „The Economist“ im Mai 1974, „the developing countries of the world are flexing their muscles at the rich industrialised nations, wielding what they hope will be a new economic weapon: commodity power.“47 Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuss für Rohstoff-Fragen der Bundesregierung betrachtete die sechste Sondersitzung der UN als „eine Wendemarke in den Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern“, wobei Erstere „von der Selbstsicherheit der Entwicklungsländer überrascht“ gewesen seien.48 Die Mehrheit der Teilnehmer der sechsten Sondersitzung erhob einen umfassenden Anspruch hinsichtlich der globalen Probleme von Unterentwicklung und wirtschaftlicher Ungleichheit und betrachtete Rohstoffe als einen zentralen Faktor in diesem Kontext. Die am 1. Mai 1974 abschließend verabschiedete Resolution forderte nicht weniger als die Etablierung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung („New International Economic Order“ / NIEO).49 Die Präambel stellte fest, dass es unter der bestehenden Weltwirtschaftsordnung nicht gelungen sei, die Kluft in der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen den Staaten zu schließen, vielmehr reproduziere die bestehende Ordnung eine wachsende Ungleichheit. Die angestrebte NIEO sollte dagegen auf einer Reihe von Prinzipien beruhen, die an zentraler Stelle die Rohstoffthematik einschließlich des Rechts auf Nationalisierung und Bildung von Produzentenabkommen betrafen. Damit wurden für die Industriestaaten besorgniserregende Entwicklungen – wie die Politik der OPEC oder die Verstaatlichung der chilenischen Kupferbergwerke – zu Vorbildern und Grundpfeilern einer neuen Ordnung erhoben. Zu den Prinzipien der NIEO zählte gemäß der Resolution die volle und permanente Souveränität der Staaten über ihre Ressourcen, was auch das Recht auf Natio46 47 48 49

O. A.: Commodity Rich (wie Anm. 4), S. 76 f. Ebd., S. 76. BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 2. UN Resolution 3201 (S-VI), Declaration on the Establishment of a New International Economic Order; http://www.un-documents.net/s6r3201.htm (Zugriff: 21.9.2015).

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nalisierung miteinschließe: „each State is entitled to exercise effective control over them and their exploitation with means suitable to its own situation, including the right to nationalization or transfer of ownership to its nationals“ (Art. 4 (e)). Ebenfalls eingefordert wurden eine Verbesserung der Terms-of-Trade der Entwicklungsländer und gerechte („just and equitable“) Austauschbeziehungen zwischen Industrieprodukten und Rohstoffen (Art. 4 (j)); schließlich sollte die NIEO Produzentenabkommen unterstützen (Art. 4 (t)). Die Resolution wurde am Ende der sechsten Sondersitzung ohne Abstimmung verabschiedet, da außer Frage stand, dass die Entwicklungsländer in der Generalversammlung eine Mehrheit besaßen.50 Die Industriestaaten nutzten die anschließende Aussprache, um ihre Vorbehalte gegen diese neue Ordnung deutlich zu machen. Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien und andere erklärten, dass sie zwar hinter der Resolution stünden, aber Einwände insbesondere gegen das Recht der Staaten auf Nationalisierung ihrer natürlichen Ressourcen hätten, da in der Resolution keine Rede von einer Entschädigung der bisherigen Eigentümer nach internationalem Recht sei. Weiterhin waren sie besorgt, dass die Förderung von Produzentenabkommen dem freien Warenaustausch entgegenstünde und die Interessen der Verbraucherstaaten nicht angemessen berücksichtige. Die Position der USA war noch deutlicher, indem sie Teile der Resolution ausdrücklich ablehnten und insgesamt bestritten, dass die Resolution einen Konsens der Staatengemeinschaft widerspiegele. Dennoch drückten auch die USA ihre prinzipielle Kooperationsbereitschaft gegenüber den Entwicklungsländern aus.51 Algerien und der Irak erklärten dagegen als Vertreter der G77, die Entwicklungsländer hätten in der Formulierung der Resolution schon hinlänglich Kompromisse gemacht und betonten noch einmal das Recht auf Nationalisierung. Die UdSSR und andere Ostblockstaaten, die insgesamt keine bedeutende Rolle im NordSüd-Konflikt spielten,52 signalisierten ihre Zustimmung zu der Resolution.53 EIN DUTZEND ROHSTOFFKARTELLE? Die Auseinandersetzung zwischen dem globalen Süden und dem Norden setzte sich auf der Ebene der UN nach dem Frühjahr 1974 fort. Auf die sechste Sondersitzung der Generalversammlung folgte schon im September 1975 die thematisch ähnliche siebte Sondersitzung, in der die gleichen Gegensätze aufeinandertrafen, auch wenn diese Konferenz aus Sicht der Bundesregierung „einen sachlicheren Verlauf“ nahm als die vorangegangene.54 Die UNCTAD-IV und -V Sitzungen in Nairobi 1976 und Manila 1979 waren gleichfalls vom Nord-Süd-Konflikt bestimmt. UN-Resolutionen besitzen allerdings keine unmittelbar bindende Wirkung. Von größerer Bedeu50 51 52 53 54

Klaus Natorp: Vorgetäuschter Konsens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.5.1974, S. 1. O. A.: Questions (wie Anm. 45), S. 320. Kunkel: Globalisierung (wie Anm. 14), S. 557. O. A.: Questions (wie Anm. 45), S. 320. BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 2.

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tung für die Etablierung der neuen Wirtschaftsordnung war daher die Frage, ob andere Rohstoffstaaten entschlossen und in der Lage wären, dem Beispiel der Ölproduzenten zu folgen und „mini-Opecs“55 für weitere Ressourcen zu gründen. Nach Einschätzung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ im April 1974 hätte noch wenige Monate zuvor kaum jemand in den Industrieländern solche Kartelle ernstgenommen,56 nach dem Ölpreisschock hingegen sahen viele Beobachter in der Politik der OPEC nur den Auftakt einer viel größeren Auseinandersetzung: „The Arab oil embargo can thus be seen as the first shot in a new global struggle over the world’s riches; the April 1974 United Nations’ debate over natural resources was the first major skirmish.“57 Tatsächlich gab es weitere Produzentenabkommen oder Rohstoffkartelle, die sich zu dieser Zeit nach dem Vorbild der OPEC neu gründeten oder versuchten, sich von einem losen Zusammenschluss zu einem effektiven Kartell zu wandeln. Die Formierung dieser Kartelle ging allerdings über die Vorbildfunktion in Bezug auf die erzielte Einnahmesteigerung und das Ausbleiben westlicher Vergeltungsmaßnahmen hinaus. Die Entwicklungsländer besaßen weit weniger Spielraum als beispielsweise die USA oder die Bundesrepublik, um die erhöhten Energiepreise zu kompensieren, so dass sie gezwungen waren, soweit wie möglich ihre Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffexport zu erhöhen. Jamaika konnte nach der Gründung der „International Bauxite Association“ 1974 seine Einnahmen deutlich steigern, und dennoch glich diese Steigerung lediglich den zusätzlichen Devisenbedarf des karibischen Staates nach dem Ölpreisschock aus.58 Die Gründung weiterer Rohstoffkartelle entsprang also auch einer ökonomischen Zwangslage dieser Staaten. Das nach der OPEC meist beachtete Rohstoffkartell war der Rat der kupferexportierenden Staaten („Counseil Intergouvernemental de Pays Exportateurs de Cuivre“), der schon in der Abkürzung (CIPEC) das Vorbild erkennen ließ. Nach einem ersten Treffen der Präsidenten Chiles und Sambias, Eduardo Frei und Kenneth Kaunda, im November 1966, fassten beide Staaten zusammen mit Peru und Zaire den Beschluss zur Gründung von CIPEC im Juni 1967. CIPEC hatte seinen Sitz in Paris und besaß mehrere Organe wie eine Ministerkonferenz, einen Verwaltungsrat und ein Sekretariat.59 Die vier Mitgliedsstaaten waren alle ökonomisch auf den Kupferexport angewiesen – 80 Prozent der Deviseneinnahmen Chiles und Sambias, 50 und 30 Prozent im Fall von Zaire und Peru – und stellten Mitte der 1970er Jahre zusammen 80 Prozent der weltweiten Kupferexporte, aber nur 40 Prozent der Weltproduktion, da insbesondere die USA und die UdSSR große Mengen Kupfer für den Eigenverbrauch produzierten.60 Die CIPEC-Mitglieder legten sich zunächst auf keine gemeinsame Preis- oder Produktionspolitik fest. Anfangs bildete stattdessen die Eigentumsfrage das zentrale 55 56 57 58 59 60

O. A.: Forget Those Cartels, in: The Economist, 15.2.1975, S. 85. Jürgensen: Rohstoffkartelle (wie Anm. 2), S. 13. Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 2. Bergsten: New OPEC (wie Anm. 34), S. 13. Radmann: CIPEC (wie Anm. 28), S. 245 f.; Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 271, 273. Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 266 f.

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Thema. Die Staaten handelten bei der Verstaatlichung von Kupferminen, die sich im Besitz ausländischer Unternehmen befanden (s. o.), jeweils selbständig, aber die zeitliche Nähe legt nahe, dass die CIPEC-Mitglieder sich gegenseitig beeinflussten.61 Anfang der 1970er Jahre blieben Versuche von CIPEC, eine gemeinsame Preispolitik zu entwickeln, zunächst ergebnislos: Zum einen fehlten der Organisation eine effektive Führung und qualifiziertes Personal, zum anderen lagen die Interessen der Mitglieder, die jeweils ihre Marktanteile erhalten bzw. ausbauen wollten, zu weit auseinander. Erst 1974/75 gelang es den CIPEC-Staaten, sich auf gemeinsame Exportquoten zu einigen und die Ausfuhren im November 1974 um zehn und im folgenden April noch einmal um 19 Prozent zu reduzieren. Die Ursachen für diesen Politikwechsel lagen in der Vorbildfunktion der OPEC ebenso wie im Kupferpreis, der im Frühjahr 1974 seinen Höhepunkt überschritten hatte, so dass ein Eingreifen für die Produzenten dringend erforderlich schien.62 Ein weiteres Rohstoffkartell bildeten 1974 die bedeutendsten Exportländer des Aluminiumrohstoffes Bauxit, indem sie sich zur „International Bauxite Association“ (IBA) zusammenschlossen. Mitgliedsstaaten der IBA, die der „Economist“ Ende 1975 als „the closest thing to an Opec-style producer cartel“ bezeichnete,63 waren Australien, Guinea, Jamaika, Guayana, Jugoslawien, die Dominikanische Republik, Indonesien, Sierra Leone, Surinam, Haiti und Ghana, die zusammen 1977 einen Weltmarktanteil von 74 Prozent hielten.64 Australien fällt aus der Reihe der ansonsten den Entwicklungsländern oder der Bewegung der Blockfreien zuzurechnenden Staaten und war der IBA nur auf Druck anderer Commonwealth-Staaten beigetreten.65 Für die anderen Mitglieder waren das Vorbild der OPEC, das Ausbleiben von Gegenmaßnahmen, z. B. militärischer Interventionen der USA in diesem Fall, aber auch Devisenverluste durch den gestiegenen Ölpreis entscheidend für den Zusammenschluss.66 Im Unterschied zu OPEC und CIPEC haben die Staaten der IBA ausländische Rohstoffunternehmen nicht enteignet, sondern über Joint-Ventures an sich gebunden, wobei die Unternehmen durchaus als Juniorpartner von den Preissteigerungen, die die IBA-Mitglieder am Markt durchsetzen konnten, profitiert zu haben scheinen. Überdies hat die IBA nie einen einheitlichen Preis für Bauxit festgelegt, vielmehr ging Jamaika mit der Einführung einer Produktionsabgabe voran und die meisten anderen Bauxitstaaten folgten. Die IBA war somit kein sehr eng kooperierendes Kartell und zeigte eine geringe Kohäsion.67 Weitere Rohstoffkartelle oder Produzentenabkommen schienen seit 1974 zumindest vorstellbar,68 obwohl keine weitere Organisation dieser Art im Bereich 61 62 63 64 65 66 67 68

Ebd., S. 278. Ebd., S. 280–282, 286. O. A.: Business this Week, in: The Economist, 15.11.1975, S. 77. Isaiah A. Litvak / Christopher J. Maule: The International Bauxite Agreement: A Commodity Cartel in Action, in: International Affairs 56 (1980), S. 296–314, hier 296, 306; o. A.: BauxitKartell, in: Der Spiegel, 11.3.1974, S. 82. Bergsten: New OPEC (wie Anm. 34), S. 13 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14–16; Litvak/Maule: International Bauxite Agreement (wie Anm. 64), S. 307, 311. Bergsten: New OPEC (wie Anm. 34), S. 14.

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metallischer Rohstoffe Bedeutung erlangte. Einen Sonderfall bildete in diesem Zusammenhang Zinn, da hier bereits seit 1956 Produzenten- und Verbraucherstaaten gemeinsam mit dem Ziel der Preisstabilisierung den „International Tin Council“ (ITC) geschaffen hatten, der auf Abkommen („International Tin Agreement“) beruhte, die alle fünf Jahre neu verhandelt wurden. Der ITC sollte festgelegte Preisober- und -untergrenzen verteidigen, indem er entweder Produktionsquoten bestimmte oder über ein Ausgleichslager („buffer stock“) Zinn ver- oder ankaufte. Dem ITC gelang es mit diesem auf Kooperation statt Konfrontation beruhenden Modell, lange Zeit den Zinnpreis auf verhältnismäßig hohem Niveau zu stabilisieren.69 In Zeiten der Rohstoffhausse verschoben sich jedoch auch hier die Gewichte zugunsten der Produzenten. Zumindest erklärte die Bundesregierung 1978 gegenüber dem Parlament hinsichtlich des ITC, dass in jüngster Zeit nur die Erzeugerländer profitiert hätten. Die Verteidigung der oberen Preisgrenze sei seit Januar 1977 nicht mehr möglich, da das Ausgleichslager erschöpft sei, während Investitionshindernisse in den Erzeugerstaaten einer Ausweitung der Produktion im Weg ständen.70 Beobachter in den westlichen Industrienationen fürchteten seit dem Frühjahr 1974 nicht nur die Kontrolle weiterer Einzelmärkte durch entsprechende Kartelle, sondern sogar eine Kooperation solcher Produzentenorganisationen. Eine große, gegen den Norden gerichtete Allianz der Rohstoffstaaten, möglicherweise finanziert von der OPEC, schien denkbar.71 Über eine solche Allianz könnten die Kartelle zudem die Konkurrenz durch mögliche Substitute ausschließen.72 Wenn es auch nie zu einem Zusammenschluss dieser Art kam, gab es durchaus Ansätze in diese Richtung. CIPEC nahm die Kooperation mit anderen vergleichbaren Organisationen 1974 als Ziel in seine Satzung auf und unterhielt Kontakte zur OPEC, so dass im November des Jahres Gerüchte über ein von den Ölstaaten finanziertes Kupfer-Ausgleichslager umliefen.73 1976 hatte der Generalsekretär der IBA bereits an Sitzungen der CIPEC teilgenommen – Aluminium und Kupfer sind bis zu einem gewissen Grad substituierbar – und plante, mit der OPEC über Finanzhilfen zu verhandeln.74 Innerhalb der Industriestaaten gingen die Ansichten darüber auseinander, inwieweit diese Rohstoffkartelle den Erfolg der OPEC für sich wiederholen könnten oder ob Öl eine Ausnahme sei. Der US-amerikanische Ökonom Bergsten zweifelte 1976 nicht am Erfolg der bauxitproduzierenden Länder: „IBA is thus truly ‚the second OPEC‘.“75 In mancher Hinsicht seien die Bauxitstaaten sogar besser aufgestellt als 69 70

71 72 73 74 75

Carsten Thomas Ebenroth: Shareholders’ Liability in International Organizations – The Settlement of the International Tin Council Case, in: Leiden Journal of International Law 4 (1991), S. 171–183, hier 172. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1981, S. 10. Fried: Trade (wie Anm. 6), S. 644. Jürgensen: Rohstoffkartelle (wie Anm. 2), S. 13. Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 274, 286. Bergsten: New OPEC (wie Anm. 34), S. 19. Ebd., S. 20.

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die OPEC, weshalb die IBA in weniger als zwei Jahren erreicht habe, wofür die Ölerzeugerländer fast 15 Jahre gebraucht hätten. Die IBA stelle daher einen bedeutenden Schritt zur unumkehrbaren Transformation der internationalen Wirtschaftsordnung dar.76 Ein Vergleich von CIPEC und OPEC kam dagegen zu einem weniger klaren Ergebnis: Die Erfolgsaussichten des Kupferkartells seien ungünstiger, da die CIPEC-Mitglieder stärker auf die laufenden Exporteinnahmen angewiesen seien und geringere Devisenreserven besäßen als die OPEC-Länder, während Kupfer leichter substituierbar sei als Erdöl. Dennoch seien die Unterschiede zwischen beiden Kartellen nur graduell, und auch die Startbedingungen der OPEC wären suboptimal gewesen, so dass ein Erfolg von CIPEC nicht ausgeschlossen werden könne.77 Die meisten Analysten kamen allerdings in den Jahren nach 1974 zu dem Schluss, dass Öl in der Tat ein Sonderfall war.78 Es hob sich schon allein durch das Marktvolumen von allen anderen Rohstoffen ab, und die Ölexporteure befanden sich in einer günstigen Lage durch ihren hohen Marktanteil, die geringe Preiselastizität der Nachfrage und ihre hohen Devisenreserven, die es ihnen erlaubten, während eines Boykotts Einbußen bei den laufenden Einnahmen kurzfristig hinzunehmen. Bald wurde eine Reihe von Voraussetzungen für ein erfolgreiches Rohstoffkartell formuliert, die allerdings im Fall der „mini-OPECs“ überwiegend nicht gegeben waren:79 1. Konzentration der Exporte auf wenige Staaten, 2. eine möglichst preisunelastische Nachfrage nach dem Rohstoff, 3. ein möglichst preisunelastisches Angebot aus Quellen außerhalb des Kartells oder an Substituten, 4. niedrige Fixkosten bei der Förderung, um die Belastung bei einer Produktionsdrosselung gering zu halten, 5. geringe oder sehr kostenintensive Möglichkeiten zur Substitution, 6. ein hoher Zusammenhalt unter den Produzenten aufgrund ähnlicher politischer Ziele und kultureller Faktoren, 7. hohe Devisenreserven, um vorübergehende Ausfälle bei den Exporteinnahmen zu kompensieren. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ging auch die Bundesregierung davon aus, dass weitere Boykotte oder Kartelle, die eine wirksame Preis- und Mengensteuerung betrieben, unwahrscheinlich seien. Sie sah sich hierin durch die Entwicklung,

76

Ebd., S. 13, 20. Die IBA sei gegenüber der OPEC sogar im Vorteil, da der Anteil der IBA an der US-amerikanischen Bauxitversorgung (90 %) höher sei als der Anteil der OPEC am USÖlbedarf (40 %). Zugleich sei Aluminium ökonomisch weniger bedeutend als Öl, so dass Vergeltungsmaßnahmen der Verbraucherstaaten weniger wahrscheinlich seien. 77 Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 267 f., 286. 78 Frühe Zweifel an den Erfolgsaussichten finden sich bei: Radmann: CIPEC (wie Anm. 28), S. 248; Nicholas Wade: Raw Materials: US Grows more Vulnerable to Third World Cartels, in: Science 183, 18.1.1974, S. 185 f.; o. A.: OPEC (wie Anm. 34), S. 2080. 79 Klaus Peter Krause: Wie weit kann das Erdölkartell Schule machen?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.7.1974, S. 10; Mingst: Cooperation (wie Anm. 28), S. 265; Fried: Trade (wie Anm. 6), S. 644.

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die z. B. CIPEC bis dahin genommen hatte, bestätigt.80 Das Schreckgespenst einer OPEC-finanzierten Allianz von Rohstoffkartellen hatte ebenfalls keine konkreten Formen angenommen, da die Ölförderländer es bevorzugten, ihre Einnahmen für eigene Zwecke statt für die Solidarität des globalen Südens zu verwenden.81 REAKTIONEN DER INDUSTRIESTAATEN Auch wenn somit relativ bald deutlich wurde, dass Öl ein Sonderfall war, blieb die Möglichkeit, dass die Konfrontation mit den Rohstoffstaaten zu Preissteigerungen, verstärkter Instabilität der Märkte und Einschränkungen der Versorgungssicherheit führen würde. Die Bundesregierung sah in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Rohstoffversorgung nicht akut gefährdet, konnte aber mittel- und langfristig weiterhin politische Risiken erkennen. Die bundesdeutsche Situation galt hierbei als schwieriger als die der USA, die über umfangreiche eigene Vorkommen verfügten, Frankreichs, das enge Beziehungen zu ehemaligen Kolonien unterhielt, oder Großbritanniens, das neben der Einbindung in das Commonwealth noch davon profitierte, dass viele international tätige Bergbaukonzerne ebenso wie die weltweit maßgebliche Londoner Metallbörse dort ihren Sitz hatten. Vergleichbar mit der Bundesrepublik war nur das ebenfalls nahezu völlig importabhängige Japan, das allerdings schon in den 1960er Jahren mit der Finanzierung von Rohstoffprojekten im Ausland begonnen hatte.82 Während der gesamten 1970er Jahre wurde in den westlichen Industrienationen über Reaktionen auf die Politik der Rohstoffstaaten nachgedacht, um die eigene Versorgung zu tragbaren Preisen sicherzustellen. In den USA wurde eine militärische Antwort in Form offener oder verdeckter Interventionen zumindest in der öffentlichen Diskussion rasch verworfen. Die außen- und innenpolitischen Kosten erschienen, insbesondere nach dem Vietnamkrieg, zu hoch.83 Eine eher theoretische Option bildete auch die Rückkehr zur Selbstversorgung. Die weitgehende Nutzung minderwertiger heimischer Erze wäre sehr kostspielig und für die USA als Exportnation zudem wirtschaftspolitisch gefährlich gewesen.84 In der Bundesrepublik war ein erheblicher Beitrag zur Rohstoffversorgung aus heimischen Ressourcen schon aus geologischen Gründen nicht zu erwarten.85 40 Jahre zuvor stand das Thema Roh80

81 82 83 84 85

BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 13 f.; Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1981, S. 2. Fried: Trade (wie Anm. 6), S. 644. BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 1, 7–10. Bergsten: Threat (wie Anm. 25), S. 115 f.; Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 16–18. Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 21 f., 24. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kit-

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stoffe während der nationalsozialistischen Autarkiepolitik schon einmal im Mittelpunkt,86 aber die deutsche Diskussion der 1970er Jahre scheint hierauf kaum Bezug genommen zu haben. Lediglich ein Zeitungskommentar erörterte die Vor- und Nachteile der Weltmarktabhängigkeit und kam zu dem Schluss, „[e]in Rückzug aus der Weltwirtschaft wäre jedenfalls das Ende alles dessen, was seit 1948 in der Bundesrepublik aufgebaut worden ist“.87 Eine weitere randständige Option in der USamerikanischen Diskussion waren Änderungen im Lebensstil und Abstriche beim erwarteten Wirtschaftswachstum, um den Ressourcenverbrauch zu reduzieren.88 Andere Maßnahmen besaßen größere praktische Bedeutung; hierzu zählte die Handelspolitik. Der amerikanische Trade Act von 1974 begründete ein System von Präferenzzöllen für Entwicklungsländer, schloss jedoch zugleich Mitglieder der OPEC und anderer Rohstoffkartelle sowie Staaten, die US-Eigentum ohne angemessene Entschädigung enteigneten, hiervon aus.89 Allerdings wendeten die USA dieses Gesetz nicht konsequent an, so dass z. B. die IBA-Staaten dennoch von den Präferenzzöllen profitierten.90 Insgesamt nahmen viele Stimmen in der Diskussion eine auffallend konziliante Position ein und betonten die Notwendigkeit, den Entwicklungsländern über die Handelspolitik, eine verbesserte Entwicklungshilfe, regelmäßige Konsultationen sowie Kooperationen bei Rohstoffprojekten entgegenzukommen und somit der gewachsenen Interdependenz Rechnung zu tragen.91 Die deutsche Bundesregierung betrachtete die Ausweitung und Diversifizierung des rohstoffwirtschaftlichen Engagements der deutschen Industrie im Ausland als wichtigsten Beitrag zur Versorgungssicherheit. Investitionen seien auch in Entwicklungsländern noch möglich, da einige von diesen durchaus an Joint-Ventures mit der deutschen Industrie interessiert seien. Die kämpferische Rhetorik, wie sie auf der sechsten Sondersitzung der UN zu hören gewesen war, sei nicht immer wörtlich zu nehmen: „Die tatsächliche Haltung einiger Entwicklungsländer unterscheidet sich insofern deutlich von politischen Erklärungen auf internationalen Foren.“92 Das außenwirtschaftliche Garantie-Instrumentarium, also die Absicherung von Krediten für Rohstoffprojekte durch den Bund, und das Explorations-Förderprogramm galten daher für die Bundesrepublik als wichtigste Elemente ihrer Rohstofftelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1981, S. 7. 86 Vgl. Anton Lübke: Das deutsche Rohstoffwunder. Wandlungen der deutschen Rohstoffwirtschaft. Stuttgart 1938; Wilhelm Ziegelmayer: Rohstoff-Fragen der deutschen Volksernährung. Eine Darstellung der ernährungswirtschaftlichen und ernährungswissenschaftlichen Aufgaben unserer Zeit. Dresden 1941; Anton Zischka: Wissenschaft bricht Monopole. Leipzig 1936. 87 Jürgen Eick: Liebäugeln mit der Autarkie?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.1973, S. 1. 88 Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 22–24; Wade: Raw Materials (wie Anm. 78), S. 186. 89 Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 11 f. 90 Bergsten: New OPEC (wie Anm. 34), S. 19. 91 BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 3a, 7; Bergsten: Threat (wie Anm. 25), S. 121 f.; Swansbrough: Mineral Crisis (wie Anm. 5), S. 24. 92 BA B102/248665, Der interministerielle Staatssekretär-Ausschuß für Rohstoff-Fragen, Sachbericht zur Rohstoffpolitik, März 1976, S. 19.

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politik. Das Explorations-Förderprogramm unterstützte über rückzahlbare Zuschüsse in Höhe von bis zu 2/3 der Projektsumme die Rohstoffsuche durch deutsche Unternehmen im In- und Ausland. Das Programm war bereits 1971 mit einem jährlichen Budget von 7,5 Mio. DM gestartet, das seitdem jährlich erhöht wurde.93 1977 betrugen die Ausgaben schon 30,2 Mio. DM, wobei der größte Sprung nach 1973 erfolgte. Demgegenüber maß die Bundesregierung anders als z. B. die USA, die Schweiz oder Schweden der Bevorratung von Rohstoffen keine große Bedeutung bei, bzw. sah hierin primär eine Aufgabe der Privatwirtschaft.94 Einen weiteren Weg, um mittel- bis langfristig das Angebot zu diversifizieren und sich von möglicherweise politisch unzuverlässigen Entwicklungsländern unabhängiger zu machen, bildete die Rohstoffsuche in den Ozeanen und in der Antarktis. Die Bundesregierung begann Ende der 1970er Jahre ihr Antarktisforschungsprogramm, das wesentlich durch die Rohstoffsuche motiviert war.95 Rohstoffe aus dem Meer wie Manganknollen mit kommerziell interessanten Nickel-, Kupfer- und Kobaltgehalten sollten durch den Tiefseebergbau gewonnen werden. Unternehmen aus der Bundesrepublik und anderen westlichen Industrienationen arbeiteten von den späten 1960er bis in die frühen 1980er Jahre letztlich ergebnislos an diesem Projekt.96 SCHLUSSBETRACHTUNG Im Laufe der 1970er Jahre wurde zunehmend deutlich, dass es den Entwicklungsländern nicht gelingen würde, auf das Chaos auf den Rohstoffmärkten 1973/74 eine auf ihre Bedürfnisse ausgerichtete Neue Weltwirtschaftsordnung folgen zu lassen – jedoch ohne dass somit die alte Ordnung sofort restauriert worden wäre. Die Rohstoffpreise – insbesondere für Metalle – fielen nach dem im Frühjahr 1974 erreichten Höchststand rasch wieder in sich zusammen. Der – nicht inflationsbereinigte – Metallpreisindex des „Economist“ erreichte Ende 1974 erneut ein Niveau, das nur wenig über dem Stand von 1970 und damit der Situation vor der spektakulären Hausse lag (vgl. Abb. 2). Die Gründe hierfür finden sich in der nun deutlich verschlechterten konjunkturellen Lage der westlichen Industrienationen, die sich auch 93 94

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Ebd., S. 20–22. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Breidbach, Dr. Narjes, Schmidhuber, Dr. Köhler (Duisburg), Dr. Dollinger, Dr. Unland, Pieroth, Dr. von Geldern, Kittelmann, Vogt (Düren), Dr. Biedenkopf, Lampersbach, Lenzer, Dr. Hoffacker, Dr. Hüsch und der Fraktion der CDU/CSU: Rohstoffpolitik der Bundesregierung, 7.7.1978, Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/1981, S. 6 f., 18. O. A.: Appetit geweckt, in: Der Spiegel, 20.2.1978, S. 36–38; Christian Kehrt: Gondwana’s Promise. German Geologists in Antarctica Between Basic Science and Resource Exploration in the late 1970s, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 40 (2015), S. 202–221. Ole Sparenberg: Ressourcenverknappung, Eigentumsrechte und ökologische Folgewirkungen am Beispiel des Tiefseebergbaus, ca. 1965–1982, in: Günther Schulz / Reinhold Reith (Hg.): Wirtschaft und Umwelt vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Auf dem Weg zu Nachhaltigkeit? (VSWG, Beiheft 233). Stuttgart 2015, S. 109–124; Ders.: Meeresbergbau nach Manganknollen (1965–2014). Aufstieg, Fall und Wiedergeburt, in: Der Anschnitt 67 (2015), S. 118–135.

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im Rohstoffverbrauch niederschlug, und in dem Ende der spekulativen Nachfrage, die vorher die Kurse mitangetrieben hatte.97 Der erneute und ebenfalls kurzfristige Anstieg der Metallpreise von Ende 1978 bis Anfang 1980 war nicht mit den Ereignissen 1973/74 vergleichbar und konnte die Position der Entwicklungsländer nicht nachhaltig verbessern (vgl. Abb. 3). Zu der durch die Konjunktur gedämpften Nachfrage kam noch eine durch den technologischen Fortschritt bedingte sinkende Verbrauchsintensität hinzu. Nachdem der Bedarf an den meisten Industriemetallen in den Nachkriegsjahrzehnten fast durchgehend gestiegen war, führten seit Anfang der 1970er Jahre ressourcensparende Produktinnovationen dazu, dass der Metallverbrauch vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt wurde und seitdem auch bei gutem Konjunkturverlauf für lange Zeit beinahe stagnierte.98 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wurden die Rohstoffkartelle bedeutungslos, und die Entwicklungsländer konnten Rohstoffpolitik nicht mehr als Hebel für die Etablierung einer neuen Ordnung einsetzen.

Abb. 2: Rohstoffpreisindex des „Economist“ (1970=100, in $), Januar 1974 bis Dezember 1977 Quellen: [O. A.]: The Economist Indicators, in: The Economist, 4.9.1976, S. 64 f.; [o. A.]: The Economist Indicators, in: The Economist, 14.1.1978, S. 66 f.

Im Nord-Süd-Konflikt sahen sich die Entwicklungsländer in den 1980er Jahren zunehmend gezwungen, Kompromisse einzugehen und Forderungen wie die nach der NIEO zurückzustellen. Die Majorisierung der Generalversammlung durch die Staaten des Südens hatte letztlich nur zu einem Bedeutungsverlust der UN geführt, da 97 98

Metallgesellschaft AG: Geschäftsbericht 1973/74, S. 15. Ulrich Wengenroth: Eiffelturm und Coladose. Über den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Metallverbrauch, in: Kultur & Technik 19 (1995), S. 11–15.

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Abb. 3: Rohstoffpreisindex des „Economist“ (1975=100, in $), Januar 1976 bis Dezember 1982 Quellen: [O. A.]: Business Brief: Commodities, in: The Economist, 20.1.1979, S. 68 f.; [o. A.]: Commodities Brief, in: The Economist, 5.1.1980, S. 66 f.; [o. A.]: Commodities Brief, in: The Economist, 9.1.1982, S. 72 f.; [o. A.]: Commodities Brief, in: The Economist, 15.1.1983, S. 80 f.

die westlichen Industrienationen sich in die von ihnen kontrollierten Organisationen Weltbank und Internationaler Währungsfonds zurückzogen, oder sie blieben auf den neuen G-7 Gipfeln unter sich.99 Viele Entwicklungsländer wurden überdies durch den zweiten Ölpreisschock und die durch die Ersparnisse der OPEC-Staaten angestoßene Verschuldungskrise weiter geschwächt, während der wirtschaftliche Erfolg der südostasiatischen „Tiger-“Staaten das Lager des Südens erneut spaltete.100 Für die meisten der ärmeren Staaten der Welt hatten sich somit die an ihre Funktion als Rohstoffproduzenten festgemachten Hoffnungen nicht erfüllt, und der weltwirtschaftliche Rahmen, innerhalb dessen diese Staaten leben mussten, lässt sich weiter eher als Chaos denn als positiv verstandene Ordnung beschreiben. Allerdings ist fraglich, ob ein Erfolg der Rohstoffkartelle und anderer Elemente der NIEO zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung der Produzentenländer geführt oder nur die Tendenz zu Rentenökonomien und Resource-Curse verstärkt hätte. Auch wenn für die westlichen Industriestaaten relativ bald deutlich wurde, dass Rohstoffkartelle wie CIPEC kaum in der Lage sein würden, den spektakulären Erfolg der OPEC nachzuahmen, zeigt die intensive Beschäftigung mit dieser Frage in den Jahren ab 1974, dass das Problem weithin ernst genommen wurde. Die Entwicklung auf den Metallmärkten einschließlich ihrer Wahrnehmung im globalen Norden und Süden verdient eine stärkere Aufmerksamkeit, da sie für alle Akteure 99 Wolf: UNO (wie Anm. 13), S. 41–44. 100 Kennedy: Parlament (wie Anm. 13), S. 161–163.

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mit hohen ökonomischen und politischen Kosten verbunden war. Die letztlich fruchtlose Auseinandersetzung zwischen Produzenten- und Verbraucherstaaten band über das gesamte Jahrzehnt hinweg erhebliche politische Ressourcen und lenkte somit von produktiveren Aufgaben ab.101 Die extremen Preisausschläge bei metallischen Rohstoffen nach einer seit den 1950er Jahren andauernden Ära relativer Stabilität (vgl. Abb. 1) führten bei den ökonomischen Akteuren zu einem Verlust von Regelvertrauen und damit Handlungsfähigkeit. Bergbauunternehmen stellten Investitionen zurück oder richteten sie angesichts der Gefahr von Verstaatlichungen oder anderer Eingriffe in ihre Verfügungsrechte zunehmend nach politischen Kriterien aus. Dies resultierte in einem verstärkten Abbau minderwertiger Erze zu höheren Kosten in jedoch politisch zuverlässigen, pro-westlichen Staaten wie Australien, Kanada und Südafrika sowie entsprechenden gesamtwirtschaftlichen Verlusten.102 Zugleich wendeten Unternehmen und vor allem Staaten erhebliche Forschungs- und Entwicklungsmittel für die Rohstoffsuche z. B. in der Tiefsee auf, was nicht zuletzt mit der Notwendigkeit zur Diversifizierung und Erhöhung der Versorgungssicherheit begründet wurde, ohne dass dies bis heute zu einem kommerziellen Abbau solcher Ressourcen geführt hätte.103 Letztlich lässt sich die Rohstoffpolitik der 1970er Jahre als Transformationskrise verstehen, in der auch die Industriestaaten sich mit der Schwierigkeit konfrontiert sahen, sich an eine postkoloniale Weltordnung anzupassen, während die vielen nun unabhängig gewordenen Staaten für sich einen Platz in der Weltwirtschaft finden mussten oder versuchten, die bestehende Ordnung nach ihren Vorstellungen umzugestalten. In seiner weiteren Bedeutung für die „kleine Weltwirtschaftskrise“ der 1970er Jahre ist dieser Aspekt, der sich auch in der neuen Konkurrenz durch die sich nun industrialisierenden „Billiglohnländer“ zeigte, noch nicht hinreichend beachtet worden.

101 Fried: Trade (wie Anm. 6), S. 642. 102 Ebd., S. 646; o. A.: Commodity Rich (wie Anm. 4), S. 77; Radmann: CIPEC (wie Anm. 28), S. 247 f. 103 Sparenberg: Meeresbergbau (wie Anm. 96), S. 121, 128.

AUTORINNEN UND AUTOREN Marcel Boldorf Prof. Dr. Marcel Boldorf, Professor für Deutsche Geschichte und Kultur an der Faculté des Langues der Université Lyon 2. Ute Engelen Dr. Ute Engelen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. Rüdiger Gerlach Dr. Rüdiger Gerlach, Unternehmer in Berlin. Erik Grimmer-Solem Prof. Dr. Erik Grimmer-Solem, Professor in den Departments of History and German Studies der Wesleyan University. Stephanie Hagemann-Wilholt Dr. Stephanie Hagemann-Wilholt, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Informationsbibliothek Hannover. Gisela Hürlimann Dr. Gisela Hürlimann, Oberassistentin am Lehrstuhl für Technikgeschichte der ETH Zürich. Nina Kleinöder Dr. Nina Kleinöder, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philipps-Universität Marburg. Matthias Morys Dr. Matthias Morys, Senior Lecturer am Department of Economics and Related Studies der University of York. Katharina Mühlhoff Dr. Katharina Mühlhoff, Visiting Professor, Universidad Carlos III de Madrid, Faculdad de Ciencias Sociales, Departamento de Historia Económica. Alfred Reckendrees Prof. Dr. Alfred Reckendrees, Associate Professor am Department for Management, Politics and Philosophy der Copenhagen Business School.

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Autorinnen und Autoren

Werner Scheltjens Dr. Werner Scheltjens, Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Historischen Seminars der Universität Leipzig. Antje Schloms Dr. Antje Schloms, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Stadtarchiv Mühlhausen/ Thüringen. Margrit Schulte Beerbühl Prof. Dr. Margrit Schulte Beerbühl, apl. Professorin für Neuere Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Günther Schulz Prof. Dr. Günther Schulz, Professor em. für Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Felix Selgert Dr. Felix Selgert, Akademischer Rat an der Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ole Sparenberg Dr. Ole Sparenberg, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute of History des Karlsruhe Institute of Technology (KIT). Jochen Streb Prof. Dr. Jochen Streb, Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Abteilung Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim. Gerhard Wegner Prof. Dr. Gerhard Wegner, Professor für Institutionenökonomie und Wirtschaftspolitik an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Joachim Zweynert Prof. Dr. Joachim Zweynert, Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Universität Witten/Herdecke.

Die Frage nach dem Verhältnis von „Ordnung und Chaos“ betrifft die Organisation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft, der Verbände und Institutionen, aber auch das persönliche, individuelle Leben und den Alltag des Einzelnen. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hat diese Grundfrage immer wieder aufgegriffen, etwa im Hinblick auf die Verteilung von Armut und Reichtum. Daran knüpfen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes in ihren Beiträgen an, indem sie mit dem Fokus auf „Trends und Brüchen“ danach fragen, welche Faktoren in Wirtschaft und Gesellschaft Wandel und Modernisierung bewirkten – und welche Beharrung. Wie wurden Übergänge und neue Ordnungen

gestaltbar gemacht und schließlich gestaltet? Kann man im Chaos der Erscheinungen Ordnungsmuster, Trends und Brüche erkennen und womöglich nutzbar machen? Anhand ausgewählter wirtschafts- und sozialhistorischer Beispiele vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart geben die Beiträge Einblick in Versuche und Techniken, Regelhaftigkeit und Balance in einer chaotischen Welt herzustellen – vom Umgang mit den Folgen einer Spekulationsblase über die Mechanismen der Währungssicherung bis hin zu den Praktiken des internationalen Handels und der Ausgestaltung von Steuersystemen.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12322-8

9 783515 123228