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German Pages 357 [358] Year 2018
Sterbenarrative
Studies in Spiritual Care
Edited by Simon Peng-Keller, Eckhard Frick, Christina Puchalski, John Swinton
Volume 4
Sterbenarrative
Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende Herausgegeben von Simon Peng-Keller und Andreas Mauz
ISBN 978-3-11-060111-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060024-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059995-4 ISSN 2511-8838 Library of Congress Control Number: 2018950335 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Printing: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Vom eigenen und fremden Sterben zu erzählen, ist populärer denn je. Oft sind es unheilbar Erkrankte, die erzählend von ihrem nahen Lebensende berichten und es auf diese Weise gestalten. Doch auch Hinterbliebene und professionelle Begleiterinnen und Begleiter erzählen vom Sterben. Was zeichnet dieses Erzählen aus? Was bestimmt seine Semantik und Pragmatik? Was unterscheidet Sterbeerzählungen von breiter angelegten biographischen Narrationen – und insbesondere von Krankheitserzählungen? Welche narratologischen Ansätze und Einsichten sind zu ihrer Erschließung von besonderem Interesse? Und was könnte in diesem Kontext der Begriff des Sterbenarrativs leisten? Lässt er sich als Nebenbegriff zur Sterbeerzählung in Anschlag bringen, etwa als Bezeichnung von Tiefenstrukturen oder allgemeineren Grundmustern dieses Erzähltypus? Ist die Rede von Sterbenarrativen geeignet, die vielfältigen kontextuell bestimmten Formen des Erzählens vom Sterben auf erzählgrammatischer Ebene zu bündeln? Die Lebensendforschung hat die Bedeutung des Erzählens am Lebensende seit Langem erkannt. Dennoch sind die Eigentümlichkeiten von Sterbenarrativen bislang nur punktuell in den Blick gekommen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu imaginativem Erleben am Lebensende sollte eine interdisziplinäre Forschungstagung dazu beitragen, die Eigenarten narrativer Thematisierung des Lebensendes auszuloten und das Potential der Rede von Sterbenarrativen zu prüfen.¹ Das genannte Forschungsprojekt basierte zunächst auf narrativ strukturierten Zeugnissen imaginativen Erlebens und symbolischer Kommunikation in Todesnähe. Die Bedeutung dieser narrativen Vermittlung trat während der ersten Projektphase weit deutlicher hervor, als wir dies ursprünglich vermutet hatten. Insbesondere sahen wir uns mit dem Problem der Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit der untersuchten Berichte konfrontiert bzw. mit der Frage, was diese normativen Kategorien im gegebenen Zusammenhang überhaupt bedeuten könnten. Das galt in besonderem Maße für die folgenden drei Fälle: (1.) für Memorate, die das Erleben anderer betreffen (nach Couser gilt: „such narratives may be unconsciously patronizing“ – oder sie sind dies ganz bewusst aus bestimmten strategischen Kalkülen)²; (2.) für Erfahrungen, die in außeralltäglichen Bewusstseinszuständen gemacht wurden (Nahtoderfahrungen, oneiroides Erleben, Professur für Spiritual Care und Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie, Theologische Fakultät Zürich, 21.–22. Januar 2016. Thomas G. Couser, Recovering Bodies. Illness, Disability, and Life Writing (London: University of Wisconsin Press, 1997), 6. https://doi.org/10.1515/9783110600247-001
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Vorwort
visionäre Träume und Wachvisionen von Sterbenden); (3.) für Erzählungen von Personen, die zum Zeitpunkt des Erzählens unter Bewusstseinstrübungen litten.³ Die Spezifik des Teilprojekts, dessen Ergebnisse hier vorgelegt werden, lag daher in einer genaueren Untersuchung der Erzählpraktiken und -formen, die unsere Quellentexte auszeichnen, bzw., in methodischer Hinsicht, in der Verbindung von Hermeneutik und Narratologie. Als Leitbegriff für diese Fragerichtung bot sich „das Sterbenarrativ“ an, ein Terminus, der in der Forschungsliteratur zwar gelegentlich auftaucht, doch noch kaum ausgearbeitet ist. Dieses Teilprojekt ergänzte nicht allein unsere bisherige Forschung; es sollte auch eine Lücke innerhalb aktueller Lebensend-Diskurse füllen. Mag es zu den kaum bestrittenen Einsichten der Lebensendforschung gehören, dass der enge Zusammenhang von Narrativität und Identität, von Selbsterzählung und Selbstbestimmung, für die Begleitung von Sterbenden von hoher Bedeutung ist – in theoretischer und praktischer Hinsicht ist diese bisher nur unzureichend reflektiert. Zum interdisziplinär geformten Sinn für die praktische Relevanz von Krankheitsnarrativen, der in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der Narrative Medicine etabliert wurde, findet sich bislang, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, noch kaum entsprechende Sensibilität für die Bedeutung von Sterbenarrativen für die Palliative Care. Die Gründe dafür sind vielfältig: Erzählungen von Sterbenden sind wissenschaftlich schwer zugänglich. Sie treten zudem oft in fragmentarischen und ‚gebrochenen‘ Formen auf und sind deshalb leicht zu überhören. Das führt nicht nur zu einem Forschungs-Bias, sondern hat auch praktische Folgen: Was wenig wahrgenommen und empirisch schwer erfassbar ist, wird weniger erforscht und in der Folge innerhalb von Praxisfeldern geringer gewichtet. Gleichzeitig dominieren in Öffentlichkeit und Forschung stereotype Sterbenarrative. Die einseitige „Beispieldiät“ (Wittgenstein) und mangelhafte Vermittlung von hermeneutischen und narratologischen Kompetenzen in medizinischen, pflegerischen und seelsorgerlichen Ausbildungsgängen beeinträchtigen die Begleitung von Sterbenden. Die praktische Relevanz unserer Untersuchung und des vorliegenden Bandes soll entsprechend in einer Sensibilisierung für die Bedeutung des Erzählens am Lebensende liegen. Die differenzierte Wahrnehmung von Sterbenarrativen bildet eine bisher unzureichend genutzte
Die Ergebnisse des Basisprojekts sind bereits zugänglich.Vgl. Pierre Bühler, Simon Peng-Keller, Hg., Bildhaftes Erleben in Todesnähe: Hermeneutische Erkundungen einer heutigen Ars moriendi (Zürich: TVZ, 2014); Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wachvisionen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care (Berlin: de Gruyter, 2017); Simon Peng-Keller, Hg., Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen (Berlin: de Gruyter, 2017).
Vorwort
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Chance für die Ausbildung von Berufsleuten, die mit der Begleitung von Sterbenden beauftragt sind. Unser Dank gilt dem Schweizerischen Nationalfonds für die Ermöglichung des Projekts sowie dem Forschungsteam, welches das Projekt mitverantwortete, allen voran Prof. Dr. Pierre Bühler, doch ebenso auch Prof. Dr. Brigitte Boothe, Prof. Dr. Ralph Kunz, Prof. Dr. Ingolf U. Dalferth, PD Dr. Andreas Hunziker sowie Dr. Franzisca Pilgram-Frühauf und lic. theol. Susanne Altoe für die redaktionelle Unterstützung. Zu danken ist ferner allen Beiträgerinnen und Beiträgern der Tagung bzw. des vorliegenden Bandes und dem Team des Instituts für Hermeneutik für Hermeneutik und Religionsphilosophie (IHR). Und last but not least danken wir den beiden Gutachtern, die die vorliegenden Beiträge kritisch glossiert haben, und dem Verlag de Gruyter, der zuverlässig um die Drucklegung besorgt war. Zürich, im März 2018
Simon Peng-Keller, Andreas Mauz
Inhalt Simon Peng-Keller und Andreas Mauz Erzählen am und vom Lebensende 1 Zur Einleitung
I. Grundlegende Aspekte Andreas Mauz Sterbenarrativ und Sterbeerzählung Beobachtungen und Vorschläge zur Terminologie narrationsbezogener Lebensendforschung 19 Emil Angehrn Sich zu Ende erzählen? Möglichkeiten und Grenzen einer erzählerischen Annäherung an das 61 eigene Lebensende Tobias Klauk und Tilmann Köppe Sterbeerzählungen aus narratologischer Sicht
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II. Spezifische Felder Christian Klein Vom Ende erzählen – über das Sterben in Biographien
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Arnulf Deppermann Multimediale Narration im Angesicht des Todes Zeugnisse terminaler KrebspatientInnen im Internet
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Brigitte Boothe und Dragica Stix Letzte Mitteilungen vor dem Tod Abschiedsbriefe am selbstgewählten Lebensende Franzisca Pilgram-Frühauf Sterbende Erinnerungen Autobiografische Texte von Menschen mit Demenz
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Inhalt
III. Ethische Reflexionen Walter Lesch Theologisch-ethische Annäherungen an aktuelle Erzählungen des eigenen Sterbens 179 Michael Coors Narrative des guten Sterbens Zur Normativität narrativer Schemata in der ethischen Diskussion über das 197 Lebensende Nina Streeck Ende gut, alles gut? Sterbeerzählungen in der narrativen Ethik
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IV. Praktische Perspektiven Wolfgang Drechsel Sterbenarrative aus der Sicht der Krankenhausseelsorge
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Walter Bruchhausen Sterbenarrative im Horizont der Narrative Medicine und Medical 259 Humanities Heike Gudat Erzählen am Lebensende im Kontext von Palliative Care
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V. Rück- und Ausblick Simon Peng-Keller Letzte Worte und weitergehende Geschichten Vom vielfachen Sinn des Erzählens am Lebensende Namenregister Sachregister
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Erzählen am und vom Lebensende Zur Einleitung
1 Konzeptionelle Überlegungen: Sterbenarrative und Sterbeerzählungen Eine Klärung des Potentials, das der Rede von „Sterbenarrativen“ innewohnt, wird sich zu einer signifikanten Spannung zu verhalten haben, die den Begriff des „Narrativs“ auch jenseits des Kontextes des Erzählens am und vom Lebensende auszeichnet. Vor allem im Umkreis der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung lässt sich beobachten, dass Narrative in zumindest zwei Weisen zur Sprache kommen: Einerseits dient der Begriff zur Bezeichnung bestimmter Erzähltexte (und stellt insofern ein Synonym zu „Narration“, „Erzählung“ oder „Geschichte“ dar)¹; andererseits verweist die Rede von Narrativen oft auch auf die tiefere Dimension von Erzählmustern, -schemata oder -stoffen, die sich in konkreten Erzähltexten oder anderen kulturellen (Erzähl‐)Phänomenen vielfältig manifestieren.² Unser Versuch, das „Sterbenarrativ“ als deskriptive und kritische Kategorie im Forschungsdiskurs zu etablieren, muss diesem Doppelsinn Rechnung tragen. Der Aufbau einer spezifischen Terminologie, die den Grundbegriff des „Sterbenarrativs“ entfaltet, wird darüber hinaus aber auch dem engeren Wortfeld nachgehen müssen, insbesondere dem verwandten Begriff der „Sterbeerzählung“. Unser Vorschlag geht, kurz gesagt, dahin, den zu beobachtenden Doppelsinn der Rede von „Sterbenarrativen“ möglichst zu vermeiden und den Begriff gerade
In diesem Sinne wird der Begriff im vorliegenden Band beispielsweise von Heike Gudat (283 – 308) verwendet, wobei sie auch Piercings und Tattoos als Narrative betrachtet, insofern diese von wichtigen Lebensereignissen ‚erzählen‘. Für den zweiten Sinn verwendet Gudat die Begriffe „Erzählmuster“ und „Storylines“. Man vergleiche etwa die Rede vom „Narrativ der Säkularisierung“ oder „Aufklärung“ oder die Wahrnehmung der „Krise“ als „Narrativ der Moderne“. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (Frankfurt a/M: S. Fischer, 2012), 258 ff.; Uta Fenske, Hg., Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne (Bielefeld: Transcript, 2013). Für eine ausführliche Explikation des Narrativ-Begriffs: Norman Ächtler, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: KulturPoetik 14/2 (2014), 244– 268. https://doi.org/10.1515/9783110600247-002
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durch eine gezielte Unterscheidung vom dem der „Sterbeerzählung“ präziser zu fassen. Letzterer wäre zu reservieren für das unüberschaubare Feld manifester Erzähltexte, die so oder anders vom Sterben handeln; ersterer – das „Sterbenarrativ“ – diente damit ausschließlich zur Bezeichnung der Erzählmuster, die Sterbeerzählungen in ihrer Grundstruktur bestimmen, allenfalls aber auch in ihrer kleinteiligeren Anlage.³ Um die Differenz wie Bezogenheit beider Begriffe anhand eines Beispiel knapp zu erläutern: Der Filmemacher Luis Buñuel (1900 – 1983) imaginiert in seinen autobiographischen Aufzeichnungen (1982), wie es wäre, vor seinem „letzten Seufzer“ einen „letzten Scherz“ zu machen, nämlich trotz seines Bekenntnisses zum Atheismus und im Beisein seiner ihrerseits atheistischen Freunde auf dem Sterbebett überraschend das katholische Sterbesakrament zu empfangen und als „guter Christ“ ruhig zu sterben.⁴ Die wenigen Zeilen dieser Darstellung lassen sich einerseits als prospektive autobiographische Sterbeerzählung beschreiben (genauer noch: als Sterbeerzählung im engeren Sinn, weil die Darstellung zeitlich wie räumlich exklusiv auf die Sterbeszene selbst fokussiert bleibt). Andererseits lässt sich behaupten, Buñuels Erzählung realisiere nicht nur ein Sterbenarrativ, sondern mehrere zugleich, nämlich (1.) das Narrativ einer Konversion in extremis, das sich seinerseits (2.) als eine Ausprägung des allgemeineren Narrativs einer Virulenz des Religiösen am Lebensende ausnimmt. Dieses wiederum erscheint hier (3.) noch einmal fundiert im vielleicht basalsten Narrativ überhaupt: dem einer biographischen Kontinuität bzw. Diskontinuität am Lebensende, einem Sterben, das dem früheren Leben „gemäß“ ist bzw. gerade nicht.⁵ Das Beispiel deutet nicht nur an, wie sich das Verhältnis beider Grundbegriffe darstellt. Es zeigt auch, dass diese jeweils intern weiter ausdifferenziert werden müssen und können. Und schließlich lässt die beispielhafte Entfaltung auch erahnen, dass beide Begriffe, obwohl ein Paar bildend, prinzipiell verschiedene Phänomenbereiche adressieren: Während sich Sterbeerzählungen auch im engsten Horizont immanent operierender Textbeschreibungen (oder -analysen) als solche erkennen lassen, fallen Aussagen über die Sterbenarrative notwendigerweise in das Register höherstufiger Textinterpretationen. Sie überschreiten die Schwelle des Einzeltextes und schließen, um in ihrem virtuellen Charakter überhaupt plausibel zu sein, immer andere Texte und kontextuelle Daten ein. Die Zur korrelativen Bestimmung beider Begriffe ausführlich der Beitrag von Andreas Mauz (19 – 59). Man vergleiche aber auch die verwandten begriffsstrategischen Überlegungen Michael Coors’ (197– 216). Vgl. Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Erinnerungen (Frankfurt a/M: Ullstein, 1985), 249. Für eine ausführliche Diskussion des Beispiels vgl. den Beitrag von Andreas Mauz, 43 f.; 48 – 50.
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Zuschreibung des Sterbenarrativ-Begriffs (bzw. eines bestimmten Sterbenarrativs) wird daher immer strittiger sein als der der Sterbeerzählung. Einige Aspekte, die uns in Verbindung mit dem genannten Begriffspaar, aber auch unabhängig von ihm, wichtig zu sein scheinen, seien noch ausdrücklich benannt: Sterbeerzählungen stammen entweder vom/von der Betroffenen selbst (Selbstbericht) oder von einem Beobachter (Fremdbericht), sei dieser ein Angehöriger, eine Freundin oder ein professioneller Helfer. Sterbeerzählungen und – damit – auch Sterbenarrative liegen in unterschiedlichen Medien vor, sei es schriftlich, mündlich oder audiovisuell. Sie kennen unterschiedliche Grade der Öffentlichkeit und Verbreitung – und folgen entsprechend unterschiedlichen Mustern „biographischer Kommunikation“⁶. Wir vermuten, dass sich Sterbeerzählungen und -narrative vor allem im Fall von Selbstberichten u. a. durch die folgenden Momente charakterisieren lassen: (1.) die plötzliche Konfrontation mit dem Lebensende als besondere Gestalt der peripeteia; (2.) die erzählerische Suche nach der Kohärenz und Essenz der zu Ende gehenden Lebensgeschichte einerseits (3.) und ihrem Ziel- und Endpunkt andererseits; (4.) der selbsttherapeutische Versuch, erzählend mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen und Fehler und Versäumnisse in Form einer narrativen Konfession zu verarbeiten; (5.) die erzählende Verarbeitung von krankheitsbedingtem Kontrollverlust, leibseelischem Schmerz und unvertrauten Erfahrungen; (6.) erzählerische Formen des Sich-Verabschiedens, des Vermächtnisses und der Verewigung des gelebten Lebens.
2 Bedeutung unterschiedlicher Erzählformen und Erzähltypen Sterbeerzählungen können u. a. vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung zu Krankheit und Erzählung nach typischen Formen untersucht werden.⁷ Um einer
Michael Corsten, Biographie zwischen sozialer Funktion und sozialer Praxis, in: Christian Klein, Hg., Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien (Stuttgart: Metzler, 2009), 95 – 102, 96. Vgl. aus der Fülle neuerer Literatur exemplarisch: Stephanie Bölts, Krankheiten und Textgattungen: gattungsspezifisches Wissen in Literatur und Medizin um 1800 (Berlin: de Gruyter, 2016); Franziska Gygax und Miriam A. Locher, Hg., Narrative matters in medical contexts across disciplines (Amsterdam: Benjamins, 2015); Rudolf Käser und Beate Schappach, Hg., Krank geschrieben. Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin (Bielefeld: Transcript, 2014). Vgl. in unserem Band insbesondere die Beiträge von Heike Gudat (283 – 308) und Walter Bruchhausen (259 – 282).
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einseitigen „Beispieldiät“ (Wittgenstein) entgegenzuwirken, kommt im vorliegenden Band ein breites Formenspektrum zur Sprache. Dieses wird etwa mit den folgenden Leitfragen konfrontiert: – Inwieweit folgen die Erzählungen gemeinsamen und konventionellen Grundstrukturen (einer Tiefengrammatik oder eben einem oder mehreren Narrativen), oder weichen sie von solchen ab? – Sind gewisse Schemata spezifisch für gewisse Quellentypen? – Welche erzählerischen Komplikationen ergeben sich aus den Besonderheiten von Sterbeprozessen, und wie werden sie reflektiert und gelöst (z. B. durch den Wechsel von Analepsis und Prolepsis, von Erzählung und Beschreibung etc.)? – Wie verhalten sich insbesondere Erzählzeit und erzählte Zeit zueinander? Wie viele Seiten nimmt die Darstellung eines bestimmten Sterbeprozesses in Anspruch (bzw. in welchem Tempo wird er erzählt)? – Welchen Intentionen folgen die Narrative bzw. Erzählungen? – Wie verhält es sich mit (markierten oder unmarkierten) intertextuellen Verweisen auf andere Sterbeerzählungen bzw. -narrative? – Wie verhalten sich verschiedene Darstellungen eines und desselben Sterbeprozesses zueinander? Stilbildend für das Erzählen in Todesnähe ist nach unserer Vermutung die Suche nach narrativer Einheit einer Lebensgeschichte, der Konkordanz in der Vielfalt dissonanter Ereignisse und auseinanderlaufender Lebensfäden. Aufgrund der gesichteten Literatur zeigt sich eine Vielfalt narrativer ‚Lösungen‘ und Erzählstile: tragische und harmonisierende, lineare und polyphone etc. Auch die erzählerisch bedeutsame Frage nach dem End- oder Zielpunkt einer Lebensgeschichte, der in die Zukunft, aber auch in die Gegenwart gelegt werden kann, lässt verschiedene Antworten zu. So kann das Lebensende als Erfüllung, Abbruch, Abschluss oder Übergang erlebt und erzählt werden.⁸ Eine besondere erzählerische Komplikation ergibt sich daraus, dass sich Sterbeerzählungen per definitionem dadurch auszeichnen, dass sie zwar ihr Ende vorausahnen und vorwegnehmen können, die Finalphase des Sterbens sich jedoch zumindest dem schriftlichen Erzählen entzieht. Hier kann zum einen ein mündliches Erzählen einspringen, durch das Sterbende berichten, was sie erleben (in unserer Forschungen begegnete uns dies
Allan Kellehear, The Inner Life of the Dying Person (New York: Columbia University Press, 2014); Frank Kermode, The Sense of an ending. Studies in the Theory of Fiction (Oxford: OUP, 1966).
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u. a. in Gestalt narrativ strukturierter Berichte von visionärem Erleben)⁹. Zum anderen kann die finale Erzählung von fremder Hand nachgereicht werden: in Gestalt von Vor- und Nachworten, die den postum publizierten Memoraten beigefügt werden (ein bekanntes Beispiel dafür ist Max Frischs Totenrede, die als Anhang zu Peter Nolls Diktate[n] über Sterben und Tod publiziert wurde)¹⁰. Dass faktuale Sterbeerzählungen oft und naturgemäß den Charakter von Fragmenten aufweisen, verdient diesbezüglich einer besonderen Beachtung. So beginnt Gerda Lerner ihren Bericht über das Sterben ihres Mannes mit der Bemerkung: „Dieses Buch ist ein Fragment, das aus Fragmenten besteht.“¹¹ Sterbeerzählungen, die von Hinterbliebenen oder professionellen Helferinnen und Helfern verfasst werden, tragen, so vermuten wir, deutlich andere Züge, obwohl sie von derselben peripeteia ausgehen. Für sie dürfte eine Abgeschlossenheit charakteristisch sein, die stärker zur trauernden Vergegenwärtigung des Entschwundenen Anlass gibt. Christian Hart Nibbrig umschreibt diese mit Blick auf fiktionale Erzählungen prägnant: „Noch war jemand da, schon ist er weg, und in seinem Wegsein da, ganz, wie sonst nie. Der Tod ist der Meißel der Totalität.“¹² In Anknüpfung an unsere Untersuchungen zum imaginativen Erleben am Lebensende interessiert uns insbesondere auch, welche Rollen Metaphern in den zu analysierenden Erzählungen erfüllen bzw. das Verhältnis von narrativer und metaphorischer bzw. symbolischer Kommunikation in Todesnähe. Diesen Sprachmodi ist Rechnung zu tragen, weil sie u.U. innerhalb von Erzählungen auf Grenzen des Erzählbaren hinweisen. Denn diese Grenzen sind ohnehin zu bedenken: Was entzieht sich in der Extremsituation des nahenden Lebensendes der Erzählbarkeit, was widersetzt sich nachhaltig einer narrativen Integration zu einer „schlüssigen Geschichte“ – oder führt zu einer Narrativität anderer Art?
3 Zur Methodik Das Projekt war von der Intention geleitet, eine narratologisch profilierte Hermeneutik zu entwickeln, welche die spirituelle und ethische Bedeutung von Sterbeerzählungen und -narrativen kenntlich zu machen vermag. „Hermeneutisch“ ist die angezielte Forschung in einem dreifachen Sinn, einem anthropolo-
Vgl. Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wachvisionen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care (Berlin: de Gruyter, 2017). Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod. Mit der Totenrede von Max Frisch (2004) (München: Piper, 2009). Gerda Lerner, Ein eigener Tod (Frankfurt a.M.: Campus, 1993), 7. Christiaan Hart Nibbrig, Ästhetik der letzten Dinge (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989), 10.
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gischen, theologischen und einem methodischen. Im Anschluss an die entsprechenden philosophischen und theologischen Denktraditionen verstehen wir den Menschen als Wesen, dem es gleichermaßen als Möglichkeit wie als Aufgabe gegeben ist, die Welt und insbesondere auch sich selbst zu verstehen. Da dieses Selbstverstehen immer eines ist, das sich im (Nicht‐)Verstanden-Werden durch andere vollzieht, stellt sich fundamental die Frage nach den kommunikativen Modalitäten dieses Selbstverstehens. Im Anschluss an bestimmte Stränge der Theoriebildung (Paul Ricœur, Alasdair MacIntyre u. a.) kommt dabei zentral die Praxis des Erzählens in den Blick: das Selbstverstehen im Kollektiv durch den Aufbau vielfach verstrickter Lebensgeschichten.¹³ Die Rede von einem „hermeneutischen“ Zugang verweist mithin auf einen theologischen und lebenshermeneutischen Denkhorizont, der nicht nur, aber insbesondere in Modellen narrativer Identitätstheorie konkret wird. Darüber hinaus bezeichnet die Rede von „Hermeneutik“ aber auch einen methodischen Grundzug der Untersuchung: Ihr Vollzug sollte sich mit einer permanenten Reflexion auf die Eigenart und Legitimität der Begrifflichkeiten, Argumentationsmuster, Schemata etc. verbinden, die die Untersuchung konstituieren und voranbringen. Der Fokus sollte ebenso auf dem interpretierten Gegenstand liegen wie auf dem vielfältigen Interpretationshandeln, das sich mit diesem verbindet. Aufgrund der Konzentration auf Erzählphänomene konnte dieses methodisch-hermeneutische Profil konkret werden in der Bezugnahme auf die Erzähltheorie bzw. Narratologie. Insbesondere die Leistungsfähigkeit der literaturwissenschaftlichen Narratologie sollte kenntlich werden – und zwar ebenso in ihrer textanalytischen Variante in der Tradition des Strukturalismus wie in Gestalt neuerer kognitivistischer Ansätze.¹⁴ Dies scheint fällig, da in der vorliegenden Forschung oft eher holistisch von „Erzählung“, „Geschichte“, „erzählen“ etc. die Rede ist und das Differenzierungspotenzial jener Theoriebildungen nicht ausgeschöpft wird.
Vgl. u. a. Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem (Frankfurt a/M: Suhrkamp, 2007); Michael G. W. Bamberg, Selves and identities in narrative and discourse (Amsterdam: Benjamins, 2007). Vgl. neuerdings und mit einem Akzent auf bio- und medizinthetischen Aspekten auch Hille Hakers Appell für die Arbeit an einer „Critical Hermeneutics of Illness and Dying“. Vgl. dies., Beyond ‚The Anticipatory Corpse‘ – Future Perspectives for Bioethics, in: Journal of Medicine and Philosophy 41 (2016), 597– 620. Vgl. Etwa David Herman u. a., Hg., Narrative Theory: Core Concepts and Critical Debates (Columbus: Ohio State University Press, 2012); Greta Olson, Hg., Current trends in narratology (Berlin: De Gruyter, 2011).
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4 Die Wortfeldsemantik als Bezugstheorie zur Untersuchung von Sterbenarrativen Unabhängig von den vielfältigen Aspekten, die für den höchst individuellen psychophysischen Vorgang des Sterbens relevant werden können, steht der basale Sachverhalt, dass es sich beim Sterben eben darum handelt: um einem mehrstufigen Vorgang, einen Prozess, der eine bestimmte Verlaufslogik aufweist. Sei es in prospektiver Erwartung oder in retrospektiver Beschreibung: Die Rede vom Sterben bezeichnet als summarische Kategorie eine recht komplexe Reihe von Handlungen und/oder Ereignissen, die auf- und auseinander folgen.¹⁵ Wenn der vorliegende Band nun nicht nur den Eigenarten manifester Erzählungen vom Sterben fragt (nach Sterbeerzählungen), sondern auch nach den allgemeineren Mustern, die diese in ihren Grundstrukturen bestimmen (nach Sterbenarrativen), so mag es aufschlussreich sein, probehalber auch eine linguistische Perspektive einzubeziehen.¹⁶ Was instruktiv sein dürfte, ist, genauer gesagt, eine Einlassung auf die linguistische Semantik in Gestalt der Wortfeldforschung. ¹⁷ Denn die vielfältigen Eigenheiten von Sterbeprozessen bzw. die reflexive Modellierung derselben, zeigen sich auch in einem sehr breiten Vokabular zu ihrer Benennung. Das Verb „sterben“ kennt unzählige bedeutungsverwandte Alternativen, die insofern keine Synonyme, sondern Hyponyme sind (also Unterbegriffe des Hyperonyms/Überbegriffs „Sterben“), als dass sie über den bloßen Sachverhalt des Eintretens des Lebensendes hinaus verschiedenste weitere Informationen transportieren. Und zumindest einige dieser Informationen dürften Vgl. einführend etwa: Hubert J. Bardenheuer, Abläufe und Phasen des Sterbens, in: Michael Anderheiden und Wolfgang U. Eckart, Hg., Handbuch Sterben und Menschenwürde, Bd. 1 (Berlin, de Gruyter, 2012), 421– 426. Die Rede von einer „komplexen Reihe von Handlungen und/oder Ereignissen“ erschließt sich insbesondere auch im Kontrast zur vergleichsweise einfachen und ‚kompakten‘ Phänomenalität der Handlung des Trinkens oder Türöffnens. Zu prüfen wäre, wie einer der Reviewer unseres Bandes zu Recht angemahnt hat, auch die Erschließungskraft eines semiotischen Zugangs zu den hier thematisierten Erzählphänomenen. „Ein Wortfeld ist eine Gruppe von Lexemen, die die folgenden Bedingungen erfüllen: die Lexeme gehören zu derselben grammatischen Kategorie; ihre Bedeutungen haben gemeinsame Bestandteile; zwischen ihnen bestehen klar definierte Bedeutungsbeziehungen; die Gruppe ist bezüglich dieser Beziehungen abgeschlossen.“ Sebastian Löbner, Semantik. Eine Einführung (Berlin: de Gruyter, 2003), 131 (Kursive im Original Fettdruck). Das Wortfeld „sterben“ fällt allerdings insofern nicht unter diese ausdrücklich als „relativ eng“ (ebd., 130) bezeichnete Bestimmung des Terminus, als es die beiden letztgenannte Kriterien nicht erfüllt. Anders als etwa die einschlägigen Exempla der Wochentage, der Verwandtschaftsbeziehungen oder auch des kontradiktorischen Wortpaars wahr/falsch weisen die Elemente des Wortfeldes „sterben“ keine „klar definierten“ und „abgeschlossenen“ Bedeutungsbeziehungen auf.
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in enger Verbindung zu eben jenen Mustern stehen, die auch umfangreichere erzählerische Thematisierungen des Lebensendes in ihren Grundstrukturen regulieren. Thetisch formuliert: Die Lexeme, die das Wortfeld bilden, lassen sich vielleicht nicht in allen Fällen, aber doch in einigen auch als maximal komprimierte Sterbenarrative fassen – maximal, weil sie einen unter Umständen sehr langen, kleinteiligen und heterogenen Prozess auf einen einzigen Begriff bringen, weil sie eine Perspektive installieren, die diese Varietät summarisch als Einheit fasst. Diese These ist nun anhand von Leo Weisgerbers Hinweisen zum betreffenden Wortfeld näher zu entfalten. In Weisgerbers Grundzüge[n] der inhaltbezogenen Grammatik (41971) findet sich die folgende Darstellung:¹⁸
Zunächst muss auffallen, dass Weisgerber nicht den Begriff „Sterben“ als verbale ‚Nullstufe‘ des Wortfeldes wählt, sondern „Aufhören des Lebens“. Das „Sterben“ lagert sich in einem ersten Kreis um dieses an, Seite an Seite mit dem „Eingehen“ und dem „Verenden“. Wenn man konzentrische Schemata dieser Art intuitiv als hierarchische Ordnungen wahrnimmt – als Darstellung, die vom allgemeinsten
Leo Weisgerber, Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik, 4. Aufl., Düsseldorf (Pädagogischer Verlag Schwann, 1971), 184. Weisgerber zieht „die sprachlich Fassung des Sterbens“ als besonders prägnantes Exempel für ein „mehrschichtiges Wortfeld“ heran (183). Dieser systematische Ort ebenso wie die generelle Fundierung seines Entwurfs in der energetischen Sprachauffassung Wilhelm von Humboldts sind im gegebenen Zusammenhang vernachlässigbar. Den Hinweis auf Weisgerbers Schema verdanken wir Kollegin Dr. Marina Iakushevich (Linguistik, Universität Paderborn).
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Innersten zu einer immer besonderen Äußeren führt –, so wird diese Intuition hier enttäuscht. Die auffällige Verschiebung vom „Sterben“ zum „Aufhören des Lebens“ wird von Weisgerber erstaunlicherweise auch nicht ausdrücklich kommentiert. Aus der Explikation seiner leitenden These, die deutsche Sprache lege „einen dreifachen gedanklichen Ring um das sterben [sic]“¹⁹, geht aber auch hervor, weshalb er das Wortfeld so betitelt: In einem innersten [Ring] wird das menschliche sterben abgehoben von dem verenden des Tieres und dem eingehen der Pflanze. Das sterben selbst wird dann von zwei Seiten aus gefasst. Ein [zweiter] Ring von Wörtern stellt mehr den sachlichen Befund in den Vordergrund, die tatsächlichen Begleitumstände des sterbens. Das geht also von einem krankhaften erliegen über ein ungewöhnlicheres (gewaltsameres) umkommen, speziell in den Formen des verhungerns, verdurstens, erstickens, ertrinkens, verbrennens, verblutens usw. zu einem soldatischen fallen und einem elenden zugrunde gehen. Noch viel reicher als diese objektive Seite ist die subjektive ausgeprägt [= dritter Ring]: die gefühlsmäßige Einstellung zum Sterben, ein Tod im Urteil der Mitmenschen. Das führt von einem registrierenden versterben einerseits über ein verhüllendes erblassen, ein behutsames einschlummern, entschlafen zu einem tröstlichen hinscheiden, hinübergehen, einem, gläubig-hoffnungsfrohen heimgehen; andererseits über ein hartes verscheiden, ein endgültiges erlöschen, ein naturalistisches verröcheln bis zum drastischen abkratzen und trostlos-tierischen verrecken. (184 f.)
Im argumentativen Kontext Weisgerbers steht, unabhängig vom Strukturierungsvorschlag der drei Ringe, zunächst auch die faktische Pluralität, der Reichtum der sprachlichen Ausdrucksmittel im Vordergrund. Der „beachtliche Vorrat von Möglichkeiten“ (183) wird regelrecht gefeiert. Das Wortfeld „Sterben“ gilt ihm als „eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie die Muttersprache ein vom Erfolg her ziemlich einheitliches Geschehen unter der Vielheit von Gesichtspunkten vor Augen stellt“ – einer Vielheit, die sich eben (nebst der basalen Ebene der Bezüge auf eine bestimmte Spezies) strukturieren lässt nach den „Mannigfaltigkeiten des Verlaufes selbst“ bzw. den „menschlichen Einstellungen“ zu diesen (184). Im gegebenen Zusammenhang ist es allerdings notwendig, flankierend zu dieser Pluralität auch eine gegenläufige Tendenz zu betonen. Hält man sich die faktische Heterogenität von Sterbeprozessen vor Augen bzw. die interne Komplexität eines bestimmen Sterbens, so zeigt sich gerade die vereinheitlichende Tendenz jenes linguistischen „Vorrats“. Er umfasst durchaus ein reiches Angebot; von ihm Gebrauch zu machen, bedeutet aber, ein Sterben auf eine verbale Kurzformel zu bringen, es unter einer Hinsicht zu subsumieren. Dieses Sterben war ein
Weisgerber wählt bei den in Frage stehenden Verben konsequent die Kleinschreibung.
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„Erlöschen“, jenes ein „Ertrinken“, dieses ein „Heimgehen“, jenes ein „Verrecken“. Genau diese vereinheitlichende und komplexitätsreduktive Subsumption gibt Anlass dazu, die Elemente des Wortfeldes auch als maximal komprimierte Sterbenarrative in Betracht zu ziehen. Am Beispiel des „soldatischen fallen[s]“ ausgeführt: Dieses verbale Angebot indiziert nicht nur die Tätigkeit, die ursächlich zum Ableben des betreffenden Menschen geführt hat (der militärische Kontext eines bewaffneten Konflikts); es hat – und dies durchaus nicht nur in historischem Sprachmaterial – eine Nähe zum „Heldentod“, zum selbstlosen Einsatz „für das Vaterland“, der die faktisch beschreibbaren Umstände des „Fallens“ gerade durch politische Ideologie verdrängt. Die linguistische Semantik ist zumindest deshalb von Interesse, weil Weisgerber durch seine These vom „dreifachen sprachlichen Ring“, den das Wortfeld bildet, einen plausiblen Strukturierungsvorschlag macht. Diese Struktur lässt sich auch auf das Feld der Sterbenarrative übertragen. Auch diese können tendenziell deskriptiv sein, indem sie primär den „Mannigfaltigkeiten des Verlaufes“ eines Sterbens gelten; sie können aber auch relational sein, indem die „menschliche Einstellung“ zu einem Sterbeprozess im Vordergrund steht.²⁰ Diese Unterscheidungen im Sinn einer Arbeitshypothese zu prüfen, schließt nicht aus, dass es andere Weisen geben mag, die Kategorie des Sterbenarrativs intern auszudifferenzieren.²¹ Das Beispiel des „Fallens“ zeigt zugleich an, wie kontextaffin jene – wie man sagen könnte – „Verbalnarrative“ sind, nicht anders natürlich als ihre umfangreicheren Varianten. Es mag sein, dass jener „Heldentod“ in anderem Kontext – nicht bei der Abdankung oder im Nachruf, sondern im Privatgespräch – gerade nicht als ein „Fallen“, sondern als ein „Verrecken“ angesprochen wird und auch effektiv beschreibend zur Darstellung kommt. Unsere Hinweise zur Wortfeldsemantik zeigen zugleich, in welcher Weise der vorliegende Band die Rede von Sterbenarrativen prinzipiell ins Spiel bringt: Die Kategorie wird nicht als eine schon ausgearbeitete präsentiert (womöglich einschließlich eines umfassenden materialen Verzeichnisses historisch und/oder
Wir schlagen diese Begrifflichkeit vor als hermeneutisch unverfänglichere Alternative zu Weisgerbers Rede von einer „objektiven“ und einer „subjektiven Seite“ (ebd., 184 f.). Und wenn Weisgerber über die Unterscheidung des zweiten und dritten Rings hinaus auch feststellt, dass der dritte (relationale) „[n]och viel reicher“ sei als der (deskriptive) zweite, so gibt dies Anlass, auch in der Sphäre der Sterbenarrative quantitative Erwägungen anzustellen. Vgl. die oben anhand des Buñuels-Beispiels angedeutete Verschachtelung primärer, sekundärer und tertiärer Narrative bzw. den Beitrag von Andreas Mauz, 58 f. Eine analoge Differenz lässt sich auch machen in Bereich der Sterbeerzählungen, etwa anhand einer Unterscheidung der präsentativen von der reflexiven Sterbeerzählung (ebd., 47 f.).
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gegenwärtig dominierender Narrative).²² Die Thematisierung bewegt sich vielmehr im Vorfeld eines konzeptionellen Entwurfs. Es wird ausgelotet, wie die Kategorie des Sterbenarrativs überhaupt gefasst und im Verbindung mit korrelativen Begriffen (v. a. dem der Sterbeerzählung) produktiv im Vokabular der interdisziplinären Lebensendforschung installiert werden könnte. Die angestellten Überlegungen sollen nicht zuletzt auch dazu einladen zu prüfen, welche etablierten Kategorien der Forschung (sei sie narrationsbezogen oder nicht) allenfalls auch in einem spezifisch verstandenen Sinn als Sterbenarrative reformulierbar sind.
5 Zu den Beiträgen Der einleitende Aufsatz von Andreas Mauz (Theologie/Literaturwissenschaft, Zürich) gilt dem Vokabular der narrationsbezogenen Lebensendforschung. Nach der Exposition einiger narratologischer Grundkonzepte verfolgt er zwei Interessen: Zunächst formuliert er Beobachtungen zur Erzähl-Begrifflichkeit ausgewählter Forschungsbeiträge und zeigt, dass sich ein offensiverer Rekurs auf das Instrumentarium der Erzähltheorie im interdisziplinären Diskurs als produktiv erweisen kann. In einem zweiten Teil diskutiert er die Begriffe der „Sterbeerzählung“ und des „Sterbenarrativs“ und macht Vorschläge, wie sie, nuanciert aufeinander bezogen, als Basisvokabular der narrationsbezogenen Lebensendforschung fungieren und weiter ausdifferenziert werden können. Emil Angehrn (Philosophie, Basel) erkundet in seinem Beitrag aus philosophischer Perspektive die Möglichkeiten und Grenzen einer erzählerischen Annäherung an das eigene Lebensende. Als Ausgangspunkt dient die Beobachtung, dass das Erzählen des eigenen Lebens ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen darstellt. Im Versuch der erzählerischen Einholung gelebten Lebens sieht Angehrn zwei zu unterscheidende Motive am Werk: zum einen die Sehnsucht, das Vergangene durch Vergegenwärtigung zurückzuholen und im erinnernden Zurückgehen selbst gegenwärtig werden, zum anderen das Begehren, sich im Ganzen seiner Existenz einzuholen und im Vergehen der Zeit ganz zu werden. Tobias Klauk und Tilmann Köppe (Literaturwissenschaft, Göttingen) nehmen erneut eine narratologische Perspektive ein, allerdings mit einem wesentlich spezifischeren Fokus. Ihre systematische Beschäftigung mit nichtfiktionalen Sterbeerzählungen gilt primär deren Funktionalität – den Funktionen, die sich
Man vergleiche diesbezüglich aber Simon Peng-Kellers abschließenden Beitrag, seine Hinweise auf Allan Kellehears Identifikation von sieben bestimmenden Narrativen (313 f.).
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spezifisch dem Erzählcharakter der Erzählungen verdanken. Um diese bestimmen zu können, diskutieren die Autoren die Eigenschaften prototypischer Erzählungen, u. a. die Differenz offener und geschlossener Plots und die Kategorie der „narrative closure“, die leserseitig für den Eindruck eines geschlossenen Plots sorgt. Der Narratologe Christian Klein (Literaturwissenschaft, Wuppertal) widmet sich in seinem Beitrag den Sterbedarstellungen im Erfolgsgenre der Biographie. Er führt zunächst ein in einige Grundbegriffe der Biographietheorie und notiert eine überraschende Unterbelichtung der entscheidenden biographischen Zäsur des Sterbens. Anhand ausgewählter Biographien demonstriert Klein dann verschiedene einschlägige Mittel biographischen Erzählens – etwa die „Rhetorik der Intimisierung“ oder die Etablierung handlungs- und verständnisleitender Kategorien, die den Lebenslauf einschließlich des Lebensendes strukturieren (Hindenburg: „der geborene Soldat“). Am Beispiel des Sterbens Heines demonstriert Klein einige Differenzen der populären und der wissenschaftlichen Biographik und warnt u. a. vor dem Kurzschluss, von der Nutzung gemeinhin der fiktionalen Literatur vorbehaltener Ausdrucksmittel auf eine Unzuverlässigkeit des prinzipiell faktualen Genres zu schließen. Als Medium für alles ist das Internet auch ein Ort vielfältiger Verhandlung des Lebensendes. Arnulf Deppermann (Linguistik/Gesprächsanalyse, Mannheim) wendet sich einer Ausprägung solcher multimedialen Erzählungen zu: den Selbstzeugnissen terminaler Krebspatientinnen und -patienten. Sein Interesse gilt u. a. den Videobotschafen Brittany Maynards, die im US-amerikanischen Kontext der erfolgreichen Kampagne für ein Right-to-die von erster Bedeutung waren. Deppermann unterscheidet „zukunftsoffene Narrationen“ von „Narrationen im Angesicht des Todes“ und arbeitet heraus, welche divergierenden Muster erkennbar werden, wie die Selektion und Bewertung von Ereignissen ausfällt, wenn der Ausgang unklar oder aber mehr weniger genau terminierbar ist. Nicht zuletzt wird auch deutlich, wie die Text- und die Bildebene in diesen Fällen zusammenspielen und welche sozialpsychologische Bedeutung diesen Erzählungen als „Bewältigungsressourcen“ zukommt. Der Suizid stellt im Spektrum der Todesarten einen besonderen Fall dar. Brigitte Boothe und Dragica Stix (Psychologie, Zürich) widmen sich diesem anhand von Abschiedsbriefen von Suizidenten. Wie sie zeigen, ist es auch in diesem Fall aufschlussreich, auf die Erzähllogiken solcher Zeugnisse zu achten. Über die Beschäftigung mit zeitgenössischen Quellen aus dem Kanton Luzern wie mit Abschiedsbriefen berühmter historischer Selbstmörder gelangen die Autorinnen zum Vorschlag, diese Briefe als „narrative Entwürfe einer dreifachen Grenzsetzung“ zu charakterisieren: Die Verfasser etablieren eine Grenze des Lebens, sie stellen Diskontinuität her; sie nehmen an der Grenze eine positive und/oder ne-
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gative biographische Evaluation vor, und sie imaginieren an der Grenze etwas jenseits ihrer – sei dies eine „Erlösung“ der eigenen Person, seien es Anweisungen zum Umgang mit der eigenen Hinterlassenschaft. Der Beitrag von Franzisca Pilgram-Frühauf (Spiritual Care/Literaturwissenschaft, Zürich), der autobiographische Texte von Menschen mit Demenz untersucht, erfüllt im vorliegenden Zusammenhang insofern die Funktion einer Grenzbestimmung, als die untersuchten Texte von Menschen verfasst wurden, die nicht im engeren Sinne am Ende ihres Lebens stehen. Doch sehen sie sich mit einem Abschied konfrontiert, der in vielerlei Hinsicht dem Sterben gleicht. Wie Menschen am Lebensende ringen Demenzbetroffene in ihrem autobiografischen Schreiben mit dem Ende ihrer Lebensgeschichte. Schreibend am Ende der rekonstruierten Lebenslinien anzukommen, kann in drastischer Weise die Auswirkungen der Krankheit bewusst machen und Trauer und Verzweiflung aufbrechen lassen. Das Interesse Walter Leschs (Theologie/Ethik, Louvain) richtet sich auf Fälle eines Voraus-Erzählens des eigenen Todes. Dass diese Ausprägung besondere Aufmerksamkeit verdient, liegt nicht nur bei krankheits- oder altersbedingter Todesnähe auf der Hand. Auch jenseits dieser akuten Kontexte gilt, dass diese Erzählungen „zum hermeneutischen Schlüssel für die Deutung eines Lebens [werden], das von Anfang an die Signatur der Endlichkeit trägt“. Lesch widmet sich denn zunächst ausführlich verschiedenen konkreten prospektiven Sterbeerzählungen. Erst dann fragt er – ausdrücklich verweisend auf die „Grenzen eines rein deskriptiv-analytischen Zugangs“ – nach dem spezifischen Beitrag zur theologischen und ethischen Urteilsbildung in Fragen des Lebensendes. Was hat die Theologie, die Gott als „Herrn über die Zeit“ denkt, etwa von einer filmischen Fiktion zu lernen, in der die Menschen durch die plötzliche Kenntnis ihres Todeszeitpunkts die Möglichkeit haben, ihre Lebensgestaltung an diesem Termin auszurichten? Der Beitrag Michael Coors’ (Theologie/Ethik, Hannover) gilt den ethischen Implikationen von Narrativen eines „guten Sterbens“. Seine Überlegungen sind auch jenseits dieses disziplinären Fragehorizonts wertvoll, weil er klar formuliert, was er unter Narrativen (oder, wie er auch sagt, „narrativen Schemata“) versteht und in welchem Verhältnisse diese zu anderen kommunikativen Kategorien stehen: „Narrative Schemata bzw. Narrative nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen konkreten Einzelerzählungen und abstrakten Begriffen ein.“ Orientiert am philosophischen Modell einer „narrativen Identität“ identifiziert er innerhalb der aktuellen Ethikdebatte verschiedene Spielarten des narrativen Schemas des „guten Sterbens“, dessen Imperativ lautet: „Das Sterben soll so erzählt werden können, dass die sterbende Person möglichst lange das handelnde Subjekt der Erzählung über das Sterben ist […].“ Diese werden kritisch diskutiert und abge-
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glichen mit dem alternativen – auch christlichen – „Narrativ der Feindlichkeit von Sterben und Tod“ bzw. dem „Narrativ des Beistehens“. Mit Blick auf heutige Ideale eines guten Sterbens setzt sich Nina Streeck (Spiritual Care/Ethik, Zürich) kritisch mit der Vorstellung auseinander, es sei wünschenswert, dass sich Leben und Sterben zu einer kohärenten Geschichte fügen. Ihr materialer Ausgangpunkt bildet ein Essay des Journalisten Udo Reiters, der für die aktive Sterbehilfe warb und seinem durch Krebs bedrohten Leben selbst ein Ende setzte. Im Rekurs auf Beiträge zur narrativen Ethik arbeitet Streeck heraus, dass es wenig zur Klärung moralphilosophischer Fragestellungen am Lebensende beiträgt, narrative Kohärenz als normatives Kriterium für ein gutes Sterben stark zu machen. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, dass sich die Orientierung am Kohärenzkriterium leicht in eine Überforderung des Sterbenden transformieren kann. Der Beitrag Wolfgang Drechsels (Praktische Theologie, Heidelberg) nähert sich dem Thema aus der Perspektive klinischer Seelsorge. Terminologisch geht der Autor insofern eigene Wege, als er „Sterbenarrative“ mit „Sterbeerzählungen“ gleichsetzt und zwischen „Narrativität erster, zweiter und dritter Ordnung“ unterscheidet. Die zwei letzteren differenzieren das von uns weiter oben entworfene Verständnis von Sterbenarrativen als typisierbaren Grundformen. Diese prägen wiederum das konkrete Erzählen, das Drechsel als Narrativität „erster Ordnung“ beschreibt und an Beispielen aus der klinikseelsorglichen Praxis veranschaulicht. Der vorliegende Band ist nicht zuletzt ein Beitrag zu jenem interdisziplinären Forschungs- und Lehrgebiet, das sich in den letzten drei Jahrzehnten im Rahmen der Medical Humanities als Narrative Medicine etablierte. Wir hatten vermutet, dass die Reflexion auf Sterbeerzählungen und Sterbenarrative in diesem Bereich eine zentrale Rolle spielen. Walter Bruchhausen (Medizingeschichte/Medizinethik, Bonn) arbeitet jedoch heraus, dass das Erzählen am und vom Lebensende in den genannten Feldern bisher, von Ausnahmen abgesehen, eher marginal behandelt wurde. Die besondere Qualität von Sterbeerzählungen fügt sich nicht ohne weiteres zu den Krankheits- und Heilungserzählungen, die den medizinischen Alltag bestimmen. Eine Ausnahme bildet diesbezüglich das von Heike Gudat Keller (Palliativmedizin, Arlesheim) beforschte Gebiet der Palliative Care. Die von Gudat Keller im Rahmen einer grossen Interviewstudie befragten palliativen Patienten erzählen nolens volens am Lebensende, auch wenn sich ihre Erzählungen nicht zwingend um dieses drehen. Dass es mündliche Formen des Erzählens sind, die von Gudat Keller untersucht werden, bedeutet für das Gesamtprofil des vorliegenden Bandes eine wichtige Ergänzung. Der Adressatenbezug, die kommunikative Funktion und die Ko-Konstruktivität des Erzählens werden mit Blick auf den palliativmedizinischen Kontext herausgearbeitet.
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Der Schlussbeitrag von Simon Peng-Keller (Spritual Care/Theologie, Zürich) bündelt wichtige Themenstränge hinsichtlich der Frage, inwiefern sich die ursprüngliche Intention, konkrete Sterbeerzählungen auf die sie formenden Sterbenarrative zu untersuchen, als fruchtbar erwiesen hat. Vor dem Hintergrund der eben resümierten Perspektiven wird das deskriptive und kritische Potential des leitenden Konzepts befragt und der eingangs eingeführte Merkmalskatalog überprüft und differenziert. Das Nachdenken über den Sinn des Erzählens am Lebensende mündet schließlich in eine kritische Revision der von Allan Kellehear vertretenden These, der Sinn des Erzählens am Lebensende sei „letztlich“ die Suche nach dessen letztem Sinn.²³
Zu den Ergebnissen unseres Projektes gehört, nebst vorliegendem Band, auch das Heft „Sterben/Erzählen“ der Hermeneutischen Blätter (2/2016). Es bietet einerseits Interpretationen unterschiedlichster Sterbenarrative und -erzählungen, andererseits aber auch einige Primärtexte. In Vorbereitung ist zudem die Publikation Vom Sterben erzählen. Sechs Essays, hg. v. Andreas Mauz und Simon Peng-Keller.
I. Grundlegende Aspekte
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Sterbenarrativ und Sterbeerzählung Beobachtungen und Vorschläge zur Terminologie narrationsbezogener Lebensendforschung
1 Einleitendes Wer behauptet, dem Modus des Erzählens komme innerhalb der Kommunikation um das bzw. am Lebensende eine herausragende Stellung zu, hat nicht mit Widerspruch zu rechnen. Die Behauptung bedarf kaum einer Begründung.Von ihrer Richtigkeit zeugt nicht nur die schiere Fülle der Erzählungen, die in allen verfügbaren Medien in vielfältigster Weise von Sterben und Tod handeln. Von ihr zeugt – auf der Stufe wissenschaftlicher Reflexion – auch eine breite multi- wie interdisziplinäre Forschung, die narrationsbezogen arbeitet. Diese offene Rede von einem Narrationsbezug lässt sich, in erster Annäherung, in wenigstens dreierlei Hinsicht genauer bestimmen: einerseits bezüglich der Funktionsstelle, an der Erzählphänomene innerhalb der betreffenden Forschungspraxis potentiell ins Spiel kommen, andererseits bezüglich der Programmatik oder Intensität dieses Bezugs, drittens schließlich bezüglich der lebensweltlichen Referenz dieses Erzählens. Wenn man bei der Rede von narrationsbezogener Forschung generell – also auch jenseits der Sterbethematik – zunächst an Erzählungen als Untersuchungsgegenstand denken wird, so ist dies tatsächlich eine prominente, aber sicher nicht die einzige Ausprägung betreffender Bezüge. Das Erzählen kann an mindestens zwei anderen ‚Orten‘ auftreten, nämlich als Untersuchungsmethode bzw. Mittel der Datenerhebung (man denke exemplarisch an narrative Interviews), aber auch als Format der Forschungspräsentation (exemplarisch: die Fallgeschichte oder Vignette). Diese drei Funktionsstellen zu unterscheiden, ist nicht zuletzt von Be-
Ich danke unserer Sterbenarrative-Forschungsgruppe (insbesondere Simon Peng-Keller) und dem Forschungsseminar des Fachbereichs Dogmatik der Theologischen Fakultät Zürich für die vielen konstruktiven Hinweise zum vorliegenden Beitrag. https://doi.org/10.1515/9783110600247-003
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deutung, um zu erkennen, dass und wie sie innerhalb bestimmter Forschungszusammenhänge allenfalls auch zusammenspielen.¹ Eine zweite Präzisierung der in Frage stehenden Rede liefert der Grad oder eben die Intensität, in dem sich ein bestimmter Forschungsbeitrag an Erzählphänomenen orientiert. Hier bietet es sich an, mit der schlichten Unterscheidung eines schwachen und eines starken Typus zu arbeiten: Ein schwacher Narrationsbezug ist dann gegeben, wenn Narrativität als einer von mehreren Aspekten bzw. Kommunikationsmodi im Spiel ist; ein starker Narrationsbezug liegt vor, wenn dieser klar dominiert und also konstitutiv ist für die betreffende Forschungspraxis (wobei diese Ausprägung sich meist bereits dadurch von der ersten unterscheiden lässt, dass in den Überschriften der betreffenden Kommunikationsmedien die Erzählbegrifflichkeit auftaucht). Die Rede von einer narrationsbezogenen Forschung umfasst, drittens, beide Großreiche des Erzählens, das sogenannte fiktionale und das sogenannte faktuale Erzählen, also Texte, die auf lebensweltliche Referenz verzichten oder aber diesen Anspruch erheben. So fundamental diese – höchst explikationsbedürftige² – Opposition in vielen Fällen ist, so sekundär scheint sie im Kontext eines generellen Interesses an Erzählkommunikation am/vom Lebensende. Die FiktionalFaktual-Differenz ist allerdings insofern von Bedeutung als sie sich eignet für eine tendenzielle, aber sicher nicht strikte Sortierung narrationsbezogener Forschung: Während sich literatur- und kulturwissenschaftlich orientierte Beiträge tendenziell auf das literarisch-fiktionale Erzä hlen vom Lebensende konzentrieren, gilt das primäre Interesse palliativmedizinisch, psychologisch, ethisch oder praktisch-theologisch orientierter Beiträge tendenziell dem lebensweltlich-faktualen Erzä hlen. Die Selbstverständlichkeit einer mehr oder weniger programmatische Ausrichtung eines signifikanten Segments der Lebensendforschung am Medium des Erzählens schließt nun nicht eine ebenso selbstverständliche Einbeziehung der Erzähltheorie oder Narratologie ein.³ Man könnte daher im Interesse einer groben Kartierung der Forschungslandschaft dazu neigen, zwei Typen von Beiträgen zu
Sie ist es aber auch, weil die Differenzierung erlaubt, den begrenzten Fokus der folgenden Überlegungen zu benennen. Der Beitrag gilt ausschließlich der einschlägigen ersten Variante: dem Narrationsbezug im Sinn des Untersuchungsgegenstandes Erzählung. Vgl. Tobias Klauk und Tilmann Köppe, Hg., Fiktionalität: ein interdisziplinäres Handbuch (Berlin: De Gruyter, 2014); Christian Klein und Matías Martínez, Hg., Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (Stuttgart: Metzler, 2009). Ich verwende diese beiden Begriffe synonym. Im Fall von nicht theorie-, sondern anwendungsorientierten Beiträgen spreche ich von Erzählforschung.
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unterscheiden: die (vielen) narrationsbezogenen und die (vergleichsweise wenigen) narratologischen. Die Differenz zwischen beiden bemäße sich dabei am Grad, in dem das Medium des Erzählens an sich – und damit einhergehend auch das diesbezügliche Theorieangebot – zur Debatte steht. Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Breite der Forschung legt es aber nah, diese Differenz, weil allzu grob, zumindest um einen mittleren dritten Typus zu ergänzen: die narratologisch informierte Lebensendforschung. Diese mittlere Ausprägung trägt dem Umstand Rechnung, dass es offensichtlich etliche Forschungsbeiträge gibt, die mit einer mehr oder weniger ausdifferenzierten erzähltheoretischen Begrifflichkeit arbeiten. Ihr Theorierekurs ist damit, schematisch betrachtet, schwächer als der der narratologischen Lebensendforschung. Wo diese primär an der Prüfung und Weiterentwicklung eines prägnanten allgemeinen Instrumentariums interessiert ist und konkrete Erzählungen, wenn überhaupt, nur als Exempel oder Testmaterial einspielt, nutzt diese das zur Verfügung stehende Theoriearsenal, ohne bei seinen Vorzügen und eventuellen Nachteilen zu verweilen. Selbst bei einer Zustimmung zu diesem heuristischen Schema wird man sich des Eindrucks einer gewissen Blutleere, eines bloßen Schematismus, nicht erwehren können. Denn was im skizzierten Entwurf offen bleibt, ist angesichts des sehr weiten Forschungsspektrums ja ein entscheidender Punkt: Von welcher Narratologie ist hier die Rede? Müsste angesichts des gegenwärtigen Standes der Debatte, angesichts des nachhaltigen narrative (eher als narratological) turn, nicht vielmehr von Narratologien die Rede sein? Wenigstens im Kontext der Geistesund Kulturwissenschaften ist der Singular „Narratologie“ eher selten und das Interesse an den diversen new oder auch post-classic narratologies üblich geworden.⁴ Die Narratologie, die im Hintergrund steht, ist – wie andeutungsweise vielleicht bereits spürbar wurde –, eine allgemeine. Sie meint die Theoriebildungen, die trotz der zentrifugalen Tendenzen der Erzählforschung prinzipiell für alle Akteure von Belang sein sollten, weil sie allgemeinen „Logiken, Prinzipien und Praktiken narrativer Repräsentation“⁵ gelten.⁶ Mit Gerald Prince’ einschlägiger
Vgl. u. a. Vera Nünning, Hg., New approaches to narrative: cognition – culture – history (Trier: WVT, 2013); Michael Scheffel, Nach dem ‚narrative turn‘. Handbücher und Lexika im 21. Jahrhundert, in: Diegesis 1/1 (2012), https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/arti cle/view/84 (letzter Zugriff: 25.01. 2017); Greta Olson (Hg.), Current trends in narratology (Berlin: De Gruyter, 2011). So Jan-Christoph Meisters Definition in seinem Narratology-Artikel, in: Peter Hühn u. a., Hg., The Living Handbook of Narratology (Hamburg: Hamburg University), 23 S.; http://www.lhn.unihamburg.de/article/narratology (meine Übersetzung, Vf.) (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Diese Bestimmung wäre allerdings ihrerseits genauer zu diskutieren – nicht zuletzt, da Meister unter
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Bestimmung gesprochen: Die Narratologie ist „eine Theorie der Erzählung qua Erzählung“⁷. Mit diesen Hinweisen ist großzügig das Feld skizziert, dem die folgenden Überlegungen gelten. Aus der Warte eines theologisch und literaturwissenschaftlich ausgebildeten, an Problemen der allgemeinen Hermeneutik interessierten Sympathisanten des „narratological tribe“ (Prince)⁸ scheint es nützlich, die Begrifflichkeit der multi- und interdisziplinären narrationsbezogenen Lebensendforschung zu sichten und punktuell auch Vorschläge zu deren Erweiterung zu machen. Auf der Grundlage theoriegeleiteter Beobachtungen an ausgewählten Forschungsbeiträgen sollen also einige Charakteristiken der narrationsbezogenen Fachsprache erhoben werden.⁹ Vor diesem Hintergrund wird in einem zweiten Schritt zu diskutieren sein, wie die Begriffe „Sterbeerzählung“ und „Sterbenarrativ“ als korrelative konturiert werden können und welche Funktion ihnen innerhalb des Fachvokabulars zukommen soll. Die Stoßrichtung der angestellten Überlegungen ist somit in erster Linie kategorial-begrifflicher und nur mittelbar materialer Art. Das Interesse am Erzählen vom Lebensende bricht sich am Fokus auf die theoretische Begrifflichkeit der entsprechenden wissenschaftlichen Bemühungen. „Der epistemische Operator einer jeden deutenden Theorie ist ihr analytisches Begriffssystem.“¹⁰ Begriffe bilden, schlichter formuliert, so etwas wie den harten Kern von Theorien. Aufgrund ihrer methodisch-systematischen Stoßrichtung werden sie greifbar an ihren Neubildungen oder an ihren Revisionen des kursierenden Vokabulars. Dabei ist immer mehr im Spiel als der Einzelbegriff, weil dieser seine Prägnanz erhält durch seinen Sitz in einem (wie es im Zitat hieß)
Verweis auf Protagonisten der Theoriegeschichte zugleich betont: „Narratology is not the theory of narrative […], but rather a theory of narrative […].“ Ebd., 2. Auch sprachlogisch gesehen hat ja der Plural „Narratologien“ nur im Gegenüber zu einer singularisch anzusprechenden allgemeinen Theorie einen Sinn. Gerald Prince, Art. Narratology, in: Raman Selden, Hg., The Cambridge History of Literary Criticism, Bd. 8 (Cambridge: CUP, 1995), 110 – 130, hier 127. Qiao Guoqiang und Gerald Prince, Narratology as a Discipline. An Interview with Gerald Prince, in: Diegesis 1/1 (2012), https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/arti cle/view/62/55 (letzter Zugriff: 25.01. 2017) Der Beitrag weist insofern eine Nähe auf zu den Überlegungen Tilmann Köppes und Tobias Klauks (in diesem Band, 79 – 94). Norman Ächtler, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: KulturPoetik 14/2 (2014), 244– 268, 245. Zur Theorie-Theorie vgl. u. a. Peter V. Zima, Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in Kultur- und Sozialwissenschaften, 2. Aufl. (Marburg: Francke, 2017), 1– 24.
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„Begriffssystem“ oder Begriffsnetz. Gerade Neubildungen gewinnen ihre erschließende Kraft unter anderem¹¹ durch geklärte Bezüge zu bzw. Abgrenzungen von korrelativen Begriffen.¹² Und diese Arbeit am Begriff scheint umso mehr erforderlich, wenn disziplinenübergreifende Diskurslagen gesichtet werden sollen. Der Umstand, dass „das Erzählen“ eine eminente „interdisziplinäre Schlüsselkategorie“¹³ darstellt, ist ein starkes Motiv, die Erzählbegrifflichkeit der neueren Lebensendforschung eigens zu thematisieren. Auch hier gilt, dass ein reflektierter Begriffsgebrauch „als „interdiskursive[r] Knotenpunkt“¹⁴ fungiert, der zu einer produktiven Kommunikation über disziplinäre Grenzen hinweg beiträgt. Da im Folgenden nicht mehr als zwei Forschungsbeiträge genauer in den Blick kommen, kann der Verdacht, die angestellten Überlegungen könnten mit hohen Repräsentativitätsansprüchen einher gehen, gar nicht erst aufkommen. Die beiden case studies können offensichtlich nicht die Breite der disziplinären und interdisziplinären Diskurslagen erschöpfen, denen sie angehören. Der Anspruch, dass sich einige Beobachtungen, die am exemplarischen Material zu machen sind, so oder in verwandter Form auch in anderen Beiträgen wiederkehren, wird aber durchaus erhoben. Zunächst müssen nun aber einige Grundunterscheidungen exponiert werden, an denen sich die Kommentierung der ausgewählten Forschungsbeiträge orientieren wird.
Diese Einschränkung scheint fällig, da die gegenteilige Tendenz – die Verweigerung klarer Bestimmungen, die rhetorische ‚Aura‘ eines Neologismus – offensichtlich auch ihre Attraktivität hat. Vgl. einführend: Simone Winko und Fotis Jannidis: Begriffsbildung, in: Vera Nünning (Hg.), Schlüsselkompetenzen. Qualifikationen für Studium und Beruf (Stuttgart: Metzler, 2008), 64– 77; Jonas Pfister, Werkzeuge des Philosophierens (Stuttgart: Reclam, 2013), 49 – 90. Vera Nünning, Narrativität als interdisziplinäre Schlüsselkategorie. Auszug aus dem Jahresbericht des Marsilius-Kolleg 2011/2012 (Heidelberg: Universität Heidelberg), 86 – 104. Ächtler, Was ist ein Narrativ (s. Anm. 10), hier 245.
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2 Narratologische und hermeneutische Grundunterscheidungen 2.1 Was ist Erzählen? Auf die Frage „Was ist Erzählen?“ lässt sich unterschiedlich und natürlich auch unterschiedlich ausführlich antworten.¹⁵ Eine kurze und erwiesenermaßen recht konsensfähige Antwort lautet, dass Erzählen eine Form sprachlichen Handelns ist, ein Handeln, das sich in der folgenden Grundszene fassen lässt: „daß ein Vorgängliches da ist, das erzählt wird, daß ein Publikum da ist, dem erzählt wird, und daß ein Erzähler da ist, der zwischen beiden vermittelt“¹⁶. Entsprechend den Elementen dieser Szene lassen sich unterschiedliche Dimensionen des Erzählens unterscheiden, nämlich (analog zu einer basalen sprachwissenschaftlichen und semiotischen Systematik) seine Pragmatik, seine Semantik und seine Syntax. Das Erzählen ist als Handlung situativ verortet. Jemand – ein Erzähler – erzählt jemandem. Diese Verortung kann entsprechend der involvierten Medien verschieden ausfallen, sei es, der Grundszene entsprechend, in der Kopräsenz von Erzähler und Publikum im mündlichen Erzählen, sei es in der „zerdehnten Situation“ (Ehlich) des schrift- oder auch bildgestützten (Fern‐)Erzählens, in dem die Akte der Produktion und Rezeption unter Umständen durch Jahrhunderte und viele Kilometer von einander getrennt sind. Zur Pragmatik des Erzählens gehört nebst seiner Medialität aber auch der entscheidende Aspekt seiner vielfältigen Funktionalität, dass es etwa der Unterhaltung dient, der Belehrung, Überzeugung, Indoktrination, Erbauung, Therapie, usw. Innerhalb dieses situativen Rahmens – und, im Regelfall, diesem gemäß – kommen beim Erzählen bestimmte Sinngehalte zur Darstellung: Jemand erzählt jemandem etwas, nämlich die Geschichte oder das Erzählte. Dieses Was des Erzählens baut sich auf aus verschiedenen Elementen, etwa Figuren (oder, in der
Aus der breiten Diskussion: (einführend) Matías Martínez, Art. Erzählen, in: ders., Hg., Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte (Stuttgart: Metzler, 2011), 1– 12; Tilmann Köppe und Tom Kindt, Erzähltheorie. Eine Einführung (Stuttgart: Reclam 2014), 41– 72; (ausführlich) Matthias Aumüller, Hg., Narrativität als Begriff: Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung (Berlin: De Gruyter, 2012). Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung die Literaturwissenschaft (Bern: Francke, 1948), 198.
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Erzählliteratur, auch nichtmenschlichen Akteuren)¹⁷, Handlungszusammenhänge, in die sie verstrickt sind, und damit notwendigerweise auch bestimmte Handlungsräume und -zeiten. Eine wesentliche Eigenschaft der Geschichte ist es, dass sie jenseits ihrer medialen Vermittlung steht. Der Rotkäppchen-Stoff bleibt der Rotkäppchen-Stoff unabhängig davon, ob er als Comic, Film oder auf einer Bühne zur Darstellung kommt. Unter der Syntax des Erzählens ist schließlich das Wie des Erzählens zu verstehen: Jemand erzählt jemandem etwas in bestimmter Weise. In dieser Hinsicht – narratologisch als Diskurs oder das Erzählen bezeichnet – wird untersucht, wie das Erzählte durch die vermittelnde Regie des Erzählers konkret zur Darstellung kommt. Zur Debatte steht z. B. die Stellung des Erzählers zum Erzählten, etwa ob er selbst Teil der erzählten Welt ist oder mehr oder weniger souverän von außen auf diese blickt. Von Bedeutung sind aber auch die erzählerische Repräsentation von Gedanken und mündlichen Reden, der Sprachstil und insbesondere die zeitlichen Beziehungen von Geschichte und Diskurs (etwa, der Grundszene gemäß, das nachträgliche Erzählen „Es war einmal …“, oder die kriminalliterarisch einschlägige Umstellung der natürlichen Zeitordnung, die künstliche frühere Erzählung des später Geschehenen im Dienst der Spannungserzeugung). Diese drei Dimensionen des Erzählens sind gleichermaßen wichtig. Um sie und ihr Verhältnis genauer zu sehen, sind aber wenigstens zwei Hinweise nötig: Zunächst ist es entscheidend wahrzunehmen, dass sie der reflexiven Betrachtung nicht alle in gleicher Weise zugänglich sind. Während es sich bei der Geschichte und beim Diskurs¹⁸ um textinterne Aspekte handelt (sie lassen sich mehr oder weniger direkt am Erzähltext ablesen)¹⁹, betrifft die Erzählpragmatik gerade die textexterne Dimension, die Weise, wie ein Erzähltext funktional und medial in einen lebensweltlichen Zusammenhang eingepasst ist. Und diese Differenz schließt zwangsläufig ein, dass eine These zur Funktion eines Erzähltextes, da sie höherstufige Zuschreibungen erfordert, leichter angreifbar ist als eine beschrei-
Man denke an die Belebung von Dingen in Märchengenre, an die Roboter der Science Fiction oder an beliebige andere Akteure, denen mentale Zustände wie Absichten oder Gefühle zugeschrieben werden. Das ist die Begrifflichkeit, die ich künftig verwenden werde. An dieser Grundunterscheidung, ihren konkurrierenden begrifflichen Fassungen und mehrgliederigen Erweiterungen zeigt sich exemplarisch die formalistisch-strukturalistische und also terminologiebildende Prägung der klassischen Narratologie. Für eine Übersicht bzw. das derzeit elaborierteste vierstufige Modell vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 2. Aufl. (Berlin: De Gruyter, 2008), 230 – 284. Ich verwende hier, der Einfachheit halber, den erweiterten Text-Begriff, der über die noch immer dominante schriftgestützte Erzählkommunikation auch andere Erzählmedien meint (also Texte und ‚Texte‘).
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bende Aussage etwa zur zeitlichen Organisation oder perspektivischen Gestaltung des Erzähldiskurses.²⁰ Der zweite Hinweis betrifft das Verhältnis Geschichte und Diskurs: Was wir als Leserinnen, Hörer oder Interpretinnen von Erzählungen wahrnehmen, ist immer der Erzähldiskurs. Die Geschichte ‚haben‘ wir dagegen nie; wir rekonstruieren oder abstrahieren sie immer aus dem Diskurs als der Rede eines Erzählers. Der Erzähler ist „der aktive Produzent des Diskurses, aus dem der Leser die Elemente der Geschichte erschließen kann“²¹.
2.2 Was ist Narrativität? Die Frage, was Erzählen ist und wie Erzähltes reflexiv erfasst werden kann, deckt sich nicht mit der Frage nach „Narrativität“. Wer nach Narrativität fragt, fragt nach einer Eigenschaft, die durch den Hinweis auf die Pragmatik, Semantik und Syntax des Erzählens nicht geklärt ist. In der betreffenden Forschung²² herrscht
Mit diesen Hinweisen stand implizit bereits eine weitere Differenz im narratologischen Basisvokular zur Debatte: Wenn der Abschnitt mit Hinweisen zum Erzählen als Akt eingesetzt hat, so lässt sich die klassische dreigliedrige Differenzierung natürlich auch auf das Ergebnis dieses Akts anwenden, die Erzählung (oder eben: den Erzähl-‚Text‘). Fasst man unter dem Begriff „Erzählung“ auch den Prozess und nicht nur dessen medial fixiertes Produkt, riskiert man durch die Äquivokation diese Differenz zu nivellieren, die in einem bestimmten Fall gerade von Bedeutung sein kann. Silke Lahn und Jan-Christoph Meister, Einführung in die Erzähltextanalyse, 2. Aufl. (Stuttgart: Metzler, 2013), 59. Dieses Buch ragt aus der Fülle der Einführungsliteratur heraus, weil es in vielen Punkten weit über den Einführungsstoff hinausgeht. Zu den systematischen Pointen der Darstellung Lahn/Meisters gehö rt etwa die Aufwertung der Instanz des Erzä hlers, der in vielen Fä llen unter die Diskursaspekte subsumiert wird (vgl. ebd., 59, dort auch die folgenden Zitate). Dass die Dimension des Erzä hlers als „eigenstä ndiger Phä nomenbereich neben denen von Diskurs und Geschichte“ gestellt werden sollte, wird plausibel, wenn man sich klarmacht, dass der Erzä hler eben „nicht ein Parameter unter anderen“ darstellt. Da es die Geschichte nie ‚an sich‘ gibt, sondern immer nur in Gestalt einer Erzä hlung, konstruieren wir sie aus der Rede des Erzä hlers. Die systematisch Ü berordnung des Erzä hlers zeigt sich aber auch im Sprachgebrauch: Nach dem Erzä hler kann direkt gefragt werden, ohne Rekurs auf die beiden anderen Dimensionen. Ist dagegen von letzteren die Rede, so muss zwangslä ufig auch die Instanz des Erzä hlers thematisiert werden. Lahn/Meister tragen dieser Zwischenrolle bildhaft Rechnung, wenn sie den Erzä hler als „januskö pfige Instanz“ darstellen, der „nach rechts auf die Geschichte“ blickt, „die er zugleich nach links sprachlich kommuniziert“ (ebd., 16). Vgl. exemplarisch, H. Porter Abbott, Art. Narrativity, in: Peter Hühn u. a., Hg.,The Living Handbook of Narratology (Hamburg: Hamburg University, http://www.lhn.uni-hamburg.de/arti cle/narrativity (letzter Zugriff: 20.01. 2017); Matthias Aumüller, Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe, in: ders., Hg., Narrativität als Begriff (s. Anm. 15), 141– 168; Köppe und Kindt, Er-
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der Konsens, dass Narrativität am überzeugendsten als Makroeigenschaft aufzufassen ist, also als ein Bündel verschiedener Subeigenschaften, die in unterschiedlichen Verbindungen zusammenspielen. Welche Eigenschaften dies sein sollen bzw. ob und wie diese allenfalls in eine hierarchische Ordnung zu bringen sind, ist dagegen strittig. Die Bedingungen, die zur Diskussion stehen, sind v. a. die Ereignisbedingung, die Kausalitätsbedingung, die Mittelbarkeitsbedingung, die Vergangenheitsbedingung und die Subjektivitätsbedingung. Dabei stehen die Ereignis- und die Kausalitätsbedingung nicht von ungefähr an erster Stelle. Sie bieten sich für brauchbare Minimalbestimmungen besonders an. Narrativität besteht, so gesehen (und mit einer prägnanten Formulierung Karl Eibls) in der Darstellung einer „nicht-zufälligen Ereignisfolge“²³. Die Nichtzufälligkeit liegt dabei darin, dass die minimal zwei dargestellten Ereignisse nicht nur auf-, sondern in dieser oder jeder Form auseinander folgen. Sie weisen über das zeitliche Vorher-Nachher hinaus einen weiteren sinnhaften Zusammenhang auf (oder evozieren zumindest einen solchen)²⁴, im Regelfall eben eine Kausalitätsbeziehung. Da sich dieser Fokus auf eine minimale narrative Einheit an unserer intuitiven Vorstellung von einer Erzählung reibt, hat Matthias Aumüller die folgende, auch in anderer Hinsicht detailliertere Bestimmung von Narrativität vorgeschlagen: Narrativ sind […] solche Darstellungen, deren Gegenstand eine zusammenhängende Ereignisfolge ist; ihr Zusammenhang wird durch eine oder wenige Figuren mit menschlichen oder anthropomorphen Eigenschaften konstituiert und gewöhnlich durch ein einheitliches (aber nicht notwendig realistisches) Raumzeitkontinuum näher bestimmt; die Ereignisfolge ist üblicherweise durch Kausalität zusätzlich verklammert, die zumindest in Werken der letzten 250 Jahre häufig in der Darstellung psychologischer Motivationen der handelnden Figuren verankert ist.²⁵
Im gegebenen Zusammenhang muss aber, über diese brauchbare Arbeitsdefinition hinaus, eben vor allem die formale Qualität der Narrativität festgehalten werden: Sie ist nach landläufiger Auffassung skalierbar, also eine Qualität, die einem Gegenstand mehr oder weniger ausgeprägt zukommt. Im Vokabular der
zähltheorie (s. Anm. 15), 14– 72; Nünning, Erzählen als interdisziplinäre Schlüsselkategorie (s. Anm. 13). Karl Eibl, Animal Poeta. Bausteine einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie (Paderborn: Mentis, 2004), 255. Hier deutet sich die wichtige Alternative an, Narrativität – enger – als spezifische Texteigenschaft zu fassen oder aber – weiter – als mentale oder kognitive Eigenschaft. Matthias Aumüller, Narrativität, in: Christian Klein, Hg., Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien (Stuttgart: Metzler, 2009), 17– 20, hier 18.
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Definitionslehre ließe sich auch sagen: „Erzählhaftigkeit“ ist nicht über eine Äquivalenzdefinition zu fassen (also über die Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen), sondern eher im Sinne eines prototypischen Begriffs, der über die Auszeichnung exemplarischer und weniger exemplarischer Repräsentanten läuft.²⁶ Wie (um das Schulbeispiel zu wählen) das Rotkehlchen und nicht der Pinguin der prototypische Vogel ist, so ist der Roman das prototypische Erzählgenre und nicht die Kolumne. Das Bewusstsein dafür, dass nicht einfach auf der Hand liegt, was unter Narrativität zu verstehen ist, dass sie plausiblerweise aber als graduelles Phänomen zu sehen ist, scheint auch bedeutsam, weil es eine wesentliche Folgefrage aufwirft. Denn von welchen anderen medialen Eigenschaften soll die Narrativität eigentlich unterschieden werden? Welche anderen sprachlichen Modi lassen sich ausmachen? Und welche dieser Modi sind in Verbindung mit dem erzählenden vielleicht auch dafür verantwortlich, dass die Kolumne, trotz unbestreitbar narrativer Anteile, eben der Pinguin und nicht das Rotkehlchen der erzählenden Textsorten ist?²⁷ Eine breit rezipierte Antwort auf diese Frage stammt vom Narratologen Seymour Chatman: Sein Vorschlag zur Unterscheidung narrativer und nichtnarrativer Texttypen bzw. ihren Amalgamen bringt auf der Seite der nichtnarrativen die Modi der Deskription, der Erläuterung und der Argumentation ins Spiel. Diese dreiteilige Gliederung verbindet sich mit einem Dominanzmodell. Chatman geht davon aus, dass jeweils ein Modus dominiere.²⁸ Die bewusste Wahrnehmung des oder der Anderen ‚reiner‘ Narrativität ist nicht zuletzt auch ein Widerstand gegen überschießende pannarrativistische Tendenzen: gegen die Neigung, überall Erzählhaftigkeit zu entdecken und diese nicht nur für vorhanden, sondern auch für die bestimmende Eigenschaft des betreffenden Phänomenzusammenhangs zu halten.²⁹
Zu diesem Ansatz einführend: Jannidis und Winko, Begriffsbildung (s. Anm. 12), 69 f. Man vergleiche auch die relativierenden Signale „gewöhnlich“ und „üblicherweise“ in Aumüllers Bestimmung. In der Pragmalinguistik begegnet etwa die Differenz von „Beschreiben“, „Berichten“ und „Erzählen“. Vgl. Jochen Rehbein, Beschreiben, Berichten und Erzählen, in: Konrad Ehlich, Hg., Erzählen in der Schule (Tübingen: Narr, 1984), 67– 124. Instruktiv zur Breite der Diskussion: Monika Fludernik, Genres, Text Types, or Discourse Modes? Narrative Modalities and Generic Categorization Author(s), in: Style 34/2 (2000), 274– 292. Seymour Chatman, Coming to Terms: The Rhetoric of Narrative in Fiction and Film (Ithaca, NY: Cornell UP, 1990), 21. Dazu nur zwei der bekannteren Kontrapunkte: Galen Strawson, Against Narrativity, in: Ratio 17/4 (2004), 428 – 452; Peter Lamarque, On Not Expecting Too Much from Narrative, in: Mind & Language 19/4 (2004), 393 – 408. Für eine konkrete Aneignung von Lamarques kritischem Punkt vgl. in diesem Band wiederum den Beitrag von Tilmann Köppe und Tobias Klauk (79 – 84).
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2.3 Beschreiben und Interpretieren im Kontext der Erzählforschung Wer interpretiert, tut etwas; sie oder er vollzieht gewisse Akte. Man beschreibt, skizziert einen Kontext, erläutert, vergleicht, paraphrasiert, etc. – vor allem, wenn die betreffende Praxis im Bereich des wissenschaftlichen und also methodisch kontrollierten Interpretationshandelns angesiedelt ist. Die kleinteiligen einzelnen Interpretationsakte, die in summa (idealerweise) zu einer Interpretation führen, sind nicht nur sehr verschieden; sie lassen sich, zur Wahrnehmung eben dieser Unterschiede, auch verschiedenen Klassen zuordnen. Ein sehr einfacher, durch seine Einfachheit aber intuitiv einleuchtender Vorschlag zur groben Sortierung der vielfältigen Interpretationshandlungen etwa auch an Erzähltexten ist die von Beschreibung und Interpretation. ³⁰ Diese Sortierung kann sich u. a. an den Zielsetzungen der jeweiligen Handlungen orientieren, denn beschreibende und interpretierende Akte bzw. Aussagen antworten auf tendenziell unterscheidbare Fragen. Das Ziel des Beschreibens ist primär das einer Klassifikation, der – korrekten – Zuordnung phänomenaler Sachverhalte und phänomenbeschreibender Kategorien; das Ziel des Interpretierens ist dagegen die Bestimmung umfassenderer Bedeutungszusammenhänge.³¹ In Aufnahme von Leitdifferenzen, die in der entsprechenden Theoriedebatte
Obwohl in erster Linie im Umfeld der (literaturwissenschaftlichen) Texthermeneutik diskutiert, ist die Unterscheidung auch jenseits dieses Zusammenhangs von Interesse. Es ist hier weder der Ort, um die Theoriegeschichte dieser Differenz und, mehr noch, die Einwände gegen sie bzw. gewisse Auffassungen ihrer zu diskutieren. Jenseits ihrer Prima-vista-Plausibilität scheint es mir trotz teilweise gewichtiger Kritikpunkte auf jeden Fall vorteilhafter mit der Differenz zu arbeiten als ohne sie. – Zur Debatte vgl. insb. Tom Kindt, Deskription und Interpretation. Handlungstheoretische und praxeologische Reflexionen zu einer grundlegenden Unterscheidung, in: Marie Lessing-Sattarie u. a., Hg., Interpretationskulturen. Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft im Dialog über Theorie und Praxis des Interpretierens (Berlin: Lang 2015), 93 – 112; Carlos Spoerhase, Strukturalismus und Hermeneutik. Über einige Schwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse und Interpretation, in: Hans-Harald Müller u. a., Hg., Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910 – 1975 (Göttingen: Wallstein, 2010), 13 – 38; Lutz Danneberg, Beschreibungen in den textinterpretierenden Wissenschaften, in: Rüdiger Inhetveen und Rüdiger Kötten, Hg., Betrachten – Beobachten – Beschreiben. Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften (München: Fink, 1996), 193 – 224; Oliver Jahraus, Analyse und Interpretation. Zu Grenzen und Grenzüberschreitungen im struktural-literaturwissenschaftlichen Theorienkonzept, in: IASL 19/2 (1994), 1– 51. Zur Praxis des Beschreibens umfassend: Peter Klotz, Beschreiben. Grundzüge einer Deskriptologie (Berlin: Erich Schmidt, 2013). Ich folge mit dieser Sortierung der Position Tom Kindts, dargestellt unter anderem in Deskription und Interpretation (s. Anm. 30). Ergänzend scheint es mir aber wichtig festzuhalten, dass
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begegnen, lässt sich auch sagen: Liegt der Akzent hier auf dem „Objektbezug“, der „Textimmanenz“ und dem „(rekonstruierenden) Lesen“, liegt er dort auf dem „Subjektbezug“, der „Texttranszendenz“, dem „(kreativen) Verstehen“.³² Diese Grunddifferenz verbindet sich – dieser Punkt wurde oben bereits gestreift – mit tendenziell unterscheidbaren Weisen, beschreibende und interpretierende Tätigkeiten/Aussagen zu evaluieren. Während sich Beschreibungen in der Regel bewerten lassen über eine Wahr-Falsch-Differenz – die Beschreibung trifft das zu Beschreibende oder eben nicht –, unterliegen Interpretationen, insofern sie Hypothesen formulieren, grundsätzlich eher einer skalaren Bewertung geringerer oder höherer Plausibilität (wobei die Kriterien dieser Plausibilität natürlich höchst kontextbedingt sind). Schließlich erlaubt die Unterscheidung von Beschreiben und Interpretieren auch eine generelle Situierung des narratologischen Instrumentariums: Narratologische Kategorien sind primär deskriptiv – auch wenn zu einer Reihe von Aspekten nur auf der Grundlage höherstufigerer Interpretationshypothesen Stellung genommen werden kann. Innerhalb des Diskursparameters der Erzählperspektive lässt sich etwa zweifelsfrei zwischen Erzähler- und Figurenrede unterscheiden (die Figurenrede wird durch Redezeichen oder verba dicendi als solche ausgewiesen); einen Erzähler als „unzuverlässig“ einzustufen, ist dagegen nur aufgrund weiterreichender Hypothesen möglich. Auch die Bestimmung des Stiltyps – die Erfassung der Redeweise einer Figur als „Gassen-“ oder „Wissenschaftssprache“ – setzt umfassendere Interpretationen voraus, Interpretationen, die den Gesamttext und allenfalls auch textexterne Wissensbestände einbeziehen.³³ Der Geschichtspunkt der Evaluation gehört bereits ganz in den Kontext der Frage des Zusammenspiels beider Praktiken bzw. Aussagetypen. Beide zu unterscheiden ist eine Sache, eine andere, ihre Verbindung im Kontext hermeneutischer Überlegungen modellhaft zu fassen. Und dieses Zusammenspiel ist nun gerade einer der Punkt, der innerhalb der betreffenden Diskussion kontrovers bewertet wird. Ohne die Argumente im Einzelnen entfalten zu können, läßt sich aber doch eine plausible Grundthese referieren: Das Verhältnis beider Praktiken ist nicht als ein egalitäres Vis-à-Vis zu fassen. Ihre Unterscheidung ist insofern asymmetrisch als Interpretationen aus der Perspektive der Beschreibung in einer
sich die beschreibende Klassifikation kaum erschöpft in bloßer „Terminologieanwendung“ (ebd., 99), sondern auch kreative, begriffsbildende Momente umfasst. Auch diese sollten aufgrund ihrer Phänomennähe unter „Beschreibung“ und nicht unter „Interpretation“ subsumiert werden. Vgl. Jahraus, Analyse und Interpretation (s. Anm. 30), 15 Zu diesem wichtigen Punkt: Lahn/Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 102 f.; Köppe und Kindt, Erzähltheorie (s. Anm. 14), 34 ff.
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„Logik der Rechtfertigung“³⁴ stehen. Das heißt, Interpretationen lassen sich durch Beschreibungen problematisieren. Damit wird allerdings nicht einem unidirektionalen Modell ihrer Beziehung das Wort geredet. Textbeschreibungen sind nicht egalitär; sie wenden sich nicht allen Daten gleichermaßen intensiv zu. Wü rde sie es, wären sie, weil sie kaum fertig würden, ihres „zielfü hrenden Charakters“³⁵ beraubt. Vielmehr spielt ein textinterpretatorisches Interesse hinein (auch in Gestalt eines Interesses an der Kritik bestimmter Interpretationstypen), das die Selektion der zu beschreibenden Daten steuert. Vor diesem Hintergrund können nun ausgewählte Forschungsbeiträge in den Blick genommen und auf die Eigenheiten ihres Narrations- bzw. Narratologiebezugs untersucht werden. Die immer delikate Operation der Auswahl betrifft dabei nicht nur die konkreten Beiträge, sondern auch die primär disziplinär bestimmten Diskussionszusammenhänge, denen sie angehören. Dass die beiden gewählten Bereiche die Breite der Debatte in keiner Weise erschöpfen, ist, wie gesagt, klar. Sie zu erschöpfen konnte hier nicht das Ziel sein, und selbst innerhalb eines größeren Unterfangens wäre die disziplinäre Erweiterung nicht unbedingt ertragreich gewesen, weil die systematischen Beobachtungen, die am Sprachgebrauch der ausgewählten Beispiele zu machen sind, kaum von den disziplinären Ordnungen bestimmt werden. Zur Wahl der Beiträge innerhalb der beiden Felder bleibt nur zu sagen, daß es sich sicher nicht um die schwächsten handelt.
3 Zur Terminologie narrationsbezogener Lebensendforschung 3.1 Traugott Roser: In der Arena des Sterbens (2006) Traugott Rosers Aufsatz In der Arena des Sterbens. Zur Bedeutung von Sterbegeschichten in der Seelsorge ³⁶ kann stellvertretend stehen für den praktisch-theo-
Spoerhase, Strukturalismus und Hermeneutik (s. Anm. 30), 21. Ebd., 24. Traugott Roser, In der Arena des Sterbens. Zur Bedeutung von Sterbegeschichten in der Seelsorge, in: WzM 58/4 (2006), 329 – 344 (Nachweise jeweils im Haupttext). Unter den zahlreichen neueren Publikationen des Autors zur Spiritual und Palliative Care sei besonders hingewiesen auf: Spiritual Care: ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge: ein praktisch-theologischer Zugang (Stuttgart: Kohlhammer 2016); Lebenssättigung als Programm. Praktisch-theologische Überlegungen zu Seelsorge und Liturgie an der Grenze, in: ZThK 109/3 (2012), 397– 414.
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logischen (oder eben seelsorgetheoretischen) Diskurs über das Erzählen von „Sterbegeschichten“. Vor dem Hintergrund der anthropologischen These, dass „Erzählungen vom Sterben […] Möglichkeiten [sind], mit der Kontingenzerfahrung eines Menschen so umzugehen, dass ihr Sinn abgerungen wird“ (329, abstract), zielt Roser auf die Etablierung eines allgemeinen Modells zur Auslegung dieser Erzählungen. Die Namengebung des Modells – die „Arena des Sterbens“ – verdankt sich dem Erzählmaterial, anhand dessen es in erster Linie gewonnen wird: das Finale von Ridley Scotts Gladiator (2000), das heldenhafte Sterben des Maximus in der Arena. Dessen „Erzählstrategie“ – die „Erzählung hinter der Erzählung“ (331) – wird herausgearbeitet, da diese trotz „Opern-gleiche[r] Überzeichnung“ (332) auch in anderen (nichtfilmischen) Erzählungen vom Sterben begegne. Rosers Analyse orientiert sich an den intern weiter nuancierten drei „Inszenierung-Mittel[n]“ der Handlung, der Ton- und der Bildebene, und sie führt ihn zur These einer „Sinnhaftigkeit des Plots“, der durch vier „Subplots“ konstituiert wird: „vier Bezugsbereiche, die das Problem des Todes jeweils durch die Konstruktion von Sinnhaftigkeit bewältigen“ (335). Diese „Matrix der vier Bezugsbereiche“ – das Private (Maximus’ Frau und Sohn), die Kontrastfigur (sein Gegenspieler Commodus als das „personifizierte Böse“), der öffentliche Raum der Gesellschaft (die zu erhaltende römische Republik) und das Religiöse („der Jenseitsglaube des Gladiators“) – könne „in generalisierter Form als Strukturschema von Erzählungen anderer Herkunft dienen“ (336). Diese Erzählungen werden als „Geschichten vom guten“ bzw. „sinnlosen Sterben“ präsentiert und entstammen einerseits dem biblischen Kanon, andererseits der bildenden Kunst (Edvard Munch, Der Tod im Krankenzimmer, 1895). Nach der Diskussion dieses Materials wendet sich Roser schließlich seinem eigenen Arbeitsfeld zu, der Diakonie und Seelsorgearbeit. Er formuliert eine „kleine Typologie von Sterbegeschichten in der Seelsorgearbeit“, und ihre vier Elemente geben dann auch die Struktur des zweiten Teils seines Beitrags ab: 1. Erzählen vom Sterben anderer a) Biographisches Erzählen von länger zurückliegendem Sterben b) Erfahrungen aktuellen Sterbens nächster Angehöriger 2. Erzählen vom eigenen Sterben a) Vorstellungen und Überlegungen zum eigenen zukünftigen Sterben b) Schilderungen aktuell bevorstehenden eigenen Sterbens. Um einen Eindruck zu geben von der Weise, wie Roser die einzelnen Typen entfaltet, sei ein zentraler Ausschnitt seiner Explikation des „biographischen Erzählen[s] vom länger zurückliegenden Sterben Anderer“ zitiert:
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Hat die Erzählung einen erkennbaren Plot? Dies bezieht sich auf die Spannung generierende Problemstruktur der Erzählung. Worin erkennt der Erzähler das Problem, um dessen Lösung er sich innerhalb der Erzählung oder durch die Erzählung bemüht? Die Ehefrau eines sterbenskranken Mannes erzählt der Seelsorgerin von ihrem bislang einzigen unmittelbaren Erlebnis mit einer Beerdigung. Es handelt sich um das Jahrzehnte zurückliegende Begräbnis des Großvaters zu DDR-Zeiten. ‚Da waren auch eine Tante und ein Onkel aus dem Westen da. Die hatten ihren Kofferraum voll mit Kaffee und Schokolade und so. Nach der Beerdigung gingen alle dahin und verteilten die Sachen.‘ Auf Nachfrage nach ihrem eigenen Befinden antwortet sie: ‚Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Niemand weinte, alle lachten und redeten. Aber mir war gar nicht danach zumute. Ich fand das schrecklich!‘ Der unmittelbare Kontext dieser Erzählung ist der bevorstehende Tod des Ehemannes und die zu planende Trauerfeier. Die Erzählerin erzählt die biographische Erfahrung so, dass der als würdelos empfundene Umgang der Trauergäste mit dem Kasus das Problem darstellt, das sie durch eigene Planungen zu lösen versucht. Der Plot ihrer Erzählung ist: Dem Großvater wurde durch die unwürdige Beerdigung die gebotene Ehrerbietung verweigert und die Trauer der Enkelin fand dadurch keine angemessene Ausdrucksmöglichkeit. (340)
Damit dürfte Rosers Beitrag durch Referat und Zitat hinreichend deutlich vor Augen stehen. Was ist nun vor dem Hintergrund der einleitend exponierten Kategorien zu diesem zu sagen? – Zunächst stellt sich die Frage, welchem der drei Quellentypen sich der Aufsatz am ehesten zuordnen lässt. Aus Gründen, die gleich noch klarer werden, scheint er dem mittleren Typus „narratologisch informierter“ Forschung zugehörig. Auch wenn der Autor klare Ambitionen zur Theoriebildung aufweist, ist diese Theorie nicht eine narratologische (weder im Sinn der allgemeinen, aber auch nicht im Sinn einer Bereichsnarratologie, etwa einer „seelsorgerlichen Narratologie“). Die entsprechende Informiertheit ist abzulesen an einer dicht auftretenden Erzählbegrifflichkeit. Von den erwähnten Termini abgesehen spricht Roser etwa auch vom „klassischen Erzählschema des Kinofilms“ (331), von „Biographieerzählungen“ (339), der „Erzählsituation“ (341), dem „erzählende[n] Sortieren“ (344), davon, dass „eine Erzählbarkeit der Ereignisse“ unter Umständen „unmöglich“ scheine (344). Diese Reihung verweist bereits recht deutlich auf zwei Eigenheiten der Begrifflichkeit bzw. des Erkenntnisinteresses des Autors: Die verwendeten Erzählkategorien weisen weder im Ganzen noch in Teilbereichen eine klare Systematik auf; sie bilden kein terminologisches Netzwerk, organisiert etwa durch die Leitdifferenz von Geschichte und Diskurs. (Die Ausnahme, die diese Regel bestätigt, ist der „Plot“ bzw. die „Subplots“. Hier wird deutlich, wenn auch nicht ausdrücklich eingeführt, dass der eine Plot als Summe der – in diesem Fall vier – Subplots verstanden wird.) Auch wenn die verwendete Terminologie sehr verschiedene Bereiche des Kommunikationsmodus des Erzählens betrifft, ist
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offenkundig, dass v. a. diese Großbereiche angepeilt werden, nicht aber bestimmte Teilphänomene. Die zweite Beobachtung: Das Erzähl-Vokabular erscheint am jeweiligen Ort nahezu durchgängig in stark funktionalistischer Perspektive. Roser registriert die Faktur dieses oder jenes Aspekts, schreibt ihr aber sehr direkt auch eine gewisse Leistung oder ästhetische Wirkung zu – etwa, wenn das Blau, das in Gladiator innerhalb einer Traumsequenz von einer toskanischen Landschaft auftritt, als „transzendierend“ bezeichnet wird (333). In der oben eingeführten Begrifflichkeit reformuliert: Die Register von beschreibenden und interpretierenden Aussagen fallen argumentationspraktisch in eins. Die Tendenz zu einer stark funktionalistischen Interpretation (und nicht Beschreibung) kehrt auch wieder auf der Ebene globaler Sinnzuschreibungen. Dies zeigt sich exemplarisch an der zitierten Entfaltung des ersten Typus von „Sterbegeschichten“. Roser fragt: „Hat die Erzählung einen erkennbaren Plot?“ Und die Kommentierung seiner Beispielerzählung zeigt, dass der Singular in der Frage ernst zu nehmen ist. Er bietet keine Interpretationsalternativen an – verschiedene „Plots“ für die sich allenfalls verschieden überzeugend argumentieren ließe –, er etabliert eine (durchaus plausible) Auslegung, die die biographische Erzählung der Seelsorgeklientin auf deren aktuelle Lebenssituation bezieht, den nahen Tod ihres Ehemannes. Narratologisch gesprochen: Rosers Interesse gilt generell weniger einer Vertiefung der Gestaltung des Erzählten im Erzählen (der Geschichte als Diskurs), sondern der Pragmatik des Erzählens. Wenn er, wie zitiert, formuliert: „Worin erkennt der Erzähler das Problem, um dessen Lösung er sich innerhalb der Erzählung oder aber durch die Erzählung bemüht?“, so wird die Problem-Lösung-Dynamik „innerhalb der Erzählung“ deutlich dominiert durch diejenige „durch die Erzählung“. Diese argumentative Gravitation zu Funktionsbestimmungen und starken – weil tendenziell singularischen – Bedeutungszuschreibungen steht vermutlich auch im Hintergrund eines Desinteresses an der medialen Spezifik des sehr heterogenen Erzählmaterials, das zur Etablierung des Modells genutzt wird: ein Film, biblische Erzählungen, ein kanonisches Werk der bildenden Kunst, mündliche Erzählungen aus dem Seelsorgekontext. Das Modell der Arena des Sterbens beansprucht also, implizit, eine intermediale Tauglichkeit.³⁷ Die Eigenlogik der
Dass dieser Punkt nicht ausdrücklich reflektiert wird, erstaunt umso mehr, da die eingehende Kommentierung des kardinalen Beispiels, des Gladiator-Finales, sehr genau medienspezifische Möglichkeiten des cineastischen Erzählens erfasst, nämlich die Verdoppelung der Bilderzählung durch eine äußere Darstellung des Sterbens und der inneren Vorgänge, die „kulturübergreifende Jenseitsvorstellungen (333) bebildern – und im Arena-Modell den Bezugsbereich des Jenseitsglaubens illustrieren. Zur intermedialen Erzählforschung: Werner Wolf, Narratology and Media
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genannten Erzählmedien – der Umstand, dass ein Einzelbild deutlich anders erzählt als ein Erzähltext oder eine dialogisch eingebettete, zunächst mündliche und nachträglich verschriftlichte autobiographische Erzählung – scheint im Kontext seines Erkenntnisinteresses vernachlässigbar. Eine weitere Beobachtung ist an Rosers vierteiliger Typologie von Sterbegeschichten zu machen. Diese leuchtet intuitiv unmittelbar ein; zweifellos hilft sie zur Unterscheidung formaler Eigenarten von „Sterbegeschichten“. Aus narratologischer Sicht muss aber auffallen, dass die gewählte Begrifflichkeit gewisse Auffälligkeiten zeigt. Die beiden Grundtypen – das „Erzählen vom Sterben anderer“ bzw. „vom eigenen Sterben“ – werden, was das Erzählmedium betrifft, uneinheitlich entfaltet. Der erste Subtypus des Erzählens vom Sterben anderer nutzt wiederum Erzähl-Terminologie, der zweite dagegen wechselt von der Ebene der Erfahrungsdarstellung auf die Ebene der Erfahrung selbst (1 b: „Erfahrungen aktuellen Sterbens nächster Angehöriger“). Diese Verlagerung setzt sich fort beim zweiten Grundtypus. Hier ist beim ersten Subtypus von „Vorstellungen und Überlegungen zum eigenen zukünftigen Sterben“ die Rede, beim zweiten von „Schilderungen aktuell bevorstehenden Sterbens“. Diese begrifflichen Verschiebungen müssen auffallen, denn sie (und das wäre an ihrer kommentierenden Entfaltung auch im Detail zu zeigen) lassen sich als Reflex auf die Grundfrage nach Narrativität verständlich machen. Die Rede von „Vorstellungen und Überlegungen“ bzw. „Schilderungen“ lässt sich nicht ohne weiteres mit dem landläufigen Begriff von Erzählung bzw. „Geschichte“ vermitteln; sie zeigen aber ein Bewusstsein für den Umstand, dass Narrativität, wie ausgeführt, ein unreines Phänomen ist, das Allianzen eingeht mit verschiedenen nicht-narrativen Diskursmodi. Sie dokumentieren, wenn auch nicht explizit, ein Bewusstsein für „das Erzählen“/„die Erzählung“ als umbrella term, der Näherbestimmungen erfordert. Diese Hinweise scheinen die zu Beginn des Abschnitts vorgenommene Klassifikation von Rosers Beitrag als „narratologisch informiert“ wenn nicht fragwürdig, so doch erläuterungsbedürftig zu machen. Der untersuchte Aufsatz kann, diesen Typus weiter ausdifferenzierend, als „sekundär narratologisch informiert“ bezeichnet werden, nämlich sekundär im Sinn einer Übernahme gewisser Begriffe aus anderen Anwendungen narratologischer Theoriebestände, nicht aber aus erster Hand. Ein Indiz für diesen vermittelten Theorierekurs gibt die erwähnte relative Unordnung der Erzähl-Begrifflichkeit, ein zweites (wie im Detail
(lity): The Transmedial Expansion of a Literary Discipline and Possible Consequences, in: Olson, Hg., Current Trends in Narratology (s. Anm. 4), 145 – 180; Marie-Laure Ryan, Narrative across Media. The Language of Storytelling (Nebraska: University of Nebraska Press, 2004).
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auszuführen wäre) die Selektion der bzw. der Umgang mit der Forschungsliteratur.
3.2 Yasmin Gunaratnam: Illness narratives (2015) Yasmin Gunaratnams Aufsatz Illness Narratives, meaning making and epistemic injustice in research at the end of life ³⁸ kann stellvertretend herangezogen werden für die breite Lebensendforschung an der Schnittstelle von Sozialwissenschaften und „Narrative Medicine“. Wie bereits aus dem Titel des Beitrags hervorgeht, unternimmt es die Autorin, recht diverse Aspekte auf sehr engem Raum³⁹ auf einander zu beziehen. Festzuhalten ist allerdings, dass Gunaratnams origineller Beitrag zur Themenstellung des Bandes, dem er entnommen ist, im Titel gerade nicht kenntlich wird: Die Autorin schlägt vor, die signifikante Bedeutung von Sterbewünschen nicht nur mit den Mitteln der von ihr referierten „narrative approaches“ (16) zu bearbeiten, sondern auch mit denen der Sprechakttheorie (vgl. 20 f.). Hinsichtlich der Terminologie, die Gunaratnam einführt bzw. verwendet, ist zunächst zu bemerken, dass sie die wissenschaftliche Tugend der Begriffsarbeit ausdrücklich anspricht, und zwar als, in diesem Fall, kontroverse Praxis. Der Abschnitt Narratives and Stories setzt mit der folgenden Beobachtung ein: It is important to acknowledge that for some writers, defining, categorising and analysing the features of narratives and stories, is less than fruitful, leading to decontextualized understanding and a distancing from the moral demands of stories (Frank 2010). For others, knowledge of the distinctive features of a narrative and story can enable a better appreciation of the narrator’s portrayal of themselves and how a narrative can affect the listener (Paley and Eva 2005; Greenhalgh and Hurwitz 1999; Greenhalgh and Hurwitz 1998).
Wenn Gunaratnam in der Folge explizite Begriffsbestimmungen vornimmt, macht sie deutlich, tendenziell zur zweiten der beiden Gruppen zu gehören. Zugleich affirmiert sie auf der Linie der ersten Gruppe – und konkret im Anschluss an Sayantan DasGupta – das Prinzip einer „narrative humility“, im Sinn eines „ne-
Yasmin Gunaratnam, The Patient’s Wish to Die: Research, Ethics, and Palliative Care, in: Christoph Rehmann-Sutter u. a., Hg. (Oxford: OUP, 2015), 15 – 27 (Nachweise jeweils im Haupttext). Vgl. auch dies., Death and the Migrant: Bodies, borders, care (London: Bloomsbury Academic, 2013); dies. und David Oliviere, Hg., Narrative and Stories in Health Care: Illness, Dying and Bereavement (Oxford: OUP, 2009). Der Beitrag umfasst 12 Druckseiten, von denen zweieinhalb auf die umfangreiche Bibliographie entfallen.
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cessary and moral stance for care professionals“ (16). Die Praxis der Terminologisierung scheint auch für sie zumindest ambivalent zu sein, nämlich doch auch unter dem Verdacht einer Unbescheidenheit, einer fatalen Herrschaft des harten Begriffs über die weichen und verstehensresistenten Phänomene. Die Notwendigkeit, den synonymen alltagssprachlichen Gebrauch von „narrative“ und „story“ fachsprachlich zu präzisieren, wird denn auch ausdrücklich begründet durch die fällige Aufmerksamkeit für die Art und Weise, „that stories work upon those who receive them“ (ebd.). Dieser letztlich ethische Gesichtspunkt veranlasst sie dazu, auf Miranda Frickers Konzept der „epistemic injustice“ zu rekurrieren.⁴⁰ In der Bestimmung der genannten Erzähltextsorten folgt sie dagegen einem Beitrag von John Paley und Gail Eva⁴¹: Paley and Eva define a narrative as as sequence of events that are causally related, with one event leading on from another (Bal 1997). In this regard a story is a narrative thickened and complicated. In additon to related events, a story has a charater(s), a problem, an explanation and an underlying plot. (Ebd.)⁴²
Diese Differenz spielt für die Autorin eine zentrale Rolle, da sie im Kontext ihrer qualitativen Forschungen zum Sterben von MigrantInnen im Vereinigten Königreich⁴³ eine wesentliche Beobachtung – genauer eben: die Identifikation einer bestimmten „epistemic injustice“ – erlaubte: „I have found that cultural and language differences can flatten stories into narratives, lacking in emotional depth and nuance.“ (17) Die Ungerechtigkeit liegt in diesem Fall darin, dass die Pflegeperson durch die Verflachung der Patienten-„story“ zur rohen „narration“ unter Umständen Schwierigkeiten hat, sich mit der oder dem Sterbenden zu „identifizieren“ – „to see an illness within the unique psycho-social tapestry of a life“ (ebd.). In diesem Zusammenhang fällt beiläufig auch der narratologisch geläufige Terminus des „unreliable narrator“, der bezogen wird auf das Dilemma
Vgl. dies., Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing (Oxford: OUP, 2007). Vgl. dies., Narrative vigilance: The analysis of stories in health care, in: Nursing Philosophy 6/2 (2005), 83 – 97. Im Originalton der Autoren: “Narrativity is something that a text has degrees of, and our proposal is that the elements of narrativity can be ‚sorted‘ roughly into a continuum, at the ‚high narrativity‘ end of which we find ‚story‘. On our account, ‚story‘ is an interweaving of plot and character, whose organization is designed to elicit a certain emotional response from the reader, while ‚narrative‘ refers to the sequence of events and the (claimed) causal connections between them.” Ebd., 83 (abstract). Über die Plausibilität dieser Differenz wäre eigens nachzudenken. Ob es sinnvoll ist, der Grad der Adressatenorientierung zum Kriterium zu machen, scheint allerdings fraglich. Vgl. Anm. 38.
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des (Gunaratnams eigene analoge Prägung?) „unreliable witness“: „Professionals can doubt wether they have fully understood a patient’s experience.“ (Ebd.) Diese unzuverlässige Zeugenschaft dokumentiert aber gerade die Bedeutung dessen, was an anderer Stelle als „narrative knowledge“ oder „competence“ (18) bezeichnet und als „hermeneutical ressource“ geschätzt wird. In einem späteren Abschnitt – in der Diskussion der Beziehungen von Sterbewünschen zum „Narrativen“ – führt Gunaratnam weitere narrationsbezogene Kategorien ein: In Verbindung mit ihren ethischen Erwägungen verweist sie zunächst auf die basale Differenz von „first“ und „second order accounts“, hier verstanden im Sinn von Geschichten, die von den Sterbenden selbst erzählt werden oder aber von anderen. Der zweite Hinweis gilt, wiederum nur beiläufig, der Wirksamkeit eines sehr viel umfassenderen narrationsbezogenen Theoriekonzepts: den „cultural meta-narratives and prescriptions […]; a phenomenon that Greenhalgh and Collard call ‚stories-within-stories‘ […]“. Am klarsten expliziert und nach dieser Explikation auch konsequent parallel geführt wird aber das Begriffspaar von „narrative“ und „story“. Nach diesem Referat ist erneut zu fragen, was vor dem Hintergrund der oben exponierten Kategorien zu dieser terminologischen Gemengelage zu sagen ist. An erster Stelle muss auffallen, dass die herangezogene Erzähl-Begrifflichkeit sich zwar auch auf Erzähltexte bezieht, der Akzent insgesamt aber deutlich stärker auf der Erzählpragmatik liegt: auf den Bedingungen, unter denen im medizinischen Kontext erzählt und Erzähltes ge- oder eben überhört wird. Diese Erzählungen selbst kommen kaum vor;⁴⁴ und wo sie auftreten, dienen sie nicht der Illustration erzähltextbezogener Kategorien. Auch die zentrale Story-NarrativeDifferenz wird nicht an Beispielen konkretisiert. Wenn Gunaratnam in diesem, an der „Research“⁴⁵ orientierten Beitrag wenig an Exemplifikation liegt, so geht damit auch eine stark normative Auszeichnung ihrer Terminologie einher, und dies eben nicht nur im Bereich der erzählpragmatischen Begrifflichkeit (exemplarisch etwa im Gebot der „narrative humility“ oder in der Rede vom „unreliable witness“), sondern auch beim erzähltextbezogenen Vokabular. Die Unterscheidung „narrative“ vs. „story“ ist zunächst eine beschreibende; sie dient der Klassifikation von Erzähltexten unterschiedlicher Art. Ihre Zentralstellung innerhalb des Argumentationsgangs gewinnt sie allererst Neben einem bewusst an den Anfang gestellten drastischen Beispiel einer „Caregiver“-Erzählung von expliziten Sterbewünschen findet sich nur ein einziges mehrzeiliges Zitat. Vgl. ebd., 18. Der Beitrag eröffnet den betreffenden Abschnitt des Sammelbandes, dessen Beiträge ansonsten unter den Titeln „Ethics“ und „Practice“ eingereiht werden.
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durch die erwähnte normative Gewichtung – ihre Koppelung mit der Gerechtigkeitsfrage, die erfordert, die „story“ zumindest im genannten Kontext als besseren Erzähltypus auszuzeichnen. Die ethisch grundierte erzählpragmatische Fokussierung lässt die Faktur des Textes sekundär werden. Gunaratnams Beitrag thematisiert und klärt verschiedenste Leistungen und Verhältnisse des Erzählens ad extra; Differenzen ad intra, Hinweise zur Beschreibung und/oder Interpretation der Faktur der Texte, gibt er dagegen nicht. So bleibt etwa auch die Grunddifferenz von Geschichte und Diskurs unerwähnt (die faktisch ja den erzähltheoretischen Unterbau zu ihrer Rede von „first“ und „second order accounts“ liefert), und auch eine Problematisierung der narrativity erfolgt nicht, obwohl unmittelbar angelegt in Gunaratnams Verzeichnis verschiedener medizinspezifischer ‚Erzähl‘texttypen⁴⁶ und breit diskutiert im referierten Beitrag von Paley und Eva. Bleibt die Frage, wie nun dieser Aufsatz innerhalb der eingangs gegebenen heuristischen Typologie narrationsbezogener Lebensendforschung zu situieren ist. Sie ist nicht leicht zu beantworten. Im Licht der Anwendung des Modells auf Rosers Aufsatz (seiner Klassifikation als Subtypus der „sekundär narratologisch informierten“ Forschung) läßt sich aber doch für eine relativ klare Zuordnung argumentieren: Gunaratnams Überlegungen sind am ehesten dem ersten Typus zuordnen, der allgemeinen narrationsbezogenen Forschung. Die Aufmerksamkeit für das Erzählmedium als spezifisches Medium scheint zu schwach ausgebildet; der Stellenwert der Anwendung andernorts – primär oder auch sekundär – bezogenen narratologischen Vokabulars ist minimal.⁴⁷
3.3 Kontextuelle justierte Unterscheidungspflege An dieser Stelle – nach der Arbeit an den Quellen und vor den begriffsbildenden Abschnitten – scheint eine Zwischenbemerkung fällig: Die angestellten Überlegungen zu den beiden Aufsätzen erwecken möglicherweise den Eindruck narratologisch-hermeneutischer Kleinlichkeit; sie mögen sich lesen als eine Inventarisierung diesbezüglicher Defizite – und also als ein ranking, das die
„[A]ll kind of narratives and stories – patient and professional accounts, diagnoses, medical histories, advanced care plans, case reviews, rumours, and hearsay“. Ebd., 17. Vgl. auch eine Formulierung wie: „Last wishes might not always be stories and can sometimes be pared-down narratives“ (20). Erkennbar etwa auch am Verzicht, die Rede von einem „unreliable narrator“ auf Wayne Booth’ (The Rhetoric of Fiction, 1961) und die breite Theoriediskussion zu beziehen, die sich an seine Thesen anschloss.
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erzähltheoretische Forschung feiert, die narratologisch informierte Forschung (Roser) wohlwollend registriert, der bloß narrationsbezogenen (Gunaratnam) aber klar vorzieht. Dieser Eindruck ignorierte allerdings eine Hintergrundsüberzeugung, die alle artikulierten Beobachtungen und insbesondere auch Anfragen begleitet: Die Beachtung der eingangs erwähnten Leitunterscheidungen ist, wie diejenige anderer auf anderen Feldern auch, auf keinen Fall per se eine akademische Tugend. Dass man eine Unterscheidung machen kann, bedeutet sicher nicht, dass sie in jedem Fall gemacht werden muss. Der Bedarf so, anders oder allenfalls auch nicht zu differenzieren, bemisst sich immer nach den gegebenen kontextuellen Bedingungen. Und bei einem sehr punktuellen und – vor allem – spezifisch motivierten Einblick in die Wissenschaftspraxis auf Feldern, die nicht die eigenen sind, empfiehlt sich generell Bescheidenheit. Rosers Modell der Arena des Sterbens hat, um dieses Beispiel zu nennen, ungeachtet seiner narratologischen Unbestimmtheiten zweifellos eine erschließende Kraft. Seine Leistung zeigt sich schlicht in einer positiven Rezeption in anderen Forschungen. Beide Autoren sind nicht von Ungefähr respektierte Exponenten ihrer jeweiligen primären Diskursfelder. Gegenläufig zu diesem wichtigen Hinweis ist aber doch auch zu sagen: Um solide zwischen kontextuell produktiven und entbehrlichen Differenzen entscheiden zu können, müssen diese allererst bekannt sein. Sich begründet gegen etwas zu entscheiden, setzt generell voraus, dass einem dieses Etwas mehr oder weniger vertraut ist. Und eine solide Entscheidung gegen etwas erfordert zwangsläufig mehr als eine oberflächliche Einlassung. In diesem Sinn sind die angestellten Überlegungen durchaus als ein kritisches Werben zu verstehen. Sie verdanken sich der Überzeugung, dass die Theoriebestände der allgemeinen Narratologie auch in den fach- und diskursspezifischen Kontexten instruktiv sein könnten, dass manche Forschungen durch ihre Kenntnisnahme, ihren Gebrauch und ihren bewussten Nichtgebrauch profitierten.
4 Sterbeerzählung und Sterbenarrativ: begriffskritische Überlegungen 4.1 Sterbegeschichten und Verwandtes Die letzten Abschnitte haben den Blick geschärft für einige begriffliche Eigenheiten der narrationsbezogenen Lebensendforschung. Auf diese rudimentäre Sichtung des diesbezüglichen Vokabulars sollen nun, daran anschließend, zwei Begriffe eingehender bedacht und als Begriffspaar zur Debatte gestellt werden:
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die Sterbeerzählung und das Sterbenarrativ. Sie sind als Basisvokabular der Forschung ins Spiel zu bringen – als Basisvokabular, da sie bestenfalls dazu dienen, kommunikative Probleme auf allgemeinster Ebene zu reduzieren, nämlich in der Thematisierung von Zusammenhängen von Sterben und Erzählen en gros. Der signifikante Zusammenhang des Phänomens des Sterbens mit der kommunikativen Praxis des Erzählens dokumentiert sich innerhalb der betreffenden Forschung am dichtesten in der Bildung von Komposita, die diesen Zusammenhang auf einen Begriff bringen. Traugott Roser und andere mehr sprechen von „Sterbegeschichten“⁴⁸, es findet sich aber auch die Rede von „Sterbeerzählungen“⁴⁹ und – weit verbreitet – „Sterbeliteratur“ (sei es im Sinn eines weiten Literaturbegriffs, der auch die wissenschaftliche Literatur meint, sei es im engeren Sinn der sogenannt „schönen Literatur“). Anzutreffen ist aber eben auch der Terminus, der dem vorliegenden Band seinen Namen gibt: „Sterbenarrative“. Diesen Begriffen ist über die zu vermutende Nähe ihres semantischen Gehalts hinaus gemeinsam, dass sie in den jeweiligen Darstellungs- und Argumentationsgängen in der Regel einfach verwendet, nicht aber metasprachlich erläutert werden. Die Rede von Sterbegeschichten, Sterbeerzählungen oder Sterbenarrativen scheint selbstverständlich zu sein; sie erschließt sich mutmaßlich intuitiv. Zur Erfüllung ihrer klassifikatorischen Funktion scheinen keine aufwändigeren Definitionsgänge notwendig. Allerdings nimmt einer beiden Begriffe, die ihm folgenden eingehender diskutiert werden, in der genannten Dreierreihe eine Sonderstellung ein: das „Sterbenarrativ“. Wenn der erste Teil der drei Komposita jeweils identisch ist und den inhaltlich-thematischen Fokus des Erzählten (der – narratologisch verstandenen – Geschichte) anzeigt, so muss bezüglich des zweiten Teils eine Differenz betont werden.⁵⁰ Was für „die Geschichte“ wie für „die Erzählung“ gilt – sie sind all-
Vgl. u.a. Dieter Lamping, Die fiktionale Sterbegeschichte, in: Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft 1 (1987), 71– 99; in kürzerer Fassung online zugänglich:Vom Sterben erzählen. Realismus und Fantastik in der fiktionalen Sterbegeschichte, http://literaturkritik.de/id/ 16245 (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Vgl. u. a. Matías Martínez, Das Sterben erzählen, in: Tom Kindt und Jan-Christoph Meister, Hg., Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung (Tübingen: Niemeyer, 2007), 23 – 34. Die folgenden Überlegungen machen von dieser intuitiven Verständlichkeit auch selbst Gebrauch insofern der erste Teil der genannten Komposita – „Sterbe …“ – nicht eigens diskutiert wird. Dass „das Sterben“ in unterschiedlichster Weise perspektiviert und expliziert werden kann, liegt auf der Hand. Doch sind diese Nuancen für das Folgende nicht entscheidend; das Commonsense-Verständnis der betreffenden leiblichen und/oder psychischen Vorgänge ist hinreichend: „Der Sterbeprozess bezeichnet die letzte Phase des Lebens eines organischen Individuums, in der die Lebensfunktionen unumkehrbar zu einem Ende kommen. […] Der natü rliche Sterbevorgang durchlä uft mehrere Phasen: Zunä chst wird die Wahrnehmung durch verringerte Hirnaktivitä t
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tagssprachlich vertraute Begriffe, die allerdings auch in der Wissenschaftssprache auftreten (und nicht nur in der deutschsprachigen) –, gilt nicht für „das Narrativ“. Anders als jene ist „das Narrativ“ ein junger Neologismus der deutschen Wissenschaftssprache. Als Neuprägung hat der Begriff in den vergangenen 10 bis 15 Jahren allerdings eine erstaunliche Konjunktur erlebt – greifbar, um nur wenige Beispiele zu nennen, im „Krisennarrativ“, „Fluchtnarrativ“, Narrativ „der Aufklärung“, „der Neutralität“, „des katholischen Österreich“, etc. Diese Konjunktur verdankt sich offenkundig der Etablierung einer interdisziplinären Kulturwissenschaft, die u. a. das Erzählen als eines ihrer zentralen Paradigmen erkannt hat.⁵¹ Die folgenden Abschnitte gelten nun einerseits dem Begriff des „Sterbenarrativ“, andererseits dem der „Sterbeerzählung“. Sie sollen für sich wie in ihrem Zusammenhang einer Diskussion und näheren Bestimmung unterzogen werden. Dass aus dem kursierenden Vokabular der Terminus der Sterbeerzählung und nicht der Sterbegeschichte gewählt wurde, verdankt sich der Absicht, den Begriff der „Geschichte“ zu reservieren für die im engeren Sinn narratologische Kategorie des Erzählten. Aus Gründen, die sich noch erschließen werden, sollen die begriffskritischen Überlegungen auch bei der „Sterbeerzählung“ beginnen, um dann zum „Sterbenarrativ“ überzugehen. Zunächst muss aber endlich auch ein Beispiel eingeführt werden. Es wird erlauben, die terminologischen Überlegungen immer wieder am konkreten Fall zu überprüfen bzw. vom gegebenen Erzählmaterial aus weiter zu nuancieren.
eingeschrä nkt; Seh- und Hö rvermö gen lassen nach bzw. erlö schen, und die Atmung verflacht. Danach tritt der Herzstillstand ein, dem innerhalb weniger Minuten infolge des Funktionsverlusts der Hirnzellen der Hirntod folgt.“ Dominik Groß und Jasmin Grande: Art. Sterbeprozess. In: He´ctor Wittwer u. a., Hg., Handbuch Sterben und Tod (Stuttgart: Metzler, 2010), 75 – 83, hier 75. Man vergleiche aber Simon Peng-Kellers Schlussbeitrag (in diesem Band, 311– 324). Hier wird am Beispiel des „Winnetou-Todes“ darauf verwiesen, dass etwa das literarische Erzählen ein Common-sense-Verständnis des Sterbens zementieren kann, das zumindest aus medizinischer Sicht zu problematisieren wäre. Exemplarisch für dieses Theoriemilieu steht die mehrfach aufgelegte „Einführung“ des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Wolfgang Müller-Funk Die Kultur und ihre Narrative (EA: Wien: Springer, 2002). Vgl. aber auch: Alexandra Strohmaier, Hg., Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften (Bielefeld: Transcript, 2013). Die Konjunktur des Begriffs zeigt sich auch daran, dass er – für manche fatalerweise – bereits den Sprung in die Alltagskommunikation geschafft hat. Vgl. Matthias Heine, Hinz und Kunz schwafeln heutzutage vom „Narrativ“, in: Die Welt, 13.11. 2016, https://www.welt.de/debat te/kommentare/article159450529/Hinz-und-Kunz-schwafeln-heutzutage-vom-Narrativ.html (letzter Zugriff: 20.01. 2017).
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4.2 Buñuels letzter Scherz Der spanische Filmemacher Luis Buñuel (1900 – 1983) hat seine autobiographischen Aufzeichnung Mi último suspiro / Mein letzter Seufzer (1982) nicht nur unter einen Titel gestellt, der ausdrücklich die Endlichkeit des menschlichen Lebens adressiert. Er beschließt diese auch mit der Imagination seines letzten Seufzers – dem allerdings ein letzter Scherz vorangehen soll: Vor meinem letzten Seufzer stelle ich mir gern einen letzten Scherz vor. Ich bitte alle meine alten Freunde zu mir, die wie ich überzeugte Atheisten sind. Betrübt versammeln sie sich um mein Bett. Dann kommt der Priester, den ich habe rufen lassen. Zum großen Entsetzen meiner Freunde beichte ich, bitte um die Vergebung aller meiner Sünden und empfange die letzte Ölung. Dann drehe ich mich zur Wand und sterbe. Ob man in dem Augenblick aber noch die Kraft hat zu scherzen?⁵²
Um diese Zeilen in globaler Weise zu charakterisieren, bietet es sich an, sie als kurze Sterbeerzählung zu bezeichnen, die ein bestimmtes Sterbenarrativ aufruft. Es handelt sich um einen autobiographischen Text; der Verfasser imaginiert in Gestalt des prospektiven Erzählens seine letzten Lebensminuten. Die Erzählung schließt mit seinem Tod. Der Gehalt der Imagination – der finale Scherz im Kreis der Freunde – veranlasst ihn allerdings dazu, diese einem seinerseits imaginierten Realitätstest auszusetzen. Der Plan könnte scheitern. Dieses doppelt hypothetische Scheitern verdankte sich allerdings nicht etwa der Entscheidung, im Angesicht des Todes auf diesen Scherz doch zu verzichten, sondern an der kräftemäßigen Überforderung, die jegliches Scherzen in diesem Moment möglicherweise bedeutete. Die Imagination des eigenen Sterbens wird erzählerisch abgerundet durch die Betonung dieses imaginativen Modus, der durch die lebensweltliche Realität leicht revidiert werden könnte. Eben deshalb muss auch auffallen, dass sich das ausdrückliche „Ich stelle mir vor …“ auf den einleitenden Satz beschränkt; die Schilderung erfolgt nicht etwa im von vornherein relativierenden Konjunktiv, sondern im anschaulichen Indikativ Präsens. Diese Erzählung realisiert nun in bestimmter Weise ein etabliertes Sterbenarrativ: das der Konversion in extremis. Unabhängig von der notorischen Frage ihrer Authentizität lässt sich beobachten, dass in Schilderungen von Sterbeprozessen wiederholt von einem radikalen religiösen Gesinnungswandel die Rede ist, einem positiven Gesinnungswandel zugunsten einer Glaubensüberzeugung. Im Kontext der biblischen Schriften begegnet er etwa in der Figur des „guten Schä-
Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Erinnerungen (Frankfurt a/M: Ullstein, 1985), 249.
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chers“ des lukanischen Passionsberichts (Lk 23,39 – 43).⁵³ Dieses Schema – oder eben: Narrativ – wird nun vom „überzeugten Atheisten“ Buñuel aufgenommen für seinen „letzten Scherz“. In erster Annäherung wird man sagen: Er instrumentalisiert das Narrativ; in einer scheinbaren Absage an die Überzeugungen, die er mit den anwesenden Freunden teilt, wird es parodiert. Allerdings muss das Moment des Fingierten, die faktische oder unterstellte Scheinkonversion, unbedingt auch als genuines Element des Narrativs gesehen werden, gehört es doch zum Grundbestand der betreffenden Debatten.⁵⁴ Es mag sein, dass diese Rede von einer Sterbeerzählung bzw. einem Sterbenarrativ ohne weitere Erläuterungen plausibel scheint. Um sie im Vokabular der narrationsbezogenenen Lebensendforschung zu etablieren, müssen die Begriffe aber zweifellos genauer konturiert werden, für sich wie in ihrer Beziehung.
4.3 Zur „Sterbeerzählung“⁵⁵ Erzählungen und auch Erzähltypen gibt es sehr viele. Zunächst muss also das Unterscheidungskriterium ausdrücklich gemacht werden, das von Belang ist, wenn die Sterbeerzählung als ein bestimmter Typus aus dem Kosmos der Erzählungen ausgesondert wird. Das Kriterium, das die Differenzierung erlaubt,
Für eine affirmativ-erbaulich Sammlung solcher Zeugnisse vgl. etwa: [N. N.], Bekehrungen auf dem Sterbebett, Durach (Verlag Anton Schmid, 2002). Wie etabliert das Narrativ ist, zeigt sich etwa auch daran, dass ein überzeugter Religionskritiker wie Christopher Hitchens (1949 – 2011) betonen musste, er halte nichts von „Bekehrungen am Totenbett“, dabei allerdings einschränkend notiert: „Als verängstigter, halbbewusster Schwachsinniger würde ich vielleicht bei Geschäftsschluss sogar nach einem Priester schreiben, obwohl ich hier im Übrigen – solange ich noch bei klarem Verstand bin – hinterlassen möchte, dass das solcherart sich demütigende Wesen dann nicht mehr ‚ich‘ wäre.“ Christopher Hitchens, Endlich. Mein Sterben, aus dem Englischen von Joachim Kalka (München: Pantheon, 2013), 39. Interessanterweise wurde Hitchens nach seinem Tod von evangelikaler Seite dann effektiv eine Konversion unterstellt – eine Behauptung, der Sympathisanten Hitchens unter Verweis auf analoge „Phantasien“ energisch widersprachen. Vgl. u. a. Lawrence M. Krauss, The Fantasy of the Deathbed Conversion, in: The New Yorker, 6. Juni 2016, http://www.newyorker.com/culture/culture-desk/the-fantasy-of-the-deathbed-conversion (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Vgl., nebst dem aktuellen Beispiel Hitchens’ (s. Anm. 53), etwa die Hinweise auf die einschlägigen historischen Exempla, in: https://en.wikipedia.org/wiki/Deathbed_conversion (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Ich nutze in diesem Abschnitt Material, das mit gewissen Akzentverschiebungen zu finden ist in: Andreas Mauz, Seinen Tod sterben. Kurt Martis exemplarische Sterbeerzä hlung ‚Neapel sehen‘ (1960), in: Pierre Bühler und Andreas Mauz, Hg., Grenzverkehr. Beiträge zum Werk Kurt Martis (Göttingen: Wallstein, 2016), 225 – 249.
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scheint – analog etwa zur Kriminalerzählung – ein thematisches zu sein (und nicht etwa ein formales, wie im Fall der Langerzählung, ein pragmatisches wie im Fall der Nacherzählung oder ein qualitatives wie im Fall der Meistererzählung). So wie Kriminalerzählungen von wenigstens einem kriminellen Akt und seinen Folgen handeln, handeln Sterbeerzählung von den Umständen wenigstens eines Sterbeprozesses. Thema dieses Erzähltypus ist das oder ein Sterben. Diese Bestimmung kann allerdings nur eine vorläufige sein, lässt sie doch sofort die Folgefrage aufbrechen, was unter diesem „Handeln-von“ bzw. „Thema-Sein“ genauer zu verstehen ist. Damit eröffnet sich wiederum eine andere Hintergrundsdebatte: die der literaturwissenschaftlichen Thematologie bzw., in traditionellerer Diktion, der Stoff- und Motivforschung. Diese Theoriebildungen aus praktischen Gründen in der komprimierten Fassung eines einführenden Referats wahrzunehmen,⁵⁶ kann dazu helfen, die Rede von Sterbeerzählungen als thematisch identifiziertem Erzähltypus genauer zu fassen. Dabei scheint es instruktiv, zunächst über das „Thema“ hinaus auch den Begriff des „Stoffs“ heranzuziehen, der im literaturwissenschaftlichen Vokabular gleichfalls als summarischer Terminus für „die Untersuchung des Gesamtkomplexes des erzählten Gegenstandes in seiner übergreifenden Bedeutung“⁵⁷ kursiert. Thema und Stoff lassen sich, Ulrich Mölk folgend,⁵⁸ plausibel unterscheiden in Hinsicht auf ihren Abstraktionsgrad. So bezeichnet der Stoff „in relativ konkreter Form des Gegenstand (den ‚Inhalt‘, das ‚Sujet‘, das Geschehen) einer Erzählung hinsichtlich Figuren und Figurenkonstellation, Schauplatz, Ausgangssituation, Konflikt, Geschehensverlauf und Ausgang“⁵⁹. Das Thema dagegen bezeichnet „mit abstrakten Begriffen die sich im dargestellten Stoff manifestierende Idee, d. h. das die Gesamtstruktur des Erzähltextes organisierende Problem“.⁶⁰ Die Differenz ist am Exempel klassischer Stoffe leicht nachvollziehbar:
Ich halte mich aufgrund ihres narratologischen Theorierahmens auch hier an die Darstellung von Lahn und Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 204– 209. Zur Diskussion u. a.: Christine Lubkoll, Thematologie, in: Jost Schneider, Hg., Methodengeschichte der Germanistik (Berlin: de Gruyter, 2009), 747– 762; Beatrix Müller-Kampel: Thema, Stoff, Motiv. Eine Propädeutik zur Begrifflichkeit komparatistischer und germanistischer Thematologie, in: Compass 4 (2001), 1– 20; Werner Sollors, Hg., The return of thematic criticism (Harvard: HUP, 1993). Lahn und Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 204. Ulrich Mölk, Art. Motiv, Stoff, Thema, in: Ulfert Ricklefs, Hg., Das Fischer-Lexikon Literatur (Frankfurt a. M.: Fischer, 1996), Bd. 2, 1320 – 1337. Lahn und Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 204. Ebd. – Mit dem gleichen Akzent Christine Lubkoll (Thematologie, s. Anm. 56, 751): „Im Gegensatz zu den relativ konkreten, aufgrund der genannten Kanonisierungsprozesse auch eingrenzbaren Begriffe ‚Stoff‘ und ‚Motiv‘, die an bestimmte Ereigniszusammenhänge und klar
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Während der Dädalus-und-Ikarus-Stoff dem Thema der „reife[n] Umsicht des Alters gegenüber jugendlichem Übermut im Umgang mit einer revolutionären Erfindung“ gilt, ist das Thema des Faust-Stoffs das „Verlangen nach umfassender Erkenntnis und Lebensgenuss ohne religiöse Beschränkung“⁶¹. Diese Unterscheidung lässt sich weiter schärfen in Bezug auf die narratologische Basisdifferenz von Diskurs und Geschichte: Denn der Stoff-Begriff rekurriert klar auf der Ebene der Geschichte; er benennt „das Material, das vom Erzähler auf eine bestimmte Weise im Diskurs vermittelt und strukturiert wird“. Das Thema dagegen ist in erster Linie der Diskursdimension zuzuordnen. Das Thema bezeichnet die durchgängige Idee einer Erzählung, die ‚genetisch‘ (in der Komposition des Werkes) und ‚analytisch‘ (in der Rezeption und Interpretation) betrachtet werden kann. In genetischer Hinsicht ist das Thema als die formende Idee zu verstehen, die den konkreten Einzelheiten von Handlungsentwicklung, Figurenkonstellation und Schauplatzwahl zugrunde liegt und sie in ihren Zusammenhängen bestimmt, in analytischer Hinsicht als die Gesamtbedeutung, die durch starke Abstraktion von den konkreten Einzelheiten herausgearbeitet wird.⁶²
Dieser Differenzierungsvorschlag ist von Interesse, weil er die Prima-vista-Plausibilität einer „thematischen“ Bestimmung des Genus der Sterbeerzählung produktiv aufraut. Versteht man „Thema“ in diesem Sinn, so scheint es eher fraglich, ob die Rede von Sterbeerzählungen tatsächlich thematisch zu bestimmen ist. Als handfester Vorgang verweist das Sterben zunächst auf die Dimension der Geschichte, die, diesem Modell gemäß, ja primär dem „Stoff“ vorbehalten sein soll. Aber „Sterben“ ist kein Stoff wie „Dädalus und Ikarus“ einen darstellt; das „Sterben“ ist als Stoff gleichsam ‚zu klein‘, weil es ohne weitere Angaben eben nicht die angezielte Konkretionsebene erreicht (nämlich wer wo unter welchen Umständen und mit welchen Folgen stirbt). Denkt man bei Stoffen in erster Linie an „klassische“, meist über die Figur(en) identifizierte Stoffe, wie sie in den einschlägigen Handbüchern verzeichnet werden (von „Abälard und Heloïse“ zur „Witwe von Ephesus“)⁶³, so regt sich Widerstand. Es bietet sich daher an, den-
strukturierte Konstellationen gebunden sind, bezeichnet das ‚Thema‘ eine Abstraktion, die Grundidee oder auch den Gehalt eines Textes.“ Lahn und Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 205. Ebd. Allen voran: Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 10. Aufl. (Stuttgart: Kröner, 2005). Vgl. im Gegenzug das „thematisch“ und „motivisch“ orientierte Handbuch: Horst S. Daemmrich und Ingrid G. Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch, 2. Aufl. (Tübingen: Francke, 1995).
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noch beim intuitiv passenderen Begriff des Themas zu bleiben, die narratologischen Implikationen der Stoff-Thema-Differenz aber dennoch ernst zu nehmen. Wenn das Thema auf einer allgemeineren Ebene angesiedelt wird, als „die sich im dargestellten Stoff manifestierende Idee“⁶⁴, so macht das Thema „Sterben“ deutlich, dass die Rede von einer „Idee“ ihrerseits unterschiedliche Abstraktionsgrade einschließen kann. Und die „Idee“ des Sterbens zeigt dabei eben eine erhebliche Schwerkraft zum Konkreten hin: Sie lässt sich nicht ablösen von einem Vorgang; sie ist ‚von Hause aus‘ wesentlich näher am narratologischen Parameter der Geschichte als etwa „die reife Umsicht des Alters gegenüber dem Übermut beim Umgang mit einer revolutionären Erfindung“.⁶⁵ Das Ergebnis dieser kurzen Diskussion: Es liegt nahe, die Zuschreibung des Begriffs „Sterbeerzählung“ thematisch zu fundieren, dies aber in einer Weise, die das Thematische nie auf die Dimension des Erzählten reduziert, sondern immer und zentral auch dessen diskursiver Gestaltung Rechnung trägt. Eine Begriffsbestimmung in einem strengen Sinn ist mit dieser Regel nicht gewonnen, doch lässt sich der Begriff auf dieser Grundlage doch klarer konturieren – in mindestens fünffacher Hinsicht: 1. Um von einer Sterbeerzählung zu sprechen, ist es sicher nicht hinreichend, wenn im fraglichen Erzähltext gestorben wird. Das ist in Erzählungen einer gewissen Länge die Regel. Würden sie alle als Sterbeerzählungen bezeichnet, verlöre das Label gerade die Distinktionsfunktion, die es innerhalb der literaturwissenschaftlichen wie multidisziplinären Lebensendforschung haben könnte. 2. Das Ereignis des Sterbens muss, so lässt sich folgern, nicht nur „vorkommen“. Es muss innerhalb der diskursiven Präsentation des Erzählten eine oder die tragende Rolle spielen. 3. Dass das Sterben vorkommen und eine tragende Rolle spielen muss, schließt wiederum nicht zwangsläufig ein, dass innerhalb der erzählten Welt eine Figur tatsächlich stirbt. Es mag Sterbeerzählungen geben, in denen nicht gestorben wird, weil eine tragende Rolle des Sterbethemas auch ohne akuten Sterbefall denkbar ist – etwa durch einen Abbruch der Erzählung vor dem Lebensende oder auch in Gestalt intensiver Imagination eines künftigen Lebensendes. 4. Die letzte Bemerkung gibt schließlich Anlass zu typologischen Binnenunterscheidungen. Man könnte tentativ den Subtypus der reflexiven Sterbeerzählung einführen, der vom Typus der präsentativen Sterbeerzählung zu
Lahn/Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 204. Diese Tendenz zeigt sich aber auch bei einer Kontrastierung der Themen „Sterben“ und „Tod“.
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unterscheiden, nicht aber zwingend zu trennen wäre.⁶⁶ Zweifellos gibt es Erzählungen, die der Darstellung des Sterbens ‚im engeren Sinn‘ (also einschließlich deskriptiver Aussagen zur leiblichen und/oder psychischen Befindlichkeit des oder der Betroffenen) nicht weniger Raum geben als dessen Reflexion – ausgespannt etwa zwischen Erwägungen zur Möglichkeit postmortaler Existenz und ganz und gar irdischen Erörterungen des Erbrechts. Es gibt keinen Grund, die Rede von Sterbeerzählungen ausschließlich für integrale Erzähltexte zu reservieren, auch bestimmte Texteinheiten einer umfangreicheren Erzählung lassen sich durch diese Bezeichnung sinnvoll identifizieren.
Letzteres zeigte ja nicht zuletzt auch das Beispiel von Buñuels Der letzte Seufzer, das nun noch einmal in den Blick kommen kann. Trotz ihres Titels sind diese „Erinnerungen“ sicher nicht gesamthaft als Sterbeerzählung anzusprechen, sondern etwa als „autobiographische Erzählung“ oder „autobiographischer Bericht“. Dieser Bericht schließt nun, nach verschiedenen anderen Teilerzählungen bzw. Erzähltypen, mit einer Sterbeerzählung. Die unter (4.) eingeführte Unterscheidung zweier Subtypen der Sterbeerzählung scheint auch produktiv in Bezug auf das Beispiel Buñuels. Im Sinn einer großzügigen Klassifikation wird man die Darstellung seines letzten Scherzes in erster Linie als präsentative Sterbeerzählung fassen, denn der Modus der Handlungsdarstellung steht klar im Vordergrund. Die Erzählung gilt primär dem intensiv vorgestellten Scherz; die Reflexion seines Gehalts trifft dagegen in der beschriebenen Weise zurück. Das quantitative Gewicht zugunsten des Präsentativen wird nun allerdings qualitativ aufgewogen durch das Reflexive, das den imaginierten Handlungszusammenhang im letzten Satz noch einmal massiv relativiert: „Ob man in dem Augenblick aber noch die Kraft hat zu scherzen?“ Über die nuancierte Wahrnehmung der Mischidentität der kleinen Beispielerzählung hinaus, gibt die vorgeschlagene Grundtypologie aber auch Anlass zur Identifikation weiterer (Sub‐)Typen. Denn jenseits ihres Gehalts erfüllt die Erzählung nämlich ein durchaus verbreitetes formales Schema: Imaginative Vorwegnahmen des eigenen Lebensendes sind in faktualen biographischen Erzählungen ebenso anzutreffen wie in der Fiktion. Die präsentative Sterbeerzählung ließe sich in formaler Hinsicht also erweitern durch den – sicher nicht einzigen – Subtypus der prospektiv-autobiographischen Sterbeerzählung.
Diese Begrifflichkeit in freier Anlehnung an die Symbolphilosophie Susanne K. Langers: Vgl. dies., Philosophy in a New Key: A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art (1941) (Harvard: HUP, 1951), Kap. 4: „Discoursive and Presentional Forms“.
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Dieser Subtypus verweist zugleich auf das Gewicht von Punkt (3.). Die prospektiv-autobiographische Sterbeerzählung hat ihre Pointe ja gerade im Vis-à-vis von Sterben und Weiterleben. Der Autor/Erzähler, der seinen eigenen Tod imaginiert, wird unter Umständen noch lange leben, früher oder später aber wird er sterben – in bestimmter Weise. Die prospektiv-autobiographische Sterbeerzählung lässt daher die Frage nach der Befindlichkeit der extratextuellen Instanz des Autors akut werden: Wie geht es dem, der in genau dieser Weise sein eigenes Ableben vorauserzählt? Und falls er zwischenzeitlich starb: Wie starb er effektiv? Wie verhalten sich die prospektiv imaginierte Sterbeerzählung und die retrospektiv überlieferte zueinander?⁶⁷ Schließlich lenkt das Buñuel-Beispiel die Aufmerksamkeit auf ein narratologisches Kriterium, das zur Wahrnehmung der Varietät von Sterbeerzählungen generell von Bedeutung sein dürfte. Die Zeitspanne der dargestellten Ereignisse ist in diesem Fall äußerst schmal. Sie umfassen nur den allerletzten Lebensabschnitt, die schätzungsweise 15 bis 30 Minuten vor Eintreten des Todes. Dieses enge Zeitfenster, das auch in anderen Quellen wiederkehrt, animiert zu einer weiteren schlichten Unterscheidung. Buñuel formuliert, wie man sagen könnte, eine Sterbeerzählung im engeren Sinn, während viele Erzählungen Sterbeerzählungen im weiteren Sinn sind, da sie eine breitere Zeitspanne thematisieren und Ereigniszusammenhänge zur Darstellung kommen, die nicht unmittelbar das Ereignis eines Ablebens im Sinn einer Sterbeszene betreffen.⁶⁸ Die vorgeschlagene Differenzierung gewinnt ihre eigentliche Bedeutung allerdings erst, wenn die Dauer innerhalb der Geschichtsdimension bezogen wird auf die Zeitlogik des Zum Exempel Buñuels: Seine Erinnerungen – gemeinsam verfasst mit dem langjährigen Mitarbeiter Jean-Claude Carrière – erschienen im Jahr vor seinem Tod. Ob er den erdachten letzten Scherz realisierte, ließ sich ohne aufwändigere Recherchen nicht eruieren. Ein Zeugnis Carrières zu Buñuels letzten Stunden legt allerdings nahe, dass die Befürchtung, seine Kraft könnte für diesen nicht reichen, unbegründet war („Kraft“ zumindest im Sinn einer körperlichen Fähigkeit): „Luis waited for death for a long time, like a good Spaniard, and when he died he was ready. His relationship with death was like that one has with a woman. He felt the love, hate, tenderness, ironical detachment of a long relationship, and he didn’t want to miss the last encounter, the moment of union. ‚I hope I will die alive‘, he told me. At the end it was as he had wished. His last words were ‚I’m dying‘.“ Jean-Claude Carrière, Luis Buñuel, remembered by Jean-Claude Carrière, zitiert nach: https://en.wikipedia.org/wiki/Luis_Bu%C3 %B1uel#cite_note-carriere_flickhead-185 (letzter Zugriff: 20.01. 2017). In Aufnahme der Begrifflichkeit der psychologischen, aber auch filmwissenschaftlichen Erzählforschung ließe sich die Sterbeerzählung im engeren Sinn alternativ als „episodische Sterbeerzählung“ bezeichnen. (Vgl. etwa: Manfred Cierpka, Das Narrativ in der Psychotherapie, in: Lindauer Texte. Texte zur psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildung 6, 1996, 194– 206, hier 199.) Der Begriff der episodischen Erzählung legt, wie ich meine, aber nicht einen ähnlich prägnanten Gegenbegriff nahe.
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Erzähldiskurses (wenn also auf das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit reflektiert wird, die Aspekte der Ordnung, Dauer und Frequenz geklärt werden, etc.).⁶⁹ Die Varietäten, die hier auszumachen sind, erschließen sich sofort, wenn man etwa Buñuels Erzählung kontrastiert mit Tolstois Der Tod des Ivan Iljitsch (1886), einer Sterbeerzählung, die bekanntlich u. a. mit einer massiven Verlangsamung des Erzähltempos in zunehmender Todesnähe des Protagonisten arbeitet.⁷⁰
4.4 Zum „Sterbenarrativ“ 4.4.1 Der Begriff im Gebrauchszusammenhang Die folgenden Überlegungen zum Begriff des Sterbenarrativs stehen – an die einführenden Hinweise anschließend (4.1) –, unter einer doppelten Voraussetzung: Der Terminus ist (1.) bereits in bestimmten Besetzungen in Gebrauch; sein zweiter Teil hat (2.) in der neueren deutschen Wissenschaftssprache eine kurze, aber steile Karriere hinter sich, und ein Element dieses Karriere besteht auch eben in seiner Aneignung im Kontext der geistes- und kulturwissenschaftlichen Lebensendforschung. Diese Umstände machen einen doppelten Abgleich notwendig. Einerseits ist von Interesse, in welchem Sinn andernorts von Sterbenarrativen gehandelt wird, andererseits kann die angezielte Klärung nicht die intensivierte terminologische Diskussion um „das Narrativ“ ignorieren. Es bietet sich an, die begriffskritische Arbeit mit einem konkreten, aber überschaubaren Verwendungszusammenhang des Terminus „Sterbenarrativ“ zu beginnen. In der Ausschreibung einer Lehrveranstaltung, die im Sommersemester 2016 an der Universität Erlangen stattfand, erscheint er in folgender Weise: Zwei Sterbenarrative dominieren in der gegenwä rtigen Kultur. Das eine Sterbenarrativ trennt klar zwischen dem Leben in grö ßtmö glicher Gesundheit und Selbstbestimmung und dem qualvollen Sterbeprozess, den es zu verkü rzen gilt. Zu einem wü rdevollen Sterben gehö rt hier die Mö glichkeit, den Zeitpunkt und die Art des Sterbens selbst zu bestimmen. Dort, wo der Arzt nicht mehr heilen kann, wird von ihm zumindest ein schmerzlos-schneller Tod erwartet, der idealer Weise den gesamten Sterbeprozess beschleunigt, wenn nicht gar ü berspringt. Diese Argumente zielen auf eine Befü rwortung des (ä rztlich) assistierten Suizids. Das andere Sterbenarrativ stellt den Sterbeprozess als inhä renten und eigenstä ndigen Bestandteil der letzten Lebensphase dar und befö rdert die Palliativmedizin als adä quate
Vgl. Jahn und Meister, Erzähltextanalyse (s. Anm. 21), 133 – 149. Für eine detaillierte Analyse einer Sterbeerzählung im weiteren Sinn vgl. Vf., Seinen Tod sterben (s. Anm. 55).
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Form der Sterbebegleitung. Ziel ist, durch eine helfend-hinnehmende Medizin, die Lebensqualitä t am Lebensende – aus der Sicht des Sterbenden – zu verbessern und die Selbstbestimmungsfä higkeit und Selbststä ndigkeit trotz unheilbarer, fortschreitender Krankheit, wie beispielsweise im Falle von Alzheimerdemenz oder Krebs, so lange wie mö glich aufrechterhalten. Dieses Sterbenarrativ ist zumeist mit einer Ablehnung der Sterbehilfe (Suizidassistenz, Tö tung auf Verlangen) verbunden.⁷¹
Die hier praktizierte Besetzung des Begriffs bzw. der Umgang mit ihm zeichnet sich, in knapper Bündelung, vor allem durch folgende Charakteristika aus: 1. Die Rede von Sterbenarrativen erfordert auch hier keine metasprachliche Explikation. Was der Terminus meint, soll aus der Beispielgabe hervorgehen. 2. Der Begriff erscheint im Plural, wird aber auf eine minimale Zahl von Exemplaren angewandt: Zumindest „dominierende“ Sterbenarrative gibt es nach dieser Auffassung nur zwei, und diese verhalten sich antagonistisch zueinander. Sie bilden einen Gegensatz, zu benennen etwa als Kontrast des Kontinuitäts- und des Diskontinuitätsnarrativs (wobei der Gegensatz die Folgefrage nach einem potentiell vermittelnden dritten Narrativ aufwirft). 3. Der Anwendungsbereich des Begriffs ist umfassend, er gilt „der gegenwärtigen Kultur“ en gros. 4. Der Begriff verweist auf hochnormative Zusammenhänge. Er betrifft das fragliche Kontinuität-Bruch-Moment im Sinn eines anthropologisch-ethischen Grundproblems. Die Eigenart des Begriffs ist damit einigermaßen deutlich. Noch deutlicher zeigt sich, was das „Sterbenarrativ“ ‚kann‘ durch eine Ad-hoc-Ersetzungsprobe: durch den Test, ob sich auch die verwandte „Sterbegeschichte“ (oder auch „-erzählung“) in dieser Weise verwenden ließe. Die Ersetzung zeigt eher die Differenz als die Übereinstimmung. Zumindest die Charakteristika 2– 4 ließen sich wohl nicht leicht auf die „Sterbegeschichte“ anwenden. Diesen Terminus in der zitierten Weise mit dem normativ-ethischen Kontext von „Selbstbestimmung“ und einem „würdevollen Sterben“ zu verbinden, irritierte nachhaltig. Die Begriffe „Narrativ“ und „Geschichte“/ „Erzählung“ scheinen also zumindest in Verbindung mit dem Präfix „Sterbe-“ verschiedene Ebenen der Erzählkommunikation zu betreffen. Als
Seminar Sterbenarrative in gegenwärtiger Literatur und Medizin, durchgeführt von der Germanistin Caroline Welsh. Ich beziehe mich aus Gründen der Kürze auf dieses Material. Vgl. aber auch den Begriffsgebrauch Welshs in ihrem Aufsatz Sterbehilfe und Sterbebegleitung in gegenwärtiger Literatur und Medizin, in: ZfG 25/3 (2015), 499 – 513, insb. 502. Für einen alternativen Begriffsgebrauchs etwa: Christoph Morgenthaler, Träume in Todesnähe, in: Pierre Bühler und Simon Peng-Keller, Hg., Bildhaftes Erleben in Todesnähe: Hermeneutische Erkundungen einer heutigen Ars Moriendi (Zürich: TVZ, 2014), 47– 62, hier 56 f.
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zwar schlichtes, aber doch wichtiges Zwischenergebnis ist somit festzuhalten: Das „Sterbenarrativ“ sollte angesichts des faktischen Sprachgebrauchs – und also auch unabhängig vom wissenschaftssprachlichen „Sparsamkeitsprinzip“⁷² – nicht als Synonym von „Sterbeerzählung“ oder „-geschichte“ verwendet werden. Der Feststellung, dass sich beide Begriffe auf unterschiedliche Ebenen der Erzählkommunikation beziehen, folgt die Frage, um welche Ebenen es sich denn konkret handelt. Diese soll aber noch einen Moment zurückgestellt werden. Zunächst scheint es sinnvoll, die Rede von Narrativen unabhängig von ihrer Beziehbarkeit auf die Kommunikation über das Lebensende einen Moment als solche zu reflektieren.
4.4.2 Narrative als generalisierende Schemabildungen (Koschorke) Aufgrund der Konjunktur des Narrativ-Begriffs mehren sich in den letzten Jahren auch die Beiträge zu seiner reflexiven Bestimmung. Im gegebenen Zusammenhang muss es genügen, im Wissen um die Existenz feiner ausgearbeiteter Entwürfe⁷³ eine einzige und eher prominente Explikation knapp darzustellen, diejenige Albrecht Koschorkes. Die Wahl fällt auf ihn, da seine Überlegungen auf Aspekte verweisen, die in vielen Gebrauchszusammenhängen im Spiel zu sein scheinen; der Ansatz hat, so die Annahme, zumindest innerhalb der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung den Charakter eines Common-Sense-Entwurfs. Koschorke widmet größere Teile seiner „allgemeinen Erzähltheorie“ Wahrheit und Erfindung (2012)⁷⁴ der materialen wie theoretischen Elaboration von Narra-
Also das Prinzip, zur Erklärung von Sachverhalten nicht mehr Faktoren als unbedingt notwendig einzuführen – was in begriffspragmatischer Abschattung bedeutet, unterschiedliche Begriffe für unterschiedliche Phänomene zu reservieren. Zu den verzweigten philosophiegeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen: Alan Baker, Art. Simplicity, in: Edward N. Zalta, Hg., The Stanford Encyclopedia of Philosophy,Winter 2016 Edition, https://plato. stanford.edu/archives/win2016/entries/simplicity/ (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Die stärkste mir bekannte Arbeit stammt vom Germanisten Norman Ächtler: Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: Kulturpoetik 14/2 (2014), 244– 268. Vgl. u. a. aber auch: Walburga Hülk, Narrative der Krise, in: dies. u. a., Hg., Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne (Bielefeld: Transcript, 2013), 113 – 131. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (Frankfurt a/M: S. Fischer, 2012); Nachweise jeweils im Haupttext. Für eine kritische Diskussion von Koschorkes Buch vgl. die ausführliche Rezension Michael Scheffels: Im Dickicht von Kultur und Narration. Albrecht Koschorke versucht Kulturtheorie und Erzählforschung zu vereinen, in:
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tiven. Als solche bezeichnet er – wie sein Interpret Ächtler konzis zusammenfasst – Erzählformate, „die auf allgemein anerkannten Formen narrativer Schemabildung basieren und sich innerhalb einer sozialen Entität als generalisierende symbolische Ordnungsstrukturen für eine überkomplexe Wirklichkeit durchsetzen“⁷⁵. In solchen „Erzählformularen“ verbindet sich die nacherzählbare Kohärenz eines Handlungsschemas mit einer inhaltlichen wie strukturellen Flexibilität zur individuellen Ausgestaltung. In Koschorkes Worten: Dieser informellen und in gewisser Weise einladenden Offenheit [des Erzählens] steht die Gravitationskraft bestimmter kulturprägender Narrative entgegen. Daraus ergibt sich die Spannung zwischen ‚Schauseite‘ und Tiefenstruktur. Die Buntheit der Erzähloberfläche […] wird durch Reduktion auf wiederkehrende Grundmuster gleichsam ausgefiltert – ein Prozess der Akkomodation, der das Neue, das jeden Augenblick aufglüht und vergeht, in die langsamere, gleichförmige Arbeit der kulturellen Semiosis überführt. (38)
Damit ist klar – und darauf kommt es hier an –, dass Narrative, wie Koschorke sie versteht, deutlich zu unterscheiden sind von manifesten Erzählungen, von der „unzählbaren Vielfalt individueller Geschichten (im Sinn von stories)“ (30). Im Rückgriff auf die narratologischen Basisdifferenzen gesagt: „Das Narrativ“ ist angesiedelt in der Dimension der Geschichte; seine handlungsbezogene Tiefenstruktur liegt jenseits der „Buntheit der Erzähloberfläche“, d. h. des Diskurses. Narrative regulieren damit aber wesentlich nicht nur die Grundstruktur, sondern auch die (Fehl‐)Rezeption konkreter Erzählungen: „Einzelne Erzähltexte können außerordentlich verzwickten Bauplänen folgen; ihre kommunikative Verbreitung und soziale Verhandelbarkeit hängen jedoch davon ab, in welchem Maß sie dem Grundmuster eines gebräuchlichen Narrativs gehorchen – oder sich nach dessen Vorgaben fehldeuten lassen.“ (31) Um diese Konzeption des Narrativs nun plausibel auf ihre Produktivität für das Erzählen vom Lebensende beziehen zu können, soll Koschorkes Zugriff kurz an einem Beispiel nachvollzogen werden: dem „Narrativ der Säkularisierung“ (258). Denn mit Blick auf konkrete Sterbeerzählungen stellt sich die Frage, wie die formale Rede von „wiederkehrenden Grundmustern“, „Tiefenstrukturen“ oder „Erzählformularen“ mit diesen zu vermitteln sind. Wie also stellt sich das Narrativ der Säkularisierung dar, welcher Gebrauch wird von ihm gemacht, und wie verhält sich dieses Narrativ zu dem, was – analog zum hier diskutierten Begriffspaar – „Säkularisierungserzählung“ genannt werden könnte?
Diegesis 2/1 (2013), https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/article/view/120/ 131 (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Ächtler, Was ist ein Narrativ? (s. Anm. 73), 248.
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Koschorke übernimmt das Narrativ der Säkularisierung in den Worten – in der Erzählung – des Soziologen José Casanova: Es gab einmal im mittelalterlichen Europa, wie es für vormoderne Gesellschaften typisch ist, eine Fusion von Religion und Politik. Doch diese Fusion führte unter den neuen Bedingungen religiöser Diversität, extremistischen Sektierertums und einem von der protestantischen Reformation hervorgerufenen Konflikt zu den scheußlichen, brutalen und lang anhaltenden Religionskriegen der frühen Neuzeit, die die europäischen Gesellschaften in Schutt und Asche legten. Die Säkularisierung des Staates war die gelungene Antwort auf diese Katastrophenerfahrung, welche sich offenbar in das kollektive Gedächtnis europäischer Gesellschaften unauslöschlich eingeprägt hat. Die Aufklärung tat ein Übriges. Moderne Europäer lernten, Religion, Politik und Wissenschaft zu trennen. (258 f.)⁷⁶
Zu Funktion und Gebrauchsweise dieses „Basisnarrativs“ lassen sich, so Koschorke, nun eine Reihe von Beobachtungen machen: dass es stark genug ist, um selbst solide Gegenargumente zu absorbieren (259); dass es (wie die umfassendere „Selbsterzählung der Moderne“) unter konträre Vorzeichen gestellt werden kann, nämlich in den „liberal-weltbürgerlichen Horizont von Fortschritt und Demokratie“ oder aber in den „kulturpessimistischen“ Horizont, der den „Transzendenzverlust“ und die Webersche „Entzauberung“ beklagt;⁷⁷ dass dieser Befund die Formulierung der „allgemeinen Regel“ erlaubt, derzufolge „Narrative umso stabiler sind, je mehr und je weiter auseinanderliegende Optionen sie in sich vereinigen“ (260); dass es ausgezeichnet ist durch eine „zugleich exkludierende wie inklusive Asymmetrie“ (260), d. h. als hegemoniales Konzept auch seine Negationen mitgestaltet, dass das „Gefälle“ des Säkularisierungsnarrativs schließlich auch „Konstruktionszwänge“ mit sich bringt, etwa die leicht kritisierbare Vorgeschichte eines ganz und gar frommen Europas, das allererst die gewünschte Periodisierung erlaubt, das suggestive „noch nicht“ bzw. „nicht mehr“. Diese Hinweise erlauben eine Reihe von Beobachtungen zum Verhältnis der beiden in Frage stehenden Narrative: 1. Die erste Beobachtung ist grammatischer Art, sie betrifft den Begriff selbst: Koschorke spricht dieses Narrativ im Singular an. Er postuliert ein Säkularisierungsnarrativ, das freilich, „Schwärme von Einzelgeschichten [generiert], die in schwieriger und verborgener Weise miteinander koordiniert sind“ (266).
José Casanova, Europas Angst vor der Religion (Berlin: BUP, 2009), 8 f. „Was in Europa nach der napoleonische Ära den Namen ‚Säkularisierung‘ erhalten hat, kann begrüßt oder beklagt werden, ohne dass dies den Status des Narrativs selbst angreifen würde.“ Koschorke, Wahrheit und Erfindung (s. Anm. 74), 260.
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Auf der grammatischen Ebene ist somit keine Analogie von „Säkularisierungsnarrativ“ und „Sterbenarrativ“ gegeben. Denn ebenso die Weise, wie letzterer Begriff da und dort auftaucht wie die Intention, die sich in diesem Kontext mit ihm verbindet, schließt ein, dass er im Plural seine Grundform hat. Es gibt offensichtlich mehr als ein Sterbenarrativ. Das Narrativ der Säkularisierung ist, was seine formenden Elemente betrifft (d. h. die Akteure und Geschehenszusammenhänge, die die Geschichte konstituieren), deutlich umfangreicher als das des Sterbens. Der von diesem „Masternarrativ“ geprägte Akteur ist (West‐)Europa; die von ihm organisierte erzählte Zeit umfasst wenigstens 500 Jahre. Sterbenarrative, so kollektiv wirksam sie sein mögen, weisen keinen derart umfassenden raum-zeitlichen Einschlag auf. Man wird in diesem Fall kaum von einem Masternarrativ sprechen. Diese Differenz animiert zur Berücksichtigung einer basalen und in verwandten Problemlagen daher auch omnipräsenten Unterscheidung: Während das „Säkularisierungsnarrativ“ offenkundig primär ein Kollektivnarrativ darstellt – ein Narrativ, das sozialen Entitäten größeren Umfangs zugeschrieben wird –, können Sterbenarrative primär als Individualnarrative bezeichnet werden. Denn obwohl auch sie kollektiv wirksam sind, werden sie zumindest typischerweise in individuellen biographischen Erzählungen konkret.⁷⁸ Koschorkes These, nach der die Stabilität von Narrativen von ihrer konträren normativen Gewichtung abhänge, wäre wohl auch an Sterbenarrativen zu erhärten. So wie das Säkularisierungsnarrativ positiv realisiert werden kann als Emanzipations- oder aber negativ als Verlustgeschichte, kann – um dieses Beispiel wieder aufzunehmen – auch das Sterbenarrativ der Konversion in extremis positive als finale Durchsetzung der Religion oder aber negativ als tragisches Einbrechen eines wahren und aufrechten Atheismus zur Darstellung kommen. Auch an den kleineren Sterbenarrativen ließen sich schließlich die Konstruktionszwänge nachvollziehen, denen Narrative dem referierten Modell gemäß unterliegen. Wenn diese das Erzählte in zeitlicher Hinsicht immer in beide Richtungen organisieren – vorwärts und rückwärts –, so lässt sich für das Narrativ der Sterbebettkonversion etwa eine schlichte Logik der Proportionalität postulieren, die dessen positive wie negative Realisierung bestimmt. Zur Reinheit dieser wie jener Aneignung muss ein allfälliges früheres religionskonformes Verhalten diskret behandelt oder verschwiegen werden.
Damit erkläre ich – was vielleicht problematisch ist – die höchst wirksamen Narrative von unzeitigem kollektivem Sterben (im Kontext von Genoziden etwa) zu einen Sekundärphänomen.
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Das Narrativ lebt grundsätzlich vom starken Kontrast eines konsequent sündhaften Lebenswandels, der erst im letzten Moment – und daher umso großartiger oder wahlweise tragischer – als Irrweg erscheint. Auch hier können potentiell die „empirischen Sachverhalte“ der „Darstellungsnotwendigkeit“ (261) geopfert werden.
4.5 Zur Relation von Sterbeerzählung und Sterbenarrativ 4.5.1 Beschreiben vs. Interpretieren Nach diesen fokussierten Überlegungen zu Sterbeerzählung und Sterbenarrativ muss abschließend noch einmal ihr Verhältnis zur Sprache kommen. Der Akzent auf deren Relation kann wiederum am Beispiel Buñuels material konkretisiert werden. An erster Stelle ist hier noch einmal die wichtigste Differenz zwischen beiden Begriffen einzuschärfen. Sie unterliegen, wiewohl ein Paar bildend, der entscheidenden Asymmetrie kategorial verschiedener Wahrnehmbarkeit. Diese Asymmetrie lässt sich erneut anhand der eingangs exponierten Differenz von Beschreibung und Interpretation erläutern. Wer eine Erzählung als Sterbeerzählung anspricht, bewegt sich in der soliden Aussageklasse des Beschreibens; sie oder er kann auf manifeste Phänomene verweisen, die diese Klassifikation als zutreffend ausweisen. Wer in einer Sterbeerzählung dagegen ein bestimmtes Sterbenarrativ identifiziert, bewegt sich auf schwächerem Grund. Das Narrativ ist an der Erzählung nie unmittelbar abzulesen, weil es als solches virtuell ist. Nur durch höherstufige, texttranszendente Interpretationsaussagen lässt sich behaupten, es manifestiere sich dieses oder jenes Narrativ in dieser oder jener Erzählung. Aufgrund dieser epistemologischen Differenz wird die Zuschreibung des Sterbenarrativ-Begriffs (bzw. eines bestimmten Sterbenarrativs) immer strittiger sein als der der Sterbeerzählung. Aufgrund dieser Differenz wurde eben auch das primäre Material der Sterbeerzählung vor dem Sterbenarrativ diskutiert.
4.5.2 Positive oder negative Realisierung? Wenn notiert wurde, dass auch das Narrativ der Konversion in extremis unter positiven wie unter negativen Vorzeichen realisiert werden kann, so fragt sich, wie Buñuels Sterbeerzählung in dieser Hinsicht zu situieren ist. Die Frage ist deshalb produktiv, weil sie sich nicht ohne Weiteres beantworten lässt und zu erneuen Denkbewegungen zwischen Narrativ und Erzählung nötigt.
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Auf den ersten Blick wird man, Buñuels ausdrücklicher Rede von einem „Scherz“ folgend, von einer negativen Realisierung ausgehen, von einer Aufnahme, die das Narrativ im Sinn einer Negativfolie in die autobiographische Großerzählung einzeichnet. Nun ist es aber gerade die nachdrücklich betonte Qualifizierung als Scherz, die hellhörig machen kann. Sie lässt einerseits danach fragen, was den eigentlich der Gehalt des Scherzes sein soll, andererseits stellt sich, daran anschließend, die Frage nach dessen Adressat: Wer soll sich über diesen Scherz amüsieren? Der Gehalt ist offensichtlich der, dass ein aktenkundiger Atheist im Beisein seiner atheistischen Freunde auf eigenen Wunsch den katholischen Sterberitus vollzieht. So zu handeln, bedeutet aus dem kulturell etablierten Skript auszusteigen – oder auch nur vermeintlich auszusteigen. Wer kommt nun aber als Adressat des Scherzes in Frage? Zunächst dürfte er vor allem für seinen Urheber einer sein. Ob der Scherz auch bei den Freunden, die am Sterbebett versammelt sind, als solcher ankommt, scheint dagegen sehr fraglich. Von ihnen heißt es ausdrücklich, sie sähen „mit großem Entsetzen“ wie der Sterbende die Beichte empfängt. Der Scherz läge somit gerade in diesem Hiat – darin, dass sich der sterbende Buñuel über ihre entsetzten Blicke amüsieren kann. Er lachte somit weniger mit ihnen als über sie. Diese Auffassung verweist auf ein bislang unbeachtet gebliebenes Detail, das exemplarisch stehen mag für die kategoriale Differenz von Sterbenarrativ und Sterbeerzählung. Das Narrativ stellt per definitionem lediglich die Grobstruktur der Erzählung bereit, die Beziehungen zwischen Akteuren und Ereignissen, nicht aber deren detaillierte diskursive Ausgestaltung. Diese prinzipielle Offenheit zwischen – mit Koschorke gesprochen – „Schauseite“ und „Tiefenstruktur“ kann nun erhebliches Gewicht gewinnen, wenn das allgemeine Narrativ durch eine konkrete erzählerische Realisierung auf seine Ränder hin ausgelotet wird. Für die Scherzhaftigkeit von Buñuels Scherz dürfte es entscheidend sein, dass seine Sterbeerzählung einer spezifischen Zeitlogik folgt, einer (wie man sagen könnte) Regie der gefüllten Zeit. Seine Sterbephantasie kennt keine Leerläufe, keine Stillstände, vielmehr folgen alle Ereignisse unmittelbar aufeinander: „Zum großen Entsetzen meiner Freunde beichte ich, bitte um die Vergebung aller meiner Sünden und empfange die letzte Ölung. Dann drehe ich mich zur Wand und sterbe.“ Dass der Tod direkt im Anschluss an die letzte Ölung eintritt, verunmöglicht eine wie auch immer geartete retrospektive Reformatierung des überraschenden Ereignisses. Diese Unmöglichkeit scheint wesentlich für die Güte oder auch Abgründigkeit des letzten Scherzes. Während sein Urheber mit dem Segen der Kirche aus dem Leben geht, bildet die Konversion für seine Freude ein verstörendes Vermächtnis.
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Das Narrativ hätte es prinzipiell ja auch erlaubt, die Lebensspanne nach der Ölung großzügiger zu bemessen, den Sterbenden noch eindrückliche letzte Worte sprechen zu lassen – seien es Worte christlicher Bejahung der Endlichkeit oder auch, dem Scherz eine härtere Pointe verleihend, erbitterte Worte gegen den Priester, die Kirche und ihre verlogenen Rituale, eine vehemente BekenntnisPerformance gegen jede Versöhnung irdischer Zerrissenheit in einem himmlischen Jenseits.
4.5.3 Optionalität und Kombinatorik von Sterbenarrativen Bislang kam Buñuels Erzählung ausschließlich als Realisierung des Narrativs der Sterbebettkonversion in den Blick. Die Frage, ob die Erzählung allenfalls durch weitere Narrative bestimmt wird, blieb dagegen offen. Diese Frage ruft zumindest zwei weitere systematische Problemkomplexe auf, die für die Produktivität und Weiterentwicklung des terminologischen Feldes gleichfalls relevant sein dürfte. Ein erster Komplex betrifft die Optionalität von Sterbenarrativen: Realisiert eine Sterbeerzählung notwendigerweise ein Sterbenarrativ? Oder gibt es auch Sterbeerzählungen, die sich jenseits der „Spurrillen machtvoller Erzählmuster“⁷⁹ bewegen? Um solche originellen Sterbeerzählungen auszumachen, müsste zunächst klarer sein, welche Narrative sich identifizieren lassen. Wenn auf dieser Grundlage originelle Sterbeerzählungen gefunden würden, wäre sofort zu fragen: In welchem Kontext gelingt diese Freiheit? Wie werden entsprechende Erzählungen produziert und rezipiert? Lässt sich in ihrer Rezeption vielleicht die normalisierende Dynamik nachweisen, die auch Koschorke notiert: dass auch eine originelle Erzählung in ihrer Aufnahme einem bestehenden Narrativ angeglichen wird? Im gegebenen Zusammenhang muss aber offen formuliert werden: Kein Sterbenarrativ ohne Sterbeerzählung! Keine Sterbeerzählung ohne Sterbenarrativ? Ein zweiter Komplex betrifft die Pluralität bzw. Kombinatorik von Sterbenarrativen: Ist es denkbar, dass eine Sterbeerzählung mehrere Narrative zugleich realisiert? Wenn man diese Frage mit ja beantwortet – und zumindest das BuñuelBeispiel spricht dafür, das zu tun (s.u.) –, so provoziert das die Frage nach der Koppelung und Koppelbarkeit von Narrativen, nach der Weise, wie sie sich faktisch verbinden oder hypothetisch verbinden könnten. Während der erste Komplex hier nicht weiter zu verfolgen ist, kann der zweite am Exempel Buñuels etwas weiter reflektiert werden. Sein letzter Scherz, so die These, aktiviert nicht nur das
Koschorke, Wahrheit und Erfindung (s. Anm. 74), 263.
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Narrativ der Konversion in extremis, sondern zumindest zwei weitere Narrative. Da diese unterschiedlichen Formats sind, machen sie zugleich deutlich, dass die Rede von „Sterbenarrativen“ mit einem Stufenmodell verbunden werden sollte – etwa einer Unterscheidung primärer, sekundärer und tertiärer Narrative. Buñuels Erzählung scheint mit dem Narrativ der Sterbebettkonversion zugleich das allgemeinere Sterbenarrativ der (ins Unreine formuliert) „gesteigerten Virulenz des Religiösen am Lebensende“ zu realisieren. Ein anderes Narrativ, das dem der Sterbebettkonversion gleichgeordnet werden könnte, wäre etwa das der religiösen Sterbebettvisionen.⁸⁰ Darüber hinaus lässt sich postulieren, dass beide Narrative ihrerseits eingebettet sind in das möglicherweise fundamentalste aller Sterbenarrative: das der biographischen Kontinuität, der Vorstellung, dass jemand „seinen eigenen Tod stirbt“, dass sich ein Sterbeprozess dem früheren Leben ‚gemäß‘ gestaltet.⁸¹ Buñuels Sterbeerzählung wäre damit zu fassen als das verschachtelte Zusammenspiel dreier Sterbenarrative: des primären Kontinuitätsnarrativs, des sekundären Narrativs der Virulenz des Religiösen am Lebensende und des tertiären der Konversion in extremis. Der Reiz der Erzählung läge, so gesehen, darin, dass sie als prospektive und potentiell parodistische Erzählung den normativen Anspruch des Kontinuitätsnarrativs ausstellt, ohne klare Schlüsse zur Legitimität dieses Anspruchs zuzulassen. Potentiell parodistisch, weil sich verdachtshermeneutisch ja immer argumentieren ließe, Buñuels Scherz werde von einem gar nicht scherzhaften Motiv befeuert, nämlich von einer „echten“ Sorge um das eigene Seelenheil, die in eine „echte“ Konversion mündet. Der Scherz sei nichts weiter als eine strategische Finte. Er biete nämlich eine – vielleicht die einzige – Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust in den Genuss des Sterbesakraments zu kommen, fügt sich dieser doch bestens ein in das biographische Kontinuum des experimentierfreudigen „Atheist[en] von Gottes Gnaden“⁸².
Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wachvisionen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care (Berlin: de Gruyter 2017). Vgl. Vf., Seinen Tod sterben (s. Anm. 55). Es handelt sich also zugleich um das zweite der beiden Narrative, die im eingangs diskutierten Quellentext (vgl. 4.4.1) als „dominierend“ herausgestellt wurden. Buñuel, Mein letzter Seufzer (s. Anm. 52), 162.
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Sich zu Ende erzählen? Möglichkeiten und Grenzen einer erzählerischen Annäherung an das eigene Lebensende
1 Der Wunsch der Selbsterzählung Sein Leben zu erzählen, ist ein ursprüngliches Bedürfnis des Menschen. Auch wenn dieses Bedürfnis nicht immer, nicht von allen als Bedürfnis erlebt wird – ja, oftmals gerade das Verdrängen und Vergessen vorherrschend sind –, scheint der Wunsch, sein Leben erzählend zu vergegenwärtigen, dem Menschen wesentlich zugehörig. Er ist nicht nur und nicht primär ein Bedürfnis der Mitteilung an andere, und auch nicht der harmonischen oder rechtfertigenden Darstellung seines vergangenen Tuns und Werdens. Das Bedürfnis scheint tiefer, wesentlicher mit der menschlichen Existenz, mit dem Wunsch eines erfüllten Lebens verknüpft. Doch was beinhaltet dieser Wunsch, worauf zielt er? Inwiefern erstreckt er sich auf das Ganze des Lebens, auf das Ganze des Vergangenen, womöglich auch des Kommenden; inwiefern hat der Mensch ein Bedürfnis, sein Leben bis zum Ende zu erzählen? Gibt es tatsächlich den Wunsch, „sich zu Ende zu erzählen“? Ist dies überhaupt ein erfüllbarer Wunsch, ein durchführbares Vorhaben? Oder stößt es auf besondere Schwierigkeiten und Hindernisse, ist es ein problematisches, vielleicht unmögliches Unterfangen? Ich möchte mit einer Reflexion auf diese Fragen in meine Überlegungen einsteigen, indem ich als erstes die Frage vertiefe, warum der Mensch das Bedürfnis hat, sich selbst zu erzählen. In einem zweiten Teil will ich die Schwierigkeiten und Probleme verdeutlichen, die dieses Bedürfnis aufwirft, und in einem dritten der Frage nachgehen, in welcher Weise der Mensch diesen Schwierigkeiten begegnet und wie er sich in der Erzählung seines Lebens zugleich auf das Ende des Lebens bezieht. Abschließend ist ein Fazit zu den Möglichkeiten und Grenzen dieser Erzählung zu ziehen. Erzählen ist eine in allen Kulturen verbreitete Urform, das Leben darzustellen. Ihre Minimalform ist durch die beiden Elemente der zeitlichen Sukzession und des Sinns definiert: Erzählen heißt etwas in seiner temporalen Abfolge so vergegenwärtigen, dass Späteres in irgendeiner Weise mit Früherem zu tun hat, sinnhaft auf dieses beziehbar ist – sei es als Weiterentwicklung, als Störung oder als überraschende Neuheit. Mit Bezug auf das Leben kann die Erzählung als privilegierte Darstellungsform angesehen werden, da sie sich gewissermaßen der https://doi.org/10.1515/9783110600247-004
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Bewegung des Lebens selbst anschmiegt: Die Geschichte eines Lebens zu erzählen, bedeutet, dessen Verlauf zu vergegenwärtigen, die Ereignisse erneut zu durchleben. Zwar gilt diese Nähe, wie die Erzählforschung deutlich macht, nur mit Vorbehalt; Erzählung ist eine nachträgliche sprachliche Konstruktion, die sich formal wie inhaltlich von den realen Faktoren und Formen des Lebensprozesses ablösen kann. Gleichwohl scheint ihr literarischer Vorzug kein Zufall, ihre existentielle Affinität nicht ohne Rückhalt im Leben.Wenn das Kind darum bittet, ihm eine Geschichte zu erzählen, so geht es um mehr als den Wunsch nach irgendwelchen Informationen. Menschen machen sich ein Bild von anderen und von sich selbst bevorzugterweise in Form von Geschichten. Sich sein Leben zu erzählen scheint eine besondere, hervorgehobene Art, mit sich vertraut zu werden, sich in seinem Leben zu finden. Auch in anderen Formen können wir uns kennenlernen, Aufschluss über uns erlangen: in Praktiken der Analyse und Selbsterforschung, der Introspektion und Selbstbeobachtung, der Selbstkritik oder der experimentierenden Selbstinterpretation. Auch all diesen Modi der Selbsterkundung gilt ein originäres Interesse des menschlichen Selbstseins und Verstehenwollens. Sie können unserer moralischen Identität und unserer psychischen Verfassung, unserem Wunsch nach Selbstaufklärung, unserem Glücksstreben zugute kommen. Das Besondere der Erzählung liegt in der genannten diachronen Anlage, die sich dem Leben in der Zeit, dem faktischen Verlauf des Lebens zuwendet. Dabei kann sich die Erzählung mit manchen jener Weisen der Selbsterforschung überlagern und durchdringen: Wir können uns im Medium des Erzählens über den Charakter, die Stärken und Schwächen, die seelischen Leiden und moralischen Probleme einer Person verständigen, aber auch mit uns selbst ins Reine kommen. Für sich genommen, bedeutet die narrative Form, uns das Leben in seinem Verlauf zu vergegenwärtigen, nicht die tiefste, vielleicht auch nicht die wichtigste Weise der Zuwendung zu uns selbst und unserem Leben. Doch steht sie für ein originäres Anliegen, das durch nichts anderes zu ersetzen ist und das in seiner Art einem ursprünglichen Verlangen entspricht. Exemplarisch tritt es uns in der reichen Literatur der Autobiographien entgegen. Augustins Confessiones, Rousseaus Confessions, Goethes Dichtung und Wahrheit und viele andere haben die Gattung geprägt, die in vielfältigsten Formen in ungezählten Werken ausgestaltet worden ist. Fragen wir uns nach dem Antrieb dieser eigentümlichen Schreibpraxis, so begegnen wir in prominenten Zeugnissen dem Wunsch nach Selbstvergewisserung, aber auch dem Bedürfnis nach Rechtfertigung vor den Zeitgenossen und der Nachwelt. Ein zentrales, innerstes Motiv aber gilt der Erinnerung: Es ist der tiefe Wunsch, Vergangenes nicht einfach ins Nichts versinken zu lassen, sondern es festzuhalten, es wieder lebendig werden zu lassen, es als Teil seiner selbst anzueignen. Die „Selberlebensbeschreibung“ –
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so Jean Pauls Bezeichnung¹ – verkörpert ein Grundmotiv der historischen Gedächtniskultur und wendet es auf das Selbstverhältnis, den Umgang mit dem eigenen Leben an. Ihr Anliegen ist nicht nur ein kognitives, sondern ein existentielles. Es geht ihr nicht allein um das registrierende Vergegenwärtigen und erklärende Durchdringen dessen, was war, wie es der Historie als Triebfeder und Aufgabe innewohnt. Bestimmend für die autobiographische Besinnung ist eine Utopie der Selbsteinholung, eine Sehnsucht des Sich-Findens und Mit-sichEinswerdens in der Vergegenwärtigung seines Lebens. Des Näheren sind dieser Utopie zwei Fluchtlinien eingeschrieben, die sich über die Zielvorstellungen der Gegenwärtigkeit und der Ganzheit definieren lassen. Das eine ist die Auseinandersetzung mit dem Entschwinden des Gewesenen, der die Sehnsucht nach einem Zurückholen des Vergangenen, nach einem Überwinden des Vergehens entspricht: Es ist der Wunsch, dass das Gewesene gegenwärtig sei, dass wir uns im erinnernden Zurückgehen selbst gegenwärtig werden. Das andere ist das Begehren, sich im Ganzen seiner Existenz einzuholen, die Fülle des verfließenden Lebens im Jetzt zurückzugewinnen, im Vergehen der Zeit ganz zu sein. Es ist die Utopie einer Selbsteinholung, in der ich im Wiederfinden der entgleitenden Zeit Erfüllung finden und mit mir eins sein kann. Marcel Proust hat in seinem großen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht nur dieses Projekt in unnachahmlicher Weise durchgeführt, sondern auch dem Anliegen selbst emphatischen Ausdruck verliehen. Der Ich-Erzähler seines Romans berichtet nicht nur von seinen früheren Erlebnissen und Begegnungen, sondern in eigentümlicher Verschränkung auch vom Erinnern selbst, vom Auftauchen von Bildern vergangener Zeiten und Orte ebenso wie von seinem überschwänglichen Wunsch, sein Leben schreibend einzuholen: „Wie glücklich wäre der, der ein solches Buch zu schreiben vermöchte“, sinniert er, als er nach langen Lebensjahren den Entschluss fasst, sein Leben in einem Buch niederzuschreiben.² Ein eminentes Glücksversprechen ist mit dem Vorhaben verbunden, die vergangene Zeit wiederzufinden. Doch ist es ein Versprechen und eine Sehnsucht, die vom Bewusstsein begleitet sind, dass uns ihre Erfüllung mit größten Schwierigkeiten konfrontiert. Sein Leben einzuholen, das Vergangene auferstehen zu lassen, erscheint als ein mühseliges, ungesichertes, vielleicht unmögliches Unterfangen.
Jean Paul, Selbsterlebensbeschreibung, in: ders., Werke in drei Bänden, hg.v. Norbert Miller, Bd. 3 (München: Hanser, 1975), 707– 828. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 7: Die wiedergefundene Zeit, übers. von Eva Rechel-Mertens (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002), 504; À la recherche du temps perdu, Tome III: Le temps retrouvé (Paris: Gallimard, 1954), 1032.
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Beides, der Wunsch nach Selbstpräsenz wie die Schwierigkeit seiner Realisierung, vertieft sich, wenn das Absehen auf Ganzheit nicht nur das Vergangene, sondern das Leben als ganzes, das Leben bis zu seinem Ende umgreift. Der Versuch, sich zu Ende zu erzählen, führt das Anliegen der narrativen Selbsteinholung weiter und radikalisiert es, sowohl in seinem Streben nach Vollendung wie in seinen Schwierigkeiten und Aporien. Es liegt nahe, sich zunächst über die generellen Probleme der Selbsterzählung zu verständigen, um dann die Annäherung an das Lebensende ins Auge zu fassen.
2 Die Schwierigkeiten der Selbsteinholung Die Schwierigkeiten, sein Leben schreibend zu vergegenwärtigen, sind von mehrfacher Art. Ich will drei Schwierigkeiten hervorheben: die Not der Zeit, das Problem der indirekten Selbstpräsenz, die strukturelle Aporie des Ganzseins.
2.1 Der Wettlauf mit der Zeit Das Projekt der Selbsteinholung begegnet der Knappheit der Zeit. Sich selbst zu beschreiben, sein Leben im Ausdruck zu vergegenwärtigen, vollzieht sich im fortwährenden Wettlauf mit der Zeit. Wir entgleiten uns unablässig, und jeder Versuch, den Augenblick festzuhalten, schreibend sein Leben einzuholen, kommt zu spät. „Sprich jetzt“, beginnt Paul Auster seinen Lebensbericht Winterjournal, „bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist. Schließlich verrinnt die Zeit.“³ In vielfältiger Weise bringen autobiographische Schriften das Leiden unter der entgleitenden Zeit, nicht nur unter dem Entzug des Vergangenen, sondern der Gegenwart, der Zeit des Schreibens zum Ausdruck. Proust selbst beschreibt in einem eindringlichen Bild die Not dessen, der sich – wie sein Ich-Erzähler – spät aufmacht, sein Leben zu ergreifen, und der nun befürchten muss, sein Werk nicht mehr vollenden zu können: Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg hinaufgeht, unter dem ein See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen verdeckt. Durch eine Lücke erblickt er ihn; er hat ihn ganz und gar vor sich; er greift zu seinem Pinsel. Doch schon kommt die Nacht, in der man nicht mehr malen kann und über der sich kein neuer Tag erheben wird.⁴
Paul Auster, Winterjournal (Reinbek: Rowohlt, 2013), 7. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7 (s. Anm. 2) 508; À la recherche du temps perdu (s. Anm. 2), 1035.
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Doch nicht nur der zu spät Beginnende leidet unter der Flucht der Zeit. Von allem Anfang an sind wir im uneinholbaren Verzug uns selbst und unserem Leben gegenüber. Je länger ich schreibe, desto mehr verspäte ich mich, meint Laurence Sterne in resignierter Zuspitzung in Tristram Shandy: „Ich mag schreiben wie ich will und mich noch so rasch in die Mitte der Dinge stürzen, – ich werde doch niemals mich selbst einholen, auch wenn ich aufs äußerste gepeitscht und gejagt würde.“⁵ Sich schreiben ist geradezu ein sich vertiefender Selbstverlust, ja, eine Selbstverausgabung, die ihrerseits dem Tode zutreibt.⁶ Das Gefühl der verrinnenden Zeit, das unser Leben bedrängt und uns mit der Furcht belastet, dass wir immer im Unfertigen, Unvollendeten bleiben und nie zu uns selbst, zum eigentlichen Leben kommen, auf das wir in all unseren Bemühungen eigentlich aus sind, dieses Gefühl kann auch die Anstrengung der Erinnerung und schreibenden Selbstbesinnung durchziehen. Das große Werk der Selbsterzählung erscheint Proust wie die Arbeit jener Erbauer der Kathedralen, die nie zur Vollendung gekommen sind.⁷ Dabei geht es nicht nur um unsere Endlichkeit. Es geht nicht nur darum, dass unsere tiefsten Wünsche nie vollständig erfüllt werden, dass wir als beschränkte Wesen in unserem Streben und Wirken nie zur Vollendung gelangen. Sondern es geht um ein Aufschieben, in welchem wir das, worum es uns geht, nicht nur noch nicht erreichen, sondern es verfehlen, in unserem Streben scheitern. Dies ist der Fall in einem Leben, das bis zum letzten Augenblick vom Gefühl begleitet ist, noch nicht das eigentliche, wahre Leben zu sein, in einem Leben, das sich immer als erst provisorisches auf die Zukunft bezieht, nicht in der Gegenwart da ist, sich nicht im gegenwärtigen Sein vollzieht. Eine analoge Selbstverfehlung kann der Erinnerungsarbeit anhaften, wenn sie immer über sich hinausgetrieben wird, vom Gefühl bestimmt, dass uns das Vergangene entgleitet und wir uns nie selbst begegnen, uns nie im Vergangenen präsent werden. Die Kluft zwischen erinnerndem Akt und Erinnertem will sich nicht schließen, weil das Erinnern selbst sich in der Zeit, gegen die Zeit vollzieht. Die Furcht des Nicht-zu-sich-Kommens im Lebensvollzug wiederholt sich auf der reflexiven Stufe der Vergegenwärtigung des Lebens. Der Abgrund des Vergehens unterminiert nicht nur das Leben selbst, sondern die Erinnerung des Lebens.
Laurence Sterne, Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (Frankfurt am Main: Insel, 1982), 306 f. – In eindringlichen Passagen beschreibt Peter Kurzeck die Not des Erinnerns und Festhaltens im Wettlauf mit der Zeit: Peter Kurzeck, Vorabend (Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Roter Stern, 2011), 585, 815, 827, 872, 945. Vgl. Thomas Klinkert, Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Samuel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard (Tübingen: Gunter Narr, 1996), 102. Proust, À la recherche du temps perdu (s. Anm. 2), 1033.
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2.2 Die indirekte Selbstpräsenz Was hier bedroht ist, erhält in Prousts Roman dadurch sein besonderes Profil, dass es mit einer Idealform der glückenden Erinnerung kontrastiert wird, in welcher der Erzähler jene volle Selbstpräsenz erlebt, der die Sehnsucht des Gedächtnisses gilt. Die Rede ist vom plötzlichen Aufscheinen eines früher Erlebten, wie es sich typischerweise mit Geruchs- oder Geschmacksempfindungen (aber auch mit akustischen, taktilen, visuellen Erlebnissen) verbinden kann und wie es Proust in berühmten Beispielen vorführt; das bekannteste ist die Episode der madeleine, das Kosten eines in Tee getunkten Gebäcks, das den Erzähler unversehens in ein Erlebnis aus seiner Kindheit versetzt. Es ist das überwältigende Einbrechen eines Vergangenen in die Gegenwart, ein Gegenwärtigwerden des Einst im Jetzt, worin ich ein früher Erfahrenes erneut, wie zum ersten Mal erlebe. Proust beschreibt solche Erlebnisse als Manifestationen der unwillkürlichen Erinnerung (mémoire involontaire), die er von den bewusst intendierten Akten des Wiedererinnerns, der mémoire volontaire, unterscheidet. Das abrupte, unmittelbare Erleben der Kopräsenz der Zeiten in der mémoire involontaire ist wie ein Urbild der Erinnerung, das Ideal eines Erinnerns, in welchem nicht nur der Gegenstand in seiner Originalität und Fülle anwesend ist, sondern auch ich selbst mir ohne Trennung und Trübung im Damals gegenwärtig bin. Das Sich-Entgleiten, das mein aktuelles Erleben wie mein Erinnern bedroht, verschwindet in der Unmittelbarkeit der erfüllten Präsenz. Solche Identität wird zugleich zum Sinnbild jenes Glücks, das nach Proust demjenigen versprochen ist, der sein Leben zu schreiben vermöchte. Das Problem jedoch liegt darin, wie es möglich sein kann, auf dem indirekten, mühseligen Wege der Rekonstruktion und narrativen Vergegenwärtigung jene Unmittelbarkeit zu gewinnen, die im plötzlichen Einbrechen des Vergangenen erlebt wird. Es scheint wie eine strukturelle Unmöglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Ein unüberbrückbarer Hiatus scheidet die mémoire involontaire von der mémoire volontaire, so sehr sich diese an jener als idealem Fluchtpunkt orientiert. Während in Hegels Dialektik der Weg der Vermittlungen zuletzt in eine neue Unmittelbarkeit umschlägt, so bleibt im normalen Streben nach vollendeter Präsenz eine unerfüllte Sehnsucht, ein nie überwundener Aufschub. Die Unabschließbarkeit liegt nicht nur in der nie zu Ende kommenden materialen Aufarbeitung der zerstreuten Ereignisse und verblassten Erinnerungen, sondern, grundlegender, in der Unmöglichkeit, das Unmittelbare im bewussten Akt hervorzubringen. Die Form der Erzählung sperrt sich gegen die Selbstkoinzidenz, von deren Sehnsucht sie getragen ist. Identität ist ihr nicht nur ein überschießendes Ideal, sondern eine problematische, fragwürdige Orientierung.
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2.3 Die Aporie des Ganzseins Eine dritte Schwierigkeit betrifft die narrative Selbsteinholung in ihrem Streben nach Ganzheit. Wie können wir, als zeitlich existierende Wesen, das Ganze unseres Seins, das Ganze unseres Lebens erfassen? Zusätzlich zum Entgleiten des Vergangenen und zur Undurchsichtigkeit des Jetzt sind wir mit der Unabsehbarkeit der Zukunft konfrontiert. Unser Leben erzählen, während wir leben, scheint ein paradoxes, aporetisches Unterfangen. Die Erzählung ist in ihrer klassischen Form eine retrospektive Sinnbildung, deren sprachliche Darstellung im Tempus des Präteritum erfolgt.⁸ Im Nachhinein geben wir den Geschehnissen das genuine Profil, das sie zu einem narrativen Gefüge vereint; Arthur C. Danto hat die Logik des Erzählsatzes als eines retrospektiven Vorgriffs, in welchem ein vergangenes Ereignis mit Bezug auf Späteres beschrieben wird, als Keimzelle des Historischen analysiert. Erzählen entfaltet sich im Horizont der Nachträglichkeit. Dies scheint einer Gesamtdarstellung aus der Perspektive des Lebens, im Modus der SelbstErzählung den Boden zu entziehen. Aristoteles hat ein analoges Problem mit Bezug auf die Frage nach dem Glücklichsein aufgeworfen und die Meinung vertreten, dass wir eigentlich erst nach dem Ende eines Lebens darüber urteilen können, ob es glücklich oder unglücklich war.⁹ Solange der letzte Atemzug nicht getan ist, sind wir nicht dagegen geschützt, dass das Leben einen anderen Ausgang nehmen, eine andere Färbung annehmen kann; ja, es sei sogar zu erwägen, wieweit nicht auch das Glück und Unglück unserer Kinder und Freunde auf die Glücksbilanz des eigenen Lebens zurückschlägt.¹⁰ Das Problem (aporia) ¹¹, das Aristoteles mit Bezug auf das glückende Leben und dessen immanenten Ganzheits- und Erfüllungsanspruch aufwirft, stellt sich ähnlich auf der reflexiven Stufe der Lebensdarstellung. Nur das Leben anderer können wir als ganzes überblicken, als ganzes erzählen. Das eigene Leben zur Gänze erzählen, „sich zu Ende erzählen“, wie es der Titel dieses Beitrags anvisiert, scheint ein Ding der Unmöglichkeit. Das ganze Leben in seinem Sinn zu verstehen – und nicht nur einzelne Episoden in ihrer „Bedeutung“, ihrem Bezug zu anderen und zum Ganzen zu erfassen¹² –, verlangt, die Binnenperspektive des Erlebens auf die Außenperspek-
Vgl. Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt (Stuttgart: Kohlhammer, 1964). Aristoteles, Nikomachische Ethik, I.11. Ebd., I.11, 1100a11, 1101a16 – 23. Ebd., I.11, 1100a21. In diesem Sinne unterscheidet Wilhelm Dilthey im Begreifen eines Lebenszusammenhangs die „Bedeutung“ der Teile vom „Sinn“ des Ganzen: Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschicht-
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tive der interpretierenden Beschreibung hin zu überschreiten. Die basale Kluft zwischen Lebensvollzug und Erzählung, gelebtem und erzähltem Leben, die für jede Phase des Lebenslaufs gilt, vertieft sich mit Bezug auf das Lebensganze. Sein ganzes Leben zu erzählen, verlangte im Prinzip, auf den projizierten Abschluss vorauszugreifen, um von ihm her dem Leben seine verstehbare, sinnhaft aneigenbare Gestalt zu geben.¹³ Für die Existenzphilosophie gehört der Entwurf, das Sich-auf-Ziele-hin-Entwerfen zum sinnhaften Selbstverständnis des Subjekts. Die Pointe des Erzählens hingegen soll gerade nicht in der Projektion, sondern in der nachträglichen Erkundung und Formgebung liegen. Sich selbst vom Ende her zu erschließen, bleibt dem Leben versagt. Die Retrospektive auf das eigene Lebensganze ist dem Menschen verschlossen. In welcher Weise aber kann sich unter diesen Bedingungen das Bedürfnis der Selbsterzählung verwirklichen? Wieweit kann sich das Verlangen nach Selbsteinholung in der Zeit erfüllen? Auf welchen Wegen kann eine Annäherung an das Ende, ein Sich-Verstehen vom Ende her stattfinden?
3 Annäherungen an das Lebensende Der Weg zum Ende ist von Autoren in verschiedener Weise beschritten worden. In verschiedener Weise fällt das Licht vom Ende her auf das Leben.
3.1 Vorangehen bis zum Ende Ein erster Weg ist der des Vorangehens, soweit es möglich ist, der Weg des tentativen Sich-Annäherns an das Ende. Der Versuch, das Leben bis ins Alter, ins Sterben hinein, bis an die Schwelle des Todes zu erzählen, begegnet uns in profilierten literarischen Zeugnissen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist Philip Roths Roman Jedermann. ¹⁴ Er erzählt – aus der auktorialen Außenperspektive, doch in durchgehendem Bezug auf die Erlebensdimension des Protagonisten – die ein Leben durchziehende und in ihm sich verdichtende Auseinandersetzung mit dem
lichen Welt in den Geisteswissenschaften, Einl. von Manfred Riedel (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970), 242– 246, 286 – 292. Das analoge Problem begegnet in geschichtsphilosophischen Konzepten, die eine Gesamtdeutung der Menschheitsgeschichte anstreben und sich typischerweise an der Grenze, an der Schwelle zur finalen Revolution, in der Erwartung der Parousie oder am supponierten Abschluss der Prinzipienentwicklung situieren. Philip Roth, Jedermann (München/Wien: Hanser, 2006).
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Tod, von der frühen Angst und Beunruhigung, der Erschütterung am Grabe der Eltern, der wehmütigen Kindheitserinnerung und dem Abschiednehmen bis hin zum letzten Einschlafen und Erlöschen. Es ist ein Bericht, der von der Endlichkeit des Lebens eines jeden – eines „Jedermann“ – Zeugnis ablegt, von einer Endlichkeit, wie alle sie von anderen kennen, doch im eigenen Leben erst wahrzunehmen lernen müssen. Roth berichtet von Begegnungen mit der Vergänglichkeit seit der Jugend über die Krisen des aktiven Lebens bis in die Gebrechlichkeit des Alters, über den furchtsamen Ausblick auf das Ende und die „Sehnsucht nach den schönsten Tagen der Kindheit“¹⁵. Es ist wie ein radikaler Versuch, das Ganze bis ins Ende, ins Sterben hinein zu erzählen, wobei die Erlebensperspektive zuletzt notgedrungen selbst verblasst: „Er sank hinunter, fühlte sich aber alles andere als besiegt, ganz und gar nicht dem Untergang geweiht, nur darauf aus, wieder Erfüllung zu erleben, und dennoch wachte er nicht mehr auf. Herzstillstand. Er war nicht mehr, befreit vom Sein, ging er ins Nichts, ohne es auch nur zu merken. Wie er es befürchtet hatte von Anbeginn.“¹⁶ Es ist wie ein experimentelles Überschreiten der Grenze der Selbstnarration. Die literarische Erkundung des Sterbens, der wir in berühmten Werken, etwa Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch ¹⁷, oder in der akribischen Beschreibung des vom Sterbenden erlebten Sich-Zurückziehens und Erlöschens in John Williams’ Roman Stoner ¹⁸ begegnen, wird an die Grenzlinie zur Selbsterzählung geführt. In unterschiedlichen Formen kommt die Selbstbeobachtung im Blick auf den Tod, die bis ans Äußerste geführte Selbsterzählung in literarischen Werken zur Sprache. Verwiesen sei etwa auf Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur (2013), einen nachträglich als Buch publizierten tagebuchartigen Blog, den der Autor begann, nachdem die Ärzte bei ihm einen Hirntumor diagnostiziert hatten, und den er, über sein tägliches Leben und den Kampf gegen den Krebs reflektierend, bis kurz vor seinem Freitod weitergeführt hat.¹⁹ Eine andere Konstellation entfaltet ein 2014 erschienener Roman von Volker Harry Altwasser, der eine nicht zu Ende geführte Selbsterzählung des Sterbens stellvertretend zu Ende formuliert, wobei die Vertretung sogar zweistufig angelegt ist: Der Roman berichtet vom Sterben des deutschen Schriftstellers Bruno Frank (1887– 1945), der an seinem letzten (verschollenen) Manuskript Chamfort erzählt seinen Tod – zu Ende arbeitet, in welchem er das Lebensende des französischen Dichters Nicolas Chamfort (1741– 1794) und (fiktional) dessen Arbeit an einer
Ebd., 121. Ebd., 171. Lew Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch (Köln: Anaconda, 2008). John Williams, Stoner (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013). Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013).
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Autobiographie darstellt.²⁰ Die Verschachtelung, die zudem mit inhaltlichen Parallelen im Lebensende beider Protagonisten arbeitet, ist eine eigentümliche Inszenierung des Dilemmas der finalen Selbsterzählung. In all diesen Werken tritt uns der Ernst des Bemühens um eine integrale narrative Selbsteinholung ebenso entgegen wie die strukturelle Grenze seiner Verwirklichung. Sie weisen auf ein ZuEnde-Gehen, das ein Vollenden und Erlöschen sowohl des Lebens wie des SichAusdrückens ist, wie in der Figur jenes Zen-Meisters, der „im Prozess des Todes seine letzte Kalligraphie schreibt“²¹. Es sind tentative Formen des Voranschreitens zum Ende, die gleichsam gegen die aristotelische Einsicht anzugehen versuchen, dass eine Gesamtwahrnehmung, ein vollständiges Rechenschaftablegen vom Leben und dessen Sinn erst nach dem Leben möglich sei. Nun sind neben solchen Ansätzen andere Weisen des Umgangs mit dem Ende ins Auge zu fassen, die nicht vorrangig auf die narrative Retrospektive, sondern die vorausgreifende Verweisung des Lebens auf das Ende abheben, die ihrerseits für ein Sich-zu-Ende-Erzählen von Belang ist.
3.2 Das Vorlaufen zum Tode Eine der prominentesten Ausformulierungen dieses Gedankens stellt Martin Heideggers Figur eines Vorlaufens zum Tode dar.²² Sie ist eine emphatische Version des alten Topos, dass der Mensch im Angesicht des Todes lebt und in der Einübung ins Sterben wahrhaft als er selbst existiert. Für die Existenzphilosophie geht es nicht nur um die Gewissheit des unwiderruflichen Endes, das allem Lebendigen bevorsteht. Es geht um das subjektive Sich-Verhalten zum Tode, um das Zulassen der Angst in der Konfrontation mit der Möglichkeit des Nichtseins, und es geht darum, dass ich in diesem Verhalten auf mich gestellt, durch niemanden vertretbar bin. Wie jeder „seinen“ Tod stirbt, so muss jeder für sich selbst sich zu seinem Sterben und seinem Tod verhalten. Das Sein zum Tode, das wir auf uns nehmen oder verdrängen, das wir aber zuletzt nur in radikaler Einsamkeit als Teil unseres Lebens vollziehen können, ist Grundlage eines eigentlichen, authentischen Lebens. Der Mut zur Begegnung mit dem Tod und zum eigensten Sterben entreißt das Individuum dem anonymen Man und konfrontiert es mit sich selbst in seiner unvertretbaren Existenz. Volker Harry Altwasser, Glückliches Sterben. Volker Harry Altwassers Roman über Bruno Franks Bericht, in dem Chamfort seinen Tod erzählt (Berlin: Matthes & Seitz, 2014). Dieter Henrich, Sterbliche Gedanken. Der Philosoph Dieter Henrich im Gespräch mit Alexandru Bulucz (Frankfurt am Main: Edition Faust, 2015), 9. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 10. Aufl. (Tübingen: Niemeyer, 1963), §§ 46 – 53, 235 – 267.
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Vom Tode her sind wir auf das Leben zurückgeworfen, im Lichte der Endlichkeit werden wir unserer selbst gewahr als diejenigen, die ihr Leben zu führen und zu verantworten haben. Den Tod ernst nehmen heißt das Leben ernst nehmen. Nun ist der Ausblick auf das Ende nicht nur Grundlage der bewussten Existenz; ebenso kann er einer Lebenserzählung zugrunde liegen, in welcher der Mensch sein Leben erschließt. Im Vorlaufen auf den Tod auf das Leben zurückkommen ist Voraussetzung der authentischen Lebensführung²³, aber auch der reflexiven, auf das Ganze ausgreifenden Lebensdarstellung. Man hat diesen Gedanken zum Teil dahingehend radikalisiert, dass die Autobiographie in ihrem Kern zur Erzählung eines Sterbens, die Biographie zur „Thanatographie“ wird.²⁴ Der Gedanke des Todes begründet nach Kierkegaard den Ernst des Lebens; für die Existenzphilosophie wird der Umgang mit dem Tod zum Maßstab für das gelingende Leben.²⁵ Das Vorlaufen zum Tod verwandelt unsere Existenz, ähnlich wie eine Nahtoderfahrung das Selbstverständnis eines Menschen erschüttern und seinem Leben eine andere Richtung, eine neue Tiefe und innere Klarheit geben kann. Dabei bleibt offen, in welcher Weise diese literarisch umsetzbar ist, inwiefern der Ausblick auf das Nicht-mehr-Sein die Möglichkeit transformiert, sein ganzes Leben zu erzählen. Die Erzählung als retrospektive Formgebung bedarf des Ausgriffs, um vom Ende her das Bild des Lebens zu gestalten. Doch scheiden sich die Formen dieses Ausgriffs, je nachdem ob es sich um eine projektive Verlängerung von Zielen und Möglichkeiten oder um das Offensein für ein Schicksal handelt, das über den Menschen kommt und nicht in seiner Hand liegt.
3.3 Das Vorfallen des Todes ins Leben Gewissermaßen spiegelbildlich zum Vorlaufen des Lebens in den Tod haben wir mit dem Vorfallen des Todes ins Leben zu tun, mit der Gegenwart des Todes im Leben. Michael Theunissen hat unterschiedliche, sich intensivierende Formen der Vgl. die Gedankenfigur bei Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, Abt. 5/6, Gesammelte Werke: Die Wiederholung, Drei erbauliche Reden 1843 (Düsseldorf/Köln: Eugen Diederichs, 1955), 1– 97, hier 4 f.: „Wer das Leben nicht umschifft hat, bevor er zu leben begann, der gelangt niemals dahin, zu leben.“ Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe, L’écho du sujet, in: ders., Le sujet de la philosophie (Paris: Aubier-Flammarion, 1979), 217– 303, hier 266; zit. nach Klinkert, Bewahren und Löschen (s. Anm. 6), 23. Lacoue-Labarthe erweitert die Reihe Biographie – Thanatographie zu „allothanatographie, voire hétérothanatographie“. Søren Kierkegaard, An einem Grabe, Abt. 13/14, Gesammelte Werke: Vier erbauliche Reden 1844, Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845 (Düsseldorf/Köln: Eugen Diederichs, 1952), 173 – 205.
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Gegenwart des Todes im Leben nachgezeichnet, beginnend mit der generellen Vergänglichkeit aller Dinge über das lebenslange Sterben, welches alles biologische Leben kennzeichnet, zum Altern als dem spezifisch menschlichen, körperlichen Vorgang, der mit einem sich verändernden Zeitbewusstsein einhergeht, in welchem die Vergangenheit sukzessiv anwächst und der Raum der Zukunft, des Ausstehenden und Noch-Möglichen schrumpft. Gesteigert ist die Anwesenheit des Todes sodann im menschlichen Leben als bewusstem Lebensvollzug, in welchem sich die Zeitrichtung umkehrt: „Als Lebewesen auf unseren Tod hin lebend, leben wir als die, die ihr Leben führen, von unserem Tod her.“²⁶ Es ist ein Leben, das in jenem Vorlaufen zum Tode gründet, doch diesen Vorgriff nicht im Zeichen der Selbstermächtigung, sondern des ohnmächtigen Zulaufens auf den Tod vollzieht. Menschliches Leben ist ein Leben im Schatten des Todes, ein Leben, in dem der Vorschein des Todes anwesend ist. Ihm entspricht zuletzt ein Existenzvollzug, den Theunissen mit der sokratischen Formel der Einübung ins Sterben beschreibt, die er konkret als Vorwegnahme des Abschieds vom Leben qualifiziert, als abschiedliches Leben. Es geht um ein Ernstnehmen nicht nur des Todes, sondern des Sterbens als der existentiellen Bewegung hin zum Tode, dies nicht unter dem Aspekt des mit dem Sterbeprozess verbundenen Leidens, sondern des bewusstseinsmäßigen Vollzugs dieser Bewegung, die eine Bewegung hin zum eigenen Erlöschen und Nicht-mehr-Sein ist. Es ist ein Ernstnehmen, in welchem es nicht um das (medizinisch, ökonomisch, psychologisch zu betreuende) Sterben als letzten Lebensabschnitt, sondern um ein Sterben als Vorwegnahme und Vorschein des Todes in seiner existentiellen, metaphysischen Relevanz geht. Im Abschiednehmen von den Lebenden und vom eigenen Leben gewinnt der Tod eine nachdrückliche Gegenwärtigkeit im Leben.²⁷
3.4 Lebendig bis in den Tod – solidarische Partizipation am Sterben der anderen Eine wiederum andere Durchdringung von Leben und Tod, eine noch intimere Teilnahme des Lebens am Tod, des Todes am Leben hat Paul Ricœur in den
Michael Theunissen, Die Gegenwart des Todes im Leben, in: ders., Negative Theologie der Zeit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991), 197– 217, hier 207 f. Den Kontrast zwischen dem in den letzten hundert Jahren in den hochzivilisierten Gesellschaften erfolgenden Unwichtigwerden des Todes und der gleichzeitigen Aufwertung des Sterbens thematisiert Klaus Heinrich: Jochen Rack/Klaus Heinrich, Wir und der Tod. Ursprungskult oder Bündniskult – Über die Mitbestimmung der Toten, Lettre International 72 (2006), 100 – 103.
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postum veröffentlichten Reflexionen Lebendig bis in den Tod gezeichnet.²⁸ Die entscheidende Differenz zur existentialistischen Todesbesinnung ist die Aufsprengung des eigentlichkeitstheoretischen Solipsismus. Die höchste Form des Sich-Einstellens auf den Tod ist nach Ricœur weder der antizipierende Vorgriff auf das Nicht-mehr-Sein noch die äußere Beobachtung des Erlöschens und Ablebens, sondern die solidarische Begleitung des Sterbenden im Zu-Ende-Gehen seines Lebens. Ricœur verweist auf Beschreibungen des KZ-Überlebenden Jorge Semprun, der in seinem Buch Schreiben oder Leben vom Hindurchgegangen-Sein durch die Todeserfahrung als Ermöglichung des Lebens berichtet und dabei vehement gegen das Verdikt Ludwig Wittgensteins protestiert, dass der Tod kein Ereignis des Lebens, dass er nicht erlebbar, nicht im Horizont des Lebens darstellbar sei. Dagegen beharrt Semprun, der in Buchenwald Maurice Halbwachs in dessen Todeskampf begleitet hat, auf der Möglichkeit einer nicht-reduzierten, ja gesteigerten Erfahrung des Todes im Dabeisein.²⁹ Das Anteilnehmen am Sterben des anderen ist ein privilegierter Zugang zum Todesproblem. Es ist ein – praktischer und theoretischer – Zugang, der die Selbstbezüglichkeit und Jemeinigkeit des Sterbens nicht negiert und rückgängig macht, wohl aber transzendiert. Er kann in der individuellen Sterbebegleitung, aber auch in Kulturen des Totengedenkens, gerade vor dem Hintergrund des gewaltsamen Todes, zum Tragen kommen.³⁰ Dabei ist diese Überwindung des Solipsismus nicht auf das Sich-Verhalten zum Tode des anderen beschränkt. Auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben löst sich ab vom narzisstischen Verlangen des Überlebens. An dessen Stelle tritt nach Ricœur das Sich-Anvertrauen an den Anderen, das Weiterleben in den Anderen, im Gedächtnis des Anderen, im Gedenken Gottes, der sich meiner erinnert, aber auch im Weiterleben der Mitmenschen. Primo Levi und Jorge Semprun haben Zeugnis abgelegt vom massenhaften Sterben in den Lagern, von jenen ungezählten, namenlosen Opfern, die zuletzt, so Semprun, eines Beistands
Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, suivi de Fragments, Préface d’Olivier Abel, Postface de Catherine Goldenstein (Paris: Seuil, 2007). Ebd., 61, 67; Jorge Semprun, L’écriture ou la vie (Paris: Gallimard, 1994), 180 ff., 202. Dieter Henrich, Tod in Flandern und in Stein, in: Odo Marquard und Karlheinz Stierle, Hg., Identität, Bd. 8, Poetik und Hermeneutik (München: Fink, 1979), 650 – 653, hier 650, 652) verdeutlicht dies mit Bezug auf die Kriegsgräber. Gegen die These von Reinhardt Koselleck, dass „der Sinn des Sterbens für […], wie es auf den Denkmalen festgehalten wird, von den Überlebenden gestiftet wird, denn die Sinnleistung, die die Verstorbenen ihrem Sterben abgewonnen haben mögen, entzieht sich unserer Erfahrung“, betont Henrich: „Gewiss, die Sinnstiftung ist die der Überlebenden; aber sie können doch versuchen, an die Erfahrungen derer Anschluss zu finden, die gefallen sind. Und oft nehmen sie wirklich die Gedanken und Worte auf, in denen die Toten sich selbst mit ihrem kommenden Sterben vertraut zu machen hatten.“
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bedurften: des Überlebens der anderen – „dessen, dass wir lebten, dass wir ganz einfach mit all unseren Kräften lebten im Gedenken ihres Todes“³¹. Auch das Überleben der Zeugen, wie es Giorgio Agamben beschreibt,³² ist ein solidarisches Eintreten für die Toten; das Sich-Übergeben an die Nachlebenden ist eine Weise des Weiterlebens der Sterbenden. Die letzte, weiteste Figur des „Lebendigseins bis in den Tod“ ist nicht das Festhalten am Leben bis zum allerletzten Atemzug, sondern das Teilnehmen am Leben und das Sich-Anvertrauen an das Leben, das nicht nur das eigene ist.Wir übernehmen das Leben von anderen und geben es an andere weiter; „wir leben, wenn wir endlich sind, als Fackelträger“³³. Die Partizipation am Sterben und die Teilhabe am Leben sind unlösbar ineinander verschränkt.
4 Grenzen und Möglichkeiten der Selbsterzählung 4.1 Sich zu Ende erzählen, sich vom Ende und vom Ursprung her erzählen Vom existentiellen Verhalten des Menschen zu seinem Tod ist nun zurückzukommen zur Frage der narrativen Selbsteinholung. Die Verflechtung beider Themen wurde in Gestalt des Sich-zu-Ende-Erzählens aufgenommen. Im Vorausgehenden sind Versionen dieses Erzählens sichtbar geworden, die sich miteinander vergleichen, aber auch gegeneinander gewichten lassen. Dabei zeigt sich, dass die eigentliche Pointe des Sich-zu-Ende-Erzählens nicht einfach darin liegt, sein Leben bis zum letztmöglichen Augenblick zu erzählen, ja, sein eigenes Sterben narrativ zu vergegenwärtigen – bis hin zum widersprüchlichen Vorhaben, den eigenen Tod zu erzählen. Solche ins Äußerste geführten Formen des Selbstausdrucks (Herrndorf, Altwasser) haben ihre literarische Prägnanz und, gerade im Selbstverhältnis angesichts des Todes, ihre existentielle Eindringlichkeit. Sie finden ihre Ergänzung in narrativen Darstellungen aus der Außenperspektive, die zugleich das subjektive Erleben des Sterbenden, gegebenenfalls sein eigenes Verhältnis zum Tod und sein eigenes Erleben des Sterbens in differenzierten Beschreibungen erschließen (Williams, Roth, Tolstoi).
Semprun, L’écriture ou la vie (s. Anm. 29; übers. E.A.), 133. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003). Henrich, Sterbliche Gedanken (s. Anm. 21), 39.
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Die eigentliche Herausforderung, das zentrale Interesse gilt dem Selbstverhältnis des Sterbenden angesichts des eigenen, bevorstehenden Todes. Wenn wir dies mit der Leitfrage nach dem Sich-Erzählen verbinden, so geht es um die Rückschau auf sein Leben im Horizont der Sterblichkeit und des Todes. Die narrative Selbstvergegenwärtigung ist eine Reflexion im Modus des Erinnerns, der Besinnung auf das vergangene, das erlittene und das geführte Leben, auf die Ereignisse und Wegscheiden, die schmerzlichen und beglückenden Erfahrungen, die unserem Leben seine Gestalt gegeben und das, was wir sind und geworden sind, geprägt haben. Wenn die Autobiographie generell der Verständigung über sich dienen kann, so geht es hier um die spezifische Selbstbesinnung im Horizont des nahenden Endes. Sie steht nicht einfach für eine letzte Gewissenserforschung. In ihr äußert sich auch das lebendige Interesse an der Vergegenwärtigung und Aneignung der eigenen Geschichte im Horizont des sich schließenden, zu Ende kommenden Lebens. Sich-zu-Ende-Erzählen ist eine Paraphrase des Wunsches, von seinem Leben am Ende ein Bild zu gewinnen, es als ganzes vor sich zu stellen. Inhaltlich kann diese Erinnerung ebenso gut auf die Kindheit wie das Alter oder die dazwischen liegenden Lebensabschnitte gehen. Doch artikuliert sie typischerweise ein Zurückblicken, das als solches erst im Alter möglich ist, in der späten Lebenszeit heraufgerufen wird. Dabei kommen unterschiedliche Motive ins Spiel. Neben der Intention, das Ganze umgreifen zu können, kommt gerade der Kindheitserinnerung im Alter eine besondere Bedeutung zu. Dabei interessiert nicht eine faktische Tendenz, die Neigung zum nostalgischen Rückblick, sondern ein strukturelles Merkmal des Blicks auf das Ganze. Sich an die Kindheit erinnern bedeutet nicht nur, Geschehnisse und Personen aus längst vergangenen Zeiten aus dem Vergessen zu erwecken und in den Lichtraum des Bewusstseins zu rücken. Jenseits der historiographischen Vergegenwärtigung ist das Interesse am Erinnern ältester Erlebnisse ein Interesse am Eigensten seines Lebens. Dies deshalb, weil in solcher Erinnerung ein Ausgriff auf das Ganze des Lebens stattfindet. In signifikanter Weise kommt dies in der Kindheitserinnerung als Glückserinnerung zum Tragen. Philip Roth lässt den Protagonisten seiner Erzählung Jedermann nachdenklich auf die schönsten Tage seiner Kindheit zurückblicken, um die Frage anzuschließen: „Wie wär’s damit, die schönsten Tage des Alters zu genießen? Oder bestanden die schönsten Tage des Alters eben daraus – aus der Sehnsucht nach den schönsten Tagen der Kindheit“?³⁴ Doch worauf geht eine solche Sehnsucht, die dem Gedächtnis des Anfangs innewohnt? Sie gilt nicht allein und nicht in erster Linie den Augenblicken des erlebten Glücks, der ver-
Roth, Jedermann (s. Anm. 14), 121.
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meintlichen Erfüllung aller Wünsche und Träume. Sie gilt, tiefer noch, den Wünschen und Träumen selbst. Es ist eine Erinnerung, wie sie Ernst Bloch im Schlusssatz des Prinzip Hoffnung umschreibt, als Erinnerung an „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“.³⁵ Es ist der Rückblick auf ein noch nicht Realisiertes, doch Ersehntes: Glückserinnerung ist nicht Erinnerung eines realen Faktums, sondern, im Tiefsten, Erinnerung eines Versprechens.³⁶ Kindheit ist der Ort des Glücksversprechens, die tiefste Sehnsucht nach der Kindheit ist die Sehnsucht nach einem Glücksversprechen. In der Kindheitserinnerung wird uns eine ursprüngliche Geborgenheit und Heimat gegenwärtig, aber auch ein ursprüngliches Wünschen und Begehren, zugleich ein Vertrauen, ja, ein Versprechen. Es ist nicht schwer zu sehen, wie solches Erinnern auf ein Kommendes ausgreift, auf ein Ganzes der Erfüllung vorausweist. Sie hat mit dem Ganzen des Lebens und dem Ganzen des Menschen zu tun, nicht dem bloßen Erreichen besonderer Ziele, der Verwirklichung bestimmter Absichten. In solcher Erinnerung, die im Bewusstsein des nahenden Endes eine besondere Tiefe gewinnen kann, verschränken sich das Zurückgehen zum Ursprung und das Ausgreifen auf die Vollendung. Das auf das Ende hin und vom Ende her Erzählen überlagert sich mit dem Erzählen vom Ursprung her. Gerade die offenen, uneingelösten Versprechen stehen für die wirkliche Tiefe einer Vergangenheit, die auf die Zukunft ausgreift. Die wahren Paradiese, sagt Proust, sind die verlorenen Paradiese.³⁷ In solcher Erinnerung wird das Sich-zu-Ende-Erzählen in seinem gleichzeitigen, radikalen Vergangenheits- und Zukunftsbezug vollzogen. Ergänzend sei nur darauf verwiesen, dass sich diese Gegenläufigkeit nicht auf die Glückserinnerung beschränkt. Auch die Leidenserinnerung, die für das historische, auch autobiographische Gedächtnis ebenso fundamental sein kann, birgt diese Doppeldimensionalität in sich. Sie verlangt, wie Walter Benjamin exemplarisch ausgeführt hat, das Wachhalten uneingelöster Ansprüche, das ZurSprache-Bringen des Unterdrückten und Unabgegoltenen. Auch wenn traumatische Erlebnisse mit dem zwangsweisen Verstummen, ja, der Unfähigkeit zur Bewusstwerdung einhergehen, verlangen das Unrecht und die Verletzung nach der Wiederherstellung des Entstellten. Kritische Erinnerung in diesem Sinne ist nicht nur Vergegenwärtigung des gelebten, sondern des ungelebten Lebens, in der weltlichen Geschichte ebenso wie im individuellen Dasein. Auch nach dieser
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1959), 1628. Der von Bloch anvisierte Fluchtpunkt ist nicht Glück, sondern Heimat; die Struktur des Rückgriffs auf ein Noch-nicht-Realisiertes ist dieselbe. Vgl. Emil Angehrn, Hoffnung und Erinnerung. Zur Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, in: Giovanni Maio, Hg., Die Kunst des Hoffens (Freiburg i.Br.: Herder, 2016), 155 – 173. Proust, A la recherche du temps perdu (s. Anm. 2), 634.
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Hinsicht kann Erinnerung im Angesicht des Endes ihre Selbstverdeckung aufbrechen und zu besonderer Klarheit und Dringlichkeit kommen. Dabei steht allerdings gerade im Fall der belastenden, schmerzlichen Vergangenheit nicht nur der Weg des Lebendig-Haltens der uneingelösten Ansprüche offen, sondern ebenso derjenige des Durcharbeitens und Bewältigens, der Vergebung und Versöhnung, zuletzt des befriedeten Vergessens. Dieses markiert gleichsam einen Fluchtpunkt, an welchem das Sich-Erzählen und Erzählen-Wollen selbst an seine Grenze gelangt und sich aufhebt. Sich vom Ursprung wie vom Ende her erzählen heißt zu sich kommen, mit sich eins werden. Die Idee der gelingenden, abschließenden Erzählung steht für die Utopie, sein Leben als ganzes vor sich zu haben, jene volle Selbstpräsenz zu realisieren, die im unablässig voranschreitenden und entschwindenden Prozess des Lebens nie gegeben ist. Zum Sinn und zur Sehnsucht der umfassenden Selbsterzählung gehört die Selbstvergegenwärtigung im Ganzen, nicht primär als Summierung aller Lebensfragmente, sondern als Sich-Finden in seinem Leben als Ganzheit und Erfüllung. Erzählung steht im Dienste der Identitätsfindung im Sinne der individualisierenden Bestimmtheit wie der inneren Gestaltgebung und des Ganz-sein-Könnens des Selbst.³⁸ Für solche Selbstpräsenz kann die Konfrontation mit dem Tod ein Motiv und ein Fundament, aber auch eine Erschwernis darstellen.
4.2 Erzählung vom Lebensende und am Lebensende In vielfältiger Form sind Sterbenarrative in den Blick gekommen. Dabei zeigt sich unter ihnen eine Grundalternative zwischen den Erzählungen vom Lebensende und den Erzählungen am Lebensende.Wir haben auf der einen Seite mit Berichten über das Sterben, auf der anderen mit Selbsterzählungen von Sterbenden zu tun, speziellen Weisen der narrativen Reminiszenz, die durch das Alter und das Sterben provoziert und ermöglicht sind, sowohl in ihrer existentiellen Ernsthaftigkeit wie im Ausgriff auf das Ganze, das angesichts des nahenden Nicht-mehrSeins in Frage steht. Dabei können Erzählungen am Lebensende ganz unterschiedliche Gravitationszentren haben, darunter die zwei idealtypischen Ausprägungen: einerseits die am weitesten zurückgreifende Erinnerung, die Kindheitserinnerung als Erinnerung an ein ursprüngliches Glück oder eine ursprüngliche Verletztheit, die beide das Uneingelöste in sich bergen, andererseits die auf das Lebensganze ausgreifende Erzählung, in welcher die biogra-
Vgl. Emil Angehrn, Geschichte und Identität (Berlin/New York: de Gruyter, 1985), 233 – 238.
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phische Identität des Erzählenden auf dem Spiel steht. Solche Erzählungen am Lebensende können den Erzählungen vom Lebensende zunächst als das Andere unverbunden gegenüber stehen. Beide werden unabhängig voneinander als Erzählformen gestaltet, so dass es eine offene Frage ist, wieweit sie überhaupt unter einer gemeinsamen Themenstellung zusammenzubringen sind. Indessen ist ihre Verbindung keine kontingente und äußerliche. Sie liegt darin begründet, dass eine gehaltvolle Erzählung vom Lebensende nicht ohne Bezug auf die Erlebensperspektive des sterbenden Menschen und dessen eigene – reale oder virtuelle – Erzählung angesichts des Endes durchzuführen ist. Im Zentrum steht das Gewahrwerden seiner selbst in seiner Endlichkeit. Es ist ein Gewahrwerden, das sich in der Selbsterzählung mit dem Wunsch verbindet, sich in seinem Leben als ganzem wahrzunehmen. Das Ideal der umfassenden Selbstwahrnehmung, des Sich-zu-Ende-Erzählens zielt nicht abstrakt auf eine abschließende Vollständigkeit, sondern auf eine Ganzheit und Erfüllung in der Begegnung mit der Endlichkeit. Es geht darum, angesichts des Todes eins mit sich in seinem Leben sein zu können. Das Ideal des Gelingens und der Vollendung der Lebensbeschreibung orientiert sich nicht an einer formalen Gestalt- oder Ganzheitsnorm, sondern am Einswerden mit sich in seinem Leben. Glücklich ist, wem solches gelingt. Einswerden mit sich im Ganzen seines Lebens ist der Kern der von Proust evozierten Glücksaussicht dessen, der sein Leben schreibt. Sie ist nicht die einzige Zielvorstellung im Blick auf das zu Ende kommende Leben. Neben ihr stehen andere Leitideen wie die reine, zeittranszendierende Gegenwärtigkeit, die Versöhnung und Dankbarkeit, der Abschied und das Loslassen, das befreiende Sterbenkönnen. Wieweit das Mit-sich-Einswerden im Lebensganzen für den Einzelnen in der Nähe des Todes obsolet, durch ein anderes Vollendetsein abgelöst wird – oder in gesteigerter Form vor Augen steht –, wird von existentiellen Optionen wie von äußeren Lebensumständen abhängig sein.
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Sterbeerzählungen aus narratologischer Sicht 1 Sterbeerzählungen als thematisch bestimmte Gattung Unter Sterbeerzählungen soll im Folgenden eine thematisch bestimmte Untergattung aller Erzählungen verstanden werden – nämlich eine, deren Exemplare das Sterben zum Thema haben. Damit grenzen wir uns von drei weiteren, ebenfalls möglichen Verständnissen des Begriffs „Sterbeerzählung“ ab. Es genügt erstens für die Zugehörigkeit zur thematisch bestimmten Gattung nicht, dass in einer Erzählung Figuren sterben, dass also in der „erzählten Welt“ Sterben vorkommt. In Goethes Die Wahlverwandtschaften (1809)¹ sterben Charlottes Sohn, Ottilie und Eduard, doch ihr Sterben ist nicht (ein) Thema des Romans, und somit zählt Die Wahlverwandtschaften nicht zur gesuchten Gattung. Zweitens genügt es auch nicht, dass das Sterben Teil des Plots ist, also der zentralen Handlungsabfolge der Erzählung zugehört. In Kafkas In der Strafkolonie (1919)² ist das langsame Sterben durch eine Maschine wichtiger Teil des Plots, aber man kann zumindest bezweifeln, dass Sterben das Thema der Erzählung ist. Allerdings kann die zentrale Stellung eines Ereignisses im Plot ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass Ereignisse dieses Typs in einer Erzählung thematisch sind: Man denke an Gustav Aschenbachs Sterben in Thomas Manns Der Tod in Venedig (1913)³, das sowohl ein zentraler Aspekt des Plots ist als auch das Sterben im Roman thematisch verankert. Drittens könnte man unter „Sterbeerzählungen“ auch solche verstehen, die von Sterbenden erzählt werden, deren Autoren also Sterbende sind. Auch hier gilt allerdings, dass die Kategorie nicht deckungsgleich ist mit der thematisch bestimmten Gattung „Sterbeerzählung“. Erzählungen über das Sterben können von
Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Bd. 6, Goethes Werke. Hamburger Ausgabe (München: Beck, 1989), 242– 490. Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen (Frankfurt am Main: Fischer, 1970), 100 – 123. Thomas Mann, Der Tod in Venedig und andere Erzählungen (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993), 7– 87. https://doi.org/10.1515/9783110600247-005
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anderen erzählt werden als den Sterbenden selbst, und Sterbende können über andere Themen erzählen als über das Sterben.⁴ Nun muss man zuvorderst konstatieren, dass eine thematische Gattungseinordnung nicht sonderlich trennscharf ist.⁵ Zwar können wir klar sagen, dass Erzählungen der anvisierten Gattung das Sterben zum Thema haben und nicht lediglich den Tod. Es geht in diesen Erzählungen also um die letzte Lebensphase, nicht um das sie abschließende Ereignis.⁶ Allerdings darf man diese Beschreibung des Themas nicht überstrapazieren, da sie ansonsten so irreführend wie unscharf ist: unscharf, weil es ganz verschiedene Ansichten darüber geben mag, womit das Sterben einsetzt. Ein Roman über eine schleichende Krankheit, die ultimativ zum Tode führen wird, mag genauso als Sterbeerzählung gelten wie eine Kurzgeschichte, die erst mit dem allmählichen Versagen der Organe einsetzt, also dem biologisch-medizinischen Beginn des Sterbeprozesses. Je nach Weltanschauung mögen Autorinnen und Autoren der Auffassung sein, dass das Sterben bereits viele Jahre vor dem Tod begonnen hat. Die Beschreibung ist zudem irreführend, weil der Ausdruck „letzte Lebensphase“ klingt, als müsse diese mit dem Tod enden. Aber Sterben kann in Erzählungen thematisch sein, ohne dass der Tod selbst oder ein akuter Sterbeprozess in der Erzählung vorkommen. Man denke etwa an Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011)⁷, ein Buch, das von der Demenz des Vaters handelt und in Erwartung seines Todes geschrieben ist, bewusst aber vor dem Sterbeprozess im engeren Sinne abbricht. Es ist schließlich denkbar, dass nur Ausschnitte des Sterbens beschrieben werden. Das Thema der letzten Lebensphase im Sinne eines nahenden Todes wird also in Erzählungen verschieden verstanden, und wir sollten nicht versuchen, diese Vielfalt künstlich einzuengen. Zudem ist das Sterben häufig nicht alleiniges Thema. Zur Beschäftigung mit dem Sterben gehört typischerweise z. B. ein Rückblick auf das Leben der Sterbenden. Drei weitere Einordnungen sollen uns helfen, die Vielfalt der Gattung thematisch bestimmter Sterbeerzählungen besser zu verstehen und einzugrenzen.
Gegen Ende von Abschnitt 4 werden wir uns aber einer Schnittmenge beider Gattungen widmen, also Erzählungen, die sowohl zur thematisch bestimmten Gattung der Sterbeerzählungen gehören als auch von einer sterbenden Person erzählt werden. Vgl. Uwe Spörl, Inhalt als Bestimmungskriterium, in: Rüdiger Zymner, Hg., Handbuch Gattungstheorie (Stuttgart: Metzler, 2010), 35 – 37. Wenn man denn den Tod als Ereignis auffassen will. Zu einigen Problemen der Bezeichnung des Todes als „Ereignis“ vgl. Jay F. Rosenberg, Thinking Clearly about Death, 2nd ed. (Indianapolis/Cambridge: Hackett Publishing Company, 1998), Kap. 1. Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil (München: Hanser, 2011).
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Dieter Lamping unterscheidet verschiedene Aspekte, die in Sterbeerzählungen betont werden können.⁸ Dazu gehören z. B. soziale Aspekte (Unterscheidet sich z. B. das Sterben in verschiedenen Gesellschaftsschichten und zu verschiedenen Zeiten?), psychologische Aspekte (Wie gehen Sterbende und Menschen, die mit diesem Sterben konfrontiert sind, mit ihren Erfahrungen um?) und biologischmedizinische Aspekte (Ziel einer Erzählung kann z. B. die möglichst präzise Beschreibung der biologischen Abläufe des Sterbeprozesses einer Krebskranken sein). Es handelt sich hier um Unterthemen des Sterbethemas, das die Gattung „Sterbeerzählung“ aufspannt. In dieser Hinsicht möchten wir keine Einschränkungen vornehmen. Allerdings, und dies ist die zweite Einordnung, kümmern wir uns im Folgenden allein um nichtfiktionale Sterbeerzählungen. Die Unterscheidung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen ist notorisch unscharf;⁹ sie soll hier lediglich erlauben, bestimmte narratologische Aspekte von Sterbeerzählungen besser in den Blick zu bekommen. Typische Merkmale fiktionalen Erzählens sind, dass das Sprecher-Ich nicht der Autor ist und dass die erzählten Ereignisse in Hinblick auf ihr ‚Dasein‘ oder ‚Sosein‘ erfunden sind.¹⁰ Nichtfiktionales Erzählen, um das es hier gehen soll, zeichnet sich typischerweise dadurch aus, dass das Sprecher-Ich der Autor ist (mit der offensichtlichen Ausnahme etwa von Nachrichtentexten, die typischerweise nicht von ihren Sprechern verfasst werden) und dass sich mit der Erzählung ein gewisser Wahrheitsanspruch verbindet (auch hier mit offensichtlichen Ausnahmen, wie sie etwa Beispiele, Annahmen, Vorschläge, Wünsche oder Fragen darstellen, die von diesem Wahrheitsanspruch abweichen). Schließlich möchten wir darauf hinweisen, dass sich mit dem hier synonym zu „Erzählung“ gebrauchten Begriff „Narrativ“ oft zwei andere Bedeutungen verbinden: Zum einen werden „Narrative“ häufig verstanden als Erzählungen, in denen ein bestimmtes Motiv vorkommt.¹¹ In derselben Weise ist die Rede vom „Selbstbestimmungsnarrativ“ oder „Kontrollnarrativ“ in Bezug auf Sterbeerzäh Siehe Dieter Lamping, Die fiktionale Sterbegeschichte, Wuppertaler Broschüren zur Allgemeinen Literaturwissenschaft 1 (1987), 71– 99. Für einen Überblick über die jüngere Debatte vgl. Tobias Klauk und Tilmann Köppe, Hg., Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch (Berlin: de Gruyter, 2014). Vgl. Gottfried Gabriel, Fiktion, in: Klaus Weimar et al., Hg., Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1 (Berlin: de Gruyter, 2007), 594– 598. Vgl. z. B. das sogenannte „Küstenschutznarrativ“, eine Kurzbezeichnung für die Darstellung von Piraten als Beschützer der Küste: Christian Bueger, Narrative Praxiographie. Klandestine Praktiken und das ‚Grand Narrativ‘ somalischer Piraterie, in: Frank Gadinger, Sebastian Jarzebski und Taylan Yildiz, Hg., Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis (Wiesbaden: Springer, 2014), 201– 224, hier 209.
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lungen zu verstehen, also Erzählungen über das Sterben, in denen die Motive der Selbstbestimmung und Kontrolle zentral sind. Zum anderen werden „Narrative“ als Typen von Erzählungen verstanden. Ein Narrativ in diesem Sinne kann irgendeine näher zu bestimmende Klasse von Erzählungen sein. Diese Redeweise kann, muss sich aber nicht mit einer der beiden vorher genannten decken. Diese Verwendungen von „Narrativ‘“ sind natürlich legitim, es ist allerdings zunächst völlig offen, wie sie sich an die im Folgenden angestellten Überlegungen anbinden lassen. Was also kann die Erzähltheorie (Narratologie) zum Verständnis einer in der charakterisierten Weise thematisch bestimmten, nicht-fiktionalen Erzählgattung beitragen? Sie kann einen Beitrag zur Beschreibung des Erzählcharakters von Sterbeerzählungen leisten, indem sie klärt, was Sterbeerzählungen zu Sterbeerzählungen macht. Alle (nichtfiktionalen) Erzählungen haben zudem bestimmte funktionale Eigenschaften, die (auch) im Falle von Exemplaren der Gattung „Sterbeerzählung“ interessant sind. Diese funktionalen Eigenschaften des Erzählens („das, wozu das Erzählen gut ist“) lassen sich von der Erzähltheorie verständlich machen. Im Folgenden werden wir zunächst einige basale Unterscheidungen aus dem Bereich der Erzähltheorie einführen (2.), um auf dieser Grundlage dann einige ausgewählte funktionale Eigenschaften von Erzählungen zu erläutern (3.). Schließlich (4.) verengen wir den Blick erneut auf Sterbeerzählungen und diskutieren, inwiefern die genannten funktionalen Eigenschaften hinsichtlich der Funktionen von Sterbeerzählungen zum Tragen kommen können.
2 Grundlegende Unterscheidungen der Erzähltheorie In diesem Abschnitt erläutern wir vier fundamentale Kategorien, die zum Grundrepertoire der zeitgenössischen Erzähltheorie gehören: die Begriffe der Ereignisverknüpfung (1), des Plots (2), closure (3) sowie das temporale Verhältnis von Erzählzeitpunkt und erzähltem Geschehen (4). (1) Erzähltexte handeln von mindestens zwei Ereignissen, die temporal geordnet und „sinnhaft verknüpft“ sind.¹² Diese sinnhafte Verknüpfung kann in
Vgl. die Definitionen von Peter Lamarque, On Not Expecting Too Much from Narrative, Mind & Language 19 (2004), 393 – 408, und Tim Henning, Person sein und Geschichten erzählen. Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe (Berlin: de Gruyter, 2009), insb. § 29. Den
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verschiedenen Relationen zwischen den Ereignissen bestehen, die über eine rein temporale Anordnung hinausgehen. Mehrere Ereignisse können etwa ein anderes konstituieren, ein Ereignis mag ein anderes erklären, ein weiteres als Ziel einer Person ausgewiesen werden, wiederum ein weiteres als Hindernis im Erreichen dieses Zieles. Aus der Menge möglicher sinnhafter Verknüpfungen greifen wir hier zwei besonders häufige und wichtige heraus: – Eine explanatorische Ereignisverknüpfung besteht, wenn ein Ereignis E1 die Frage „Warum geschah Ereignis E2?“ beantwortet. – Eine teleologische Ereignisverknüpfung zwischen zwei Ereignissen E2 und E1 besteht, wenn E2 als Ziel ausgewiesen wird und E1 die Eintrittswahrscheinlichkeit von E2 beeinflusst. (2) Die Ereignisse, von denen Erzähltexte handeln, sind typischerweise nicht alle gleichermaßen wichtig. Die zentrale Ereignisfolge einer Erzählung, ihre Kernhandlung, ist der Plot. Ein Plot lässt sich in Abschnitte oder Phasen segmentieren. Schon Aristoteles spricht von Anfang, Mitte und Ende und deutet damit eine Strukturierung an, wenn auch eine sehr einfache.¹³ (3) Vor allem aber hilft der Begriff des Plots, eine Eigenschaft von Erzähltexten besser zu verstehen, die als closure bezeichnet wird: Der Plot einer Erzählung kann offen oder geschlossen sein. Es geht dabei jeweils um den leserseitigen Eindruck, dass eine Ereignisfolge an ein Ende gelangt ist. Manchmal stellt sich dieser Eindruck weit vor dem Ende der Erzählung ein, manchmal, trotz des Endes des Erzähltextes, gar nicht. Wir unterscheiden im Folgenden zwei Arten, diesen leserseitigen Eindruck eines abgeschlossenen Plots zu verstehen. David Velleman betont den affektiven Charakter von closure: [T]he sequence of events completes an emotional cadence in the audience. When a murder is followed by a fitting comeuppance, we feel indignation gratified. [These events] provide an emotional resolution, and so they have a meaning for the audience.¹⁴
Wichtig ist dabei nicht nur, dass es eine „emotionale Auflösung“ gibt, sondern auch, dass diese im Laufe der Erzählung vorbereitet werden muss, indem Rezipienten durchlaufen, was Velleman eine „emotionale Kadenz“ nennt, also eine
Ausdruck „sinnhafte Verknüpfung“ übernehmen wir von Henning, und wir orientieren uns nachstehend an seiner Erläuterung von Ereignisverknüpfungen. Vgl. Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1994), 1450b. David J. Velleman, Narrative Explanation, in: The Philosophical Review 112 (2003), 1– 25, hier 6.
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bestimmte Abfolge von Gefühlen, die in einer Schlussemotion resultiert. Closure liegt vor, wenn diese Kadenz vollständig durchlaufen wurde. Emotionale Kadenzen sind den Rezipienten bereits bekannt: „A story therefore enables its audience to assimilate events […] to familiar patterns of how things feel.“¹⁵ Dieser Wiedererkennungswert der natürlicherweise angebrachten Emotionen bezüglich einer Handlungssequenz¹⁶ macht für Velleman einen möglichen Effekt von closure aus: „[The audience] has an experience of déja senti [sic], because its emotional sensibility naturally follows the ups and downs of the story.“¹⁷ Noël Carroll dagegen betont den kognitiven Charakter von closure: „Narrative closure is identified as the phenomenological feeling of finality that is generated when all the questions saliently posed by the narrative are answered.“¹⁸ Erzählungen, so Carroll, werfen Fragen auf, z. B., wer der Mörder ist oder ob das zerstrittene Paar am Ende wieder zueinander findet. Die hervorstechenden (salient) Fragen sind dabei genau jene, die durch den Plot aufgeworfen werden. Closure liegt damit vor, wenn Rezipienten das Gefühl haben, dass die durch die zentrale Handlungsstruktur aufgeworfenen Fragen beantwortet wurden. Wir müssen an dieser Stelle nicht zwischen dem emotiven (Velleman) und kognitiven (Carroll) Ansatz zur Erläuterung des closure-Phänomens entscheiden. Zum einen wird eine emotive closure-Theorie auf eine eher kognitive Theorie als Grundlage zurückgreifen müssen, sobald die Fragen aufkommen, was genau die Emotionen hervorruft und wie die relevanten Emotionen eigentlich identifiziert werden.¹⁹ Zum anderen kann es uns an dieser Stelle genügen, die beiden Phänomene (oder Phänomenaspekte) zu benennen, um im Folgenden zu sehen, wie sich Funktionen von Erzählungen über diese Charakteristika von Erzählungen erklären lassen. (4) Schließlich möchten wir zwei Möglichkeiten unterscheiden, wie sich der Erzählzeitpunkt relativ zum erzählten Geschehen verhält. Erzählungen können retrospektiv sein, das heißt, ein vergangenes Geschehen wird erzählt. Sie können aber auch prospektiv sein, so dass ein zukünftiges Geschehen erzählt wird. (Weitere Möglichkeiten sind denkbar. So kann der Zeitpunkt des erzählten Geschehens z. B. unbestimmt bleiben.)
Ebd., 19. Natürlich genügt nicht irgendeine Handlungssequenz in der Erzählung; gemeint ist die zentrale Handlungssequenz, also der Plot. Velleman, Narrative Explanation (s. Anm. 14), 19. Noël Carroll, Narrative Closure, in: Philosophical Studies 135 (2007), 1– 15, hier 1. Vgl. Tobias Klauk, Tilmann Köppe und Edgar Onea, More on Narrative Closure, in: Journal for Literary Semantics 45 (2016), 21– 48.
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Mit diesen vier begrifflichen Unterscheidungen können wir bereits wichtige Eigenschaften prototypischer Exemplare der Gattung „nichtfiktionaler Erzähltext“ charakterisieren: Sie sind retrospektiv, sie verfügen über closure (in mindestens einer der oben unterschiedenen Weisen), und sie stellen zentrale Ereignisse so dar, dass zwischen diesen Ereignissen explanatorische sowie teleologische Verknüpfungen deutlich werden. Nota bene: Viele weitere Texte, die diesem Prototyp nichtfiktionaler Erzähltexte nur mehr oder minder entsprechen, werden zur Gattung der nichtfiktionalen Erzähltexte hinzugerechnet. Wenn wir im Folgenden die funktionale Seite von Erzählungen betrachten, so haben wir dabei aber zunächst den Prototyp nichtfiktionaler Erzählungen vor Augen.
3 Funktionen nichtfiktionaler Erzählungen Nach diesen grundlegenden Unterscheidungen können wir uns nun den Funktionen des Erzählens zuwenden, um in Abschnitt 4 dann auf die Funktionen von Sterbeerzählungen im Speziellen einzugehen. Erzählungen können (bzw. das Erzählen kann) viele verschiedene Funktionen besitzen. Wir erzählen, um etwas zu verdeutlichen, um zu Handlungen aufzufordern, um zu prahlen, um uns auszutauschen, um uns und andere zu amüsieren. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wenn im Folgenden von bestimmten funktionalen Aspekten von Erzählungen die Rede ist, so steht aber stets die Frage im Vordergrund, ob sich die genannten funktionalen Effekte des Erzählens tatsächlich als Effekte des Erzählens oder der Erzählung verständlich machen lassen. Es geht also nicht bloß darum, Erzähltexte zu identifizieren, die de facto diese funktionalen Eigenschaften haben, sondern darum, verständlich zu machen, inwiefern diese Eigenschaften auf dem Erzählcharakter eines solchen Textes beruhen.²⁰ Wir müssen also die jeweils in Rede stehende Funktionszuschreibung mit unserem Prototyp „Erzählung“ vergleichen – und klären, ob sich die Funktion anhand der erläuterten prototypischen Eigenschaften erläutern lässt. Denn für viele mögliche Funktionen des Erzählens ist direkt einsichtig, dass sie mit dem Erzählcharakter eines Textes wenig zu tun haben. Dass ein Autor mit einem Text (auch) eine übersteigert positive Selbstdarstellung transportieren möchte, kann beispielsweise eine Textfunktion sein, hängt aber kaum vom Erzählcharakter des Textes ab.
Auf diesen für unsere Überlegungen zentralen Unterschied weist Lamarque hin: Lamarque, On Not Expecting Too Much from Narrative (s. Anm. 12), 393 – 408.
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Wir werden uns im Folgenden zwei Vorschläge zu den funktionalen Eigenschaften von Erzählungen ansehen und versuchen, diese mit Hilfe der im zweiten Abschnitt eingeführten Eigenschaften typischer nichtfiktionaler Erzählungen zu erläutern. Beide Vorschläge stehen stellvertretend für viele weitere. Wir denken, dass sich an den resultierenden zwei Funktionslisten aber verdeutlichen lässt, welche Ansprüche an Erzählungen qua Erzählung eine Chance haben, erfüllt zu sein, und welche eher nicht. Der erste dieser Vorschläge stammt von George Wilson: When we wonder about the meaning of some salient episode in our lives […] what we are looking for is a relatively global account of the episode that sets it into significant connections with some of the key events and circumstances that preceded it and, very probably, with some of the chief consequences that ensued. […] It is our aim to find a surveyable pattern of explanatory connections, a pattern that enables us to situate the episode within a narrative framework […]. The meaning of the episode is just whatever its place in the pattern reveals to us […].²¹
Im Einzelnen wünscht Wilson sich also drei Funktionen, die eine Beschäftigung mit Episoden oder Ereignissen unseres Lebens erfüllen sollte. (1) Sie sollte wichtige (explanatorische) Verbindungen („significant/explanatory connections“) zwischen den Ereignissen deutlich werden lassen; (2) eine übersichtliche Repräsentation („surveyable pattern“) von Ereignissen sein; und (3) die Bedeutung von Einzelereignissen („meaning of the episode“) deutlich werden lassen. Unsere Frage ist, ob die Repräsentation von Ereignissen als Erzählung diese Funktionen garantiert. Sehen wir uns zunächst (1) an: In gewisser Weise klingt die Forderung nach explanatorischen Verbindungen genau nach dem, was wir über prototypische nichtfiktionale Erzählungen gesagt haben. Im Einzelfall wird man fragen müssen, inwiefern eine konkrete Erzählung dem Prototyp entspricht. Aber gerade wenn wir uns nicht auf explanatorische Beziehungen allein konzentrieren, sondern auch andere sinnhafte Verknüpfungen von Ereignissen zulassen, garantiert die Repräsentation von Ereignissen als Erzählung solche Verknüpfungen. Forderung (2) betrifft eine übersichtliche Repräsentation („surveyable pattern“) von Ereignissen. Auch dies lässt sich auf Basis der Eigenschaften prototypischer nichtfiktionaler Erzählungen verständlich machen. Ob diese Funktion von Erzählungen erfüllt wird, hängt maßgeblich davon ab, was man unter Übersichtlichkeit verstehen möchte. Wir schlagen einen Sinn vor, der durchaus na-
George M. Wilson, On Film Narrative and Narrative Meaning, in: Richard Allen und Murray Smith, Hg., Film Theory and Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1997), 221– 238, hier 230, unsere Hervorhebungen.
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heliegt und der sich mit den Eigenschaften prototypischer Erzählungen in Verbindung bringen lässt. Eine Repräsentation ist demzufolge übersichtlich, wenn sie strukturiert ist (die Rede von „pattern“ legt diese Lesart nahe). Man denke an einen Haufen Erbsen. Sobald dieselbe Anzahl Erbsen strukturiert auf dem Tisch ausgebreitet wird (etwa zu Zeilen und Spalten angeordnet), haben wir mehr Überblick: Wir können z. B. schneller sagen, wie groß die Anzahl ist. Es mag uns aber auch leichter fallen, braune Erbsen auszusortieren, vom Standardmaß abweichende Erbsen zu finden und dergleichen. Kurz: Strukturierte Anordnungen sorgen für Übersichtlichkeit. Nun haben wir aber bereits unter den Eigenschaften prototypischer Erzählungen genau solche ausgemacht, die eine gewisse Struktur der Repräsentation garantieren. Dazu gehören sowohl die sinnhaften Verbindungen zwischen Ereignissen als auch die Strukturierung durch den Plot. Letzteres geschieht sowohl in dem Sinn, dass zentrale Ereignisse (zum Plot gehörige) von weniger zentralen (nicht zum Plot gehörigen) unterschieden werden, als auch durch die temporale Anordnung der Ereignisse im Plot sowie durch weitere Plotstrukturen, die wir in Abschnitt zwei lediglich mit der aristotelischen Unterscheidung von Anfang, Mitte und Ende angedeutet haben. Dass prototypische Erzählungen eine übersichtliche Repräsentation von Ereignissen bieten, lässt sich schließlich über die Abgeschlossenheit des Plots (d. h. das Vorliegen von closure) verständlich machen. Eine abgeschlossene Ereignissequenz erlaubt die Rückschau auf die gesamte Ereignissequenz (anders gesagt, erst das Ende erlaubt uns, von der gesamten Sequenz zu sprechen).²² Auch in diesem Sinn lässt sich also von Übersichtlichkeit sprechen. Allerdings sollte man klar vor Augen haben, dass auch prototypische nichtfiktionale Erzählungen in einem aufwändigeren Sinne unübersichtlich sein können. So mögen die hergestellten Bezüge zwischen den Ereignissen so mannigfaltig sein, dass die Übersichtlichkeit darunter leidet. Und natürlich garantiert Übersichtlichkeit keineswegs den Wahrheitsgehalt einer Darstellung. Auch in prototypischen nichtfiktionalen Erzählungen sind Irrtümer und absichtliche Falschdarstellung möglich und üblich. Forderung (3) schließlich bezieht sich auf das Verdeutlichen der Bedeutung von Einzelereignissen („meaning of the episode“). Auch hier müssen wir zunächst konstatieren, wie vage die Forderung ist. Wir greifen aber wiederum drei Lesarten des „Verdeutlichens von Bedeutung“ heraus, von denen wir glauben, dass sie sich mit den Eigenschaften prototypischer nichtfiktionaler Erzählungen verständlich machen lassen. Erstens haben wir bereits mehrfach die sinnhaften Verknüpfun-
Vgl. Peter Brooks, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative (Oxford: Clarendon Press, 1984), 19.
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gen von Einzelereignissen erwähnt, die in Erzählungen stets vorliegen. Wenn z. B. Ereignis A als kausaler Grund für Ereignis B beschrieben wird (A hat B hervorgerufen), so ist dies eine Weise, in der die Bedeutung von A für B deutlich gemacht werden kann. In derselben Weise findet eine solche Verdeutlichung statt, wenn ein Ereignis C als konstitutiv für ein Ereignis D beschrieben wird oder ein Ereignis E als Ziel einer Person ausgewiesen wird. Zweitens haben wir im Zusammenhang mit der affektiven closure-Theorie von Velleman erwähnt, dass in der Rezeption von Erzählungen Ereignisse typischerweise als Teil eines vertrauten emotionalen Musters erlebt werden; wir wissen, welche emotionale Valenz den Ereignissen zukommt (Velleman spricht davon, dass „the audience knows how to feel about them“, s.o.). Von der Bedeutung der Ereignisse ist hier in einem ganz anderen Sinn die Rede als im vorigen Fall. Es geht um ihren Platz in einer emotionalen Kadenz, um Bedeutung „in emotional terms“.²³ Drittens können wir erneut auf die plotinterne Struktur verweisen. Ereignisse werden in Erzählungen als Teil einer Handlungsabfolge ausgewiesen, innerhalb derer ihnen eine Position zugewiesen wird. (Wenn man möchte, so kann man das aristotelische „Anfang, Mitte und Ende“ als Verweis auf drei mögliche Positionen dieser Art verstehen). Wenn z. B. in einer Erzählung davon die Rede ist, dass „der Prager Fenstersturz der Anfang des Dreißigjährigen Krieges ist“, so wird der Gewalthandlung am 23. Mai 1618 eine bestimmte, sequentielle Bedeutung zugewiesen.²⁴ Auch in diesem Sinne lässt sich also davon sprechen, dass in prototypischen nichtfiktionalen Erzählungen die Bedeutung von Einzelereignissen verdeutlicht wird.²⁵ Wir wenden uns damit einem zweiten Katalog von Funktionen zu, die von Erzählungen erwartet werden. Die hier von Dorothee Birke benannten Funktionen sind deutlich anspruchsvoller zu realisieren als die oben genannten: „Narrative allows us to forge meaningful links between past events and our present life, to define our present selves in relation to our past selves, and to assert a development.“²⁶ Auch hier ist von (bedeutungsvollen) Verbindungen zwischen Ereignis-
Velleman, Narrative Explanation (s. Anm. 14), 6. Vgl. Arthur C. Danto, Narration and Knowledge (New York: Columbia University Press, 1985), 143 – 181, das Fenstersturzbeispiel findet sich ab Seite 152. Sieht man genauer hin, verbirgt sich hinter der Charakterisierung eines Ereignisses als „Anfang“ von etwas vermutlich die Behauptung eines kausalen oder teleologischen Zusammenhangs. Insofern basieren diese Weisen der Verdeutlichung der Bedeutung von etwas vermutlich auf dem Vorliegen „sinnhafter Verknüpfungen“, die wir oben bereits erläutert haben. Dorothee Birke, Memory’s Fragile Power. Crises of Memory, Identity and Narrative in Contemporary British Novels (Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2008), 3.
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sen die Rede, und insofern damit eine der Beziehungen gemeint ist, die wir im Zusammenhang mit Wilson besprochen haben, können wir auch hier erklären, warum Erzählungen qua Erzählungen die Funktion haben, Ereignisse zueinander in Beziehung zu setzen. Allerdings geht das kurze Zitat über diesen Punkt hinaus und schlägt zwei weitere Funktionen von Erzählungen vor: 1. Erzählungen ermöglichen die Formung/Definition des Selbst. 2. Erzählungen ermöglichen die Beurteilung entsprechender diachroner Entwicklungen. Wir wollen nicht ausschließen, dass Erzählungen solche Funktionen übernehmen können. Auf die Eigenschaften prototypischer (nichtfiktionaler) Erzählungen lassen sie sich aber kaum zurückführen. Es handelt sich daher nicht um Funktionen, die einem Text qua Erzählung zukommen. Betrachten wir zum Beispiel die erste der von Birke vorgeschlagenen Funktionen: Dass Erzählungen zur Formung des Selbst (oder zumindest des Selbstbildes) beitragen können, erscheint spontan einleuchtend.²⁷ An der Retrospektivität liegt dies aber nicht. Unsere Selbstbestimmungen sind sowohl retrospektiv als auch prospektiv. Wir bestimmen uns unter anderem über unsere Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen und Pläne.²⁸ Auch closure ist keine einschlägige Eigenschaft. Unser Selbstbild ist (pathologische Fälle ausgenommen) typischerweise davon geprägt, dass die Zukunft noch offen ist, dass die Geschichte noch nicht auserzählt ist, dass noch etwas kommt. Wir kommen unten auf diesen Punkt im Zusammenhang mit Sterbeerzählungen zurück. Die explanatorischen und teleologischen Verknüpfungen dagegen mögen in der Entwicklung eines Selbstbildes tatsächlich eine Rolle spielen. Ein typischer Aspekt von Selbstbildern dürfte gerade sein, dass sie solche Beziehungen herstellen. Auch die Möglichkeit, Überblick über eine ansonsten ungeordnete Menge von Ereignissen zu bekommen und sie nach ihrer Wichtigkeit zu sortieren, dürfte ein wesentlicher Teil der Bildung eines Selbstbildes sein. Insgesamt muss man aber sagen, dass das Ergebnis weit weniger eindeutig ausfällt, als in Bezug auf die von Wilson genannten Funktionen.
Vgl. aber kritisch Tom Kindt und Tilmann Köppe, Das Selbst – eine Erzählung?, in: Julia Abel, Andreas Blödorn und Michael Scheffel, Hg., Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung (Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2009), 227– 250. So z. B. schon Martin Heidegger, Sein und Zeit, 17. Aufl. (Tübingen: Niemeyer, 1993), 191: „Das Dasein hat sich in seinem Sein je schon zusammengestellt mit einer Möglichkeit seiner selbst.“
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4 Ein erzähltheoretischer Blick auf funktionale Aspekte von Sterbeerzählungen Wir wenden uns damit den Sterbeerzählungen zu. Wir haben diese zu Beginn als eine thematisch bestimmte Gattung nichtfiktionaler Erzählungen beschrieben. Die Erzähltheorie kann in zweifacher Weise – bescheiden – zu einem Verständnis solcher Erzählungen beitragen. Erstens kann sie erklären, warum Exemplare der Gattung „Sterbeerzählung“ Erzählungen sind. Sie sind dies nämlich, wenn sie mindestens zwei Ereignisse derart darstellen, dass diese temporal angeordnet und sinnhaft verknüpft sind. Zweitens können Funktionen von Sterbeerzählungen erklärt werden, insofern sie sich auf die Eigenschaften (prototypischer nichtfiktionaler) Erzählungen zurückführen lassen.Wir haben im vorigen Abschnitt à propos Wilson gesehen, dass prototypische Narrationen (mit den in Abschnitt 2 vorgenommenen Einschränkungen) Einzelereignisse erklären und zeigen, wohin sie führen, dass sie die Bedeutung (emotional meaning und sequenzielle Bedeutung) von Einzelereignissen hervortreten lassen und schließlich auch (dank interner Strukturiertheit und dank Geschlossenheit) Übersicht schaffen. Insofern eine Sterbeerzählung die prototypischen Eigenschaften aufweist, wird sie auch die genannten Funktionen erfüllen können. Hier ist ein Beispiel: Jon Krakauers Into the Wild beschreibt Chris McCandlessʼ Wanderung in die Wildnis Alaskas und seinen dortigen unfreiwilligen Tod. Die überwiegenden Teile des Buches sind keine Sterbeerzählung in unserem Sinne. (Es geht vielmehr um die Auflösung zweier Rätsel, nämlich erstens der konkreten Todesumstände und zweitens der Frage, warum es einen jungen, klugen und erfolgreichen Mann überhaupt in die Wildnis zog.) Kapitel 18 aber ist eine Sterbeerzählung, hier geht es neben dem nach wie vor präsenten Todesrätsel zentral um Chris McCandless’ letzte Tage, den Zeitraum vom 8. Juli 1992 bis zum wahrscheinlichen Todestag, dem 18. August 1992. Anhand von McCandlessʼ Tagebuchnotizen rekonstruiert Krakauer dessen Unternehmungen und seine Gefühlslage, wobei diese Rekonstruktion manchmal als Wunsch Krakauers gekennzeichnet wird: Some people who have been brought back from the far edge of starvation, though, report that near the end the hunger vanishes, the terrible pain dissolves, and the suffering is replaced by a sublime euphoria, a sense of calm accompanied by transcendent mental clarity. It would be nice to think McCandless experienced a similar rapture.²⁹
Jon Krakauer, Into the Wild (London: Pan Macmillan, 1998), 197 f.
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Krakauers Erzählung hat ein klares Ziel: Er möchte zeigen, dass weder McCandlessʼ Handlungen unerklärlich oder völlig unsinnig waren noch dessen Tod ein Suizid. Er steht für Krakauer fern der gesellschaftlichen Norm, aber lediglich in jenem Sinn, in dem ein Einsiedler oder Mönch dieser Norm fern stehen. Der letzte Absatz des Kapitels drückt diesen Gedanken fast wörtlich aus. Denn das Kapitel endet interessanterweise nicht mit McCandless’ Tod. Vielmehr findet sich im Anschluss noch dieser letzte Absatz: One of his last acts was to take a picture of himself, standing near the bus under the high Alaska sky, one hand holding his final note toward the camera lens, the other raised in a brave, beatific farewell. His face is horribly emaciated, almost skeletal. But if he pitied himself in those last difficult hours – because he was so young, because he was alone, because his body had betrayed him and his will had let him down – it’s not apparent from the photograph. He is smiling in the picture, and there is no mistaking the look in his eyes: Chris McCandless was at peace, serene as a monk gone to God.³⁰
Alle oben genannten Funktionen des Erzählens finden sich in Krakauers Kapitel wieder. Im Zitat tritt besonders die emotionale Bedeutung der Ereignisse für den Leser in den Vordergrund. Wir sollen uns McCandless als mit sich selbst im Reinen, als friedlichen Mönch vorstellen, dessen spirituelle Reise an ein erfolgreiches Ende gelangt ist. Die Erzählung von McCandlessʼ Sterben fügt sich damit nahtlos in den größeren Zusammenhang von Into the Wild ein: Wie McCandless im Buch grundsätzlich als Sinnsucher, Aussteiger und versuchter Eremit beschrieben wird, so endet die Sterbeerzählung mit der Andeutung, dass diese Suche zu einem erfolgreichen Ende gekommen sein könnte, obwohl alle Anzeichen (Hungertod aufgrund naiver Vorgehensweise und schlechter Ausrüstung) zunächst dagegen sprechen. Diese Funktion (und weitere) übernimmt die Erzählung qua Erzählung. Das bedeutet allerdings auch, dass diese Funktionen der Erzählung keine Besonderheit von Sterbeerzählungen sind. Höchstens ließe sich untersuchen, ob Sterbeerzählungen die Funktionen prototypischer Erzählungen in besonderer Weise erfüllen. Wir sehen hier von einer solchen Untersuchung ab und fragen stattdessen, inwiefern eigentlich prototypische Sterbeerzählungen zugleich prototypische (nichtfiktionale) Erzählungen sind. Die Frage ist dabei nicht, ob einzelne Sterbeerzählungen abweichen, sondern ob das Genre der Sterbeerzählung solche Abweichungen gleichermaßen nahelegt oder gar erzwingt. Wenn man sich die Eigenschaften prototypischer nichtfiktionaler Erzählungen noch einmal vor Augen führt, so ist schnell klar, dass es nicht die mehr oder minder geordnete
Ebd., 198.
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Darstellung von Ereignissen in einem Plot oder die kausalen oder teleologischen Verbindungen zwischen den Ereignissen sind, die hier Probleme verursachen könnten. Vielmehr sind es Retrospektivität und Geschlossenheit, die für Sterbeerzählungen anzunehmen zumindest nicht selbstverständlich ist. Denn zumindest für Sterbeerzählungen, die von Sterbenden selbst erzählt werden (abkürzend im Folgenden „erstpersonal“ genannt, wissend, dass es natürlich Erzählungen aus Sicht der ersten Person gibt, die vom Sterben Anderer handeln), scheint prima facie zu gelten, dass sie nicht retrospektiv sein können. Bei näherem Hinsehen stellt sich diese Überlegung jedoch als Trugschluss heraus. Sicherlich kann niemand seinen eigenen Tod retrospektiv erzählen, aber wie wir eingangs festgestellt haben, muss die Sterbeerzählung nicht mit dem Tod schließen, sondern kann etwa einen Ausschnitt des Sterbens thematisieren. Obwohl aber diese Möglichkeit besteht, so kann man doch festhalten, dass typische Sterbeerzählungen auf den Tod hinauslaufen und zumindest dieser eben nicht retrospektiv erzählt werden kann. Man behilft sich im Fall von Erzählungen in der ersten Person typischerweise mit einem Anhang oder Nachwort der Herausgeber, die die Zeit nach dem Abbruch der Erzählung bis zum Eintritt des Todes nachtragen. Ein solches Vorgehen ist z. B. zu beobachten in Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur (2013).³¹ Die wesentliche Abweichung von prototypischen Erzählungen besteht aber nicht in diesem eher technischen Detail, sondern in einer viel gewichtigeren Eigenschaft typischer erstpersonaler Sterbeerzählungen. Sie sind, so nehmen wir an, nämlich typischerweise auch eine Auseinandersetzung mit dem baldigen Ende, mit dem Umstand, dass die eigenen Hoffnungen, Pläne, Befürchtungen zwar über dieses Ende hinausreichen können, aber doch abbrechen werden. Kurz: Prototypische erstpersonale Sterbeerzählungen sind in wesentlichen Teilen prospektiv erzählt. Leidet unter diesem Umstand automatisch die Geschlossenheit einer erstpersonalen Sterbeerzählung? Nein. Denn die zentrale Frage einer Sterbeerzählung ist nur selten, ob oder wann genau ein Mensch stirbt. Typisch sind vielmehr leitende Fragen wie die, ob man zu einer Haltung finden kann, mit dem Unvermeidlichen umzugehen, wie der Rückblick auf das eigene Leben vor der letzten Phase ausfällt oder wie sich die noch verbleibende Zeit sinnvoll nutzen lässt. Und diese Fragen können nicht erst in den letzten Minuten vor dem Tod beantwortet werden, sondern jederzeit. Auch die emotionale Kadenz, durch die eine Geschichte uns führt, kann sehr wohl abgeschlossen sein, ohne dass der eigene Tod retrospektiv erzählt wurde. Damit werden Sterbeerzählungen Sterbender zwar in
Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur (Berlin: Rowohlt, 2013).
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Bezug auf den nahenden Tod hin erzählt, die Geschlossenheit (wenn sie denn vorliegt) verdankt sich typischerweise aber einem Plot, der eben nicht genau mit dem Tod endet (wie im Fall Herrndorfs), sondern entweder früher in einem „Abschluss“ mit dem Leben oder auch später in der erzählerischen Gewissheit eines Lebens nach dem Tod. Damit ist Prospektivität typischer erstpersonaler Sterbeerzählungen die Hauptabweichung von prototypischen nichtfiktionalen Erzählungen. Nachdem wir den Blick durch die möglichen Abweichungen von prototypischen Erzählungen bereits auf die Unterklasse der Sterbeerzählungen eingeengt haben, die Sterbende selbst erzählen, wollen wir abschließend auf einen letzten Katalog möglicher Funktionen eingehen, der sich genau auf solche Erzählungen bezieht. So geben Peng-Keller et al. an: Wir vermuten, dass sich Sterbenarrative, die von Sterbenden selbst verfasst werden, u. a. durch die folgenden Momente charakterisieren lassen […]: (1.) die plötzliche Konfrontation mit dem Lebensende als besondere Gestalt der peripeteia; (2.) die erzählerische Suche nach der Kohärenz und Essenz der zu Ende gehenden Lebensgeschichte einerseits (3.) und ihrem Ziel- und Endpunkt andererseits; (4.) der selbsttherapeutische Versuch, erzählend mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen und Fehler und Versäumnisse in Form einer narrativen Konfession zu verarbeiten; (5.) die erzählende Verarbeitung von krankheitsbedingtem Kontrollverlust, leib-seelischem Schmerz und unvertrauten Erfahrungen; (6.) erzählerische Formen des Sich-Verabschiedens, des Vermächtnisses und der Verewigung des gelebten Lebens.³²
Aus diesem Katalog von Funktionen lassen sich wohl nur die Punkte (2.) und (3.) – gegebenenfalls nur zum Teil – als solche Funktionen von Sterbeerzählungen verstehen, die sich dem Erzählcharakter selbst verdanken. Wie im Fall der im zweiten Abschnitt besprochenen Funktionskataloge wollen wir nicht bezweifeln, dass Sterbeerzählungen auch die übrigen Funktionen haben können. Diese Funktionen lassen sich nur nicht durch den Erzählcharakter (direkt) erklären: Sterbeerzählungen haben diese Funktionen nicht, weil oder insofern sie Erzählungen sind. Sehen wir uns daher die Thesen (2.) und (3.) näher an. Es werden drei Funktionen von Sterbeerzählungen genannt, das Auffinden von Kohärenz des endenden Lebens, das Auffinden von Essenz des endenden Lebens und das Feststellen eines Ziel- und Endpunktes des endenden Lebens. Die Rede von der erzählerischen Suche verstehen wir als Einschränkung, dass diese Funktionen möglicherweise eben nicht erfüllt werden. Simon Peng-Keller et al., Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am/ vom Lebensende, Ms. (Zürich 2015).
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Alle vier Aspekte können wir mit dem bislang Gesagten näher erläutern. Zielund Endpunkt einer geschlossenen Erzählung kann schlicht das Endereignis des Plots sein. Man denke etwa an eine Sterbeerzählung, in der eine Sterbende, deren Leben vom Streit mit ihrer Familie bestimmt war, sich vor Augen führt, dass sie beruhigt sterben kann, weil sie sich vor Kurzem mit ihrer Schwester versöhnt hat. Wie wir oben anhand zweier closure-Theorien festgestellt haben, kann ein Endpunkt der Erzählung aber auch darin bestehen, dass die zentralen Fragen des Plots beantwortet wurden (Werde ich es schaffen, mich mit meiner Schwester zu versöhnen?) oder dass eine emotionale Kadenz vollendet wurde (Erleichterung angesichts der Versöhnung). Kohärenz wird in einer geschlossenen Erzählung vor allem durch die sinnhaften Verbindungen zwischen Ereignissen hergestellt. Wir haben oben zwei wichtige solche Verbindungen hervorgehoben, nämlich explanatorische und teleologische Verbindungen. Aber auch die Strukturierung durch den Plot – und damit die Unterteilung in zentralere und weniger zentrale Ereignisse – kann Zusammenhang stiften. Der Plot wiederum wirft Fragen auf, die durch die Erzählung leiten. Auch hier spielt also die Geschlossenheit von Erzählungen eine Rolle: Geschlossene Erzählungen weisen sowohl in der Beantwortung zentraler Fragen als auch in der emotionalen Abgeschlossenheit eine größere Kohärenz auf als nichtgeschlossene. Die Essenz eines Lebens können Erzählungen wiederum spiegeln, indem wichtigere (essentiellere) Ereignisse von weniger wichtigen unterschieden werden: Es sind mithin jene Ereignisse, die zum Plot gehören, die die Essenz ausmachen. Allerdings sei hier auch angedeutet, dass wir mit dieser Lesart in gewisser Weise die Rede von einer „Essenz“ der Lebensgeschichte untergraben. Denn schließlich kann man vom eigenen Leben und Sterben auf verschiedene Weise erzählen, und dabei mögen sich ganz verschiedene Ereignisse als zentral herausstellen. Damit aber sind sie nicht mehr „essentiell“ in dem Sinn, dass sie unverzichtbar wären für das Verständnis dieses Lebens. So ist denn mit der Rede von der „Essenz“ einer Lebensgeschichte möglicherweise etwas anderes gemeint, zu dessen Verständnis jedenfalls die Narratologie nichts beizutragen hat. Die Rede von der „Suche“ dagegen fügt sich sehr gut in die bisher gemachten Beobachtungen ein. Eine Suche nämlich kann erfolgreich sein oder nicht. Wer versucht, eine der drei genannten Funktionen des Erzählens zu nutzen, kann scheitern – closure bleibt möglicherweise aus. Das mag so sein, weil eben nicht alle wesentlichen Fragen beantwortet werden; oder Erzählstränge verdichten sich möglicherweise gar nicht zu einem einheitlichen Plot; oder die sinnhaften Verbindungen zwischen den Lebensereignissen stellen sich als wenig hilfreich heraus, oder sie sind gar nicht zu finden.
II. Spezifische Felder
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Vom Ende erzählen – über das Sterben in Biographien „Von der Wiege bis zur Bahre“ – mit diesen Worten wird häufig der Gegenstandsbereich beschrieben, dem sich ein Biograph zu widmen habe. Geburt und Tod markieren dabei Anfangs- und Endpunkt, wenn nicht der erzählerischen Darstellung, dann zumindest des zu verhandelnden Stoffs. Zwar nehmen auch einige Biographen das „Nachleben“ ihrer Objekte in den Blick, die Wirkungen der Taten des Biographierten oder die Rezeption seiner Werke,¹ aber in den meisten Fällen endet mit dem Tod (und der Beisetzung) auch die chronologisch angelegte biographische Erzählung. Erstaunlich ist zunächst einmal, dass ungeachtet der grundlegenden Relevanz für die Biographik, Sterben und Tod in der Analyse von biographischen Erzählungen bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Sieht man einmal von Nekrologen ab, die meist kurz nach dem Tod des Verstorbenen dessen Leistungen würdigen und denen entsprechend eine finale Grundanlage eigen ist – weswegen sie auch als „Biographie vom Ende her“ bezeichnet werden –,² sieht man also einmal von dieser relativ gut erforschten Sondervariante der biographischen Kleinform ab, dann kommt der Darstellung des Lebensendes seitens der Biographieforschung nur wenig Aufmerksamkeit zu. Berücksichtigt man allerdings, wie selten bisher überhaupt die narrative Gestaltung biographischer Erzählungen – ihre Konstruktion oder „Gemachtheit“ – in den Blick genommen wurde, dann kommt dieser Befund nicht mehr ganz so überraschend.³ Dabei sind Biographien extrem populär. Die Biographie zählt zu den erfolgreichsten Sachbuchgenres überhaupt. In den Buchhandlungen füllen die Neuerscheinungen eigene Abteilungen, in den Feuilletons werden Biographien (im Vergleich zu anderen Sachbüchern) überproportional häufig besprochen. In der Forschung zum Genre finden sich insbe-
Ein in dieser Hinsicht sehr beachtenswertes Buch hat Ulrich Raulff mit Kreis ohne Meister (München: Beck, 2009) vorgelegt, in dem es (laut Untertitel) um „Stefan Georges Nachleben“ geht und das die „postume Biographie des Dichters“ (11) erzählt. Bernd Hamacher und Myriam Richter, Biographische Kleinformen, in: Christian Klein, Hg., Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien (Stuttgart: Metzler, 2009), 137– 142, hier 139. Erste Ansätze zu einer systematischen Analyse der erzählerischen Verfasstheit von Biographien, an denen sich unten stehende Ausführungen orientieren, finden sich in: Klein, Hg., Handbuch Biographie (s. Anm. 2), 199 – 219 (Abschnitt IV: Analyse biographischer Erzählungen). https://doi.org/10.1515/9783110600247-006
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sondere zwei Antworten auf die Frage nach den Gründen für die Popularität der Biographie, die zwar miteinander in Beziehung stehen, aber unterschiedliche Akzente setzen. Zum einen wird sehr grundsätzlich betont, dass die Biographie ein ganz spezifisches Lektürebedürfnis auf ideale Weise befriedigt, weil es nämlich – ausweislich empirischer Leserforschung – „ein Grundbedürfnis des Lesers sei“, sich bei der Lektüre zu der Person, die im Zentrum eines Textes stehe, in Beziehung zu setzen, wobei das „biographische Interesse […] aus einer menschlich verständlichen Neugier“⁴ resultiere. Mit anderen Worten und in einer Formulierung Pascals: „Was den Menschen am meisten interessiert, ist der Mensch“ – und der andere Mensch interessiert vor allem deshalb, weil er etwas mit einem selbst zu tun hat. In den meisten Fällen wird das Leben einer Person deshalb Gegenstand einer biographischen Darstellung, weil es als besonders bewertet wird, weil der Lebensweg als einzigartig gilt oder die Person für Leistungen steht, die als herausragend betrachtet werden. Die Biographie wird in diesen Fällen wohl rezipiert, weil sie etwas über die Voraussetzungen und Begleiterscheinungen jener Besonderheit zu sagen hat. Damit hängt die zweite Antwort auf die Frage nach dem Erfolg des Genres zusammen, wenn die Biographie als eine Art Krisenphänomen akzentuiert wird.⁵ So sieht etwa Helmut Scheuer eine wichtige Leistung der Biographie für ihre Leser darin, „in einer durch Entfremdung und Anonymisierung geprägten Welt Beispiele individueller Lebensgestaltung und personaler Wertmodelle zu entwerfen“⁶. Biographien werden demzufolge häufig gelesen, weil sie (mehr oder weniger) konkrete Antworten auf die Frage nach einem „guten“, „erfolgreichen“ Leben versprechen: wie es aussieht, welcher Weg dorthin führt oder welche Umwege man in Kauf nehmen muss.
Helmut Scheuer, Biographik und Literaturwissenschaft: Konstruktion und Dekonstruktion. Anna Seghers und ihre Biographen, in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, 4. Jg. (1995), 245 – 262, hier 251. Vgl. hierzu Jan Romein, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik (Bern: Francke, 1948), insb. 28, sowie Günther Blöcker, Biographie – Kunst oder Wissenschaft?, in: Adolf Frisé, Hg., Definitionen. Essays zur Literatur (Frankfurt am Main: Klostermann, 1963), 58 – 84, insb. 82. Helmut Scheuer, Biographie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2: Bie-Eul. Hg. v. Gert Ueding (Tü bingen: Niemeyer, 1994), Spalte 30 – 43, hier 30.
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1 Zwei Typen: „typische“ und „besondere“ Leben In zahlreichen Disziplinen wird biographisch gearbeitet, die Biographik zählt in diesen Fächern zum Methodenarsenal der Wissensproduktion. Dabei reichen die Ansätze von eher empirischen oder interview-basierten Zugängen in der Soziologie bis hin zur textquellen-orientierten Biographik in der Geschichtswissenschaft.⁷ In einigen Fächern (wie der Kunstgeschichte) sind biographisches Arbeiten und die Entstehung der jeweiligen Disziplin sogar eng verknüpft.⁸ Doch nicht nur die Ansätze, die der biographischen Arbeit jeweils zugrunde liegen, können unterschiedlich sein, sondern auch der jeweilige Fokus, den sich verschiedene Arbeiten setzen sowie die damit verbundenen Erkenntnisinteressen. Ein in der letzten Zeit populärer Zugriff lässt sich am ehesten mit dem Bild der „Sonde“ beschreiben. Biographik dient in diesen Fällen dem punktuell vertieften Verständnis bestimmter gesellschaftlicher Strukturen oder Entwicklungen – das jeweilige Leben wird beschrieben, weil es typisch für diese Strukturen oder Entwicklungen ist. In diesem Sinne hat Ulrich Herbert in seiner vielgelobten Biographie über Werner Best, den Organisator und Personalchef der Gestapo, den Ansatz seiner Arbeit wie folgt beschrieben: Die vorliegende Untersuchung folgt also den von Best durchlaufenen biographischen Stationen und beschreibt und analysiert sie jeweils in der auf Best konzentrierten Perspektive. Diese Perspektive und Bests Lebensweg insgesamt dienen daher über weite Strecken der Untersuchung als ein privilegierter Zugangsweg, als eine Sonde, die es ermöglicht, das Funktionieren der Apparate ebenso wie das Handeln und Denken der Protagonisten aus der Nähe zu studieren. So stellen die einzelnen Teile der Arbeit denn zugleich auch eigenständige monographische Untersuchungen über die junge rechte Intelligenz der 20er Jahre, über die nationalsozialistische Sicherheitspolizei, über die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich und Dänemark […] dar.⁹
Weiter verbreitet und historisch gesehen bis heute dominant ist demgegenüber ein biographischer Zugriff, der ein einzelnes Leben fokussiert, das (aufgrund welcher Leistungen auch immer) als besonders eingeschätzt wird. Erkenntnisgegenstand ist hier das individuelle Leben, das man mithilfe der Biographie besser
Vgl. zu den unterschiedlichen methodischen Ansätzen in den verschiedenen biographisch arbeitenden Wissenschaften einführend die Beiträge in: Klein, Hg., Handbuch Biographie (s. Anm. 2), 331– 418 (Abschnitt VII: Biographisches Arbeiten als Methode). Vgl. hierzu etwa: Karin Hellwig, Kunstgeschichte, in: Klein, Hg., Handbuch Biographie (s. Anm. 2), 349 – 357. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus,Weltanschauung und Vernunft 1903 – 1989 (Bonn: Dietz, 1996), 25.
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verstehen will. Sprichwörtlich geworden sind die „großen Männer“, die Geschichte machten und entsprechend etwa Gegenstand historiographischer Biographik wurden. Olaf Hähner spricht im ersten Fall von paradigmatischen Biographien und im zweiten von syntagmatischen Biographien.¹⁰ Ob es sich um eine paradigmatische oder syntagmatische Biographie handelt, hat Auswirkungen auf die Art der Darstellung, die Legitimationstechniken des biographischen Schreibens.¹¹ Während eine paradigmatische Biographie vor allem auf die Übereinstimmung mit parallelen Lebensverläufen abhebt und das Gemeinsame betont, wird eine syntagmatische Biographie vor allem die Differenz zwischen dem Leben des Biographierten und zeitgleichen Lebensläufen herausstellen und spezifisches Augenmerk auf die Andersartigkeit der individuellen Handlungen legen. Den Fokus der paradigmatischen Biographie bildet folglich die Egalität, den der syntagmatischen Biographie die Originalität. Widmet man sich biographischen Erzählungen unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung des Lebensendes, dann dürfte schnell klar sein, dass die paradigmatische Biographie hier nur am Rande interessiert. Da das einzelne Leben des Biographierten in der paradigmatischen Biographik letztlich eher als eine Art „Mittel zum Zweck“ fungiert, um allgemeine gesellschaftliche, politische oder soziale Tendenzen zu verdeutlichen, kommt dem jeweils stellvertretend Biographierten keine allzu große Bedeutung zu, auch wenn sein Ende sehr wohl in den meisten Fällen auch das Ende der biographischen Erzählung markiert. Beispielhaft sei die entsprechende Passage aus Herberts Best-Buch angeführt, wo es heißt: Am 13. April 1989 erklärte der als Gutachter bestellte Arzt Best […] für verhandlungsfähig. Daraufhin legte die Staatsanwaltschaft Düsseldorf am 5. Juli 1989 dem Landgericht Duisburg die leicht erweiterte Anklageschrift vor […]. Best war jedoch zwei Wochen zuvor, am 23. Juni 1989, bereits gestorben.¹²
Interessant scheint hier eher die Tatsache zu sein, dass die Staatsanwaltschaft letztlich doch Anklage gegen Best erhebt – der bei Herbert eben als Stellvertreter seiner politischen Generation betrachtet wird –, weil er für verhandlungsfähig gehalten wird. Dass er zwei Wochen zuvor bereits gestorben war, wird hier al-
Vgl. Olaf Hähner, Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Frankfurt am Main: Lang, 1999). Vgl. hierzu weiterführend: Christian Klein und Falko Schnicke, Legitimationsmechanismen des Biographischen: Bestimmung und Systematik, in: dies., Hg., Legitimationsmechanismen des Biographischen. Kontexte – Akteure – Techniken – Grenzen (Bern: Peter Lang, 2016), 9 – 36. Herbert, Best (s. Anm. 9), 521.
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lenfalls als Faktum präsentiert, das die Eröffnung des Verfahrens endgültig verhindert hat. Im Folgenden soll es vor diesem Hintergrund vor allem um syntagmatische Biographien gehen, in deren Zentrum solche Personen stehen, die für eine besondere Leistung bekannt sind. Bevor es aber um die textuelle Modellierung des Lebensendes im Einzelnen gehen soll, sind einige allgemeine Ausführungen zu den Regeln biographischen Erzählens notwendig.
2 Kommunikationsangebot Biographie Der Terminus „Biographik“ fungiert bekanntlich als Überbegriff für die Gesamtheit medialer Repräsentation des Lebens anderer. Er umfasst mithin unterschiedlichste Varianten in verschiedenen Diskursen: Da stehen biographische Kleinformen neben wissenschaftlichen Großprojekten, die aus jahrelanger Forschungsarbeit hervorgehen und sich aus kritischer Distanz möglichst dicht an den Fakten entlang bewegen, neben literarischen Formen, die, ausgehend von historischen Begebenheiten, ein erzählerisches Panorama entwerfen, in dem durchaus Freiraum für Fiktion und Imagination besteht. Und es finden sich jene schnell geschriebenen Populärpublikationen, die das Leben eines Prominenten präsentieren und, häufig in enger Zusammenarbeit mit diesem entstehend, vor allem dessen Selbstinszenierung fortschreiben. Und biographische Darstellungen in anderen Medien wie etwa Film, Oper oder Comic sind in dieser unvollständigen Aufzählung noch gar nicht erwähnt. Im Zentrum einer Biographie – hier verstanden als textuelle Repräsentation eines fremden Lebens – steht immer eine reale Person (eher ausnahmsweise auch mehrere). Indem Biographien die Ereignisse aus dem Leben der biographierten Person(en) als eine zusammenhängende Ereignisfolge präsentieren, sind sie Erzählungen. In diesem allgemeinen Sinne lässt sich freilich in allen möglichen Medien biographisch erzählen. Biographisches Erzählen konstituiert sich also über den Gegenstand und ist daher in allen Medien möglich, in denen Erzählen möglich ist. Zwar finden sich vereinzelt auch fingierte Biographien, die das Leben einer fiktiven Person zum Gegenstand haben, diese sind aber keine Biographien im klassischen Sinne. Biographien zählen prinzipiell zu den faktualen Texten, die eine ganz besondere Rezeptionshaltung evozieren. Denn ihr Leser erwartet nicht die Schilderung eines möglichen (oder gar fantastisch-unmöglichen), sondern eines wirklichen Geschehens. Textpragmatisch zeichnen sich faktuale Erzählungen im Gegensatz zu fiktionalen dadurch aus, dass der Autor zugleich auch der Erzähler seines Textes ist. Er muss für die Wahrheit der vorgebrachten Behauptungen einstehen. Verfasser faktualer Texte schließen mit ihren Lesern eine Art
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Abkommen. Indem sie ihren Text als faktual markieren, sichern sie zu, dass sie wahrhaftig, knapp, klar und relevant berichten.¹³ Gérard Genette spricht in diesem Zusammenhang von einer „Wahrheitsverpflichtung“ des Autors faktualer Texte,¹⁴ Philippe Lejeune von einem „Pakt“¹⁵. Dieser Pakt, der aus der Identität von Autor und Erzähler resultiert, erlaubt es dem Leser einerseits, das Geschilderte sinnvoll auf außertextuelle Wirklichkeit zu beziehen, andererseits bietet er dem Autor überhaupt erst die Möglichkeit, in ernst zu nehmender Weise auf außersprachliche Wirklichkeit zu rekurrieren. Zu klären, wie es dazu kommt, dass ein Text diese Erwartungshaltung beim Leser weckt, wäre Aufgabe einer Pragmatik biographischen Erzählens. Mit der Lektüre von Biographien sind also spezifische Erwartungshaltungen verbunden, die von diesen evoziert werden und zu denen sich jede biographische Repräsentation zu verhalten hat. Nur so kann der jeweilige Kommunikationsversuch zwischen Sender und Empfänger gelingen, als der jede biographische Darstellung zu betrachten ist. Von einer Biographie wird erwartet, dass sie zuverlässige Informationen über das Leben einer anderen Person liefert, die im Rahmen einer sinnhaften (und idealerweise: gut oder sogar spannend lesbaren) Erzählung präsentiert werden. Es gibt eine Reihe von Techniken, Strategien und Rahmenbedingungen, die zur Evokation dieser Erwartungsansprüche und zu deren Einlösung beitragen können. Damit ein Text als Lebensbeschreibungen wahrgenommen und akzeptiert, damit also das „Kommunikationsangebot Biographie“ angenommen wird, steht ein breites Repertoire an Techniken zur Verfügung: Autorschaftsinszenierungen, Quellenverweise, Paratexte, Erzählstrategien, gezielte Rechtfertigungen etc. Inwieweit diese Techniken überhaupt bzw. eher gehäuft oder selten, explizit oder verdeckt zum Einsatz kommen, hängt unter anderem vom Diskurs ab, in dem sich der Text positioniert. In Abhängigkeit vom diskursiven Zusammenhang, für den eine Biographie geschrieben wird, sieht sich der Biograph genötigt, seine Erkenntnisse auf unterschiedliche Art und Weise zu begründen. Die Positionierung der Biographie im diskursiven Zusammenhang hat folglich unmittelbare Auswirkungen auf die Art und Weise der Darstellung. So verleiht der Verfasser einer wissenschaftlichen Biographie seinem Text und seinem Verstehensangebot über den Verweis auf entsprechendes Quellenmaterial Autorität und expliziert sein Vorgehen. Demge Christian Klein und Matías Martínez, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: dies., Hg.,Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens (Stuttgart: Metzler, 2009), 1– 13, hier 3. Gérard Genette, Fiktion und Diktion (München: Fink, 1992), 78 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994).
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genüber legitimiert im Falle einer populären Biographie zum Beispiel die persönliche Beziehung zwischen Biograph und Biographiertem das textuelle Verstehensangebot (während im Falle einer wissenschaftlichen Biographie eine persönliche Beziehung die Autorität des Biographen ggf. sogar unterminieren könnte). Stephan Porombka hat darauf hingewiesen, dass zu den typischen Merkmalen der populären Biographie (neben etwa der Synthetisierung – sie geht nicht aus einer eigenständigen wissenschaftlichen Forschungsarbeit hervor, sondern bezieht sich, ohne das sichtbar zu machen, auf bereits gesicherte Quellen und publizierte biographische Studien) insgesamt die Intimisierung zählt: So gehe es bei der Bearbeitung des Materials im Rahmen einer populären Biographie um „die Herstellung einer geradezu intimen Nähe. Die biographierte Person soll den Lesern so vertraut sein, dass sie ihre geheimsten Neigungen kennen lernen und mit ihr mitfühlen können.“¹⁶ Wie erkennen wir aber, dass uns ein Text das „Kommunikationsangebot Biographie“ unterbreitet? Zwar bildet der „eigentliche“ Text das Zentrum dessen, was in den Regalen der Buchhandlungen in der Abteilung „Biographie“ liegt, allerdings tritt dieser „Text-Kern“ nie ohne Begleitung vor seine (potenziellen) Leser, sondern wird eingerahmt und begleitet von solchen Elementen, die ihn erst zum Buch machen, ihn präsentieren und seine Wahrnehmung steuern. Die Gesamtheit dieser rezeptionssteuernden Elemente, die den „eigentlichen“ Text umgeben, bezeichnet Gérard Genette in seiner grundlegenden Studie zum Thema als „Paratexte“.¹⁷ Zu den paratextuellen Elementen zählen (neben anderen): Format, Umschlag, Autorname, Titel und Zwischentitel, Titelseite, Waschzettel, Widmung, Motto, Vorwort, Anmerkungen. Auch erste Hinweise darauf, dass man einen Text vorliegen hat, der einem das „Kommunikationsangebot Biographie“ unterbreitet, liefern zumeist paratextuelle Elemente. Indem der Autor seinen Text mit der Gattungsangabe „Biographie“ versieht, gibt er zu verstehen, dass er seinen Text als faktual verstanden wissen will, dass er also einen Text präsentiert, der (wie reflektiert und defizitär auch im Einzelnen) zu schildern beabsichtigt, wie es (in diesem Falle: das Leben der biographierten Person) tatsächlich gewesen sei. Oft liefern Paratexte auch erste Hinweise darauf, welche Lesergruppe die jeweilige Biographie ansprechen will, welche Aspekte der Persönlichkeit des Biographierten besonders gewürdigt werden. Indem etwa Untertitel wie „Eine wissenschaftliche Biographie“ gewählt
Stephan Porombka, Populäre Biographik, in: Klein, Hg., Handbuch Biographie (s. Anm. 2), 122 – 131. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (Frankfurt am Main: CampusVerlag, 1992).
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werden oder der Klappentext „Unterhaltsame Porträts berühmter Persönlichkeiten“ ankündigt.
3 Erzählen von Leben und Tod Wir wissen, dass jede Biographie eine Erzählung ist – und zwar eine Erzählung, die durch verschiedene Merkmale eine besondere Haltung beim Leser evoziert. Um die erzählerische Gestaltung des Todes der Biographierten richtig verstehen zu können, der meist am Ende der Biographien geschildert wird, ist es notwendig, zunächst einen Blick auf den Anfang der biographischen Darstellung zu werfen. Es fällt auf, dass in vielen syntagmatischen Biographien schon zu Beginn der Erzählung ganz bestimmte Umstände oder Eigenschaften der Biographierten betont werden, die als charakteristisch für die Biographierten inszeniert werden und das spätere Wirken (zumindest dem Erzählzusammenhang nach) bedingen. Auf diese Weise wird von Anfang an Besonderheit als Wesensmerkmal im Sinne einer ordnenden Verständniskategorie etabliert, die sich im Verlauf der Erzählung allenfalls thematisch konzentriert und verstärkt. So fragt Wolfram Pyta in seiner Hindenburg-Biographie gleich zu Beginn: „Gab es grundlegende Prägungen in Hindenburgs ersten 67 Jahren, die sein Leben als Feldmarschall und später als Reichspräsident bestimmt haben?“¹⁸ Und er gibt gleich selbst die Antwort darauf: Die Grundlagen für Hindenburgs Laufbahn wurden früh gelegt. Schon als Kind lernte er das militärische Leben kennen, und er hat sich wohl niemals etwas anderes gewünscht, als Offizier zu werden. […] Als Paul von Hindenburg am 2. Oktober 1847 in Posen das Licht der Welt erblickte, war sein Vater dort als Leutnant stationiert. Angesichts der Neigungen des Knaben war es nur konsequent, daß der junge Paul 1859 in eine Kadettenschule […] eintrat. In diesen Einrichtungen verband man die schulische Ausbildung auf dem Niveau eines Realgymnasiums mit der Einübung militärischer Grundfertigkeiten. Paul von Hindenburg hat während der Kadettenzeit Pflichtbewußtsein und Ausdauer erkennen lassen […].¹⁹
Hindenburg wird hier als „geborener“ Soldat präsentiert. Explizit werden Disziplin und Durchhaltevermögen als entscheidende Wesensmerkmale Hindenburgs in Szene gesetzt; das Militärische wird als Leitkategorie etabliert. Von Anfang an wird Hindenburgs Weg zum einflussreichen Militär und späteren Staatsmann so erzählerisch vorgeprägt und seine Karriere im hohen Lebensalter erscheint eben nicht zuletzt als Konsequenz seines Durchhaltevermögens.
Wolfram Pyta, Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler (München: Siedler, 2007), 13 f. Ebd., 14.
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Ähnlich verfährt Reinhard Griebner in seiner Albert Schweitzer-Biographie, wenn es im Kapitel über Schweitzers Kindheit heißt: „Aber es gibt etwas anderes, das ihn früh von seinen Schulfreunden unterscheidet. Und ihm infolgedessen einiges Kopfzerbrechen bereiten wird, ein Leben lang. […] Albert Schweitzer kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Es gibt für ihn kein fremdes Leid.“²⁰ Im Anschluss daran wird eine Anekdote erzählt, die Schweitzers Fähigkeit zum Mitleiden auf den Punkt bringen soll, wenn er nämlich den Spott seiner Schulkameraden auf sich nimmt, um nicht mit einer Schleuder auf Vögel zu schießen. Die besondere ethische Dimension von Schweitzers Handeln (die ihn von seinen Mitschülern „unterscheidet“), seine Empathie und sein Einsatz für die schutzbedürftige Kreatur ungeachtet persönlicher Nachteile werden hier als handlungsleitende Eigenschaften eingeführt und in einem vorausdeutenden Hinweis („ein Leben lang“) als Folie für Schweitzers gesamtes Leben etabliert. Ganz den erzählerischen Regeln des jeweiligen Diskurses folgend, die die Rhetorik der Distanz für die wissenschaftliche Biographik einfordern und die Rhetorik der Intimisierung für die populäre Biographie,²¹ stellen Pyta und Griebner den Tod ihrer jeweiligen Protagonisten dar. Bemerkenswert ist dabei, wie sie die gleich zu Beginn etablierten verständnisleitenden Kategorien aufgreifen und den Tod letztlich als letzte Manifestation dieser Eigenschaften inszenieren. So hält Pyta im Hinblick auf das Ende Hindenburgs fest: Am 31. Juli 1934 verschlechterte sich der Gesundheitszustand Hindenburgs rapide. Bis dahin hatte der Reichspräsident noch eisern Dienstpflichten wahrgenommen und im Juli sogar diplomatischen Besuch empfangen. Trotz der sich verschlimmernden Blasenerkrankung hatte er täglich seine gewohnten Spaziergänge unternommen. Selbst als die Krankheit ihr Endstadium erreichte, blieb Hindenburg im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Erst 20 Stunden vor dem Ableben fiel er in Bewusstseinstrübungen, erkannte aber Hitler, als dieser den Sterbenden am Nachmittag des 1. August aufsuchte. Am Morgen des 2. August 1934 um 9 Uhr starb Hindenburg.²²
Der Tod wird hier maximal sachlich, als Konsequenz aus medizinischen Fakten dargestellt, gleichzeitig aber betont, dass Disziplin und Pflichtgefühl bis zu seinem Ende die entscheidenden Eigenschaften in Hindenburgs Leben waren. Ganz anders die Darstellung des Todes von Schweitzer bei Griebner. Hier ist nicht mehr Distanz das erzählerische Prinzip, sondern Nähe:
Reinhard Griebner, Der lachende Löwe. Eine Albert-Schweitzer-Biografie (Heidelberg: Morio Verlag, 2014), 15. Vgl. hierzu: Porombka, Populäre Biographik (s. Anm. 16), sowie Anita Runge, Wissenschaftliche Biographik, in: Klein, Hg., Handbuch Biographie (s. Anm. 2), 103 – 112. Pyta, Hindenburg (s. Anm. 18), 855.
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Die ersten Septembertage des Jahres 1965; Albert Schweitzer liegt in Doktorhaus, immer wieder fallen ihm die Augen zu. Er weiß, dass die holländische Pflegerin Alida Silva an seinem Bett wacht; jederzeit bereit, ihm den kleinsten Wunsch von den Lippen abzulesen. Hin und wieder wischt sie ihm den Schweiß von der Stirn, betupft mit einem feuchten Schwamm seinen Mund. „Ist das wahr Papa, oder hast du dir das ausgedacht?“, hört er wie durch einen Vorhang hindurch seine Tochter fragen. Merkwürdigerweise paart sich die Stimme des Kindes mit dem Gesicht der erwachsenen Frau. Ein müdes Lächeln huscht über Schweitzers Gesicht. Er muss an jene Geschichte denken, die er Rhena wiederholt erzählt hat. […] Abendlicht flutet durch die Fenster, ein purpurfarbener Sonnenstrahl verglimmt auf Schweitzers bleichem Gesicht. Eine Brise fährt durch die Palmwedel. […] Was nun kommt, muss er mit sich allein abmachen. Er ist bereit zur letzten Reise, das Ticket dafür hat er wie jedes Geschöpf Gottes gebucht in der Stunde seiner Geburt. Er hat das Regelwerk des Lebens studiert. Er kennt den Kreislauf der Natur. So viele, die ihm nahe standen, sind vor ihm gegangen. Auch die Gnade des biblischen Alters hat ihren Preis, sie ist erkauft durch endlose Momente der Einsamkeit. Er ist da, wo er hingehört, in Lambarene. […] Am nächsten Morgen um sechs Uhr läutet die Glocke des Spitals. Die Menschen in den umliegenden Dörfern verstehen die Nachricht: Der ‚Oganga‘ ist tot.²³
Die Passage ist im Präsens gehalten, und die Sequenzen in direkter Rede lassen beim Leser den Eindruck einer relativen Unmittelbarkeit entstehen, als wäre er „live“ dabei. Man bekommt sogar Einblick in Schweitzers Gedanken und erfährt, was er fühlt. Die Ergänzung zahlreicher atmosphärischer Eindrücke erleichtert es dem Leser, sich die Szenerie genauer vorzustellen. Gleichzeitig wird der Tod hier als eine Art Erlösung und als „richtig“ geschildert, ist Schweitzer doch da, wo er hingehört. Besonders interessant ist allerdings, dass Schweitzers eigentlicher Tod gar nicht geschildert wird. Erst über die Spiegelung in den Reaktionen der Menschen in den umliegenden Dörfern, erfährt der Leser, dass Schweitzer gestorben ist. Der Biograph lässt Schweitzer hier also im Moment seines Todes zurücktreten hinter die Gefühle derjenigen, denen Schweitzer seine letzte Kraft gewidmet hat. Das ist insofern konsequent, als Empathie und Hingabe für andere ja gleich zu Beginn der Biographie als handlungsleitende Eigenschaften Schweitzers etabliert worden waren. Die Wiedergabe mentaler Zustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche) fremder Personen belastet den Glaubwürdigkeitsanspruch einer Biographie in besonderem Maße. Während uns unsere eigene Psyche in der Regel einigermaßen zugänglich ist, besitzen wir keinen direkten Zugang zur Innenwelt anderer. Dennoch verzichten wohl die wenigsten Biographen auf die Darstellung psychischer Vorgänge. In der Regel macht der Biograph dabei aber seinen Lesern deutlich, dass die von ihm dargestellten Bewusstseinszustände zwar nicht nachweisbar, aber doch zumindest plausibel sind. Dafür kann er sich beispielsweise schlicht auf Griebner, Der lachende Löwe (s. Anm. 20), 326 – 329.
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seine psychologische Intuition beziehen, die ihn vermuten lässt, dass man in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise reagiert, oder aber er beruft sich auf Dokumente, die es zumindest nahelegen, dass eine Person in einer gegebenen Situation die vom Biographen unterstellten Gedanken usw. tatsächlich gehabt hat. So finden sich in Pytas Schilderung nur wenige Hinweise auf die Innenwelt Hindenburgs in seinen letzten Stunden, und die wenigen werden alle aus äußerlichen Beobachtungen abgeleitet bzw. durch Quellenverweise beglaubigt. Demgegenüber wird uns in der Darstellung von Schweitzers Ende eine regelrechte Seelenschau präsentiert: Man erfährt, was er in den letzten Stunden denkt und dass er bereit für „die letzte Reise“ ist. Woher der Biograph das so genau weiß, erfährt man indes nicht. In populären Biographien finden sich insgesamt häufiger als in wissenschaftlichen Biographien Passagen, in denen mentale Zustände wiedergegeben werden. Diese biographische Variante nimmt insgesamt einen größeren darstellerischen Freiraum in Anspruch, weil der Leser hier den „Wahrheitsvertrag“ mit dem Autor etwas großzügiger auslegt. Ein Vergleich der Sterbeszenen aus zwei Biographien zu Heinrich Heine soll diese Beobachtungen zur wissenschaftlichen und zur populären Biographik noch einmal verdeutlichen: Es gibt einen kurzen Gruß Heines an Alexander von Humboldt, der noch erschütternder ist als die Berichte von seinen letzten Stunden und von seinem Tod; es ist nur dieser eine Satz: „Dem großen Alexandros sendet seinen letzten Gruß der sterbende H. Heine.“ […] Sicher ist, dass Heine trotz größter Beschwerden bis in die letzten Lebensstunden zu arbeiten versuchte. Seine Pflegerin Catherine Bourlois berichtete, er habe am 13. Februar volle sechs Stunden gearbeitet. Am 14. Februar setzten starke Brechanfälle ein, die durch ständige Einnahme starker Drogen verursacht waren. […] Heinrich Heine war offenbar bis zuletzt bei vollem Bewusstsein. Er starb am 17. Februar 1856, morgens 5 Uhr. Dr. Gruby schrieb in einer kurzen Nachricht an Maximilian, dass sein Bruder infolge von Schwäche gestorben sei.²⁴
Kerstin Decker schildert das Sterben Heines in ihrer Biographie folgendermaßen, wobei der Beginn der Passage das dominante Narrativ der Darstellung aufgreift, das sich bereits im Untertitel „Narr des Glücks“ findet: Man hat noch niemals gehört, daß Sterbende besonders witzig sind. Er ist es. Er ist Heinrich Heine. Nur wie er seiner Mutter erklären soll, daß er gerade noch viel mehr stirbt als sonst und daß es diesmal ernst ist, weiß er nicht. […] Am 12. Februar sieht er die Mouche. Sein ‚Endlich bist du da!‘ klingt beinahe streng. Sie ist ein paar Tage nicht gekommen, sie war auch krank, aber das weiß er nicht. Sie sagt nichts, doch er spürt die Verhärtung, seine Kälte tut ihm leid, erzieht versöhnen an ihrem Hutband. Nimm den Hut ab, daß ich dich besser
Wolfgang Hädecke, Heinrich Heine. Eine Biographie (München: Hanser, 1985), 530 f.
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sehe! Sie beginnt zu weinen, und er liegt in die Hand auf den Kopf. Zum letzten Mal. Er ist der Tröstende, noch immer. Am 13. Februar arbeitet er volle 6 Stunden, sagt seine Pflegerin Catherine. Am 14. Februar bekommt er starke Brechanfälle. […] Man sorgt sich in allerletzten Stunden traditionell mehr noch um die Seele als um den Leib. Und gibt seine Seele nicht ganz besonderen Anlaß zur Besorgnis kommen? Es mag schon sein, daß man ihn jetzt noch ermahnt, sein Verhältnis zu Gott zu klären. […] Ob er Gott verzeihen kann, weiß er noch nicht. Ein hellwacher Geist, fast ein Jahrzehnt eingekerkert in den Leib eines Toten. Er ist bis zum letzten Augenblick bei vollem Bewusstsein. Heinrich Heine stirbt am 17. Februar morgens um 5 Uhr in Catherines Armen. Es ist ein Sonntag.²⁵
Während bei Hädecke in der Vergangenheitsform berichtet wird, setzt Decker auf das Präsens und betont durch Formulierungen wie „daß er gerade“ die Gegenwärtigkeit ihrer Darstellung.Während Hädecke durch ein „offenbar“ die Tatsache, dass Heine bis zum Schluss bei Bewusstsein war, als Vermutung ausweist, formuliert es Decker als Faktum. In Deckers Schilderung erhält der Leser schließlich auch Einblicke in Heines Innenwelt („weiß er nicht“, „seine Kälte tut ihm leid“). Zahlreiche Schilderungen von nebensächlichen Details („zieht am Hutband“) und die Verwendung von direkter Rede erwecken den Eindruck einer unmittelbaren Präsentation. Deutlich wird insgesamt, dass in den ausgewählten Beispielen der Tod relativ unaufgeregt geschildert wird. Das hat sicher damit zu tun, dass die Biographen aus großer zeitlicher Distanz berichten und keine persönliche Beziehung zum Biographierten hatten. Klar wird aber auch, dass die Auswahl der Handlungselemente und die Art der biographischen Darstellung in den geschilderten Fällen früh eine Richtung vorgeben, in der für Zufälle kaum Platz bleibt. In gewisser Hinsicht spiegelt sich in dieser Beobachtung ein grundsätzliches Dilemma, das der Biographie immer wieder Kritik eingebracht hat – dass der Biograph nämlich gar nicht anders könne, als die fragmentarischen Lebenszeugnisse im Wissen um das Ende zu einer Erzählung auszuwählen und zusammenzufügen. Michael Coors geht in seinem Beitrag in diesem Band auf die Relevanz des Narrativs vom „guten Sterben“ in der lebensweltlichen Kommunikation ein. So ist eine Vorstellung vom „guten Sterben“ weit verbreitet, zu deren elementaren Bestandteilen unter anderem folgende Aspekte zählen: die Selbstbestimmtheit, der „runde Abschluss“ und die Begleitung. Zum Narrativ vom „guten Sterben“ zählt mithin einerseits, dass der Sterbende als „Regisseur“ und als Handelnder bis zum Schluss die Fäden in der Hand hält und nicht zum Objekt wird. Andererseits ist die
Kerstin Decker, Heinrich Heine. Narr des Glücks. Biografie (Berlin: Propyläen, 2005), 413 f.
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Idee, dass der Tod „stimmig“ sein soll, dass der Tod das Leben harmonisch abrundet, von zentraler Bedeutung. Und schließlich scheint es wichtig zu sein, dass man im Sterben nicht einsam ist, also Menschen an seiner Seite hat, die einen im Sterbeprozess begleiten. Diese Aspekte sind auch für die Darstellung des Todes in den zitierten Biographien leitend.Vor dem Hintergrund der Parameter der Selbstbestimmtheit und Abrundung inszenieren alle Texte Varianten eines „guten Sterbens“. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass in allen Beispielen der Tod der Biographierten deren Leben spiegelt. In der Darstellung des Sterbens werden typische prägende Eigenschaften der Biographierten noch einmal aufgerufen, sodass man in den zitierten Fällen klar vom „stimmigen Sterben“ sprechen kann. Im Hinblick auf Hindenburg und Heine wird die Selbstbestimmtheit betont, wenn herausgestellt wird, dass beide fast bis zum Ende bei Bewusstsein waren, also Herren ihres Handelns blieben. Und zumindest bei Schweitzer und Heine („in den Armen Catherines“) sterben die Biographierten auch begleitet, sind also im Moment des Todes nicht allein. Sehr deutlich wird an dieser Stelle, wie eng faktual-literarische und lebensweltliche Kommunikation miteinander verwoben sind – sie beeinflussen sich gegenseitig und wirken aufeinander zurück. Die alltagsweltlichen Vorstellungen vom „guten Sterben“ prägen die biographischen Darstellungen und umgekehrt. Nun lässt sich im Hinblick auf die angeführten Beispiele einwenden, dass es in diesen Fällen naheliegend und einfach ist, das Sterben harmonisch in die Erzählung des Lebens der Biographierten einzupassen, ein „gutes Sterben“ zu präsentieren, da die Protagonisten entweder alt und/oder lange krank waren und der Tod mithin nicht überraschend kam und sich durchaus als „runder Abschluss“ darstellen lässt. Wie verhält es sich aber dann, wenn der Tod plötzlich eintritt, der Mensch „aus dem Leben gerissen“ wird, denn ein solcher Tod scheint nicht ohne Weiteres in das Narrativ vom „guten Sterben“ integrierbar zu sein? „Roland Barthes starb am 26. März 1980.“²⁶ So lautet der erste Satz in Tiphaine Samoyaults Biographie über den Philosophen und Intellektuellen, der 64jährig vier Wochen nach einem Autounfall an dessen Folgen verstarb. Das erste Kapitel, der Prolog der Biographie, trägt die Überschrift „Der Tod von Roland Barthes“ und beschäftigt sich mit der Frage, woran Barthes denn nun eigentlich gestorben sei. Denn diese Frage stehe „nach wie vor und trotz der eindeutigen medizinischen Diagnose im Raum“²⁷. So werden Zeitgenossen zitiert, die der
Tiphaine Samoyault, Roland Barthes. Die Biografie (Berlin: Suhrkamp, 2015), 7. Ebd., 19.
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Meinung sind, dass sich Barthes nach dem Tod seiner Mutter habe fallen lassen und zum Sterben bereit gewesen sei: „Julia Kristeva hatte indes das Gefühl, er habe sich bewusst entschieden, sich aufzugeben.“²⁸ Die Biographin betont, dass es weitere Gründe für eine Depression oder möglichen Todeswunsch gegeben habe: „Denn in dieser Zeit kommt zur inneren Einsamkeit die gesellschaftliche Isolation hinzu, ein Gefühl des Ausgegrenztseins.“²⁹ Und so wird Barthes’ zwei Monate vor seinem Tod erschienene Buch Die helle Kammer in der biographischen Erzählung „zum Vorzeichen, zum von Todessehnsucht geprägten Text“³⁰. Auch wenn sich die Biographin gegen allzu schnelle Psychologisierungen verwahrt und einräumt, dass der Kurzschluss vom Tod der Mutter auf das Verlöschen des Sohnes wohl auch dem Bedürfnis nachkomme, „das Leben zu einer abgerundeten Erzählung zu machen“³¹, so etabliert sie doch von Anfang an den Tod als Leitmotiv für ihre Erzählung: „Etwas vom Tod überrollte sein Leben und drängte ihn zum Schreiben.“³² Der Tod prägte dieser Deutung zufolge Barthes’ Leben und Schreiben von Anfang an. Sein Ende wirkt vor diesem Hintergrund gar nicht mehr so zufällig wie es die Kollision mit einem Lieferwagen nahelegen könnte, sondern besitzt eine gewisse Plausibilität und Folgerichtigkeit. Am Schluss der Biographie heißt es: „Er lebte noch einen Monat. Er bekam Besuche, doch er ist mit niemandem mehr in Kontakt getreten. Er hat nichts mehr getan, nicht mehr geschrieben.“³³ So klingt diese Beschreibung in Verbindung mit dem Anfang des Buches, wo über Barthes’ Zustand nach dem Unfall gesagt wird, er „steht unter Schock, ist jedoch bei vollem Bewusstsein“³⁴, als habe er sich bewusst der Welt verweigert und für den Tod entschieden. So scheint dann auch diese Biographie dem Narrativ des „guten Sterbens“ zu folgen: Das Ende ist abgerundet, selbstbestimmt und nicht einsam (auch wenn der Kontakt hier nicht mehr aufgenommen wird). Die in der Auseinandersetzung mit diesen Beispielen nur angedeutete Analyse der Handlungselemente und der Blick auf die darstellerischen Mittel geben also nicht nur Aufschluss über die Anlage der Textstruktur, sondern liefern auch Hinweise auf die Intention des Biographen, das zugrundeliegende Narrativ und den Sinn der Erzählung.
Ebd., 12. Ebd., 18. Ebd. Ebd., 11 f. Ebd., 20. Ebd., 839. Ebd., 8.
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4 Zum Status der Biographie als faktualem Text Was bedeutet das bisher Gesagte für den Status der Biographie als Text? Jedenfalls nicht, dass die faktualen Biographien aufgrund der Etablierung bestimmter narrativer Verständnismuster oder des Einsatzes spezifischer, gemeinhin eher der Literatur vorbehaltener stilistischer Mittel zu fiktionalen Texten würden. Der Geltungsanspruch der Biographien, das Leben der Biographierten zuverlässig zu erzählen, bleibt durch diese Beobachtungen jedenfalls zunächst unberührt – und sie werden auch weiterhin so rezipiert. Zwar gilt eine spezifisch künstlerische Sprachverwendung gemeinhin als Merkmal literarischer Texte. Diese wichen in ihrem Stil und ihrer Sprache von der Norm ab, denn die Hauptfunktion von Sprache als Kommunikationsmedium zur Mitteilung konkreter Sachverhalte werde hier eingeschränkt. Diese Normabweichung geschehe durch literaturspezifische Ausdrucksmittel (rhetorische Stilmittel etc.). Doch auch wenn Biographien in diesem Verständnis nie „rein“ literarische Texte sind, weil sie stets reale Inhalte vermitteln wollen, die referentielle Funktion folglich mitnichten aufgehoben ist, so sind viele Biographien doch von einem deutlich sprachkünstlerischen Anspruch gezeichnet. Die intensive Verwendung von sprachlichen Bildern oder auch von literarischen Techniken wie dem Einsatz von Leitmotiven heben auch zahlreiche wissenschaftliche Biographien von anderen faktualen Textsorten ab. Je stärker allerdings solche als genuin literarisch konnotierten Techniken eingesetzt werden, desto deutlicher müssen Biographen ihren faktualen Geltungsanspruch auf anderem Wege untermauern (etwa durch Fußnoten), damit beanspruchte faktuale Geltung der Biographie nicht unterminiert wird. Spätestens seit Hayden White ist die Bedeutung bestimmter Plot-Strukturen und -Modelle auch für das faktenbasierte Erzählen bekannt. Whites Überlegungen zum historiographischen Erzählen auf die Biographik übertragend, lässt sich folgern, dass der Biograph sein Material in Form von Ereignissen vorfindet, die er zunächst (meist) zeitlich ordnet oder, in Whites Terminologie: die er zu einer „Chronik“ zusammenstellt. Im Anschluss daran verleihe der Biograph der Chronik eine Struktur (Anfang, Mitte, Ende) – White spricht auf dieser Integrationsebene von einer „Story“. Doch er geht noch einen Schritt weiter und fragt nach dem Sinn der Erzählung. Der Sinn lasse sich, so White, erst erfassen, wenn man die Erklärung des Geschehens berücksichtige, wobei hier die Einbettung in ein übergeordnetes Handlungsschema („emplotment“) besonders wichtig ist: Der Sinn der Handlung finde sich, so Whites These, in einem quasi archetypischen Handlungsschema, das die Erzählung grundiert. Bei White sind es vier Schemata: Romanze (Erlösungsgeschichte, Selbstfindung des Helden, der Hindernisse
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überwindet, Triumph des Guten über das Böse), Satire (Art Gegenteil der Romanze, Mensch als Gefangener der Welt, unausweichliche Niederlage gegen böse Mächte, widrige Umstände, gesellschaftskritische Entlarvung), Komödie (vorübergehende Versöhnung widerstreitender Kräfte, temporärer Triumph des Helden über seine Umwelt, hoffnungsvoll) und Tragödie (resignative Einsicht in Ursache von Konflikten, Vernichtung des Helden, wodurch diese Konflikte ansatzweise gelöst werden können).³⁵ Nun muss man sicher nicht Whites Kategorisierung folgen. Der Historiker Jan Eckel betont etwa, dass es „einen großen kulturellen Fundus an Erzählmustern [gibt], die sich vor allem in Mythologie, Sage, Religion und Literatur äußern und in historischen Darstellungen aktualisiert werden können“³⁶. So kann man z. B. auch Handlungsschemata wie Konversionsgeschichte, Opfergeschichte, Heldenreise, Schelmengeschichte, Verfallsoder Erfolgsgeschichte zugrunde legen. Unstrittig scheint aber, dass kulturell etablierte Narrative in biographische Darstellungen einfließen, wobei die Narrative natürlich ihrerseits wieder in engster Beziehung zu geistesgeschichtlichen Strömungen stehen. So ist etwa sehr deutlich, wie im 19. Jahrhundert der Bildungsroman oft als Folie der biographischen Darstellungen dient. Die Biographie als Erzählung bleibt dabei auf den Ebenen der Ordnung und Strukturierung durchaus dem Referentialitätsanspruch biographischen Erzählens verpflichtet. Auch wenn der Biographie ein bestimmtes Handlungsschema zugrunde liegt, erzählt sie deswegen nicht etwa einen Art Lügengeschichte, sondern bettet die Ereignisse in ein kulturell etabliertes Narrativ ein, wobei diese Muster nicht zwingend bewusst vom Biographen gewählt werden – sie sind im alltäglichen Denken so stark verankert, dass sie die Wahrnehmungsperspektive – teils unreflektiert – (mit‐)bestimmen. Ich habe versucht, im Hinblick auf die syntagmatische Biographik einige Beobachtungen zur Darstellung des Lebensendes der Biographierten zu präsentieren. Dabei fiel auf, dass sowohl die wissenschaftliche als auch die populäre Biographik oft früh im Erzählverlauf spezifische Eigenschaften der Biographierten als handlungs- und verständnisleitende Kategorien etablieren, die auch die Darstellung des Lebensendes prägen und sinnhaft einbetten. Während die wissenschaftliche Biographik allerdings die Rhetorik der Distanz pflegt, betreibt die
Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe (Baltimore: John Hopkins University Press, 1973). Jan Eckel, Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: ders. und Thomas Etzemüller, Hg., Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft (Göttingen: Wallstein, 2007), 201– 230, hier 215.
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populäre Biographik einen beträchtlichen erzählerischen Aufwand, um die Darstellung möglichst unmittelbar wirken zu lassen und die Distanz zu verringern. Das heißt aber nicht, dass die populäre Biographik notwendigerweise inhaltlich unzuverlässiger wäre als die wissenschaftliche. Es bedeutet lediglich, dass man im Hinblick auf die Analyse jedes biographischen Textes spezifische Kontextbedingungen mitbedenken muss – z. B. eben für welchen Diskurs die Biographie geschrieben wurde –, um die Darstellung „von der Wiege bis zur Bahre“ angemessen erfassen zu können.
Arnulf Deppermann
Multimediale Narration im Angesicht des Todes Zeugnisse terminaler KrebspatientInnen im Internet
1 Die mediale Präsenz des Sterbens Seit dem Zweiten Weltkrieg war der Umgang der westlichen Industriegesellschaften mit dem Sterben von einer zunehmenden Tabuisierung des Sterbens gekennzeichnet: Während in Werbung und Arbeitsmarkt zunehmend Jugend und Jugendlichkeit an Prestige gewannen, wurden Alter, Krankheit und Tod immer mehr an den Rand des gesellschaftlichen Lebens geschoben und aus der öffentlichen Kommunikation und dem beruflichen und familiären Alltag verbannt.¹ In den letzten Jahren allerdings können wir eine zunehmende Präsenz des Sterbens in der öffentlichen Aufmerksamkeit konstatieren. Diskurse um häusliche Pflege, Palliativmedizin und Sterbehilfe haben inzwischen einen festen Platz in der aktuellen politischen und ethischen Diskussion.² Im Internet haben sich verschiedene Formate der praktischen und reflexiven Auseinandersetzung mit Tod und Sterben herausgebildet: Formen der autobiographischen, religiösen und moralischen Reflexion und des Trauerns, Erfahrungsberichte und Blogs chronisch Kranker, Selbsthilfeplattformen und mediale Spendenaktionen. Akteure sind Betroffene und ihre Angehörigen bzw. Hinterbliebenen, aber auch religiöse, karitative und politische Organisationen. Nicht zuletzt haben künstlerische Verarbeitungen des Prozesses des eigenen Sterbens – prominent etwa von Christof
Ich bedanke mich bei Simon Peng-Keller für die Anregung zu diesem Beitrag. Wichtige Hinweise erhielt ich von den Herausgebern, den Teilnehmern der Tagung „Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am/vom Lebensende“ und von Axel Schmidt. Klaus Feldmann, Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick (Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004). Siehe z. B. Ekkehard Felder und Jörn Stegmeier, ‚Menschenwürdig sterben‘ versus ‚menschenwürdig leben bis zuletzt‘: Semantische Kämpfe in einem Textkorpus zum Sterbehilfe-Diskurs, in: Michael Anderheiden und Wolfgang U. Eckart, Hg., Handbuch Sterben und Menschenwürde (Berlin: de Gruyter, 2012), 329 – 346; Dies., Diskurstheoretische Voraussetzungen und diskurspraktische Bewertungen. Diskurse aus sprachwissenschaftlicher Sicht am Beispiel des Sterbehilfe-Diskurses, in: ebd., 375 – 415. https://doi.org/10.1515/9783110600247-007
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Schlingensief (2010) und Wolfgang Herrndorf (2010 – 2013) – die öffentliche Diskussion um den Prozess des Sterbens, sein Erleben und seine Bedeutung für die personale, soziale und leibliche Identität und Selbsterfahrung angeregt. Narrative Formate spielen naturgemäß die zentrale Rolle bei der autobiographischen Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod. Sie sind aber ebenso mächtige rhetorische Ressourcen der politischen Auseinandersetzung. So haben die Internetbotschaften von Brittany Maynard eine große öffentliche Diskussion der Sterbehilfe in den USA ausgelöst. Am 6. Oktober 2014 kündigte die 29-jährige kalifornische Psychologin via People.com an, dass sie nach Oregon gehen werde, um dort selbstbestimmt durch assistierten Suizid zu sterben. Innerhalb weniger Tage wurde das (kostenpflichtige!) Video mehr als vier Millionen Mal angesehen. Bis zum heutigen Tage wurde es über 16 Millionen Mal auf People.com³ und über 12 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Ausgelöst von Maynards Videobotschaften – eine zweite wurde am 29. Oktober 2014 gepostet – gelang es der Kampagne für ein right-to-die bill, die bereits seit 1991 mit wenig Erfolg lief, bis Ende 2015 in weiteren 24 Bundesstaaten der USA ein entsprechendes Gesetz durchzusetzen,⁴ während es zur Zeit von Brittany Maynards Tod am 1. November 2014 lediglich in vier Staaten ein entsprechendes Gesetz gegeben hatte. Dies ist ein prominentes Beispiel für die politische und gesellschaftliche Wirksamkeit des Narrativs. Richard Rorty hält das persönliche Narrativ für persuasiv effektiver als die aufklärerische, abstrakte, rationale Argumentation, da die konkrete Geschichte Empathie erzeuge, indem nämlich derjenige, der eine moralische Position einnimmt, zu einem konkreten anderen wird und diese Position in einer erlebten und nacherlebbaren Geschichte fundiert.⁵ Dennoch: Die öffentliche Wertung solcher Kommunikation divergiert. Sehen die einen in ihr aufklärerische Enttabuisierung und die längst überfällige (Re‐)Integration des Todes ins Leben, so verdächtigen andere die Protagonisten der schamlos-narzisstischen medialen Selbstüberhöhung und beklagen die politische und manchmal auch ökonomische Funktionalisierung von Leid und Trauer. Wenn Betroffene mit der Perspektive auf einen möglichen oder sicheren Tod im Internet erzählen, dann sind dies fast ausnahmslos Erzählungen von Krebs-
Michael Sebastian, Brittany Maynard Story Leads to Record Digital Traffic for People, Advertising Age, 6.11. 2014, http://adage.com/article/media/brittany-maynard-story-sets-digital-trafficrecord-people/295738 (letzter Zugriff: 24.02. 2017). David Klepper, Husband of Brittany Maynard lobbies for NY right-to-die bill, News OK, 25.02. 2016, http://newsok.com/brittany-maynards-husband-lobbies-for-ny-right-to-die-bill/article/ feed/972665 (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Richard Rorty, Heidegger, Kundera, and Dickens, in: Essays on Heidegger and Others, Vol. 2 (Cambridge: CUP, 1991), 66 – 82.
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patientInnen, die ‚vor der Zeit‘, d. h. weit vor dem Erreichen eines Alters in der Nähe der gegenwärtigen durchschnittlichen Lebenserwartung (die in Deutschland 2012/14 bei Männern bei 78, bei Frauen bei 83 Jahren lag⁶) mit dem baldigen Ende ihres Lebens konfrontiert sind. Die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben und die damit assoziierten Gehalte wie biographischer Rückblick, Trauer oder Sorge um Hinterbliebene wird im Internet also erst dann „reportable“,⁷ wenn sie im Kontext des Bruchs der existenziell relevanten Idealisierung einer normalen Lebenserwartung entsteht. Die Thematisierung der (möglichen) Todesnähe bedarf also einer als Ausnahme verstandenen Situation, die den bevorstehenden Tod zu einem tragischen und moralisch aufwühlenden Skandalon macht. Die Auseinandersetzung mit dem ‚normalen Tod‘, wie sie etwa in Hospizen an der Tagesordnung ist, bleibt dagegen für die öffentliche Kommunikation weiterhin kein Thema. In diesem Beitrag befassen wir uns mit multimedialen Narrationen von chronisch kranken, terminalen KrebspatientInnen im Internet. Wir nehmen dabei keine wertende Perspektive ein, sondern eine narratologische. Fokussiert wird auf erzählstrukturelle⁸ und auf erzählpragmatische Eigenschaften der Kommunikation, insbesondere auf Fragen der Identitäts- und Beziehungskonstitution.⁹ Diese Betrachtungsweise wird ergänzt um medienwissenschaftliche Perspektiven, die die Besonderheiten der Narrationen unter den Bedingungen der öffentlichen, editierten Kommunikation im Internet beleuchten.¹⁰ Im Folgenden werden wir zunächst zwei narrative Gattungen des Erzählens im Angesicht einer Krebskrankheit unterscheiden: das zukunftsoffene Erzählen und das Erzählen in Todesgewissheit (2.). Wir werden dann vertiefend auf the Vgl. Statistisches Bundesamt DESTATIS, Lebenserwartung in Deutschland, https://www.desta tis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Sterbefaelle/Tabellen/Lebenserwar tungDeutschland.html (letzter Zugriff: 24.02. 2017). William Labov, Narrative pre-construction, in: Narrative Inquiry 16/1 (2006), 37– 45; Neal Norrick, The dark side of tellability, in: Narrative Inquiry 15/2 (2005), 323 – 345. Vgl. Gérard Genette, Die Erzählung, 3. Aufl. (München: Fink, 2010); Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 9. Aufl. (München: C.H. Beck, 2012); Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 2. Aufl. (Göttingen: Vandenhoeck, 1982). Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität (Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2004); Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann, Narrative Identität und Positionierung, in: Gesprächsforschung 5 (2004), 166 – 183; Alexandra Georgakopoulou, Small Stories, Interaction and Identities (Amsterdam: John Benjamins, 2007); Arnulf Deppermann, Positioning, in: Anna De Fina und Alexandra Georgakopoulou, Hg., Handbook of Narrative Analysis (New York: Wiley-Blackwell, 2015), 369 – 387. Vgl. etwa Axel Schmidt, Medien | Interaktion. Zum Zusammenhang von Handeln und Darstellen am Beispiel faktualer Fernsehformate (Baden-Baden: Nomos, 2011). Ich danke Simon Peng-Keller und Axel Schmidt für hilfreiche Hinweise.
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matische narrative Strukturen der letzteren Gattung eingehen (3.). Schließlich widmen wir uns der medialen Verfasstheit der Narrationen im Angesicht des Todes im Internet (4.).
2 Gattungen der Narration im Angesicht des Todes im Internet Wir gehen im Folgenden von einem weiten Begriff von „Narration“ aus. Im Sinne einer minimalen Definition des Narrativen im Sinne etwa von David Carr ist konstitutiv, dass von zeitlichen Veränderungen, d. h. von mindestens zwei, in einem zeitlichen Abfolgeverhältnis zueinander stehenden Ereignissen die Rede ist.¹¹ Dies kann, muss aber nicht beinhalten, dass prototypische Erzählstrategien¹² wie isochrones Erzählen,¹³ Redewiedergaben,¹⁴ historisches Präsens, deiktische Versetzung, Spannungsdramaturgie mit Klimax etc. vorkommen. Im Gegenteil, die beiden im Folgenden vorzustellenden Gattungen unterscheiden sich in genau diesen Punkten. Zum anderen betrachten wir hier die Narration als pragmatische Großform, innerhalb derer nicht nur diegetische und mimetische Sätze vorkommen, sondern die als komplexer, prozessual strukturierter Handlungstyp auch argumentative und meta-narrative Passagen und Handlungen wie Wunschäußerungen, Aufforderungen an den Adressaten oder Ratschläge beinhaltet.¹⁵ Eine pragmatische, seine Funktion und Konstitutionsweise rekonstruierende Analyse des Erzählens erfordert es gerade, solche Einbettungen und Übergänge des Erzählens im engeren Sinne mit zu bedenken. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf Narrationen im oben genannten Sinne, die in Internetvideos vorkommen, in denen ausschließlich die Betroffenen selbst und ihre Angehörigen auftreten. Nicht betrachtet werden Dokumentationen, Reportagen und Nachrufe, bei denen die Perspektive eines Dritten leitend ist. Damit scheiden auch alle kommerziellen Produktionen aus. Stattdessen behandeln die Fallanalysen Internetvideos und Betroffene, die im Netz Prominenz erlangt haben, was sich jeweils an einer enorm hohen Zahl von views und Kommentaren ablesen lässt. Die Untersuchung beruht auf der Sichtung und (unterschiedlich detaillierten) Analyse von 20 Internetvideos.
David Carr, Time, Narrative, and History (Bloomington: Indiana UP, 1986). Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität (s. Anm. 9), Kap. 9. Genette, Die Erzählung (s. Anm. 8), Kap. 2. Martínez und Scheffel, Erzähltheorie (s. Anm. 8), Kap. II.2. Vgl. Lucius-Hoene und Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität (s. Anm. 9), Kap. 7.
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Im Folgenden unterscheiden wir zwischen zukunftsoffenen Narrationen und Narrationen im Angesicht von Todesgewissheit.
2.1 Zukunftsoffene Narrationen Dieser Typus von Narrationen findet sich in Blogs, Vlogs und unterschiedlichen Social-Media-Formaten (v. a. auf Facebook). Er besteht aus mehr oder weniger regelmäßigen Befindlichkeitsupdates (oft vor und nach operativen Eingriffen, Chemotherapien, Jahrestagen), beinhaltet Darstellungen des normalen Lebens, Reflexionen über Krankheit, Behandlung, Tod und Sterben, Ratschläge (die bis hin zur Selbstprofessionalisierung der Betroffenen als medizinisch-therapeutischen Experten reichen) und moralischen, politischen oder pädagogischen Botschaften. Darstellungen des ‚normalen‘ Lebens wechseln mit Beschreibungen der Auseinandersetzung mit der Krankheit ab. Humor und künstlerische Gestaltungsformen werden genutzt, seien dies literarische¹⁶ oder visuelle Formen, z. B. fotokünstlerischer oder persönlich gestaltender Art in Form etwa des Schminkens.¹⁷ Wie es generell charakteristisch für Web-2.0-Kommunikate ist, werden oft multimediale Repräsentationsformen genutzt.¹⁸ Viele Blogs und Facebook-Seiten verknüpfen Texte mit Fotos, Videos und weiterführenden Links auf ‚befreundete Seiten‘. Ein Beispiel für einen solchen, die Krankheitsgeschichte fortlaufend tagebuchartig dokumentierenden Vlog sind die Posts des Leukämiekranken Martin Stolle. Der 20-jährige Jugendliche stellte über 25 Monate hinweg regelmäßig BlogEinträge und von ihm selbst aufgenommene Videos auf seine Facebook-Seite¹⁹ und auf YouTube. Seine Videos bestehen aus Befindlichkeitsupdates, die sich mit Spekulationen über den Fortgang von Behandlung und Krankheit verbinden. Charakteristisch ist eine recht enge, vornehmlich präsentische Zeitperspektive ohne den Bezug auf eine größere biographische Dimension. Die Darstellungen sind emotional von Unsicherheit, Anspannung und Angst einerseits, Hoffnungen
Vgl. Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, http://www.wolfgang-herrndorf.de (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Z. B. Luise Ganschor, Chemoelefant aka Klopsi gegen den Krebs, https://de-de.facebook.com/ pages/Chemoelefant-aka-Klopsi-gegen-den-Krebs/678642685516259 (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Siehe z. B. Jannis Androutsopoulos, Multimodal – intertextuell – heteroglossisch: SprachGestalten in „Web 2.0“-Umgebungen, in: Arnulf Deppermann und Angelika Linke, Hg., Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton (Berlin: de Gruyter, 2010), 419 – 445. Martin Stolle, Martin Stolle gegen Leukämie, https://www.facebook.com/MartinStolleGegenL eukamie (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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und Selbstermutigungen andererseits geprägt. Im folgenden Ausschnitt Nr. 1 stellt Martin Stolle seine Reaktion dar auf die vor Kurzem erhaltene Nachricht, dass nach dramatischer Verschlechterung seiner Blutwerte eine zweite Stammzellentransplanation durchgeführt werden muss.
Abb. 1: Martin Stolle in seiner Videobotschaft vom 13. April 2013
Nr. 1 Martin Stolle, 13. April 2013, YouTube,²⁰ 3:43 – 4:38 01 außer dass es halt (1.28) ähm (1.01) weitergeht (1.22) und dass ich jetz (0.34) 02 auch wenn (.) ich (.) jetz (.) natürlich (.) erstmal geschockt bin (.) 03 und (.) ihr das auch denkt (0.86) 04 des_es aber (1.01) in (0.99) drei vier tagen (.) die einstellung (.) 05 oder wenn_s dann soweit is (.) 06 is die einstellung da da wird des einfach gemacht un fertig (1.89) 07 ähm ((schmatzt)) (0.73) ja (.) also (.) aufgegeben wird net (.) 08 natürlich bin ich jetzt erstma (1.01) geschockt aber (1.01) 09 das hält ja einen nicht vom leben ab sowas (.) ne 10 also ich werd jetzt versuchen (.) mich aufs abi zu konzentrieren (0.88) 11 werd aber auch (.) weiterhin (0.76) versuchen (1.13) 12 was zu machen was man in meinem alter macht (0.59) ((schnieft))((schmatzt)) (0.38) 13 weil (0.97) ((Zungenschnalzen)) man weiß ja nie (0.34) ((Zungenschnalzen))
Nach dem Bericht über die neuerliche Rezidiv-Diagnose wendet sich Martin Stolle in Nr. 1 der Darstellung seiner emotionalen Haltung und seiner zukunftsbezogenen Einstellung zu. Er kontrastiert die als selbstverständlich, d. h. für seine Zuschauer nicht anders zu erwartende, Schockiertheit (02: „natürlich erstmal geschockt“, ebenso in 08) mit der entschiedenen Orientierung auf das stoische,
https://www.youtube.com/watch?v=e5Nd5C9ILWM (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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nahezu geschäftsmäßige Absolvieren der als unvermeidlich verstandenen Behandlungsprozedur (01: „dass es halt weitergeht“, 06: „da wird des einfach gemacht un fertig“) und das Bemühen um den größtmöglichen Erhalt von alterstypischer Normalität (08 – 12). Die autobiographische, lebensbedrohliche Dimension der Rezidivdiagnose wird nicht explizit thematisiert. Sie zeigt sich aber zum einen in der emotionalen Reaktion auf ihre als solche nicht ausgesprochene Lebensbedrohlichkeit (07: „aufgegeben wird net“). Diese agenslos-passivische Formulierung verdeutlicht, dass es sich hier weniger um eine spezifische situierte Reaktion denn um ein generelle persönliche Maxime handelt (vgl. auch die ebenso unpersönliche Formulierung der allgemeinen Maxime: „das hält ja einen nicht vom leben ab sowas“, 09). Zum anderen scheint der nachgeschobene, aposiopetische Begründungsansatz („weil (0.97) ((Zungenschnalzen)) man weiß ja nie“, 11) die letale Konsequenz anzudeuten und zugleich auszusparen und damit zu zeigen, dass die Orientierung auf Normalität nicht naiv und ungebrochen ist. Vielleicht aber weist die Aposiopese auch auf eine zukunftsoffene Orientierung hin, dass das Absolvieren alterstypischer biographischer Entwicklungsaufgaben doch den erhofften Zweck der Bahnung einer erfolgreichen Zukunft erfüllen möge. Normalität wird regelrecht strategisch gesucht, im Sinne einer bewussten Wahl der Maximierung des Erlebens dessen, was Bestandteile eines normalen (hier: alterstypischen) Erfahrungshaushalts ausmacht. Die autobiographische Dimension der lebensbedrohlichen Diagnose erscheint gerade nicht in der Thematisierung ihrer selbst, sondern darin, dass das normale Alltagsleben unter der Perspektive seiner Endlichkeit und Nicht-Selbstverständlichkeit gesehen wird. Zusammengefasst zeichnen sich die zukunftsoffenen Narrationen aus durch eine kurze Zeitperspektive, keine abschließende (starke und eindeutige) Wertung von Handlungen und Ereignissen, ambivalente Emotionen, die Fokussierung auf das Hier und Jetzt und die unmittelbar bevorstehende Zukunft und nur implizite autobiographische Thematisierungen und Perspektivierungen der Relevanz des Dargestellten (sofern überhaupt vorhanden).
2.2 Narrationen in Todesgewissheit Narrative in Todesgewissheit erfolgen nicht vom Standpunkt eines Erzählers, der kürzlich Erlebtes unter der Perspektive einer ungewissen Zukunft erzählt. Ihre Zeitperspektive ist die des für das Erzählen prototypischen Ex-post-Standpunkts.²¹
Martínez und Scheffel, Erzähltheorie (s. Anm. 8), Kap. II.3.a.
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Dies ist in vielen Hinsichten folgenreich. Ereignisketten werden von ihrem Ende her erzählt – Selektion, Relevanzfestlegung, Deutung und Bewertung einzelner Ereignisse kann anhand ihrer bekannten Folgen vorgenommen werden.²² Die Erzählung wird von vornherein mit Bezug auf eine biographische Dimension produziert. Dies beinhaltet Elemente prototypischer Erzählstrukturen wie eine ausgebaute Ereigniskette, Höhepunkte isochronen oder retardierenden, manchmal auch mimetischen Erzählens, und die Gestaltschließung in Form der Schilderung resultierender Abschlüsse und einer meist recht eindeutigen Wertung und Relevanzfestlegung von größeren autobiographischen Erzählbögen.²³ Hier kommt in idealtypischer Form zum Tragen, was Arthur C. Danto als Besonderheit der Wahrheitsbedingungen narrativer Sätze ausgemacht hat: dass für die Formulierung und Gültigkeit von Aussagen über einzelne Handlungen und Ereignisse das Wissen um deren Folgen und den weiteren Verlauf der Geschichte mitkonstitutiv ist.²⁴ Derartige Erzählungen bestehen aus dokumentarischen Selbstdarstellungen, die wohl häufig in einer Art Interviewkontext entstanden sind, der jedoch nur selten gezeigt wird. Ein Beispiel für diesen Typus von Narrationen ist der Beginn des in 1. angesprochenen, überaus wirkungsmächtigen Videos von Brittany Maynard (Abb. 2).
Abb. 2: Brittany Maynard in ihrer ersten Videobotschaft vom 6. Oktober 2014
Labov, Narrative pre-construction (s. Anm. 7). Werner Kallmeyer und Fritz Schütze, Zur Konstruktion von Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellung, in: Dirk Wegner, Hg., Gesprächsanalysen (Hamburg: Buske, 1977), 159 – 274. Arthur C. Danto, Narration and Knowledge, 3. Aufl. (New York: Columbia University Press, 2007).
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Nr. 2 Brittany Maynard, 6. Oktober 2014, YouTube,²⁵ 0:00 – 1:50 01 °h the thoughts that go through your mind when you find out you have so little time (.) is (0.17) 02 everything that you need to say to everyone that you love (14.32 Musik) 03 so (.) after (.) getting married (.) is when i first started experiencing the headaches 04 °hhh and they were quite severe 05 °hh and i (.) didn’t understand them because i had never anything like that before in my life (0.19) 06 right when i was diagnosed my husband and i were actively trying for a family 07 (.) which is (0.73) heartbreaking for us both hh° (1.55) 08 and then i was diagnosed this past new year (.) 09 we went away to (.) the winecountry for (0.29) kind of a °hh new year’s eve celebration and ahm °h (0.36) 10 by jan one hh° the following day i was h° diagnosed with cancer (.) 11 and told i was terminally ill 12 °hhh (7.54) 13 i was told i have a grade two astrocytoma °hhh ahm (0.31) 14 and was told anywhere from three maybe five up to ten years to live 15 i have to tell you when you’re twenty-nine years old (.) 16 being told you have that kind of timeline still feels (0.21) 17 like you’re being told your gonna die tomorrow ((laughs)) 18 °hhh seventy days post OP (.) 19 i went in for another MRI 20 °h and was told i had had a great change (.) 21 they were looking (.) and saying it looks (.) like grade four 22 °hh ah which is the worst (.) and most aggressive form of brain cancer (.) 23 ts called a glioblastoma (0.29) 24 °hhh so that was a major shock to my system and the system of my family because it went from having 25 °h potentially years of time to being told i had (.) like six months °h
Das Video beginnt mit einer autobiographischen Krankheitserzählung. Es enthält die Stadien: erste Symptome (03 – 05), Diagnose (10 – 13), Prognosen (14), Reaktion auf Diagnose und Prognose (15 – 17), Operation (18), revidierte Diagnose (19 – 23), revidierte Prognose und Reaktion darauf (23 – 24). Dies sind prototypische Stadien der autobiographischen Erzählung von Krebserkrankung. In anderen Fällen kommen – krankheits- und behandlungsverlaufsabhängig – die Stadien Chemotherapien, Erholungsphasen, Nebenwirkungen von Behandlungen, Rezidive, Symptome und Palliativbehandlung hinzu.
https://www.youtube.com/watch?v=yPfe3rCcUeQ (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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Nun ist eine autobiographische Narration im engeren Sinne keine Objektivität anstrebende, berichtsartige Chronik,²⁶ sondern eine Darstellung, die die biographische Wissens-, Erfahrungs- und Wertungsperspektive reaktualisiert.²⁷ So hebt Brittany Maynard verschiedentlich hervor, wie unerwartet und im Kontrast zu aller Normalitätserwartung stehend die Erkrankung war (05: Unbekanntheit und Unverständlichkeit der Schmerzen, 06 – 07: Familienplanung vs. Krebsdiagnose, 15: junges Erwachsenenalter vs. verbleibende Lebenserwartung von maximal 10 Jahren). Die Reaktualisierung der Erlebensperspektive und der damaligen Erwartungen an die eigene Biographie ist die Hintergrundfolie, vor der die Krebskrankheit ihre existenzielle Tragik entfaltet. In allen Videos, die in dieser Untersuchung betrachtet wurden, sind es vor allem interpersonale Beziehungen und das emotionale Gemeinschaftserleben, die den Wert des bedrohten Lebens ausmachen. Dies sind – soweit vorhanden – Familie und Partnerschaft, bei jugendlichen Patienten – teils an Stelle der Familie – Freundschaften. Der Beginn der zweiten Videobotschaft von Brittany Maynard, in der sie darüber spricht, dass sie ihren Tod einleiten will, sobald die Schmerzen unerträglich werden, setzt damit ein, dass sie ihre moralische Identität an die Anerkennung in ihrer Familie und deren Solidarität bindet:
Abb. 3: Brittany Maynard in ihrer zweiten Videobotschaft vom 29. Oktober 2014
Vgl. Charlotte Linde, Life stories – the creation of coherence (New York: OUP, 1993), 85 – 89; Lucius-Hoene und Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität (s. Anm. 9), 154 f. Vgl. Elinor Ochs und Lisa Capps, Living Narrative. Creating Lives in Everyday Storytelling (Cambridge, MA: HUP, 2002).
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Nr. 3 Brittany Maynard, 29. Oktober 2014, YouTube,²⁸ 0:00 – 0:26 01 so if november second comes along (0.27) and i’ve passed 02 °hhh i hope my family is h° (1.72) still proud of me and the choices i made (0.4) 03 and if (.) november second comes along and i am still alive (0.31) 04 °h i know that we will just still be moving forward as a family like (0.55) 05 ((schmatzt)) out of love for each other (.) and that the decision will come later
Die Familie wird als „Ensemble“ dargestellt,²⁹ d. h. als soziale Einheit mit gemeinsam konstituierter Identität, die zugleich die Identität der Betroffenen verbürgt und stützt. Nick Magnotti, 27-jähriger Patient mit einem muzinösen Adenokarzinom des Appendix im vierten Stadium führte einen viel besuchten regelmäßigen Blog, der von seiner Frau nach seinem Tod weitergeführt wurde.³⁰ Auch in seiner Selbstdarstellung ist die Familie als Glücksquelle primär. Sie verknüpft sich mit der Aufhebung des eigenen Lebens in einem umfassenden religiösen Deutungsrahmen, der Trost und transzendierende Sinngebung bietet. Magnotti antwortet auf die Frage „What word would describe how you feel right now?“: „Blessed.“
Abb. 4: Nick Magnotti im Video 9. November 2013
Nr. 4 Nick Magnotti, 9. November 2013, YouTube,³¹ 3:14– 3:37
https://www.youtube.com/watch?v=1lHXH0Zb2QI (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (München: Piper, 1969), 73 – 98. Nick Magnotti und Alyssa Magnotti, Team Magnotti, http://teammagnotti.org (letzter Zugriff: 24.02. 2017). https://www.youtube.com/watch?v=aZhBw-jX9gs (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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01 blessed becuz (1.2) i (.) (wouldn’t it) have been h° every person’s dream h° (0.38) 02 i get to spend evry day (0.42) with people that i love 03 and i get to do (0.52) anything and everything that i wanna do i get to (.) 04 you know (0.76) alyss and i wanna take her (0.21) (and) (.) baby austin to the aquarium we can go to the aquarium (0.36) 05 the lord has blessed us with °hh ah (0.42) the means (.) and the ability to be all to do that
Während in den deutschen narrativen Selbstdarstellungen die religiöse Selbstdeutung der Krankheit keine prominente Rolle spielt, ist sie in US-amerikanischen Videobotschaften sehr häufig. Nick Magnotti etwa adressiert an seine sieben Monate alte Tochter Austin als zentrales Vermächtnis seines Videos, dass sie ihn als gläubigen Menschen in Erinnerung behalten solle: Nr. 5 Nick Magnotti, 9. November 2013, YouTube,³² 4:53 – 5:09 01 (eh) is my little bundle (and) joy 02 °h i love you so much (.) 03 and this is another reason why (0.42) we’re doing this video (.) 04 is because i want her to know (0.63) 05 that her daddy loved the lord (2.18) 06 an that her daddy wants to help people (.) so that she (0.78) 07 will have the same heart
Die biographischen Sinngebungen der Krankheit in den deutschen Videos sind ähnlich, doch meist ohne religiösen Deutungsrahmen. Die Krankheit erscheint als Anlass zur Erkenntnis und Besinnung auf die wesentlichen Werte des Lebens, als Charakterprüfung und Bewährungschance.³³ Die moralische Selbstdeutung des eigenen Lebens wird dann oft mit Botschaften an die Hinterbliebenen, andere krebskranke Schicksalsgenossen und die weitere anonyme Internetöffentlichkeit verbunden. Bereits zu geflügelten Worten geworden sind etwa das Diktum des krebskranken Steve Jobs – „Death is very likely the single best invention of Life“³⁴ – oder die Botschaft von Zach Sobiech, einem an Knochenkrebs im terminalen Stadium erkrankten, 17-jährigen Jugendlichen, der durch das Lied Clouds Berühmtheit erlangte: „I want everyone to know: you don’t have to find out you’re
https://www.youtube.com/watch?v=aZhBw-jX9gs (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Sandra Adami, Zwischen Annäherung und Distanzierung. Die sprachliche Verhandlung der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit bei der Diagnose Darmkrebs, Dissertation AlbertLudwigs-Universität Freiburg i.B., 2015. Steve Jobs, „You’ve got to find what you love,“ Jobs says, Stanford News, 14.06. 2015, https:// news.stanford.edu/2005/06/14/jobs-061505 (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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dying to start living.“³⁵ Neben dem hier anklingenden Carpe-diem-Motiv ist die zweite dominante Botschaft die des Kampfes gegen die Krankheit und die der Unbeugsamkeit der Hoffnung. So formuliert Martin Stolle in der „Seiteninfo“ als kurze Beschreibung seines Blogs: „Ich mach Krebs- und Leukämie-Patienten, Angehörigen und Eltern Mut. Lasst euch nicht unterkriegen!!! Mit Humor und dem Willen lässt sich jede Hürde überhüpfen !!!“³⁶ Schließlich propagieren manche Videos die politische Botschaft für oder gegen den selbstbestimmten Tod durch Sterbehilfe. Während Brittany Maynards Videos ausdrücklich dem Kampf um das right-to-die bill dienten, erfuhr sie im Internet Widerspruch durch zumeist religiös begründete Kommentare zu ihren Videos und Videobotschaften anderer Betroffener, die den assistierten Suizid ablehnen.³⁷ Die Videobotschaften der terminal Krebskranken beschränken sich meist nicht auf den Horizont der eigenen Lebenszeit. Die Autobiographie wird in eine über das eigene Leben hinausreichende Perspektive gestellt. Auch bei Betroffenen mit stark religiöser Deutungsorientierung beinhaltet dies aber keine Transzendenzvorstellungen von Himmel, Hölle, Fegefeuer oder Reinkarnation. Der Zukunftsbezug besteht vielmehr im Wunsch, in der Erinnerung der Hinterbliebenen präsent zu bleiben und in Wünschen an sie. Die Selbstdezentrierung wird durch großmütige Wünsche ausgedrückt: Nr. 6 Brittany Maynard, 29. Oktober 2014, YouTube,³⁸ 4:31– 5:14 01 ((Schmatzgeräusch) having been an only child for my mother i want her to (1.15) 02 ((schluckt)) (0.52) ((schluckt)) recover from this (0.23) 03 °hh h° ((schluckt und schmatzt)) (0.71) ((schluckt)) 04 and not break down you know (.) not suffer from any kind of depression 05 ((schluchzt)) and (.) my husband is such a lovely man (.) 06 i want him to ah (1.43) 07 you know i understand everyone needs to grief but ((schluchzt)) 08 i want him to be happy 09 so (.) i want him to have a family (0.21) 10 and i know that might sound weird but ((schluchzt)) (0.36) 11 there’s no part of me that wants him to (.) live out the rest of his life (.) 12 just (0.25) missing his wife (0.27)
https://www.youtube.com/watch?v=9NjKgV65fpo&t=1 m10s, 1:10 – 1:15 (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Martin Stolle, Martin Stolle gegen Leukämie, https://www.facebook.com/MartinStolleGegenL eukamie (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Z. B. https://www.youtube.com/watch?v=1ZR-qB3HaQY (letzter Zugriff: 24.02. 2017). https://www.youtube.com/watch?v=1lHXH0Zb2QI (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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13 ((schluchzt)) so i hope he (.) ah ((schmatzt)) (1.03) ((schmatzt)) moves on and (.) becomes a father
Selbstkonservierung und Selbstüberwindung durch den Wunsch, die Hinterbliebenen mögen nicht am Verlust des Sterbenden leiden und zu einer neuen, beglückenden Normalität und der Erfüllung der mit dem Sterbenden unverwirklichten biographischen Pläne finden, gehen also Hand in Hand. Das moralische Selbst des dem Tod Geweihten wird wesentlich durch seinen zeitlichen wie sozialen Bezug über sich selbst hinaus konstituiert als Person, die gewissermaßen noch posthum Verantwortung für das Wohl der Nächsten übernimmt und dabei das narzisstische Bedürfnis nach Unersetzlichkeit überwindet. In der folgenden Tabelle stellen wir schematisch wesentliche Unterschiede zwischen den zukunftsoffenen Narrationen (2.1) und den Narrationen in Todesgewissheit (2.2) einander gegenüber. Tab. 1: Eigenschaften von zukunftsoffenen Narrationen vs. Narrationen in Todesgewissheit Zukunftsoffene Narration
Narration in Todesgewissheit
Zeithorizont
kürzliche Ereignisse, aktuelle Befindlichkeiten, unmittelbare Zukunft
gesamte Krankheitsbiographie, Perspektive über den Tod hinaus
Emotionen
Hoffnung, Angst, Anspannung
Trauer (meist nur para-/nonverbal), Akzeptanz, Dankbarkeit
Kognition
Ungewissheit, Spekulation
Synthetisierung, Bilanzierung
Erzählstruktur keine Höhepunkte Bericht konkreter Ereignisse mit subjektiver Perspektive
krankheitsbiographische Höhepunkte wenig Ereignisbezug
Evaluation
Evaluationen an krankheitsbiographischen Höhe-/Wendepunkten entsituierte, gesamtbiographische Evaluationen
nur punktuell
3 Medienkommunikative Strukturen der Narrationen im Angesicht des Todes Narrative Videobotschaften sind nicht ohne weiteres vergleichbar mit Narrativen, die der Betroffene einem konkreten, ko-präsenten Gegenüber erzählen würde.
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Das mediale Narrativ ist mehr oder weniger editiert: Wir sehen Schnitte und wissen daher, dass nur eine Auswahl dessen, was der Betroffene in der Aufnahmesituation tatsächlich gesagt hat, konserviert wurde; die Tonspur wird mit Bildern, Inserts und Zwischentiteln kombiniert; Aussagen von Angehörigen werden eingeschnitten; und es ist anzunehmen, dass die Narrationen oft wenigstens teilweise vorgeplant und geskriptet sind. Im Folgenden werden wir drei Aspekte der medialen Kommunikation genauer betrachten: ihre interaktive Situiertheit (3.1), die biographische Perspektivierung der Betroffenen durch Dritte (3.2) und der Einsatz von Bild-Ton-Montagen (3.3).
3.1 Die interaktive Situiertheit der Internetbotschaften Die Selbstdarstellung als Kranker im Internet ist eine Form der massenmedialen Veröffentlichung von Privatem.³⁹ Damit einher geht eine teils bloß kommunikationsstrukturell, durch die Rezipierbarkeit der Kommunikation durch eine prinzipiell nicht bestimmbare Menge von Internetnutzern gegebene, teils manifest in den Kommunikaten selbst zum Ausdruck gebrachte Mehrfachadressierung.⁴⁰ Manche Erzähler richten sich explizit an eine community, d. h. eine solidarische Rezipientengemeinde. Dies ist vor allem in Blog-Formaten der Fall, in denen sich eine community über das regelmäßige Verfolgen (und gegebenenfalls auch Kommentieren, siehe unten) der Einträge konstituiert. Nr. 7 Martin Stolle, 13. April 2013, Youtube,⁴¹ 0:10 – 0:14 01 (1.43) hallo (.) alle (0.29) da draußen hh° (0.34) 02 (schmatzt) °h (0.5) ähm (0.97) ja (.) 03 alle die jetz mein krankheitsweg verfolgt ham bis hier hin (0.21) 04 erstma (.) äh (0.59) dange für die unterstützung (0.23)
Andere Erzähler adressieren ihre Botschaft dagegen manifest an Familienmitglieder, bis hin zur Widmung des Videos als Botschaft an die Hinterbliebenen (siehe auch Nick Magnotti in Ausschnitt Nr. 5).
Kurt Imhof und Peter Schulz, Hg., Die Veröffentlichung des Privaten – Die Privatisierung des Öffentlichen (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998). Peter Kühn, Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns (Tübingen: Niemeyer, 1995). https://www.youtube.com/watch?v=e5Nd5C9ILWM (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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Nr. 8 „Last words from dying lung cancer patient to family“, 23. November 2013, YouTube,⁴² 0:09 – 0:41 01 i have (.) stage four lung cancer (6.0) 02 and this video right here is dedicated to my family (2.5) 03 first I want to talk about (1.0) the wonderful life that I’ve had (2.7) 04 and just share with you guys (.) some of the (.) wonderful memories that we’ve had together (1.2) 05 it really meant a lot to me (1.8) 06 and chloe (0.8) 07 I just remember those times (1.2) just holding you up in the sky (…)
In Zeile 07 wird das Bild des Vaters mit seiner kleinen Tochter auf dem Schoß eingeschnitten. Die Intimität zwischen Vater und Kind ist medienvermittelt. Das Internet-Kommunikat schafft damit eine komplexe Kommunikationssituation: Einerseits enaktiert die manifeste Adressierung des Familienmitglieds Familiensolidarität für ein anonymes Publikum. Sie bewerkstelligt damit über die Selbstdarstellung des Betroffenen hinaus eine performative Selbstdarstellung des Familienensembles (siehe oben); andererseits wird für das Familienmitglied die Botschaft bzw. des Andenken des Betroffenen als Dokument öffentlicher Kommunikation aufgewertet. Die Adressierung an die Vertrauten vor dem Publikum schafft also eine symbolische Erhöhung von Selbst und Familie als Solidargemeinschaft. Das medial konstituierte Wir-Gefühl ist aber ebenso bedeutsam für die Blogs, in denen die community als Gruppe auftritt, die den Betroffenen emotional begleitet und moralisch stützt und gemeinsam gegen die Krankheit kämpft. Dies wird natürlich ganz wesentlich durch die reale Interaktion mit den Rezipienten, die im Web 2.0 Blogeinträge und Videos kommentieren können, ermöglicht (Abb. 5). Ermutigungen, die Kundgabe von Bewunderung, Sorge, Mitleid und Empathie, Grüße und Hilfsangebote sind die typischen gemeinschaftskonstitutiven Rezipientenkommentare, die auch selbst multimedial durch Bilder, Links und Filme vollzogen bzw. angereichert werden können.
https://www.youtube.com/watch?v=aULkBbWevSY (letzter Zugriff: 24.02. 2017).
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Abb. 5: Kommentareinträge auf der Facebookseite von Luise Ganschor (Luise Ganschor, Chemoelefant aka Klopsi gegen den Krebs, https://de-de.facebook.com/pages/Chemoelefant-akaKlopsi-gegen-den-Krebs/678642685516259, abgerufen am 24. 02. 2017)
3.2 Biographische Perspektivierung durch Dritte Die Interaktion in Web 2.0-Formaten ermöglicht eine Fremdpositionierung des betroffenen Erzählers durch seine Rezipienten.⁴³ Diese ist interaktiv emergent, sie ist nicht Teil der Narration des Betroffenen selbst. In aufwändigeren Videoproduktionen werden dagegen Aussagen von Freunden und Familie in die Narration des Betroffenen hineingeschnitten, welche dessen Selbstpositionierung bestätigen und ergänzen. Auch hier spielt die Darstellung eines solidarischen und harmonischen Familienensembles eine große Rolle. Vor allem aber bezeugen diese Dritten Aspekte der Identität des Betroffenen, die dieser selbst für sich allein schon aufgrund von Selbstlob-Tabus nicht in Anspruch nehmen kann: Respekt Zu Positionierung siehe Lucius-Hoene und Deppermann, Rekonstruktion narrativer Identität (s. Anm. 9); Deppermann, Positioning (s. Anm. 9).
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und Bewunderung für die einzigartigen personalen und moralischen Qualitäten des Individuums, Trauer um den Verlust des unersetzlichen Angehörigen oder Freundes. Beispiele sind die Aussagen der Eltern von Zach Sobiech über ihren Sohn. Nr. 9 „My last days – meet Zach Sobiech“, 3. Mai 2013, YouTube,⁴⁴ 2:05 – 2:42 01 Mutter: this (0.34) basketball game i was (.) kind of (.) laughing about (0.36) 02 how one of the players (0.23) had kind of a funny run (0.38) 03 an he goes yeah (.) but he’s really good at 04 an then he listed all these (.) things and i thought ah (0.36) 05 he’s just always lookin for the good in people (0.23) 06 an i think he’s taught all of us (0.71) 07 that’s how it’s done (0.42) 08 i would say that (.) zach is ah (0.55) testament to the fact that 09 (0.21) things are okay when you believe in something greater (0.31) 10 than yourself in the world 11 Vater: you can be with zach (.) an just by sitting there with him (0.61) 12 feel better (0.27) he’s got (0.76) 13 h° i dunno how to describe it he’s got this (.) aura about him
Die small story ⁴⁵ der Mutter (01– 10) weist den Sohn als moralische Autorität aus, dessen Haltung gegenüber seinen Mitmenschen eine (geradezu apostolische) ethische Botschaft verkörpert. Zwar hätte Zach Sobiech diese Botschaft ebenso formulieren können – doch es wäre wohl kaum möglich, das eigene Leben als verkörperte Beglaubigung der Lehre („he’s taught all of us (…) zach is a testament“, 06 – 08) darzustellen, will man nicht Gefahr laufen als unglaubwürdig und vermessen zu erscheinen. Der Vater schreibt Zach ähnlich verklärend eine nahezu wundertätige „aura“ (13) zu. Solche Formen der Positionierung des dem Tode Geweihten als Heroen, moralisches Vorbild oder den anderen weit überlegenes Genie überhöhen die außerordentliche Persönlichkeit ins Außeralltägliche und (Heiligen‐)Legendäre.⁴⁶ Die Identität des Betroffenen wird im Spiegel der sozialen Wertung durch die Anderen konstituiert.⁴⁷ In keinem Fall wird dagegen über Belastungen durch Pflege, Leid oder schwieriges Verhalten des Betroffenen geklagt. Mit Aussagen über den Betroffenen wird natürlich nicht nur dessen
https://www.youtube.com/watch?v=9NjKgV65fpo (letzter Zugriff: 24.02. 2017). Georgakopoulou, Small Stories (s. Anm. 9). Vgl. Andreas Hammer, Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im Passional (Berlin: de Gruyter, 2015). Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1968).
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Fremdpositionierung vollzogen, sondern die Angehörigen und Freunde positionieren sich auch selbst als verständnisvolle, respektvolle und unterstützende Dritte ohne Eigeninteresse. Ungeachtet dessen vervollständigen solche Aussagen einerseits das Bilds des Sterbens zu einem sozialen und nicht bloß individuellen, den Sterbenden betreffenden Prozess (wobei die Angehörigen in ihrer eigenen Befindlichkeit und Affiziertheit allenfalls kurzfristig in den Fokus geraten); andererseits dienen sie dazu, ein vollständigeres Bild der sterbenden Person zu vermitteln, als diese es selbst liefern könnte. Das autobiographische Erzählen wird so zu einem multiperspektivischen Erzählen,⁴⁸ der Zuschauer wird als ‚allwissender Rezipient‘ positioniert, jedoch nicht durch den Erzähler selbst, sondern durch die Montage von Perspektiven.
3.3 Bild-Ton-Montagen Autobiographische Videobotschaften sind mehr oder weniger editierte multimediale Produkte. Bild-Ton-Montagen sind eine Editierungsressource, die benutzt wird für Sinneffekte, die in der nicht medial vermittelten Narration so nicht zu erreichen sind.⁴⁹ Häufig werden Fotos oder Videoclips aus der Vergangenheit des Sterbenden mit der Tonspur der autobiographischen Narration montiert. Der zumeist fehlende inhaltliche Bezug zwischen Narration und Bildern, die – selbst wenn es sich um Filmszenen handelt – keinen eigenen Ton haben, erzeugt die Derealisierung⁵⁰ und nostalgische Entrückung der Szenen. Dies konnotiert die Endgültigkeit des Verlusts als etwas unwiederbringlich Vergangenes. In fast jeder der untersuchten Narrationen wird mit diesen Fotos und Clipmontagen die Dramatisierung der Krankheit und die Vermittlung ihrer lebensfeindlichen Grausamkeit durch ihre Kontrastierung mit einer als unbekümmert und harmonisch dargestellten Normalität bewerkstelligt. Naive Ausgelassenheit (auf Parties, beim Sport, auf dem Jahrmarkt, beim Blödeln) und harmonische Alltagsszenen (die Familie auf dem Sofa, beim Kaffeetrinken, beim Spiel mit dem Haustier) verklären das normale Alltagsleben als geschützten und von vertrauensvollen und erfüllenden interpersonalen Beziehungen geprägten Raum bürgerlicher Idylle. Eine zweite gängige Dimension der Kontrastierung sind Erinnerungen an große Momente des Außeralltäglichen: Urlaube, Hochzeiten, Stanzel, Theorie des Erzählens (s. Anm. 8). Siehe z. B. Werner Holly, Sprache, Bild, Text. Visualität und Intermedialität von Sprache, in: Ludwig Eichinger, Hg., Sprachwissenschaft im Fokus. Positionsbestimmungen und Perspektiven (Berlin: de Gruyter, 2015), 71– 92. Michel Chion, The Voice in Cinema (New York: Columbia University Press, 1999).
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spektakuläre Orte, die der Biographieträger besucht hat. Hier wird das Leben als einzigartig, reich, spannend und ebenfalls als glücklich porträtiert. Beide Kontrastierungsverfahren konvergieren darin, dass die Krankheit als Feind ‚des Lebens‘ profiliert wird, welches selbst nobilitiert und mit existenzieller Erfüllung aufgeladen wird. Die Abbildung 6 zeigt einige der Fotos, die größtenteils ohne referenziellen Bezug zum Inhalt der Erzählung in Brittany Maynards Videos (vgl. Nr. 2, 3, 6) erscheinen. Hier wie in den meisten untersuchten Fällen sind die montierten Fotos Portraits, die der Identitäts- und Beziehungsdarstellung dienen.⁵¹ Themen und Symbole erfüllten Lebens nehmen auf postmaterialistische Diskurse Bezug, deren Wertematrix einerseits von sozialer Integration, andererseits von experienzieller Selbstverwirklichung gekennzeichnet sind. Auf die gleichen Dimensionen richten sich Wünsche, die für den Rest der Lebenszeit artikuliert werden: Zeit mit Bezugspersonen und Tieren zu teilen, die bucket lists von noch zu erfüllenden Wünschen beinhalten meist Kreativität (Musik machen, schminken, schreiben, malen), den Besuch besonderer Orte und das Ziel, ganz bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Für die Wirksamkeit der Verklärung des Lebens ist auch entscheidend, was nicht vorkommt: Versagen und Versäumnis, Konflikt und Langeweile, Unzufriedenheit und Einsamkeit sind keine Bestandteile des Lebens, welches durch die Krankheit bedroht wird. Symbolischer und ökonomischer Status werden nicht thematisiert. Auch die Arbeit kommt nur bei Künstlern wie Wolfgang Herrndorf oder Christof Schlingensief als Domäne der Sinngebung und der Krankheitsbewältigung vor; in allen anderen Videos wird sie erstaunlicherweise nirgends thematisiert. Abgesehen von erzählerischen Kontrasierungen wie in Nr. 2 wird das erfüllte Leben in den Narrationen vor allem durch Filmsequenzen und Fotos repräsentiert, welche während der erzählerischen Selbstdarstellung der Betroffenen eingeschnitten werden. Eine andere Form der Montage sind Ton-Ton-Montagen durch die Unterlegung der Narration mit Musik.⁵² Dies ist stets besinnliche, langsame, leise Klaviermusik, manchmal auch Geigenklänge. Während manche Videos (wie das Video von Nick Magnotti) fast durchgängig mit Musik unterlegt sind, sind es in anderen spezifisch die Passagen, die Melancholie bezüglich des verlorenen früheren Lebens oder das Gedenken an die Person thematisieren. Ruhige Musik kontextualisiert immer eine Stimmung von Trauer, Melancholie und Verlust; in
Ulla Authenrieth und Klaus Neumann-Braun, Hg., The Visual Worlds of Social Network Sites. Images and Image-based Communication on Facebook and Co. (Baden-Baden: Nomos, 2011). Siehe Claudia Bullerjahn, Grundlagen der Wirkung von Filmmusik (Augsburg: Wissner, 2001).
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Abb. 6: eingeschnittene Fotos in den Videobotschaften von Brittany Maynard
kämpferischen Passagen wird dagegen die Musik schneller und manchmal auch fröhlich, bleibt aber stets gedämpft und harmonisch.
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4 Diskussion Wir haben in diesem Beitrag eine narratologische und eine kommunikations- bzw. medienwissenschaftliche Perspektive eingenommen, um herauszuarbeiten, wie in autobiographischen Videobotschaften im Angesicht des Todes im Internet die Auseinandersetzung mit der Krankheit zum Tode dargestellt und dabei die personale und soziale Identität der Betroffenen als öffentliche Sinngestalt konstituiert wird. Wir möchten nun die Ergebnisse unserer Untersuchung auf zwei Dimensionen verdichten: der sozialpsychologischen und der deutend-praktischen Dimension der Narrationen.
4.1 Die sozialpsychologische Dimension der Narrationen Die autobiographischen Videobotschaften im Angesicht des drohenden oder sicheren Todes nutzen wie viele andere Kommunikate im Internet die generelle Funktion von Web 2.0-Angeboten, die Herstellung von medienvermittelter Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist einerseits, wie auch sonst im Web 2.0, eine mediale Gemeinschaft, die vor allem durch Adressierungen des Publikums gesucht und durch Kommentare, responsive Botschaften, Zitationen etc. realisiert wird. Hinzu tritt andererseits die Identitätskonstruktion von Individuen und Kollektiven (Familien, Freundesgruppen), welche sich vor einem Internetpublikum bzw. durch die internetvermittelte Adressierung und Widmung von Videobotschaften als öffentlich sichtbare Ensembles konstituieren. Die Erlangung öffentlicher Anerkennung und Respektsbezeugungen zielen auf eine Objektivation des eigenen moralischen und sozialen Status. Sinngebung durch Vergemeinschaftung (Teilen, Empathie und Unterstützung) und die Darstellung einer kollektiven Identität sind auch jenseits der medienvermittelten Kommunikation als wichtige Funktion autobiographischer Narrationen chronischer Krankheit ausgewiesen worden.⁵³ Im Internet kommt zusätzlich die Mobilisierung einer in der kopräsenten Lebenswelt nicht anwesenden, prinzipiell unbestimmbaren Öffentlichkeit hinzu, die einen erweiterten sozialen Resonanzboden bildet – sei es in manifesten Reaktionen, sei es in der bloß zur Kenntnis nehmenden Rezeption für die Identitätskonstitution des Betroffenen. Die Herstellung medienvermittelter Gemeinschaft trägt so zur Sinngebung und Bewältigung von chronischer Krankheit und Sterben und zur Restitution der Integrität des bedrohten Selbst bei, zu existenziellen Aufgaben also, die sich den Betroffenen in solchen Situationen Vgl. Adami, Zwischen Annäherung und Distanzierung (s. Anm. 33).
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unausweichlich stellen.⁵⁴ Beachtet werden muss jedoch, dass die Nutzung von Videobotschaften als Bewältigungsressource offenbar einer spezifischen Selektivität unterliegt: In allen von mir gesichteten Fällen betrafen die Videobotschaften aktive, jüngere (d. h. deutlich unter der durchschnittlichen Lebenswartung liegende) und sozial erkennbar gut eingebundene Erkrankte. Das Internet wird also gerade nicht von sozial marginalisierten Personen zur Herstellung substitutiver, sonst nicht vorhandener sozialer Unterstützung und Einbindung benutzt; ebenso sind Videobotschaften kein Forum der Dokumentation und Auseinandersetzung mit dem ‚normalen‘ Sterben im Alter.
4.2 Die deutend-praktische Dimension der Narrationen Autobiographische Narrationen sind Instrumente des Selbst, die epistemische und diskursive Kontrolle über die Selbstdeutung der eigenen Geschichte und Identität zu gewinnen vermögen.⁵⁵ Dies gilt in besonders tiefgreifender Weise für das Erzählen im Angesicht des (möglichen) Todes, da hier diese Kontrolle angesichts des Einbruchs des existenziell Zerstörerischen, emotional Überfordernden und kognitiv Unbegreiflichen besonders bedroht ist.⁵⁶ In den Videobotschaften wird eine moralisch-interpretativ-schöpferische Gestaltkonstruktion von Selbst und Biographie vorgenommen, die das Selbst als handlungs- und gestaltungsfähiges Zentrum bezeugt. Statt in passiver Auslieferung zu verharren, nimmt der Betroffene einen Akt der Selbstartikulation und ‐deutung vor, der wenigstens in diskursiver und epistemischer Hinsicht seine Integrität als Subjekt dokumentiert – selbst wenn er in kausal-physiologischer Hinsicht seinem Schicksal gegenüber machtlos bleibt. Der individuelle Prozess der Auseinandersetzung mit Krankheit, Tod und Sterben kann dabei zur das Selbst transzendierenden moralischen Lehre und Botschaft überhöht werden, welche ihrerseits dem Selbst eine moralische Integrität und Autorität zuwachsen lässt, die in den Gefilden der ‚normalen‘, alltagsweltlichen Identitätskonstitution kaum zu erreichen ist. Die videographierte oder textuelle Selbstdarstellung erzeugt dabei eine Hinterlassenschaft, die dieses Selbst in einer haltbaren und öffentlichen Form objektiviert, welche die ephemere Erinnerung der Nahestehenden stützt und transzendiert.
Vgl. Gabriele Lucius-Hoene, Narrative Bewältigung von Krankheit und Coping-Forschung, in: Psychotherapie & Sozialwissenschaft 4/3 (2002), 166 – 203. Lucius-Hoene und Deppermann, Narrative Identität und Positionierung (s. Anm. 9). Siehe auch Adami, Zwischen Annäherung und Distanzierung (s. Anm. 33).
Brigitte Boothe und Dragica Stix
Letzte Mitteilungen vor dem Tod Abschiedsbriefe am selbstgewählten Lebensende Der Gedanke, Staub zu sein, ist ebenso schreckhaft wie wohltuend. Jean Améry
Wer vor dem selbst gewählten Lebensende einen Abschiedsbrief schreibt, kann sich vorstellen, bald „Staub zu sein“. Doch die Auflösung des Leiblichen in Staub ist eine ambivalente Bildlichkeit. Sie symbolisiert zwar einerseits Auflösung und Verfall, doch andererseits eine Existenzform luftiger, beweglicher und unendlicher Vielheit wie Sand oder Schnee. Und oft geht es den Abschied Nehmenden nicht eigentlich um die Vernichtung der eigenen Existenz, vielmehr um einen Umschlag- oder Wendepunkt, um eine Grenzsituation, die als solche intensives Erleben bedeutet und die sie als Übergang in eine andere Form des Daseins andeuten oder beschreiben. Verfasser von Abschiedsbriefen gestalten oft ein narratives Manifest der Kapitulation vor inneren und äusseren Herausforderungen. Fremd- oder Selbstverwerfung, Fremd- oder Selbstanklage, Enttäuschung oder Schuld kommen zur Sprache. Sie sehen sich am Ende eines qualvollen Ringens und leisten einen Offenbarungseid. Etwas soll bleiben, so wünschen einige; oder gerade nichts soll bleiben, „nicht gedacht soll meiner werden“¹. Bedeutsam ist, dass in den Sterbenarrativen der Suizidenten das Lebensende häufig nicht als Ende allen Lebens zur Sprache kommt, und zwar auch bei Briefautoren, die weder gläubig noch konfessionell gebunden sind. Selbst wenn ihnen, in den Worten Heinrich von Kleists, „auf Erden nicht zu helfen war“, kann die Überschreitung der Grenze doch „ein Weg ins Freie“ sein, eine „Erlösung“, wie Jean Améry schreibt. Für Seelsorgende, Berater und Therapeuten, die in Kontakt mit suizidalen Personen stehen, stellt sich die Frage, ob der Wunsch nach Leben, der im Denken an den Suizid trotz allem aufscheinen mag, in der Beziehung zum Gegenüber artikulierbar und gestaltbar werden kann, so lange noch Zeit ist. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Unterstützung der Empfänger jener Briefe. Die Adressaten erreichen den Verfasser nicht mehr, und doch können sie sich an ihn wenden,
„Nicht gedacht soll seiner werden“ heißt es als fünfmalige Verfluchung in Heinrich Heines gleichnamigem Gedicht aus dem Nachlass (1845 – 1856). Zitiert nach: Caspar Battegay, Schmährede. Heinrich Heines Poetik des Fluchens, in: Sabine Brenner-Wilcek (Hg.), Heine-Jahrbuch, 56 (Stuttgart: Metzler, 2017), 48 – 68, hier 60. https://doi.org/10.1515/9783110600247-008
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können antworten, können sich in der Beziehung zum Verstorbenen neu orieniteren.
1 Erzählende Formen der Kommunikation Wer den Entschluss gefasst hat, durch Suizid aus dem Leben zu gehen, schreibt oft einen Abschiedsbrief. Diese letzten Mitteilungen vor dem selbstgewählten Ende lassen sich als persönliche Manifeste, als Kundgaben eines definitiven Entschlusses verstehen. Es handelt sich um Sterbenarrative von Personen, die den Tod nicht erwarten, sondern aktiv herbeiführen. Diese Narrative sind adressiert und involvieren den Adressaten in hohem Masse, ohne Kontakt zum Autor zu ermöglichen. Biografische Retrospektion findet statt, und zwar im Zeichen endgültiger Bewertung. In Abschiedsbriefen vermittelt sich als Anliegen nicht Integration und Bewältigung, wie dies bei vielen anderen Sterbenarrativen der Fall ist, sondern die Kapitulation vor Herausforderungen und Ansprüchen. Im Folgenden gilt es zu verdeutlichen, durch welche Besonderheiten sich Abschiedsbriefe im Bereich der Sterbenarrative auszeichnen. Kommen wir zunächst darauf zu sprechen, wie wir Erzählen im – meist mündlichen – Alltag bestimmen können: Erzählen ist breites schilderndes Schweifen in Lebenserinnerungen („Weißt du noch …?“), Erzählen ist Rekonstruktion von Abläufen („Die ersten Symptome traten auf, als …“) und geschichtlichen Entwicklungen („Die Kubakrise begann damit, dass …“). Erzählen ist iteratives Typisieren („Ein normaler Tag im Pflegeheim verläuft bei mir so: Um sieben Uhr beginnt die Morgenhygiene, dann …“), oder Erzählen ist die Mitteilung von Begebenheiten als episodisches Ereignis („Heute war ein neuer Seelsorger bei mir. Ich habe ihm gesagt, dass es mich so traurig macht, dass mein Sohn nicht kommt. Er sagte: Dann schreiben Sie ihm doch einen Brief.Wollen wir das jetzt zusammen machen? Wirklich, wir haben das gemacht, und mir ging es am Ende so gut!“). In episodischen Ereignisdarstellungen, mündlichen Geschichten im engeren Sinn, entfaltet sich Spannung als Dynamik des Handelns und Geschehens.² Episodische Ereignisdarstellungen kommen zu einem Schlusspunkt, einem Schlusseffekt, einer Pointe. Erzählen nimmt Emotionales auf, schafft Emotionen und ermöglicht emotionale Verbindung. Das gilt nicht nur für retrospektives, sondern auch für prospektives Erzählen. Personen, die in Vorfreude oder in Sorge künftiges Ge-
Elisabeth Gülich und Heiko Hausendorf, Vertextungsmuster Narration, in: Kurt Brinker, Hg., Text- und Gesprächslinguistik, Bd. 1, Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 16.1 (Berlin: De Gruyter, 2000), 369 – 385.
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schehen antizipieren, malen sich, gewöhnlich im iterativen, summierenden Duktus, aus, wie es – schön oder schrecklich – sein wird. Erzählte Welt ist emotional bewertete Welt. Das eigene Bezugs- und Präferenzsystem wird im Erzählen wirksam. Wer sich in Bezug auf die eigene biografische Erfahrung erzählend mitteilt, reguliert sowohl das eigene Befinden als auch soziale Beziehungen: (a) Aktualisierung: Das narrative Geschehen wird als Ereignis inszeniert, das mittels Versetzungsregie auf einer imaginären Bühne im Dort und Damals stattfand, aber dramaturgisch revitalisiert wird und emotionale Bewegung neu ermöglicht. (b) Soziale Integration: Das narrative Geschehen ereignet sich im sozialen Raum vor einem Publikum, an dessen Aufmerksamkeit, Akzeptanz und emotionales Engagement dem Erzähler gelegen ist. Die Geschichtenproduktion passt sich der Bezugsgruppe oder dem Bezugspartner an, auf die oder auf den hin erzählt wird. Wer die Bezugsgruppe oder die Bezugsperson, um die es gerade geht, ablehnt oder entwertet, kann nicht gleichzeitig zum sozialen Bindemittel des Erzählens greifen. (c) Bewältigung: Das narrative Geschehen schafft nachträglich Struktur und Ordnung für Erregung und Verstörung, Angst und Erschütterung. Die Inszenierung des dramatischen Prozesses dient im Sinne der Verwandlung von Passivität in Aktivität der nachträglichen Artikulation und Formgebung des Erlebten, dem man ausgesetzt und preisgegeben war. Der Erzähler übernimmt die Regiefunktion. (d) Wunscherfüllung: Hier geht es um die hedonische Funktion des Erzählens. Die retrospektive Darstellung eines Geschehens wird dramaturgisch in der Perspektive des Wünschbaren modelliert; die Dynamik der Erzählung zielt auf das Happy End, so dass Erzähler und Hörer glücklich sind; das Happy End kann verfehlt werden, so dass Erzähler und Hörer das Ende beklagen. In Schilderungen schöner Zukunftsträume wird das Wünschbare deutlich sichtbar, genauso deutlich wird bei Schreckensszenarien der Zukunft die Horrifizierung. In mündlichen Erzählungen aus dem eigenen Leben ist der wunscherfüllende Charakter oft in der Latenz zu erschließen, gelegentlich ist er auch manifest, wie bei Glücks-, Sieges- und Erfolgsgeschichten, manchmal auch bei der Schilderung außergewöhnlicher Bewusstseinserfahrungen. Aktualisierung, soziale Integration, Bewältigung und Wunscherfüllung sind am sinnfälligsten erschließbar, wenn es sich um episodische Ereignisdarstellungen im engeren Sinn handelt, die zwanglos zum Nach-Erleben und partizipativen MitErleben einladen. Doch muss das Terrain der narrativen Selbstthematisierung nicht auf diese prägnanten Muster beschränkt bleiben, umso weniger, wenn es um
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die offene Erkundung der Kommunikation Sterbender und ihrer Bezugspersonen geht. Eine einseitige Beispieldiät – so heißt es bereits in der Einleitung des Buches – würde der Vielfalt der Erscheinungen nicht gerecht. Peng-Keller und Mauz umreißen einleitend, was zum Sterbenarrativ gehören könnte: Der Sterbende selbst kann der Erzähler sein oder eine andere Person. Sterbenarrative liegen in unterschiedlichen Medien vor, sei es schriftlich, mündlich oder audiovisuell. Sterbenarrative sind adressiert, richten sich beispielsweise als mündliche Mitteilungen direkt an bestimmte Anwesende, es gibt erzählendes Erinnern. Auch werden öffentliche Manifestationen berühmter Persönlichkeiten, die ihre letzte Lebensphase und den Übergang zum Tod, meist in Buchform, schildern, zu den Sterbenarrativen gerechnet, ebenso Mitteilungen oder audiovisuelle Inszenierungen im Internet, die eine immer größere Rolle spielen.
2 Abschiedsbriefe im Vergleich zu Narrativen Es geht darum, den Untersuchungsgegenstand großzügig abzustecken. So großzügig, dass auch Abschiedsbriefe von Personen, die sich das Leben genommen haben, dazugehören. Briefe sind adressierte schriftliche Mitteilungen, meist mit Anrede- und abschließenden Gruß- und Dankformeln sowie Unterschrift. Briefe können als amtliche Dokumente hoch formalisiert und als persönliche Schreiben vielfältig individualisiert sein. Briefe enthalten – in unterschiedlicher Gewichtung – Nachrichten, Selbstoffenbarungen und ausdrückliche Bezugnahmen auf das Gegenüber. Briefe haben Selbstoffenbarungscharakter, wenn Befinden und Gemütsverfassung des Autors geschildert werden wie in der Heimwehklage, im Geständnis der Liebe, schriftlicher Selbstvorwürfe oder des Bekennens von Schuld. Im oft konventionalisierten Kondolenzbrief werden Trauer und Mitgefühl zum Ausdruck gebracht. Erzählungen und Briefe haben Gemeinsamkeiten: Autobiografische Erzählungen sind kommunikative Darstellungen, in denen eine zentrale Positionierung des Ich stattfindet. Auch in Abschiedsbriefen findet eine solche zentrale Positionierung des Ich statt. Persönliche Briefe sind Formen der schriftlichen Selbstmitteilung; das sind biografische Erzählungen ebenfalls. Erzählungen sind adressiert. Briefe sind es auch. In Briefen wenden sich die Schreibenden direkt an einen ausgewählten Adressaten; häufig wird die explizite Adressierung im Sinne einer Selbstoffenbarung ausformuliert („Dir will ich anvertrauen, was mich zu diesem Schritt bewogen hat“). Das gilt auch für viele persönliche Briefe. Der Verfasser schildert gewöhnlich etwas von seiner inneren Verfassung und äußeren Lebenssituation („Es ist schön hier, aber ich habe Heimweh“; „Finanziell stehe ich gut da“). Erzählungen haben ein Darstellungsanliegen. Auch Briefe formulieren
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Anliegen, zum Beispiel als Bitte um Vergebung („Es würde mir viel bedeuten, wenn du mir verzeihen kannst“), Werbung um Wohlwollen („Trotz allem, denke gut von mir“), Trost oder Hilfe. In längeren persönlichen Briefen sind manchmal auch episodische Schilderungen eingeflochten („Ich muss dir von G erzählen. Das war vorgestern im Café. Ich sah ihn zufällig, und da …“). Im Fluss des Briefeschreibens ist der Einbau von Ereignisdarstellungen möglich, aber nicht zwingend. Abschiedsbriefe von Suizidenten benachrichtigen den Adressaten über den Entschluss des Verfassers zur Selbsttötung. Der Autor begründet den Entschluss gewöhnlich und wendet sich als endgültig Abschied Nehmender, der für niemanden mehr erreichbar sein wird, an den Adressaten, oft mit dem Wunsch nach einem guten Leben für die Hinterbliebenen, gelegentlich auch mit Groll und Hass. Auch erfährt der Adressat, was mit den sterblichen Überresten und mit Hinterlassenschaften geschehen soll. Abschiedsbriefe sind oft ausdrucksstarke Zeugnisse. Vergleichen wir zentrale Züge von Abschiedsbriefen mit dem, was Sterbenarrative gemäß Peng-Keller und Mauz motiviert: (1.) die Konfrontation mit dem Lebensende als Umschlags- oder Wendepunkt. – Das gilt für Abschiedsbriefe ebenfalls. Die Verfasser sehen das selbstgewählte Lebensende als Befreiung von einer unerträglichen Lebenssituation. (2.) die retrospektive biografische Identitätsarbeit. – Das gilt auch für Abschiedsbriefe. Die Verfasser stellen sich als Scheiternde, Schuldige, Opfer, im Übermaß Gepeinigte oder Enttäuschte dar. (3.) die Orientierung an einem Ziel- und Endpunkt. – Verfasser von Abschiedsbriefen sehen den (oft als erlösend und befreiend vorgestellten) Tod als Zielpunkt, den sie mit eigener Hand herbeiführen. Nicht alle gehen davon aus, dass dies dann das sichere Ende ihrer Existenz ist. (4.) die Auseinandersetzung mit Fehlern und Versäumnissen. – Auch dies kommt in Abschiedsbriefen vor; oft verurteilen sich die Suizidenten als Schuldige. Es ist dann die Bürde, sich als verantwortlich für Unheil und Leid geliebter Personen zu sehen, die nicht mehr ertragen wird. (5.) der Ausdruck und die Darstellung von Defiziten, Beeinträchtigungen, Leidenszuständen, Verstörungen, außergewöhnlichen Erfahrungen und Veränderungen. – Das spielt bei Abschiedsbriefen ebenfalls eine Rolle, besonders, wenn qualvolle Krankheitssymptome und zu erwartende Verschlechterungen erwähnt werden. (6.) die Aussicht auf Abschied, Vermächtnis und die Frage, was bleibt. – Diese Aspekte haben für die Verfasser von Abschiedsbriefen große Bedeutung. Manche Autoren sprechen ausschließlich, und zwar nüchtern, karg und unpersönlich, von der Regelung ihres materiellen Nachlasses. Manche for-
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mulieren Wünsche für eine Abschiedswürdigung, aber viele bringen zum Ausdruck, dass man ihrer nicht gedenken möge, sie bald vergessen soll.Viele formulieren Abschiedswünsche an die Hinterbliebenen, wünschen ihnen ein gutes Leben, bitten um Vergebung. Abschiedsbriefe markieren ein Ende. Die Verfasser sind für Kontakt und Gespräch nicht mehr erreichbar. Sie haben sich unzugänglich gemacht. Die Briefadressaten können keinen Einfluss mehr geltend machen. Die realen Verhältnisse sind nicht mehr wirkmächtig. Der persönliche Selbst- und Weltbezug des Suizidenten ist für das, was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeuten, der einzig bestimmende. Diese Form mentaler Einengung wird seit Ringel³ (1953) in der Suizidforschung auch als die Trias des präsuizidalen Syndroms bezeichnet⁴: (1.) Die mentale Einengung bezieht sich auf die Einschätzung der Lebenssituation als ausweglos, der Probleme als unlösbar, der eigenen Bewältigungsressourcen als zu gering. Man erlebt sich als einsam und isoliert. Die emotionale Verfassung verengt sich auf Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst oder Schuldgefühle. Es kommt zu einer Verwerfung des Selbst- und Weltbezugs. (2.) Neben die Einengung tritt die Wendung der Aggression gegen sich selbst: Der Suizident hatte sich behaupten oder wehren, andere angreifen, Hindernisse oder auch eigene Schuldgefühle überwinden wollen, doch war ihm das nicht möglich gewesen. (3.) Die allumfassende Verdüsterung, die Entwertung des eigenen Lebens, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lässt den Suizidenten nur noch vom Ende phantasieren, Todesarten imaginieren und zur Planung schreiten. In Abschiedsbriefen von Suizidenten lässt sich die Trias häufig finden. Die Briefautoren sehen ihre Lage als ausweglos. Aggression gegen andere, Anklagen, Vorwürfe verzweifelte oder ohnmächtige Wut, Groll und Verbitterung kommen zum Ausdruck, auch Selbstanklagen und Selbstverurteilungen. Die Adressaten erhalten den Brief nach vollendetem Suizid; gelegentlich erwähnen die Autoren, wie sie ihren Tod herbeigeführt haben.
Erwin Ringel, Der Selbstmord. Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung (Wien/ Dü sseldorf: Maudrich, 1953). Hans-Jürgen Möller, Gerd Laux und Arno Deister, Psychiatrie und Psychotherapie, 3. Aufl. (Stuttgart: Thieme, 2005), 389.
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3 Dokumentierte Abschiedsbriefe aus dem Kanton Luzern 85 Abschiedsbriefe, wovon 24 Dignitas- und Exitklauseln im Rahmen assistierten Suizids sind, standen uns transkribiert zur Verfügung.⁵ Sie entstammen einem größeren Datensatz, der alle 256 vollendeten Suizide aus dem Kanton Luzern von 2002 bis 2006 erfasst. Geburts- und Todesdatum sowie Angaben bezüglich Beruf, Suizidmethode, Suizidankündigung, Familienstatus, psychiatrische Diagnosen und/oder Verdachtsdiagnosen der Polizei sind dokumentiert.⁶ Im Folgenden wird nur auf die für die Abschiedsbriefe relevanten Fakten eingegangen: Die Luzerner Daten enthalten mit 36.6 % einen vergleichsweise hohen Prozentsatz an Abschiedsbriefen.⁷ Eine Systematisierung der angegebenen Suizidgründe ergab: Einsamkeit, Sinnleere, Kapitulation vor den Herausforderungen des Lebens, Enttäuschung an sich selbst oder an anderen, erlittene Kränkung und Zurückweisung, kein Entkommen vor der Depression, schamvolles Versagen und Scheitern, wirtschaftliche und juristische Probleme, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Manchmal bringt ein Suizident zum Ausdruck, dass er für andere keine Last mehr sein wolle oder dass er davon ausgeht, ohne ihn werde das Leben der Angehörigen sich auf Dauer besser gestalten. Diese Inhalte stimmen mit anderen Befunden zu charakteristischen Motiven überein.⁸ Der Soziologe Durkheim⁹ sah den Suizid im Kontext gesellschaftlicher Integration des Individuums. Er formulierte prototypische Risikofaktoren. Es gehe (1.) um fehlende Einbettung in einen Lebenszu-
Dragica Stojkovic´, jetzt: Dragica Stix, ‚In one’s own write‘. Psychoanalytische Lektüren letzter Worte von Suizidenten, unveröffentlichte Dissertationsschrift. Universität Zürich, 2015. Die Untersuchung des Materials ist von der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern und der Eidgenössischen Datenschutzkommission bewilligt worden. Eine genaue Einsicht in den Datensatz sowie dessen statistische Auswertungen bietet ein Artikel von Andreas Frei und Kollegen: Andreas Frei, Toralf Bucher, Marc Walter und Vladeta Ajdacic-Gross, Suicides in the Canton of Lucerne over 5 years: subjects with and without psychiatric history and diagnosis, in: Swiss Medical Weekly 143 (2013), 11 S. Brigitte Eisenwort, Andrea Berzlanovich, Ulrike Willinger, Gregor Eisenwort, Simone Lindorfer und Gernot Sonneck, Abschiedsbriefe und ihre Bedeutung innerhalb der Suizidologie, in: Der Nervenarzt 77 (2006), 1355 – 1362. David Lester, Why people kill themselves: a 2000 summary of research on suicide, 4. Aufl. (Springfield, Ill.: Charles C. Thomas, 2000). Emile Durkheim, Der Selbstmord (Frankfurt: Suhrkamp, 1983 [Original 1897]). Vgl. Peter Schallberger, Durkheim Selbstmordtypen. Übersicht: http://www.peterschallberger.ch/down loads/downloads/klassiker_files/DurkheimSelbstmordtypen.pdf (letzter Zugriff: 20.02. 2017).
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sammenhang, so dass Randständigkeit und Isolierung begünstigt sind; es gehe (2.) um den Imperativ der Selbstopferung, und schließlich (3.) um die Ratlosigkeit einer Person, deren Lebenswelt nicht Halt und Sinn biete. Es versteht sich allerdings, dass die meisten Personen weiterleben, auch wenn sie unter Isolierung, massivem gesellschaftlichem Druck oder Orientierungslosigkeit leiden. Im Folgenden gehen wir zunächst auf zwei historische Beispiele ein, die auf eindrucksvolle Art etwas verdeutlichen, das wir sodann an den Abschiedsbriefen aus dem Kanton Luzern vertiefen wollen: eine dreifache Orientierung an der Grenze.
4 Nicht heimisch in der Welt Heinrich von Kleist gehört zu denen, die nicht weiterleben wollten (anomischer Suizid). In Selbstzeugnissen und literarischen Werken ist das, was er als Ziel- und Orientierungsverlust zum Ausdruck brachte, vielfach dokumentiert. Im berühmten Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike heißt es: Du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß. Stimmings bei Potsdam, d. – am Morgen meines Todes. Dein Heinrich.¹⁰
Es war ihm auf Erden nicht zu helfen. Die vergangenen Lebensentwürfe waren gescheitert, der literarische Erfolg unsicher, eine Anstellung im preußischen Staatsdienst aussichtslos; Henriette Vogel, die ihn in den Tod begleitete, war unheilbar krank. Der Entschluss zu sterben, bescherte ihm „unaussprechliche Heiterkeit“. Von dieser Erscheinung berichten auch heutzutage Personen, die einen Suizidversuch überlebt haben; in Abschiedsbriefen finden sich gelegentlich Hinweise. Aber auch Angehörige von Suizidenten erwähnen die entspannte Stimmung, in der sich ein Suizident vor der Selbsttötung befunden hatte. Wewetzer schreibt: „Menschen, die eine Selbsttötung vorhaben, wirken paradoxer
Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg.v. Helmut Sembdner, 9. Aufl. (München: Hanser, 1993), 887 (An Ulrike von Kleist, 21. November 1811).
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Weise für ihre Umwelt oft besonders gelöst, ja heiter. […] Der Entschluss zu sterben, hat eine scheinbar befreiende Wirkung.“¹¹ Jean Améry, der Autor von Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod ¹², zählt ebenfalls zu den Suizidenten, die nicht heimisch werden konnten in der Welt, sich nicht integriert sahen in die gesellschaftliche Ordnung. Heimat, Grundvertrauen, Zugehörigkeit, das gibt es für ihn, den gefolterten RésistanceAngehörigen und Häftling in nationalsozialistischen Lagern, nicht mehr. Die Erwartung seines „Niedergangs“ lässt seine Entscheidung zur Selbsttötung reifen. Dieser antizipierte „Niedergang“ muss für ihn umso unerträglicher gewesen sein, als er sich in der eigenen Schwäche fremder Pflege hätte überlassen müssen. Das war ihm nicht möglich; hatte er doch in den knapp zwölf Jahren von 1966 bis 1978 im deutschen Sprachraum nur arbeiten können, weil er sich in seiner geistigen Existenz zu behaupten vermochte, als Kritiker, Essayist, politisch engagierter Repräsentant einer unabhängigen Vernunft.¹³ Der vollständige Brief an seine Frau lautet so: An Maria Améry, Salzburg, 16. Oktober 1978 Geliebtes Herzilili, allergeliebtes, vor dem ich sterbend in Schuld knie – Ich bin auf dem Weg ins Freie. Es ist nicht leicht, aber dennoch die Erlösung. Denke, wenn Du kannst, nicht mit Groll an mich und nicht mit allzu qualvollem Schmerz. Du weißt alles, was ich Dir zu sagen habe: dass ich Dich unendlich liebte und dass Du das letzte Bild bist, das vor meinen Augen steht. Schau, mein Herzensliebling, ich bin am Ende meiner Kräfte und kann meinem Niedergang, intellektuellen, physischen, psychischen, nicht zusehen. Denk auch an das schöne Gedicht von Christian Wagner, dass Du einmal für mich ausschnittest. Ich habe – mit Ausnahme der Jahre der Niedertracht – aufrecht gelebt und will aufrecht (nebbich, mit Pulverbarem) sterben. Meine ganze Sorge bist Du. Ein winziger Trost ist mir nur, dass Du – auf bescheidener Basis – halbwegs gesichert bist. Mir ist, wie dem armen Charles, „grund-schlecht“, wenn ich an Dich denke und ich fühle mich tief elend. Aber Du hast mich immer verstanden, und so habe ich an diesem letzten Abend meines Lebens, die Hoffnung, dass Du mich auch dieses letzte Mal verstehen wirst. Bitte, bitte, sei mir nicht gram – jetzt ist mir ja, als ahnte ich, Du würdest am Ende doch verzeihen. Ein Schimmer, eine bloße Ahnung von Seelenfrieden. Geh nach Wien, Herzilili, wo Du engere Freunde hast. Ich danke Dir für alles, für so sehr viel, für den Jean Améry, der nur durch Dich, mit Dir bestand.
Hartmut Wewetzer, Depressionen. Tödliche Traurigkeit, in: ZEIT online. 12.11. 2009, http://pdf. zeit.de/wissen/2009 – 11/depressionen-enke.pdf (letzter Zugriff: 20.02. 2017). Jean Améry, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod (Stuttgart: Klett-Cotta, 1976). Ursula Homann, Denker ohne Weltvertrauen.Vor dreißig Jahren starb Jean Améry, in: Tribüne. Zum Verständnis des Judentums 47/187 (2008), 168 – 174.
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Ich küsse Dich in tiefer Liebe, Dein Pink¹⁴
Améry hatte im Hotelzimmer je einen Brief an die Salzburger Polizeibehörden und die Hotelleitung deponiert – „Verzeihen Sie bitte, sehr geehrte Damen und Herren, die Ärgerlichkeiten, die ich Ihnen bereite“ –, die beglichene Hotelrechnung, der Reisepass, Geld und Unterlagen für die Ehefrau lagen bei. Das Schreiben an die Ehefrau ist zärtlich-intim. Kosenamen werden verwendet, Worte der Liebe geschrieben, an ein persönlich bedeutsames Gedicht wird erinnert. Der Brief bringt zum Ausdruck, dass der Entschluss zur Selbsttötung – er will „aufrecht sterben“ – den inneren Konflikt nicht löste, die Ehefrau allein zurückzulassen. Im Mittelpunkt stehen die Bitte um Vergebung und Verstehen; und er gibt der Hoffnung Ausdruck, dass sie ihr Leid werde überwinden können. Er fühlt sich „elend“ wie Charles Bovary, über den er sein letztes zu Lebzeiten erschienenes Porträt eines einfachen Mannes ¹⁵ geschrieben hat. „Elend“ ist er, weil er die geliebte Frau im Stich lässt. Immerhin kann er ihr eine bescheidene finanzielle Sicherung bieten, und es liegt ihm daran, dass sie unter Menschen sein wird, die ihr als Freunde etwas bedeuten. Letzteres formuliert er in einem Ratschlag an sie. Es gab einen Jean Améry, schreibt er am Ende, der in seiner Gestalt und Besonderheit nur durch sie ins Leben trat. Sie, eine mütterliche Lebensspenderin, hat ihn gleichsam hervorgebracht und erhalten. Beide haben ihrem Leben eine kostbare und unverwechselbare Form gegeben. Doch hätte sich Améry der mütterlichen Sorge seiner Frau nicht anvertrauen und überlassen wollen, jedenfalls nicht in einer Lebensphase des vermeintlichen Abstiegs und Verfalls. Es kommt nicht ganz zum Zerbrechen: Das Bild der geliebten Frau wird dem Sterbenden vor Augen stehen.
5 Die dreifache Orientierung an der Grenze In Amérys und Kleists Brief stimmen Merkmale der Gestaltung überein: (1.) Beide Autoren positionieren sich an einer Grenze, durchaus im Bewusstsein von Verantwortung für geliebte Hinterbliebene – das wird bei Améry besonders deutlich – und doch bereits jenseits der Einbindung in die Verpflichtungs- und Handlungszusammenhänge des Alltags. Sie schreiben an der Grenze zum Tod. (2.) Beide Autoren blicken an der Grenze zum Tod zurück auf ihre biografische Le Jean Améry, Abschiedsbriefe. Asymptote. Selbstmordnotizen, http://www.asymptotejournal. com/nonfiction/jean-amery-suicide-notes/german/ (letzter Zugriff: 20.02. 2017). Jean Améry, Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes (Stuttgart: Klett-Cotta, 1978).
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benswirklichkeit und geben bestimmten Erfahrungen oder Begegnungen – hier würdigend und dankbar – besonderes Gewicht. (3.) Beide Autoren wenden sich an der Grenze zum Tod zum Kommenden hin; ein Weg ins Freie ist das bei Améry, Freude und Heiterkeit ist es bei Kleist. Man kann Abschiedsbriefe als narrative Entwürfe einer dreifachen Grenzsetzung charakterisieren.¹⁶ Eine dreifache Orientierung an der Grenze fanden wir in allen von uns gesichteten Briefen, sofern es sich nicht lediglich um Notizen, Sprüche, kurze Informationen oder Anweisungen handelt. Um die dreifache Thematisierung der Grenze im Abschiedsbrief noch etwas allgemeiner zu formulieren: 1) Die Grenze des Lebens etablieren: Der Autor stellt Diskontinuität her. Er autorisiert sich selbst, das Ende seines Lebens herbeizuführen. Manchmal kommt es zur Mitteilung dessen, wie der Autor die Entscheidung und ihre Konsequenzen erlebt. Kleist beispielsweise erlebt Freude und Heiterkeit. 2) An der Grenze des Lebens zurückblicken: Der Autor nimmt eine positive und/ oder negative biografische Evaluation vor, oft mit dem Fokus auf wichtige Beziehungen, Ereignisse oder erlebte Freuden, Leiden und Mängel. Schwesterliche Liebe und Hilfe hat Kleist erfahren; die Liebe seiner Frau war unendlich kostbar für Améry. Zu dieser Evaluation gehört der Verweis auf Gründe für die suizidale Entscheidung, nicht selten in konzessiver Form: „Trotzdem muss ich aus dem Leben gehen.“ 3) An der Grenze des Lebens ein Zukünftiges imaginieren: Es geht um Antizipationen, Ahnungen oder Vorstellungen dessen, was kommt. Es ist etwas wie Freiheit und eine willkommene Endgültigkeit. „Es ist eine Erlösung“, schreibt Améry. Auch Gedanken, Wünsche oder Anweisungen, die Beisetzung oder den Umgang mit Hinterlassenschaften betreffend, gehören zu den antizipierenden Vorstellungen an der Grenze hin zum Tod.
6 Der Abschiedsbrief als adressierte Mitteilung Der Abschiedsbrief gestaltet die selbstgesetzte dreifache Grenze des eigenen Lebens. Geht man von der Struktur der dreifachen Grenzthematisierung aus, dann verbinden sich im Abschiedsbrief (1.) Selbstermächtigung zur Etablierung von Diskontinuität, (2.) evaluierender Rückblick und (3.) Ausblick und Erneuerung.
Brigitte Boothe und Eckhard Frick, Spiritual Care. Über das Leben und Sterben (Zürich: Orell Füssli, 2017). Dort werden die Suizidbriefe und der ausführliche Brief von „Tom“ ebenfalls thematisiert, und zwar im dritten Kapitel, S. 113 – 136 (Abschiedsbriefe: Leben am Ende − Am Ende leben).
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Wir wollen das an Beispielen aus der genannten Sammlung jüngeren Datums veranschaulichen.
6.1 Selbstermächtigung zur Etablierung von Diskontinuität Explizit formuliert die etwa 50-jährige Frau JK die Selbstermächtigung: „Abschied! Ich halte es nicht mehr aus. Das ewige Auf+Ab- Ich möchte mit dem Brief Abschied nehmen. […] Es ist alleine mein Wille.“ Ausführlich und explizit auch die Selbstermächtigung des 21-jährigen MS, der den Suizid bereits in die Vergangenheit verlegt: „Es war Selbstmord. Denn ich wollte nicht nochmal eine Malerlehre anfangen. Ich bringe keine Kraft auf, weiterzuleben. […] Bin eh zu faul für diese Welt.“ Das ist eine überraschende und bestürzende Begründung; vermutlich hat MS oft gehört, er sei faul. Die 60-jährige Frau EG stellt nicht die Festigkeit ihres Willens ins Zentrum, sondern schreibt kurz: „Ich kann nicht mehr. Bei mir stimmte schon länger etwas nicht mehr.“ Die Selbstautorisierung erfolgt hier als Darstellung einer Kapitulation. Die Autorin strecke die Waffen. „Es ist mein Schicksal“, schreibt EA, 53-jährig. Er ergänzt: „Im heutigen Umfeld ist es praktisch unmöglich, als Einmannbetrieb noch bestehen zu können. […] Ich sah wirklich keine Erfolgsperspektiven mehr! Die nötige Kraft fehlte einfach! Der tägliche Druck wurde für mich einfach unaushaltbar!“ Herr EA hatte alle verfügbare Lebenskraft investiert und muss doch kapitulieren, weil dieses Fatum über ihn verhängt ist. Die Selbstautorisierung, das Leben zu beenden, ist dann der letzte Schritt einer tragischen Entwicklung. „Ich kann die mir vor 3 Jahren durch Frau S mitgeteilte Kränkung, seelische Verletzung und die psychischen Schmerzen nicht mehr ertragen. Mein Leben ist nicht mehr lebenswert. Ich fühle mich nicht verstanden und verlassen“, schreibt Herr KF, 61-jährig. Er thematisiert die ausbleibende Entschuldigung, Rehabilitation und Wiedergutmachung durch andere als definitiv intolerabel. Es ist die Ohnmacht, die ihn Hand an sich selbst legen lässt, statt die aus seiner Sicht malignen Akteure zur Strecke zu bringen. Herr OM, 50-jährig schreibt: „Es ist allein meine Entscheidung. […] Warum wählte ich diesen Weg? Ich habe zu viele Fehler in meinem Leben gemacht und zuviel versagt. Deshalb trauert mir kein Mensch nach.“ Herrn OMs Selbstermächtigung zur Beendigung des eigenen Lebens zentriert wiederum den Willen. Sein Lebensende entspricht einer Selbstverwerfung.
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6.2 Evaluierender Rückblick Herr SM, 40-jährig, formuliert: „Glaubt mir, ich liebe euch, dich und die Kinder. Ihr könnt mir nicht helfen.“ Dieser Autor spricht wie zahlreiche andere im Rückblick auf das Leben Liebe und Dankbarkeit gegenüber nahestehenden Menschen aus. Ähnlich AR, 26-jährig, er formuliert: „Wir hatten eine gute und tiefgründige Beziehung zueinander, ich werde sie vermissen.“ Ganz anders der 50-jährige ES. Er zählt genau und namentlich auf, welche Personen ihn ausgenutzt und welche Ämter ihm gerechtfertigte Zahlungen verweigert haben. „Dann kam noch der Unfall dazu. Am 9.9.02 verließ meine Partnerin die Wohnung. […] Dann kam noch der kleine Lohn dazu. NN nahmen mir das Auto weg, und ich konnte nicht mehr zur Arbeit gehen.“ Der 40-jährige RM schreibt über ein bestimmtes Ereignis, das eine unheilvolle Entwicklung nahm: „Sehr geehrte Frau * [weiblicher Name]. Als ich damals bei Ihnen aussagte, sprach ich nur die Wahrheit aus. Dabei sagte man mir ja, dass eine solche Meldung meine Pflicht sei. Aber ich wusste schon damals, dass ich daran zerrissen werde.“ Vermutlich war Herr RM ein whistleblower, der in der Folge massiven Anfeindungen ausgesetzt war. Wenn die „Meldung“ seine „Pflicht“ war, muss es umso verstörender für ihn gewesen sein, wenn, wie angedeutet, ihm nachher niemand zur Seite stand. Herr FA, 39-jährig, erinnert die Adressatin seines Briefes, die Mutter, in seiner Formulierung eines leidvollen Lebens, das beide teilten und das sie duldend hatten hinnehmen müssen: „Liebs Mutti. Du weißt, was wir alles mitgemacht haben. Nur dem Frieden zuliebe. Du weißt, was es heißt, alleine zu sein. Ich wollte dir nicht weh tun mit dem Entscheid.“ Herr RZ, 23-jährig, formuliert in sich steigernder Emphase den Hass auf seine Mutter und schreibt unter anderem: „Du hast mir nie gegeben, was ich brauchte. Du hast mir die Ferien nicht gegönnt. Du hast mir das Studium nicht gegönnt, ja, du hast mir nicht einmal meine Freundin gegönnt. […] Ich glaube, ich bin keinem anderen so verwerflichen Menschen wie dir in meinem ganzen Leben begegnet.“ Eindrucksvoll ist der Rückblick von GB, 50-jährig, der im Konjunktiv gehalten ist. Er stellt sich vor, dass er ein anderes Leben hätte führen können: „Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte. Ich würde versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich hätte nicht den Anspruch, immer perfekt sein zu wollen. Ich würde mehr ausruhen. […] Ich würde wenig Dinge wirklich ernst nehmen. Ich wäre weniger hygienisch. […] Ich würde mehr Sonnenuntergänge anschauen, auf mehr Berge steigen und in den Flüssen schwimmen. […] Ich hätte mehr reale und weniger eingebildete Probleme. Ich bin jemand, der immer vernünftig sein wollte.“ Ein unbeschwertes Leben war aber nicht möglich, weil Herr GB sich Beschuldigungen ausgesetzt sah, die ihm und seinem Ruf schwer geschadet und ihn in chronische Verbitterung gestürzt hatten.
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6.3 Ausblick und Erneuerung Viele Briefe sprechen vom „Ende“, sehr wenige benutzen das Wort „Tod“. Eine Zeile in GBs bitterem Brief lautet: „Ich denke an die Menschen, die meinen Tod auf dem Gewissen haben.“ „Leichnam“ kommt einmal vor, in der Formulierung der Bitte „Streut die Asche meines Leichnams unter einen Baum im Wald“ (HL, 79jährig). Doch beherrscht nicht der „Leichnam“ das Ende des kurzen Briefes, sondern die Frage: „Was gibt es Schöneres als mit viel Liebe im Herzen zu sterben?“ Herr KF, 61-jährig, beendet sein langes verzweifeltes Schreiben in englischer Sprache: „Let’s hope there is a better life after this!!!“ RZ, der junge Mann, der seine Mutter verurteilt, schreibt: „[O]b in der Hölle der Erde oder in der richtigen Hölle kommt wohl nicht so drauf an. Du wirst früher oder später wieder bei mir auftauchen.“ Eine beachtliche Reihe anderer Briefschreiber formulieren Wendungen, in denen sie mit einer Wiederbegegnung mit geliebten Personen nach der Beendigung ihres irdischen Lebens rechnen. „Auf Wiedersehen! Im Himmel“, schreibt Herr JB, 78-jährig. Frau SK, 21-jährig, formuliert an die Mutter, in Bezug auf sich selbst und ihre bereits verstorbene Schwester: „Denk immer daran, wir sind deine Schutzengel.“ Die Bildlichkeit der Reise und des letzten Weges kommt häufig vor. Auch Améry spricht vom „Weg ins Freie“, auch von „Erlösung“, ganz ähnlich, wie es viele der Autorinnen und Autoren unserer Briefsammlung tun. Sie wollen erlöst sein von dem, was sie als chronische oder sich ins Unerträgliche steigernde Überforderung erleben, erlöst auch von Depression, quälender Eifersucht und von massiven Kränkungen.¹⁷ Ein weiteres wichtiges Bild von dem, was antizipiert wird, ist der Schlaf. Es ist die Wohltat eines für immer ungestörten Schlafs, die ersehnt wird, nicht das biologisch definitive Ende. Viele Autoren, die das Kommende als Schlaf imaginieren, sehen sich im jetzigen Leben in auswegloser Unruhe und in ausweglosem Kampf; sie wollten ihre Firma retten, Ersparnisse zurücklegen, ein guter Familienvater sein, eine Karriere vorantreiben, konnten den eigenen Ansprüchen und Wünschen jedoch weder genügen noch die Resultate dieses Ungenügens tragen.
7 Das Unerfüllte und der Schritt über die Grenze Die suizidale Handlung soll eine Erneuerung ermöglichen, etwas Neues, das in jedem Fall besser ist als das Leben, das man verlässt. Das Beispiel eines ein-
Heinz Henseler, Narzisstische Krisen. Zur Psychodynamik des Selbstmords, 4. Aufl. (Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2000; EA 1974).
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drucksvoll imaginationsreichen Narrativs – in notwendiger Verschlüsselung – kommt im Folgenden zur Sprache. Es geht um einen jungen, im künstlerischmedialen Bereich bereits erfolgreichen und in der regionalen Öffentlichkeit beliebten Mann mit verheißungsvollen Zukunftsaussichten, sozial gut integriert, der seinem Leben ein Ende setzte und einen außergewöhnlich langen Abschiedsbrief verfasste. Auch er schreibt, wie wir an den vorangegangenen Beispielen bereits veranschaulicht haben, an der Grenze: im Wissen um den feststehenden Entschluss, im Blick zurück und im Blick auf ein Künftiges. Doch geht dieser Brief noch weiter: Ein Freund, Adressat des Abschiedsbriefs, soll eine informelle Seebestattung vornehmen, die Abschiedsfeier gestalten, sein Vermächtnis ehren und bewahren, seinen Besitz hüten und verteilen und Wichtiges weitergeben. Er soll die Regelung allfälliger Kosten übernehmen und die notwendigen Behördengänge machen. Der Briefschreiber spricht anfangs von den Gründen für den Entschluss, Hand an sich zu legen. Den größten Raum nimmt sodann die Planung dessen ein, was nach seinem Tod geschehen soll. Der Adressat soll dafür die Verantwortung übernehmen und alles in die Wege leiten.Wir stellen den Brief mit wenigen Kürzungen und veränderten Namens- und Ortsangaben vor. Liebster Robert Wir haben leider nie richtig darüber gesprochen, wieso ich vor zwei Jahren eigentlich weg bin nach Spanien. Und dass dies der Anfang meines Endes war. Ich bin zurückgekommen und habe Klaus gefunden und viele liebe Freunde wie dich. Einen Job, neue Wohnung etc. Eigentlich hatte alles gestimmt. Trotzdem tief in mir drin musste ich abermals feststellen, dass ich in dieser Welt nie glücklich werden konnte. Zu viele Wünsche und Sehnsüchte die hier nie befriedigt werden können. Ich bin deshalb wieder auf eine Reise gegangen, diesmal aber auf die letzte Reise,von der ich nie mehr in eure Welt zurückkehren kann. Jetzt habe ich keine Kraft mehr weiter zu suchen. Wenn du dies liest, bin ich schon in einer anderen Welt. Wir hatten eine gute und tiefgründige Beziehung zueinander, ich werde sie vermissen. Genauso wie du, und natürlich verstehe ich die Fassungslosigkeit die du jetzt fühlen musst. Trotz all dieser schmerzhaften Gefühle würde ich dich gerne ein letztes Mal um etwas bitten. Du weißt, dass ich dir bei unseren Parties und auch sonst immer vertraut hatte, und mich immer auf dich verlassen konnte. Ich konnte dich einfach machen lassen und wusste, es kam schon gut, auch wenn ich nicht dabei stehen würde. Um was ich dich jetzt bitte, dabei werde ich dir ebenfalls nicht beistehen können und mich auf deine Umsicht verlassen: Ich wäre froh, wenn du mir „das letzte Geleit“ geben könntest. Damit meine ich, dass meine Überreste (nämlich verbrannt) dorthin kommen wohin sie sollen (nämlich samt einem Steingefäß in den Genfer See). So schwer es dir fallen muss, bitte ich dich jetzt hiermit auch, für mich eine kleine Feier zu veranstalten (und z. B. mein Buch abzugeben.) Ich bitte dich um all dies, weil meine Familie schon wegen der unheilbaren Krankheit meiner Mutter leiden muss, und nun auch nach meinem Schicksal nie die Kraft finden würde, dies alles so zu organisieren, wie ich es gern möchte.
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Es folgen umfangreiche und detaillierte Angaben zu notwendigen Behördengängen, unter anderem zum Zivilstandsamt. Die Polizei wird sich bei dir melden und ein Arzt dir eine Todesbescheinigung ausstellen. Zwei Tage später musst du diese Bescheinigung zum Zivilstandsamt mitnehmen und mich quasi „abmelden“. Hier wird auch die Art der Bestattung abgeklärt. Bestattung Ich will weder eine Bestattungszeremonie noch eine Trauerfeier, noch ein Grab oder eine Urne in einem Friedhof. Das Zivilstandsamt ist konfessionsneutral und akzeptiert dies. Ich will, dass mein Körper verbrannt wird und in einem einfachen Steinbehälter dir übergeben wird. Auf Leidzirkulare oder Todesanzeige in einer Zeitung will ich verzichten. Bitte kläre auch ab, wer (Einwohnergemeinde, Sozialamt) die Kosten für das Verbrennen übernimmt. Ich oder meine Eltern sind nicht im Stande, etwas zu zahlen. Sorge unbedingt dafür, dass es auch dich nichts kostet. Abschiedsfeier Es soll Abschiedsfeier heißen und nicht Trauerfeier. Ich stelle mir vor, dass einige Tage (eilt ja nicht) nach dem Verbrennen, du die wichtigsten Leute (Liste liegt bei) auf ein Schiff bittest und ihr bei voller Fahrt meinen Behälter mitten in den See wirft. Das ist zwar sicher nicht erlaubt, aber ich würde gerne so am Grund des Genfer Sees liegen. Danach habe ich mir eine richtige Party mit 60/70/80/90 Sound und ein Konzert der CC-Band vorgestellt. Dort möcht ich auch, dass du mein Buch gratis verteilst. Eine Türkollekte kann allfällige Ausgaben decken. […] Was bleibt Die druckfrischen Bücher hast du ja schon. Meine wenigen Habseligkeiten […] aus der Wohnung habe ich Klaus geschenkt, ebenfalls soll er das Auto erhalten. Solange er nicht selber fahren kann und nicht weiß, wie ihn unterhalten, kann er ja auf deinem Namen bleiben und ihr könnt ihn zusammen benutzen. Alle Steuern [… habe ich einbezahlt. Auf jeden Fall musst du den Wagen auf ihn überschreiben, sobald er das will. […] Ich hoffe, mit dieser meiner letzten Bitte überfordere ich dich nicht. Aber jemand muss es ja machen und ich bin mir einfach sicher, dass du dazu am besten in der Lage bist. Ich danke dir dafür, und natürlich auch für die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben. Dein Tom
Wie mag es dem Empfänger des Briefes bei der Lektüre gehen? Er erhält viele Aufgaben, die ihm wohl schwer auf der Seele liegen; er ist nicht nur trauernder, vielleicht verstörter und bestürzter Freund, sondern auch derjenige, der, Toms
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Willen folgend, die Verantwortung für die Gestaltung des letzten Geleits hat. Er muss auch Hinterlassenschaften verteilen, er soll die aus Toms Sicht überforderte Familie entlasten und ungewisse Finanzierungsprobleme lösen (Woher kommt das Geld für Verbrennung, Urne, Fest und Schifffahrt?). Tom bestimmt, Robert muss ausführen. War das auch im Leben so? Das Schreiben vermittelt den Eindruck von einer Persönlichkeit, die den Ton angeben wollte, vielleicht auch anzugeben wusste, die Einfluss ausüben wollte in der Welt und der das – sogar ein Buch ist entstanden und soll verteilt werden – vermutlich auch gelang. Eine Persönlichkeit, die eine geschichtliche Spur hinterlässt. Ein besonderes Fest des Gedenkens soll stattfinden. Im Steingefäß sinkt die Asche auf den Wassergrund, in einer prachtvollen Weltgegend. Ruhend als ein Schatz in der Tiefe des Sees. Tom muss im Leben initiativ gewesen sein, muss es verstanden haben, anzuordnen und andere für die eigenen Anliegen einzusetzen. Er hatte als Autor etwas zu sagen, und er galt als Person mit großen Aussichten. Tom glaubte, im Leben nicht Erfüllung finden zu können, glaubte, dass die Welt seiner Sehnsucht nicht ausreichend entgegenkommen würde. Eine arme Welt, zu dürftig, um seinen Wünschen zu genügen. Es bleiben Enttäuschung, Leere, Überdruss. Und dann kommt der Traum vom ‚großen Abgang‘, der als kunstvoll erdachtes Drama auf dem Genfer See festlich aufgeführt werden soll. Die Imagination des letzten Festes hat Züge einer prospektiven Erzählung, besser vielleicht eines Drehbuchs für die Aufführung der letzten Feier. Die prospektive Vorstellung macht den Wendepunkt – vom Leben zum Tod – zu einer Bewegung, die gleichsam zu den Anfängen des Lebens im Wasser zurückkehrt. Einerseits löst sich die konturierte Identität der Person auf, die sterblichen Reste sinken in die Tiefe des Sees, andererseits wird er durch das Buch, die Musik, den Freunden nachhaltig präsent sein. Ob Tom den Tod wollte? Sehnte er sich nicht viel mehr nach einer höheren und intensiveren Qualität von Leben? Tom, der junge Mann, der am Anfang des Erwachsenenalters steht, sagt dem Leben ab und lässt sich festlich aufnehmen in das Lebenselement Wasser und in die Natur, so, als gehe es eigentlich um eine Wiedergeburt.
8 Angehörige und die letzte Nachricht Während sich der Suizident bereits im Stillen und ganz für sich vom Adressaten seines Briefes verabschiedet hat, kann der Empfänger keinen Kontakt mehr aufnehmen. Den Angehörigen und Freunden bleiben nur letzte Mitteilungen – es ist kein Gespräch mehr möglich. Sie sind konfrontiert mit der Endgültigkeit des Geschehens. Obschon Angehörige von Suizidenten zur Risikogruppe für die Ent-
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wicklung von komplizierter Trauer¹⁸ gelten, fehlen beratende oder therapeutisch unterstützende Angebote, die Abschiedsbriefe zum Thema machen und die Auseinandersetzung damit ermöglichen. Die starke Nutzung von Internetplattformen für Angehörige¹⁹ weist darauf hin, dass viele Menschen, die Verluste durch Suizid erleiden mussten, ein starkes Verlangen haben, sich mitzuteilen, ihren Kummer auszudrücken und sich mit Personen auszutauschen, die Ähnliches verkraften müssen. Nicht wenige leiden an Schuldgefühlen, klagen sich an, nicht rechtzeitig eingegriffen oder die Not des Betroffenen nicht geahnt zu haben. Manche äußern, wie ratlos sie das Schreiben des Suizidenten gemacht habe, oder sie sind bestürzt, dass im Abschiedsbrief Formulierungen der Liebe oder Verbundenheit, der Dankbarkeit oder Zuneigung fehlen. Es empfiehlt sich, ihnen im Rahmen einer psychologischen Beratung die nötige Zeit und den nötigen Raum zu geben, sich in einen indirekten Dialog, vielleicht auch in einen Briefdialog, mit der Person zu begeben, die sie verloren haben. Für Dragica Stix wurde im Rahmen vieler Vorträge über die eigene Forschung an Suizidbriefen deutlich, dass Angehörige von Suizidenten dankbar waren über die Möglichkeit, jenseits eines Schuld- und Gramdiskurses über den selbstgewählten Tod einer geliebten Person nachzudenken. Oft berichteten Betroffene, dass sich ihnen eine neue Perspektive eröffnete, wenn sie einem eigenen nachträglichen Abschiednehmen Gestalt geben konnten.
9 Abschiedsnarrative – ein Fazit Die Abschiedsbriefe – wir können sie als Abschiedsnarrative bezeichnen – sind Sterbezeugnisse, die sich dem Spektrum der Sterbenarrative zuordnen lassen: Sie sind auf der Basis der Wunsch- oder Präferenzmuster, der persönlichen Perspektive, des emotionalen Bezugssystems der Verfasser organisiert. Prozesse der narrativen Selbstvergewisserung und der Identitätspositionierung finden statt und spielen an der Grenze zum Tod eine bedeutende Rolle. Wir finden in Abschiedsbriefen eine dreifache Orientierung an dem, was wir als Grenze bezeichnen: Die Verfasser schreiben (1.) an der selbstgesetzten Grenze ihres Lebens, sie bewerten (2.) rückblickend, an der Grenze ihres Lebens, Aspekte ihrer Biografie in ihrem persönlichen Bezugssystem; sie orientieren sich (3.) von der Grenze aus auf ein Künftiges. Die Briefautoren sind, indem sie den eigenen Tod herbeiführen, Verena Kast, Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, 35. Aufl. (Freiburg i.B.: Kreuz, 2013); Birgit Wagner, Komplizierte Trauer (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013). Vgl. z. B. Refugium – Verein für Hinterbliebene nach Suizid: http://www.verein-refugium.ch/ pages/forum.php (letzter Zugriff: 20.02. 2017).
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emotional engagiert für die Herstellung, Wiederherstellung oder Bewahrung ihrer Identität. Am Beispiel von Toms langem Abschiedsbrief sollte die Dramaturgie der Grenzsetzung besonders anschaulich werden; gerade in seinem Beispiel werden verdeckt Imaginationen einer Lebensfülle nach dem eigenen Ableben deutlich, auch die Vision der Rückkehr in eine nicht-personale Existenz, ebenso das Anliegen, nachhaltige Wirkung auf die Hinterbliebenen auszuüben. In den Abschiedsnarrativen kommt es angesichts des Todes zum Wendepunkt, wird angesichts des Zielpunktes Tod Identitätsarbeit geleistet, mit dem Blick auf Fehler und Versäumnisse und auf das, was nicht mehr zu ertragen ist. Viele Autoren formulieren die Hoffnung, bald vergessen zu werden, oder sie bitten um ein besonderes Gedenken oder Nicht-Gedenken, sie thematisieren Vermächtnis und Abschied. Die Abschiedsnarrative gestalten sprachlich Selbstermächtigung und Selbstentzug im Blick auf das Lebensende. Sie verschaffen sich als Akteure machtvoll Wirkung und entziehen sich radikal. Der Adressat kann nicht antworten und nicht Einfluss nehmen. Der Autor hat sich unzugänglich gemacht und Zukünftigkeit ausgeschlossen. Das Abschiedsnarrativ ist eine endgültige und definitive Festschreibung, als ultima narratio.
Franzisca Pilgram-Frühauf
Sterbende Erinnerungen Autobiografische Texte von Menschen mit Demenz Wie ist es, wenn Demenz ins Leben eines Menschen einbricht? Alltägliche Situationen der Vergesslichkeit sind vorstellbar, weil sie uns allen gelegentlich widerfahren.Wer nicht selbst von Demenz betroffen ist, kann sich hingegen kaum ausdenken, was es heißt, mit dem Vergessen zu leben. Dass die Schlagwörter der Medien, Demenz sei ein „Tod bei lebendigem Leib“ oder ein „Tod in Raten“, den Umgang mit der degenerativen Erkrankung nicht erleichtern, ist klar.Weit weniger eindeutig ist, wie es sich mit den Verlusterfahrungen leben lässt.¹ Für die Betroffenen scheint die Anfangsphase einer Demenz besonders belastend zu sein. Sie können an sich selbst beobachten, wie Gedächtnis und Lernleistung nachlassen, zeitliche und räumliche Orientierung schwierig werden und die Sprachfähigkeit abnimmt. Mit einem Gleichnis verweist ein Patient kurz nach der Diagnosestellung auf das grundsätzliche Dilemma: „Es ist, als ob man ein Buch liest, aus dem jemand die Seiten herausgerissen hat.“² Als Leser befindet er sich im Spannungsfeld zwischen der gelebten Zeit, die er lesend über dem Buch verbringt und die auch mit der Krankheit noch mehrere Jahre fortdauern kann, und der erzählten Zeit im Buch, die sich allmählich zersetzt. Das Dilemma verschärft sich, wenn dieses Buch die eigene Autobiografie enthält. Um zu untersuchen, was für Menschen mit Demenz auf dem Spiel steht, wenn sie selbst ihre Lebensgeschichte lesen oder schreiben, ist ein doppelter Anlauf nötig. Einerseits zeigt ein kursorischer Rückblick auf die Entwicklung der Demenzforschung, wie in den letzten Jahren ein Interesse für die Innensicht der Krankheit gewachsen ist, so dass immer öfter auch die Selbstaussagen von Betroffenen Beachtung finden. Andererseits wird auch in der Geschichte der Autobiografieforschung ein Perspektivenwechsel sichtbar, der es begünstigt, dass Narrativität als Ressource der Lebensbewältigung auch in der Situation von Krankheit, Leiden und Sterben wahrgenommen wird. Inwiefern sich im Schnittpunkt beider Traditionslinien ein Zugang zu einem demenzspezifischen Umgang mit autobiografischer Lebensbeschreibung erschließt, soll anhand einiger pu-
Pauline Boss hat für die mit der Erkrankung einhergehenden, uneindeutigen Verlusterfahrungen den Begriff „ambiguous loss“ geprägt. Vgl. Pauline Boss, Da und doch so fern. Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken, hg. von Irene Bopp-Kistler und Marianne Pletscher (Zürich: rüffer & rub, 2014), 10 f., 32– 50. Zitiert nach Lisa Snyder, Wie sich Alzheimer anfühlt (Bern: Huber, 2011), 27. https://doi.org/10.1515/9783110600247-009
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blizierter Schreibprojekte von Menschen mit Demenz untersucht werden. Eine letzte Frage gilt dem Verhältnis zwischen diesen Texten und den Sterbeerzählungen am und vom Lebensende.
1 Wahrnehmungen von Demenz Nachdem im Jahr 1906 der deutsche Arzt Alois Alzheimer die „eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“³ erstmals genauer beschrieben hatte, wurde Demenz, zu der die nach ihm benannte Alzheimer-Krankheit als verbreitetste Form zählt, vorwiegend als medizinisches Phänomen angesehen. Weil die Symptome und deren biologische Ursachen im Vordergrund standen, nahmen Betroffene, Angehörige sowie eine breitere Öffentlichkeit ausschließlich die Verluste wahr. Demenz wurde zum Namen⁴ für ein Krankheitsbild, „das meist als Folge einer chronisch fortschreitenden Erkrankung des Gehirns auftritt und sich durch eine Störung von mehreren Hirnleistungsbereichen äußert. Diese Bereiche sind: Aufmerksamkeit, Sprache, Lernen und Gedächtnis, sogenannte Exekutivfunktionen (Planen, abstraktes Denken, Einsatz von Strategien, Problemlösung), Wahrnehmungsleistungen und Fähigkeiten der sozialen Interaktion. Die demenzbedingten Störungen schränken die betroffene Person in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens und/oder des Berufs ein.“⁵ So herrscht in gängigen Beschreibungen eine ausgeprägte Defizitorientierung vor. Der langsame Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit wirke sich besonders auf den Teil des Gedächtnisses aus, der für die Bildung neuer Gedächtnisinhalte eine Rolle spiele. Er betreffe mit fortschreitender Krankheit aber immer mehr Regionen des Gedächtnisses, so dass den Betroffenen zunehmend auch bereits gespeicherte Erinnerungen abhandenkämen. Die Diagnose, an einer Demenz erkrankt zu sein, kann somit in doppelter Weise stigmatisieren. Betroffene sind nicht nur dem Erinnerungsverlust ausgesetzt und mit der Angst vor einer Zukunft in Abhängigkeit konfrontiert, sondern müssen sich auch mit gesellschaftlich-kulturell geprägten Interpretationen der
Vgl. Alois Alzheimer, Über eine eigenarige Erkrankung der Hirnrinde, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 64 (1907), 146 – 148. Abgedruckt in Günter Krämer und Hans Förstl, Alzheimer und andere Demenzformen. Antworten auf die häufigsten Fragen (Stuttgart: Trias, 2008), 191– 193. Darauf, dass bereits in der Bezeichnung „de-ment“ eine negativ wertende Sichtweise vorliegt, verweist Gloria Sterin, Essay on a word. A lived experience of Alzheimer’s disease, in: Dementia 1 (2002), 7– 10, hier 7: „Demented really means mindless, or without a mind. And without a mind, one is not really fully human… in fact, not human at all.“ Krämer und Förstl, Alzheimer und andere Demenzformen (s. Anm. 3), 14.
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Krankheit auseinandersetzen. Weil eine Demenz die allgemein geförderten und geforderten kognitiven und kommunikativen Kompetenzen beeinträchtigt, wird die Krankheit für die einen zum großen Schreckgespenst des kulturellen und technischen Fortschritts⁶, für die anderen zu einem kulturkritischen Mahnmal, das Demenz zur „Krankheit des Jahrhunderts“⁷ macht. Sind lange Zeit vor allem biomedizinische und soziopsychologische Studien zur Krankheit im Vordergrund gestanden, so nehmen gegenwärtig die kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Thematik zu.⁸ Diese Versuche, den Stellenwert von Demenz im medialen Spiegel der Gesellschaften zu reflektieren, bleiben jedoch häufig von einer deutlichen Außenwahrnehmung beherrscht. Sie beziehen sich weniger auf die Innensicht von Demenz als einer individuellen Erfahrung von Betroffenen, obwohl ein wachsender Anteil der Gesamtbevölkerung direkt oder indirekt davon betroffen ist. So schreibt die US-Amerikanische Forscherin Lisa Snyder in der zweiten Auflage ihres Buches Wie sich Alzheimer anfühlt pointiert: „Ohne die Gedanken der Menschen mit Alzheimer fehlen Seiten in unserem Lehrbuch, nämlich die, die Aufschluss darüber geben, wie es sich anfühlt, mit dieser Krankheit zu leben, sie Tag für Tag wahrzunehmen und mit ihren Auswirkungen umzugehen.“⁹ Diese Stoßrichtung ist aufzunehmen. Nicht zuletzt dank Fortschritten in der Früherkennung der Krankheit ist es den Betroffenen selbst möglich, über ihre Erfahrungen mit der Krankheit zu sprechen und zu schreiben. Es liegen autobiografische Projekte vor, in denen sich Betroffene – oft in Kollaboration mit Angehörigen oder Betreuenden – über längere Zeit mit der subjektiven Wahrnehmung von Demenz auseinandersetzen. Dem kommt entgegen, dass in den Ulrich Stock, Vergessen erzählen, http://www.zeit.de/2008/16/Alzheimer (2008, letzter Zugriff: 07.04. 2016). Arno Geiger, Der alte König in seinem Exil (München: Hanser, 2011), 58. Vgl. z. B. Aagje Swinnen und Mark Schweda, Hg., Popularizing Dementia. Public Expressions and Representations of Forgetfulness (Bielefeld: transcript, 2015). Mark Schweda und Lisa Frebel, Wie ist es, dement zu sein? Epistemologische Probleme und filmästhetische Lösungsperspektiven in der Demenzethik, in: Ethik in der Medizin 27 (2015), 37– 57; Ulrike Vedder, Erzählen vom Zerfall. Demenz und Alzheimer in der Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Germanistik 22 (2012), 274– 289; Martina Kumlehn, Vom Vergessen erzählen. Demenz und Narrative Identität als Herausforderungen für Seelsorge und theologische Reflexion, in: Martina Kumlehn und Thomas Klie, Hg., Aging – Anti-Aging – Pro-Aging. Altersdiskurse in theologischer Deutung (Stuttgart: Kohlhammer, 2009), 201– 212. Snyder, Wie sich Alzheimer anfühlt (s. Anm. 2), 27. Diesem Desiderat wird in jüngeren Publikationen, die neben Angehörigen auch Betroffene zu Wort kommen lassen, vermehrt Rechnung getragen. In vorbildlicher Weise umgesetzt ist diese Mehrstimmigkeit etwa in Irene Bopp-Kistler, Hg., Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven (Zürich: rüffer & rub, 2016) oder Elena Ibello und Anne Rüffer, Hg., Reden über Demenz (Zürich: rüffer & rub, 2017).
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letzten Jahren auch Fachpersonen, welche Betroffene und deren Familien begleiten, über narrative Interviews vermehrt die Innensicht der Krankheit zur Sprache kommen lassen. Ihre Grundlage bildet ein Personverständnis, wie es durch den britischen Psychogerontologen und Sozialpsychologen Tom Kitwood initiiert wurde. Ihm ging es darum, die an Demenz erkrankten Personen als Subjekte und nicht als Objekte zu betrachten. Er erschloss Zugangswege zum subjektiven Erleben Betroffener, die es den Pflegenden ermöglichen sollten, nicht nur Verlusterfahrungen und Defizite, sondern auch die Ressourcen und Potenziale durch alle Phasen einer Demenz hindurch wahrzunehmen und zu unterstützen. Unter den sieben Vorschlägen, wie Betreuende die eigene Wahrnehmung schulen können, findet sich unter dem ersten Punkt die Aufforderung, Berichte und Selbstdarstellungen zu lesen, die Menschen in einem frühen Stadium von Demenz geschrieben haben.¹⁰
2 Konzepte autobiografischen Schreibens Traditionelle Autobiografiekonzepte gingen von einem doppeltem Zusammenhang aus: einerseits von der Einheit zwischen dem schreibenden Ich und dem autobiografischen Text und andererseits von der Kohärenz zwischen sämtlichen Teilen dieser geschriebenen Lebensgeschichte, welche die Erinnerungen an die Vergangenheit, die zeitliche Fülle der Gegenwart und die gewünschten, erhofften oder befürchteten Vorstellungen von Zukünftigem in chronologischer Abfolge zusammenfügen. Die hermeneutische Grundlage dafür sah Wilhelm Dilthey in der Kategorie des „Lebenszusammenhangs“: „Der Lebenslauf besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden.“¹¹ Nicht gelöst ist damit das grundsätzliche Paradox, dass man durch Selbstbeobachtung und -darstellung immer nur fragmentarische Teilansichten des momentan erlebten Lebensflusses gewinnen kann. Vertreter unterschiedlicher Disziplinen haben daher versucht, den Kohärenzanspruch autobiografischer Texte kritisch aufzubrechen. Mit einem psychologischen Verstehenskonzept arbeitete etwa Jacques Lacan heraus, dass autobiografische Texte in ihrer zei Tom Kitwood, Demenz. Der personzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen (Bern: Huber, 2004), 111– 118. Wilhelm Dilthey, Das Erleben und die Selbstbiographie, in: ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981), 235 – 251, hier 240.
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chenhaften Materialität Projektionsräume bilden: Sie ermöglichen dem Subjekt Selbsterkenntnis, indem sie ihm Einheitlichkeit und Ganzheit vorspiegeln.¹² Zu einem sozialkritischen Befund kam etwa Peter Sloterdijk, der das lebensgeschichtliche Erzählen als eine Form sozialen Handelns beschrieb, in welcher individuelle Geschichten durch „kulturelle Illusionsmuster“ überformt werden.¹³ Auch zahlreiche literaturwissenschaftliche Untersuchungen hinterfragten unter Bezugnahme auf modernes und postmodernes autobiografisches Schreiben die referentielle Dimension der entstehenden Texte. Diese Hinweise auf den fiktionalen Charakter der Subjektentwürfe gingen mit der Beobachtung einher, dass sich traditionelle Gattungsstrukturen in zeitgenössischen Texten zunehmend auflösen. Autobiografisches Schreiben wird unter einem konstruktivistischen Blickwinkel zum Ausdrucksmittel eines sich inszenierenden Rollen-Ich.¹⁴ Jenseits der Abgrenzungsdebatten setzen sich seit einiger Zeit Konzepte durch, die davon ausgehen, dass Wirklichkeitsdarstellung und Selbstkonstruktion, Faktualität und Fiktionalität nicht als Gegensätze zu verstehen sind, dass vielmehr in allen Narrativierungen des eigenen Lebens, sowohl bei alltäglichen Selbstäußerungen als auch bei umfangreichen Autobiografien, erst eigentlich Sinn entsteht.¹⁵ Auf drei Faktoren autobiografischen Schreibens wird hierbei immer wieder verwiesen: Narrative Selbstthematisierungen orientieren sich erstens an kulturell vorgegebenen Grundmustern. So argumentiert etwa Brockmeier, dass selbst die Geschichten von sinnlosen Lebensverläufen sich an „plot genres of a successful life“ hielten.¹⁶ Gemeint sind jeder autobiografischen Selbstdarstellung zugrunde liegende Handlungs- und Deutungsschemata, an denen sich konkrete Texte orientieren, sie aufnehmend oder sich von ihnen abgrenzend. Zweitens steht die Idee einer retrospektiven Teleologie als Hauptperspektive der Texte im Zentrum, die sich in der Verknüpfung von erzählter Vergangenheit mit der Gegenwart des Schreibens als sinnstiftend erweist.¹⁷ Diese Linearisierung dient gemäß Brockmeier dazu, die tatsächliche Kontingenz des Lebens zu kom-
Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, Bd. 2, Schriften (Weinheim/Berlin: Quadriga, 1986), 61– 70, zur „ursprünglichen Zwietracht“ vgl. besonders 66. Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre (München: Hanser, 1978), 319. Vgl. hierzu Marina Wagner-Egelhaaf, Autobiografie (Stuttgart: Metzler, 2005), 41– 65. Vgl. etwa den Sammelband Jens Brockmeier und Donal Carbaugh, Hg., Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture (Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publishing Company, 2001). Jens Brockmeier, From the end to the beginning, in: Brockmeier und Carbaugh, Hg., Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture (s. Anm. 15), 247– 282, hier 249. Ebd., 252.
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pensieren.¹⁸ Drittens sind autobiografische Texte als Ausdruck der Selbstvergewisserung immer an Adressaten gerichtet, die durch Lektüre und Interpretation sinnstiftend beteiligt sind. Dieser letzte Aspekt ist deshalb besonders wichtig, weil die intersubjektive, kommunikative Ebene in der vorwiegend auf subjektive Identitätsfindung fixierte Autobiografieforschung zumeist übersehen wurde: Das erzählende Ich entwirft sich selbst immer im Blick auf ein Gegenüber, für das es seine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen auswählt, kombiniert, stilistisch gestaltet und kommentiert.¹⁹ Allen Konzepten autobiografischen Schreibens gemeinsam ist die Annahme, dass der Mensch über seine Erinnerungen und seine Orientierung im Fluss der Zeit verfügt wie etwa ein Jongleur über seine Bälle. Möglicherweise fällt einmal einer dieser Bälle zu Boden. Mit entsprechendem Training und vor allem selbstbewusstem Auftreten gelingt die Vorführung aber trotzdem. Seit den augustinischen Confessiones gilt das Gedächtnis als die Schlüsselkategorie, welche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft virtuos zusammenhält und die eigene Lebensgeschichte als Geschichte eines Lebens erfahrbar macht.²⁰ Zwar öffnen neuere, konstruktivistische Ansätze der Narrationstheorie einen Zugang auch zur Problematik des Vergessens. Geht man nämlich den Gründen nach, die für die historiographische Unzuverlässigkeit der autobiografischen Selbstdarstellung genannt werden, so rückt das defizitäre Erinnerungsvermögen des autobiografischen Ich ins Zentrum. So analysiert etwa Paul Ricœur, wie innerpsychische und gesellschaftliche Prozesse neben individuellen und kollektiven Gedächtnisleistungen auch andauernd durch Vergessen gesteuert werden, sei dies positiv durch eine notwendige Selektion dessen, was gerade wichtig ist, oder sei es negativ durch psychische Verdrängungsmechanismen und politische Strategien des Gedächtnismissbrauchs.²¹ Aber auch wenn wir uns im Alltag über Vergesslichkeit ärgern oder durch Verdrängung, Zensur und Vergessenszwänge gegeißelt werden, behält das Vergessen gemäß Ricœur doch immer „eine ehrenhafte und wohltätige
Ebd., 247. Diese Feststellung könnte man mit Ricœurs Überlegungen zur Konfiguration eines Textes präzisieren, der in allen Erzählungen, trotz der Tendenz, im Text ein kohärentes Ganzes zu realisieren, die „fundamentale Dialektik der dissonanten Konsonanz“ sieht (vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, übers. von Rainer Rochlitz, 2. Aufl. (München: Fink, 2007), 88 f. Vgl. Mark Freeman, From substance to story, in: Brockmeier und Carbaugh, Hg., Narrative and Identity. Studies in Autobiography, Self and Culture (s. Anm. 15), 283 – 298, hier 290. Vgl. Augustinus, Bekenntnisse, hg. und übersetzt von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch (Stuttgart: Reclam, 1989), besonders Buch 10. Dabei hatte Augustinus bereits eine bemerkenswerte Sensibilität für die Grenzen und Unergründlichkeit des Gedächtnisses und dafür, dass man sein Leben nicht aus eigener Kraft erkennen kann. Vgl. Paul Ricœur, Die vergangene Zeit lesen, in: ders., Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, 3. Aufl. (Göttingen: Wallstein, 2002), 69 – 156.
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Funktion“, weil es als „selektive Aktivität“ das Erzählen steuert, das davon lebt, dass man immer auch anders erzählen könnte.²² Welche Rolle spielt aber das passive Vergessen, das die Möglichkeiten, anders zu erzählen, zunehmend einschränkt?
3 Autobiografische Texte von Menschen mit Demenz Drei verschiedene Gesichtspunkte sind deutlich geworden, unter denen autobiografische Texte betrachtet werden können. Sie betreffen die narrativen Grundmuster, den teleologischen Zusammenhang und die Adressierung an ein Lesepublikum.
3.1 Narrative Grundmuster Die Frage nach den narrativen Grundmustern berührt die Ebene der erzählten Welt, und zwar in einer fundamentalen Weise: Gelingt es dem handelnden Subjekt, einen im Laufe seines Lebens auftretenden zentralen Konflikt zu lösen, Schwierigkeiten zu überwinden, Grenzen zu überschreiten – oder gelingt es ihm nicht? Hierbei geht es nicht um einzelne Episoden des erzählten Lebens, sondern um das globale Handlungsschema, das der Lebensgeschichte zugrunde liegt. Die Titel der Bücher, geschrieben von Menschen mit Demenz, geben erste Hinweise: Mit Elementen wie „Erinnerungen an mein Leben“, „An Intimate Look at Life“ oder, metaphorisch ausgedrückt, „Mein Tanz“, „My Journey“, „Auf dem Weg“ identifizieren sie das Werk als ein autobiografisches.²³ Immer jedoch führen sie Zusätze mit, die auf das Grundthema aufmerksam machen und auf die Krankheit verweisen, zu welcher sich das Ich verhalten muss: Wie ausgewechselt. Verblassende Erinnerungen an mein Leben ²⁴, An Intimate Look at Life with Alzheimer’s ²⁵, Mein Tanz mit Demenz ²⁶, My Journey into Alzheimer’s Disease ²⁷, Auf dem Weg mit Ebd., 140 f. Zu den Titelfunktionen vgl. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001), 77– 80. Rudi Assauer, Wie ausgewechselt. Verblassende Erinnerungen an mein Leben (München: riva Verlag, 2012). Thomas DeBaggio, Losing my Mind. An Intimate Look at Life with Alzheimer’s (New York: Free Press, 2002). Christine Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (Bern: Huber, 2011).
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Alzheimer ²⁸. Das Grundmuster beruht auf der Spannung zwischen zwei Polen: Alzheimer und Ich ²⁹. Die Überschriften der Werke zeigen unterschiedliche Abstufungen, das Verhältnis zu problematisieren: Sie deuten auf den Versuch hin, Demenz zu thematisieren, um sie ins Leben zu integrieren (Hallo Mister Alzheimer, wie kann man weiterleben mit Demenz?)³⁰, oder benennen die Krankheit von Vornherein als Widerpart, der das Ich in seiner Identität bedroht und das Weiterleben bis ins Sterben hinein fraglich werden lässt (Ich habe Alzheimer. Wie will ich noch leben – wie sterben?)³¹. Was die paratextuellen Hinweise andeuten, bestätigt sich in den autobiografischen Texten selbst. Die entscheidende Frage ist, ob sich die Person im Kampf gegen die Krankheit³² als weiterhin aktiv oder als passiv unterlegen erlebt.³³ Für Christian Zimmermann, der als einer der ersten Betroffenen im deutschen Sprachraum ein Buch über seine Erfahrungen mit Alzheimer herausgegeben hat, gilt: „Wichtig ist: Wir dürfen nicht die Rolle eines Opfers übernehmen, die man uns immer wieder zuschreiben möchte. Wir müssen und wir können Handelnde bleiben.“³⁴ Texte, in denen dieses Grundmuster dominiert, schildern das Leben mit der Krankheit als Entwicklungs- und Lernprozess, in dem es darum geht, aktive Bewältigungsstrategien zu finden. Zwar würden Veränderungen bei den Verstandesleistungen stattfinden, was aber keinesfalls heiße, dass „alle anderen Fähigkeiten, an dieser Welt teilzunehmen, sie zu erleben und ein gutes Leben zu führen“³⁵, ebenso abhandenkämen. Vielmehr gehe es darum, Erinnerungsverlust und Vergessen auch als Chance zu betrachten und den Blickwinkel auf das Hier und Jetzt zu verschieben: „Alzheimer bedeutet Abschied und Neuanfang zugleich!“³⁶ So können die Texte sogar von einem neuen Vertrauen in die Robert Davis, My Journey into Alzheimer’s Disease. Helpful insights for family and friends (Wheaton: Tyndale Publishers, 1989). Christian Zimmermann und Peter Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer. Wie es sich mit Demenz leben lässt (Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag, 2011). Richard Taylor, Alzheimer und Ich, 2. Aufl. (Bern: Huber, 2010). Richard Taylor, Hallo Mister Alzheimer, wie kann man weiterleben mit Demenz? Einsichten eines Betroffenen (Bern: Huber 2013). Ruth Schäubli-Meyer, Ich habe Alzheimer. Wie will ich noch leben – wie sterben? (Zürich: Oesch Verlag, 2008). Zur Kampfmetapher vgl. z. B. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 197. Aufgrund strukturalistischer Textananlysen unterscheidet der estnische Literatur und Kulturwissenschaftler Jurij Lotman narrative Texte, in denen die Grenzüberschreitung vollzogen wird, und solche, in denen sie scheitert oder rückgängig gemacht wird. Vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 5. Aufl. (München: Beck, 2003), 140 – 144. Zimmermann und Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer (s. Anm. 28), 39. Ebd., 69. Ebd., 89.
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eigenen Kräfte sprechen, das Leben gestalten zu können.³⁷ Welche Rolle dabei die Medizin spielt, wird unterschiedlich wahrgenommen: Während Christian Zimmermann und Richard Taylor die pharmakologischen Bemühungen grundsätzlich kritisch beurteilen³⁸, gründet Christine Brydens neu gewonnene versöhnliche Einstellung zur Krankheit insgeheim in der Hoffnung, dass ein Heilmittel gefunden werde. Ihre Hoffnung geht einher mit einem ausgeprägten christlichen Glauben, der auch Wunder wirken könne.³⁹ Ein zweites Handlungsschema führt über Schmerz und Trauer nicht zu einer aktiv vollzogenen Werteverschiebung, sondern lässt im Hier und Jetzt kein sinnvolles Leben mit der Krankheit zu. Das Leben mit Demenz wird durchgehend als defizitär erlebt, was sich etwa in der immer wiederkehrenden Warum-Frage in den Erinnerungen Rudi Assauers, des einstigen Managers bei FC Schalke 04, zeigt: „Ich bin doch noch jung, keine 70. Ich war doch immer fit, topfit, ein Fußballer eben. Und jetzt Alzheimer. Warum ich? Assauer, frage ich mich, warum du?“⁴⁰ Das „Ich“ entfremdet sich zum „Du“. Gelingt es dem autobiografischen Subjekt nicht, den Graben, den die Krankheit in den bisherigen Lebensweg gerissen hat, zu überbrücken, so behält diese als feindliche Macht die Oberhand und kann bis zum Punkt führen, an dem der Freitod als letzter Ausweg aufscheint: Rudi Assauer befasst sich mit dem Gedanken⁴¹, Gustav, der pensionierte Pfarrer in Ich habe Alzheimer. Wie will ich noch leben – wie sterben? setzt ihn als assistierten Suizid mit Exit in die Tat um.⁴² Die Beispiele lassen erkennen, dass die beiden narrativen Grundmuster oft auch mit religiös-spirituellen Deutungen verbunden sind, die ein aktives bzw. passives Handlungsschema unterstützen.Wichtig ist dabei die Beobachtung, dass ähnliche Gottesbilder durchaus unterschiedliche Auswirkungen im Umgang mit der Krankheit haben können: So dient der Glaube an einen Gott, der das Leben lenkt und in dieses eingreifen kann, einerseits als Stütze bei der Wahrnehmung eigener Ressourcen⁴³, kann andererseits aber auch im Hintergrund einer eher
Vgl. ebd., 79; Taylor, Alzheimer und Ich (s. Anm. 29), 99; Taylor, Hallo Mister Alzheimer (s. Anm. 30), 279; Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 180 und 15: Christine Bryden nennt diesen Erkenntnisprozess „Reise zum Wesenskern“. Zimmermann und Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer (s. Anm. 28), 77– 79: „Lassen wir uns nicht auf den Arm nehmen.“ Vgl. z. B. Taylor, Hallo Mister Alzheimer (s. Anm. 30), 89 f. Vgl. hierzu auch den Kommentar des deutschen Herausgebers Christian Müller-Hergl in Taylor, Alzheimer und Ich (s. Anm. 29), 10. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 191– 197, besonders 197. Assauer, Wie ausgewechselt (s. Anm. 24), 244. Vgl. ebd., 17. Schäubli-Meyer, Ich habe Alzheimer (s. Anm. 31), 14 ff. Vgl. z. B. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 197.
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passiven, abwartenden Haltung stehen.⁴⁴ Ebenso kann auch die Ansicht, dass Gott mit der Krankheit grundsätzlich nichts zu tun habe und der Mensch allein damit umgehen müsse, mit beiden Handlungsschemata verbunden sein: Die Suche nach Sinn kann scheitern⁴⁵ oder auch zu einer „neugefundenen Zielorientierung“⁴⁶ führen.
3.2 Teleologie und Lebenszusammenhang Der zweite Aspekt, die teleologische Gerichtetheit von autobiografischen Texten, ist an prototypische Lebensgeschichten geknüpft, die bei den frühesten Erinnerungen aus der Kindheit beginnen und in der Gegenwart des Schreibens enden. Der lange Bogen, den sie aufspannen, ist am einen Ende in der Vorgeschichte der Eltern verankert und deutet am andern auf eine zwar offene, aber durch die Autobiografie immer auch schon angebahnte Zukunft. Und dazwischen? Als markante Punkte jeder Autobiografie treten Schlüsselerlebnisse auf, welche das autobiografische Subjekt auf die Probe stellen und gerade deshalb wichtig sind, weil seine Identität darin aufscheinen kann. Weil Lebensereignisse erzählenderweise so repräsentiert werden, dass sich eines aus dem anderen ergibt und so eine Struktur und Richtung erhält, kann sich Erzählen als wirkungsvolle Tätigkeit für Menschen in existenziellen Krisen, in schwerer Krankheit oder am Lebensende erweisen. Dies hat auch Arthur W. Frank in seinen Reflexionen zur Narrativität in der Medizin herausgestrichen: „Narrative repairs those moments of disruption of the movie-in-the-brain by restoring flow to a life’s story, and with that flow, the coherence of things happening in consequence of recognized antecedent events and having predicable consequences.“⁴⁷ Die Nachricht, fortan mit der Diagnose einer demenziellen Erkrankung leben zu müssen, wird in den meisten autobiografischen Texten von Menschen mit Demenz als zentrales Schlüsselerlebnis aufgerufen. So schreibt Bill, bei dem Alzheimer-Krankheit festgestellt wurde: „Ich erinnere mich noch, wie ich nach der
Vgl. z. B. Assauer, Wie ausgewechselt (s. Anm. 24), 249 (Schluss des Buches): „Ich habe nie gebetet, habe nie an Gott geglaubt. Aber ich glaube schon, dass da oben irgendetwas ist, dass es da irgendjemanden gibt, der die Geschicke der Menschen lenkt. Es geht alles seinen Weg, so wie es vorherbestimmt ist. Auch mein Leben, auch meine Krankheit.“ Schäubli-Meyer, Ich habe Alzheimer (s. Anm. 31), 16 f. Taylor, Hallo Mister Alzheimer (s. Anm. 30), 183. Arthur W. Frank, The Necessity and dangers of illness narratives, especially at the end of life, in: Yasmin Gunaratnam und David Oliviere, Hg., Narrative and Stories in Health Care: Illness, Dying and Bereavement (Oxfod: Oxford University Press, 2013), 161– 175, hier 163.
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Diagnose die Klinik in San Diego verließ: Es war ein wunderschöner Abend, und ich fühlte mich wie ein gebrochener Mann ohne Hoffnung.“⁴⁸ Von diesem Punkt her, in welchem die zuvor erlebten Verunsicherungen und Befürchtungen aufgrund von medizinischen Befunden und Expertisen einen Namen bekommen, werden alle anderen Erlebnisse der Lebensgeschichte beleuchtet. So sehr nun aber die Diagnose als Ausgangspunkt für die Erzählung in Betracht kommt, so wird sie doch mit anderen Schlüsselereignissen der Lebensgeschichte verbunden, bestätigt oder auch relativiert. Rudi Assauers Lebensrückblick beispielsweise beginnt zwar bei der Alzheimer-Diagnose und der Schilderung der Krankheitssituation, verweist dann aber auf die entscheidende Zäsur des erzwungenen Abschieds vom FC Schalke 04 im Jahr 2006. „Dieses Warten machte mich verrückt. Was war denn nun Sache? Wo blieb denn dieser Anwalt? Ich zündete mir eine meiner Davidoff-Zigarren an und saß Däumchen drehend bei mir zu Hause im Wohnzimmer. Es war der Tag, an dem über mich entschieden wurde.“⁴⁹ Die Erfahrung des Abwarten-Müssens, der Schicksalsergebenheit und Ohnmacht, die Rudi Assauer angesichts der Krankheit durchzustehen hat, ist somit in einer chronologisch vorgeordneten Zäsur seines Lebens bereits vorweggenommen: Beide Erlebnisse, die Entlassung und die Diagnose, treten in ein Verhältnis der gegenseitigen Interpretation. Auch das Buch von Christian Zimmermann beginnt mit der Wahrnehmung erster krankheitsbedingter Veränderungen und schildert dann den Moment der Diagnoseeröffnung. Mit dem Hinweis auf das Schweigen der Anwesenden und unter Zuhilfenahme von direkter Rede wird genauestens protokolliert: „Dann gab es eine Pause. Meine Frau, die dabei war, fragte dann: ‚Und jetzt?’ Und die Antwort [der Ärztin] lautete: ‚Es ist Alzheimer.’“⁵⁰ Die mit so viel Nachdruck erzählte Szene wird später nochmals aufgenommen – und ergänzt: „Ich denke, es gibt zwei zentrale Punkte für jeden Menschen, der gezwungen ist, mit Alzheimer zu leben. Der erste ist der Moment, indem es einem eröffnet wird: Sie haben Alzheimer! […] Bei dem anderen zentralen Punkt – ich denke sogar dem wichtigsten Punkt im ganzen Geschehen – fallen die Reaktionen jedoch sehr unterschiedlich aus.“⁵¹ Christian Zimmermann bringt als zweites Schlüsselerlebnis eine Entscheidungssituation ins Spiel: „Soll ich diesen Empfindungen zukünftig die zentrale Rolle in meinem Leben einräumen oder soll ich versuchen, sie zu überwinden?“ Indem er diesen zweiten „Punkt im ganzen Geschehen“ stärker gewichtet als die eigentliche Diagnose, führt er ein Moment ein, das ihn nicht als
Zitiert nach Snyder, Wie sich Alzheimer anfühlt (s. Anm. 2), 65. Assauer, Wie ausgewechselt (s. Anm. 24), 33. Zimmermann und Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer (s. Anm. 28), 23. Ebd., 44.
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Opfer der Krankheit, sondern als aktives Subjekt hinstellt. „Mein Lieblingsspruch ist: Es gibt ein Leben nach der Diagnose!“⁵² Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Thomas DeBaggio die retrospektive Teleologie des Erzählzusammenhangs aufbaut. Im Vorwort zu seinem ersten Buch über sein Leben mit Alzheimer Losing my Mind unterscheidet er drei narrative Linien: In my notes, I call the first narrative the Baby Book. It deals with long-term memory from my first awareness through the early 1970s. A second narrative intersects the first, relating stories of humiliation and loss. It contains rough details of my tangle with Alzheimer’s. This narrative represents a mind-clogged, uncertain present. It is filled with memory lapses and language difficulties and the sudden barks of disappointment and loss. A third stream is filled with recent Alzheimer’s research. All this is mixed together, as it is in the brain, and follows a pattern of its own.⁵³
Anders als in anderen autobiografischen Texten von Menschen mit Demenz, die sich vom Schlüsselereignis der Krankheitsdiagnose her entfalten, arbeitet DeBaggios Beschreibung bewusst mit einer heterogenen Grundstruktur, einem „Mix“ aus gegenläufigen und sich überschneidenden Linien in der Spannung „between the wonder of childhood and the tottering age of memory“. Offensichtlich ist der Anspruch, mit einer Autobiografie retrospektive Teleologie anzustreben, mehr als ein Experimentierfeld denn als normatives Kriterium zu verstehen. Autobiografische Texte kommen nicht nur als kontinuierliche Ketten von Ereignissen in den Blick, sondern werden zu Konglomeraten von Erlebnissen und Gefühlen, von prägenden Wissensbereichen und Begegnungen mit anderen Menschen. Christine Bryden beschreibt es so: „Es war eine enorme Arbeit, meine Gedanken, Vorträge, Reden, Korrespondenz, Notizen usw. aus den letzten sechs Jahren zusammenzutragen. Bei der Verarbeitung […] habe ich mich weniger von Erinnerungen als von Inspiration leiten lassen.“⁵⁴
Ähnliches schreibt auch Christine Bryden, welche die negativ erlebte Zeit nach der Diagnose von 1995 – 1998 lediglich noch als Rückblende in den Erzählzusammenhang einbaut, über ihre „Entschlossenheit, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen“: „Wir können das Gefühl der Erstarrung und Erschöpfung überwinden, wenn wir uns unserer Reise durch die Demenz mutig stellen.“ Unter der hermeneutischen Voraussetzung des „Blicks durch diese andere Brille“ gelinge es ihr, das trostlose Dasein zu bezwingen und die beglückenden Ereignisse wahrzunehmen: Sie beschließt, trotz der Krankheit ein Theologiestudium zu beginnen, und lernt einen Mann kennen, den sie bald darauf heiratet. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 177 f. DeBaggio, Losing my Mind (s. Anm. 25), xi. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 183.
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Wenn davon die Rede ist, dass in der Postmoderne die „großen“, sich an Aufklärung, Fortschritt und menschlicher Entwicklung orientierenden Erzählungen nicht mehr länger maßgebend seien⁵⁵, denkt wohl kaum jemand an Demenz. Dennoch machen die autobiografischen Texte von Menschen, die mit dieser Krankheit konfrontiert sind, evident, wie die Legitimationskraft der autobiografischen Auseinandersetzung auch dann nicht verloren geht, wenn die Idee des kohärenten Lebenslaufs ins Wanken gerät. Mit „kleinen Erzählungen“, in denen oft nur ein bestimmter Ausschnitt des Lebens in den Blick kommt, entstehen Freiräume für autobiografische Experimente, die essayistische Tendenzen aufweisen und mit ausführlichen Informationen zur Krankheit oftmals Mischformen zwischen Autobiografie, Sachtext und Ratgeber bieten. Mit solchen Genreüberschreitungen wird deutlich, dass die Verfasser von autobiografischen Texten nicht nur gegen den Erinnerungsverlust und gegen das Schweigen anschreiben, sondern auch gegen die Vorstellung einer individuellen, abgrenzbaren Identität. Sie zeigen auf, dass die Arbeit an der Autobiografie nicht nur ein Projekt der persönlichen Identitätsfindung ist, sondern dass sich die Texte immer auch an ein Gegenüber richten.
3.3 Adressierung In pragmatischer Hinsicht sind die autobiografischen Texte also über die inhaltlichen und formalen Strukturen hinaus auch als sprachliche Handlungen wahrzunehmen. Diese werden oftmals explizit benannt und mit einer Botschaft an die Leser und Leserinnen verbunden. Die untersuchten Beispiele lassen drei kommunikative Funktionen erkennen. Eine erste Funktion, die seit den Augustinischen Confessiones die Tradition autobiografischen Schreibens prägt, liegt im Bekennen. Diese Funktion herrscht in Rudi Assauers Lebenserinnerungen vor, die mit der Absicht publiziert sind, einem grösseren Leserkreis mitzuteilen, wie es um den einstigen Star der Fußballwelt steht, und so der Öffentlichkeit und Bekanntheit seiner Person gerecht zu werden. Rudi Assauer nennt sein Bekenntnis ein „Outing“: „Es sind ja bisher nur einzelne Leute eingeweiht. Meine Familie, meine engsten Freunde, meine Sekretärin, die Ärzte. Aber was ist mit all den anderen? […] Für mich war es trotzdem irgendwann klar: Es muss raus. Das Versteckspiel sollte ein Ende haben.“⁵⁶
Vgl. dazu Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir (Paris: Les Editions de Minuit, 2010). Assauer, Wie ausgewechselt (s. Anm. 24), 229.
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Die autobiografische Sprechhandlung kann zweitens mit der Funktion des Aufklärens und Belehrens in Verbindung gebracht werden. Als „Mutmacherbuch“ und „eine Art Ratgeber“⁵⁷ versteht Christian Zimmermann seine Ausführungen, in denen nach jedem Kapitel Fragen und Denkanstösse formuliert sind, die auch die Leserinnen und Leser zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Krankheit anregen sollen. In ähnlicher Weise münden auch Christine Brydens lebensgeschichtlichen Erzählungen immer wieder in konkrete Handlungsanweisungen an die Leserinnen und Leser. Diese erhalten eine doppelte hermeneutische Verantwortung sowohl auf der Ebene der erzählten Welt als auch auf der Ebene der erlebten Welt, die über die Gegenwart des Schreibens hinausführt: Mit Ihrem Verständnis und Ihrer Unterstützung können wir Ihnen helfen, uns zu helfen. Wir können gemeinsam Geschichte schreiben. Suchen Sie nach Möglichkeiten, unsere unverständlichen Äußerungen, zusammenhangslosen Gedanken und bruchstückhaften Erinnerungen an die Gegenwart und die Vergangenheit zu verstehen. Lassen Sie uns die Erkenntnisse, die wir auf der Reise von der Diagnose bis zum Tod gewonnen haben, als gleichberechtigte Partner – Menschen mit Demenz, ihre Familien und alle, die sie unterstützen – gemeinsam weitergeben.⁵⁸
Eine weitere Spielart der Belehrung liegt in den Schriften des 2015 verstorbenen Psychologieprofessors und Alzheimeraktivisten Richard Taylor vor: Bereits im vierten Teil seines ersten Buches Alzheimer und Ich wendet er sich mit dem Gedankenexperiment, selbst ein behandelnder Arzt zu sein, gegen medizinische Fachpersonen und schließt mit einem Rollentausch: Experten für die Krankheit seien nicht die Ärztinnen und Ärzte, sondern diejenigen Leserinnen und Leser, die selbst von der Krankheit betroffen sind. Richard Taylors zweites Buch Hallo Mister Alzheimer ist durchgehend in Briefform abgefasst und behandelt Einzelthemen zur Krankheit in der Form eines Kummerkastens, in dem sich der Autor als kompetenter Ansprechpartner für die unzähligen Fragen und Unsicherheiten bezüglich Demenz präsentiert. Die Texte Richard Taylors lassen über die bekennende und belehrende Funktion hinaus noch auf eine dritte kommunikative Funktion schließen, die ich als Funktion der generativen Vermittlung bezeichnen möchte. Diese trägt der Erfahrung Rechnung, dass sich Betroffene trotz der Krankheit weiterhin für das Wohl anderer einsetzen können und wollen, seien dies jüngere Generationen, Familienangehörige oder andere Betroffene. Wie Studien zur Generativität mehrfach belegen, ist dieser Gesichtspunkt nicht nur im Blick auf die Adressaten
Zimmermann und Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer (s. Anm. 28), 8 f. Bryden, Mein Tanz mit der Demenz (s. Anm. 26), 181.
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ein Gewinn, sondern er wirkt auch sinnstiftend auf das Wohlbefinden des schreibenden Ich zurück. Richard Taylor schreibt dazu: „Seit ich die Diagnose erhielt, habe ich einen neuen Sinn im Leben gefunden. Ich bin zum Fürsprecher für Menschen geworden, die mit den Symptomen der Demenz leben.“⁵⁹ Einen Hinweis auf die Tragweite, die der Aspekt der generativen Vermittlung für Angehörige haben kann, gibt die Ehefrau von Gustav. Für sie ist alles Geschriebene ihres Mannes wichtig, „um es später, wenn er nicht mehr da sein würde, wieder lesen zu können wie einen Brief“⁶⁰. Wie bereits erwähnt, entstehen autobiografische Texte von Menschen mit Demenz zumeist in einer Schreibgemeinschaft⁶¹, sei es, dass wie bei Thomas DeBaggio oder Christian Zimmermann zwar die Methode des „unterstützenden Schreibens“⁶² angewandt wird, der Text aber durchgehend als Selbstdarstellung verfasst ist, oder dass die Lebensbeschreibung in einem collageartigen Wechsel zwischen Fremddarstellung und längeren Zitaten aus der Ich-Perspektive besteht. Diese zweite Form liegt in den Erinnerungen Rudi Assauers sowie im „Bericht“ von Ruth Schäubli-Meyer über das leidvolle Lebensende ihres Mannes vor. Autobiografische Zeugnisse von Menschen mit Demenz zeigen somit auf, was im Prinzip für alle autobiografischen Formen der Selbstvergewisserung gilt: Welche Stoßrichtung das autobiografische Ich auch immer einschlägt – Bekenntnis, Belehrung oder auch generative Vermittlung gründen immer schon im Dialog mit anderen.
4 Ende ohne Ende Bleibt zum Schluss die Frage nach dem Ende des Erzählens, und noch genauer: nach der spezifischen Schreibsituation, die sich auf den Moment hin zuspitzt, in dem die erzählte Zeit die Gegenwart des Schreibens erreicht. Angesichts der Krankheit, die fraglich macht, was vom zukünftig Erlebten noch als Erinnerung abgespeichert werden kann, führt das Ende eines autobiografischen Schreibprojekts oftmals in eine Krise. Entweder kann diese momentan mit der Hoffnung
Taylor, Hallo Mister Alzheimer (s. Anm. 30), 11. Schäubli-Meyer, Ich habe Alzheimer (s. Anm. 31), 24. Vgl. Lars-Christer Hydén, Narrative Collaboration and Scaffolding in Dementia, in: Journal of Aging Studies 25 (2011), 339 – 347: Lars-Christer Hydén arbeitet heraus, dass für Betroffene und deren Lebenspartner und Angehörige „narrative collaboration“ und „extended mind“, die Erfahrung geteilter Lebensgeschichten, wichtig werden. Zimmermann und Wißmann, Auf dem Weg mit Alzheimer (s. Anm. 28), 11.
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überwunden werden, dass weitere Bücher nachfolgen.⁶³ So lautet der letzte Satz in Thomas DeBaggios Losing my Mind hoffnungsvoll: „The mind and its rich holdings are hard to kill. There well may be many days for me, and many books.“⁶⁴ Der zur Neige gehende Schreibprozess ermutigt die Autoren, die noch verbleibende Lebenszeit mit der Krankheit schreibend zu vertiefen, als „kostenlose Begleittherapie“ mit der Möglichkeit der Selbstvergewisserung, wie Richard Taylor schreibt: „Schreiben wurde mir zur Bestätigung, mein Schreiben bestätigt mich. Manche Leute glauben an den Satz: ‚Ich denke, also bin ich.‘ Ich schreibe, also bin ich.“⁶⁵ Dabei müssen nicht zwingend Bücher intendiert sein, die veröffentlicht werden: Gustav ist ein Beispiel dafür, dass auch kleinere, fragmentarische Formen autobiografischen Schreibens diese Funktion erfüllen. Seine Frau berichtet, wie sie viele seiner Notizzettel erst nach seinem Tod gefunden habe – versteckt im Büchergestell.⁶⁶ Schreibend am Ende eines Textes angekommen zu sein, kann aber auch in drastischer Weise die Auswirkungen der Krankheit, die Vergeblichkeit aller Bemühungen, das Gedächtnis in Schrift auszulagern, bewusst machen und Trauer und Verzweiflung aufbrechen lassen. Irgendwann ist die Krankheit so weit fortgeschritten, dass der Autor oder die Autorin den autobiografischen Text nicht mehr lesen, geschweige denn ihn als Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte wiedererkennen kann. Die abschließenden angstvollen Gedanken bezüglich der Zukunft gehen bei Rudi Assauer bezeichnenderweise von der Schreibsituation selbst aus: „Manchmal hock ich an meinem Schreibtisch, überlege so vor mich hin und male mir dann aus, was in Zukunft passiert […].“⁶⁷ Ähnlich schildert auch Thomas DeBaggio den beunruhigenden Übergang zwischen Schreiben und Schweigen: „I must now wait for the silence to engulf me and take me to the place where is no memory left and there remains no reflexive
Vgl. z. B. ebd., 130. DeBaggio, Losing my Mind (s. Anm. 25), 210. Taylor, Alzheimer und Ich (s. Anm. 29), 25 f.; vgl. Taylor, Hallo Mister Alzheimer (s. Anm. 30), 24: Auf die Frage, ob es sinnvoll sei, die eigenen Gedanken aufzuschreiben, antwortet Taylor: „Schreiben erlaubt mir auch, zu einigen der von Dr. Alzheimer gelöschten Gedanken und Gefühlen zurückzukehren. Schreiben ermöglicht mir, mein Ich von heute mit meinem Ich von gestern und dem vom vergangenen Monat zu vergleichen.“ Schäubli-Meyer, Ich habe Alzheimer (s. Anm. 31), 8. Vgl. Franzisca Pilgram-Frühauf, Symbolsprache von Menschen mit Demenz. Hermeneutische Denkanstösse, in: Simon Peng-Keller, Hg., Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen (Berlin: De Gruyter, 2017), 45 – 63. Assauer, Wie ausgewechselt (s. Anm. 24), 244.
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will to live. It is lonely here waiting for memory to stop and I am afraid and tired.“⁶⁸ Menschen sind immer schon in Geschichten verstrickt.⁶⁹ Diese Geschichten sind es, die in den Autobiografien erzählt werden und Gestalt annehmen. Kritischer Dreh- und Angelpunkt sind dabei Widerfahrnisse, die im Moment unsagbar und unbeschreibbar sind. Wenn die „Krankheit des Vergessens“ immer häufiger zu solchen Momenten führt, in denen nicht nur Erinnerungen, sondern auch der sprachliche Ausdruck abhandenkommen, so könnte man im Anschluss an Arthur W. Frank, Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier von broken narratives ⁷⁰ sprechen. Es handelt sich hierbei um ein autobiografisches Erzählen mit Leerstellen, das seinen teleologischen Zielpunkt in der offenen Zukunft der noch bevorstehenden Lebenszeit hat: in der Hoffnung auf das Gelesen-Werden durch andere und in der Hoffnung auf die Imaginationskraft der sich immer wieder neu einstellenden Gegenwart.⁷¹ Erinnern wir uns nochmals an das eingangs erwähnte Bild vom Buch mit den herausgerissenen Seiten: Jeder Mensch hat ein Buch, das er im Lauf seines Lebens selbst immer wieder neu entwirft und verwirft, strukturiert und reorganisiert, an dem er zeit seines Lebens schreibt. Aus diesem Buch werden im Verlauf einer demenziellen Erkrankung immer mehr Seiten herausgerissen, die einmal beschrieben waren. Nimmt man die Perspektive der Angehörigen und Begleitenden ein, so existiert das Buch, bestehend aus Erinnerungen, autobiografischen Texten und Notizen, jedoch weiter. Geschriebenes findet Eingang in ein kollektives Gedächtnis, kann gelesen und wiedergelesen werden und so auch Pflege und Begleitung in der Phase fortgeschrittener Demenz unterstützen. Entgegen einem weit verbreiteten Verständnis von Demenz als einem „Tod bei lebendigem Leib“ oder „Tod auf Raten“ hinterlassen autobiografische Erzählungen von Menschen mit Demenz nicht den Eindruck, Erzählungen am/vom Lebensende zu sein. Denn obschon keine Besserung oder gar Heilung der Krankheit
DeBaggio, Losing my Mind (s. Anm. 25), 207. Nichtsdestotrotz ist von DeBaggio ein Jahr nach Losing my Mind noch ein weiteres Buch erschienen. Im Vorwort zu When it gets dark verweist DeBaggio auf die enge Zusammenarbeit mit seiner Frau und seinem Sohn. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (Wiesbaden: Heymann, 1976). Vgl. Arthur W. Frank, The Wounded Storyteller. Body, illness, and ethics, 2. Aufl. (Chicago: The University of Chicago Press, 2013), 201– 204. Frank bezieht sich in seinem Nachtrag zu den broken narratives insbesondere auf Arbeiten des schwedischen Sozialpsychologen Lars-Christer Hydén, z. B. in: Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier, Hg., Health, Illness and Culture. Broken Narratives (New York: Routledge, 2008). Zu den Spannungsfeldern sprachlicher Symbole im Kontext einer demenziellen Erkrankung vgl. Pilgram-Frühauf, Symbolsprache von Menschen mit Demenz (s. Anm. 66), 62 f.
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in Aussicht steht, blicken Menschen mit dieser Diagnose auf eine Zukunft, die noch mehrere Jahre umfassen kann. So sehr die Diagnose Demenz den ganzen Menschen erschüttert, so sehr lebt er auch als Selbst „mit einer ihm eigenen, gewachsenen Identität“ weiter.⁷² Und dennoch: Ähnlich wie Sterbeerzählungen thematisieren auch ihre Texte Verlusterfahrungen und Abschiedsprozesse, die mit dem Fortschreiten der Krankheit verbunden sind. Auch ihnen ist das finale Paradox zwischen dem Ende des Erzählen-Könnens und dem eigenen Ende, das nicht mehr erzählt werden kann, eingeschrieben. Die Zeitspanne zwischen dem einen und dem anderen Ende ist im Fall von Demenz zumeist ausgedehnter, kann vorweg in einem existenziell-vitalen Sinn als eigener Lebensabschnitt ausgemalt werden: als abschiedliche Zeit oder auch als Zeit neuer leiblicher, emotionaler, zwischenmenschlicher und spiritueller Erfahrungen. Dass sich Menschen mit Demenz in der ambivalenten Phase nach der Diagnosestellung besonders intensiv mit dem Übergang zwischen Sich-Erinnern und Sich-nicht-mehr-erinnern-Können befassen, verleiht ihren Texten eine ausgeprägt autoreflexive Struktur, die den Erzählfluss immer wieder aufbricht und innerhalb des Autobiografischen auch dialogische Formen, Übergänge zu anderen Gattungen, offene Fragen und Ungesagtes zulässt. Somit hat der erzähltheoretische Versuch, die autobiografische Perspektive von Menschen mit Demenz aufzunehmen, eine doppelte Stoßrichtung: Er bietet einerseits Anschlussmöglichkeiten für einen differenzierten theoretischen Diskurs über die Krankheit, der nebst den medizinischen, psychosozialen und kulturellen Diagnosen auch die Wahrnehmung der Betroffenen mit einbezieht. Andererseits ermutigt er Menschen mit Demenz sowie deren Angehörige und Begleitende, das kreative und kommunikative Potenzial von autobiografischen Texten wahrzunehmen. Diese eröffnen bei aller Verlusterfahrung auch immer wieder neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit sich selbst und wirken im Rahmen einer personzentrierten Pflege und Begleitung auch dann noch weiter, wenn jemand nicht mehr „Ich“ schreiben kann.
Vgl. dazu Giovanni Maio, Den kranken Menschen verstehen. Für eine Medizin der Zuwendung (Freiburg im Breisgau: Herder, 2015), 62– 84, hier 79.
III. Ethische Reflexionen
Walter Lesch
Theologisch-ethische Annäherungen an aktuelle Erzählungen des eigenen Sterbens Always look on the bright side of death Just before you draw your terminal breath Chante la vie chante Comme si tu devais mourir demain Comme si plus rien n’avait d’importance Chante oui chante
(Monty Python’s Life of Brian, 1979)
(Michel Fugain & Le Big Bazar, 1973)
Das wissenschaftliche Interesse an Sterbenarrativen ist ein zeitdiagnostisch aufschlussreicher Aspekt der Suche nach einer ars moriendi, die mit intellektueller Redlichkeit und mit den Ausdrucksmitteln der Gegenwart die Möglichkeiten eines adäquaten Sprechens über Sterben und Tod erkundet.¹ Wenn es so etwas gibt wie eine Kunst des Sterbens, so hat diese notwendigerweise auch etwas mit der reflektierten Vorwegnahme der genaueren Umstände des eigenen Todes zu tun, über den zu sprechen kein Tabu ist. Dass dieses Sprechen vorzugsweise in erzählender Weise geschieht, ist zunächst einmal keine wirklich revolutionäre Einsicht. Denn weil wir Menschen Geschichten erzählende Tiere sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir das Bewusstsein unserer eigenen Endlichkeit unter anderem auch in narrativer Form artikulieren, zumal der Akt des Erzählens als zeitlich strukturierter Ablauf so eng mit der Erfahrung von zerrinnender und endender Zeitlichkeit verbunden ist. Geschichten haben einen Anfang und ein Ende, kennen Höhepunkte, Krisen und Abstürze und bieten somit das Muster par excellence für eine Darstellung der sich dem Ende zuneigenden Lebenszeit. Wie viel Zeit bleibt noch? Wie werden die mühsamer werdenden Schritte bis zum unausweichlichen Schluss aussehen, und wie ist damit umzugehen? Was kommt danach? Der Weg zum Tod hin, der geheimnisvolle Moment des Todes und (fakultativ) die Hypothesen über ein „Leben nach dem Tod“ – das sind die drei Grundfragen, die in unterschiedlichen Variationen und Gewichtungen in Sterbenarrativen vorkommen und die genügend Stoff bieten für tiefsinnige, melancholische, wütende, bisweilen aber auch heitere und unkonventionelle Geschichten. Denn obwohl alle Menschen die Konfrontation mit ihrem
In der gegenwärtigen Lebenskunstphilosophie ist die Aufmerksamkeit für die alte Tradition geschärft worden. Vgl. Wilhelm Schmid, Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000).Vgl. auch Jean-Pierre Wils, Ars moriendi. Über das Sterben (Frankfurt am Main: Insel, 2007). https://doi.org/10.1515/9783110600247-010
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unausweichlich irgendwann bevorstehenden Tod als Erfahrung der Lebenden teilen, gibt es eine unendliche Fülle von Kommunikationen über das, was als Ereignis über den medizinischen Befund hinaus nicht objektiv kommunizierbar ist. Trotz aller Beredsamkeit mancher Literatur über das Sterben bleibt der Tod durch die Merkmale des Unheimlichen und des Unsagbaren charakterisiert und eröffnet gerade dadurch zugleich beängstigende und faszinierende Imaginationsräume.
1 Vom Tod sprechen In die spontane Begeisterung für alles, was narrativ ist, mischt sich meist sehr schnell eine gesunde Skepsis, da die Praxis des Erzählens zwischen Allerweltsphänomen und literarischer Kunst eine recht ungenaue Angelegenheit ist. Das Erzählen gehört zu den menschlichen Lebensvollzügen wie das Atmen und das Essen und eignet sich daher nur nach einer sorgfältigen Eingrenzung der Fragestellung für eine Untersuchung mit Aussicht auf Erkenntnisgewinn. Mit einem klar abgegrenzten Textkorpus wäre freilich ohne größere Umwege die Chance zu narratologischer Feinarbeit gegeben. Eine solche Beschränkung auf ausgewählte Beispiele wird deshalb später auch noch vorzunehmen sein. Doch die allgemeine Annäherung an Erzählungen vom eigenen Sterben gestaltet sich schwieriger, da wir mit einer Reihe von Binsenweisheiten umzugehen haben, die in wissenschaftlichen Kontexten meist aus der Angst vor Banalitäten entweder verschwiegen oder durch einen aufgeblasenen Jargon „diskursfähig“ gemacht werden. Erzählungen vom eigenen Sterben haben etwas provozierend Unprätentiöses, weil die Fragen akademischer Reputation und methodologischer Tiefsinnigkeit in der Konfrontation mit dem Tod auf befreiende Weise irrelevant werden. Die Freiheiten, die in unserer Kultur Kindern und Narren zugesprochen werden, gelten in gewisser Weise auch für Kranke und Sterbende, was aber in allen Fällen nicht heißt, dass wir es mit verminderter Zurechnungsfähigkeit zu tun haben. Kinder und Narren sagen ja bekanntlich die Wahrheit.²
Vgl. zu den philosophischen Lizenzen des Alters die Überlegungen von Odo Marquard. Wer immer weniger Rücksicht auf Reputation und Zukunftsperspektiven nehmen muss, gewinnt Freiräume der ungehemmten und philosophisch relevanten Theoriebildung. Odo Marquard, Zum Lebensabschnitt der Zukunftsverminderung, in: ders., Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern (Stuttgart: Reclam, 2013), 70 – 75, hier 74: „Im Alter schrumpft die eigene Zukunft gegen Null. Dadurch können die Zukunftskonformismen ebenfalls gegen Null schrumpfen. So können die Rücksichten nicht allein beim Hinsehen, sondern auch beim Sagen peu à peu entfallen. Alte Menschen können unbekümmerter nicht nur merken, sondern auch reden.“
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Die Fokussierung auf das eigene Ende kann wehleidige und düstere Stimmungen schaffen. Sie kann aber auch in der Fortsetzung dessen liegen, was die Freude am Erzählen mitten im Leben ausmacht: das Spiel mit der Einbildungskraft, das Ausloten von Möglichkeiten und die Suche nach Auswegen aus den Zwängen der Realität durch die Fabulierkunst. In Erzählungen kann vieles gelingen, was im wirklichen Leben nicht die geringsten Erfolgsaussichten hat. Erzählungen produzieren Gegenwelten und vermitteln das Gefühl von Planbarkeit, das für ein halbwegs gesundes Leben unerlässlich ist. Zum Glück quälen wir uns im Normalfall ja nicht über mehrere Jahrzehnte mit dem in jedem Augenblick möglichen Ende, sondern wir genießen die Momente und manchmal auch längeren Zeitspannen erfüllter Existenz. Solche Erfahrungen können rauschhafte Illusionen der eigenen Unsterblichkeit beflügeln oder dankbare Einsichten in ein zerbrechliches, aber immerhin jetzt gerade reales Glück schenken. Es sind im weitesten Sinn alle Erfahrungen von Liebe und Leidenschaft, die sich bestens als Mittel gegen depressive Sterbenarrative eignen und das Leben vor dem Tod feiern. Es dürfte ein Ausdruck großer Lebensweisheit sein, sich auf diese Seite des Lebens zu konzentrieren und im Spannungsfeld von Eros und Thanatos eine vorrangige Option für die Kunst des Liebens zu kultivieren. Das Motiv des Carpe diem ist eine populäre Kurzformel für diese Haltung, die über weltanschauliche Differenzen hinweg positive Resonanz findet und mit aller Vehemenz gegen griesgrämige Theologien einzusetzen ist, die die Welt nicht braucht. Theologie und Religion stehen nämlich in Verdacht, diesseitiges Glück zu entwerten und im Falle von Scheitern und Unglück mit einem billigen Trost abzuspeisen. Weit davon entfernt, den Sprechakt des Tröstens unter generellen Ideologieverdacht zu stellen, ist einzuräumen, dass die Versprechen von Trost und Zuversicht angesichts des Sterbens vor einer besonderen Bewährungsprobe stehen. Leichtfertige Beschwichtigungen und leerformelhaft wiederholte Standardantworten verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie der unabweisbaren Autorität der Leidenden nicht mit Sensibilität und Erfahrungskompetenz begegnen. Auch wenn die Zeit der jenseitsfixierten Theologien vorbei sein dürfte, so bleibt doch die kritisch zu reflektierende Aufgabe des Begleitens und Tröstens in Situationen, die eigentlich von Trostlosigkeit und Sinnverlust geprägt sind und die zu den ureigensten Kompetenzbereichen der Religionen gehören.³ Hier ist vom Austausch mit der
Freilich gibt es in diesen Fragen kein Monopol der Religion. Die Zuständigkeit der Philosophie ist spätestens seit der einflussreichen spätantiken Schrift von Boethius offenkundig: Boethius, Trost der Philosophie, übers. von Olof Gigon, mit einem Nachwort von Kurt Flasch, 5. Aufl. (München: dtv, 2013).Vgl. zur aktuellen Neuaufnahme des Themas: Michaël Fœssel, Le Temps de la consolation (Paris: Éditions du Seuil, 2015).
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Literatur einiges zu lernen, um den selbstkritischen Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache zu schärfen. Solange wir erzählen, ist dies ein untrügliches Anzeichen dafür, dass wir noch am Leben sind. Wenn uns buchstäblich die Luft ausgeht, wenn uns die Geschichten und die Fähigkeit, sie zu erzählen, abhandenkommen, wird es eng. Andere mögen dann unsere Geschichte weitererzählen. Aber wir haben irgendwann definitiv die Fähigkeit verloren, mit Geschichten gegen die befristete und gnadenlos verstreichende Zeit anzukämpfen. Scheherazade, die berühmte Figur aus Tausendundeine Nacht, wusste um die suggestive Wirkung des Erzählens, das Spannung und Aufschub bedeutet: eine verlängerte Zeitspanne, die dem schon angekündigten Tod abgerungen ist. Wer vom Tod spricht, kann dies mit der Obsession des unabwendbaren Endes tun oder mit der wachen Fixierung auf die verbleibende Lebenszeit, eventuell sogar im Rückblick auf ein ganzes Leben. Jede Art und Weise, vom Tod zu sprechen, sagt sehr viel über die Auffassung vom Leben aus. Erzählungen vom nahenden Ende werden somit zum hermeneutischen Schlüssel für die Deutung eines Lebens, das von Anfang an die Signatur der Endlichkeit trägt. Das früher oder später gewonnene Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit sollte uns aber nicht prinzipiell am Leben hindern. Im Idealfall kommt alles zu seiner Zeit: Gestaltungswille und überschäumende Lebensfreude sollten ihre Chance gehabt haben, bevor es ans trübsinnige Nachdenken über das Sterben geht. Es gibt die glücklichen Menschen, die relativ lange von Erfahrungen mit Krankheit und Tod verschont bleiben. Andere müssen diese Realitäten schon früher in ihr Weltbild integrieren lernen. In beiden Fällen geht es darum, Kompetenzen zu entwickeln, um vom Tod zu sprechen und ihn nicht zu verdrängen, was oft mit moralischem Zeigefinger angeprangert wird. Eigentlich gibt es aber gar nicht so viele Menschen, denen eine permanente Todesverdrängung zu unterstellen ist. Viel unangenehmer sind jene, die mit etwas zu viel Pathos ständig auf dieses vermeintliche Übel der Verdrängung meinen hinweisen zu müssen. In diesem Beitrag wird versucht, folgende Themenfelder in ein hoffentlich produktives Spannungsverhältnis zu setzen: die Erfahrung von Sterben und Tod, die narrative Verarbeitung dieser Erfahrung und die reflexive Sicht, die Theologie und Ethik dazu entwickeln können. Letztere Instanzen genießen den zweifelhaften Ruf, eine gewisse Expertise in der Sinngebung und normativen Gestaltung von Leben und Tod zu haben. Denn Religionen verdanken ihre Existenz in beträchtlichem Ausmaß dem menschlichen Bedürfnis nach Orientierung in einer unsinnigen Welt und angesichts der bangen Frage, was denn nach dem Ende kommt. Und die aus religiösen Kontexten erwachsenen Ethiken haben ein besonderes Augenmerk auf die Regeln für einen angemessenen Umgang mit dem eigenen Sterben. Die standardisierten Sterbenarrative der Religionen sind jedoch
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nur von begrenztem Gebrauchswert, wenn es um die Subjektivität des eigenen Lebens und Sterbens geht. Theologische und ethische Gewissheiten zerbrechen an der Authentizität leidender und fragender Menschen, die sich nicht mit Vertröstungen abspeisen lassen. Deshalb sind Literatur und Kunst für die Theologie und die Ethik so wertvolle Erkenntnisquellen, deren Kenntnis vor der Arroganz einer fertigen Doktrin schützt, die schon auf alle Fragen eine Antwort hat.⁴
2 Irritationen im Umgang mit Sterbenarrativen Zwischen den Extremen der Sprachlosigkeit und Geschwätzigkeit suchen anerkanntermaßen gelungene Texte über das eigene Sterben einen Weg, der nur selten die uneingeschränkte Zustimmung aller Leserinnen und Leser finden wird. Erzählungen vom Sterben polarisieren, wenn sie einem sprachlichen Schlüssel zur verstörenden Erfahrung mit dem Sterben anbieten und dabei auf ganz unterschiedliche Kontexte treffen. Es ist nicht leicht, aus der Fülle möglicher Bezugspunkte genau die Texte auszuwählen, die sich für ein Gespräch im Horizont ethischer und theologischer Fragen eignen. Die Auswahl könnte immer schon dadurch beeinflusst sein, dass theologische und ethische Momente in den Texten präsent sind, die sich in besonderer Weise für die Herstellung von Querverbindungen anbieten.⁵ Immerhin ist dies eine Präsenz, die genügend irritiert, um voreilige und harmonisierende Interpretationen zu vermeiden. Die beiden ausgewählten Autoren sind zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht zwei
Wenn es eine Dankesschuld zu benennen gibt, die an dieser Stelle besonderer Erwähnung bedarf, dann ist dies eine Initialzündung, die in die Anfänge meiner Studienzeit Ende der 1970er Jahre in Münster zurückgeht: in einem von Franz Kamphaus (damals Professor für Pastoraltheologie und Homiletik, später Bischof von Limburg) geleiteten praktisch-theologischen Seminar mit dem Titel Vom Tod sprechen. Es ging um das Gespräch zwischen Theologie und zeitgenössischer Literatur, eine Konstellation, die mich seither begleitet und die meinen persönlichen Stil des Umgangs mit theologischen Fragen maßgeblich prägt. Meinem Lehrer Dietmar Mieth (Tübingen) verdanke ich die Bündelung verschiedener fachlicher Zugänge im Brennpunkt der Ethik. Neben dem generellen Problem der nachvollziehbaren Textauswahl zur Objektivierung narratologischer und ethischer Forschungsinteressen sind Besonderheiten der jeweiligen sprachlichen und kulturellen Kontexte zu berücksichtigen. Ein so universelles Thema wie der Umgang mit Sterben und Tod ist nicht losgelöst von literarischen Traditionen und politischen sowie gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu betrachten. Dabei werden in jeder persönlichen Lektüreliste aber immer auch subjektive Präferenzen und zeitlich begrenzte Lesemöglichkeiten zum Ausdruck kommen.
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Außenseiter, die allerdings ihr Publikum gefunden haben: Fritz Zorn und Christoph Schlingensief. Der Zürcher Gymnasiallehrer Fritz Angst (1944– 1976) wurde posthum bekannt durch sein 1977 unter dem Pseudonym Fritz Zorn veröffentlichtes Buch Mars. ⁶ Es erlangte einige Jahre später den Status eines Kultbuchs der Zürcher Jugendrevolte der 1980er Jahre. Sein Autor, Millionärssohn von der Zürcher Goldküste und nach einem Studium an der Universität Zürich im Schuldienst tätig, hatte sich zum Schreiben entschlossen, um den Schock einer Krebsdiagnose und den bitteren Rückblick auf ein zutiefst unglückliches Leben zu verarbeiten. Sein Buch ist die gnadenlose Abrechnung mit einem Milieu, das nur krank machen konnte. Fritz Zorn schreibt das Porträt einer Bourgeoisie, in der kein Platz für unbequeme Fragen ist, weil das von allen materiellen Sorgen enthobene Leben nur um Macht und um noch mehr Geld kreist und einen jungen Mann in die tödliche Isolation treibt. Er wird sterben, ohne jeweils richtig gelebt und geliebt zu haben: ein neurotisches Produkt einer Überflussgesellschaft, der jegliches kollektive Gespür für ihre Hohlheit fehlte. Mars steht für das Leiden an einer Schweiz, die je nach Standpunkt des Beobachters als beneidenswertes Paradies oder als Hölle ohne menschliche Visionen wahrgenommen wird. Die Rezeption von Fritz Zorns Buch ist eng dem Namen des Schriftstellers Adolf Muschg verbunden, der im Oktober 1977 zu einem der ersten Leser des unveröffentlichten Manuskripts wurde und davon in einem sehr persönlichen Vorwort erzählt. Der besondere Charakter von Mars bedeutet eine Irritation für den herkömmlichen Literaturbegriff, der eine Erzählintention mit ästhetischen Ansprüchen impliziert. Fritz Zorn ist kein Schriftsteller mit einem Werk. Es ist der Autor eines einzigen publizierten Textes, der es aber in sich hat und der die Kriterien, die an ein literarisches Kunstwerk angelegt werden, in Frage stellt. Auf der Anklageklagebank sitzen nicht nur die selbstgenügsamen Menschenfeinde von der Goldküste, sondern auch alle Anhänger einer bürgerlichen Theologie, die in den existentiellen Engpässen des Lebens und Sterbens Trost spenden soll. Trotz Psychotherapie hat Fritz Zorn keinen gelassenen Umgang mit dem Unvermeidlichen gefunden. Er lässt keinen Zweifel an dem Hauptadressaten seiner Wut und daran, „dass man, wenn man von der Hypothese ausgeht, dass es Gott nicht gibt,
Durch Vermittlung von Adolf Muschg erschien das Buch 1977 im Kindler Verlag, zwei Jahre später als Taschenbuch bei Fischer (nach dieser Ausgabe wird hier zitiert) und in zahlreichen Übersetzungen mit einer anhaltenden Wirkung vor allem im französischen Sprachraum. Vgl. die bald nach Erscheinen geschriebene treffende Besprechung von Hellmuth Karasek, Ein dreißigjähriger Krieg im Frieden, Der Spiegel 15 (1977), 219.
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ihn geradezu erfinden müsste, bloß um ihm eins in die Fresse zu hauen. […] Ich glaube, die gequälte Seele empfindet die Notwendigkeit der Existenz Gottes.“⁷ Folgende Passage illustriert eindrücklich die explosive Mischung von Verzweiflung und Größenwahn: Ich habe mich in visionärer Sicht schon in einem Kampf mit Gott verwickelt gesehen, in dem wir einander beide mit derselben Waffe bekämpfen, und zwar beide mit Krebs. Gott schlägt mich mit einer bösartigen und tödlichen Krankheit, aber andererseits ist er selbst auch wieder der Organismus, in dem ich die Krebszelle verkörpere. Dadurch dass ich so schwer erkrankt bin, beweise ich, wie schlecht Gottes Welt ist, und dadurch stelle ich die schwächste Stelle im Organismus „Gott“ dar, der eben als ein solcher Organismus nicht stärker sein kann als seine schwächste Stelle, nämlich als ich. Ich bin das Karzinom Gottes. Im großen Rahmen gesehen natürlich nur ein kleines – aber trotzdem eines. Die Größe spielt auch gar keine Rolle, denn der kleinste Nerv, wenn er nur richtig schmerzt, kann schon bewirken, dass der ganze Körper von der Empfindung des Schmerzes heimgesucht wird. Und so sehe ich mich den Nerv in Gottes Körper so treffen, dass auch er, genau wie ich, nachts nicht schlafen kann und sich schreiend und brüllend in seinem Bett herumwälzt.⁸
Der Autor befindet sich im Kriegszustand mit sich, seinem Körper, seiner Umgebung, der ganzen Welt. Die Wucht dieser Revolte findet ihre Kanalisierung in der Fixierung auf Gott und dessen grausame Schöpfung. Er wird identifiziert mit dem aus der Sicht des Autors perversen „Krokodilgott“⁹ des Hiob-Buches, dem es nur um den Beweis seiner Autorität geht und der sich einen Dreck um das Elend seiner Kreaturen schert. Ein bibelwissenschaftlich gebildeter Leser würde hier vielleicht einwenden, dass das Hiob-Buch missverstanden wurde. Doch eine solche Belehrung könnte die Wucht von Fritz Zorns Polemik nicht eindämmen und nähme den Aufschrei des Autors nicht ernst. Muschg sollte schon 1980 in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen und deren Bearbeitung und Erweiterung für die Veröffentlichung in Buchform¹⁰ auf die provozierenden Eigenarten von Mars zurückkommen – ein Buch, „auf das ich öfter angesprochen werde als auf meine eigenen“¹¹ – und seinerseits provozierende Thesen zum Zusammenhang von Krebserkrankung, Literatur und Religion vorlegen. „Man glaubt es leicht – ich glaube es leicht, dass der Krebs die protestantische Krankheit sei, ein Todesurteil des verinnerlichten Über-Ich über das unter unmenschlichen Geboten erstarrte, von eigenem Ungenügen gelähmte In-
Fritz Zorn, Mars (Frankfurt am Main: Fischer, 1979), 218. Ebd., 218 f. Ebd., 166 f. Adolf Muschg, Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare. Frankfurter Vorlesungen (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981). Ebd., 67.
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dividuum.“¹² Der grausame und angstvolle Tod ist einer solchen Sicht die logische Konsequenz der Angst vor dem Leben, die in der Geste der Anklage und der Schuldzuweisung an die Eltern und das Establishment ein Ventil sucht. Fritz Zorn artikuliert die kompromisslos herausgeschriene Abscheu angesichts eines falschen Lebens, das nur neurotisch machen kann und in dessen absurdem Korsett ein richtiges Leben verhindert wird. Im Rückblick stellt Muschg fest, wie sehr er selbst es 1977 brauchte, sich mit einem solchen Text zu solidarisieren, den „KunstVorbehalt“ (Ist das überhaupt Literatur?) beiseite zu schieben und öffentlich für einen Menschen einzutreten, den er persönlich nie zu Gesicht bekommen hat. Der Umgang mit Autoren von Sterbenarrativen ist keine besonders attraktive Angelegenheit. So wurde auch der Verfasser von Mars erst durch seinen Tod zum Helden, da sich sein Buch als Projektionsfläche für die Frustrationen einer rebellierenden Generation eignete. Die Aktivisten des Opernhaus-Krawalls vom Mai 1980 hatten andere Sorgen als die verwöhnten Kinder der Goldküste.¹³ Aber sie fanden wie diese in einem Text wie Mars reiches Material für die Schuldigsprechung einer herzlosen Welt, deren bürgerliche Religion als heuchlerische Fassade enttarnt wurde. In Mars entlädt mit Vehemenz die geballte Kraft eines enttäuschten und wütenden Menschen, dessen Einzelschicksal das Leiden einer Epoche ausdrücken kann. Der drohende Tod schärft den Blick auf ein verpasstes Leben, dessen Betrachtung im Umkehrschluss zu einem Appell für einen Aufstand gegen krankmachende Verhältnisse wird. Damit wäre zwar die Krebskrankheit vermutlich nicht besiegt. Aber sie hätte etwas von ihrem Schrecken verloren, wenn ihr ein glücklicheres Leben vorausgegangen wäre. Der Autor von Mars bilanziert eine Verkettung von lebensfeindlichen Kräften, die dem Leben und Sterben jegliche Würde nehmen. Im Vergleich zum Pathos von Fritz Zorn kommt der zweite Text, der als Beispiel für die Irritationen im Umgang mit Sterbenarrativen dienen soll, mit weniger Anklage aus. Es ist das Tagebuch einer Krebserkrankung, das Christoph Schlingensief (1960 – 2010) im Jahr vor seinem Tod veröffentlichte.¹⁴ Sein Buch geht aus Bausteinen hervor, die ins Diktiergerät gesprochen wurden. Auch hier könnte also der Kunst-Vorbehalt geltend gemacht werden: Ist das überhaupt Literatur? Eine für den sanften Rebellen Schlingensief ohnehin wenig interessante Frage! Das
Ebd., 69. Vgl. die 1981 vom Zürcher „Videoladen“ produzierte Chronik Züri brännt, die ein aufrüttelndes und beklemmendes Dokument der Ereignisse bleibt. Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2009). Hier wird nach der Taschenbuchausgabe (München: btb Verlag, 2010) in der 6. Auflage zitiert.
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Multitalent, das sich als Projektentwickler und Regisseur¹⁵ in vielen Kunstsparten ausprobiert hat, war allen bürgerlichen Widerständen zum Trotz ein Glückskind, das seinen Weg gefunden hatte und von der Krankheit aus der Bahn geworfen wurde. Als er Anfang 2008 die Lungenkrebsdiagnose erhielt, begab er sich in die Prozeduren der üblichen Behandlungen und protokollierte seine Erfahrungen und Reflexionen, aus denen ein kluges und bewegendes Buch geworden ist.¹⁶ Der in Oberhausen geborene und katholisch sozialisierte Künstler markiert schon im Vorwort die Gegenposition zu Fritz Zorn. „Dieses Buch ist das Dokument einer Erkrankung, keine Kampfschrift. Zumindest keine Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs. Aber vielleicht eine für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens.“¹⁷ Schlingensief weiß, dass er kein tragischer Einzelfall ist, und verzichtet deshalb auf Selbstmitleid und Anklagen, obwohl er mit Kritik an wenig hilfreichen Ratgebern und Besserwissern nicht spart. Sein Bekenntnis zur eigenen Autonomie und zu der Unterstützung, die er seinen Freunden verdankt, ist ein wunderbares Plädoyer für das Leben vor dem Tod, das keine Belehrungen über ein geheimnisvolles Jenseits braucht. Fragen der Religion, für die Schlingensief stets, wenn auch distanziert und kritisch, eine hohe Sensibilität gezeigt hat, sind von den ersten Tagebucheintragungen an präsent. In ganz anderer Weise als in Fritz Zorns Mars sind sie eine hoffentlich heilsame Provokation an die Adresse von Kirche und Theologie, die trotz ihres angeblichen Expertenstatus dann, wenn es darauf ankommt, oft so wenig Hilfreiches über Sterben und Tod zu sagen haben und mit ihrer peinlichen Selbstzensur nach den Regeln einer zu vertretenen Lehre der Freiheit der Künstler meistens hoffnungslos unterlegen sind. Meine Beziehung zu Gott hat sich […] aufgrund der extremen Situation verändert. Man wundert sich, wie schnell das geht: Man hat sich von der Kirche abgewendet, und plötzlich ist man wieder da. Aber ich bin eigentlich gar nicht bei der Kirche. Mit diesem ganzen Brimborium kann ich nichts anfangen, mit dieser ganzen aufgeblasenen Veranstaltung, die glaubt, sie könne mir bei meiner eigenen Unfähigkeit, autonom zu werden, helfen, indem sie mir Traumschlösser baut oder Leidenswege beschreibt, die ich gehen muss, damit ich endlich zu mir finde.¹⁸
Dem Zürcher Publikum dürfte er mit einer von vielen Kontroversen begleiteten Hamlet-Inszenierung am Schauspielhaus im Jahr 2001 in Erinnerung sein: einer spektakulären Provokation des Schweizer Politik- und Kulturbetriebs auf der Theaterbühne und mit einer Flugblattaktion in der Innenstadt. Auch der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013) begann nach der Krebsdiagnose 2010 ein Schreibprojekt: ein viel beachtetes Tagebuchblog mit dem Titel Arbeit und Struktur, inzwischen als Buch erschienen: Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur (Berlin: Rowohlt, 2013). Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! (s. Anm. 14), 9. Ebd., 20 f.
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Christoph Schlingensiefs Zweifel an Gott und seinem „Vertriebssystem“ Kirche sind radikal und dennoch von der Sehnsucht nach einem liebenden Gott getrieben, dessen Gegenteil er in der Verkündigung der Religionen findet: ein gigantisches „Schmerzsystem“, gekoppelt mit Strafandrohungen.¹⁹ Das Tagebuch endet mit einer Eintragung vom 27. Dezember 2008 und einem der „Weihnachtswunder“: der Verlobung mit seiner Lebensgefährtin Aino, die er im Sommer 2009 heiratete. Größer könnte der Kontrast zu Fritz Zorn nicht sein. Schlingensief ist ein Mensch, der liebt und geliebt wird und sein Gefühl, von Gott verlassen zu sein, wegen dieser menschlichen Liebe aushalten kann. Einen künstlerischen Ausdruck fand diese Beschäftigung mit Religion unter anderem in dem im September 2008 im Rahmen der Ruhrtriennale in Duisburg uraufgeführten Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir mit Überblendungen von Sakralem und Profanem.²⁰ Der Künstler inszeniert darin öffentlich seine Krankheit als künstlerisch produktive Erfahrung von Leiden und Angst und bedient sich liturgischer Formen, die als kultureller Vorrat für Zitate, Zuspitzungen und Umdeutungen zur Verfügung stehen. Was manchen als mangelnder Respekt vor der Religion erscheinen mag, ist letztlich der kreative Umgang mit einer tiefen Sehnsucht und einer kulturellen Prägung, die nicht radikal verworfen wird. Denn aus ihr stammen zahlreiche Bilder, Rituale und Texte, die auch dann bedenkenswert sind, wenn eine gläubige Zustimmung zu ihrer Botschaft nicht oder nicht mehr möglich ist. Mit den Büchern von Zorn und Schlingensief haben wir zwei ungewöhnliche Sterbenarrative kennengelernt: Texte ohne literarischen Anspruch und doch adäquat in der Form der schonungslosen Selbstanalyse und des Nachdenkens über die „großen“ Fragen, die sich im Umgang mit dem eigenen Tod auch jenen aufdrängen, die eigentlich ihre Auseinandersetzung mit Religion längst abgeschlossen haben. Daneben verblasst der alte Streit um die klare Grenzziehung zwischen Literatur und Nicht-Literatur, da beide Autoren mit ihren Narrationen ein Publikum erreichen, das in der Lage ist, die Texte auf unterschiedlichen Ebenen zu rezipieren und über die Realität des rein Dokumentarischen hinauszugehen. Die Gattung des Tagebuchs ist ohnehin ein interessanter Grenzfall zwischen Protokollierung und literarischer Reflexivität und eignet sich insofern in besonderer Weise für eine Annäherung an das eigene Sterben. Die getroffene
Ebd., 210. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser hat den Effekt dieser Drohgebärden treffend als „Gottesvergiftung“ beschrieben.Vgl. das gleichnamige Buch: Tilmann Moser, Gottesvergiftung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976). Vgl. die Texte und Videos auf http://www.kirche-der-angst.de (letzter Zugriff: 12.03. 2016).
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Auswahl ist selbstverständlich subjektiv und könnte durch alternative Leselisten ersetzt oder ergänzt werden.²¹
3 Annäherung oder Distanzierung? Sterbenarrative haben ihre eigene Evidenz und bedürfen in der Regel keiner literaturwissenschaftlichen und schon gar keiner theologisch-ethischen Übersetzungsarbeit, um ihre Wirkung auf ein Lesepublikum entfalten zu können. Wir können das Thema aus der Perspektive verschiedener Disziplinen nur umkreisen und eventuell problematisieren, immer in dem Bewusstsein, einen aufgepfropften, parasitären Diskurs zu entwickeln, der sich an den Gedankenblitzen der analysierten Texte bereichert. Dabei spiegelt sich im sekundären Charakter der wissenschaftlichen Zugangsweise eine Spannung, die schon den Erzählungen eigen ist. Sie sind zugleich Ausdruck von Spontaneität und konstruierte, redigierte Darbietungen. Die Übergänge zwischen ungefilterten Alltagstexten und literarisch anspruchsvollen Kunstprodukten sind fließend, zumal in einem Themenfeld, das sich für die Kritik an dem Ausweichen vor der Wirklichkeit in die Kunst so hervorragend eignet wie der Ernstfall des Lebensendes, an dem die ästhetisierende Fassade zur Farce wird. Bei einem Thema, das uns wie der Tod existentiell bewegt, stoßen wir definitiv an die Grenzen eines rein deskriptiv-analytischen Zugangs zu Erzählungen, sofern diese uns dazu drängen, unsere sichere Zuschauerrolle zu verlassen. Mea res agitur. Die Texte über den Tod sind wie ein Spiegel, in dem ich die Anzeichen der eigenen Endlichkeit zur Kenntnis nehme. Wenn es in den Erzählungen um Krankheitssymptome und erschütternde Diagnosen, Unsicherheiten und Ängste, Behandlungsmethoden, Therapieerfolge und Therapierückschläge geht, dann werden Verbindungen in die Erfahrungsräume der Leser geschaffen, die Bezüge zu dem herstellen, was sie am eigenen Leib sowie im Kontext von Familie, Freunden und Bekannten erleben. Im Wechselspiel von Nähe und Distanz ergeben sich Anlässe von Empathie und Abwehr, von Anteilnahme und Unverständnis.
Zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit Max Frischs Texten zum Sterben. Vgl. Volker Weidermann, Max Frisch. Sein Leben, seine Bücher (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010), 388 – 396.Vgl. zu aktuelleren Autoren auch die Hinweise in Anna Katharina Neufeld und Ulrike Vedder, An der Grenze: Sterben und Tod in der Gegenwartsliteratur. Einleitung, Zeitschrift für Germanistik 25 (2015), 495 – 498. Das gesamte Themenheft bietet einen eindrucksvollen Einblick in die für Interdisziplinarität offene Arbeit gegenwärtiger Germanistik.
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Der erlebte Tod anderer Menschen und der eigene Tod sind Erfahrungen, die gerne zu Auslösern philosophischen Nachdenkens stilisiert werden, wobei sehr oft sogar dem eigenen Tod dieses Privileg exklusiv zugesprochen wird. In Wirklichkeit verhält es sich wohl so, dass wir in der Regel zu Zeugen vieler anderer Tode werden, bevor es ans eigene Sterben geht. Doch wenn es so weit ist, besteht ein verständlicher Anspruch darauf, in dieser unausweichlichen Situation nicht auch noch enteignet und entmündigt zu werden (der Tod ist Enteignung und Entmündigung genug) und wenigstens das Sterben als etwas Eigenes zu erleben. Dann ist die Angst vor der Tatsache des Sterbens eventuell sogar geringer als die Angst vor dem hilflosen Ausgeliefertsein an die Apparaturen und Prozeduren eines eigenen Qualitätsstandards gehorchenden Medizin- und Pflegebetriebs. Die medizinische Ethik tut sich mit dem Selbstbehauptungsanspruch von Patienten ebenso schwer wie mit einer gesellschaftlich gewünschten Regulierung dieser intimen Sphäre.²² Im Verhältnis zu den üblichen Normierungsversuchen in Recht und Ethik können Sterbenarrative das Bewusstsein dafür stärken, dass Menschen so lange wie eben möglich die Gestaltungs- und die Deutungshoheit über ihr eigenes Leben behalten wollen. Solange wir erzählen, sind wir noch nicht tot. Und wenn wir die Erzählkompetenz verlieren, können wir vielleicht darauf hoffen, dass andere unsere Geschichte weitererzählen. Eine heikle Sache, die viel Fingerspitzengefühl und Vertrauen voraussetzt, da die betroffene Person nicht mehr korrigierend eingreifen kann.²³
4 Erzählen Erzählungen sind nicht die einzige künstlerische Umgangsform mit dem eigenen Sterben.²⁴ Aber sie sind eine besonders demokratische Weise der sprachlichen Mitteilung und eine Ausdrucksform, die der zeitlichen Verfasstheit des Lebens und Sterbens angemessen ist. Dabei scheint autobiographischen Texten und Vgl. Walter Lesch, Eigenes Leben – eigener Tod? Patientenautonomie und Sozialmoral des Sterbens, in: Frank Haldemann, Hugues Poltier und Simone Romagnoli, Hg., Bioethik im Spannungsfeld der Disziplinen. Festschrift für Alberto Bondolfi zu seinem 60. Geburtstag (Bern: Lang, 2006), 351– 359. Daher ist an die oft unterschätzte Textsorte der Verfügungen und Testamente zu erinnern, mit denen Menschen auch nach dem Verlust ihrer Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit und auch nach dem Tod einen moralisch und rechtlich verbindlichen Einfluss auf das ausüben, was mit ihrem Körper, mit ihrer Leiche und mit ihrem Erbe geschehen wird. Diese Texte sind so etwas wie Paratexte von Sterbenarrativen. Vgl. das breite Panorama der Beispiele aus Literatur, Malerei und Musik in Christiaan L. Hart Nibbrig, Ästhetik der letzten Dinge (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989).
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Tagebüchern eine besondere Bedeutung zuzukommen, wie wir an den Beispielen von Zorn und Schlingensief gesehen haben. Wenn fiktiv vom Sterben anderer Menschen erzählt wird, verschieben sich die Machtverhältnisse. Denn nun hat der Autor das Leben seiner literarischen Geschöpfe in der Hand. Wie er den Erzähler mit der Versuchung spielen lässt, sich in die Rolle Gottes hineinzuversetzen und als Herr über Leben und Tod zu entscheiden, zeigt eine aufschlussreiche Episode aus Daniel Kehlmanns Roman Ruhm. ²⁵ In Rosalie geht sterben wird die Geschichte einer älteren Frau namens Rosalie erzählt, die nach Erhalt einer Krebsdiagnose mit einer Schweizer Organisation für Sterbehilfe Kontakt aufnimmt. Der höfliche Herr Freytag weist sie telefonisch in die Vorbereitungen ihres Ablebens ein, das in einer sogenannten Sterbewohnung in einem Zürcher Vorort stattfinden soll. Doch noch vor dem Antritt der Reise in den Tod beginnt Rosalie mit ihrem Schicksal zu hadern und fleht ihren Schöpfer, den Geschichtenerzähler (Leo Richter), um Gnade an. Sie sieht sich bestärkt in der Hoffnung auf eine positive Wende in der Geschichte, als das Flugzeug wegen Nebel nicht in Zürich landen kann und in Basel haltmacht, von wo aus die Reisenden auf einen späteren Flug warten oder mit dem Zug weiterfahren können. Der Erzähler drängt die Frau, endlich ihr Bahnticket zu nehmen. Das ist keine lebensbejahende Geschichte. Wenn überhaupt, dann ist es eine theologische. Wieso das? Ich schweige. Aber wieso denn, wiederholt sie. Wie meinst du das? Ich schweige.²⁶
Der schweigende und allmächtige Erzähler lässt sich auf keine Verhandlungen ein und begnügt sich mit dem plakativen Hinweis auf die Charakterisierung seiner Geschichte als „theologisch“ und nicht „lebensbejahend“. In dieser skandalösen Dichotomie zeigt sich die Legitimierung von Allmacht durch die Bezugnahme auf eine Theologie, die aus der Sicht eines göttlichen oder gottgleichen Herrschers zynisch am Machterhalt interessiert ist und nicht am Leben der von den Manipulationen abhängigen Menschen. Bei Rosalies Weiterfahrt mit der Bahn gibt es übrigens schon bald ein weiteres Hindernis, da ein „Unfall mit Personenschaden“ das Gleis blockiert. Ein unbekannter Mann wird Rosalie in seinem Auto bis nach Zürich mitnehmen. Sie gelangt sogar bis vor den Eingang der Sterbewohnung, wo der nun plötzlich auftretende allmächtige Erzähler wie ein Deus ex machina ins Geschehen eingreift, Daniel Kehlmann, Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten (Reinbek: Rowohlt, 2009). Ebd., 67.
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den verblüfften Herrn Freytag zu Staub verwehen lässt und der nicht weniger verblüfften Rosalie mitteilt, dass sie gar nicht krank sei. Damit nicht genug! Er macht sie zu einer jungen Frau von zwanzig Jahren, die beschwingt das Haus verlässt und sich in ein neues Leben aufmacht. Eine Geschichte, die zu schön ist, um wahr zu sein. Wenn wir auf der Suche nach dem Theologischen bei einem erfolgreichen Gegenwartsautor in so unverblümter Erzähltechnik fündig werden, dann drängt sich die Frage auf, ob hier nicht eine allzu vordergründige Verwechslung von Theologie und Poetologie stattfindet.²⁷ Spielt der Autor/Erzähler Gott? Im Erzählen vom eigenen Sterben wäre ein solcher Trick viel leichter zu durchschauen, da er von der bitteren Wirklichkeit korrigiert wird. Eine theologische Deutung des Todes entbindet ja nicht von der Unausweichlichkeit des Sterbens. Insofern haben religiöse und nichtreligiöse Weltbilder die Aporien und Ängste angesichts des Lebensendes gemeinsam. Es ist überraschend, dass in Kehlmanns unterhaltsamem Gedankenexperiment ausgerechnet die Theologie als Chiffre für das unverhofft rettende Eingreifen einer höheren Macht bemüht wird, obwohl der in der Erzählung inszenierte Effekt einer wundersamen Intervention weder durch die Lebenserfahrung noch durch eine aufgeklärte Religion gedeckt ist.²⁸
5 Ein theologisch-ethisches Erkenntnisinteresse Nach dem Blick auf das Theologische sei abschließend noch die ethische Dimension des Erzählens vom Sterben in den Blick genommen. Was ist das für eine Signatur, wenn Fragen des guten Lebens und der Gerechtigkeit ins Spiel kommen? Von Ethik, auch von Ethik im Kontext der Theologie, war in den herangezogenen Texten ausdrücklich die Rede. Von der Frage nach dem richtigen Leben handelt sowohl Fritz Zorns wütende Abrechnung mit dem bürgerlichen Gott als auch Christoph Schlingensiefs Sehnsucht nach einer irdischen Existenz, die eigentlich so viel Schönes zu bieten hat wie kein himmlisches Paradies, dessen Erwartung deshalb auch nicht mehr den gewünschten Trost spenden kann.
Vgl. zu Kehlmann: René Dausner, Keine zufällige Beziehung. Daniel Kehlmann und die Theologie, in: Herder Korrespondenz 63 (2009), 211– 215. Der Fairness halber ist hinzuzufügen, dass Kehlmann in einer anderen Episode des Romans die Brüchigkeit theologischer Konzepte reflektiert. In Antwort an die Äbtissin spielt Miguel Auristos Blancos, ein erfolgreicher Autor von Ratgeber- und Lebenshilfeliteratur, mit Suizidgedanken, weil er dem von ihm selbst vermarkteten Optimismus angesichts der Aporien der TheodizeeFrage nicht mehr traut. Der Brief der Äbtissin eines Karmeliterinnenklosters konfrontiert ihn mit der Seichtheit seiner Glücksrezepte. Vgl. Kehlmann, Ruhm (s. Anm. 25), 121– 133.
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Religiöse Traditionen haben ein unerschöpfliches Reservoir von Narrationen über den Tod. Diesen Schatz zu reflektieren ist Teil ihrer Kulturarbeit in gesellschaftlicher Verantwortung, symbolisch-ritueller Gestaltung und therapeutischer Begleitung. Das geschieht allerdings im nüchternen Wissen darum, dass die Gotteshypothese das Sterben nicht automatisch einfacher macht. Der Gott der Bibel hat Konkurrenz bekommen von seiner eigenen Karikatur in der künstlerischen Imagination.Von Kehlmanns Gedankenexperiment ist es nicht weit bis zu einem belgischen Film mit dem Titel Das brandneue Testament (im Original Le tout nouveau Testament, 2015) des Regisseurs Jaco Van Dormael. Darin erzählt er die Geschichte Gottes, der als Familientyrann in einem Brüsseler Hochhaus wohnt. In seinem Arbeitszimmer erfindet er am Computer ständig neue absurde Gesetze, mit denen er seine Geschöpfe quält. Seine Frau und die zehnjährige Tochter Éa misshandelt er mit seiner Willkür. Für den verstorbenen Sohn, den er für einen sentimentalen Spinner hält, hat er nur Verachtung übrig. Als Éa erneut Opfer der väterlichen Gewalt wird, rächt sie sich, indem sie in das verbotene Arbeitszimmer eindringt und vom Computer aus allen Menschen die für sie vorherbestimmten Sterbedaten auf deren Mobiltelefone schickt. Mit Hilfe ihres Bruders entflieht sie durch einen Schacht hinter der Waschmaschinentrommel aus der Wohnung in die Stadt und schart Apostel um sich, deren Geschichten dank eines Obdachlosen zum „brandneuen“ Testament²⁹ aufgezeichnet werden. Durch die Kenntnis der Sterbedaten haben sich die Verhältnisse auf der Erde inzwischen radikal gewandelt. Die Menschen haben keine Angst mehr vor einem Gott als dem Herrn über den Tod. Sie planen ihr Leben für die Zeit, die ihnen bleibt, und wachsen teilweise über sich hinaus. Was in diesem unterhaltsamen Film als Klamauk erzählt wird, entbehrt nicht eines großen Ernstes durch die Dekonstruktion grotesker Gottesbilder. In seinem Blog hatte sich zuvor schon Wolfgang Herrndorf mit dem im Film durchgespielten Gedanken befasst, wie es wäre, wenn wir unser Leben in Kenntnis unseres Todeszeitpunkts gestalten könnten: Die populäre, akademische, theologische und auch im Science-Fiction gern und oft gestellte und immer wieder mit Nein beantwortete Frage, ob die Kenntnis des eigenen Todeszeitpunkts wünschenswert sein: Doch.Würde ich sagen. Doch, ist wünschenswert. Segensreich.
Es ist kulturgeschichtlich bemerkenswert, dass der Ausdruck in seiner Verwendung für die biblischen Schriften als „Zeugnis“ und als „Bund“ zu verstehen ist. Alltagssprachlich schwingt aber die in zahllosen mehr oder weniger gelungenen Witzen ausgekostete Nähe zum testamentarischen Verfügung („der letzte Wille“) mit. Das klingt dann in unfreiwilliger Komik so, als habe Gott sein Testament gemacht. Und das auch noch in zwei Versionen. Van Dormaels Film spielt virtuos mit verschiedenen Bedeutungsebenen des biblischen Erbes und verdichtet es zu einer religionskritischen Komödie mit humanistischer Botschaft.
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Eine Belastung, aber eher ein Segen. Nicht für Kinder natürlich. Aber wenn machbar und mit Erreichen der Volljährigkeit: Besuch im Genlabor, dann ungefähr ausrechnen, dann planen, dann leben. Könnte man sich viel Quatsch ersparen.³⁰
Da uns ein solches Wissen aber versagt bleibt und von den meisten Menschen wohl doch eher als unheimliche Bürde empfunden würde, sind wir zum Nachdenken über einen verantwortungsvollen Umgang mit einem „guten Sterben“ und einem „guten Tod“ verurteilt, was wiederum nicht von der Frage nach dem guten Leben zu lösen ist. Ars moriendi und ars vivendi gehören zusammen. Aus der Perspektive des guten Lebens bleibt aber nichts anderes als eine ethisch motivierte Protesthaltung gegen einen qualvollen Tod, dessen Sinn nicht zu vermitteln ist. Um es mit einem oft zitierten Aphorismus Christoph Blumhardts (1842– 1919) zur Rolle der Christen zu sagen: „Wir sind Protestleute gegen den Tod.“³¹ Welche konkreten Aktionen aus dieser prinzipiellen Protesthaltung folgen, steht aber auf einem anderen Blatt und ist in ethischer Reflexion zu erkunden. Blicken wir zum Schluss noch einmal auf die drei Zeitdimensionen von Sterbenarrativen. Im Rückblick auf ein zu bilanzierendes Leben stellt sich die Frage nach eher anklagenden oder eher versöhnlichen Tönen. Obwohl eine positive Lebensbilanz erstrebenswert ist, gibt es auf sie keine Garantie. Deshalb sind die Ausgangspunkte für die Gedanken über das Sterben auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem Leben individuell höchst unterschiedlich. Ebenso offen ist die Frage nach der konkreten Ausgestaltung des Anspruchs auf Autonomie im Erleben des Sterbens mit oder ohne medizinische oder andere Assistenz. Und erst recht wissen wir nichts von dem, was nach dem Tod kommen könnte, da selbst ein Versprechen von Vollendung das Fragmentarische des mit dem Tod beendeten Lebens nicht aufhebt. Diese dreifache Verunsicherung mag als frustrierend empfunden werden. Doch eines ist sicher: Sie produziert Geschichten, und sie setzt die Vorstellungskraft von Ethik und Religion frei. Da diese kulturproduktive Dynamik schon zu so vielen unbefriedigenden Entwürfen geführt hat, bleibt genügend Platz für immer neue Versuche der Annäherung an das Sterben in den Bereichen von Kunst, Moral und Religion. Diesem Beitrag sind zwei Zitate vorangestellt, die den Eindruck erwecken könnten, dass der Autor dem existentiellen Ernst des Todes ausweichen will, indem er in der heiteren Diesseitigkeit der hedonistischen Populärkultur der
Herrndorf, Arbeit und Struktur (s. Anm. 16), 298 (Text vom 20.11. 2011). Zitiert in: Kurt Marti, Leichenreden (Neuwied: Luchterhand, 1969), 22.
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1970er Jahre Zuflucht sucht.³² Ein solches Ausweichmanöver ist, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, nicht beabsichtigt. Was sich allerdings als roter Faden durch diesen Text gezogen hat, ist das Unbehagen angesichts einer Todesfixierung durch professionelle Spezialisten des Lebensendes, die mit einer Art existentieller Erpressung die Lebensfreude beschränken wollen. Viele literarische Zeugnisse des Sprechens vom eigenen Sterben erweisen sich hingegen als Plädoyers für das Leben, das dem sich vermindernden Zeithorizont Kreativität und Sinn abtrotzt. Eine theologisch-ethische Sicht der Dinge begegnet all diesen dem Tod abgerungenen Erzählungen mit Sympathie und Respekt, weil wir in ihnen meist mehr über das Leben und Sterben lernen als in einer perfekt komponierten Doktrin, die zu wenig Sensibilität für das Fragmentarische des Menschseins hat.
Die britische Komikergruppe Monty Python und Fugains Big Bazar repräsentieren in der Tat zwei sehr unterschiedliche Wege, mit den Mitteln der Unterhaltung ein anderes Verhältnis zu Leben und Sterben zu bekommen und an der Autorität geschlossener Weltbilder gleich welcher Provenienz zu kratzen.
Michael Coors
Narrative des guten Sterbens
Zur Normativität narrativer Schemata in der ethischen Diskussion über das Lebensende Der Tragöde Palmer starb, als er in Drury Lane eine Sterbeszene hätte spielen sollen; das Publikum zischte ihn aus, weil der Held nicht gut starb, aber wie man feststellte, war der arme Schauspieler tot. (Emerson, Journals and Notebooks VI)¹
1 Sterben, Tod und Narrativ: Begriffliche Klärungen In der Medizinethik auf Narrative zu reflektieren, ist jenseits empirischer Forschungsmethoden eher ungewöhnlich. Das leitende Interesse der folgenden Überlegungen zu Narrativen im Kontext der ethischen Diskussion über das Lebensende ist kein empirisches, sondern ein hermeneutisches: Es rührt vor allem daher, dass ich das Erzählen im Anschluss an Paul Ricœur als diejenige sprachliche Handlung begreife, die es erlaubt, Zeit zur Sprache zu bringen.² Zeitlichkeit als abstrakte Größe kann begrifflich reflektiert werden. Wenn es aber darum geht, den Zeitlauf, zum Beispiel eines menschlichen Lebens, zur Sprache zu bringen, dann ist dies in Form von Aussagesätzen und Begriffen nicht ohne Weiteres möglich, sondern der Lauf der Zeit wird erst im Akt des Erzählens sprachlich zum Ausdruck gebracht.³ Denn das Erzählen erlaubt es, Aussagesätze
Zitiert in Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2015), 237. Ich danke Andreas Mauz für den Hinweis auf dieses passende Motto für meinen Beitrag. Vgl. Michael Coors, Die Zeit des menschlichen Lebens zur Sprache bringen, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie (www.praktische-philosophie.org) 1 (2014), 327– 358. Darum drehen sich viele Diskussionen zur (diachronen) personalen Identität um Fragen der Narrativität.Vgl. insbesondere Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, übers. von Jean Greisch, 2. Aufl. (München: Fink, 2005); Stefanie Haas, Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität (Hildesheim: Olms, 2002); Paul Anthony Kerby, Narrative and the Self (Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press, 1991). https://doi.org/10.1515/9783110600247-011
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in zeitliche Abfolge zu bringen und ihren zeitlichen Zusammenhang im Akt des Erzählens darzustellen.⁴ Der Tod ist das Ende des Lebens eines Menschen, also das Ende seiner Lebenszeit. Das heißt, zum Thema Tod gehört unbestreitbar eine zeitliche Komponente. Vor dem Tod als Ende der Lebenszeit steht das Sterben als derjenige Vorgang in der Zeit, der auf den Tod hinführt. Und dieser Prozess kann am besten erzählend dargestellt werden. In der Medizinethik spielen nun Fragen danach, wie Menschen sterben wollen, eine große Rolle. Sei es bei akuten Entscheidungssituationen in der klinischen Praxis, bei Patientenverfügungen und „Advance Care Planning“-Programmen⁵ oder im Blick auf die Vorstellung eines selbst herbeigeführten Todes: Immer steht die in der Regel an die Betroffenen selbst gerichtete Frage im Raum: „Wie wollen Sie sterben?“ Solche Vorstellungen eines erwünschten Sterbeverlaufes werden dann in der Regel in Erzählungen zur Sprache gebracht, eben weil die Antwort auf das „Wie?“ erfordert, einen zeitlichen Verlauf als sinnvollen Zusammenhang darzustellen. Diese Erzählungen sind prospektive Erzählungen, die auf der einen Seite nicht fiktional sind, auf der anderen Seite aber auch nicht einfach Fakten erzählen, sondern eben prospektiv Möglichkeitsräume narrativ erkunden. Weil in diesem Sinne über das Sterben zu reden notwendigerweise narrativ wird, wird in allen Diskussionen über das Lebensende immer auch explizit erzählt. In der Regel werden exemplarische Sterbeverläufe erzählt, die deutlich machen sollen: „So will auch ich sterben“, oder aber, „So will ich nicht sterben!“.⁶ Nun stellen Erzählungen aber nicht einfach dar, was der Fall ist. Ricœur begreift Erzählungen im Anschluss an die Poetik des Aristoteles zwar als mimesis praxeos,⁷ allerdings ist der Akt der Mimesis nie eine bloße Reproduktion, sondern immer auch ein produktiver Akt der Konfiguration.⁸ Aus verschiedenen einzelnen Handlungen, die als präfigurierte Ereignisse dem Erzählen vorgegeben sind (Mimesis I),⁹ muss ein Erzählzusammenhang hergestellt werden (Mimesis II: Konfi-
Zu diesen Möglichkeiten der narrativen Konfiguration vgl. den Beitrag von Tobias Klauk und Tilmann Köppe in diesem Band. Vgl. Michael Coors, Ralf Jox und Jürgen in der Schmitten, Hg., Advance Care Planning. Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung (Stuttgart: Kohlhammer, 2015). Vgl. dazu die aufschlussreichen Beispiele im Beitrag von Arnulf Deppermann in diesem Band. Vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 1, übers. von Rainer Rochlitz (München: Fink, 2007), 58 f. Vgl. ebd., 56 f. Vgl. ebd., 78, 90 – 104.
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guration).¹⁰ Das heißt, das Erzählen steht für Ricœur immer in der Spannung von Dissonanz des Heterogenen einerseits (die Vielzahl unterschiedlicher Handlungen und Ereignisse) und der durch die Synthese des Heterogenen hergestellte Konsonanz der Erzählung andererseits:¹¹ Die Erzählung fügt die unterschiedlichen heterogenen Handlungen und Ereignisse zu einer zusammenhängenden Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende zusammen. Erzählen ist darum für Ricœur immer eine „Synthesis des Heterogenen“.¹² Dabei wird die Dissonanz nicht einfach in die Konsonanz aufgehoben, sondern die Erzählung verbindet sie zu einer „dissonanten Konsonanz“.¹³ Diese Art und Weise, Zeit und das in der Zeit Erlebte im Erzählen zu konfigurieren, hat nun aber wiederum auf Seiten der Hörer und Leser von Erzählungen Auswirkungen darauf, wie sie selbst Zeit erleben: Erzählungen, so Ricœur, refigurieren die Zeiterfahrung (Mimesis III).¹⁴ Durch Erzählungen nehmen wir Wirklichkeit wahr und reflektieren sie so auch immer schon im Erzählen. Nehmen wir also den zeitlichen Aspekt von Sterben und Tod ernst, dann sollte eine ethische Reflexion auf diese Phänomene die narrative Konfiguration und Refiguration des Sterbens näher in den Blick nehmen. Das kann nun auf unterschiedliche Art und Weise passieren: Eine Möglichkeit besteht darin, konkrete Erzählungen über Sterben und Tod zu analysieren und zu diskutieren.¹⁵ Eine andere Möglichkeit, der ich mich hier zuwende, fokussiert nicht die konkreten Einzel-Erzählungen, sondern fragt nach dem, was ich – wiederum in Anlehnung an Ricœur¹⁶ – ein „narratives Schema“ nenne, und das meines Erachtens in etwa das zum Ausdruck bringt, was im Rahmen des vorliegenden Bandes unter einem Vgl. ebd., 78, 104– 113. Vgl. ebd., 71 f., 105. Ebd., 106. Ebd., 71. Vgl. ebd., 113 f. und Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3, übers. von Andreas Knop (München: Fink, 2007), 253 – 293. Vgl. in diesem Sinne z. B. die Beiträge von Arnulf Deppermann, Walter Lesch und Christian Klein in diesem Band. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3 (s. Anm. 14), 416. Ich formuliere hier bewusst vorsichtig, da Ricœurs knappe Ausführung zum Begriff einigermaßen kryptisch ist: „[D]er Begriff der Narrativität kann in einem weiteren Sinne verstanden werden als in dem allgemein üblichen einer diskursiven Gattung. Man kann von einem narrativen Programm sprechen, um damit einen Handlungsverlauf zu bezeichnen, der sich aus einer zusammenhängenden Folge von Performanzen zusammensetzt. […] Man kann diese narrativen Schemata als latente Formen der eigentlich narrativen Gattungen betrachten, die ihnen ein passendes diskursives Äquivalent liefern. Was das narrative Schema mit der narrativen Gattung verbindet, ist die Erzählbarkeit, die in der strategischen Artikulation der Handlung unterschwellig angelegt ist.“ Narrative Schemata werden als „das Erzählbare vom Erzählten“ unterschieden (ebd.).
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„Narrativ“ zu verstehen ist¹⁷ und Analogien zum anderweitig verwendeten Begriff der „story“¹⁸ aufweist. Narrative Schemata bzw. Narrative nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen konkreten Einzelerzählungen und abstrakten Begriffen ein.¹⁹ Ein narratives Schema lässt sich in unterschiedliche Erzählungen entfalten, hat selber aber eine begriffliche Struktur. Diese begriffliche Struktur ist aber nur dann richtig verstanden, wenn man sie als nicht bloß formale, sondern immer auch schon inhaltliche Erzählstrategie begreift. Das Schema ist mit den Worten Ricœurs eine Art „narratives Programm“²⁰, also eine Abbreviatur des Erzählten, das in unterschiedliche Erzählungen entfaltet werden kann. Der Abstraktionsgrad solcher narrativen Schemata kann dabei unterschiedlich sein, so dass man auch eine Art Hierarchie erstellen kann: Eine Reihe von Erzählungen folgt dann zum Beispiel dem narrativen Schema A, eine andere Reihe von Erzählungen dem narrativen Schema B. Auf einer höheren Abstraktionsstufe kann den Schemata A und B aber wiederum ein gemeinsames Schema C zugrunde liegen, das in Schema A und B in unterschiedlicher Weise ausgeprägt ist. Meine zentrale These, die ich im Folgenden entfalten werde, lautet, dass das fundamentale narrative Schema der gegenwärtigen ethischen Diskussionen über das Lebensende das narrative Schema eines guten Sterbens ist, das eine normative Wirksamkeit entfaltet: Verläufe am Lebensende sollen möglichst so erzählt werden können, dass die Geschichte des Lebensendes als gutes Ende erzählt werden kann. Dieses narrative Schema kann in unterschiedlicher Weise konkretisiert werden – auch abhängig davon, wie das „Gut-Sein“ des Endes der Erzählung inhaltlich gefasst wird.
Vgl. die Einleitung zum Band. Vgl. zum story-Begriff insbesondere Dietrich Ritschl, Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2004), bes. 131– 144; und ders., Das „story“-Konzept in der medizinischen Ethik, in: ders., Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze (München: Kaiser, 1986), 201– 212. Zu Ritschls story-Konzept vgl. Werner Schwartz, Dietrich Ritschls story-Konzept und die narrative Ethik, in: Marco Hofheinz u. a., Hg., Ethik und Erzählung. Theologische und philosophische Beiträge zur narrativen Ethik (Zürich: Theologischer Verlag, 2009), 143 – 159. Darin orientiert sich dieser Begriff am Schematismusbegriff aus Kants Kritik der reinen Vernunft, bei dem Schemata bekanntlich die Funktion haben, zwischen den konkreten Anschauungen und den abstrakten Begriffen zu vermitteln. Vgl. zum Schematismuskapitel im Kontext der Theorie der Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft Reinhardt Look: Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007), 21– 191. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3 (s. Anm. 14), 416.
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2 Das Gute als Thema der (Medizin‐)Ethik Mit dem Begriff des Guten wird dabei ein zentraler Begriff der Ethik verwendet, der sich in die aktuellen medizinethischen Debatten allerdings nur schwer einfügt. Denn diese beschäftigen sich in der Regel nicht in erster Linie mit der Frage nach dem Guten,²¹ sondern konzentrieren sich auf die Frage nach Prinzipien, die den Anspruch normativer Richtigkeit erheben und diskutieren im Sinne einer angewandten Ethik vor allem deren Anwendbarkeit auf konkrete ethische Problemstellungen. Dabei hat das Konzept des Principlism mit den vier Prinzipien des Respekts vor der Selbstbestimmung, des Wohltuns, des Nichtschadens und der Gerechtigkeit²² einen erheblichen Einfluss auf die Diskussionen. Vorstellungen des guten Lebens werden hingegen vor allem als subjektive Einstellungen thematisiert: Dafür kann zum Beispiel auf die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Richtigen beim späteren John Rawls²³ oder aber auch auf Habermas’ Diskursethik²⁴ zurückgegriffen werden.²⁵ Dass jeder das Recht hat, eine eigene Vorstellung des guten Lebens zu entwickeln, wird dabei insbesondere durch das normative Prinzip der Selbstbestimmung begründet: Jeder hat das Recht, für sich selbst zu bestimmen, was er oder sie für gut hält. „Das Gute“ wird damit zu einem inhaltsleeren Containerbegriff, der nur jeweils individuell inhaltlich gefüllt werden kann. Meine Ausführungen gehen nun im Gegensatz dazu davon aus, dass das, was Menschen als gut ansehen, immer auch Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse ist.²⁶ Insofern solche Vorstellungen des guten Lebens und Sterbens zudem immer Vorstellungen von Verläufen in der Zeit sind, haben sie – wie insbesondere
Zu dieser Problemdiagnose vgl. auch Roland Kipke, Das ‚gute Leben‘ in der Bioethik, in: Ethik in der Medizin 25 (2013), 115 – 128. Vgl. Tom L. Beauchamp und James F. Childress, The Principles of Biomedical Ethics, 7. Aufl. (New York/Oxford: Oxford University Press, 2013). Vgl. John Rawls, Political Liberalism. Extended edition (New York: Columbia University Press, 1995), insb. 173 f. Vgl. Jürgen Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991), 100 – 118. Die analytische Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Guten geht wesentlich auf David Ross, The Right and the Good (Oxford: Oxford University Press, 1930 [repr. 2009]) zurück, bei dem auch die für die Medizinethik einflussreiche Rede von normativen Prima-facie-Prinzipien begegnet. Das hat in jüngster Zeit insbesondere auch Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 7. Aufl. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2017) in seinem Programm einer Soziologie des guten Lebens betont.
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Alasdair MacIntyre²⁷, aber auch der Theologe Stanley Hauerwas²⁸ betont haben – immer eine narrative Struktur. Das heißt, Vorstellungen des Guten sind (zumindest auch) Ergebnis der Wirksamkeit von Erzählungen und den diesen Erzählungen zugrunde liegenden narrativen Schemata. Erzählen aber ist ein soziales Handeln, das zwischen Menschen stattfindet: Wir erzählen für andere Menschen, oder, mit Ricœur formuliert: Die Erzählung kommt erst im Akt des Hörens oder Lesens – also in der Refiguration – an ihr Ziel.²⁹ Darum muss man für das Erzählen auch auf etablierte Formen des Erzählens zurückgreifen, die die Erwartungshaltung der Leser bzw. Hörer prägen.³⁰ Das heißt, gerade von ihrer narrativen Struktur her betrachtet sind Vorstellungen des Guten niemals bloß individuelle Vorstellungen, sondern immer schon soziale Wirklichkeiten, die wir in Erzählungen vorfinden und durch das Erzählen prägen und verändern. Darum ist die ethische Frage nach dem Guten für die Ethik von einer weitaus grundlegenderen Bedeutung als gängige liberale Ethiktheorien üblicherweise zugestehen.
3 Zwei Spielarten des narrativen Schemas des guten Sterbens Nach diesen prinzipiellen Vorüberlegungen sollen nun die zwei bereits oben erwähnten Narrative des guten Sterbens näher untersucht werden.³¹
Vgl. Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 32007), insb. 124 f., 144, 216 („man is […] a story-telling animal“). Schon die Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch verwies auf Erzählungen als menschliche Form der Reflexion des Lebens: vgl. dies., Existentialists and Mystics, hg. von Peter Conradi (New York: Penguin, 1999), 127 und 252. Vgl. Stanley Hauerwas, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection (Notre Dame: University of Notre Dame Press, 1981), 68 – 89. Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3 (s. Anm. 14), 255: „Erst in der Lektüre kommt die Dynamik der Konfiguration an ihr Ziel.“ (Hervorhebung im Original!) Vgl. auch ebd., 272: „Das Werk, könnte man sagen, resultiert aus der Interaktion von Text und Leser.“ Vgl. ebd., 282 f. Dabei kann natürlich auch mit der Erwartungshaltung gespielt werden, indem die Formen variiert werden – aber auch dabei sind diese Formen noch vorausgesetzt. Die folgenden Ausführungen sind eine Weiterentwicklung erster Überlegungen, die veröffentlicht wurden in: Michael Coors, Das gute Sterben? Zwischen Idealisierung und Abgründigkeit des Sterbens, in: Gabriele Arndt-Sandrock, Hg., Was ist gutes Sterben? 15. Loccumer Hospiztagung, Loccumer Protokolle 19/12 (Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum, 2012), 47– 62.
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3.1 Das Narrativ des selbstbestimmt herbeigeführten Todes Die Beweggründe, aus denen Menschen im US-Bundesstaat Oregon und in der Schweiz um Hilfe zur Selbsttötung nachsuchen, wurden empirisch intensiv erforscht. Ein Blick in einige ausgewählte exemplarische Studien zeigt, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind, dass aber (neben anderen) zwei Gründe für die Entscheidung zum (assistierten) Suizid immer wieder genannt werden:³² (1) Zum einen ist der Wunsch nach Suizidhilfe ein Wunsch nach Kontrolle über das eigene Leben und den Tod, d. h., es geht um die Vermeidung von Abhängigkeit durch die Herbeiführung des eigenen Todes. (2) Zum anderen – hier sind die Daten etwas uneinheitlich – geht es um das Vermeiden von (zukünftig erwarteten) Schmerzen.³³ Für den deutschen Kontext werden diese Beobachtungen durch eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD bestätigt. Sie zeigt, dass die Angst vor Schmerzen und Atemnot und die Angst, Angehörigen zu Last zu fallen, bei Befürwortern der Hilfe zur Selbsttötung besonders ausgeprägt sind.³⁴ Darüber hinaus lohnt sich ein Blick in die seit 2012 erscheinenden Dokumentationen von „Sterbehilfe Deutschland e.V.“.³⁵ In den veröffentlichten Niederschriften und Gutachten, die auf der Grundlage von Gesprächen des Vereins mit den Suizidwilligen entstanden, werden die gleichen Gründe für den Wunsch nach Hilfe zur Selbsttötung sichtbar: die Angst vor zunehmender Unselbständigkeit,³⁶ vor Ab-
Vgl. zum Folgenden Linda Ganzini u. a., Experiences of Oregon Nurses and Social Workers with Hospice Patients who requested Assistance with Suicide, in: The New England Journal of Medicine 347/8 (2002), 582– 588; Linda Ganzini u. a.,Why Oregon Patients request Assisted Death: Family Members’ Views, in: Journal of General Internal Medicine 23/2 (2007), 154– 157; Susan W. Tolle u. a., Characteristics and Proportion of Dying Oregonians who Personally Consider Physician-Assisted Suicide, in: The Journal of Clinical Ethics 15/2 (2004), 111– 122; Susanne Fischer u. a., Reasons why people in Switzerland seek assisted suicide: the view of patients and physicians, in: Swiss Medical Weekly 139/23 – 24 (2009), 333 – 338. Dass das Vermeiden von Schmerzen eine wichtige Rolle spielt, zeigt z. B. Fischer u. a., Reasons (s. Anm. 32), 337. Die Autoren verweisen aber auch darauf, dass andere Studien z.T. zu anderen Ergebnissen kommen. Vgl. Petra-Angela Ahrens und Gerhard Wegner, Die Angst vorm Sterben. Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage zur Sterbehilfe (Hannover: creo-verlag, 2015), 18 f., http://www.ekd.de/si/ download/2014127941_Sterbehilfe_layout_web.pdf (letzter Zugriff: 10.02. 2016). Vgl. exemplarisch Roger Kusch und Johann Friedrich Spittler, Weißbuch 2012. Sterbehilfe Deutschland e.V. (Norderstedt: Books on Demand, 2012). Vgl. z. B. ebd., 15, 49. Besonders markant ebd., 100: „Ich will frei sein, mein eigenes Hirn benutzen, meine Entscheidungen treffen.“
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hängigkeit von Pflege,³⁷ vor dem Kontrollverlust bzw. dem Verlust der geistigen Fähigkeiten³⁸ und vor unerträglichen Schmerzen³⁹. Darin drücken sich bestimmte Vorstellungen eines guten Sterbens aus: Die Betroffenen berichten hier als Motiv ihres Wunsches nach Suizidhilfe, dass ihr Sterben so soll erzählt werden können, dass sie als sterbende Person möglichst lange das handelnde Subjekt der Erzählung über ihr Sterben sind – sie wollen also zugleich Autor der Erzählung und die Hauptfigur sein, die die Ereignisse kontrolliert. Dem entspricht es, dass diese Figur der Erzählung möglichst wenig leiden soll. Denn wer leidet, ist nicht Subjekt der Handlung – das liegt bereits im Begriff: Leiden ist passio, also Widerfahrnis – darum soll es vermieden werden, im Zweifelsfall dadurch, dass die Figur der Erzählung angesichts des Leidens die Kontrolle dadurch übernimmt, dass sie die Erzählung mit dem Suizid abbricht. Dabei rede ich bewusst vom Abbruch der Erzählung, weil das Ende der Erzählung als ihr konfigurierter Abschluss immer von anderen erzählt werden wird: Denn wer tot ist, erzählt nicht mehr. Das bleibt gewissermaßen das Paradox des narrativen Schemas des selbstbestimmt herbeigeführten Todes. Dieses Paradox kommt im online publizierten Tagebuch des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf ⁴⁰ markant zum Ausdruck: Für den 19. und 20. August 2013 verzeichnet das Tagebuch noch eigene, wenn auch sehr knappe Einträge von Herrndorf. Noch ist er Autor und Hauptfigur der Erzählung seines Sterbens. Dann bricht das Tagebuch ab. Es folgt ein Eintrag von fremder Hand unter der Überschrift „Schluss“: „Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.“⁴¹ Dass Herrndorf bis zum Schluss die handelnde Hauptfigur seiner Sterbeerzählung war, kann er nicht mehr selbst erzählen, denn die Erzählung kann dem, was sie erzählt, nicht gleichzeitig werden.
3.2 Das Narrativ des hospizlich-palliativ begleiteten Sterbens In den Diskussionen über die Hilfe zur Selbsttötung wird nun immer wieder ein alternatives Narrativ des Sterbens stark gemacht, nämlich das Narrativ eines hospizlich-palliativ begleiteten Sterbens. Auch zu diesem Thema gibt es eine
Vgl. z. B. ebd., 63, 70, 76 f., 107, 112, 140, 146, 181. Vgl. z. B. ebd., 15, 57 f, 76 f., 83, 146. Vgl. z. B. ebd., 70, 162. Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, http://www.wolfgang-herrndorf.de (letzter Zugriff: 28.01. 2016). Ebd., http://www.wolfgang-herrndorf.de/2013/08/schluss (letzter Zugriff: 28.01. 2016).
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Reihe von empirischen Studien, die untersucht haben, wie der Begriff des guten Sterbens bzw. des guten Todes inhaltlich gefüllt wird.⁴² Schaut man auf die Kriterien des guten Sterbens, die in diesen Studien genannt werden, so fällt auf, dass es deutliche Überschneidungen zum Narrativ des selbstbestimmt herbeigeführten Todes gibt, denn auch hier stellen die Kontrolle bzw. die Autonomie und das Vermeiden von Schmerzen wesentliche Aspekte des narrativen Schemas dar. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man einen Blick auf normative Texte zum Beispiel der Hospizbewegung in Deutschland wirft. So betonen etwa die Leitsätze des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV) ebenfalls die Autonomie und die Leidfreiheit des Sterbens: „Im Zentrum stehen die Würde des Menschen am Lebensende und der Erhalt größtmöglicher Autonomie.Voraussetzung hierfür sind die weitgehende Linderung von Schmerzen und Symptomen schwerster lebensbeendender Erkrankungen durch palliativärztliche und palliativpflegerische Versorgung sowie eine psychosoziale und spirituelle Begleitung der Betroffenen und Angehörigen.“⁴³ Es gibt hier offensichtlich eine erhebliche Schnittmenge im Blick darauf, was als gutes Sterben gilt: Das Narrativ des guten Sterbens ist vor allem dadurch charakterisiert, dass das Sterben als individuelles, selbstbestimmtes Sterben, frei von Schmerzen erzählbar sein soll.Während im Kontext der Hilfe zur Selbsttötung das Narrativ dazu tendiert, den Tod im Suizid zur heroisch-einsamen Tat zu stilisieren,⁴⁴ zielt das narrative Schema der hospizlich-palliativen Begleitung immer auch auf eine narrative Inszenierung des Sterbens als soziales Ereignis: Zur Autonomie und Leidensfreiheit treten hier weitere Kriterien wie das Abschließen der eigenen Biographie⁴⁵ und die Versöhnung mit der eigenen Sterblichkeit. Wie sich dieses Narrativ des guten Sterbens in der alltäglichen Arbeit eines Hospizes realisiert, hat Stefan Dreßke in einer teilnehmenden Beobachtungsstu-
Vgl. z. B. Ezekiel J. Emanuel und Linda L. Emanuel, The promise of a good death, in: The Lancet 351 (1998), sII21–sII29; Karen A. Kehl, Moving towards peace: An Analysis of the Concept of a Good Death, in: American Journal of Hospice and Palliative Medicine 23/4 (2006), 277– 286, 281 f.; Nina Streeck, „Leben machen, sterben lassen“: Palliative Care und Biomacht, in: Ethik in der Medizin 28/2 (2016), 135 – 148. DHPV: Leitsätze, 2. Leitsatz, http://www.dhpv.de/ueber-uns_der-verband_leitsaetze.html (letzter Zugriff: 28.01. 2016). Vgl. die Deutung des Werkes von Jean Améry bei Matthias Bormuth, Ambivalenz der Freiheit. Suizidales Denken im 20. Jahrhundert (Göttingen: Wallstein, 2008), 251– 277. Die Figur des Abschließens der Erzählung im Sinne der Erzeugung von Kohärenz kann allerdings auch ein Charakteristikum des Narrativs des selbstbestimmt-herbeigeführten Todes sein, wie der Beitrag von Nina Streeck in diesem Band deutlich macht.
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die herausgearbeitet.⁴⁶ Die Studie von Dreßke ist als qualitative Studie nicht repräsentativ, sie zeigt aber auf, wie sich das durch die zuvor genannten quantitativen Studien erhobene Narrativ des guten Sterbens in der konkreten hospizlichen Praxis auswirken kann. Hier interessiert also zunächst allein die Möglichkeit, dass Sterben im Hospiz im Horizont dieses Narrativs verstanden werden kann, ohne dass damit schon gesagt wäre, dass dies in der hospizlich-palliativen Arbeit notwendigerweise immer so sein müsste. Dreßke bilanziert seine Beobachtung folgendermaßen: „Die Idealgestalt des Sterbens ist ein friedlicher Prozeß. An dieser Verlaufsform der graduellen Verschlechterung müssen die Beteiligten ständig arbeiten.“⁴⁷ Sterben ist eine zu gestaltende Verlaufsform: Zeitliche Verläufe werden in Erzählungen – oder abstrakter: in narrativen Schemata – kommuniziert. Den Begriff des friedlichen Sterbens interpretiere ich als eine Näherbestimmung des narrativen Schemas des guten Sterbens, das in den sozialen Praktiken des Hospizes – in seinen Arbeitsabläufen und Kommunikationsstandards und -erwartungen – institutionalisiert ist und das in der sozialen Organisation des Sterbens im Hospiz sichtbar wird. Das Narrativ des friedlichen Sterbens besagt, dass das Sterben einer Person dann als gutes Sterben erzählt wird, wenn ihr Ende als ein friedliches Ende erzählt werden kann. Dabei fungiert nach Dreßke das traditionelle Bild eines natürlichen Sterbens als eine Art leitendes Ideal: „Das medizinisch korrekte Sterben ist die Idealisierung des natürlichen Sterbens, das weder gewaltsam, noch im frühen Lebensalter stattfindet, das in einen Tod aus einer inneren Ursache mündet, möglichst aus Altersschwäche“.⁴⁸ Das Idealbild ist das „langsame Abgleiten in einen schlafähnlichen Zustand“⁴⁹. Das aber steht im direkten Gegensatz zur Vorstellung eines gewaltsamen Todes zum Beispiel durch Suizid.⁵⁰
Vgl. Stefan Dreßke, Sterben im Hospiz. Der Alltag in einer alternativen Pflegeeinrichtung (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2005). Diese Studie basiert selbst wesentlich auf Erzählungen, die sich aus der teilnehmenden Beobachtung des Autors ergeben haben. Diese Erzählungen sind natürlich durch den Autor konfiguriert, stellen also bereits eine inhaltliche Deutung des Geschehens dar – was allerdings für jede Erzählung der beobachteten Ereignisse gelten würde: Insofern es um eine Abfolge von Ereignissen in der Zeit geht, ist aber das Erzählen der adäquate Modus der Darstellung. Vgl. zur Problematik der narrativen Basierung von empirischer Sozialforschung über das Lebensende: Sharon R. Kaufmann, Narrative, Death and the Uses of Anthroplogy, in: Thomas R. Cole u. a., Hg., Handbook of the Humanities and Aging, 2. Aufl. (New York: Springer, 1999), 342– 364. Dreßke, Sterben im Hospiz (s. Anm. 46), 225. Ebd., 216. Ebd., 229. Ebd.
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Dreßke profiliert das narrative Schema des guten Sterbens insbesondere in der Abgrenzung zu den Praktiken der Pflege im Krankenhaus. Anders als im Krankenhaus, das sich aus organisationstechnischen Gründen auf den Patienten als kranken Körper konzentrieren müsse, ist das Hospiz als Organisation ganz darauf angelegt, die Person des Menschen in ihrer sozialen Einbindung ernst zu nehmen und zum Gegenstand der Begleitung zu machen.⁵¹ Das kann aber wiederum auch zur Idealisierung des individuellen Sterbens führen, die sich häufig „mit dem Bild der Reifung als biographische Vollendung und als letzter großer Selbst-Entwurf“ verbindet.⁵² Das, was auf der einen Seite zunächst beschreibend den Unterschied zum Sterben im Krankenhaus ausmacht, wird unter der Hand zu einer Norm, die Erwartungshaltungen prägt und Erwartungen an die Sterbenden heranträgt: Der Sterbende hat so zu sterben, wenn er denn gut sterben will! Dieses Ziel zu erreichen, darauf richtet sich das ganze Bemühen der Organisation Hospiz. Dafür aber muss es implizite Kriterien geben, die festlegen, wann eine Erzählung über das Sterben die Erzählung eines guten Sterbens ist. Diese Kriterien umreißen das narrative Schema des guten Sterbens. Sie sind gewissermaßen Anweisungen dafür, wie die Erzählungen über das Sterben zu konfigurieren sind: Das gute Sterben ist ein solches, das als friedliches Sterben erzählt werden kann; als ein Sterben, auf das der oder die Betroffene sich im Laufe des zu erzählenden Prozesses einlässt und das er oder sie als Teil des eigenen Lebens akzeptiert. Im besten Fall bildet es den runden Abschluss der Biographie: Gut zu sterben bedeutet, sein Leben stimmig zu Ende zu bringen.⁵³ Dies hat aber auch eine Kehrseite, nämlich, dass das an diesen Kriterien bemessene Misslingen des Sterbens vor allem beim Patienten gesucht wird.⁵⁴ So wird der Patient zum „Regisseur seines Sterbens“.⁵⁵ Das ist der tiefere, narrative Sinn der Betonung der Autonomie: Das Sterben hat so zu verlaufen, wie der Patient selber es erzählt wissen will – mit ihm selbst als der handelnden Person und Autor der Erzählung. Das Hospiz ist der Ermöglichungsraum des guten Sterbens, aber die selbstbestimmte Annahme dieser Möglichkeit liegt beim betroffenen Individuum. Selbstbestimmung ist hier nicht mehr nur ein Recht, sondern wird (unter der Hand) zur Aufgabe für den Sterbenden.
Vgl. ebd., 220. Vgl. ebd., 223. In der Terminologie der Narratologie soll die Erzählung also eine Erzählung mit „closure“ sein. Vgl. zum Begriff den Beitrag von Tobias Klauk und Tilmann Köppe in diesem Band. Vgl. Dreßke, Sterben im Hospiz (s. Anm. 46), 15. Ebd., 202. Vgl. ebd., 221.
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4 Neu-Konfigurationen und Scheitern des Narrativs des guten Sterbens Nun gibt es in einem Hospiz immer wieder Fälle, die nicht ohne Weiteres in dieses narrative Schema des guten Sterbens passen. In vielen Fällen kann dies den Betroffenen selbst als den Regisseuren ihres Sterbeprozesses zugeschrieben werden. Das sind Verläufe, die dann als nicht gelungene Fälle des Sterbens erzählt und nachbesprochen werden. So heißt es dann zum Beispiel, dass der Patient „nicht loslassen konnte“⁵⁶ oder „dass er so starb, wie er gelebt hat“⁵⁷. Das sind narrative Schemata, die einen Sterbeverlauf als nicht gelungen bewerten und die die Verantwortung dafür der Person des Sterbenden zuschreiben. Schwierig wird das allerdings dann, wenn der schlechte Verlauf nicht mehr der sterbenden Person zugeschrieben werden kann, weil dieser gar keine Handlungs- oder Entscheidungsoptionen zur Verfügung standen, für die sie hätte die Verantwortung übernehmen können. Das trifft insbesondere für diejenigen Fälle zu, in denen der körperliche Verfall sich in den Vordergrund drängt und die Regie über die Ereignisse und die Erzählung übernimmt. In diesen Fällen setzt dann das Bemühen um eine NeuKonfiguration des narrativen Schemas ein, mit dem Ziel, das Narrativ des guten Sterbens aufrechterhalten zu können. Anhand von drei exemplarischen Erzählungen von Sterbeverläufen zeigt Dreßke, wie auf unterschiedlich intensive Gefährdungen des guten Sterbens reagiert wird. Alle drei Fälle verletzen die (narrativen) Normen der Zeit, des Körpers und des Ortes des Sterbens, d. h. der Sterbeverlauf verläuft entweder schneller oder langsamer, der Körper reagiert anders als erwartet und/oder das Sterben geschieht am falschen Ort. Die Fälle stellen sich aber als unterschiedlich große Herausforderungen für das narrative Schema des guten Sterbens dar: (1) Im ersten Fall verstirbt eine Patientin unerwartet plötzlich und unter starken Schmerzen, vermutlich, weil ein Tumor unerwartet in die Luftröhre einbricht: Sie bricht im Bad zusammen. Der Pfleger Georg kann sie noch in ihr Bett bringen, dort stirbt sie unter starken Schmerzen.⁵⁸ (2) Im zweiten Fall verstirbt die Patientin ebenfalls plötzlich, aber nicht unerwartet. Die Symptomlast wird aber aufgrund von Atemnot so schwer, dass die
Vgl. ebd., 89 f. Vgl. ebd., 15, 146. Vgl. ebd., 183 f.
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Patientin von einer Ärztin irreversibel sediert werden muss.⁵⁹ Hier folgen die Pflegekräfte, so Dreßke, nicht mehr vornehmlich dem Ideal eines friedlichen Sterbens, sondern in erster Linie dem medizinisch Notwendigen. Dennoch hält Dreßke fest: „Im Gegensatz zur Episode von Pfleger Georg können die Pflegekräfte trotz der Überwältigung durch die Ereignisse mehr tun, als die Patientin in ihr Bett zu bringen.“⁶⁰ (3) Im dritten Fall dauert das Sterben eines Patienten länger als erwartet: Der Arzt kündigt ein baldiges Sterben an, das aber zur Irritation des Pflegepersonals wie auch der Angehörigen auf sich warten lässt. Das führt dazu, dass der Zeithorizont der Erwartung des Todes ständig neu angepasst werden muss, und dass Erklärungen für die Verzögerung des Todes in das Narrativ eingefügt werden müssen. Als symbolische Erklärung dient dann das „starke Herz“ des Kranken,⁶¹ womit durchaus die Tendenz erkennbar wird, wieder dem Kranken selbst ein Stück der Verantwortung zuzuschreiben. Bilanzierend formuliert Dreßke zu diesen drei Episoden: „Die Verantwortung für den Sterbeprozess kann einer Person zugeschrieben werden – und das Mißlingen eines guten Sterbens seinem Körper.“⁶² Je mehr den beteiligten Personen, insbesondere den Pflegekräften, noch ein Handeln möglich war, desto eher war es ihnen möglich, das narrative Schema den Bedingungen der Wirklichkeit anzupassen: Das verdeutlicht die starke normative Bedeutung der Rede vom Sterbenden als Regisseur seines Sterbeprozesses für dieses hospizlich-palliative Narrativ. Wenn dieses Schema nicht mehr greift, rückt der Körper in den Blick, der sich dem narrativen Schema des guten Sterbens nicht fügt. Der Körper kann nun aber nicht als handelnder Akteur in das narrative Schema integriert werden, denn Körper handeln nicht. Darum ist der Körper⁶³ auf der Ebene der Präfiguration der
Ebd., 185 – 187. Ebd., 187. Ebd., 190 – 193. Ebd., 197. Es scheint sinnvoll, hier auch in Abgrenzung zum phänomenologischen Begriff des Leibes vom Körper zu sprechen, weil in den Zerfallsprozessen des Eigenleibes dieser in seiner Gegenständlichkeit als Körper aufdringlich wird. Diese Dynamik des Übergangs von leiblicher Selbsterfahrung zur Körperlichkeit des Zerfalls wäre eigens zu diskutieren. Zur phänomenologischen Begrifflichkeit von Leib und Körper vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000); Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, 2. Aufl. (Bielefeld: Edition Sirius, 2009); ders.: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, 3. Aufl. (Bielefeld: Edition Sirius, 2008). Die Unterscheidung begegnet in der deutschsprachigen Diskussion prominent bei Edmund Husserl,
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Erzählung zu verorten. Die körperlichen Verfallsprozesse werden im narrativen Schema des guten Sterbens in die Konfiguration der prospektiven Erzählung des Sterbeverlaufs im Horizont des Planbaren mit einbezogen. Dadurch ist die narrative Konfiguration des körperlichen Verfalls unmittelbar mit den Handlungsoptionen der handelnden Figuren der Erzählung zu einem narrativen Schema verwoben. Wenn nun jedoch der körperliche Verfallsprozess erheblich von der Erwartung abweicht, reduzieren sich die Handlungsoptionen, die im Rahmen des narrativen Schemas vorgesehen sind. Das zwingt zu einer Neu-Konfiguration der Erzählung, weil die Refiguration der erlebten Wirklichkeit durch die Erzählung scheitert. Die Konzentration auf die Erzählung als mimesis praxeos erweist sich hier als problematisch, weil sie die handelnde Figur fokussiert, und damit dazu neigt, die Widerfahrnisse wieder in Handlungen anderer Figuren der Erzählung zu übersetzen. Erzählungen des Sterbens hingegen müssen nicht nur vom Handeln, sondern auch von dem erzählen, was der Figur der Erzählung widerfährt, ohne dass es einer Figur als Handlung zugeschrieben werden kann – wie das Erzählen vom körperlichen Verfall deutlich macht.⁶⁴ Im äußersten Fall scheitert das narrative Schema des guten Sterbens allerdings vollständig: nämlich dann, wenn sich keine narrativen Deutungsoptionen mehr finden, die mit der Grundregel vom Sterbenden als Regisseur seines Sterbeprozesses zusammenpassen. Dies geschieht im ersten geschilderten Fall oder in einem ähnlichen, der ebenfalls von Dreßke dargstellt wird: „Eine Patientin
Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana, Bd. 1, 2. Aufl. (Den Haag: Nijhoff, 1963), insb. 128 (§44), und ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, Husserliana, Bd. 4 (Den Haag: Nijhoff, 1952), 143 – 161, sowie bei Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 3. Aufl. (Berlin/New York: de Gruyter, 1975), 231 f. Vgl. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer (s. Anm. 3), 385. Ricœur betont, dass sich seine Abhandlung immer gleichermaßen auf den handelnden und leidenden Menschen bezieht, und formuliert für die hier ausgeführte Argumentation scheinbar (!) treffend: „Mit der Minderung des Handlungsvermögens […] beginnt das Reich des Leidens im eigentlichen Sinne“ (ebd., 386).: Ich stimme aber Stoellger darin zu, dass Ricœurs Ausführungen faktisch von einer „Dominanz der Handlungslogik“ geprägt sind, die sich auch in der in diesem Zitat deutlich zu einfachen Gegenüberstellung von Handeln und Leiden zeigen. Vgl. Philipp Stoellger, Selbstwerdung. Ricœurs Beitrag zur passiven Genesis des Selbst, in: Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger, Hg., Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas (Tübingen: Mohr Siebeck, 2005), 273 – 316, 283. Stoellger bezeichnet Ricœurs Rede von Passivität als eine „halbierte Passivität“, weil sie in der bloßen Korrelation von Handeln und Erleiden verbleibt, ohne die Möglichkeit einer dem vorausliegenden Ur-Passivität zu denken (ebd.). Vgl. dazu auch Philipp Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ‚categoria non grata‘ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010).
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schleppt sich nachts aus ihrem Bett und verblutet unbemerkt auf dem Flur.“⁶⁵ Sie wird am nächsten Tag von den Pflegenden tot aufgefunden. Die narrativen Schemata von Selbstbestimmung und friedlichem Sterben laufen hier leer. Entsprechend reagierte der Nachtdienst des Hospizes, in dem dies geschah, „völlig aufgelöst“⁶⁶. Allerdings wurde dann auch hier postum noch der Versuch unternommen, den schrecklichen Tod, „den man sich eher in einem Schützengraben als in einer dem Humanen verschriebenen Einrichtung vorstellt“,⁶⁷ narrativ einzubinden, um ihm damit das Verstörende zu nehmen. Die Dissonanz der Erfahrung des Abbruchs wird narrativ dadurch eingeholt, dass „biographische Kontinuität“⁶⁸ wieder hergestellt wird, indem der Pfleger den nächtlichen Gang der Patientin auf den Flur im Horizont früherer Gespräche mit ihr deutet: Sie wollte zum Grab ihres Ehemanns, neben dem sie beigesetzt werden wollte. „Vielleicht hat die Patientin, so vermutet der Pfleger, mit ihrem letzten Gang auf den Flur noch einmal etwas erreichen wollen, als Ausdruck ihres eigenen Willens.“⁶⁹ Deutlich ist der Versuch zu erkennen, die Patientin geradezu sub contrario noch zum Regisseur ihres Sterbeprozesses zu machen. Doch „letzte Unsicherheit läßt sich nicht ausräumen“,⁷⁰ denn dieser Versuch der Erzeugung einer narrativen Kontinuität bleibt letztlich spekulativ und die Frage drängt sich auf, ob es nicht doch einfach ein schrecklicher Tod war, den diese Frau gestorben ist. Im Horizont des Narrativs eines guten Sterbens fehlen aber die narrativen Konfigurationsmöglichkeiten, die es erlauben, mit dem unfriedlichen Tod umzugehen.
5 Ein alternatives Narrativ: Die Feindlichkeit von Tod und Sterben Wenn also sowohl das Narrativ der selbstbestimmten Herbeiführung des Todes als auch das Narrativ der hospizlich-palliativen Begleitung auf ein gemeinsames Narrativ des guten Sterbens verweisen, dann stellt sich für den Ethiker die Frage, ob es eine Alternative zu diesem grundlegenden narrativen Schema gibt. Ein
Stefan Dreßke, Interaktionen zum Tode. Wie Sterben im Hospiz orchestriert wird, in: Petra Gehring, Marc Rölli und Maxine Soborowski, Hg., Ambivalenzen des Todes. Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2007), 77– 101, hier 100. Vgl. Dreßke, Sterben im Hospiz (s. Anm. 46), 208. Dreßke, Interaktionen (s. Anm. 65), 100. Dreßke, Sterben im Hospiz (s. Anm. 46), 210. Ebd. Ebd., 209. Ebd., 210.
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solches findet sich zum Beispiel in der fulminanten Eingangspassage von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung angedeutet: Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. […] Denn der Mensch will ja gar nicht irgendwelchen Fesseln entfliehen; er will bleiben, er will – leben. Die Philosophie, die ihm den Tod als ihren besonderen Schützling und als die großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des Lebens zu entrinnen, scheint ihm nur zu höhnen.⁷¹
Rosenzweigs Text ist keine Erzählung und kein Narrativ, sondern trägt eher den Charakter eines Manifests, aber die Rede von der „Furcht des Todes“, vom „Pesthauch des Hades“, von der Lebensfeindlichkeit des Todes verweisen sehr deutlich darauf, dass diesem Text ein anderes Narrativ als das des guten Sterbens zugrunde liegt. Wenn der Tod das Gefürchtete, das Lebensfeindliche per se ist, dann ist er nicht das gute Ende einer Lebensgeschichte. Und damit kann auch das Sterben als das Zugehen auf den Tod narrativ nicht mehr als gutes Sterben konfiguriert werden. Mit dieser Deutung vom Tod als Feind des Lebens steht Rosenzweig als jüdischer Religionsphilosoph in einer langen Tradition des jüdischen Denkens, die auch das Christentum und die theologische Reflexion des Todes im Christentum geprägt hat. Das Christentum hat ein zumindest ambivalentes Verhältnis zu Sterben und Tod. Ganz sicher begreifen die biblischen Texte des alten und des neuen Testamentes und die meisten Texte der christlichen Tradition das Sterben nicht primär als gutes Sterben. Gerade der christliche Auferstehungsglaube lebt von der Vorstellung der Überwindung des Todes.⁷² Wenn der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief ausrufen kann: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel!“ (1. Kor 15,55), so zehrt diese Metaphorik vom Narrativ des Kampfes des Lebens gegen den Tod, der
Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988), 3 f. Damit greife ich ein dominantes Sterbenarrativ der christlichen Tradition heraus, ohne damit behaupten zu wollen, dass die christliche Tradition nicht auch andere Sterbenarrative kennt, die z.T. auch idealisierend vom Tod reden konnten (man denke nur an die Märtyrerlegenden). Mir geht es hier v. a. darum, zu zeigen, dass sich an den normativen Quellen des christlichen Glaubens alternative Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeiten zum Narrativ des guten Sterbens finden. Vgl. zum Folgenden auch Knut Berner, Todesdeutungen im Konflikt. Dogmatische und ethische Überlegungen zum Umgang mit dem Lebensende, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 47 (2005), 306 – 322; ders.: Der halbierte Tod. Thanatologische Reflexionen zur Suizidproblematik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 54 (2010), 206 – 212.
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zugunsten des Lebens ausgeht. Dabei geht die narrative Dynamik von der Überwindung des Todes durch das Leben aus, ohne dass der Tod dadurch ins Positive gewendet wird. Überwunden wird er dabei nicht durch eine anonyme Macht des Lebens selbst, sondern durch Gottes Handeln zugunsten des Lebens in der Auferstehung Jesu. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die narrative Konfiguration Dissonanz und Konsonanz miteinander verbindet:⁷³ Der Tod als größtmögliche dissonante Störung wird also im Glauben und in der Hoffnung auf die Auferstehung nicht einfach in eine Konsonanz hinein aufgehoben, sondern die Erzählung von Tod und Auferstehung Jesu Christi – als das zentrale Sterbenarrativ der christlichen Tradition – bindet Tod und Leben als dissonante Konsonanz zusammen. Der lebendige Christus ist der auferweckte Gekreuzigte. Der Tod des Kreuzes behält darum auch von der Auferstehung her seinen Schrecken, wird nicht einfach zum guten Tod, weil er in der Auferstehung endet. Ebenso wenig wird im christlichen Glauben der eigene Tod zum guten Ende des Lebens, weil er – wie umgangssprachlich oft formuliert – der Anfang des ewigen Lebens ist. Vielmehr ist der Tod als Ende der Lebensgeschichte eines Menschen ein zu überwindendes Ende, das aber nicht durch das Handeln des Sterbenden überwunden werden kann, sondern dessen Überwindung ein Handeln Gottes ist, auf das der Glaube angesichts des Todes hofft. Dabei ist andererseits aber auch vorausgesetzt, dass der Tod zur geschöpflichen Endlichkeit des sündigen Menschen gehört. Das macht die tiefe Ambivalenz eines theologischen Begriffs des Todes aus, die bereits Eberhard Jüngel in der Unterscheidung zwischen dem natürlichen, geschöpflichen Tod und dem Tod als „Fluchtod“, als „der Sünde Sold“, treffend analysiert hat.⁷⁴ Was es bedeutet, sich im Angesicht des Todes als letzten Feind auf diesen vorzubereiten, lässt sich eindrücklich an Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben ⁷⁵ studieren. Er ist ganz der Frage gewidmet, was mich angesichts des Todes trösten kann. So geht auch Luther von der Schrecklichkeit des Todes aus: „Der Tod wird groß und schrecklich, weil die furchtsame, verzagte Natur dieses
Für die folgenden Überlegungen danke ich Pierre Bühler für hilfreiche Hinweise in der Diskussion! Vgl. Eberhard Jüngel, Tod (Stuttgart/Berlin: Kreuz Verlag, 1971), 94 f. et passim. Vgl. zu dieser Ambivalenz des Todes Michael Coors, Altern und Tod. Zur narrativen Refiguration der Endlichkeit menschlicher Lebenszeit in Gerontologie und Theologie, in: Marco Hofheinz und Michael Coors, Hg., „Die Moral von der Geschicht‘ …“. Ethik und Erzählung in Medizin und Pflege (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2016), 185 – 200. Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, in: WA 2, 685 – 697.
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Bild sich zu tief einprägt, zu sehr vor Augen hat.“⁷⁶ Es ist also falsch, sich im Sterben zu sehr auf den Tod zu konzentrieren, denn daraus entsteht Angst.⁷⁷ Der Tod, die Sünde und die Hölle sind für Luther die drei Bilder, die uns im Sterben anfechten – und gegen diese Anfechtung hilft für Luther nur eines: „Du musst den Tod im Leben, die Sünde in der Gnade, die Hölle im Himmel ansehen.“⁷⁸ Tod, Sünde und Hölle müssen im Kontext dessen gesehen werden, was sie überwindet: Leben, Gnade und Himmel. Und das gelingt im Blick auf die Person Christi:⁷⁹ Von der Erzählung über Tod und Auferstehung Christi her kann der Sterbende seine Erwartung ans Sterben narrativ refigurieren. Dieses narrative Schema hat seine Pointe dann allerdings auch darin, dass der Tod nicht nur das Ende unserer Lebensgeschichte ist. Denn in der Erzählung von Jesu Tod begegnet der Tod als in der Auferstehung überwundener Tod. Der Tod wird mit Luthers Worten „im Leben angesehen“. Damit wird hier nicht das Lebensende als gutes Sterben idealisiert, sondern der Mensch wird auf die Schrecken des Todes so vorbereitet, dass er sie aushalten kann. In der geistlichen Vorbereitung, im Blick auf das Kreuz und die Erzählung, die es symbolisiert, wird dem Tod sein Schrecken genommen, weil der Tod in den Kontext des weiterreichenden Narrativs von Gottes Handeln am Menschen eingeordnet wird. Dabei wird die Vollendung der Lebensgeschichte, das Abschließen des narrativen Schemas des eigenen Lebens, dezidiert aus der Lebensgeschichte des Menschen ausgeschlossen: Die abschließende Bewertung des Lebens ist nicht Teil der Lebensgeschichte, sondern Handeln Gottes an dem toten und auferstandenen Menschen. Dafür steht die eschatologische Rede vom Gericht Gottes. Wer demgegenüber auf dem narrativen Schema eines guten Sterbens beharrt, steht darum zumindest in der Gefahr, die Hoffnung auf Gottes Handeln in Tod und Gericht durch eine Idealisierung des Sterbeprozesses selbst zu ersetzen. Abgerundet wird das Leben dann nicht in der Begegnung mit Gott, sondern im Sterben selbst. So wird das Sterben zur letzten großen Aufgabe für den Menschen. Und diese letzte große Aufgabe kann zur Überforderung werden.Wer vor diesem hohen Ideal des guten Sterbens nicht mehr standhalten kann, der entscheidet sich dann möglicherweise für den Suizid als alternative Form des guten Sterbens. Die Stärke von Luthers Betrachtung liegt hingegen gerade darin, dass sie dem Sterbenden keine große Aufgabe abverlangt, sondern dass sie schlicht auf eine
Ebd., 686,36 – 387,2. (Die Sprache ist hier und in den folgenden Zitaten durch den Verfasser modernisiert worden.) Vgl. ebd., 687,10 f: „Denn je tiefer der Tod betrachtet, angesehen und erkannt wird, desto schwerer und bedenklicher ist das Sterben.“ Ebd., 688,35 f. Vgl. ebd., 689,9.
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Veränderung der Wahrnehmung zielt, die dadurch erreicht wird, dass auf die Erzählung des Todes Jesu geachtet wird: Diese Erzählung refiguriert auf ganz andere Art und Weise das Erleben des Sterbens als es durch Narrative des guten Sterbens geschieht. Hier nämlich wird der Mensch im Sterben zum Empfangenden und nicht zum Handelnden, nicht zum Regisseur seines Sterbeprozesses. Das Bild des Kreuzes wird darum zu einem narrativen Schema, aus dem der Sterbende die Kraft empfängt, sich dem Sterben und dem Tod auch dann noch zu stellen, wenn es nichts mehr gibt, was er oder andere noch tun können, auch dann, wenn der Tod sich in seinem ganzen Schrecken zeigt.
6 Fazit Die Absicht dieser Ausführungen war in erster Linie eine hermeneutische, keine normative: Es geht hier nicht darum, den Vorrang eines bestimmten narrativen Schemas des Sterbens zu behaupten, sondern es geht zunächst und v. a. darum, unterschiedliche narrative Konfigurationen des Sterbens und ihre normativen Dynamiken in den Blick zu nehmen. Aus dieser hermeneutischen Annäherung ergeben sich natürlich eine Reihe von ethischen Fragestellungen, die an verschiedenen Stellen angedeutet wurden und die einer weitergehenden normativen Diskussion bedürften. Eine Frage soll hier nun abschließend herausgegriffen werden: Wenn man das Narrativ eines guten Sterbens für problematisch hält, stellt sich die Frage, wie die Aufgabe der Begleitung von schwer kranken und sterbenden Menschen alternativ charakterisiert werden kann. Eine mögliche Antwort liegt meines Erachtens in der Formulierung der „Gründerin“ der Hospiz- und Palliativbewegung Cicely Saunders: „Ich habe schon oft gesagt, daß einer unserer wichtigsten Grundsteine aus dem Bewusstsein der Bedürfnisse Sterbender besteht, das sich in den einfachen Worten zusammenfassen lässt, die Jesus im Garten Getsemani sprach: ‚Wachet mit mir.‘“⁸⁰ Saunders wusste sehr gut um die hier beschriebene Spannung zwischen der Abgründigkeit des Todes und dem Bemühen, das Sterben gut zu gestalten. Die wichtigste Aufgabe in der Begleitung Sterbender angesichts dieser Spannung ist hier von ihr sehr präzise in den Worten Jesu zusammengefasst: „Wachet mit mir!“ – für den leidenden Menschen da sein und ihn begleiten in seinem Ringen mit dem Tod. Gefordert ist hier also ein Ethos der Begleitung und des Beistandes in Zeiten der Not. Dieses Ethos, das sich in ein Narrativ des Bei-
Cicely Saunders, Brücke in eine andere Welt. Was hinter der Hospizidee steht, hg. von Christoph Hörl (Freiburg im Breisgau: Herder, 1999), 20.
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stehens angesichts der Bedrohung des Lebens durch den Tod übersetzen lässt, sollte die Begleitung Sterbender tragen, nicht die Vorstellung, dass man das Sterben damit gut machen könnte.⁸¹ Ernst Engelke, einer der wichtigen Vertreter und Begründer der Hospiz- und Palliativbewegung in Deutschland, charakterisiert darum die Aufgabe folgendermaßen: „Sterbenskranke und Sterbende zu begleiten bedeutet, sie in ihrem Kampf gegen den Tod zu begleiten.“⁸² Paul Ricœur formuliert in seinen posthum unter dem Titel Vivant jusqu’à la mort veröffentlichten Notizen: „Begleiten ist vielleicht der treffendste Ausdruck um die Haltung zu bezeichnen, dank der sich der Blick auf den Sterbenden einem mit dem Tode ringenden zuwendet, der bis zum Tode um sein Leben ringt […], und nicht einem Todgeweihten, der bald ein Toter sein wird.“⁸³ Dafür aber braucht es eine „Kultur des mitfühlenden, begleitenden Blicks“⁸⁴. Und eine solche Kultur braucht Erzählungen, die nicht nur davon erzählen, dass es gut ist, wenn wir im Sterben noch Handelnde bleiben. Es braucht vielmehr Erzählungen, die das Erleiden, die eigene Passivität angesichts des Todes in das Erzählen integrieren können. Die christliche Tradition hat einige Narrative dieser Art zu bieten. In einer säkularen bzw. multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft⁸⁵ scheint es mir eine dringende Aufgabe, danach zu fragen, welche anderen Traditionen ähnliche Narrative zur Orientierung anbieten.
Saunders war klar (ebd., 106): „Man kann natürlich nicht sagen, daß jeder Patient im Hospiz völlig von Schmerzen befreit sei, den Tod vollkommen akzeptiert und herrlich sterben wird. Das ist einfach nicht wahr.“ Ernst Engelke in einem Vortrag am 4.11. 2015 in Hannover. Vgl. ders.: Die Wahrheit über das Sterben. Wie wir besser damit umgehen (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2015). Paul Ricœur, Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass. Französisch-deutsch, übers. und hg. von Alexander Chucholowski (Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2011), 21. Ebd., 23. Zu den ethischen Herausforderungen der Interkulturalität vgl. Michael Coors, Tatjana Grützmann und Tim Peters, Hg., Interkulturalität und Ethik. Der Umgang mit Fremdheit in Medizin und Pflege (Göttingen: Edition Ruprecht, 2014).
Nina Streeck
Ende gut, alles gut? Sterbeerzählungen in der narrativen Ethik
1 Das letzte Kapitel Geschichten vom Sterben haben kein gewöhnliches Ende. Wenn sie aufhören, klingt jeweils zugleich die Geschichte eines ganzen Lebens aus. Sterbeerzählungen sind letzte Kapitel, Schlussakkorde von Biografien. Sie widmen sich dem Sterben als der mehr oder minder lange währenden finalen Lebensphase, auf die der Tod bereits seinen Schatten wirft.¹ Mich interessieren hier Geschichten, in denen ein Ich-Erzähler über sein eigenes Sterben spricht. Das bringt freilich einige Besonderheiten mit sich: Wer von seinem Sterben erzählt, gewärtigt die Schwierigkeit, seinen Tod nicht mehr mitteilen zu können. Den Schlusspunkt kann der Autor nicht selbst setzen. Andere müssen das für ihn erledigen; er kann sich bloß nahe an sein Ende heran erzählen und allenfalls vorausblickend von seinem Tod reden.² Außerdem steht für den sterbenden Erzähler viel auf dem Spiel, buchstäblich das Ganze des Lebens, das erzählend zu einem Abschluss gebracht wird. Seine Geschichte geht unwiderruflich zu Ende. Eine Fortsetzung wird es für ihn nicht geben und somit auch nicht die Möglichkeit, offene Fragen noch zu klären, Unstimmigkeiten auszugleichen, Brüche zu glätten oder in Konflikten Versöhnung zu suchen. Ist die Geschichte nun nicht rund, wird sie es für den Sterbenden nie mehr werden. Ich möchte Sterbeerzählungen aus der Perspektive einer narrativen Ethik betrachten. Dass mit ihnen Lebensgeschichten enden und dass der Ich-Erzähler seinen Tod nicht erzählen kann, lässt es als lohnend erscheinen, sie unter dem Aspekt ihrer Kohärenz in Augenschein zu nehmen, wie ich in einem ersten Anlauf anhand eines Beispiels entfalten werde. Daran wird sich zeigen, dass mit den genannten Besonderheiten von Sterbeerzählungen ein ausgeprägtes Kohärenz-
„Sterben“ verstehe ich als letzten Lebensabschnitt im Bewusstsein des bevorstehenden Todes, vgl. Joachim Wittkowski, Zur Psychologie des Sterbens – oder: Was die zeitgenössische Psychologie über das Sterben weiß, in: Franz-Josef Bormann und Gian Domenico Borasio, Hg., Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens (Berlin: de Gruyter, 2012), 50 – 64. Vgl. Catherine Belling, The death of the narrator, in: Brian Hurwitz, Trisha Greenhalgh und Vieda Skultans, Hg., Narrative Research in Health and Illness (Malden: Blackwell, 2004), 146 – 155. Vgl. auch den Beitrag von Emil Angehrn in diesem Band. https://doi.org/10.1515/9783110600247-012
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bedürfnis verbunden sein kann, also der Wunsch, die Geschichte seines Lebens zu einem stimmigen Ende zu bringen. Ich nehme den Gedanken in Form der Behauptung auf, es sei gut, wenn sich Leben und Sterben zu einer kohärenten Geschichte fügen. Diese These stelle ich in meinen Überlegungen in zwei Varianten auf den Prüfstand.³ Da mit dem Begriff der Kohärenz manche der zahlreichen Ansätze im Feld der narrativen Ethik operieren, bietet sich an, genau diesen Aufmerksamkeit zu schenken. In einem zweiten Anlauf werde ich deswegen diskutieren, ob es zur Klärung moralphilosophischer Fragestellungen am Lebensende beitragen kann, Kohärenz als normatives Kriterium stark zu machen, wie es einige Autoren vorschlagen. Ich gehe also von der Idee aus, dass sich an der Frage, ob eine Handlung sich erzählerisch kohärent in eine Lebensgeschichte einfügen lässt, deren moralische Richtigkeit entscheidet. Schließlich gilt, und das ist mein dritter Anlauf, bisweilen als gut für einen Menschen, wenn sein Leben die Form einer kohärenten Erzählung hat und, so lässt sich für unsere Thematik ergänzen, sich auch sein Sterben stimmig in diese einfügt. Narrative Kohärenz wird damit als evaluatives Kriterium im Rahmen einer Ethik des guten Lebens herangezogen und erhält den Charakter von etwas Erstrebenswertem. Diese Vorstellung erweist sich jedoch als nicht unproblematisch. Da bei Weitem nicht alle Sterbeprozesse in einer Weise verlaufen, dass sich über sie eine kohärente Geschichte erzählen ließe und sie sich bruchlos an das vorausgehende Leben anschlössen, hat die positive Bewertung von Kohärenz eine Kehrseite: Sie erzählend herzustellen, kann sich in eine überfordernde normative Anforderung an den Sterbenden transformieren. Im Anschluss daran wird fraglich, ob nicht bereits die Aufforderung, das (eigene) Sterben zu erzählen, unweigerlich einen fragwürdigen Kohärenzanspruch mit sich bringt, insofern zu den Bedingungen von Erzählbarkeit gehört, ein gewisses Maß an Kohärenz aufzuweisen.
Dieter Thomä unterscheidet eine technische, eine teleologische und eine deontologische Variante der These, dass das Leben besser sei, wenn es die Form einer Erzählung habe: Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das Leben, in: Karen Joisten, Hg., Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (Berlin: Akademie-Verlag, 2007), 75 – 93, hier 79. Ich lehne mich einerseits an die teleologische These an, in den Worten Thomäs: „Damit du gut (glücklich) lebst, muss dein Leben die Form einer Erzählung haben“, und andererseits an die deontologische These („Weil du gut [moralisch] handeln sollst, muss dein Leben die Form einer Erzählung haben“), wobei ich mich unter dem Aspekt der narrativen Kohärenz für diese Thesen interessiere.
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2 Eine kohärente Geschichte Um meine Fragestellung sowohl zu illustrieren als auch zu schärfen, ziehe ich als Beispiel eine Sterbegeschichte heran, die in jüngerer Zeit breite Aufmerksamkeit erlangte. Im Jahr 2013 veröffentlichte der Journalist und ehemalige Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, unter dem Titel Gestatten, dass ich sitzen bleibe ⁴ seine Autobiografie. Der Titel weist auf einen prägenden Umstand seines Lebens hin: Seit einem Unfall im Alter von 22 Jahren saß Reiter im Rollstuhl. Im vorletzten Kapitel des Buches macht er sein Lebensende zum Thema: „Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder rausholen lassen. Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will.“ Diese Sätze verwendete Reiter außerdem in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, in dem er für die Legalisierung von Suizidbeihilfe argumentierte.⁵ Er mischte sich vor dem Hintergrund der bevorstehenden gesetzlichen Regelung mehrfach in die Debatte über assistierten Suizid in Deutschland ein. In der Autobiografie wie im erwähnten Artikel ergänzte Reiter: „Ich möchte bei mir zuhause, wo ich gelebt habe und glücklich war, einen Cocktail einnehmen, der gut schmeckt und mich dann sanft einschlafen lässt.“ Nach einem kurzen Plädoyer für das Sterben durch einen wohlschmeckenden „Cocktail“, also durch einen „sanften“ Suizid, schließt das Buchkapitel mit den Worten: „Ich freue mich meines Lebens und möchte, solange es irgend geht, dabei sein. Aber wenn es nicht mehr geht, möchte ich nicht in einer Weise abtreten, die ich quälend finde und die meiner bisherigen Lebensweise unwürdig ist.“ Im letzten Kapitel erzählt Reiter schließlich noch von seinem Leben als Rentner und fragt sich, was die Zukunft noch bringt und wie lange seine Selbstständigkeit ihm wohl erhalten bleibt. Im Jahr nach der Veröffentlichung der Autobiografie war es so weit, dass Udo Reiter nicht mehr wollte. Er nahm sich am 9. Oktober 2014 im Alter von 70 Jahren das Leben – allerdings nicht, indem er einen Giftcocktail trank, sondern indem er sich auf der Terrasse seines Hauses in Leipzig erschoss. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, der sich als Epilog seiner Autobiografie lesen lässt, allein schon, weil Reiter ihn zur Veröffentlichung vorsah:
Udo Reiter, Gestatten, dass ich sitzen bleibe. Mein Leben (Berlin: Aufbau, 2013). Udo Reiter, Mein Tod gehört mir, in: Süddeutsche Zeitung, 4.01. 2014.
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Nach fast 50 Jahren im Rollstuhl haben meine körperlichen Kräfte in den letzten Monaten so rapide abgenommen, dass ich demnächst mit dem völligen Verlust meiner bisherigen Selbstständigkeit rechnen muss. Vor allem die Fähigkeit, aus eigener Kraft die Toilette zu benutzen und das Bett zu erreichen und wieder zu verlassen, schwindet zunehmend. Parallel dazu beobachte ich auch ein Nachlassen meiner geistigen Fähigkeiten, das wohl kürzer oder später in einer Demenz enden wird. Ich habe mehrfach erklärt, dass ein solcher Zustand nicht meinem Bild von mir selbst entspricht und dass ich nach einem trotz Rollstuhl selbstbestimmten Leben nicht als ein von Anderen abhängiger Pflegefall enden möchte. Aus diesem Grund werde ich meinem Leben jetzt selbst ein Ende setzen.⁶
Mit seinem Abschiedsbrief schrieb sich Reiter äußerst dicht an das eigene Ende heran.⁷ Bis unmittelbar vor seinem Suizid erzählte er die Geschichte, dann – „jetzt“ – nahm er sich das Leben. In dieser Geschichte scheint mir augenfällig zu sein, dass Reiter Autor des Endes sein will, und das in einem doppelten Sinne: Sein Leben soll zu einem Zeitpunkt enden, an dem es als Ganzes eine runde Gestalt gewonnen hat, und die Art seines Todes soll damit harmonieren, wie er gelebt hat. Bereits im Jahr vor seinem Suizid betont Reiter, seine letzte Lebensphase keinesfalls in einer Weise verbringen zu wollen, die zu seinem vorherigen Leben nicht passt. Die sich ankündigenden körperlichen und geistigen Veränderungen will er nicht erleben, weil er sie nicht in Einklang damit bringen kann, wer er bis dahin war und wer er sein möchte. Ein stimmiges Bild seiner selbst glaubt er nur aufrechterhalten zu können, wenn der befürchtete Wandel nicht eintritt. Seine Lebensgeschichte muss deshalb vorher enden. Auch der Tod selbst soll mit dem Leben übereinstimmen, angefangen beim Sterbeort, dem eigenen Zuhause. Zudem möchte er selbst über sein Sterben entscheiden, wie er es zeitlebens gewohnt war, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Der Abschiedsbrief vollendet schließlich die Geschichte. Erneut hebt Reiter die für ihn unüberbrückbare Spannung hervor zwischen seinem bisherigen „selbstbestimmten Leben“ und einem „von Anderen abhängigen Pflegefall“, der er zu werden droht. Was Udo Reiter in seiner Autobiografie und in seinem Abschiedsbrief zum Ausdruck bringt, deute ich als den Wunsch, eine kohärente Geschichte zu erzählen. Unter dem Begriff der Kohärenz lässt sich vorläufig ein in sich stimmiger Zusammenhang verstehen, der verschiedene Stücke oder Elemente zu einem
Jauch verliest Erklärung von Udo Reiter zu Suizid, in: Die Welt, 19.10. 2014. Vgl. zum Thema Abschiedsbriefe den Beitrag von Brigitte Boothe und Dragica Stix in diesem Band.
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Ganzen fügt und damit anderes mehr ist als die Summe seiner Teile.⁸ Weil der Begriff mir in einem heuristischen Sinne zum Anleiten einer Suchbewegung dient, begnüge ich mich vorerst mit dieser grobkörnigen Bestimmung. An Reiters Erzählung zeigt sich exemplarisch, wie das Ende der Geschichte bei der Kohärenzherstellung im subjektiven Erleben einen hohen Stellenwert erhält. Tatsächlich gewinnen Geschichten ihre ganze Bedeutung erst von ihrem Ende her. Ohne den Schluss zu kennen, bleibt mehr oder weniger unverständlich, wie das Erzählte zu deuten ist.⁹ In besonderem Maße gilt dies für die Biografie eines Menschen, weil – so formuliert es Walter Benjamin – „sein gelebtes Leben – und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden – tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt“¹⁰. Der Sinn einer Lebensgeschichte erschließt sich vom Tod her, die finale Deutung erhält sie von ihrem Ende aus. Ähnlich verweist auf diesen Umstand der kanadische Philosoph Charles Taylor in einer Erörterung der narrativen Verfasstheit des Lebens: „Wir wollen, daß unser Leben Sinn hat. […] Aber damit ist unser ganzes Leben gemeint. Wenn nötig, wollen wir, dass die Vergangenheit durch die Zukunft ‚erlöst‘, in eine sinn- oder zweckvolle Lebensgeschichte eingegliedert und in eine gehaltvolle Einheit einbezogen werde.“¹¹ Geht die Geschichte des Lebens ihrem Ende entgegen, kann das Sinnverlangen zu einer prekären Angelegenheit werden. Dem Ich-Erzähler steht die Unmöglichkeit einer ausgleichenden Fortsetzung bevor. Will er sich nicht auf eine ‚Erlösung‘ nach seinem Tod verlassen, muss er vor seinem Ableben lose Erzählstränge verbinden, ungeklärte Fragen beantworten und Brüche kitten, soll ein stimmiges Gesamtes entstehen. Die vollständige Kontrolle über die Kohärenz seiner Geschichte behält er nur, wenn er sie selbst zu Ende erzählt. Reiter wählt Vgl. Jürgen Straub, Identität und Sinnbildung. Ein Beitrag aus der Sicht einer handlungs- und erzähltheoretisch orientierten Sozialpsychologie, in: Jahresbericht 1994/95 des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 42– 90. Zwar befasst sich Straub mit Kohärenz in einem anderen Kontext, nämlich als einer Bestimmung von Identität, doch kann seine erste Annäherung an den Begriff auch hier als solche dienen. Mit Blick auf den Identitätsbegriff spricht er von einer „Struktur, die aus miteinander verträglichen, zueinander passenden Teilen oder Elementen gebildet wird, wie auch immer diese Struktur etwas Eigenständiges verkörpert, eine Gestalt nämlich, die […] etwas anderes ist als die bloße Summe ihrer Teile“ (ebd., 57). Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben (München: Piper, 2006), 239 f.: „Der Grund, warum die Spannung des Lebens […] anhalten kann bis zum Tode, liegt darin, daß die Bedeutung einer jeden Geschichte sich voll erst dann enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist, daß wir also zeit unseres Lebens in eine Geschichte verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen.“ Walter Benjamin, Der Erzähler, in: ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), 103 – 128, hier 113 f. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996), 101.
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mit seinem Suizid einen zwar radikalen, jedoch auch beispielhaften Weg, um Kohärenz herzustellen: Indem er sich selbst tötet, bleibt er nicht nur Autor seiner ganzen Lebensgeschichte einschließlich der Weise seines Ablebens, sondern er sorgt auch aktiv für ein kohärentes Ende, das ein fortschreitender Verfall bei einem langsamen Sterbeprozess nach seinem Empfinden zu verunmöglichen drohte.¹²
3 Kohärenz als normatives Kriterium im Rahmen einer narrativen Ethik (MacIntyre) Weil die Herstellung narrativer Kohärenz im Angesicht des Todes sich mit Blick auf das Gesamt der Lebensgeschichte als ebenso zentrale wie prekäre Angelegenheit erweist, bietet sich an, unter der Vielzahl von Herangehensweisen der narrativen Ethik solche in den Blick zu nehmen, die sich ausdrücklich mit dieser Thematik befassen. Im breiten Feld der narrativen Ethik besteht Einigkeit allein darin, dass Geschichten für die ethische Reflexion bedeutsam seien, weil sie Gegebenheiten zu bedenken geben, die in ausschließlich analytisch-argumentativ verfahrenden Ethikansätzen zu kurz kämen – etwa die einzigartigen situativen Umstände, die emotionale Verstrickung der Beteiligten, ihre Vorstellungen von Glück oder ihre Wünsche und Werte. Über diesen basalen Konsens hinaus wird eine rege Diskussion geführt, was die narrative Ethik sein und wie sie verfahren könnte.¹³ Ich greife also lediglich einen unter vielen Ansätzen heraus. Prominent vertritt die hier interessierende Auffassung der Philosoph Alasdair MacIntyre. Als ein „Geschichten erzählendes Tier“¹⁴ trifft der Mensch MacIntyre zufolge seine Entscheidungen folgendermaßen: „Ich kann die Frage ‚Was soll ich tun?‘ nur beantworten, wenn ich die vorgängige Frage beantworten kann: ‚Als Teil
Belling, Death of the narrator (s. Anm. 2), zeigt weitere Möglichkeiten auf, wie der sterbende Autor auf die narrative Kohärenz seiner Geschichte Einfluss nehmen kann, z. B. durch proleptisches Erzählen oder durch die Hilfe eines stellvertretenden Erzählers. Vgl. z. B. Walter Lesch, Hermeneutische Ethik/Narrative Ehik, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner, Hg., Handbuch Ethik (Stuttgart: Metzler, 2002), 231– 242. Für narrative Ansätze in der Bioethik, wie sie für unser Thema relevant sind, vgl. z. B. Walter Lesch, Narrative Ansätze der Bioethik, in: Marcus Düwell und Klaus Steigleder, Hg., Bioethik. Eine Einführung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003), 184– 199; Hilde Lindemann Nelson, Hg., Stories and Their Limits. Narrative Approaches to Bioethics (London: Routledge, 1997). Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995), 288.
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welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?‘“¹⁵ Über die moralische Richtigkeit einer Handlung entscheidet demnach, ob sie sich in die eigene Geschichte(n) einfügt. MacIntyre begreift menschliches Leben als narrativ strukturiert.¹⁶ Beim Leben handelt sich nicht bloß um eine Aneinanderreihung von Episoden und Ereignissen, sondern um eine narrative Einheit, in der Geburt, Leben und Tod als Anfang, Mitte und Ende einer Geschichte verbunden sind: „Die Einheit [eines individuellen Lebens besteht] in der Einheit einer in einem einzigen Leben verkörperten Erzählung.“¹⁷ Was MacIntyre hier mit dem Begriff der „Einheit“ belegt, kommt dem nahe, was ich vorläufig als Kohärenz bezeichnet habe. Das von ihm vorgeschlagene Vorgehen, Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der individuellen Geschichte zu bedenken, kann nur fruchtbar sein, wenn die betreffende Erzählung über ein ausreichendes Maß an Kohärenz verfügt, denn erst dies ermöglicht zu beurteilen, ob die gewünschte Passung zur Lebensgeschichte gegeben ist. Fehlte einer Geschichte hingegen jeglicher Zusammenhang oder, in MacIntyres Worten, eine innere „Einheit“, so ließe sich die Erzählung mit jedwedem Folgekapitel fortsetzen. Narrative Kohärenz wird hier zu einem normativen Kriterium, anhand dessen sich bemessen lässt, ob es moralisch erlaubt ist, in bestimmter Weise zu handeln. Handlungen sind nach dieser Auffassung überhaupt nur im Kontext von Geschichten verständlich, in die sie eingebettet sind. Geschichten haben somit eine epistemische Funktion, denn sie ermöglichen zu erkennen und zu rechtfertigen, wie zu handeln in einer bestimmten Situation moralisch richtig ist.¹⁸ Für eine weitere Eigenart menschlichen Lebens hält MacIntyre dessen teleologischen Charakter. Das Leben prägt, dass wir auf ein telos, ein Ziel, zustreben, indem wir uns für das Gute für uns und andere Menschen interessieren. Dieses Streben nach dem Guten ist es, was dem Leben Kohärenz verleiht: „Die Einheit eines menschlichen Lebens ist die Einheit einer narrativen Suche.“¹⁹ Dieser Umstand beantwortet für MacIntyre zugleich die Frage nach dem guten Leben: Ein solches verwirklicht sich gerade „in der Suche nach dem guten Le-
Ebd. Ähnliches schreibt Charles Taylor, Quellen des Selbst (s. Anm. 11), 95: Ob wir in moralischem Sinne eine Verbesserung erzielen, „können wir nur beantworten, wenn wir erkennen, wie sie sich in unser übriges Leben einfügen, d. h. welche Rolle sie bei einer Erzählung dieses Lebens spielen“. Vgl. MycIntyre, Der Verlust der Tugend (s. Anm. 14), 287. Ebd., 292. Vgl. Tom Tomlinson, Perplexed about Narrative Ethics, in: Lindemann Nelson, Hg., Stories and Their Limits (s. Anm. 13), 123 – 133; Tom Tomlinson, Narrative Ethics. The Uses of Stories, in: ders., Methods in Medical Ethics: Critical Perspectives (New York: OUP, 2012), 115 – 149. MacIntyre, Verlust der Tugend (s. Anm. 14), 292.
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ben“²⁰. Damit steht mit der narrativen Kohärenz nicht allein ein normatives Kriterium für moralisches Handeln zur Verfügung, sondern zugleich ein evaluativer Maßstab für das Gelingen des Lebens. Wer nach dem guten Leben sucht und infolgedessen in seiner Lebensgeschichte narrative Kohärenz verwirklicht, dessen Leben glückt. Beiden Aspekten von Kohärenz – ihre Normativität für Handlungsentscheidungen und ihre Zuträglichkeit für ein gelingendes Leben – werde ich mich im Folgenden genauer widmen. Auch in die Medizinethik hat MacIntyres Denken Eingang gefunden und dort Ansätze befruchtet, die sich als Alternativen zu der in diesem Feld vorherrschenden Prinzipienethik verstehen. Unter anderem folgt Howard Brody dem Vorgehen MacIntyres, weil er es als eine empirische Tatsache betrachtet, dass viele oder gar die meisten Menschen moralische Entscheidungen in der Weise treffen, wie sie MacIntyre vorschwebt.²¹ Zudem hält er es für ausgemacht, dass wir uns wünschen, die Geschichte unseres Lebens möge kohärent verlaufen, weshalb er narrative Kohärenz ausdrücklich als normatives Kriterium bei der Entscheidungsfindung vorschlägt.²² Als Beispiele dafür, wie wichtig es für Menschen sei, dass ihr Leben aus einem Guss bestehe, nennt er den Lebensrückblick Sterbender und die Entscheidungen von Stellvertretern für nicht-einwilligungsfähige Patienten.²³ In beiden Fällen zeige sich, dass Betroffene üblicherweise in Orientierung an narrativer Kohärenz künftige Handlungen wählen. Das Beispiel von Udo Reiter fügt sich tatsächlich ohne Weiteres in dieses Bild. Wer vor einer Entscheidung steht, möge, so schlägt Brody als konkretes Vorgehen vor, die eigene Lebensgeschichte in unterschiedlichen Versionen weiterspinnen, um sich Klarheit zu verschaffen, was für eine Fassung ihm behagt. Denn im gedanklichen Ausprobieren („trying on“) der Fortsetzungen verdeutliche sich, welches Kapitel am Besten zur bisherigen Geschichte einer Person passt – ähnlich wie sie durch das Anprobieren von Kleidern sieht, welche ihr stehen und welche nicht, und allein die passenden Stücke schließlich kauft.²⁴ Gerade am Lebensende gelte es zu überlegen, „which sorts of endings make the most sense within the context of that narrative“²⁵, und die eigentliche Aufgabe laute, „a fitting last chapter to one’s life story“²⁶ zu schreiben.
Ebd. Howard Brody, Stories of Sickness, 2. Aufl. (New York: Oxford University Press, 22003); Howard Brody und Marc Clark, Narrative Ethics: A Narrative, in: Narrative Ethics. The Role of Stories in Bioethics: Special Report, Hastings Center Report 44/1 (2014), 7– 11. Vgl. Brody, Stories of Sickness (s. Anm. 21), 218 f. Vgl. ebd., 204. Vgl. ebd., 201– 203. Ebd., 254.
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Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Geschichte, die Udo Reiter erzählt, erfüllt sie die genannten Anforderungen geradezu mustergültig. Reiter folgt dem von Brody vorgeschlagenen Vorgehen, Handlungsoptionen mit der eigenen Lebensgeschichte abzugleichen, wenn er ausführt, dass er „nicht in einer Weise abtreten“ will, die seiner „bisherigen Lebensweise unwürdig“ ist. Sind Handlungen moralisch zulässig, wenn sie sich kohärent in die Lebensgeschichte einfügen, so lässt sich nicht bezweifeln, dass Reiter richtig gehandelt hat. Howard Brody argumentiert für seinen Ansatz, indem er sich ausdrücklich auf Entscheidungen am Lebensende beruft, weil er das Kriterium narrativer Kohärenz in solchen Fällen für besonders angebracht hält. Reiter hat seine Geschichte im Kontext der deutschen Debatte über Suizidhilfe erzählt. Ihm war ein Anliegen, damit – und ebenso, darf man vermuten, mit der Wahl einer gewaltsamen Form der Selbsttötung – ein Argument für die Legalisierung des assistierten Suizids zu liefern. Soll die Kohärenz einer Erzählung das ausschlaggebende Kriterium dafür sein, ob jemandem beim Suizid geholfen werden darf, dürfte es in einem Falle wie demjenigen Reiters schwerfallen, sich gegen Sterbehilfe auszusprechen und ihm die Unterstützung zu verweigern. Das gilt jedenfalls, wenn weitere Überlegungen in die ethische Reflexion nicht einbezogen werden und allein auf die Geschichte Reiters Bezug genommen wird. Doch auch dann stellt sich die Frage, ob sich stets eindeutig entscheiden lässt, welches letzte Kapitel eine Lebensgeschichte am besten beschließt. Ebendies bezweifelt der Medizinethiker Tom Tomlinson, der Brodys Modell narrativer Ethik deswegen kritisiert.²⁷ Unabhängig davon, was ich in einer bestimmten Situation tue, meint er, wird sich meine Handlung in jedem Fall in die Geschichte meines Lebens einfügen. Wer ein Kriterium narrativer Kohärenz zu deren moralischer Beurteilung anlege, nehme allerdings irrtümlich an, die eigene Lebensgeschichte sei „a kind of script being followed“²⁸. Ein solches vorab verfasstes Drehbuch unseres Lebens könnten wir demnach auch verfehlen und damit für Inkohärenzen in unserer Geschichte sorgen. Doch leben wir nicht eine bereits festgeschriebene Geschichte aus, widerspricht Tomlinson dieser Vorstellung, sondern wir erschaffen eine solche erst, indem wir unser Leben führen. Und zwangsläufig bilde diese von uns kreierte Geschichte eine Einheit – schlicht weil es sich um unsere jeweilige Lebensgeschichte handele. Zwar stimmt Tomlinson zu, dass eine Lebensgeschichte eines gewissen Maßes an Kohärenz bedürfe, doch entbehrt es dem Kriterium narrativer Kohärenz seines Erachtens an präskriptiver Ebd., 258. Tomlinson, Perplexed about Narrative Ethics (s. Anm. 18); Tomlinson, Narrative Ethics (s. Anm. 18). Tomlinson, Narrative Ethics (s. Anm. 18), 129.
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Kraft, da unzählige kohärente Fortsetzungen einer Geschichte denkbar seien. Tatsächlich lege Brody nämlich eine nicht-narrative substanzielle Norm an und verlange über die bloße Kohärenz hinaus, dass eine Person sich als verlässlich erweise, was bedeute, dass ihr Umfeld ihr Verhalten einigermaßen gut vorhersehen könne. Damit jedoch werde dem Kohärenzkriterium eine weitere Norm hinzugefügt.²⁹ Brody hat auf diese Kritik reagiert und gesteht zu, dass es unzählige kohärente Fortsetzungen einer Lebensgeschichte geben kann, betont jedoch zugleich, es existierten ebenso mannigfache Folgekapitel, denen es an jeglicher Kohärenz mangele. Seinen eigenen Vater betreffend hielte er es etwa für vollkommen verfehlt, am Sterbebett einen Priester zur Spendung der Krankensalbung zu rufen oder aber Heavy-Metal-Musik abzuspielen, da beides mit Blick auf die Lebensgeschichte des Vaters eine radikal inkohärente Fortsetzung bedeutete.³⁰ Hier begegnet uns die Schwierigkeit, dass beide Autoren eine Definition von Kohärenz vermissen lassen. In seiner Replik auf Tomlinson spezifiziert Brody Kohärenz zwar mit dem Begriff der Beständigkeit („reliabilty“³¹), führt darüber hinaus jedoch lediglich Beispiele für „radical incoherence“³² an. Tomlinson hingegen gesteht zu, dass die Einheit einer Lebensgeschichte nach einer gewissen Kohärenz mit der eigenen „history of values, relationships, and choices“³³ verlange, verzichtet aber ebenso auf eine genauere Definition. Das Fehlen einer Begriffsbestimmung lässt Brodys Entwurf ebenso wie Tomlinsons Kritik in der Luft hängen. Damit narrative Kohärenz als normatives Kriterium im Rahmen einer narrativen Ethik taugt, müssen die Voraussetzungen geklärt sein, unter denen eine Geschichte als kohärent gilt. Es liegt auf der Hand, dass einem Ansatz narrativer Ethik wie demjenigen Howard Brodys ein vergleichsweise enger Begriff von Kohärenz zugrunde liegen muss, damit ein solcher überhaupt präskriptiv wirken kann. Andernfalls griffe tatsächlich Tomlinsons Kritik, und jedes beliebige Folgekapitel ließe sich wählen. Tomlinson pflegt deswegen einen deutlich weiteren Begriff von Kohärenz, unter den auch die Geschichte eines „moralischen Chamäleons“ – so lautet eines seiner Beispiele³⁴ – fällt, weshalb er Brodys Bestimmung von Kohärenz als Beständigkeit zurückweist und sie als substanzielle Definition außerhalb des narrativen Feldes qualifiziert. Auch über denjenigen, dessen Verhalten sich in keiner Weise vorhersehen lässt, kann Tomlinson zufolge
Vgl. ebd., 130 – 132. Vgl. Brody, Stories of Sickness (s. Anm. 21), 219. Ebd. Ebd. Tomlinson, Narrative Ethics (s. Anm. 18), 132. Vgl. ebd., 130.
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eine kohärente Geschichte erzählt werden. Der Streit der beiden Autoren dreht sich letztlich um die Bestimmung von Kohärenz. Die Frage nach einer Definition möchte ich hier nach wie vor offen lassen und lediglich festhalten, dass eine narrative Ethik, die sich auf Kohärenz als normatives Kriterium stützt, ohne einen relativ engen Begriff nicht auskommt, wenn sie Aussagen über die moralische Richtigkeit von Handlungen treffen möchte. Dann jedoch hat die narrative Ethik ein anderes Problem, als Tomlinson vermutet: Nicht die fehlende präskriptive Kraft des Kohärenzkriteriums, sondern – im Gegenteil – die Normativität der Forderung nach Kohärenz als solche erweist sich als problematisch. Allein schon, narrative Kohärenz als normativen Maßstab auszuwählen und damit zu etwas Erstrebenswertem zu deklarieren, zeitigt zweifelhafte Konsequenzen.³⁵
4 Kohärenz als Merkmal eines guten Sterbens Wenn MacIntyre oder Brody dafür argumentieren, Handlungen danach zu beurteilen, ob sie zur bisherigen Lebensgeschichte passen, treffen sie nicht bloß die – bereits höchst kontrovers diskutierte – deskriptive Annahme, das Leben sei als Geschichte zu begreifen, sondern ebenso schwingt die evaluative Vorstellung mit, es sei dem Gelingen des Lebens zuträglich, wenn es die Form einer kohärenten Erzählung habe. In Anlehnung an Galen Strawson können wir die „psychologische Narrativitätsthese“, dass wir das Leben als Geschichte erfahren, von der „ethischen Narrativitätsthese“ unterscheiden: Wer gut leben möchte, strebt demnach nach einer kohärenten Geschichte; so schwebt es etwa MacIntyre mit seinem teleologischen Ansatz vor.³⁶ Danach verlangt „das Leben um des Glückes willen nach der Kohärenz der Geschichte“³⁷. Nun geht es nicht mehr um die Frage, welche unter einer Vielzahl möglicher Handlungen im moralischen Sinne als gut zu bezeichnen ist, sondern die Verwirklichung narrativer Kohärenz steht zum Ziele, um auf diese Weise ein glückliches Leben zu führen.³⁸ David Carr nennt die
Vgl. Angela Woods, The limits of narrative: provocations for the medical humanities, in: Medical Humanities 37 (2011), 73 – 78. Vgl. Galen Strawson, Gegen die Narrativität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/1 (2005), 3 – 22, hier 3; ähnlich Thomä, Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung (s. Anm. 3), 77. Ebd., 81. Bei MacIntyre verbinden sich beide Ansätze: Bei der Wahl der moralisch richtigen Handlung soll sich eine Person an narrativer Kohärenz orientieren, die zugleich einem guten Leben zuträglich ist. Diese Verknüpfung ist nicht notwendig; es ist etwa auch denkbar, die moralische Orientierung an Kohärenz deontologisch zu begründen, vgl. Thomä,Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung.
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Herstellung von Kohärenz „a constant task, sometimes a struggle, and when it succeeds, it is an achievement“³⁹. Im Feld der narrativen Medizin und der narrativen Psychologie herrscht diese Auffassung vor: Eine kohärente Geschichte bedeutet seelisches Wohlbefinden, während inkohärente Erzählungen auf psychische Probleme hinweisen, so dass eine therapeutische Funktion hat, auf narrative Kohärenz hinzuarbeiten.⁴⁰ Grundsätzlich soll im Krankheitsfall das Erzählen helfen, in dem nun krankheitsbedingt beeinträchtigten Leben neuen Sinn zu finden.⁴¹ Die hohe Wertschätzung des Erzählens im klinischen Kontext gibt derweil mitunter gar zu der Vermutung Anlass, dass es verpflichtenden Charakter erhalte: „As narrative is increasingly becoming a culturally and clinically sanctioned imperative, narrating one’s illness experience is on the verge of becoming a compulsory activity in certain contexts.“⁴² Wie wir bereits bei Udo Reiter gesehen haben, spielen Vorstellungen von Kohärenz auch dort eine Rolle, wo verhandelt wird, was ein gutes Sterben ausmacht. Ihm ist ein ausdrückliches Anliegen, eine kohärente Lebensgeschichte zu hinterlassen. Seine Erzählung enthält die typischen Ingredienzen von Geschichten über assistierte Suizide, wie sie sich heute in großer Zahl in Zeitungsartikeln⁴³, Berichten auf den Websites von Sterbehilfeorganisationen⁴⁴ oder in filmischer Form in Fernsehdokumentationen⁴⁵ finden. Beispielhaft repräsentiert sie die Vorstellung vom guten Sterben, die im Kontext der Sterbehilfe vorherrscht, und
David Carr, Time, Narrative, and History (Bloomington: Indiana University Press, 1986), 96. Vgl. Maria I. Medved und Jens Brockmeier, Weird stories: Brain, mind, and self, in: Matti Hyvärinen, Lars-Christer Hydén, Marja Saarenheimo und Maria Tamboukou, Hg., Beyond Narrative Coherence (Amsterdam: Benjamins, 2010), 17– 32. Vgl. Arthur W. Frank, The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics (Chicago: University of Chicago Press, 1997); Arthur Frank, The necessity and dangers of illness narratives, especially at the end of life, in: Yasmin Gunaratnam und David Oliviere, Narrative and Stories in Health Care. Illness, dying, and bereavement (Oxford: Oxford University Press, 2009), 161– 175; Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier, Introduction: From the retold to the performed story, in: dies., Hg., Health, Illness, and Culture. Broken Narratives (New York: Routledge, 2008), 1– 15. Angela Woods, Post-Narrative: An Appeal, in: Narrative Inquiry 21/2 (2011), 399 – 406, 400. Vgl. z. B. Stephan Hille, Die Eltern gehen weg, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 12, 24.03. 2016; Olga Khazan, Brittany Maynard and the Challenge of Dying with Dignity, The Atlantic, November 2014; https://www.theatlantic.com/health/archive/2014/11/brittany-maynard-and-thechallenge-of-dying-with-dignity/382282/ (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Vgl. z. B. „Exit Info“, Mitgliedermagazin der Schweizer Suizidhilfeorganisation Exit, https:// www.exit.ch/download/mitglieder-magazin/ (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Vgl. z. B. How to Die: Simon’s Choice, Dokumentation der BBC, 2016; Mein Tod gehört mir, Film von Thomas Michel und Sebastian Bösel, 2006.
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damit eines der heute wohl populärsten Sterbeideale neben demjenigen der Palliative Care.⁴⁶ Wenn Udo Reiter verdeutlicht, wie wichtig ihm ist, dass sein Sterben damit harmoniert, wie er gelebt hat, greift er damit ein Motiv auf, das – bei aller Vielgestaltigkeit der individuellen Geschichten – in den Erzählungen über assistierte Suizide häufig auftaucht. Wie im bisherigen Leben auch über sein Ende selbst zu bestimmen und die eigene Unabhängigkeit bis zuletzt zu bewahren, ohne auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, erleben die Protagonisten der Geschichten über Suizidhilfe typischerweise als hohen Wert. Mit dem narrativen Vokabular formuliert, lässt sich dies als Wunsch nach einer kohärenten Lebensgeschichte deuten. Nicht nur im Kontext der Sterbehilfe genießt diese Vorstellung einige Popularität. Die Formel vom „Sterben, wie man gelebt hat“ findet sich prominent auch in der Palliative Care-Literatur. So schreibt etwa der Palliativmediziner Gian Domenico Borasio: „Im Großen und Ganzen, das erleben wir immer wieder, sterben die Menschen so, wie sie gelebt haben. Eine Kämpfernatur […] wird sich nicht klag- und kampflos in ihr Schicksal fügen. Umgekehrt wird ein Mensch, der immer seiner Umgebung angepasst war, sich am Ende in der Regel auch eher leise verabschieden.“⁴⁷ Das Sterben fügt sich in diesen Fällen in stimmiger Weise an das Leben. Während Borasio ein Sterben, wie man gelebt hat, als üblichen Verlauf am Lebensende schildert, gilt es mitunter ausdrücklich als Merkmal eines guten Sterbens. Für den Medizinethiker Simon Woods etwa hängt die Frage, ob ein Sterbegeschehen als gut zu bewerten sei, entscheidend damit zusammen, wie es sich in den Kontext des gesamten Lebens einfügt und ob Leben und Sterben zu einer stimmigen Einheit finden: „Of all the possible kinds of death that might be ours there is a sense in which a death that is consistent, and coherent with the kind of life we sought to live is a better death for that consistency.“⁴⁸ Als Beispiele für einen solchen guten Tod nennt er denjenigen von Cicely Saunders, die in dem von ihr gegründeten Londoner Hospiz St. Christopher starb, und den des Bergführers Rob Hall, der in einem Sturm auf dem Mount Everest beim Versuch umkam, einen Klienten zu retten.Woods schließt daraus, „that a further parameter of
Vgl. den Beitrag von Michael Coors in diesem Band. Gian Domenico Borasio, Selbstbestimmt sterben.Was es bedeutet.Was uns daran hindert.Wie wir es erreichen können (München: Beck, 2014), 118. Simon Woods, Death’s Dominion. Ethics at the End of Life (Maidenhead: Open University Press, 2007), 32. Woods bestimmt die Begriffe der Kohärenz und Konsistenz nicht genauer und gebraucht sie an dieser Stelle weitgehend synonym. Die Idee, dass ein gutes Sterben ausmacht, konsistent mit dem Rest des Lebens zu sein, entfaltet detailliert Lars Sandman, A Good Death. On the Value of Death and Dying (Maidenhead: Open University Press, 2005).
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the good death […] is that of coherence“⁴⁹. Doch auch wo der Gedanke vom „Sterben, wie man gelebt hat“, in ein deskriptives Gewand gekleidet, also als empirisch überprüfbare Botschaft mitgeteilt wird, dass die meisten Menschen eben in dieser Weise stürben, lassen sich evaluative Untertöne nicht vermeiden, wenn die Formel im Kontext von Sterberatgebern (wie bei Borasio) daherkommt. Sie wecken die Erwartung, wenn nicht den Wunsch, das Sterben möge entsprechend „normal“ verlaufen und zum bisherigen Leben passen. Sowohl die Sterbehilfebewegung als auch die Palliative Care transportieren als Sterbeideal mithin die Vorstellung, dass gut stirbt, wer über eine kohärente Erzählung seines Sterbens verfügt.
5 Inkohärente Geschichten vom Sterben? Die Auffassung, narrative Kohärenz sei für ein gutes Leben – oder für ein gutes Sterben – erforderlich oder einem solchen zumindest zuträglich, lässt sich jedoch anzweifeln. Dient es tatsächlich dem Glück, nach narrativer Kohärenz zu streben? I’ve tried to live my own life with an extreme degree of coherence; I’ve tried to understand my own life as a techne, to dedicate it to the realization of well-defined goals. […] I reached a point at which I came to experience the need to do that as a torture. I came to experience the recalcitrance of myself to my will […]. I came also to experience or to admit the recalcitrance of the world to my will. The latter recalcitrance I could initially narrate as a series of ‚barriers‘ to my life-plan. But I reached the point at which I wanted to learn to let the world be instead of trying to transform it into an instrument of my will.⁵⁰
Crispin Sartwell läutet mit diesem persönlichen Bekenntnis in seinem Buch End of Story eine vehemente Argumentation gegen narrative Kohärenz, ja gegen Narrative an sich ein und setzt sich dabei unter anderem mit MacIntyre auseinander.⁵¹ Er macht darauf aufmerksam, dass sich bei Weitem nicht alle Erlebnisse in eine kohärente Form pressen ließen: „No human life has ever been ordered with the degree of coherence that MacIntyre ascribes to every human life.“⁵² Auch und gerade der Sterbeprozess kann Erfahrungen bergen, die sich durch die von Sartwell genannte Widerspenstigkeit (recalcitrance) auszeichnen. Soll
Woods, Death’s Dominion (s. Anm. 48), 32. Crispin Sartwell, End of Story. Toward an annihilation of language and history (Albany: SUNY Press, 2000), 15 f. Vgl. dazu auch Matti Hyvärinen, Lars-Christer Hydén, Marja Saarenheimo und Maria Tamboukou, Hg., Beyond Narrative Coherence (Amsterdam: Benjamins, 2010). Sartwell, End of Story (s. Anm. 50), 17.
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narrative Kohärenz – oder, im Vokabular der Lebensende-Diskurse: ein Sterben, wie man gelebt hat – eine bedeutsame Voraussetzung sein, um gut sterben zu können, drängt sich die Frage auf, ob damit nicht ein Sterbeideal propagiert wird, dem genügen zu sollen in der Tat als Qual empfunden werden kann. Nicht bloß lässt sich die empirische Aussage bezweifeln, die meisten Menschen stürben, wie sie gelebt haben, sondern als ungleich problematischer erweist sich, narrative Kohärenz als evaluativen Maßstab für ein gutes Sterben zu behaupten. Denn besonders „in ecstasy, in writhing pain, in death“⁵³ machen Menschen Erfahrungen, die einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Leben bedeuten und bedrohen können, wer jemand ist und sein möchte. Biografische Kontinuität und die bisherige Identität lassen sich mitunter gerade nicht aufrechterhalten, wenn der Tod naht. Als besonders eingängiges Beispiel kann eine jahrelange Demenz dienen, doch auch die drohenden Veränderungen, von denen Udo Reiter in drastischen Worten spricht, würden aus seiner Sicht verunmöglichen, eine kohärente Lebensgeschichte zu erzählen. Mit der Erwartung, das Erleben im Angesicht des Todes müsse in die Lebensgeschichte integriert werde, um am Ende ein kohärentes Ganzes zu erhalten und damit gut zu sterben, wird man nicht nur den das bisherige Lebensgefüge erschütternden Erfahrungen am Lebensende nicht gerecht, sondern schürt die Vorstellung, es müsse trotzdem in dieser Situation auf die Herstellung narrativer Kohärenz hingewirkt und das Sterben entsprechend gestaltet werden. Fungiert narrative Kohärenz als Norm, wird dem sterbenden Erzähler ein interpretatives Schema auferlegt, das ihn zwingt, auch solche Erfahrungen in seine Erzählung einzubetten, die sich in diesen Rahmen allenfalls um einen Preis fügen: Sie müssen verformt, womöglich euphemisiert oder geglättet, eben mit erzählerischen Mitteln passend gemacht werden. Was sich der Einordnung in die Lebensgeschichte verweigert, weil es zu fremd, sperrig, fragmentarisch ist, kann nur in einem mehr oder weniger gewaltsamen Akt narrativ eingepasst oder aber ignoriert werden. Ob die Herstellung narrativer Kohärenz einem jeden Sterbenden ein solches Anliegen ist, wie das für Udo Reiter offenkundig der Fall war, wird gar nicht gefragt, und dass es auch Menschen wie Crispin Sartwell geben kann, die unter dem Zwang zur Kohärenz leiden und lieber mit Inkohärenzen leben möchten, deswegen nicht wahrgenommen. Wenn Palliativbewegung und Sterbehilfeorganisationen den Wunsch nach einem stimmigen Lebensende befördern oder nach kohärenten Schlusskapiteln der Lebensgeschichte verlangen, verbindet sich damit die Tendenz, es als Scheitern im Sterben zu klassifizieren, wenn es nicht gelingt, Kohärenz herzustellen.
Ebd., 65.
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Wenn wir uns nun erneut der Frage zuwenden, ob sich Kohärenz als normatives Kriterium im Rahmen einer narrativen Ethik eignet, zeigt sich diese noch einmal in einem anderen Licht. Ich hatte dafür argumentiert, dass allein ein vergleichsweise enger Begriff narrativer Kohärenz genügend normative Kraft entfaltet, um Entscheidungen anleiten zu können. Ein solcher verstellt jedoch zugleich den Blick auf alternative Handlungsoptionen, weil sie in diesem Schema als inkohärent erscheinen. Ob sie damit einem guten Leben oder Sterben tatsächlich weniger zuträglich sind, kann jedoch nicht als ausgemacht gelten. Die narrative Ethik bewegt sich zwischen Skylla und Charybdis: Operiert sie mit einem weiten Begriff von Kohärenz, fällt sie unter das Verdikt Tom Tomlinsons. Unzählige kohärente Fortsetzungen lassen sich entspinnen, so dass die Wahl der moralisch richtigen Alternative unmöglich wird. Ein enger Begriff narrativer Kohärenz hingegen führt zu den genannten Konsequenzen: Tatsächliche Sterbeverläufe geraten aus dem Blick und werden nicht verstanden, dem Sterbenden wird die Herstellung unerreichbarer Kohärenz abverlangt und ein bestimmter Umgang mit seinem Lebensende aufgezwungen, der einem besseren Sterben womöglich nicht zuträglich ist. Dem schließt sich die Frage an, ob narrative Ansätze in Ethik und Medizin nicht grundsätzlich in Zweifel geraten.⁵⁴ Transportieren sie unweigerlich eine problematische Anforderung narrativer Kohärenz, weil Erzählungen eines gewissen Maßes an Kohärenz bedürfen, um überhaupt als solche gelten zu können?⁵⁵ Bevorzugt ein narrativer Zugang zum Lebensende damit bereits bestimmte Sterbeideale, nämlich diejenigen, die Kohärenz als Element des guten Sterbens auffassen, und blendet Sterbeverläufe, die der Kohärenz entbehren, systematisch aus? Wie viel Inkohärenz von (Sterbe‐)Erzählungen erlaubt eine narrative Herangehensweise in Ethik und Medizin? Unter Freunden wie Kritikern besteht Einigkeit, dass zum Begriff des Narrativen ein Mindestmaß an Kohärenz gehört.⁵⁶ Das „coherence paradigm“⁵⁷, das für
Vgl. Mark Freeman, Beyond Narrative: Dementia’s Tragic Promise, in: Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier, Hg., Health, Illness, and Culture. Broken Narratives (New York: Routledge, 2008), 169 – 183, hier 173, befasst sich mit der Frage, „that narrative, in its fetish for organization, order, coherence, is an oppressive force that we would do well to move beyond“. Vgl. Sartwell, End of story (s. Anm. 50). Ebenso Freeman, Beyond Narrative (s. Anm. 54), 174: „It [narrative] can become a prison that reduces the bountifulness of experience and subjects it to willful control.“ Vgl. z. B. Strawson, Gegen die Narrativität, 13: Narrative weisen „zumindest eine gewisse Art von Einheit oder Kohärenz“ auf, während „zufällige oder radikal unzusammenhängende Sequenzen von Ereignissen“ nicht als Erzählung bezeichnet werden können. Oder Mark Freeman, Afterword: „Even amidst“ – Rethinking narrrative coherence, in: Hyvärinen, Hydén, Saarenheimo
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den Begriff im Feld narrativer Studien leitend ist und dort als „norm for good and healthy life stories“⁵⁸ vorherrscht, lässt sich nach Hyvärinen und Kollegen wie folgt spezifizieren: (i) good and competent narratives always proceed in a linear, chronological way, from a beginning and middle to an end, which also constitutes a thematic closure; (ii) the function of narrative and story-telling is primarily to create coherence in regard to experience, which is understood as being rather formless […]; (iii) persons live better and in a more ethical way, if they have a coherent life-story and coherent narrative identity […].⁵⁹
Auch hier treffen wir auf die Auffassung, dass zum Gelingen des Lebens beitrage, über eine kohärente Lebensgeschichte zu verfügen, die sich durch ein lineares, chronologisches Voranschreiten vom Anfang über einen Mittelteil zum Ende mit einem thematischen Abschluss auszeichnet. Zudem gehören – und dieser Aspekt interessiert mich hier – das Erzählen von Geschichten und die Herstellung narrativer Kohärenz nach diesem Paradigma unweigerlich zusammen. Für Geschichten gilt ein „imperative of coherence“⁶⁰, der festlegt, was zum Kanon zählt, nämlich nur kohärente Erzählungen. Versteht man Kohärenz so, wie es Hyvärinen und Kollegen vorschlagen, dehnen sich die Probleme, die im Kontext des Lebensendes mit der Kohärenzforderung einhergehen, auf Narrative im Allgemeinen aus und die „normativity of narrative per se“⁶¹ kommt ins Spiel. Wenn als Erzählung nur gilt, was über Kohärenz verfügt, befördert der narrationsbezogene Zugang bereits ein anforderungsreiches Sterbeideal, das realen Sterbeverläufen nur unzureichend gerecht wird und infolgedessen als Gefängnis erlebt werden kann.⁶² Daran ändert auch nichts, dass bisweilen von sogenannten „broken narratives“ die Rede ist, die das Erzählen über Krankheit charakterisieren sollen.⁶³ Zwar
und Tamboukou, Hg., Beyond Narrative Coherence (s. Anm. 51), 167– 186, hier 171: „To move entirely beyond coherence is to move beyond narrative itself.“ Matti Hyvärinen, Lars-Christer Hydén, Marja Saarenheimo und Maria Tamboukou, Beyond narrative coherence: An introduction, in: dies., Hg., Beyond Narrative Coherence (s. Anm. 51), 1– 16, hier 1. Ebd., 1. Ebd., 1 f. Ebd., 7. Woods, The limits of narrative (s. Anm. 35), 76. Vgl. Freeman, Beyond Narrative (s. Anm. 54). Vgl. etwa Hydén und Brockmeier, Introduction (s. Anm. 41), 10, die „broken narratives“ als „emphasizing problematic, precarious, and damaged narratives told by people who in one way or another have trouble telling their stories“ bestimmen. Ähnlich Arthur W. Frank, Caring for the
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wird dann zugestanden, dass mit einer schweren Erkrankung Erfahrungen verknüpft sein können, die das Leben und die Lebensgeschichte durchbrechen, doch indem das Erzählen weiterhin als Hilfe oder sogar als „premier venue to give meaning to our experiences“⁶⁴ gilt, soll die Erzählung den entstandenen Bruch gerade kitten und dem sinndurchbrechenden Geschehen Bedeutung verleihen: „Narrative repairs those moment of disruption […] by restoring flow to a life’s story, and with that flow, the coherence of things […].“⁶⁵ Eine gebrochene Geschichte hat damit einen grundlegend anderen Charakter als eine inkohärente.⁶⁶ Und auch wenn Arthur W. Frank „chaos narratives“ als einen Typus von Krankheitserzählungen einführt, bleibt er dem Kohärenzparadigma verhaftet. ChaosNarrative zeichnen sich nach Frank durch „the lack of any coherent sequence“⁶⁷ aus. Deswegen handelt es sich um eigentliche „anti-narratives“⁶⁸, denn sie können nicht erzählt, sondern lediglich gelebt werden. Wer sich vom Chaos überwältigt fühlt, ist demzufolge nicht mehr in der Lage, davon zu erzählen; das Chaos widersetzt sich der Erzählbarkeit. Jegliche Erzählung benötigt eine distanznehmende Reflexion, die in der Unmittelbarkeit mancher Krankheitserfahrungen unmöglich ist: „Lived chaos makes reflection, and consequentely story-telling, impossible“⁶⁹. Das Ziel aber bleibt bei Frank die Erzählung und somit zumindest der Versuch, dem chaotischen Erleben im Erzählen eine gewisse Kohärenz zu verleihen und dem – stets schrecklichen – Chaos zu entrinnen.⁷⁰ Zwar verwehrt er sich dagegen, die mitunter chaotische Realität zu negieren oder in einem Narrativ der Wiederherstellung zu glätten, sondern plädiert stattdessen für „tolerance of chaos as a part of a life story“⁷¹, doch soll das Chaos schließlich in die eigene Geschichte integriert werden, so dass „new lives can be built and new stories told“⁷². Zwar hält er sie nicht für exakt bestimmt, doch nimmt Frank – selbst im Fall der „chaos narratives“ – Grenzen des Erzählbaren wahr, die durch die Erfordernis narrativer Kohärenz konstituiert werden. Auf Kohärenz, so scheint, lässt sich im Feld des Narrativen also nicht verzichten. Doch wie lose darf der Zusammenhang sein, der die Elemente einer ErDead. Broken Narratives of Internment, in: Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier, Hg., Health, Illness, and Culture. Broken Narratives (New York: Routledge, 2008), 122 – 130. Hydén und Brockmeier, Introduction (s. Anm. 41), 2. Frank, Necessity and dangers (s. Anm. 41), 163. Vgl. Freeman, Afterword (s. Anm. 56), 169. Frank, Wounded Storyteller (s. Anm. 41), 97. Ebd., 98. Ebd. Vgl. ebd., 110. Ebd., 111. Ebd., 110.
Ende gut, alles gut?
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zählung zusammenhält, damit sie noch als solche gelten kann? Mark Freeman schlägt einen weiten Begriff des Narrativen vor, der den geschilderten Schwierigkeiten begegnet, und will Erzählungen nicht verstanden wissen „as ordering machines, seeking (an illusory) unity, harmony, and closure amidst the chaotic openness of reality“⁷³. Zwar möchte auch er die „sense-making ‚binding‘ function“⁷⁴ des Erzählens bewahren, plädiert aber dafür, es als ausreichend für den Begriff der Narration zu begreifen, die heterogenen Elemente, das Disparate und Differente, nur locker zusammenzubinden oder gemeinsam in den Blick zu nehmen, ohne auf eine eigentlich kohärente Geschichte klassischen Stils hinzusteuern.⁷⁵ Doch genügt es, gerade mit Blick auf das Lebensende, die Kohärenzforderung schlicht zu lockern? Der Imperativ des Sinnfindens bleibt auch bei Freeman erhalten. Weiter geht Sartwell, der auf Geschichten gänzlich verzichten möchte, gerade im Angesicht des Todes als einer – neben anderen – Erfahrungen, an der die sprachliche Artikulation an Grenzen gerate.Wird mit diesem Gedanken im Kopf nicht als Versagen begriffen, wenn es jemandem die Sprache verschlägt und die Erzählung scheitert, können sich dann womöglich neue und vielfältigere Formen des Narrativen entfalten, die das Chaos der Sterbeerfahrung anders erzählen oder die dem Schweigen den Vorzug geben.
Freeman, Afterword (s. Anm. 56), 171. Ebd. Vgl. ebd., 185. Damit beschreitet Freeman einen Weg, den Wolfgang Kraus ähnlich für die narrative Identitätspsychologie vorschlägt, nämlich die Entwicklung der poststrukturalistischen Narratologie nachzuvollziehen, die den Begriff der Narration erweitert habe, indem sie auch die Elemente des Inkommensurablen, Unabschließbaren und Disparaten einbeziehe, während die Psychologie bis anhin eher dem modernen Ideal einer wohlgeformten Narration anhänge und damit eine problematische Normativität transportiere. Vgl. Wolfgang Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität, in: Jürgen Straub und Joachim Renn, Hg., Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst (Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2002), 159 – 186.
IV. Praktische Perspektiven
Wolfgang Drechsel
Sterbenarrative aus der Sicht der Krankenhausseelsorge 1 Annäherung an eine Fragestellung
Beginnen wir mit einer Szene aus der Praxis: In der Klinik wird die Seelsorgerin auf eine chirurgische Station gerufen. Es stellt sich heraus, dass der Stationsarzt sie angepiepst hat: „Wir haben hier eine Patientin, Frau M., 74 Jahre, Pankreascarcinom im fortgeschrittenem Stadium.“ Und er zitiert den Oberarzt: „Ich krieg noch nicht mal die Diagnose an die ran.“ Dieser Oberarzt war ins Zimmer getreten und wollte ihr die Diagnose mitteilen, doch kaum hatte er den Mund aufgemacht, stimmte die Frau ein Indianergeheul an, richtig laut und hörte nicht auf. Er hatte keine Chance und zog unverrichteter Dinge ab. Auch ein zweiter Versuch endete im Indianergeheul. Daraufhin hatte der Oberarzt die Aufgabe der Diagnosemitteilung an den Stationsarzt weitergegeben: „Machen Sie’s!“ Und auch dessen Besuch endete unverrichteter Dinge im Geheul. Und jetzt hatte der Stationsarzt die Seelsorgerin gerufen, mit der halb ausgesprochenen Bitte, dass sie das jetzt doch übernehmen solle. Die Seelsorgerin macht folgenden Vorschlag: „Die Patientin hat auch ein Recht auf Nicht-Wissen. Schreiben Sie doch in die Krankenakte: Trotz mehrfachem Versuch will die Patientin ihre Diagnose nicht hören. Stimmt Indianergeheul an. Das versteht jeder. – Dann ist hier der Druck raus. Und ich kann dann gerne auch mal bei der Patientin vorbeischauen.“ So besucht sie Frau M., stellt sich vor, die Patientin geht in eine deutliche Abwehrhaltung. Die Seelsorgerin – eher locker und leicht belustigt durch die Komik der Situation – legt offen, was sie weiß: „Na, Sie haben hier ja den Aufstand geprobt“ und macht zugleich klar: „Ich hab nichts vor mit Ihnen“ und dann humorvoll: „Und jetzt bin ich mal da, wie ich das sonst bei Patienten auch bin“. Frau M.: „Naja, dann setzen Sie sich mal.“ Dann schaut die Patientin die Seelsorgerin an: „So sitzen die Pfarrer immer.“ Die Seelsorgerin schaut an sich runter: „Wie sitze ich denn?“ Patientin: „So sitzen die Pfarrer immer und warten drauf, dass man über den Tod redet.“ (Und nur in Klammern: Die Patientin weiß Bescheid.) „Da will ich nicht drüber reden. Ich trinke Champagner bis zum Schluss.“ Die Seelsorgerin stimmt dem zu, findet das gut so. Frau M.: „Dann unterhalten wir uns jetzt über Lotte in Weimar und Effie Briest.“ Und so reden sie eine knappe Stunde über diese beiden Bücher. Am Schluss meint die Patientin: „Sie können wiederkommen.“ https://doi.org/10.1515/9783110600247-013
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Dem schließen sich drei Besuche an, in denen es, u. a. mit Vorlesen von verschiedenen von der Patientin ausgewählten Textabschnitten, um die genannten Romane geht. Beim letzten dieser Besuche, so zwischendrin, fragt Frau M.: „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Palliativ und Hospiz?“ Die Seelsorgerin erklärt sehr sachlich die Unterschiede. Und das Gespräch geht zurück zu Lotte in Weimar. Einige Tage später kommen die Töchter von Frau M. zur Seelsorgerin. Frau M. ist verstorben und die Töchter fragen an, ob sie die Beerdigung machen könne, da sie anscheinend eine wirklich gute Beziehung zu ihrer Mutter gehabt habe und sie mit ihr über alles hätte reden können. Und auf Nachfrage der Seelsorgerin, wie denn das mit dem Sterben so war: Am Vorabend des Sterbens hätten sie noch zusammen einen Flasche Champagner getrunken.¹ Soweit diese Szene aus der Praxis der Seelsorge. Für mich macht sie auf exemplarische Weise deutlich, wie komplex die Frage nach dem Sterbenarrativ wird, wenn sie aus dem Bereich der literarischen Fixierung hinausgeht in die konkrete individuelle Beziehungspraxis. Hier ganz konkret: Ist die individuelle Sterbenarration in diesem Falle auf den Satz beschränkt „Ich trinke Champagner bis zum Schluss“? Oder lässt sich das ganze Beziehungsgeschehen im Modus einer Sterbenarration sub contrario verstehen, etwa im Sinne eines Satzes wie: „Ich möchte mit Dir über mein Sterben reden, indem ich nicht über mein Sterben rede“? Dazu kann dann noch einmal eine ganz andere Ebene in den Blick genommen werden, nämlich die Frage, welche stellvertretende Bedeutung die Gestalten von Lotte in Weimar und Effie Briest quasi symbolhaft für die Patientin mit ihrer Lebensgeschichte haben könnten. Wobei sich die Gespräche aber gerade dadurch auszeichnen, dass solch eine Beziehung eben nicht ausdrücklich zum Thema wird – und zugleich bei der Seelsorgerin als Phantasie immer mitläuft. Doch trotz aller solcher Detailfragen – im Blick auf das Gesamtgeschehen geht es um das Sterben. Insofern ist mit diesem Beispiel zuerst einmal das beschrieben, was ich als individuelle Sterbenarration bezeichnen möchte. Eben die konkrete Narration, die eine Betroffene erzählt – vor dem Hintergrund eigenen Sterbens, angesichts des eigenen Sterbens oder im bewussten Blick auf das eigene Sterben. Diese Ebene der individuellen Narration möchte ich als Sterbenarrativ 1.
Diese eindrückliche Szene verdanke ich Frau Pfarrerin Dr. Dagmar Kreitzscheck. Ihr, wie auch Frau Pfarrerin Birgit Wasserbäch und den TeilnehmerInnen am poimenischen Oberseminar der Universität Heidelberg im Wintersemester 2015/16, sei an dieser Stelle mein Dank ausgesprochen für eine Fülle an Anregungen sowie all die wichtigen Beiträge, die den Entstehungsprozess der folgenden Ausführungen gerade im Blick auf eine praxisbezogene Phänomenologie kritisch und konstruktiv begleitet und unterstützt haben.
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Ordnung bezeichnen. Davon zu unterscheiden ist die Ebene der Typologie solch individueller Sterbenarrationen in einem vergleichbaren Kontext, die ich als Sterbenarrative 2. Ordnung bezeichnen möchte. Hier geht es um die Frage: Gibt es so etwas wie Gemeinsamkeiten und Strukturanalogien individueller Narrationen, die sich dann in Form einer Typologie darstellen lassen? Das Interesse gilt somit einer Kategorisierung individueller Narrationen, zumindest in einem annähernden Rahmen. Mit solchen Sterbenarrativen 2. Ordnung in einem vergleichbaren Kontext – und das ist in meinem Fall die Seelsorgesituation – möchte ich mich im Folgenden beschäftigen. Dabei werde ich mich auf die Narrationen im Umkreis des eigenen Sterbens beschränken, das heißt auf die Erzählungen von Betroffenen im seelsorglichen Gespräch mit denselben. (Die weitergehenden Fragen nach Angehörigen und Pflegepersonal usw. würde den Rahmen sprengen). Mein Interesse gilt also dem Versuch, einige grobe Schneisen zu schlagen in die Fülle an individuellen Narrationen im Kontext der Seelsorge im Sinne einer zumindest groben Kategorisierung, um auf diese Weise einige grundlegende gemeinsame Themen und Fragestellungen zu erheben. Offenlassen werde ich dabei die Frage, ob es auch so etwas wie Sterbenarrative 3. Ordnung gibt. Das wäre die Frage nach kollektiven Basismustern, die Sterbenarrationen prägen, nach Grundschemata, die gewissermaßen überindividuell und kontextunabhängig immer wieder auftauchen, so, wie Koschorke den Begriff des Narrativs verwendet.² Doch ehe ich auf den Kontext der konkreten Seelsorgesituation genauer eingehe, nur eine Andeutung zu dem, wie sich unser Eingangsbeispiel im Bereich der Sterbenarration 2. Ordnung verorten lässt: Von seiner Struktur her, nämlich dem Reden angesichts des Sterbens über ein Thema, das nicht explizit mit dem Sterben zu tun hat, aber für den Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung ist (in diesem Fall Lotte in Weimar und Effie Briest), stellt unser Beispiel nicht eine einsame Ausnahme dar, sondern es begegnet öfter. Um nur noch ein Exempel zu nennen: Ein Seelsorger unterhält sich die ganzen drei Wochen vor dem Sterben eines an einem Lungentumor erkrankten Patienten mit diesem vor allem über das Kochen, und jedes Mal entfaltet sich eine ganz lebendige, ja lustvolle Atmosphäre – wobei beide um die akute Sterbesituation wissen und dieselbe immer wieder zum Thema machen.
Sei es Lotte in Weimar, sei es das Kochen, in solchen Fällen ließe sich ein solches Sterbenarrativ 2. Ordnung bezeichnen als „das Reden über ein Thema, an dem das Vgl. Albrecht Koschorke,Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, 3. Aufl. (Frankfurt a.M.: Fischer, 2013), 30.
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Herz des Betroffenen hängt“ – angesichts des Sterbens. D. h. als ein Reden, dessen Fokus man (im Sinne der neueren Spiritualitätsdiskussion³) als ein Sich-Vergewissern bezeichnen könnte, als ein Reden über das, was dem Betroffenen auf besondere Weise wichtig ist, dessen er sich vergewissert im Reden und das angesichts des Sterbens besonderes Gewicht erhält.
2 Die Seelsorgesituation als spezifischer Kontext Die seelsorgliche Begegnung (exemplarisch im Krankenhaus) ist im Normalfall ein offenes Angebot, für den Patienten da zu sein. Die Seelsorgerin macht Besuche auf der Station, bietet Zeit an, ein zugewandtes Interesse an ihrem Gegenüber. Der Patient entscheidet, ob er sich auf dieses Angebot einlässt und was er selbst in dieser Situation zum Thema machen will. Dieses Angebot ist absichtslos, zweckfrei. Es hat kein funktionales, z. B. therapeutisches Interesse. Dabei ist die christliche Positionalität auch für den Besuchten immer schon durch den Begriff „Seelsorge“ konnotiert. Sie ist Anlass und Hintergrund der Begegnung, muss aber nicht selbst zum Thema werden, wenn der Patient das nicht will. Dies ist die „normale“ Ausgangssituation im Krankenhaus, wenn der Seelsorger nicht von vornherein ins interdisziplinäre Team z. B. der Palliativstation eingebunden ist. Und auf diese „Normalsituation“ möchte ich mich im Folgenden beschränken. Aus dem seelsorglichen Angebot kann sich also, wenn der Patient es möchte, ein seelsorgliches Gespräch entwickeln, das gerade dann seine eigene Dynamik entfaltet, wenn der Patient spürt, dass der Seelsorger nichts von ihm will, sondern sich nur für ihn als Person interessiert und ihm wertschätzend zugewandt ist.Von Seiten der Patienten begegnet in diesem Zusammenhang, bei allem sich auch artikulierenden grundsätzlichen Argwohn gegenüber Kirche und Religion, nicht selten ein deutlicher Vertrauensvorschuss. Zugleich ist gerade im Kontext des Sterbethemas immer auch mit einer mehr oder weniger vorbewussten Hürde zu rechnen, die an die Tradition der „letzten Ölung“ anschliesst und sich in Phantasien des Patienten äußert, wie etwa: „Ist es bei mir schon so weit, dass der Pfarrer kommen muss.“⁴ Hier einen angstfreien Raum anzubieten bzw. zu
Vgl. z. B. Simon Peng-Keller, Spiritualität mit und ohne Gott – Plädoyer für eine begriffliche Klärung, in: Astrid Giebel, Ulrich Lilie, Michael Utsch, Dieter Wentzek, Theo Wessel, Hg., Geistesgegenwärtig beraten. Existentielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in Beratung, Seelsorge und Suchthilfe (Neukirchen: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2015), 19 – 30. Vgl.Wolfgang Drechsel, Seelsorgliche Perspektiven zum Umgang mit Sterbenden – am Beispiel der Krankenhausseelsorge, in: Caroline Y. Robertson-von Trotha, Hg., Tod und Sterben in der
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schaffen, in dem Vertrauen wachsen kann, ist die Aufgabe des Seelsorgers und der Seelsorgerin. Zugleich spielt auch die strukturelle Fremdheit der Seelsorgerin eine gewichtige Rolle. Sie wird wieder gehen. Sie ist nicht in die vertrauten Beziehungsgeflechte (wie mit Angehörigen) oder die alltäglichen medizinischen bzw. pflegerischen Abläufe involviert. Und dies erleichtert in manchen Fällen die Rede über die Intimität und das Schambesetzte am eigenen Sterben. So können bei längerer Verweildauer oder sich wiederholenden Krankenhausaufenthalten längere Begleitungen entstehen.
3 In welchen Situationen ist vom eigenen Sterben die Rede? Ist damit in aller Kürze die seelsorgliche Begegnung als Kontext beschrieben, stellt sich die Frage: Wo bzw. in welchen Situationen begegnet der Seelsorgerin eigentlich die Rede vom eigenen Sterben? Hier lässt sich auf der Basis von Erfahrungswerten im Blick auf das Krankenhaus zuerst einmal sehr grob festhalten: Die Rede vom eigenen Sterben taucht insbesondere dort auf, wo durch im weitesten Sinne als krisenhaft erlebte Situationen das eigene Sterben entweder ins Bewusstsein gezwungen wird, oder aber als latente Bedrohung unter der Oberfläche erlebt wird, während es beim Wiedereintreten des Alltags eher in den Hintergrund tritt. Als exemplarisch dafür können Herzinfarktpatienten gelten, bei denen auf der Intensivstation unmittelbar nach dem Infarkt das Reden (auch vom Sterben) nur so sprudelt, während spätestens wieder auf der Normalstation von all dem keine Rede mehr ist.⁵ Im Blick auf die Krankheitsbiographie lässt sich so – immer noch sehr allgemein – festhalten: Sterbenarrationen tauchen vor allem auf: (1.) im Kontext der Diagnose („Ich habe Krebs und erlebe das als Todesurteil“). Ähnliches gilt dann vor allem beim Auftreten des ersten Rezidivs; (2.) im Kontext des Austherapiertseins und (3.) im unmittelbaren Zeitraum vor dem Sterben (die letzten Wochen,
Gegenwartsgesellschaft. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung (Baden-Baden: Nomos, 2008), 105 – 122, hier 105 f. Zum Hintergrund vgl. Ulrike Johanns, Seelsorge mit HerzinfarktpatienInnen, in: Michael Klessmann, Hg., Handbuch der Krankenhausseelsorge, 2. Aufl. (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001), 64– 86.
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Tage). Dazwischen liegen immer wieder lange Phasen, in denen die Rede vom eigenen Sterben eher in den Hintergrund tritt. Dabei ist auch in diesen Zwischenphasen vor allem dort mit dem Thema zu rechnen, wo der Alltag eine Unterbrechung erfährt und der Blick auf das Fortschreiten der Zeit und die eigene Vergänglichkeit sichtbar wird: Im Jahreszyklus bei emotional besetzten Festen wie z. B. Weihnachten oder an Geburtstagen oder im Lebenszyklus bei der Begehung von Kasualien nahestehender Personen, wie Taufe, Trauung und Beerdigung. Im Kleinräumigen gilt dies analog: Sei es der Beginn einer neuen, vermutlich nur schwer erträglichen Chemotherapie, sei es der Abend vor der nächsten OP. Selbst palliative Patienten reden über das eigene Sterben häufiger, wenn sie in einer akuten Schmerzphase sind, und eher weniger, wenn sie einigermaßen stabil sind und sich wohlfühlen. Demgegenüber kann im Altenheim allein der Besuch der Seelsorgerin und ihr Interesse an der Person bereits so etwas wie die Unterbrechung des Alltags darstellen, welche die Möglichkeit eröffnet, das eigene Sterben zum Thema zu machen, was dann nicht selten in längeren Begleitungen zu einem diese grundierenden Dauerthema werden kann („Warum holt er mich nicht?“).
4 Sterbenarrative 2. Ordnung im Kontext der Krankenhausseelsorge (ein Überblick)⁶ Wie zeigt sich das Thema des eigenen Sterbens nun aber in den Narrationen der Betroffenen? Dabei ist zuerst festzuhalten: Das Reden vom eigenen Sterben ist etwas hoch Intimes und nicht selten mit einer existenziellen Scham verbunden: „Jetzt hab ich mein ganzes Leben lang versucht, einigermaßen alles – und vor allem mich – im Griff zu haben, und jetzt muss ich zugeben, dass ich das nicht kann. Mir fällt alles aus der Hand. Und es tut mir ja gut mit Ihnen darüber zu reden, aber zugleich schäm ich mich dafür.“ Alles Reden über das eigene Sterben bedarf einer vertrauensvollen Beziehung.
Das Interesse gilt hier primär einer Phänomenologie im Sinne einer inhaltsbezogenen Typologie von Sterbenarrationen und nicht einer (heimlichen) Normativität im Sinne von „richtigen“ bzw. „anzustrebenden“ Sterbenarrationen, mit denen die anderen Formen dann als aufgehoben angesehen werden müssten. So kann einem „Einstimmen ins eigene Sterben“ durchaus eine Sterbenarration im Sinne von „Angst und Verzweiflung“ folgen.
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4.1 Vorgespräche, Andeutungen, Testfragen Das Ringen um eine vertrauensvolle Beziehung zeigt sich exemplarisch in einem Bereich, der gleichsam noch im Vorfeld eines eigentlichen Gesprächs anzusiedeln ist: Nicht selten bedarf es in der Seelsorge mehrerer Vorgespräche, bis überhaupt das eigene Sterben vom Patienten her zum Thema wird. Oder die Patientin wirft – quasi als eine Art erratischen Block – das eigene Sterben ins Gespräch, ohne dass sie weiter darauf eingehen will. Dazu ein Ausschnitt aus einem Gesprächsprotokoll: Frau F: Eigentlich geht es mir gut … naja (streicht über den Bauch), aber mal sehen, im Moment (abwehrende Handbewegung) warte ich mal ab. Bis dahin drücke ich es weg. Seelsorgerin: Machen Sie sich Sorgen? Frau F: Ach ja, man weiß ja nie. Jetzt warte ich mal ab … Wissen Sie, ich habe mich jetzt über ein Baumgrab informiert … Und schon wechselt die Patientin von sich aus das Thema und redet über ihre Kinder. Und dieser Themenwechsel kann als Indiz gesehen werden dafür, dass die Patientin das Thema zwar ansprechen, aber nicht vertiefen will.
Oder der Patient wirft mitten im Gespräch eine Feststellung oder eine überraschende Frage ein, die sich im Nachhinein als eine Art Test herausstellt, der so etwas wie die Frage beinhaltet: „Bist du wirklich so authentisch, aufmerksam, empathisch, dass ich mit dir über das reden kann, was mich gerade beschäftigt?“ Klassisch hier z. B. die Feststellung auf der Wachstation: „Diesmal haben sich die Ärzte aber sehr bedeckt gehalten.“ – Oder aber aus heiterem Himmel Fragen wie: „Würden Sie Dignitas beitreten?“ Oder: „Wie halten Sie’s denn mit der Auferstehung?“⁷ All diese Sätze und Fragen sind quasi rudimentäre Sterbenarrationen, in denen die Beziehung als Basis einer möglichen Weiterentfaltung auf dem Spiel steht: „Erweist Du Dich in deiner Antwort als ein Mensch, der mich mit meinem Anliegen wirklich ernst nimmt – oder bleibst Du auf der Ebene deiner distanzierten Professionalität?“
4.2 Containment und Gefühlstransplantation Noch im Bereich der Anfangssituationen der seelsorglichen Beziehung (und in Verwandtschaft zu den Testfragen) sind diejenigen Sterbenarrative, die ich unter
Als exemplarisches Beispiel aus der Literatur sei in diesem Zusammenhang erinnert an Gabriele Wohmann, Erzählen Sie mir was vom Jenseits (Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1994).
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die Begriffe Containment und Gefühlstransplantation fassen möchte. Zu diesem nicht unkomplizierten Titel erst ein Beispiel: Eine junge Seelsorgerin geht ins Krankenzimmer und stellt sich vor. Patientin: „Ich brauch keine Seelsorge. Ich werd morgen sowieso entlassen.“ Kurze Pause, dann scharf: „Und ich bin sowieso palliativ.“ Und ehe die Seelsorgerin auch nur ein Wort sagen kann, heftig: „Da brauchen Sie gar nicht so zu schauen.“ Die Seelsorgerin kann nichts mehr tun. Ihr wird nicht nur das Reden verwehrt, sondern sogar das Schauen. Sie macht kurz ihre Ohnmacht zum Thema und verabschiedet sich dann. Allerdings treibt sie diese Situation danach heftig um.
Mit drei kurzen Sätzen hat es die Patientin mit einem aggressiven Unterton ganz real geschafft, die Seelsorgerin hilflos und ohnmächtig zu machen, sie zu beschämen, ihr jegliche Handlungsfähigkeit zu nehmen und sie mit einem Unwertsgefühl zu entlassen. Betrachten wir nun diese Gefühle, die die Seelsorgerin danach ganz real hat, aus der Perspektive des englischen Psychoanalytikers Wilfried Bion. Dieser geht davon aus, dass Menschen nicht selten die für sie selbst nicht verdaubaren Gefühle in ihrem Gegenüber deponieren, in der Hoffnung, dass das Gegenüber die besagten Gefühle quasi überlebt und sie verdaut wieder zurückbringt. Und aus dieser Perspektive wird zumindest ansatzweise verstehbar, dass in diesen kurzen Sätzen über das eigene Sterben ganz viel von der Gefühlssituation der Patientin mitschwingt und quasi in die Seelsorgerin als Container transplantiert wird: Ich bin ohnmächtig, hilflos, beschämt, habe keine Kontrolle mehr und fühle mich unwert.⁸ Nach einer Supervisionssitzung am selben Tag, in der es um ein Verstehen der Situation im Sinne dieses containment geht, besucht die Seelsorgerin die Patientin noch einmal – gleichsam um zu dokumentieren, dass sie die Gefühlsgewalt gestern überlebt hat. „Ich wollte nur nochmal kurz vorbeischauen, um mich zu verabschieden, wenn sie jetzt entlassen werden.“ „Ach, schön, dass sie nochmal kommen“ – und sie führen ein langes, anrührendes Gespräch, in dem die Patientin ihre Krankheitsgeschichte, ihre Verzweiflung und all das entfaltet, was am Tag vorher in diesen drei Sätzen verborgen war.
Dabei sind solche Narrative von containment und Gefühlstransplantation nicht selten, sei es als ohnmächtig machende Begrüßung („Ah, und jetzt kommen Sie mit Ihrem Alleskönner, diesem Gott, und ich liege hier im Sterben“), sei es im Modus des Gesprächs, wie es in folgender Szene deutlich wird: Vgl. dazu exemplarisch Wolfgang Wiedemann, Krankenhausseelsorge und verrückte Reaktionen. Das Heilsame an psychotischer Konfliktbewältigung (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996), insbes. 95 – 105. Sowie ders., Keine Angst vor der Seelsorge. Praktische Hilfen für Hauptund Ehrenamtliche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009), 43 – 53.
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Ein Patient redet nach einem kurzen Einwurf – „Meine Diagnose ist die schlimmste“ – eine Stunde darüber, wie ihn sein Glaube trägt. Die Seelsorgerin ist wirklich beeindruckt von dieser Souveränität, mit der dieser Patient seine Situation meistert. Kaum hat sie das Zimmer verlassen, steht sie auf dem Gang und fängt an, hemmungslos zu weinen. Eine tiefe Trauer überschwemmt sie: „Die hat mir der Patient auch mitgegeben, obwohl wir beide es gar nicht gemerkt haben im Gespräch.“
4.3 Das Sterbenarrativ als lebensgeschichtliches Erzählen Kommen wir von diesen gewissermaßen verdichteten Kurzformen des Sterbenarrativs zum Bereich der breiter ausgeführten Sterbenarrationen, so ist es notwendig, an dieser Stelle zuerst dasjenige Thema zu benennen, das auf der einen Seite einen wichtigen Topos in der Reihe der Sterbenarrative 2. Ordnung ausmacht und zugleich auch als eine Art Grundelement aller Sterbenarrative angesehen werden muss: das Sterbenarrativ als lebensgeschichtliches Erzählen. Wenden wir uns zuerst der allgemeinen Perspektive zu, so kann festgehalten werden: Das Erzählen in allen Sterbenarrativen ist lebensgeschichtliches Erzählen. Dies mag zuerst einmal ungewohnt klingen, ist doch die allgemeine Vorstellung von Lebensgeschichte zumeist mit dem Blick in die Vergangenheit verbunden, und nicht mit der Zukunft. Doch diese Fixierung auf den Rückblick kommt allein dadurch ins Wanken, wenn wir uns klarmachen: Auch das sogenannte normale lebensgeschichtliche Erzählen ist dadurch charakterisiert, dass aus der Perspektive des Jetzt spezifische Elemente der Vergangenheit aus der unendlichen Fülle des biographischen Materials ausgewählt und neu geordnet in dieser Gegenwart versammelt werden. Und jeder solchen Vergegenwärtigung wohnt immer – wie explizit oder implizit dies auch sein mag – ein Zukunftsentwurf inne. Exemplarisch lässt sich das veranschaulichen an dem immer wiederkehrenden Motiv der Erzählung aus dem Krieg. Wenn ältere Männer in lebensbedrohlicher Situation (z. B. vor der OP, nach einer infausten Diagnose usw.), bei der man gewöhnlich damit rechnet, dass sie dieses Bedrohliche jetzt zum Thema machen, gänzlich unerwartet anfangen, von ihren Kriegserlebnissen zu erzählen. „Wie mir damals im Schützengraben die Granatsplitter um die Ohren geflogen sind; wie ich auf einmal in die Gewehröffnung des Feindes geblickt habe“. Wer hier nicht bloß in der Irritation steckenbleibt, dem mag deutlich werden: Dieser Mann beschreibt seine aktuelle Situation im Modus einer Geschichte aus der Vergangenheit. Und es ist zugleich eine Vergewisserung im Blick auf die Zukunft: „So wie ich damals –
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wenn auch extrem knapp – überlebt habe, so hoffe ich auch jetzt zu überleben.“⁹ Auch hier eine Form des Sterbenarrativs sub contrario: der Blick in die Vergangenheit als Zukunftsentwurf. So wird deutlich, dass sich im lebensgeschichtlichen Erzählen das Retrospektive und das Prospektive permanent miteinander mischen, wobei in beiden Fällen Realitätsbezug und Fiktion nicht gegeneinander ausspielbar sind, sondern gerade das Reizvolle des lebensgeschichtlichen Erzählens ausmachen können. Dies hat Konsequenzen für die Frage nach dem Sterbenarrativ: Geschichten aus dem Leben können durchaus – selbst wenn dies nicht bewusst geschieht – als Narrationen über das eigene Sterben gesehen werden. Ganz unmittelbar zeigt sich dies, wenn der Patient die eigene Situation benennt und dann von seinem Erleben des Sterbens eines Angehörigen oder Freundes erzählt. In vielen Fällen wird ein solcher direkter Zusammenhang allerdings nicht sichtbar. Hier kann gelten: Hat der Patient seine Situation benannt und wechselt dann in Erzählungen aus seiner Lebensgeschichte, oder ist (z. B. in einer Begleitung) bei beiden Gesprächspartnern das Wissen um das Sterben vorauszusetzen und der Patient erzählt irgendetwas aus seinem Leben, so ist mit dem zu rechnen, was ich auf einer allgemeinen Ebene die Hermeneutik der Situation nenne¹⁰ und in diesem speziellen Fall: die Hermeneutik der Sterbesituation. Diese Hermeneutik, in die allerdings auch die konkrete räumliche Situation (Krankenzimmer, Intensivstation) und die konkrete Befindlichkeit eingehen, gestaltet auch das, was an Vergangenem erzählt wird. Auf besondere Weise wird dies sichtbar, wo der Patient die Situation benennt, und dann auf sein Recht zur Verdrängung pocht. „Ich will das nicht annehmen.“ Und ganz im Gegensatz zum gegenwärtigen Mythos, dass Verdrängen etwas ausgesprochen Problematisches ist, dass man über sein Sterben reden soll¹¹: Der Patient hat das Recht, so viel zuzulassen oder eben auch zu verdrängen, wie für ihn selbst zuträglich ist. Allerdings gilt dann die Aufmerksamkeit des Seelsorgers
Vgl. dazu Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus biographischer Perspektive (Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 2002), 19 – 23. Vgl. ders., ebd., 182– 190. Vgl. im Sinne der inzwischen selbstverständlichen Hermeneutik des Verdachts gegenüber allem Vergessen und Verdrängen Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, 2. Aufl. (München: C.H. Beck, 1997), 171: „Mit Freud hat das Vergessen seine Unschuld verloren. Von nun an muss einer, der etwas vergessen hat oder etwas vergessen will, sich rechtfertigen und auf eine – möglichst peinliche – Warum-Frage gefasst sein, und dies umso mehr, je stärker er selbst überzeugt ist, sein Vergessen sei keiner Rechtfertigung bedürftig, er habe etwas schlicht und einfach vergessen.“
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dem, was der Patient erzählt – sei es von den Kindern, sei es vom letzten Urlaub, sei es von alltäglichen Problemen zuhause. Hier können sich, wenn auch auf sehr subtile Weise, Sterbenarrative im Modus auch ganz banalen lebensgeschichtlichen Erzählens ausdrücken. Für die Seelsorgerin gilt es dabei, den Patienten in dem, was er ausdrücken will und kann, anzunehmen und ernst zu nehmen und nicht, wie es nicht selten geschieht, nachzubohren oder etwas aufzudecken – sie hat keinen therapeutischen Kontrakt – und gerade so diese subtile Form dieser Form des Sterbenarrativs zu würdigen. Selbstverständlich kann dann aber auch im Rahmen des expliziten Redens über das Sterben, dieses sich im Modus lebensgeschichtlichen Erzählens bis hin zum Ausbreiten der gesamten Lebensgeschichte artikulieren, quasi im Heben und Vergegenwärtigen dessen, was jetzt zu Ende geht. Mitten im Gespräch über das naherückende Sterben, in dem eine tragende gegenseitige Vertrauensbeziehung entstanden ist, fragt die Patientin den Seelsorger: „Würden Sie meine Beerdigung machen?“ Der Seelsorger kann sich dies vorstellen. Nachdem dies geklärt ist (unter Berücksichtigung möglicherweise hindernder Gründe) fragt der Seelsorger: „Welchen biblischen Spruch hätten Sie denn dann gerne, gleichsam als Überschrift über diese Ihre Beerdigung?“ Die Patientin benennt ihren Konfirmationsspruch und beginnt dann – von diesem Spruch her – ihr ganzes Leben auszubreiten.
Nun ist es hier nicht möglich, die Vielfalt des Aspekts „Sterbenarrativ als lebensgeschichtliches Erzählen“ erschöpfend auszubreiten. Aus diesem Grund an dieser Stelle nur noch zwei exemplarische Andeutungen – die erste unter dem Stichwort „das Sterbenarrativ als Erzählung vom ungelebten Leben“¹²: Hier ist der Ort, wo nicht ergriffene Lebensoptionen, falsche Entscheidungen, Fehler, Beschämendes und auch Schuld zum Thema werden, nicht selten als Ausdruck der nicht mehr veränderbaren Realität und des gegenwärtigen Schmerzes. Die zweite Andeutung betrifft das Sterbenarrativ als Selbstvergewisserung des wirklich Gelebthabens: Das muss nicht immer ein erfülltes oder abgerundetes Leben sein (auch hier gibt es einen Mythos von Integrität und Lebensabrundung, exemplarisch in der Rede von der letzten Sterbephase bei Kübler-Ross). Zumeist zeigt sich dies eher – und viel bescheidener – in einem Sich-Anfreunden mit dem Gedanken, dass das eigene Leben so war, wie es war.
Vgl. dazu exemplarisch Albert Zacher, Kategorien der Lebensgeschichte. Ihre Bedeutung für Psychiatrie und Psychotherapie (Berlin: Springer, 1988).
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4.4 Exkurs zum Anteil des Zuhörers am Reden vom eigenen Sterben Ehe wir uns mit einigen weiteren Sterbenarrativen beschäftigen noch ein kleiner Exkurs, der noch einmal ein eigenes Licht auf die Sterbenarrative insgesamt wirft: Ist das konkrete Sterbenarrativ allein das Produkt des Erzählers, oder gibt es eine Art Mitwirkung des Zuhörers, die das Sterbenarrativ in seiner Konkretion mitgestaltet? Und wenn ja, was bedeutet das dann?¹³ Dabei können wir von der Feststellung ausgehen: Lebensgeschichtliches, und damit auch jedes Sterbenarrativ, erzählt sich nicht allein. Es bedarf immer eines konkreten oder vorgestellten Zuhörers, dem erzählt wird. Das wird unmittelbar plausibel im konkreten Gespräch. Ich kann aber auch mit meinem Hund vom Sterben reden, mit der Klagemauer, ich kann es im Gebet vor Gott bringen. Doch auch jedes Tagebuch ist, wie Henning Luther prägnant herausgearbeitet hat, geprägt von einem „fiktiven Anderen“, dem erzählt wird.¹⁴ Selbst die zur Veröffentlichung bestimmten Sterbenarrationen setzen einen imaginierten Leser voraus. Diese Beziehungssituation prägt aber zutiefst die Narration selbst. Um es in aller Kürze und in aller Unmittelbarkeit zusammenzufassen, heißt dies aus der Perspektive des Erzählers: „Ich erzähle mich und von meinem Sterben, indem ich mich mit Deinen (des Zuhörers) Augen betrachte.“ Dabei mag es Unterschiede zwischen realen und vorgestellten Zuhörern geben, immer aber spielt – auf der Basis des Dichtegrades der Beziehung – die Person des Zuhörers und ihr Blick auf den Erzähler, ihre Hermeneutik, mit der sie Wirklichkeit wahrnimmt, eine zentrale Rolle. Das heißt: Indem sich der Erzähler mit den Augen des Zuhörers betrachtet und sich und sein Sterben erzählt, geht dieser Blick des Zuhörers, seine Hermeneutik, mit in das Sterbenarrativ ein und prägt das, was erzählt wird und wie es erzählt wird. Dies wiederum beinhaltet: Wie jedes lebensgeschichtliche Erzählen ist auch ein jedes Sterbenarrativ nicht das Produkt des Betroffenen allein, sondern immer auch mitgestaltet durch eine Hermeneutik-in-Beziehung, in der der Zuhörer einen wesentlichen Beitrag zur sprachlichen Fassung des Narrativs leistet, auch wenn am Schluss der Erzähler feststellt: Jetzt habe ich alles von meinem Sterben erzählt. Konkret heißt das dann, dass bei jeder konkreten Sterbenarration ist immer auch die Frage zu stellen ist: Wie kommt in ihr die konkrete Person des Zuhörers Zum Folgenden vgl. Wolfgang Drechsel, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten (s. Anm. 9), 128 – 135. Vgl. Henning Luther, Der fiktive Andere. Mutmaßungen über das Religiöse an Biographie, in: ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts (Stuttgart: Radius-Verlag, 1992), 111– 122.
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(Alter, Geschlecht usw.), aber auch die persönliche Hermeneutik, wie auch die rollenbezogene Hermeneutik zum Ausdruck? Dabei ist z. B. im Blick auf die rollenbezogene Hermeneutik der Seelsorgerin damit zu rechnen, dass sich die „Absichtslosigkeit und Zweckfreiheit“ der Begegnung in den Sterbenarrativen niederschlägt: „Das, was der Sterbende von sich aus einbringt, steht im Zentrum der wertschätzenden Aufmerksamkeit.“ Damit verbunden ist immer auch die religiöse, spirituelle und im weitesten Sinne transzendenzorientierte Konnotation der Rolle, was exemplarisch zum Ausdruck kommt im Reden über die Beerdigung, in transzendenzorientierten Fragen, Bedürfnissen nach Zuspruch usw., aber auch in der Abgrenzung zu diesen Themen bzw. in ihrem Nicht-zum-Thema-Werden.
4.5 Die Rede über das eigene Sterben im Modus des Verweises auf das Sterben anderer Wir kommen zurück zu den Sterbenarrationen 2. Ordnung, wie sie in thematischen bzw. strukturellen Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kommen. Nur kurz erwähnt sei die Form des Sterbenarrativs, die ich als Rede über das eigene Sterben im Modus des Verweises auf das Sterben anderer bezeichnen möchte. Diese Form des Erzählens ermöglicht bei aller Betonung eigener Betroffenheit auf subtile Weise, im Erzählen eine Form der Distanz zu wahren, in der das Sich-Beschäftigen mit dem eigenen Sterben zum Ausdruck kommen kann, ohne dass dessen Intimität mit all ihrem Angstbesetzten gehoben werden muss. Dies geschieht klassisch beim Geburtstagsbesuch in der Gemeinde, wenn detailliert die Beerdigungen und Sterbesituationen von Verwandten, Freunden und Bekannten entfaltet werden, die im gleichen Alter waren. Oder es geschieht im Krankenhaus, wenn die Patientin, die auf Grund von unklaren Schmerzen eingeliefert wurde, die wohl mit ihrer Krebserkrankung zusammenhängen, in quasi identifikatorischer Stellvertretung von ihrer Bettnachbarin redet: „Die hat schon das zweite Rezidiv.“
4.6 Das eigene Haus richten Diese Perspektive verweist auf zumindest einen gewichtigen Aspekt des nächsten Bereichs von Sterbenarrationen, den ich als Das Haus richten bezeichnen möchte: Hier artikuliert sich die Rede über das eigene Sterben im Modus der Angst vor dem, was durch das eigene Sterben an Hypotheken hinterlassen wird oder eben in dem Versuch, zumindest soweit es geht, schon im Vorfeld Wesentliches zu richten: „Diesmal komme ich nicht davon. Aber ich habe zwei unversorgte Kinder.Wie
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sollen die das mit der Beerdigung machen? Noch dazu wo ich aus der Kirche ausgetreten bin“. Gerade in solchen Fällen geht es zumeist nicht um die Angst des Patienten/ der Patientin um sich selbst, sondern vor allem um eine Angst um Nahestehende, für welche die Betroffene eine besondere Verantwortung hat.Von Fragen nach der Finanzierbarkeit der Beerdigung, über die Beerdigung selbst, übers Sorgerecht für die Kinder oder die praktische Unselbständigkeit des Ehemannes bis hin zu Sätzen wie: „Ich werde sterben, aber ich kann nicht sterben. Wie soll denn mein behinderter Sohn ohne mich zurecht kommen?“ Das eigene Sterben tritt gewissermaßen in den Hintergrund vor der Bedrohlichkeit seiner Folgen. Dies auszusprechen und eventuell auch Klärungen zu finden, gestaltet den Gesamtprozess des Sterbens selbst und das Reden von demselben.
4.7 Angst und Verzweiflung Nicht selten aber erzwingt der Sterbeprozess den Blick auf sich selbst. Das Gewaltsame des am eigenen Leibe Erfahrenmüssens, dass aus der Perspektive des Betroffenen die ganze Welt zerbricht, spiegelt sich in denjenigen Narrativen, die ich unter der Überschrift Angst und Verzweiflung einordnen möchte. Im Allgemeinen gilt ja die These, dass Reden hilft, dass es leichter wird, wenn man über schwierige Dinge redet, sie in Sprache fasst und hinaus spricht, dass sie so eine Gestalt gewinnen und anschaubar werden. Meine Frage ist, ob diese allgemeine Feststellung für den Blick auf die konkrete Situation des eigenen Sterbens auch gilt, oder ob nicht gerade dieses Reden über das eigene Sterben, je näher es der eigentlichen Sterbesituation kommt, umso mehr Angst auslöst? Nicht zufällig bewegen sich die meisten Sterbenarrative um das eigentliche Sterben herum, machen Aspekte des Noch-Kontrollierbaren, der noch begreifbaren Selbstvergewisserung im Sterbeprozess zum Thema (exemplarisch auch dort, wo die eigene Verdrängung benannt wird). Wobei gerade dort, wo die Umstände, wie z. B. der Schmerz, den Blick auf die Unausweichlichkeit erzwingen und in denen der Patient sich als überfordert erlebt, Angst und Verzweiflung in den Vordergrund treten: „Ich habe Angst. Angst vor dem Sterben.“ „Wie stirbt man, wenn man Krebs hat?“ „Ich bin ganz erstarrt. Da ist nur noch Sprachlosigkeit.“ Oder im Anschluss an positiv besetzte kollektive Vorstellungen, die in diesem Fall nur die eigene Verzweiflung verstärken: „Da soll es ja ein Licht am Ende des Tunnels geben. Aber ich seh’ nichts … Da ist nur Schwarz“. Oder wenn der Glaube zusammenbricht, der bis dahin so etwas wie Halt gegeben hat. Sei es ein nichtreligiöser Glaube, oder sei es ein explizit religiöser Glaube, wie etwa in
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der Frage einer sterbenskranken Diakonisse: „Und wenn das nun alles nicht stimmt, was ich mein Leben lang geglaubt habe?“ Verstärkt wird diese Empfindung nicht selten dadurch, dass solches Erleben den Angehörigen, dem Partner nicht zugemutet werden kann oder soll. Gerade in solchen Kontexten kann Verzweiflung auch in Aggression umschlagen: „Kommen Sie mir jetzt bloß nicht mit irgendeinem Trost, das ist alles bloß Vertröstung, was ich hier abkriege.“ Diese Aggression kann sich mit Suizidgedanken verbinden, in denen in aller erzwungenen Passivität das Ich sich selbst zumindest unter einem Aspekt noch als Handelndes erlebt: „Das ist doch kein Leben mehr. Ich weiß nicht, was Sie denken. Ich hoffe, bald ist Feierabend“. Oder: „Ich überlege, wie ich mich am besten umbringe, wenn gar nichts mehr geht.“ Dies sind diejenigen Sterbenarrationen, in denen es – aus der Perspektive der Seelsorge – um die Härte des gemeinsamen Aushaltens geht, ohne Angst, Resignation und Verzweiflung weg reden zu wollen. Hier zeigt sich auf eine die Seelsorgerin immer zutiefst mit in Sprachlosigkeit und Ohnmacht hineinziehende Weise, was es heißt, den Anderen in seiner realen Situation wirklich ernst- und zugleich anzunehmen.
4.8 Deal mit dem Schicksal Als eine Variante dieses Sterbenarrativs kann diejenige Form angesehen werden, die dieses Trostlose mit einer Zukunftsperspektive verbindet in Form einer Art Deal mit dem Schicksal: „Ich will das alles ja ertragen, wenn ich nur das nächste Weihnachten erlebe.“ Oder: „Mein Ziel ist die Hochzeit unserer Tochter.“ Hier erhält das Resignative des Aussichtslosen eine Perspektive in Form eines bescheidenen, zukunftsbezogenen Ziels – das nicht selten auch erreicht wird, und mit seinem Erreichen den eigentlichen Sterbeprozess sehr schnell und unmittelbar einleitet.
4.9 Träume und Gesichte Ein ganz anderer Bereich von Sterbenarrativen sei unter der Überschrift Träume und Gesichte zusammengefasst. Dies sind Erzählungen, in denen von etwas berichtet wird, das sich als Traum oder Gesicht mehr oder weniger aufdrängt und über das es keine rationale Kontrolle gibt. Dabei zeigt sich zumeist eine Spannung zwischen der Scham, so etwas überhaupt zu erzählen, weil man vom gesellschaftlichen Hintergrund eher mit einer Abwertung rechnet („bloß ein Traum“) und der hohen Bedeutung, die solchen Erlebnissen von denen zugeschrieben
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werden, denen sie widerfahren sind. Hier möchte ich nur auf drei verschiedene Felder hinweisen. – Da sind zum einen die Träume und Gesichte vom Noch nicht: Eine Patientin erzählt von ihrer Herz-OP, und dass sie kurz danach wegen starker Einblutungen noch einmal notfallmäßig operiert werden musste: „Und da bin ich dann nach der zweiten OP aufgewacht auf der Intensivstation. Hinten habe ich die Schwestern werkeln gesehen. Und um mein Bett herum standen ganz viele von meinen Angehörigen. Und dann hab ich gemerkt: Das sind ja all die, die schon gestorben sind. Und die haben mich ganz lange schweigend angeschaut, und dann haben sie sich – einer nach dem anderen – umgedreht, und sind gegangen.“ Hier macht die Patientin eine Pause, schaut den Seelsorger etwas ängstlich, verlegen und fragend an, im Sinne von „Wie reagierst Du jetzt?“ Der Seelsorger sagt nur: „Es war anscheinend noch nicht an der Zeit.“ Und das Gespräch kann weitergehen. Eine Patientin erzählt nach einem schweren Unfall mit Schädel-Hirntrauma ihr Erleben im Koma auf der Intensivstation: „Und dann stand ich an der Himmelstür. Der Petrus hat mich eingelassen. Und meine beiden (schon verstorbenen) Großeltern haben mich abgeholt und in den himmlischen Thronsaal geführt. Und auf dem Thron sitzt Jesus, mit einem Drei-TageBart, und er schaut mich an und sagt: ‚Du gehörst noch nicht hierher. Du musst zurück.‘ Und schon haben sie mich wieder hinausbegleitet …“
Eine weitere Gruppe von Traumerfahrungen lässt sich als Verweis auf die Realität des Sterbens identifizieren: Ein Patient träumt, wie er in einem Sterbezimmer steht. Kerzen um das Bett, abschiednehmende Angehörige. Auf einmal erkennt er: „Das sind ja meine Angehörigen!“ Und der Blick wird frei auf den Toten, der da soeben gestorben ist. „Das bin ja ich!“ Und der Patient erwacht, zutiefst erschrocken.
Als ein dritter Bereich im Kontext von Träumen und Gesichten kann derjenige angesehen werden, in dem – auf individueller Ebene – auch Perspektiven für ein Sein nach dem Tod mitgegeben werden, für ein Jenseits: Eine krebskranke palliative Patientin erzählt von ihrer älteren Schwester. „Ein ganzes Leben lang haben wir uns gestritten. Das war immer so. Und dann ist meine Schwester krank geworden. Hirntumor, ihr Gesicht war ganz entstellt. Ich hab sie begleitet. Das war schwer – und seit sie tot ist, konnte ich mich nicht mehr mit ihr streiten. Und ich – bei meinem Sterben jetzt – da bin ich ganz allein. Naja …,“ die Patientin zögert, „… nicht ganz. Heut Nacht war meine Schwester bei mir. Sie hat da am Fußende des Bettes gestanden …“ Seelsorgerin: „Und wie sah sie aus?“ Patientin: „Sie ist in ihrer Kraft. Kein Tumor mehr. Das Gesicht, der Kopf – alles ganz heil. – Die wartet auf mich. Und wenn wir uns sehen, dann werden wir uns streiten bis in Ewigkeit.“
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4.10 Individuelle Vorstellungen vom Jenseits Auch wenn die eben genannten Beispiele für sich selbst sprechen, so verweist das letzte zugleich auf eine eigene Gattung der Sterbenarrative, die unter der Überschrift individuelle Vorstellungen vom Jenseits eingeordnet werden können. Sei es als Frage: „Wartet da jemand auf mich?“, sei es als beschreibende Phantasie. Hier können – manchmal an traditionelle Bilder anschliessende, aber immer zugleich individuell modifizierte – Vorstellungen begegnen, die sich primär um die Wiederbegegnung mit schon verstorbenen Angehörigen, Freunden oder auch Haustieren gruppieren: „Endlich werde ich meinen Waldi wiedersehen. Das war der treueste und verständnisvollste Hund, den ich je erlebt habe.“ Diese Wiederbelebung alter, abgerissener Beziehungen kann sich manchmal verbinden mit sehr realitätsbezogenen Vorstellungen von einem Jenseits: „Meinen Sie nicht auch, dass es da auch Schweinsbraten mit Knödeln gibt?“, oder aber mit der Möglichkeit, Elemente aus der eigenen Lebensgeschichte, die hier unter „verpasste Möglichkeiten“ oder „ungelebtes Leben“ verbucht werden müssten, noch einmal anders zu machen.
4.11 Spiritualität und der explizite Glaube der Betroffenen Natürlich sind in diesem Bereich dann auch diejenigen Narrationen anzusiedeln, in denen sich die Spiritualität bzw. der explizite Glaube der Betroffenen artikuliert. Sie treten auf als ein – von außen betrachtet – eher diffuses Bedürfnis nach Zuspruch, nach einem Gehaltensein im Kontext des Zerfallenden. Sei es in der Frage: „Gibt es etwas, woran mein Herz hängt oder in der unmittelbaren Entfaltung dessen, woran das Herz hängt?“ Sei es die Suche – mitten in diesem Rest Leben, demgegenüber der Tod sich als mächtiger erweist – nach etwas, das gegen dieses Machtverhältnis angeht, es vielleicht transzendiert. Seien es explizite Formen christlichen Glaubens, die den Durchgang durch den Zweifel gleichsam überstanden und sich dadurch verändert haben. In all diesen Fällen ist es die Aufgabe des Seelsorgers, dem hinterher zu spüren, was die Frage, das Anliegen oder das Bedürfnis des Patienten ist, dieses – in all seiner individuellen Eigenheit und vielleicht auch Unausgegorenheit – ernst zu nehmen und mitzutragen. Gerade in dieser Haltung kommt das tragende christliche Element der Seelsorge im Sinne einer liebenden Zuwendung zum Anderen um seiner selbst willen zum Ausdruck. Alle weiteren, explizit christlich-religiösen Handlungsmöglichkeiten in Form von Ritualen, Liedern, Gebeten und Segen sind dabei eine Form des Angebots, das der Seelsorger auf Grund seiner religiös konnotierten Rolle zwar immer schon mit-
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bringt, deren explizite Ausübung aber erst auf den ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen hin geschieht.
4.12 Einstimmendes als Form des mit dem Sterben-(noch)-leben-Könnens Ein weiterer Bereich der Sterbenarrative zeigt sich in den Fällen, in denen es dem Patienten gelingt, für sich selbst eine wie auch immer stimmige Form des mit dem Sterben-(noch)-leben-Könnens zu finden. Dabei sei allerdings deutlich darauf hingewiesen, dass solche Situationen sich manchmal einstellen können, nicht aber ein anzustrebendes Ziel einer Sterbebegleitung sein dürfen. Sonst wird – im Sinne des Erreichenmüssens einer letzten und friedlichen Sterbephase nach Kübler-Ross – der sterbende Mensch letztlich nur unter einen realen und moralischen Druck gesetzt, die eigene und auch kollektiv geteilte Phantasie von einem gelingenden Sterben realisieren zu sollen. Etwas gänzlich anderes ist es, wenn der Betroffene von sich aus zu einer solchen Stimmigkeit findet.¹⁵ Zentrales Thema dieser Form des Sterbenarrativs ist das einvernehmliche Schweigen. Dies kann explizit vom Patienten ausgehen: „Jetzt muss ich nicht mehr kämpfen, und keiner redet mir rein.“ Oder: „Jetzt ist alles gesprochen.“ Oder der Seelsorger hat schlicht nichts mehr zu sagen, wenn vom Patienten Sätze gesprochen werden: „Es ist gut so.“ Oder wie es eine ganz einfache Frau formuliert hat: „Irgendwie ordne ich mich in das Los von allen Menschen ein. Und eines tröstet mich: Die Anderen haben das auch alle geschafft mit dem Sterben.“ Hier finden sich auch ganz unmittelbare Formen von tiefer Frömmigkeit: „Ich werde jetzt heimgehen – und ich weiß wohin ich komme.“ Oder wie es eine ältere Patientin mit dem letzten Vers des Paul-Gerhard-Liedes „Befiehl du deine Wege“ formulierte: „Mach End, oh Herr, mach Ende, mit aller unsrer Not, stärk unsre Füß und Hände – und lass bis in den Tod uns allzeit deiner Liebe und Treu empfohlen sein, so gehen unsre Wege, gewiss zum Himmel ein.“ Dabei mag es nicht zufällig sein, dass gerade in diesem Bereich der Sterbenarrative – zumindest bei den Menschen, die noch ein Wissen um die Traditionen haben – immer wieder entsprechende gebundene und quasi ritualisierte Texte auftauchen, die allein durch ihre Form die Grenzen der Individualität aufheben und so den Sterbenden in einen Rahmen stellen, der größer ist als er selbst.
Und nur am Rande: Solches Einstimmen muss nicht immer einen „stimmigen Endpunkt eines Sterbeprozesses“ bezeichnen, sondern kann selbst wiederum von Narrationen wie z. B. „Wut und Verzweiflung“ abgelöst werden.
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5 Ausblick: Vulnerabilität und das eigene Sterben als Dia-bol Ist damit eine erste Übersicht über die verschiedenen Formen von Sterbenarrativen im Kontext der Seelsorge abgeschlossen, so seien noch einige allgemeine Anmerkungen gestattet: Eigentlich ist jedes Sterbenarrativ etwas Paradoxes. Es ist die Erzählung eines mehr oder weniger autonomen Ich, dessen Selbständigkeit sich gerade in diesem Redenkönnen artikuliert, eine Erzählung, in der allerdings die radikale Auslöschung dieses Ich (als Nicht-mehr-reden-Können) zum Thema wird. Insofern ist es nicht zufällig, dass Sterbenarrative gewissermaßen immer wieder neu dieses reale Sterben selbst umkreisen und in welcher Form auch immer das noch Selbstbestimmte unter den Bedingungen eines schmerzhaften und emotionsbeladenen Prozesses der Ablösung von der äußeren und inneren Welt zum Thema machen. Im konkreten Sterben selbst und seinem Danach bleibt zumeist das Schweigen. – Dies ließe sich auf anderer Ebene dann wiederum formulieren als ein Narrativ: Es bleibt ein Geheimnis. Insofern können Sterbenarrative als exemplarischer Ausdruck einer anthropologischen Grundbefindlichkeit angesehen werden, die erst in neuerer Zeit in den Vordergrund wissenschaftlicher Aufmerksamkeit rückt¹⁶: Gerade im Sterbeprozess zeigen sich die Grenzen einer Sicht auf den Menschen, die diesen primär über Selbstbestimmung und Autonomie definiert. Hier artikuliert sich seine „andere Seite“, seine Vulnerabilität, die ihn ein ganzes Leben in seinem Ringen um Selbstbestimmung angesichts einer grundlegenden Passivität des Lebens begleitet. Im Sterbeprozess kommt diese Verwundbarkeit auf besondere Weise zum Ausdruck – auf körperlicher, psychischer und geistiger Ebene. Und sie artikuliert sich beim Betroffenen in seinem Aufgebenmüssen der lebensbegleitenden Phantasie von Autonomie und Selbstbestimmung – immer wieder neu in den schmerzhaften Empfindungen von Ohnmacht, Beschämung und Kontrollverlust. Im Sterbeprozess – ob bewusst oder verdrängt – wird auf den verschiedenen Ebenen des Erlebens diese Vulnerabilität in ihrer Ausrichtung aufs Endgültige spürbar und gestaltet so, quasi als Hermeneutik der Situation, alles Reden des Betroffenen zumindest implizit mit. Insofern können wir die Sterbenarrative in
Vgl. hierzu exemplarisch Heike Springhart, Der verwundbare Mensch. Sterben, Tod und Endlichkeit im Horizont einer realistischen Anthropologie (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 203 – 216.
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ihrer Vielgestaltigkeit immer auch als exemplarischen Ausdruck des Umgangs mit der eigenen Verwundbarkeit lesen. Dies macht zugleich auf einen weiteren, grundlegenden Aspekt aller Sterbenarrative aufmerksam¹⁷: Wenn wir auf wissenschaftlicher Ebene von Sterbenarrativen sprechen, hat der Begriff „Sterben“ im Sterbenarrativ eine umfassende, symbolische Bedeutung. Es geht um Narrationen angesichts bzw. vor dem Hintergrund des (eigenen) Sterbens, ob dieses nun immer explizit zum Thema wird oder nicht. Insofern ist hier Sterben für uns ein Symbol, im ursprünglichen Sinne des Wortes sym-ballein, zusammenwerfen – es hält das zusammen, wovon hier auf der reflexiven Ebene die Rede ist. Demgegenüber erscheint mir der Begriff bzw. der Gedanke des Sterbens für die Betroffenen, die mit dem eigenen Sterben konfrontiert sind, geradezu von diametral entgegengesetzter Bedeutung: Sterben wird hier erlebt als das Gegenteil eines Symbols. Eher als ein Dia-bol, das – in seiner Herleitung von dia-ballein (auseinanderwerfen / verleumden usw.) – zwar wie ein Symbol die Realität transzendiert, allerdings sub contrario: im Modus der Nichtung, der Zerstörung. Es repräsentiert das Bedrohliche, die Scham, den Kontrollverlust, die Angst und die Beziehungslosigkeit zu sich selbst und zu anderen. Und auch wenn in manchen Fällen am Ende das eigene Sterben wieder neu zu einem Symbol werden kann, als Dia-bol gestaltet es die Vielfalt der direkten und indirekten Rede über das eigene Ende. Dies beinhaltet: Um in Richtung dieses Dia-bols schauen und darüber reden zu können, bedarf der Betroffene einer vertrauensvollen Beziehung, die ihn trägt und quasi stellvertretend mitträgt. Zugleich stößt der Begleiter immer wieder an die Grenzen seiner Empathie. Denn das Sterben selbst ist nicht einfühlbar. Insofern ist jede Beziehung, in der es um Sterbenarrative geht, immer eine Gratwanderung im Sinne der Frage: Wie kann es gelingen, den Sterbenden in seinem Erleben und in seinem Anderssein wahrzunehmen, anzunehmen und wirklich ernst zu nehmen? Hier sehe ich die zentrale Aufgabe der Seelsorge in der Begleitung Sterbender, die sich im Wahrnehmen, Annehmen und Ernstnehmen der Erzählungen vom eigenen Sterben äußert.
Zum Folgenden vgl. Wolfgang Drechsel, Der bittere Geschmack des Unendlichen. Annäherungen an eine Seelsorge im Bedeutungshorizont des Themas Krebs, in: WzM 57, 2005, 459 – 481.
Walter Bruchhausen
Sterbenarrative im Horizont der Narrative Medicine und Medical Humanities Die ärztliche Beschäftigung mit Erzählen zur Frage nach Sterbenarrativen in Beziehung zu setzen liegt nahe. Denn das medizinisch begründete Interesse an Narrativität, das sich auf so unterschiedlichen Gebieten wie der deutschen Medizinischen Anthropologie und der anglophonen Medical Anthropology, aber auch in der Bioethik entwickelte und zuletzt in das Programm einer Narrative Medicine mündete, versucht bewusst, naturwissenschaftliche Engführungen der Medizin zugunsten eines Blicks auf den ganzen Menschen in seinen existenziellen Erfahrungen aufzubrechen. Dazu gehört das Sterben, und so könnte man in der Narrative Medicine eine hohe Präsenz von Sterbeerzählungen und die entsprechende Suche nach Sterbenarrativen als Mustern für dieses Erzählen erwarten. Doch ein näherer Blick zeigt, dass sich die Narrative Medicine vergleichsweise wenig mit dem Sterben beschäftigt und somit die allgemeine Ambivalenz der Medizin gegenüber dieser Lebensphase in erstaunlich hohem Maße widerspiegelt. Diesem Phänomen und seinen vermutlichen Gründen soll der erste Teil dieses Beitrags nachgehen. Im zweiten und dritten werden dann im Hinblick auf Sterbeerzählungen und -narrative die weiten Felder betrachtet, auf die hin und aus denen heraus sich die Narrative Medicine als praxisbezogener Entwurf entwickelt. Das meint zunächst – als Anwendungsfeld – im zweiten, kürzeren Teil, die Medizin und – als Entstehungsgebiet – im dritten, längeren Teil die unter der Sammelbezeichnung „Medical Humanities“ subsumierbaren Gebiete. Es wird damit untersucht, wo in der Medizin und in den geisteswissenschaftlichen Reflexionen der Medizin Erzählungen am oder vom Lebensende auftauchen, welche Funktion sie dort haben und was sie jeweils thematisieren sollen.
1 Narrative Medicine und Sterbenarrative Narrative Medicine ¹ ist alles andere als ein einheitliches Fachgebiet, sondern vielmehr ein Schlagwort, unter dem recht unterschiedliche Formen von ärztli-
Vgl. als vorhergehende Auseinandersetzung mit der Narrative Medicine und für einschlägige Literatur: Walter Bruchhausen, Erzählung(en) in der Medizin – Medizinische Anthropologie und Medical Anthropology als Rettung der Narrativität, in: Michael Coors und Marco Hofheinz, Hg., https://doi.org/10.1515/9783110600247-014
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chem Unbehagen an der üblichen Praxis der Mainstream-Medizin seit den 1990er Jahren einen jeweiligen Ausdruck finden. Am stärksten im Diskurs etabliert und universitär institutionalisiert ist Narrative Medicine in Nordamerika, wo insbesondere die Professorin und Internistin Rita Charon programmatische Bücher herausbrachte und ein entsprechendes universitäres Lehrangebot aufbaute.² Ziel ist es, Verständnis und Einfühlungsvermögen von (angehenden) Ärztinnen und Ärzten durch Beschäftigung mit „narratives“ zu steigern. In Großbritannien entstand die Bewegung schon etwas früher und stärker im hausärztlichen Bereich, in dem seit den späten 1980er Jahren die Literature & Medicine-Groups, d. h. für die gemeinsame Lektüre fiktionaler Werke gegründete Lesekreise von Angehörigen der Gesundheitsberufe und der Geisteswissenschaften, besonders stark aufgegriffen worden waren. In Deutschland übernehmen verschiedene, eher nichtärztliche Autorinnen und Autoren die Begrifflichkeit, ohne für sich aber offenbar Vertretung oder gar Praxis einer Narrative(‐based) Medicine zu beanspruchen, was bei überwiegend nicht therapeutisch Tätigen auch eine gewisse Umdeutung gegenüber den anglophonen Vorläufern beinhalten würde. Eine weitere Quelle dessen, was unter Narrative Medicine firmiert, ist das alternativmedizinische Spektrum, in dem der als abwertend empfundene Begriff „Complementary and Alternative Medicine“ zunehmend durch „Integrative Medicine“ ersetzt wird. Der damit erhobene Anspruch auf ganzheitliche Wahrnehmung und Behandlung korrespondierte zu einem gewissen Grad mit den Anliegen der Narrative Medicine, weshalb sich personelle und inhaltliche Überschneidungen ergaben. All diese unterschiedlichen Entstehungs- und Verwendungskontexte von Narrative Medicine haben ihre Spuren im Hinblick auf das – zumeist mangelnde – Interesse an Sterbenden und Sterbenarrativen hinterlassen.
Im Fokus: Chronische Krankheit, nicht Sterben Bei Durchsicht der internationalen wie deutschsprachigen Einführungstexte und Überblicksdarstellungen zur Narrative Medicine fällt nämlich auf, dass Sterben und Tod keine eigenen Themen bilden, zumeist überhaupt nicht erwähnt wer-
Die Moral von der Geschicht’ … Ethik und Erzählung in Medizin und Pflege (Leipzig: EVA, 2016), 65 – 78. Rita Charon und Martha M. Montello, Hg., Stories matter. The role of narrative in medical ethics (New York: Routledge, 2002); Rita Charon, Narrative medicine. Honoring the stories of illness (Oxford, New York: OUP, 2006).
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den.³ Sie erscheinen hier als am Rande erzählte Ereignisse, die Beschwerden eines Patienten erklären können.⁴ Sammelbände enthalten sehr vereinzelt, nicht als Rubrik einschlägige Beiträge. Einer von diesen greift das kreative Schreiben im Hospiz auf, jedoch in der Hauptsache exemplarisch in seiner therapeutischen Funktion, weit weniger im Blick auf das Besondere des Sterbens.⁵ Spezifischer um eigentliche Sterbeerzählungen geht es hingegen in stärker interpretativen Sammelbandbeiträgen, in denen die geradezu zwangsläufige Bezogenheit von Sterbeerzählungen auf „Spiritualität und Religion“ und auf das Ende der größten individuellen Erzählung überhaupt, nämlich der eines ganzen Lebens, reflektiert wird: Verschiedene Narrative, verstanden als „Zyklus von Erwartung und Auflösung“, stehen demnach immer zur Auswahl, wobei religiöse bzw. spirituelle im Hinblick auf die Endgültigkeit einen besonderen „Anspruch auf Priorität“ haben können.⁶ Da der autobiographische Erzähler selbst wegen seines eigenen Endes die Sterbeerzählung nicht mehr rückblickend als solche identifizieren kann, ist ein Moment der Prognose – von wem und wie explizit auch immer – unerlässlicher Bestandteil jeder Geschichte dieser Art.⁷ Diese beiden Momente – die Unabweisbarkeit sowohl einer (affirmativen oder negierenden) Haltung zu Spiritualität als auch einer (eingetretenen) Prognose – stellen Besonderheiten eines (autobiographischen) Sterbenarrativs heraus, die dieses deutlich vom medizinischen „Normalfall“ unterscheiden. Denn dieser ist gewöhnlich dadurch geprägt, dass spirituelle Fragen gegenüber praktisch-klini-
Z. B. Trisha Greenhalgh und Brian Hurwitz, Narrative based medicine: Why study narrative?, in: British Medical Journal 318 (1999), 48 – 50; Gabriele Lucius-Hoene u. a., Narrative Medizin. Die Besondere Rolle des Erzählens und Zuhörens, in: Berliner Ärzte 43/2 (2006), 14– 18; Nili KaplanMyrth, Interpreting people as they interpret themselves. Narrative in medical anthropology and family medicine, in: Canadian Family Physician 53 (2007), 1268 – 1269; Johanna Rian und Rachel Hammer, The Practical Application of Narrative Medicine at Mayo Clinic: Imagining the Scaffold of a Worthy House, in: Culture, Medicine, and Psychiatry 37 (2013), 670 – 680. Glyn Elwyn und Richard Gwyn, Stories we hear and stories we tell: analyzing talk in clinical practice, in: British Medical Journal 318 (1999), 187– 188. Gillie Bolton, Geschichten vom Sterben: Therapeutisches Schreiben im Hospiz, in: Trisha Greenhalgh und Brian Hurwitz (Hg.), Narrative Based Medicine – Sprechende Medizin. Dialog und Diskurs im klinischen Alltag (Bern: Huber, 2005), 71– 82; später noch einmal dies., „Writing is a Way of Saying Things I can’t Say.“ Therapeutive Creative Writing: a Qualitative Study of its Value for People with Cancer Cared for in Cancer and Palliative Healthcare, in: Medical Humanities (2008), 40 – 46. Arthur W. Frank, Narratives of spirituality and religion in end-of-life care, in: Brian Hurwitz u. a., Hg., Narrative Research in Health and Illness (Malden/Mass.: Blackwell, 2004), 132– 145, hier 132 bzw. 142. Catherine Belling, The death of the narrator, in: Hurwitz u. a., Hg., Narrative Research (s. Anm. 6), 146 – 155, hier 155.
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schen im Hintergrund stehen und dass die Prognose zu den großen Unsicherheiten gehört. Einerseits machen also Sterbenarrative unüberbietbar deutlich, was eine narrative Perspektive aus jeder Krankheitserfahrung herausarbeiten könnte oder vielleicht sogar sollte, nämlich die Sinndimension und den Verweis auf unsere Endlichkeit. Andererseits sind Sterbenarrative damit aber in gewisser Weise schon überdeterminiert, denn sie verzichten so auf die thematische und temporale Offenheit, die ein Merkmal der Krankheitserzählung gegenüber dem medizinisch dominierenden naturwissenschaftsförmigen Berichtsmodus darstellt. Als anderer Pol der Darstellungsformen – gegenüber dem klinischen Report am entgegengesetzten Ende des Spektrums – ziehen Sterbenarrative den in der Mitte schwebenden Charakter des Krankheitsnarrativs vielleicht allzu sehr in ihre Form der sinnbetonenden und finalen Gesetzmäßigkeit und wirken dadurch weniger attraktiv. Monographien aus der Narrative Medicine wiederum behandeln entsprechend Fragen des Sterbens eher am Rande. So erwähnt Charon kurz „The Relation to Mortality“ als eine der vier Trennlinien zwischen Arzt und Patient – neben Kontext, Vorstellungen von Krankheitsverursachung sowie Gefühlen von Scham, Beschuldigung und Furcht –, die es zu überbrücken gilt, nach ihrer Empfehlung mit Hilfe einschlägiger Erzählungen von Leo Tolstoi und James Joyce.⁸ Dabei spielt Charon auf die mythologische Bedeutung ihres eigenen Namens an, der den Fährmann in die Totenwelt bezeichnet, und sieht sich so als personifizierte Erinnerung an die gerne verdrängte ärztliche Aufgabe der Sterbebegleitung. Sterben fungiert also als Prüfstein und Extrem, nicht als ein Zentrum der Narrative Medicine. Den eigentlichen Schwerpunkt der maßgeblichen Publikationen bildet, wie auch schon in der jüngeren Vorgeschichte, die das Konzept der Narrative innerhalb der Medical Anthropology aufweisen kann,⁹ chronische somatische Krankheit, insbesondere chronischer Schmerz. Erst mit einem gewissen Abstand folgt tödliche Krankheit in Form von Krebs, aber eben zumeist nicht die Sterbephase selbst. Ähnlich rangiert psychische Krankheit.¹⁰ Diese auf das Leben mit Krankheit konzentrierte Auswahl findet sich auch in den Datenbanken von Patientenerzählungen, darunter deutschsprachigen, die von Befürwortern der Narrative Medicine empfohlen oder sogar betrieben wer-
Charon, Narrative medicine (s. Anm. 2), 22– 25. Artur Kleinman, The illness narratives: suffering, healing, and the human condition (New York: Basic Books, 1988); Mary-Jo DelVecchio Good u. a., Hg., Pain as Human Experience: An Anthropological Perspective (Berkeley: UCP, 1992). John Launer, A narrative approach to mental health in general practice, in: British Medical Journal 318 (1999), 117– 119; Peter L. Rudnytsky und Rita Charon, Hg., Psychoanalysis and narrative medicine (Albany: State University of New York Press, 2008).
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den.¹¹ Entsprechend dieser klassischen Schwerpunktsetzung hatte die erste Version der Website dipex.org, die seit 2001 Patientengeschichten thematisch geordnet sammelte,¹² die vier Schwerpunkte Bluthochdruck, Prostata-, Brust- und Darmkrebs.¹³ Zusätzlich zu den letzten drei Krebsarten listete die deutsche Version krankheitserfahrungen.de, ein Kooperationsprojekt der Universitäten Freiburg, Göttingen und Berlin/Charité, noch die fünf Kategorien chronischer Schmerz, Diabetes Typ 2, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Epilepsie und „Medizinische Reha“ auf.¹⁴ Es geht ausdrücklich in jeweils einer Unterkategorie um „Leben mit Darmkrebs“ (einschließlich „Sinnsuche und Konfrontation mit Endlichkeit“), „Leben mit Protastakrebs“ usw. „Sterben an Darmkrebs“ ist in der Systematik nicht vorgesehen. Diese zeitliche Begrenzung der betrachteten Lebensphase führt dazu, dass Sterben einmal mehr offenbar nicht als Teil und Aufgabe der Medizin oder des Umgangs mit Krankheit gesehen wird. In letzter Zeit sind allerdings auf den Websites einzelner nationaler Zweige von DIPEx, nämlich der britischen¹⁵ und spanischen¹⁶, auch Palliativmedizin und Sterben als Kategorien hinzugekommen oder in Vorbereitung und teilweise berücksichtigt, wie auf der tschechischen¹⁷ und der niederländischen.¹⁸ Dabei hat das britische Healthtalk.org in seinen neunzehn Kategorien, in denen chronische Erkrankungen dominieren, eine Kategorie „dying & bereavement“, in der allerdings entsprechend der Ausrichtung auf Lebenshilfe wiederum nur eine von fünf Unterkategorien mit „living with dying“ die Erzählungen von Sterbenden betrifft, während die anderen vier mit Trauer nach Suizid und traumatischem Tod, Pflege Sterbender und Palliativversorgung die Perspektive der (Über‐)Lebenden behandeln.¹⁹
Gabriele Lucius-Hoene, Krankheitserzählungen und die Narrative Medizin, in: Rehabilitation 47 (2008), 90 – 97, hier 95 – 96. Andrew Herxheimer, Ann McPherson, Rachel Miller, Sasha Shepperd, John Yaphe, Sue Ziebland, Database of patients’ experiences (DIPEx): a multi-media approach to sharing experiences and information, in: The Lancet 355/9214 (2000), 1540 – 1543. http://dipex.org/ (Zugriff: 11.1. 2017; 18. 2. 2018 nicht mehr zugänglich). http://www.krankheitserfahrungen.de/ (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). http://healthtalk.org/peoples-experiences (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). http://www.dipex.es/index.php/inicio (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). http://www.dipexinternational.org/members/our-members/#CzechRepublic; https://hovor yozdravi.cz/paliativni-pece/o-tematu/ (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). http://www.dipexinternational.org/members/our-members/#Netherlands; http://www.prate novergezondheid.nl/dementie/dementie-voor-mantelzorgers/dementie-verschijnselen-diagnoseen-verloop/laatste-fase-3 (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). http://healthtalk.org/peoples-experiences/dying-bereavement/living-dying/topics (letzter Zugriff 18. 2. 2018)
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Die Bevorzugung chronischer Krankheit dürfte daher stammen, dass besonders hier Informations-, Anpassungs- und Aushandlungsprozesse des Patienten nötig und möglich sind, die Erzählen verlangen und Gegenstand von Erzählen sind. So bezieht sich auch der wohl erste und bisher größte Versuch, Narrativität im staatlichen Gesundheitswesen gezielt für eine Gruppe von außerhalb der westlichen Welt einzusetzen, nämlich Migranten aus Bangladesh in Großbritannien, ganz auf Diabetes.²⁰ Neben diesen offenkundigen, eher praktischen Gründen für eine geringere Präsenz von Sterbenarrativen in der Narrativen Medizin gibt es jedoch auch noch weitere Facetten von möglichen Gründen, deren kurze Betrachtung sich lohnt.
Unterschiedliche Ziele: Narrative Medicine und Sterbenarrative Die Grundfrage der Narrative Medicine lässt sich vielleicht so formulieren: Wie muss sich der Arzt ändern, um den Bedürfnissen der Patienten und Angehörigen gerechter zu werden? Es würde also auch im Hinblick auf Sterben nicht primär darum gehen, wie Sterbende oder Angehörige tatsächlich in der entsprechenden Variationsbreite und situativen Anpassung ihr Sterben erzählen, sondern welche Eigenschaften ärztliches und anderes Gesundheitspersonal entwickeln muss, um hier durch entsprechende Empathie hilfreich sein zu können. Obwohl das Ziel eine patientenzentrierte Medizin ist, bleibt die Narrative Medicine selbst – als ein Aus-, Fort- und Weiterbildungsweg wie als reflexive Ressource – ein arztzentrierter Ansatz. Es ist kein Zufall, dass wir auf beiden Titelbildern, der englischen wie der deutschen Ausgabe des maßgeblichen Sammelbandes zur Narrative Medicine, den zugewandten Arzt von Vorne sehen, den Patienten hingegen eher von hinten.²¹ Es geht um die Verbesserung des clinical encounter, der Begegnung in Arztpraxis oder Krankenhaus, und zwar genauer des Eingehens eines Arztes auf den Patienten, nicht um die umfassenden Entwicklungen eines Kranken oder Sterbenden selbst.²² Damit analysiert die vorhandene Literatur zur Narrative Medicine, wie sich der Arzt durch die Beschäftigung mit Erzählung verändert, entwi-
Trisha Greenhalgh und Anna Collard, Narrative based health care: Sharing stories. A multiprofessional workbook (London: BMJ, 2003). Trisha Greenhalgh und Brian Hurwitz, Hg., Narrative Based Medicine. Dialogue and Discourse in Clinical Practice (London: BMJ, 1998); dies., Hg., Narrative-based medicine – Sprechende Medizin (s. Anm. 5). Z. B. Bradley Lewis, Narrative Medicine and Contemplative Care at the End of Life, in: Journal of Religion and Health 55/1 (2016), 309 – 324.
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ckelt, verbessert. Dass es dem Patienten dabei und dadurch besser als ohne geht, ist das Ziel und wird letztlich vorausgesetzt. Der wichtigste und häufigste Indikator – wenn Evaluationsverfahren überhaupt eingesetzt werden – ist die Besserung des Arztes, nicht des Patienten. Dieser Schwerpunkt ist natürlich auch dem Setting geschuldet, in dem Analysen stattfinden. Narrative Medicine ist explizit Thema, wenn es um Bildungsprozesse bei medizinischem Personal geht.²³ Das gilt für die interaktive Beschäftigung mit Narrativität in den erwähnten britischen Literature & Medicine Groups, in denen sich Angehörige der Gesundheitsberufe zum Lesen von Romanen und Gedichten unter Anleitung treffen, wie für die in Deutschland häufigeren Seminare für Medizinstudierende zu Krankheit und Ärzten im Roman. Diese etwas pointierte Darstellung einer Arztzentrierung gilt selbstverständlich nicht nur für Narrative Medicine selbst, sondern auch für die Medical Humanities im engeren Sinne insgesamt, da sie ja keine empirische Untersuchung von Kranken oder Sterbenden darstellen – sofern sie sich also nicht verwandten Feldern wie der Patientengeschichte verschrieben haben. Die Medical Humanities stützen sich in verschiedenen Ansätzen auf Studien anderer Disziplinen, nicht zuletzt literaturwissenschaftlichen Analysen, aber auch konzeptionelle und empirische Arbeiten der psychologischen Thanatologie oder der Medical Anthropology. Ein Definitionsversuch von Narrative Medicine könnte sein, dass es sich dabei um den Versuch handelt, das, was die Medical Humanities bieten können, in eine ärztliche Haltung und Verhaltensweise umzusetzen, also aus theoretischen Fächern eine Praxis zu gewinnen. Dann würde es aber für eine wissenschaftliche, d. h. auch systematische Perspektive auf Narrative besser sein, sich mit ihrer jeweiligen ursprünglichen Analyse selbst und nicht nur deren späteren praktischen Auswirkungen zu beschäftigen. Das soll deshalb im zweiten Teil dieses Beitrags versucht werden. Zuvor ist aber noch auf einen anderen Entstehungs- oder zumindest Verwendungskontext der Narrative Medicine einzugehen, um deren Desinteresse an Sterben zu erklären.
Martin Konitzer, Narrative based medicine. Ein allgemeinmedizinisches Interaktions- und Forschungsmodell am Beispiel komplementärer Verfahren in der Allgemeinmedizin (Hannover, Med. Hochsch., Habil.-Schr., 2004); Martin Konitzer u. a., Metapher und Narrativ als Instrumente allgemeinmedizinischer Identitätsbildung? – Eine qualitative Studie aus dem 240-Stunden-Kurs, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 97/7 (2003), 503 – 509.
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Narrative als „healing“: biomedizinischen Optimismus einholen und übertreffen Ein schon angesprochener weiterer Grund, warum Sterbenarrative bisher kein selbstverständlicher Schwerpunkt der Narrative Medicine waren, liegt nicht zuletzt im alternativmedizinischen Teil ihrer heterogenen Herkunft und Zielsetzung. In den verschiedenen Definitionen und Ursprungsgeschichten von Narrative Medicine findet sich, insbesondere in populären Medien und eher esoterischen Kreisen, die Beschäftigung mit Heilweisen außerhalb der vergleichsweise jungen biomedizinischen Tradition. Rituale und Wunderheilungen haben hier schon lange als Thema und als Erklärungsmuster für Wirksamkeit eine große Rolle gespielt. Jetzt erstrecken sich Interesse und Deutung auch auf narrative Strukturen, die zum klassischen Untersuchungsgut ethnologischer Forschung gehören. Zu den bekanntesten Vertretern einer solchen narrativ interessierten Esoterik gehört in den USA der Stanford-Absolvent und Arzt Lewis Mehl-Madrona,²⁴ der selbst auch Narrative Medicine zu vertreten beansprucht.²⁵ Die Reihe seiner Buchtitel zur indianischen Medizin kann diese Entwicklungsgeschichte des Interesses von Ritual und Wunder hin zum Narrativen dokumentieren: Es ging zunächst um das Lernen von indianischem Heilwissen, dann um dort zu erlebende Mirakel und schließlich um die dort erwiesene Heilkraft des Erzählens.²⁶ Mehl-Madrona hatte nach eigenen Angaben die Suche nach einer Ergänzung des biomedizinischen Reduktionismus zu Cherokee-Heilern getrieben, von wo aus er sowohl angemessene Psychotherapie für indianische Gruppen als auch alternative Möglichkeiten für Weiße zu entwickeln versuchte. Mehl-Madronas starke Betonung des Begriffs „Healing“ ist nicht nur für diese ethnomedizinische Spielart der medizinischen Beschäftigung mit Narration typisch. Im Bemühen um eine Gleichwertigkeit mit der Biomedizin, deren erklärtes Hauptziel die Heilung und nicht nur die Bewältigung (Coping) von Krankheit darstellt, haben sich nicht wenige Narrationsinteressierte auf die heilungsförderliche Wirkung von Erzählen konzentriert. Tod wäre in dieser Zielsetzung eher
Narrative Medicine Heals Bodies and Souls. Want to heal? Tell your story, Interview by Lorrie Klosterman, from: Chronogram September-October, 2009; http://www.utne.com/mind-and-body/ narrative-medicine-heals-bodies-and-souls.aspx (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). Lewis Mehl-Madrona, The roots of narrative medicine, in: Advances in Mind-Body Medicine 22 (2007), 6 – 10. Ders., Coyote medicine. Lessons from native American healing (New York: Simon & Schuster, 1997; dt.: Geist und Erfolge indianischer Heilung, München: Knauer, 1997); ders., Coyote healing. Miracles in native medicine (Rochester/Vt.: Bear & Co., 2003); ders., Coyote wisdom. The power of story in healing (Rochester/Vt.: Bear & Co., 2005).
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ein Versagen und daher weniger interessant. Obwohl Mehl-Madrona in seiner Beschreibung des indianischen Heilers wie des universitär ausgebildeten Arztes betont, beide hätten es mit „illness, progressing toward recovery or death“²⁷ zu tun, beschäftigt er selbst sich nur mit dem einen von beiden möglichen Ausgängen näher. Ausnahmslos alle seine konkreten, mit Vornamen (Alice, Andrea und Bernard) versehenen Fallgeschichten schwerer Krebserkrankung (Glioblastom bzw. Astrozytom) enden – durch radikale Veränderung der Lebensgeschichte in Form von neuer Frau, neuem Beruf, neuem Kontinent und/oder neuer Spiritualität – in der Heilung oder in langjähriger Überlebenszeit.²⁸ Ziel ist, Heilkraft für das längere Leben zu mobilisieren, nicht das Erleichtern von Sterben. Bezeichnend ist hier auch Mehl-Madronas jüngere Interessenverlagerung: Es geht ihm inzwischen um Selbsttransformation und Neurowissenschaft, um das Überschreiten statt um die Annahme von Begrenzungen.²⁹ In Übersichtsartikeln wird manchmal wegen ihrer Sicht des Menschen, der für sie selbst Geschichte ist, auch die Bestseller-Autorin und Ärztin Rachel Naomi Remen der Narrative Medicine zugeordnet.³⁰ Remen sucht die Erzählungen und alten Weisheiten etwa ihres Großvaters, eines Rabbi, spirituell zu aktualisieren.³¹ Da sie selbst jahrzehntelange Morbus Crohn-Patientin ist, betont sie, dass Medizin häufig – wie in ihrem Fall – keine „cure“ erreicht.³² Aber an dem, was dann ansteht, beschäftigt sie nicht „palliativ“ als Unterschied zu „kurativ“, sondern „healing“. Die Unschärfen der Unterscheidung zwischen „cure“ und „healing“, die beide auf ein (Wieder‐) Ganz-Werden abzielen und für deren Übersetzung das Deutsche zumeist nur das eine Wort „Heilung“ hat, sind kein Zufall. Denn mit „healing“ werden kaum Maßnahmen bei Sterbenden bezeichnet. Es soll sich auf versehrtes Leben in dieser Welt beziehen, nicht auf Abschiednehmen.
Ders., The Nature of Narrative Medicine, in: The Permanente Journal 11/3 (2007), 83 – 86, hier 83. Ebd. Ders., Remapping Your Mind: The Neuroscience of Self-Transformation Through Story (Rochester/Vt.: Bear & Co., 2015). David B. Morris, Narrative Medicines. Challenge and Resistance, in: The Permanente Journal 12/1 (2008), 88 – 96, hier 91. Rachel Naomi Remen, Kitchen Table Wisdom: A Doctor Remembers What’s Real (New York: Riverhead Books, 1996); dies., My grandfather’s blessings. Stories of strength, refuge, and belonging (New York: Riverhead Books, 2000); dies., Foreword to: Christina M. Puchalski and Betty R. Ferrell, Making health care whole. Integrating spirituality into health care (West Conshohocken, PA: Templeton Press, 2010). Rachel Naomi Remen, The power of wholeness, http://www.rachelremen.com/the-power-ofwholeness/ (letzter Zugriff: 18. 2. 2018).
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Die Ausnahmen: Sterben als explizites Thema der Narrative Medicine Dass aber gerade das Tabu-Thema Sterben ein Bereich wäre, in dem die Ansätze der Narrative Medicine besonders nötig und hilfreich wären, wird vereinzelt durchaus gesehen. Die zu überwindenden Widerstände werden in den professionell dominierenden Narrativen ausgemacht: „a hidden curriculum that is based on the foundational narratives about death as a failure of medicine, about dying and caring as someone else’s work and about compassion as emotional interference with science“³³. Diese drei medizinischen Distanzierungsversuche gegenüber dem Sterben – als ärztlichem Versagen, als Aufgabe anderer und als Gefährdung der Wissenschaftlichkeit – lassen sich durch Erzählungen wie mit kaum einem anderen Mittel aufbrechen. Und deshalb gibt es auch gut sichtbare Ausnahmen vom insgesamt geringen Interesse der Narrative Medicine am Sterben. So hat das Aufbaustudium der Columbia University zum M.Sc. in Narrative Medicine, der älteste und sicher renommierteste Studiengang dieser Art, ein eigenes Modul „Narratives of Death, Living & Caring at the End of Life“.³⁴ Auffallend ist an der Formulierung des Titels, dass der Begriff „Dying“ auch hier nicht auftaucht, vielleicht sogar durch die Formulierung „Living […] at the End of Life“ ganz bewusst ersetzt und damit vermieden wird. In der Modulbeschreibung steht er dann jedoch – wie an mehreren weiteren Stellen – gleich im erste Satz: „Death and dying, like birth and birthing, are medical events in modern society.“³⁵ Es ist ausdrücklich die moderne „Medikalisierung“, die Sterben zum medizinischen Thema bzw. Thema dieses Kurses macht, nicht etwa eine ursprüngliche ärztliche Aufgabe. Die Ausrichtung auf das Gesundheitspersonal wird deutlich formuliert: The intention of the course is to bring students to a deeper understanding of their own connection to death and dying, to a stronger connection to the experience of dying for dying people, and to a more caring sensitivity to those who care for others at the end of life. […] By using narrative to better understand our own feelings toward death and dying, as
Marsha Hurst und Craig Irvine, Stories of the End. A Narrative Medicine Curriculum to Reframe Death and Dying, in: Christina Staudt, J. Harold Ellens, Hg., Our Changing Journey to the End: Reshaping Death, Dying, and Grief in America, Bd. 1: New Paths of Engagement (Santa Barbara/Kalifornien: Praeger, 2013), 85 – 100, hier 87. Hurst/Irvine, 87– 88; http://sps.columbia.edu/narrative-medicine/courses#NMEDK4290 (letzter Zugriff: 18. 2. 2018). Ebd.
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well as connecting to the experience of others, we become better clinicians and more effective caregivers.³⁶
Auch insgesamt geht das Erkenntnisinteresse des Moduls weit über das Erleben Sterbender und dessen verbalen Äußerungsformen hinaus: The course explores the meaning of death and its cultural construction in western and nonwestern societies; the definitions of death and the place of the individual at the intersection of physiological, technological, legal, and philosophical interpretations; and the experience of death in the personal and in the public spheres. We use narratives by patients, families, caregivers, and clinicians in different media to explore these dimensions, as well as using secondary sources built on narrative and narrative analysis.
Es scheint also durchaus möglich zu sein, Sterbeerzählungen und daraus zu destillierende Sterbenarrative in der Narrative Medicine schwerpunktmäßig zu nutzen und zu bearbeiten. Allerdings verschiebt sich selbst dann durch das praktische v. a. ärztliche Interesse der Fokus vom Sterbenden auf Fragen wie ärztliche Qualifizierung, Technik und Recht.
2 Sterbenarrative in der Medizin Wenn also die Narrative Medicine selbst aus den genannten Gründen nicht der beste Ort ist, um genügend Sterbenarrative zu finden, kann es aufschlussreicher sein, in der Medizin selbst und den Medical Humanities insgesamt, also dem Anwendungs- und dem Entstehungsfeld der Narrative Medicine, auf Sterbenarrative zu schauen. Dabei hat die Medizin als „praktische Wissenschaft“, die sich im Gegensatz zu den anderen beiden Wissenschaftstypen der „theoretischen“ und der „angewandten Wissenschaft“ der Normen und Ziele ihres Handelns in komplexen sozialen Situationen selbst vergewissern muss,³⁷ zwangsläufig ihre Standardnarrative und Absichten, die auch die Thematisierung von Sterben prägen. Vor diesem älteren Hintergrund und angesichts jüngerer Entwicklungen in der Medizin sind die drei Fragen zu stellen, welche eventuellen, besonderen Formen, Erkenntnisinteressen und situativen Herausforderungen für die Handelnden Narrative des Sterbens in der Medizin insgesamt haben können. Ausgeklammert bleibt hier ganz bewusst die Palliativmedizin, die als eigenes medizinisches
Ebd. Vgl. Wolfgang Wieland, Medizin als praktische Wissenschaft. Kleine medizintheoretische Schriften, hg.v. Rainer Enskat und Alejandro G. Vigo, (Hildesheim: Olms, 2014).
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Fachgebiet zum Sterben noch einmal gegenüber der übrigen Medizin eigene Perspektiven und Diskurse entwickelt hat.
Die Krankenakte als Erzählgattung: stark reduktionistische Narrative Wenn Narrative die Form von Darstellung und Kommunikation der Erfahrungen eines zeitlichen Wandels sind, dann müssten auch die oft sehr reduktionistischen, aber gerade darin auch stark strukturierten medizinisch-professionellen Wiedergaben klinischer Geschehnisse als Erzählungen behandelt werden. Das ginge deutlich über die übliche Beschränkung des Begriffs Erzählung auf die Patienten- oder Angehörigenperspektive oder die individuell-subjektive, ideosynkratische Wahrnehmung eines einzelnen Arztes hinaus. Für entsprechend Sozialisierte kann eine Krankenakte durchaus auch emotionale Qualität haben. Der kundige Leser kann, wenn er etwa zur Vorbereitung einer Ethikberatung den Aktenauszug studiert, nach der Beschreibung von Vorgeschichte und Aufnahmebefund bangen, welche Ergebnisse welche Untersuchung oder Maßnahme hatten, sich über sie freuen oder sie bedauern, überrascht sein und manche Ausgänge als glücklich oder unbefriedigend empfinden. Die „Krankenakte als eine besondere Erzählgattung“ hat auch, allerdings in einer weniger emotionalisierenden Perspektive, bereits Eingang in die Literatur zur Narrativen Medizin gefunden.³⁸ Interessanterweise geschah dies u. a. angesichts der Frage, welche Verluste und möglichen Gewinne mit dem Übergang von der handschriftlichen zur digitalen Patientenakte verbunden sind oder sein können. Solche Fragen einer vermeintlichen Objektivierung und Standardisierung durch Aufzeichnungsmittel, wie sie etwa die Fieberkurve im 19. Jahrhundert darstellte,³⁹ sind als Veränderungen des Krankheitsverständnisses wie der Arzt-Patient-Beziehung schon lange im Blick. Für das Erzählen des Sterbens über die nackte Todesursache hinaus sind Krankenakten historisch bisher besonders öffentlichkeitswirksam zur Rekonstruktion von Krankentötungen verwendet worden, insbesondere im Rahmen des „Aktion T4“ genannten „Euthanasie“-Programms im Nationalsozialismus. Als historische Quelle waren sie dadurch dehumanisierend, bleiben aber auch in anderer Hinsicht ausgesprochen dürr. Insofern gibt es auch gute Gründe, diese mit Steve Kay und Ian Purves, Elektronische Krankenakte und „Geschichtenkram“, in: Greenhalgh, Hurwitz, Hg., Narrative-based Medicine (s. Anm. 5), 225 – 243, hier 227. Volker Hess, Der wohltemperierte Mensch.Wissenschaft und Alltag des Fiebermessens (1850 – 1900) (Frankfurt a.M.: Campus, 2000).
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Abstand häufigste chronologische Aufzeichnung vom Sterben eines Menschen nicht als Sterbeerzählung heranzuziehen. Es sollte ja bei der Thematisierung von Narrativität um Ergänzung und Erweiterung, nicht Bestätigung und Verfestigung dominierender enger Wahrnehmungsweisen in der Medizin gehen.
Phasen und Muster: Wann beginnt und wie verläuft das Sterben? Auch wenn es aus einer klinischen Perspektive ums Sterben geht, spielen Narrative naturgemäß vor allem für die zeitliche Strukturierung von Wahrnehmen und Handeln eine Rolle. Da eine ganz wichtige Funktion von Erzählung ist, durch die Wahl des Anfangs der gesamten Erzählung wie auch einzelner Kapitel Relevanzsetzungen vorzunehmen, muss besondere Aufmerksamkeit der Frage gelten, wann was beginnt. Hier haben sich verschiedene empirische Untersuchungen zu Narrativen dem „Übergang von kausaler zu palliativer Therapie“ gewidmet. Dabei verwenden Studien aus einer britisch-neuseeländischen Arbeitsgruppe die etwas gewöhnungsbedürftige Begrifflichkeit eines Übergangs „von Resilienz zu Akzeptanz“ und konstatieren erhebliche Widerstände.⁴⁰ Als Übergang von „Leben verlängern“ zu „Leben(squalität) verbessern“ ist dies in vielen Zusammenhängen ein zentraler Plot. Auch wenn es schon vor der Entscheidung, es mit einem Sterbenden zu tun zu haben, um Lebensqualität gehen muss, und wenn Palliativmediziner zu Recht betonen, dass auch weiterhin qualitativ anspruchsvolles, wissenschaftsbasiertes und zu den Kernaufgaben des Arztes gehörendes Handeln erfolgt, liegen hier doch einschneidende Veränderungen. Auffallend ist in der Medizin wie in den Medical Humanities die Allgegenwart der Phasen des Sterbens nach Elisabeth Kübler-Ross. Die Idee, dass Sterben eben nicht nur höchst individuell verläuft, sondern bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, ist für Wissenschaftler, die nach Mustern suchen, eingängig und attraktiv. Deshalb erfreut sich ebenso die spätmittelalterliche Ars moriendi hoher Beliebtheit, auch in der Frage ihrer Vergleichbarkeit mit Kübler-Ross. Daran ändert selbst die gelegentlich massive Kritik an ihrem Modell wenig, weil es ja in kulturhistorischer oder literaturwissenschaftlicher Perspektive nicht um die Frage der Übereinstimmung dieser Phasen mit der Realität des Sterbens, sondern die Konzeptualisierung selbst geht.
John I. MacArtney u. a., On resilience and acceptance in the transition to palliative care at the end of life, in: Health (London) 3/19 (2015), 263 – 279; John I. MacArtney u. a., The Liminal and the Parallax: Living and Dying at the End of Life, in: Qualitative Health Research 27/5 (2017), 623 – 633.
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Dass Sterben, sowohl in Erfahrungen als auch Vorstellungen, Mustern folgt, ist auch der philosophischen Reflexion wichtig, wie sie insbesondere in der Medizinischen Anthropologie der Zwischenkriegszeit in die Medizin Eingang fand. Schon Viktor von Weizsäcker warnte bei der Behandlung der Sterbeerfahrung vor der Selbstüberschätzung, dass der Mensch ein „Erlebnis als einmaliges erfährt, als etwas, was nur ihm und nur so und nur diesmal begegnet in unvergleichbarem Zusammentreffen von Außen und Innen“, als „etwas Originelles“⁴¹. Das kann nämlich irreführen, denn „näheres Besinnen zeigt sie verwandt, ja übereinstimmend mit Ausdrucksformen, welche aus der Geschichte der Religionen, Künste, Philosophien gut bekannt und dort großartiger gestaltet worden sind“⁴².
Bewusstlos Sterbende: die Unsicherheiten der Weiterlebenden Ein Charakteristikum unserer Zeit sind Sterbeverläufe, in denen es nicht um ein bewusst erlebtes Sterben geht, sondern die Unsicherheit, ja Hilfslosigkeit der Helfenden angesichts eines bewusstlosen Patienten. Diese Situationen stellen für viele in den Medical Humanities Tätige, die beruflich hauptsächlich nicht in der Palliativmedizin, sondern nur in Form der klinischen Ethikberatung mit Sterbenden zu tun haben, gleichsam den Normalfall dar, da sich beim entscheidungsfähig Sterbenden weitaus seltener medizinethischer Beratungsbedarf in Form eines institutionalisierten ethischen Konsils ergibt. Das Sterben nach längerer Bewusstlosigkeit ist ein häufiges Ergebnis der modernen Intensivmedizin, um das sich recht feste narrative Strukturen ranken. Dazu gehört zunächst die zunehmende Aussichtslosigkeit der Behandlung insgesamt bei verschlechterten Werten und immer mehr lebenserhaltenden Maßnahmen wie Beatmung, Dialyse, Katecholaminperfusor, künstliche Ernährung. Damit wächst die Unsicherheit, ob der Patient dieses Maßnahmenbündel bei solchen Aussichten wirklich noch gewollt hätte. Hieraus ergeben sich schließlich entsprechende Konflikte im Behandlungsteam, mit Angehörigen, Betreuern oder Gerichten. Dieses Sterbenarrativ erscheint bereits als dermaßen standardisiert, dass vor allem etwas abweichende Momente ausdrücklich thematisiert werden, z. B. Konflikte unter den Angehörigen oder das Beharren von Familien auf medizinisch nicht mehr indizierten Maßnahmen. Obwohl solche Situationen des Sterbens Bewusstloser auf der Intensivstation, wie sie sich seit den 1950er Jahren mit der Einführung der maschinellen Be-
GS 9, 610. Ebd.
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atmung entwickelt haben, besonders häufig vorkommen, ist die Unsicherheit gegenüber dem bewusstlos Sterbenden doch kein ausschließliches Phänomen solcher Settings, wie beim Blick auf ethnomedizinische Literatur zu zeigen sein wird.
3 Sterbenarrative in den Medical Humanities Entsprechend der Heterogenität dessen, was zu den Medical Humanities gezählt wird oder sich zählt,⁴³ finden sich hier sehr unterschiedliche Zugangsweisen zum Thema Sterben. Manche Autoren verstehen unter den Medical Humanities alle nicht-naturwissenschaftlichen und nicht-klinischen Fächer der Medizin, also auch konventionelle Medizinsoziologie und Medizinische Psychologie. Letztere sollen in diesem Beitrag jedoch nicht berücksichtigt werden, weil es bei ihnen nicht um geisteswissenschaftliche Methoden und Theorien geht. In der deutschen Lehre der Medizin etabliert, weil in der Approbationsordnung vorgeschrieben, hat sich im Hinblick auf die Medical Humanities der Querschnittsbereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ (GTE). Dieser Querschnittsbereich wird von klassischen medizinhistorischen und -ethischen Herangehensweisen bestimmt. Das entsprechende umfassende Handbuch zu „Sterben und Tod“, das im Innentitel die drei Schlagwörter „Geschichte – Theorie – Ethik“ als Untertitel aufführt und an dem unter den Herausgebern und Autoren überwiegend Angehörige entsprechender Institute beteiligt waren, ist fast ganz in Form einer auf Konzepte abzielenden systematischen Zusammenstellung verfasst.⁴⁴ Der „narrative turn“ kommt dabei allenfalls vereinzelt und bei solchen eher spektakulären Themen wie Menschenopfer oder freiwilliges Opfer des Lebens in Form von Verweisen auf Romanliteratur und Filme zum Tragen.⁴⁵ Differenziert man jedoch die Medical Humanities gemäß den Bezugsdisziplinen und Aufgaben in eher medizinhistorische und -ethische, ethnomedizinische und literarische Bereiche, kommen charakteristische Unterschiede zutage, die den dritten Teil dieses Beitrags strukturieren werden. Dabei sollen jetzt statt eines quantifizierenden Überblicks, wie oft und zentral Sterbeerzählungen in den
Vgl.Walter Bruchhausen, Medical Humanities in Deutschland – komplementäre und kritische Beiträge zur Medizin, Bioethica Forum. Schweizerische Zeitschrift für Biomedizinische Ethik 4 (2011), 135– 142. Héctor Wittwer u. a., Hg., Sterben und Tod: Geschichte, Theorie, Ethik. Ein interdisziplinäres Handbuch (Stuttgart: Metzler, 2010). Zu Spielfilmen und fiktionaler Literatur ebd. 361 (Menschenopfer) und 368 (Freiwilliges Opfer des Lebens).
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einzelnen Fachgebieten vertreten sind, exemplarisch einzelne ausgesuchte Autoren und Texte ausführlicher vorgestellt werden. Nur so kann deutlich werden, welchen spezifischen hermeneutischen Beitrag die jeweiligen Ansätze zum Thema Sterbenarrative zu leisten vermögen, welche Verwendungs- und Interpretationsweisen der Erzählungen sie im Hinblick auf Pragmatik und Semantik bieten.
Ethnomedizin Die eben angesprochene Herausforderung des bewusstlosen Sterbens kann ein Blick in die Ethnomedizin, die als teilweises deutsches Pendant der Medical Anthropology zu den Medical Humanities zu zählen ist, verdeutlichen – und hier im disziplintypischen Modus der Befremdung zusätzliche Dimensionen von narrativen Strukturen herausarbeiten. Denn der Ethnographie als Methode und der Ethnologie als theoretischer Bezugsdisziplin geht es nicht nur (oder auch: nicht mehr) darum, Fremdes als ganz Anderes zu zeigen, wie es vielen Interessen der frühen Kolonialzeit zur Rechtfertigung von Herrschaft oder aber umgekehrt im postkolonialen Kulturrelativismus zur Begründung der Nicht-Einmischung entsprach. Vielmehr will Ethnologie auch die Dialektik von Fremdem und Eigenem bewusst machen, nämlich das verkannte Eigene im vermeintlich Fremden entdecken lassen.⁴⁶ Entsprechend hat in einem Themenheft der deutschsprachigen Zeitschrift für Ethnomedizin zu Tod und Sterben der Psychologie-Professor und Kulturanthropologe Horst Hermann Figge schon in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass es offenkundig medizinisch sinnlose Maßnahmen bei Sterbenden auch in brasilianischen Kultgruppen⁴⁷ oder nach Unfällen ohne professionelles Gesundheitspersonal gibt – ein verstecktes Sterberitual, das sich der anscheinend antrainierten, vermeintlich weniger deprimierenden Formen medizinischer Aktivität bedient. Figge bezieht sich auf eine Erzählung aus einem 1930 verfassten Tagebuch aus der Seefahrt, in der ein durch Schädelzertrümmerung unzweifelhaft tödlich Verletzter noch verschiedenen medizinisch nicht mehr indizierten Formen der Pflege und Laienbehandlung unterzogen wird, wie Waschung, Verbände, Einrenkung, Schienung.⁴⁸ In seiner Interpretation listet Figge dabei – in einer an die
Stefan Hirschauer und Klaus Amann, Hg., Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: dies., Hg., Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997), 7– 52. Horst H. Figge, Funktionen der Therapieversuche in der brasilianischen Umbanda, curare 3 (1980), 159 – 164. Ders., Medizinische Behandlung als Sterberitual, curare Sonderband 4 (1985), 59 – 66.
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Levy-Strauss’sche strukturalistische Mythenanalyse erinnernden Weise – einige Elemente auf, die durch die Struktur der Erzählung ihre eigene und damit in anderen Erzählungen auch anders mögliche Bedeutung bekommen. Die erste Strukturierung ist die Grenzziehung zwischen Arbeit und Ritual, die in der untersuchten Erzählung recht deutlich ist, aber natürlich auch ganz anders verlaufen könnte – und tatsächlich in anderen Erzählweisen auch anders verläuft. Medizinische Maßnahmen gelten gewöhnlich als Arbeit, hingegen Gebete, Beschwörungen und Beerdigung als Ritual (Aus der Perspektive eines beruflich mit Kulthandlungen Betrauten sähe das sicher anders aus, schließlich steckt ja der griechische Wortstamm für Arbeit, wie in ergon oder urgia, auch in Liturgie). Ein bestimmter Kausalitätsbegriff, der physisch von psychisch oder metaphysisch wirksamen Aktivitäten unterscheidet, strukturiert hier die Erzählung in ihrem Übergang vom Machen zum Abschiednehmen. Ein weiterer, gleich mehrfach verortbarer Übergang ist der „vom Hilfsbedürftigen zum Objekt der Hilfe“, also von der Interaktion zum Fall. Damit verbunden ist die Grenze zwischen Person und Sache. Wann und wie wird aus dem menschlichen Gegenüber der Gegenstand Leiche? Bekanntermaßen gibt es Versächlichung schon innerhalb ärztlicher Arbeit am Lebenden, können Wahrnehmen wie Handeln hin und her changieren, besonders sinnfällig zwischen dem Patienten als Gesprächspartner in der Aufklärung und dem narkotisierten Körper während der Operation. Im Sterbeprozess kommt hier die Endgültigkeit eines solchen Wechsels, des Grenzübertritts hinzu. Figges eigene Deutung ist psychodynamisch: Von vornherein stand für alle Beteiligten fest bzw. hätte bei distanzierter Überlegung festgestanden, daß Hilfen irgendwelcher Art nicht mehr möglich waren, daß der Verunglückte als Subjekt, als realer Sozialpartner ausgefallen war, daß demzufolge alle ihre Verhaltensweisen – je nach Sichtweise – der Abreaktion eigener Triebimpulse diente [sic!], irrational war [sic!] oder aber transzendenten Zielen diente [sic!]. Die Verhaltensweisen waren von vornherein nur scheinbar auf ein real erreichbares äußeres Ziel gerichtet, sie waren nicht nur von Notwendigkeiten irgendeiner Art geleitet, sondern unabhängig davon und ausschließlich an tradierten Verhaltensmustern orientiert.⁴⁹
Wenn Figge damals urteilte: „Das medizinisch orientierte Verhalten hatte keinerlei medizinische Funktion“, so wird dies in der Medizinethik heute eher blass unter „futility“ oder „Wegfall der medizinischen Indikation“ diskutiert. Entsprechende Geschichten, gerade auch außerhalb des High-Tech-Settings der Intensivstation, machen weitaus deutlicher, warum solches Verhalten trotzdem stattfindet. So könnte es leichter fallen, sich Ersatzhandlungen einzugestehen bzw. Ebd., 61.
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das Bedürfnis von auch zweckfreiem, aber nicht sinnlosem Tun zu akzeptieren – ob man es nun rituell, magisch oder religiös nennen bzw. deuten will. Die entscheidenden Narrative, verstanden als Strukturen von und in Erzählungen, im Hinblick auf diejenigen, von denen (professionelles) Handeln erwartet wird, sind demnach also fundamentale Transformationen im Status von Handlungen, Zielen und betroffenen Person. Davon gibt es mindestens eine, wenn das Sterben beginnt, und eine andere, wenn es endet. Im Hinblick auf den Sterbenden könnte man die erste Transformation als Aufblühen des Subjekts bezeichnen. Denn seine Wünsche sollen Vorrang vor den bisherigen und üblichen sachlichen Notwendigkeiten bekommen. Das ist auch eine Erklärung dafür, dass die Entscheidung, es ab jetzt mit einem Sterbenden zu tun zu haben, häufig so spät fällt: Sie stört die Routinen.
Medizinische Anthropologie Diese Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität gehört zentral zu dem, was ein narrativer Zugang zusätzlich zu einem rein konzeptuellen zu bieten hat. Als führender Theoretiker des Erzählens in der Medizin hat Viktor von Weizsäcker das erkannt, auch wenn die von ihm erzählten Fallgeschichten keine Sterbenden behandeln. Darin verhielt sich Weizsäcker offenbar noch der medizinischen Gewohnheit getreu, von der schon bei der Vernachlässigung des Sterbens in der Narrative Medicine die Rede war. Doch Weizsäcker wurde trotzdem spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg klar, dass der Zugang zum Patienten über die Krankengeschichte diese Verdrängung nicht mehr erlaubt. So formulierte er in seiner 1951 publizierten Vorlesung Einführung in die Medizinische Anthropologie: „[S]eit Hippokrates (und wahrscheinlich schon vor ihm bei der Trennung von Priester und Arzt) verhält sich die Medizin so, als ob sie den Tod gleichsam ausklammern und ins Gebiet der Religion verweisen könnte. Das kann nun nicht mehr geschehen.“⁵⁰ Gerade weil das Sterben des Patienten eine Grenzüberschreitung in die vermeintlich nur religiös zu konnotierende Sphäre darstellt, ist es relevant. Denn es zeigt der Medizin ihre vernachlässigten Bereiche. Der ganzen Krankengeschichte folgen heißt, auch hier Aufgabenbereiche für Verstehen und Handeln des Arztes zu sehen. Eine jüngere Interpretation des Denkens Weizsäckers formuliert die Konsequenz der Krankengeschichte so: „Eine Medizin, deren Zentrum der erlebte
Viktor von Weizsäcker, Der kranke Mensch. Einführung in die Medizinische Anthropologie (1951), in: ders., Gesammelte Schriften 9 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988) 311– 641, hier 633.
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und erlittene Umgang von Arzt und kranken Menschen ist, […] verliert ihre militante Abwehr gegen Krankheit und Tod.“⁵¹ Trotz einer gewissen eigenen praktischen und faktischen Vernachlässigung des Themas Sterben ist für die Medizinische Anthropologie demnach die Erzählung ein Königsweg zur ärztlichen Auseinandersetzung mit dem Sterben.
Medizinethik Die im erwähnten Handbuch Sterben und Tod sichtbare Ausrichtung auf Konzepte ist eine typische Herangehensweise analytischer Ethik, die in der Untersuchung und Schärfung von Begriffen ihre Hauptaufgabe sieht und seit den 1990er Jahren auch die deutschsprachige Medizinethik weitgehend bestimmt. Trotzdem finden sich – angesichts der üblichen Methode klinischer Fallbesprechungen in Lehre und Fortbildung nicht verwunderlich – gerade in der medizinethischen oder Medizinethik-nahen Literatur zahlreiche Geschichten.⁵² Diese weisen freilich sehr unterschiedliche Text- und Analyseformen auf, die zumeist von medizinischen und moralischen Perspektiven dominiert sind. Die Rolle solcher Fallbeispiele wird in der Ethik kontrovers diskutiert, wobei wiederum philosophische Skepsis gegenüber einer zu starken Betonung des Konkreten formuliert wird.⁵³ Narrative Ethik gehört bisher keineswegs zum Mainstream der Medizin- oder Bioethik.⁵⁴ Sie hat jedoch schon so viel eigene Literatur hervorgebracht, dass sich eine eingehende theoretische Erörterung hier ebenso erübrigt wie verbietet und die Analyse eines Beispiels genügen muss. Weil es bei ethischen Fallbeispielen, insbesondere in der Aus-, Fort- und Weiterbildung, zumeist um offene Situationen gehen soll, in denen die Teilnehmenden alternative Lösungsmöglichkeiten diskutieren, sind tödliche Ausgänge und damit tatsächliches Sterben die Ausnahme.⁵⁵ Sterbeerzählungen bleiben eher selten, entsprechende Narrative scheinen das ethische Urteil kaum in ein Di Rainer-M. E. Jacobi, „Ja, aber nicht so“. Das Erzählen der Krankengeschichte bei Viktor von Weizsäcker, in: Jahrbuch für Literatur und Medizin 3 (2009), 141– 162, hier 147. Anne Hudson Jones, Narrative in medical ethics, in: British Medical Journal 318 (1999), 253 – 256. Bert Heinrichs, Zum Beispiel. Über den methologischen Stellenwert von Fallbeispielen in der Angewandten Ethik, in: Ethik in der Medizin 20 (2008), 40 – 52. Vgl. Walter Lesch, Narrative Ansätze der Bioethik, in: Marcus Düwell und Klaus Steigleder, Hg., Bioethik. Eine Einführung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003), 184– 199. Z. B. Fred Salomon, Hg., Praxisbuch Ethik in der Notfallmedizin: Orientierungshilfen für kritische Entscheidungen (Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2016), 356– 375.
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lemma zu bringen. Eine bereits sichere Unabwendbarkeit des Sterbens erweist sich deshalb als grundsätzlich weniger interessant. Eine gewisse ethische Bedeutung erhalten Narrative jedoch immer noch da, wo Fragen anstehen, wie das bereits begonnene oder absehbare Sterben gestaltet werden soll. Das betrifft heute in Deutschland insbesondere die Themen Einsatz der palliativen Sedierung und ärztliche Suizidassistenz. Hier werden immer wieder von Befürwortern wie Gegnern Geschichten mobilisiert – oder auf die Narrative publizistischer bzw. cineastischer Großereignisse wie den spanischen Film Das Meer in mir verwiesen (Mar adentro, 2004; R.: Alejandro Amenábar). Es geht also bei der Verwendung solcher Geschichten häufig nur oder vorwiegend um Argumentationsmaterial in der Frage, ob und wie Sterben durch Maßnahmen beschleunigt werden soll. Angesprochen ist die Alternative zwischen der früher als „aktive Sterbehilfe“ bzw. juristisch als Tötung mit oder ohne Verlangen bezeichneten Herbeiführung des Todes und der Möglichkeit, „der Natur ihren Lauf zu lassen“, also der früher „passive Sterbehilfe“ genannten Entscheidung zur Unterlassung bestimmter lebenserhaltender Maßnahmen. Diese ansonsten abstrakte Differenz von Tun und Unterlassen wird erst durch entsprechende Geschichten anschaulich. Eine der wenigen ethischen Fallgeschichten von bereits Sterbenden ist die 2006 publizierte Vignette Schön warm zudecken …,⁵⁶ die sich für den Unterricht in Klinischer Ethik eignete. Diese in der Zeitschrift Ethik in der Medizin – dem Organ der deutschen Akademie für Ethik in der Medizin e.V. –, veröffentlichten Fallgeschichten sind aus narratologischer Sicht auch deshalb interessant, weil sie immer von zwei Kommentaren aus möglichst kontroversen Perspektiven gefolgt sind. Sie sind also gerade nicht von Ethikern zur Illustration ihrer eigenen Position ausgewählt oder gar konstruiert. Die Kommentare stellen somit unterschiedliche Interpretationen derselben, schriftlich fixierten Erzählung dar. Sie lassen in häufig unüberbietbarer Deutlichkeit erkennen, wie berufliche, weltanschauliche und doktrinäre Prägung die Rezeption – als notwendigen Teil des Erzählvorgangs – bestimmen können. In der genannten Geschichte geht es um eine 89jährige Patientin, bei der die Hirntod-Diagnostik schon läuft, aber noch nicht abgeschlossen ist, und bis zu deren Abschluss alle intensivmedizinischen Maßnahmen in vollem Umfang weiterlaufen. Das damit unzufriedene Pflegepersonal greift dankbar die beiläufige Bemerkung eines Oberarztes auf, man könne sie ja warm zudecken, was angesichts der entgleisenden Temperaturregulation einen früheren Tod zur Folge hätte. Diese Fallgeschichte ist inzwischen ein historisches Dokument, denn die
Schön warm zudecken …, in: Ethik in der Medizin 18 (2006), 251– 252.
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zwischenzeitliche Fixierung auf den Hirntod als Kriterium für den Abbruch von Beatmung ist einer breiten Akzeptanz anderer Unterlassungsgründe gewichen. Insofern besteht heute kein Bedarf an einem solchen Narrativ mehr. Und die „Auflösung“ des Falls, dass es sich nämlich um die strafbare Verabredung zum gemeinschaftlichen Totschlag handelt, war auch damals weder anspruchsvoll oder originell noch kontrovers. Doch die Kommentare eines als ausgesprochen liberal bekannten Rechtsphilosophen und einer Pflegewissenschaftlerin bieten aufschlussreiche, wenngleich ebenfalls wenig überraschende Interpretationen. Dem Juristen ging es in seinem bekannten, utilitaristisch inspirierten Kampf gegen das Verbot „aktiver Sterbehilfe“ darum, die angebliche Absurdität einer Unterscheidung zwischen Tun und Lassen aufzuweisen.⁵⁷ Dagegen war die Vertreterin der Pflege von der für sie himmelschreienden Absurdität des Gegensatzes zwischen dem auch menschlich belastenden intensivmedizinischen Aufwand bis zum Schluss einerseits und der allgemeinen Einigkeit, die Patientin solle sterben (dürfen), andererseits betroffen.⁵⁸ Dieselbe Geschichte stützte sehr divergente, fast gegensätzliche moralische Interessen und Positionen.
Literatur und Medizin Während also in der Ethik, die eher unmittelbar handlungs- und entscheidungsorientiert ist, Sterbeerzählungen eher selten auftauchen, gehören sie im Bereich Literatur und Medizin, der sich vorwiegend mit fiktionaler Literatur beschäftigt, zum festen Themenkanon. In deutsch- wie englischsprachigen Leselisten für Ärzte ist z. B. Tolstojs Der Tod des Iwan Iljitsch regelmäßig vertreten. Auch die entsprechende Oxford-Anthologie, die von einem der Pioniere der Literatur & Medicine Groups und Glasgower Moralphilosophen herausgegeben wurde, bringt Sterbeerzählungen aus oder zu literarischen Klassikern: Simone de Beauvoirs Une mort très douce (1964), das den Krebstod ihrer Mutter in einer Pariser Klinik beschreibt; James Edward Austen-Leighs Memoir of Jane Austen (1869), wo zuletzt das Sterben seiner Tante erzählt wird; Florence Nightingales Notes on Nursing (1960) zu ihren Erfahrungen mit Sterbenden; Charles Dickens’ Bleak House (1852/53) über die recht hilflosen letzten Minuten eines der Protagonisten; Edward Morgan Forsters Howard’s End (1910) mit sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen von drei Schwestern beim Sterben ihrer Tante. Typisch ist
Reinhard Merkel, Kommentar II, in: Ethik in der Medizin 18 (2006), 256 – 260. Ruth Schwerdt, Kommentar I, in: Ethik in der Medizin 18 (2006), 252– 256.
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im britischen Modell der Verzicht auf eine autoritative Interpretation. Die Anthologie stellt sogar ausdrücklich für den Teil Last Things fest: „The richness, the complexity, and the simplicity of the passages must be allowed to speak for themselves.“⁵⁹ Im deutschsprachigen Jahrbuch Literatur und Medizin, gemeinsam herausgegeben von einer Literaturwissenschaftlerin und einem Medizinhistoriker, geht es hingegen gerade um die Interpretationen von v. a. Romanen und Poesie durch literaturwissenschaftlich oder medizinhistorisch ausgebildete Autoren. Das Sterben kommt nur in den beiden ersten der bisher sieben Bände explizit als Gegenstand in einzelnen Aufsatztiteln vor, nämlich in Texten zu Tuberkulose⁶⁰ und zu sterbenden Kindern.⁶¹ Doch unvermeidlich ist es auch in anderen Beiträgen präsent, insbesondere gleich zweifach zu Thomas Manns Novelle Die Betrogene über Eierstockkrebs⁶² und bei anderen tödlich endenden Krankheitsbildern. Im etwas früheren Lexikon Literatur und Medizin derselben Herausgeber fehlt ein eigener Artikel „Sterben“; ein Lemma „Sterbehilfe“ verweist auf „Euthanasie“ und der Beitrag „Tod“ eines Kulturwissenschaftlers behandelt neben der Konzentration auf den Tod selbst vereinzelte Aspekte des Sterbens mit.⁶³ Die nicht bereits durch klinische oder ethische Fragen vorstrukturierte Lektüre fiktionaler und biographischer Sterbeerzählungen stellt offenbar eine vielversprechende, d. h. noch ausbaufähige Möglichkeit dar, im Rahmen der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung und für andere Gesundheitsberufe Impulse für die ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Sterben zu geben. Dass sie gerade nicht unmittelbare Antworten auf die Debatten um Sterbehilfe und Palliativmedizin gibt, sondern eine Art Komplexitätssteigerung darstellen kann, mag sie aus der Perspektive unilinearer Effizienz diskreditieren. Im Sinne der Medical Humantities kann sie aber auch genau dadurch zur Humanisierung des Sterbens in der Medizin beitragen.
Robert Silcock Downie, The healing arts. An Oxford illustrated anthology (Oxford: Oxford University Press, 1994), 215. Ortrun Riha, Ein schöner Tod? Die lyrische Inszenierung der Tuberkulose, in: JLM 1 (1970), 85 – 93. Dietrich von Engelhardt, Das kranke und sterbende Kind im Medium der Literatur der Neuzeit, in: JLM 2 (2009), 155 – 176. Katrin Max, Unheilbar verliebt. Zur Deutung von Krankheit und Liebe in Thomas Manns Erzählung „Die Betrogene“ und dem Roman „Der Zauberberg“, in: Jahrbuch Literatur & Medizin 3 (2009), 13 – 38; Verena Kammandel, Krebs als Ironie der Natur. Zu Thomas Manns Novelle „Die Betrogene“, in: Jahrbuch Literatur & Medizin 4 (2010), 13 – 28. Bettina von Jagow und Florian Steger, Hg., Literatur und Medizin. Ein Lexikon (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005); ebd. 736; O.B. (Olaf Briese), Tod, ebd. 783 – 787.
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4 Zum Abschluss Nachdem mangels eines ausreichenden Korpus von Sterbeerzählungen in der Narrative Medicine selbst die Betrachtungsbasis auf die Medizin insgesamt und schließlich die Medical Humanities, als theoretisches Feld einer materialen Grundlegung der Narrative Medicine, ausgeweitet und verschoben wurde, ist auch hier der Befund im Hinblick auf eine Analyse von Sterbenarrativen nicht ausgesprochen ergiebig. Das gilt insbesondere, wenn man nach Ego-Dokumenten sucht. Das Sterben ist zwar als Thema in allen Bereichen, die zu den Medical Humanities gezählt werden, präsent, jedoch in der charakteristischen, sehr ausgeprägten Divergenz der Ziele und Methoden dieser Bereiche. Erwartungsgemäß spielen Narrative auch bei den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften in empirischen Fächern eine größere Rolle als in philosophischen, in individuumszentrierten Ansätzen mehr als in der Vogelschau auf Wissenschaft und Gesellschaft. Die größte Bedeutung haben Sterbeerzählungen in den Medical Humanities da, wo es nicht um die Gewinnung von unmittelbar relevanten Maximen für Denken und Handeln, sondern um Reflexion zur Entwicklung von Persönlichkeit und Interaktionsfähigkeit geht. Ein wichtiger Grund, warum die Thematik des Sterbens in den Medical Humanities insgesamt marginal bleibt, ist ihre überzeugende Abdeckung durch Palliativmedizin und Hospizbewegung. Hier hatten die Fragen nach Sinn und Deutung auch schon früher und ohne die Bewegung der Medical Humanities ihren Platz. Vielleicht wegen dieser bereits erfolgten Etablierung eines umfassend integrierenden Ansatzes wird in der Palliativmedizin offenbar weniger Bedarf für Narrativität als z. B. in der zeitärmeren hausärztlichen Praxis gesehen. Für die übergreifende Frage nach Differenzen und Dynamiken in Sterbeerzählungen und -narrativen kann der Blick auf Narrative Medicine, Medizin insgesamt und Medical Humanities eine charakteristische Verzweckung und darin begründete eigentümliche Selektionen, Präsentationen und Interpretationen zeigen. Sprachpragmatisch wie semantisch stehen die Handlungsmöglichkeiten des ärztlichen Dienstes oder anderen Gesundheitspersonals im Vordergrund, nämlich die Frage, wie man sich am Lebensende in vermeintlichen ethischen Dilemmata, in Unsicherheiten über die eigene Rolle und über den oft nur noch grenzwertigen Nutzen der Medizin verhalten soll. Solche Dauerfragen medizinischen Handelns werden entweder – häufig mit entsprechenden Vorentscheidungen – von Außen an die Geschichten herangetragen, wobei sie dann deren Deutung prägen, oder bestimmen bereits die Auswahl der Erzählungen. Zu diesen determinierenden Faktoren gehört auch die Erwartung, das Durchleben literarischer Modelle durch die Lektüre von Erzählungen könne Angehörigen der Ge-
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sundheitsberufe eine Erweiterung ihrer intellektuellen, kommunikativen und emotionalen Kompetenzen am Lebensende eröffnen. Mit diesen recht transparenten Funktionen, die das Erzählen in der Medizin und ihren Reflexions- und Ausbildungsinstanzen hat oder haben soll, ist viel Stoff für Fragen nach Anspruch und Wirklichkeit, Instrumentalisierung und Zweckfreiheit, Deutungsoffenheit und disziplinärer Schließung im Umgang mit Erzählungen und Narrative vom/am Lebensende geboten.
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Erzählen am Lebensende im Kontext von Palliative Care We live and dream in narrative, daydream in narrative, remember, anticipate, hope, despair, believe, doubt, plan, revise, criticize, construct, gossip, learn, hate and love by narrative. In order to live we make up stories about ourselves and others, about the personal as well as the social past and future. Barbara Hardy¹
Wir Menschen denken in Geschichten. Erzählen ist Teil unserer Kultur. Durch Erzählen strukturieren und verarbeiten wir täglich das, was um uns und mit uns geschieht. Erlebte Geschichten bilden Erfahrung und formen unser Selbst mit. In Momenten der Transition, im Übergang in eine neue Lebensphase, bei Veränderungen der eigenen Identität, aber auch bei einschneidenden oder sogar bedrohlichen Ereignissen kann das Erzählen helfen, Erlebnisse einzuordnen und ihnen Sinn zu geben. Dabei „machen“ Geschichten Sinn. Indem wir unsere eigene Geschichte erzählen, stellen wir Verbindungen zu unserer Umgebung her, wir konstruieren unser soziales Selbst. Umgekehrt lernen wir einen Menschen durch seine selbsterzählte, unverwechselbare Geschichte als Individuum kennen. Über Erzählungen fällt es uns als Zuhörer oft leichter, die komplexen Bedeutungszusammenhänge zu verstehen, die sich aus Sicht des Erzählenden ergeben: wie es zu einem Ereignis gekommen ist, wie es erlebt wird, welche Bedürfnisse, Werte tangiert werden und welche Bedeutung dies alles für Entscheidungen und die weitere Lebensplanung hat. Beim Erzählen entsteht zwischen Erzählendem und Zuhörendem ein dichter Kommunikationsraum, in dem Ereignisse, eigene oder kollektive Ziele, Ideale und kulturelle Werte verhandelt werden und der unter anderem geprägt ist von gegenseitigen Erwartungen und Rollenverständnissen. Hydén und Brockmeier² fassen zusammen, dass das Erzählen und Verhandeln der eigenen Geschichte im Kontext von Krankheit Sinn vermittelt und eine Verbindung zwischen dem Selbst, der eigenen Krankheit und Gebrechlichkeit, der sozialen Gemeinschaft, der Gesellschaft und Kultur herstellt. Oder anders gesagt: Kulturell relevante Informationen sind in Geschichten eingebettet und ermögli-
Barbara Hardy, The Collected Essays of Barbara Hardy (Brighton, UK: Harvester, 1987), 1. Lars-Christer Hydén und Jens Brockmeier, Introduction. From the Retold to the Performed Story, in: dies., Hg., Health, Illness, and Culture. Broken Narratives (New York: Routledge, 2008), 1– 15. https://doi.org/10.1515/9783110600247-015
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chen ein holistisches, kulturell sensitives Verständnis für den Erzählenden, seine Bedürfnisse und seine soziale Umgebung.³ In der modernen Schulmedizin ist der Stellenwert des Erzählens und Erzählenlassens bekannt. Nach sporadischen Publikationen in den 1960er-Jahren⁴ gewannen Geschichten von oder über Betroffene nach den 1980er-Jahren wachsende Bedeutung. Medizin, Philosophie, Soziologie, Anthropologie und zahlreiche andere wissenschaftliche Disziplinen lieferten damit Gegenentwürfe zur biologistischen, kontextfreien Sichtweise.⁵ Aus ihnen leiteten sich neue Modelle in der Psychiatrie, den Pflegewissenschaften, der familienorientierten Hausarztmedizin ab, aber auch die Fachrichtungen der Psychosomatik und das moderne Verständnis von Palliative Care. Biografie und Identität wurden als wichtige Mitbedingungen für das menschliche Erleben und Handeln angesehen. Ihre Exploration erlangte wissenschaftliche Anerkennung.⁶ Die narrativ basierte Medizin wurde als komplementärer Ansatz zur evidenzbasierten Medizin verstanden.⁷ Das wachsende Verständnis für biografische, soziale und kultursensitive Kontexte legte den Weg frei für den inzwischen eingeleiteten Perspektivenwechsel von der standardisierten Therapie akuter Erkrankungen hin zum patientenzentrierten Management chronischer Krankheiten.⁸ Arthur W. Frank, Five Dramas of Illness, in: Perspectives in Biology and Medicine 50/3 (2007), 379 – 394; Arthur W. Frank, The Necessity and Dangers of Illness Narratives, Especially at the End of Life, in: Brian Hurwitz, Trisha Greenhalgh und Vieda Skultans, Hg., Narrative Research in Health and Illness (London, UK: Blackwell, 2004), 73 – 94; Arthur W. Frank, The Wounded Storyteller. Body, Illness, and Ethics (Chicago: University of Chicago Press, 1997), 75 – 96; Yasmin Gunaratnam, Narrative Interviews and Research, in: Yasmin Gunaratnam und David Oliviere, Hg., Narrative and Stories in Health Care. Illness, Dying and Bereavment (Oxford: OUP, 2009), 47– 61; Hydén und Brockmeier, Introduction (s. Anm. 2); Arthur Kleinman, The Illness Narratives. Suffering, Healing, and the Human Condition (New York: Basic Books, 1988). Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss, Time for Dying (Chicago: Aldine Transaction, 1968); Cicely Saunders, Selected Writings 1958 – 2004 (Oxford: OUP, 2006). Donald E. Polkinghorne, Narrative Knowing and Human Sciences (Albany, NY: State University of New York Press, 1988); Sayantani DasGupta, Craig Irvine und Maura Spiegel, The Possibilities of Narrative Care Medicine: „Giving Sorrow Words“, in:Yasmin Gunaratnam und David Oliviere, Hg., Narrative and Stories in Health Care. Illness, Dying and Bereavement (Oxford: OUP, 2009), 33 – 46. Gabriele Lucius-Hoehne, Narration in der Psychosomatik, 2016. Referat anlässlich des Symposiums zum 60. Geburtstag von Prof. Alexander Kiss, Basel. Trisha Greenhalgh, Narrative based medicine in an evidence based world, in: Trisha Greenhalgh und Brian Hurwitz, Hg, Narrative based Medicine. Dialogue and Discourse in Clinical Practice (London: BMJ Books, 1998), 247– 265. Gareth Williams, The Genesis of Chronic Illness. Narrative Re-construction, in: Sociology of Health and Illness 6/2 (1984), 175 – 200; Nigel Rapport und Joanna Overing, Social and Cultural Anthropology. The Key Concepts (London: Routledge, 2000); Rita Charon, Narrative Medicine: Form, Function, and Ethics, in: Annals of Internal Medicine 134 (2001), 85 – 87; Rita Charon und
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Obwohl die Standardwerke zur narrativen Medizin den Bereich Lebensende selten explizit erwähnen, ist dieser Ansatz auch in der Palliative Care und End of Life Care gut bekannt. So entwickelte beispielsweise die Pflegefachfrau und spätere Ärztin Cicely Saunders ihre Konzepte der Palliative Care seit den 1960erJahren mithilfe von Patientengeschichten. Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross stützte ihre Thesen zum Lebensende und ihr Modell der Sterbephasen ab auf Interviews mit Sterbenden.⁹ Die Linguistin und Ärztin Rita Charon prägte in den 2000er-Jahren den Begriff der Narrativen Medizin wesentlich mit und zeigte deren ethische Bedeutung im Kontext schwerer und chronischer Krankheit auf.¹⁰ Die Soziologin Yasmin Gunaratnam befasst sich seit Jahren mit den Narrativen schwer kranker Menschen, darunter mit denen von Migrantinnen und Migranten.¹¹ Im Konzept der „Dignity Therapy“ von Chochinov wird die Narration des Betroffenen in den Mittelpunkt einer gemeinsamen Krankheitsverarbeitung und Therapieplanung gestellt.¹² Biografiearbeit ist in der heutigen Palliative Care ein anerkannter therapeutischer Ansatz, in dem der Erzählende Vergangenes einordnet, seine Ressourcen ergründet und Wünsche für die Zukunft formuliert. Dieses Kapitel soll einen Einblick in die Narrative von schwerkranken oder sterbenden Menschen geben, die im Rahmen einer grossen wissenschaftlichen Interviewstudie zu ihrem Leben und Sterben befragt wurden. Es soll aufzeigen, wie Narrative gestaltet, welche Inhalte und Botschaften transportiert werden; ob Besonderheiten gegenüber anderen Krankheitsnarrativen auffallen; welche Bedeutung das Erzählen für die Betroffenen hat; ob es kritische, „gefährliche“ Momente des Erzählens gibt; was zwischen Erzähler und Zuhörer geschieht – bewusst, unbewusst, gewollt und ungewollt.
Martha Montello, Hg., Stories Matter: The Role of Narrative in Medical Ethics (New York: Routledge, 2002); Trisha Greenhalgh, Anna Collard, Narrative Based Healthcare. Sharing Stories – A Multiprofessional Workbook (London: BMJ Books, 2003); Katherine Nelson, Construction of the Cultural Self in Early Narratives, in: Colette Daiute und Cynthia Lightfoot, Hg., Narrative Analysis: Studying the Development of Individuals in Society (Thousand Oaks, CA: Sage, 2004), 87– 107. Elisabeth Kübler-Ross, On Death and Dying (London: Tavistock Publications, 1970); Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden (Stuttgart: Kreuz-Verlag, 1971). Charon, Narrative Medicine (s. Anm. 8); Charon und Montello, Hg., Stories Matter (s. Anm. 8); Rita Charon, Narrative Medicine: Honoring the Stories of Illness (New York: OUP, 2006). Yasmin Gunaratnam, Death and the Migrant. Bodies, Borders, Care (London: Bloomsbury Academic, 2013). Harvey M. Chochinov et al., Dignity Therapy. A Novel Psychotherapeutic Intervention for Patients Near the End of Life, in: Journal of Clinical Oncology 23 (2005), 5520 – 5525; Joanne M. Hall und Jill Powell, Understanding the Person through Narrative, in: Nursing Research and Practice (2011), Art.-ID 293837, 10 S.
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Zuvor werden einige formale und kommunikative Aspekte und Modelle vorgestellt, die beim Erzählen im palliativmedizinischen Kontext wichtig erscheinen.
1 Definitionen, Aspekte und Modelle von Erzählformen 1.1 Was ist ein Narrativ? Ein Narrativ ist ein kommunikatives Ereignis. Jemand erzählt aus seiner Sicht und Erinnerung eine Geschichte. Aus zeitlich unterscheidbaren Ereignissen wird ein bedeutsames, kohärentes Ganzes zusammengefügt, ein sogenannter Plot. Er wird mit persönlichen und kulturellen Informationen des Erzählers geschmückt und wendet sich an eine bestimmte Zuhörerschaft. Narrative werden nicht zufällig konstruiert. Botschaften und deren Wirkung auf die Zuhörer hängen ganz massgeblich davon ab, wie eine Geschichte konstruiert wird: – „Narratives are not innocent.“¹³. So hängt der Plot von persönlichen Motiven des Erzählers ab, dessen rhetorischen Fähigkeiten, aber auch davon, wo er erzählt wird, für wen und mit welchen Absichten.¹⁴ Damit können Schilderungen zum gleichen Ereignis unterschiedlich ausfallen und mit einer anderen Bedeutung und Botschaft versehen werden. Wir kennen dies im medizinischen Alltag gut: Der Patient erzählt der Ärztin während der Visite, dass er sich nach der letzten Krise gut erholt habe. Der Pflegenden erzählt er während der morgendlichen Pflege, dass diese kürzliche Krise grosse Ängste in ihm ausgelöst haben und er bei einem zweiten Mal lieber sterben würde. Begleitumstände wie eine Hospitalisation oder belastende Therapien können die Art und die Inhalte des Narrativs ebenfalls beeinflussen.¹⁵ Narrative können einfach deskriptiv oder aber erklärend sein.¹⁶ Neben Sprache können auch andere
Kleinman, The Illness Narratives (s. Anm. 3). Ebd.; Charon und Montello, Hg., Stories Matter (s. Anm. 8); Catherine Kohler Riessman, Performing Identities in Illness Narrative. Masculinity and Multiple Sclerosis, in: Qualitative Research 3 (2003), 5 – 33; Cecilia Vindrola-Padros und Ginger A. Johnson, The Narrated, Nonnarrated, and the Disnarrated, in: Journal of Qualitative Health Research 24/11 (2014), 1603 – 1611. David Edvardsson, Birgit Holritz Rasmussen und Catherine Kohler Riessman, Ward Atmospheres of Horror and Healing. A Comparative Analysis of Narrative, in: Health. An Interdisciplinary Journal for the Social Study of Health, Illness and Medicine 7 (2003), 377– 396. Danielle Groleau, Allan Young und Laurence J. Kirmayer, The McGill Illness Narrative Interview (MINI). An interview schedule to elicit meanings and modes of reasoning related to illness
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Ausdrucksformen genutzt werden, wie Musik, Malerei oder Körpersprache. Auch Piercings und Tattoos sind Narrative. Obwohl sie nicht so einfach zu entschlüsseln sind, „erzählen“ sie oft von wichtigen Lebensereignissen.
1.2 Was ist eine „Story“? Erzählungen bestehen einerseits aus dem, was Hilde Lindemann mit Chronik („chronicles“) bezeichnet, also Schilderungen verbriefter Ereignisse, wie Geburtstag, Tag der Einschulung, Berufswahl oder Heirat.¹⁷ Paley und Eva unterscheiden sie von „Stories“.¹⁸ Diese erscheinen als eigenständige, in sich abgeschlossene Geschichten mit eigenem Plot. Ihre Erzählform löst beim Zuhörer Emotionen aus, und sie können mit fiktiven Anteilen ausgeschmückt sein. Beispiel wäre die bewegte Erzählung, wie jemand lange Zeit wegen seiner diffusen Beschwerden nicht ernst genommen wurde, „von Arzt zu Arzt rannte“ und dann nach vielen aufreibenden Untersuchungen eine vernichtende Diagnose erfahren musste. Die Zuhörer sind erschüttert. Stories sind wichtig. Sie legen wichtige Werte, Haltungen, Wünsche und Interpretationen des Erzählenden offen. Wir erzählen diese Geschichten, wenn uns etwas zugestossen ist, uns etwas verletzt hat, wir vor einer grossen Herausforderung standen (die dann gut oder schlecht bewältigt wurde) und nutzen sie als Hilfsmittel für eine Sinngebung („meaning-making assistance“)¹⁹. Manchmal schmücken wir die Geschichte dann aus, beschönigen Dinge oder lassen sie weg. Wenn wir Dinge schon nicht ungeschehen machen können, wollen wir wenigstens jemanden haben, der mitversteht („co-understanding“).
experience, in: Transcultural Psychiatry 43 (2006), 671– 691; Polkinghorne, Narrative Knowing and Human Sciences (s. Anm. 5). Hilde Lindemann Nelson, Damaged Identities, Narrative Repair (Ithaca: Cornell University Press, 2001); Hilde Lindemann, Holding and Letting Go. The Social Practice of Personal Identities (New York: OUP, 2012). John Paley und Gail Eva, Narrative Vigilance. The Analysis of Stories in Health Care, in: Nursing Philosophy. An International Journal for Healthcare Professionals 6/2 (2004), 83 – 97. Richard Hovey und Jim Paul, Healing, the Patient Narrative-Story and the Medical Practitioner. A Relationship to Enhance Care for the Chronically Ill Patient, in: International Journal of Qualitative Methods 6/4 (2007), 53 – 66.
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1.3 Wiederkehrende Erzählmuster („Storylines“) Ann Hawkins identifizierte in ihren Studies in Pathography archetypische, also transkulturelle und transhistorische Metaphern, moderne Mythen, die das Verständnis von Krankheit beeinflussen – bei den Betroffenen, aber auch in der Gesellschaft, Literatur, Kunst, in den Medien und in der Medizin.²⁰ Sie beschreibt den Mythos der Reise, des Kampfes, von Tod und Auferstehung, in späteren Arbeiten auch denjenigen der umweltassoziierten Krankheit, ideologische Mythen (wie gesundheitsbezogene Achtsamkeit, Fortschrittsglaube) und interessanterweise auch den Mythos von Narrativen. Sie wollte damit sagen, dass Narrative zwar authentisch wirken und darum populär sind, dass unser Erinnerungsvermögen in Wirklichkeit aber oft überfordert und ihr Wahrheitsgehalt daher klein ist. Teilweise hilfreich, teils aber auch für den Einzelnen belastend („enabling – disabling“), prägen diese „Mythen“ bis heute das Krankheitsverständnis der westlichen Medizin mit. Arthur Frank, Anthropologe und selbst Krebsbetroffener, zeichnet in seinem Buch The Wounded Storyteller ²¹ ein detailliertes Bild darüber, wie das Selbst, der Körper, die Krankheit und deren Bedeutung für die Zukunft in Beziehung gebracht werden können. Er machte drei typische Plots („storylines“) aus, die sich in unterschiedlicher Form in vielen Krankheitsnarrativen finden lassen, nämlich „Restitution“, „Chaos“ und „Suche“. „Restitution“ handelt von der zeitlich limitierten Krankheit oder Störung, die überwunden werden kann und bei welcher der Erzähler inzwischen zu seiner früheren Lebensform zurückgefunden hat. Dabei wurde seine Identität nicht verletzt. In einer „Chaos“-Geschichte wird das bisherige Leben radikal unterbrochen, in seiner Existenz bedroht, die Beschwerden sind schwer, die Zukunft unvorhersehbar. Der dritte Plot befasst sich mit der „Suche“ („Quest“), bei der die Identität durch die Erkrankung tiefgreifend verändert wurde und sich der Betroffene auf der Suche nach einer neuen Identität befindet. Auch inhaltlich machte Frank wiederkehrende erzählerische Schwerpunktthemen aus: 1. Genesis: wie oder warum die Erkrankung aus Sicht des Betroffenen entstanden ist, 2. emotionale Arbeit, 3. Angst und Verlust, wozu auch Angst vor der Zukunft gehört,
Anne Hunsaker Hawkins, Reconstructing Illness. Studies in Pathography (West Lafayette: Purdue University Press, 1993/2006). Frank, The Wounded Storyteller (s. Anm. 3).
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das Drama der Bedeutung – wie man mit dieser Krankheit überhaupt noch weiterleben kann und das Drama um das eigene Selbst – wie Trauer, Abschied und Verlust ertragen werden können.
1.4 Narrative Wahrheit („narrative truth“) Narrative können Unterlassungen, Fehler und richtig Erfundenes enthalten. Letzteres wurde eingehend als „false memory“-Phänomen bei krebskranken Kindern und Erwachsenen mit traumatischen Kindheitserlebnissen untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Schilderungen für den Erzählenden wahr sind und für ihn Bedeutung haben.²² Ausschlaggebend ist, dass der Erzählende dies selbst so erlebt haben will und dass er durch seine Schilderung die Kontrolle über den Plot behalten kann. Somit liefern Narrative nicht unbedingt historische Fakten, sondern Einsichten in die Bedeutungen, Ansichten und Erwartungen für die Zukunft beziehungsweise in das, was den Erzähler emotional umtreibt.²³ Ganz pointiert können Narrative auch als rekonstruierte Vergangenheit gesehen werden, mit welcher der Erzählende seine Einsichten und Erfahrungen an andere weitergibt oder mit denen er sich einem „Wunsch-Ich“ nähert. Auch das Nichterzählte („the nonnarrated“) verdient Aufmerksamkeit. Es kann mit Gedächtnisproblemen zusammenhängen, beispielsweise bei einer Demenz, oder die Situation fällt aus Erzählersicht unter die Schwelle der Wichtigkeit. Ein bestimmtes Ereignis kann aber auch aus Scham- oder Schuldgefühlen verschwiegen werden, beispielsweise bei Alkoholsucht, selbstverschuldetem Verpassen einer Diagnose oder bei Erfahrung von Missbrauch. Erlebtes kann verzerrt wiedergegeben werden, indem es heruntergespielt, erhöht oder in einen anderen Kontext gesetzt wird („the disnarrated“). In gewissem Mass geben wir den Dingen beim Erzählen immer eine persönliche Bedeutung. Liebevolle Korrekturen der Realität sind normal, beispielsweise um Spannung zu erzeugen oder um Sinnzusammenhänge in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn Dinge herausgestrichen werden, ist dies leichter erkennbar. Im Kontext von Krankheit, Sterben und Tod, in dem so vieles unaussprechlich erscheint, ist es jedoch genauso wichtig zu erkennen, wo Ereignisse oder Erlebtes
Johanna Shapiro, Illness Narratives. Reliability, Authenticity and the Empathic Witness, in: Medical Humanities 37/2 (2011), 68 – 72; Mike Bury, Illness Narratives. Fact or Fiction, in: Sociology of Health and Illness 23/3 (2001), 263 – 285. Hall und Powell, Understanding the Person through Narrative (s. Anm. 12); Vindrola-Padros und Johnson, The Narrated, Nonnarrated, and the Disnarrated (s. Anm. 14).
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heruntergespielt oder in einen „unverfänglicheren“ Zusammenhang gestellt werden. So beschreibt Riessman, dass sich Krankheitsnarrative oft um das soziale Leiden oder den Verlust von Kontrolle und Handlungsraum drehen und weniger um das Ungleichgewicht in Beziehungen – dies, obwohl Beziehungen eine herausragende Rolle spielen und die betreuenden Angehörigen eine entscheidende und mächtige „Gatekeeper“-Rolle haben.²⁴ Wie unten detailliert beschrieben, konnten wir Ähnliches bei unseren Studienpatienten beobachten. So schien das Gefühl, zur Last zu fallen, für viele Patienten und auch Angehörige ein grosses und vielschichtiges Thema zu sein und gehörte zu den Motivationen für oder gegen einen Sterbewunsch. Dies wurde von den Betroffenen jedoch kaum je direkt ausgesprochen. Kaum jemand sagte spontan: „Ich fühle mich als Last für andere.“ Die Verlust- oder Versagensängste, welche die Patienten bei sich selber spürten oder aber bei den anderen annahmen, wurden erst in einem weiteren Kontext angesprochen oder mit Themen verknüpft wie Autonomieverlust oder Verlust an Lebensqualität.
1.5 Die Ko-Konstruktion von Narrativen Jemandem die eigene Geschichte zu erzählen ist immer auch eine Einladung, zuzuhören, Erfahrungen zu teilen und zu bewerten. Das Erzählen als kommunikatives Handeln kann jedoch in unterschiedlichen sozialen Konstellationen und mit wechselnder Deutungshoheit stattfinden. Nicht immer ist den Erzählenden ihr Gegenüber bekannt, und nicht immer behalten sie die Kontrolle über den Plot. Typische Beispiele sozialer Konstellationen sind: 1. Geschichten, die man als Zuhörer über Betroffene wiedergibt, etwa Einträge von Therapeuten in Krankenakten oder nacherzählte Patientengeschichten wie diejenigen Oliver Sacks’.²⁵ 2. Narrative, die im Rahmen von Interviews erzählt werden; diese sind durch die Fragen der Interviewer strukturiert und finden meistens im Rahmen von Forschungsprojekten statt. Ein therapeutisches Setting besteht explizit nicht. 3. Narrative, die ein Betroffener einer Vertrauensperson oder einem Therapeuten erzählt. Der Erzähler erwartet, dass seine persönliche Erzählung miteinander verhandelt wird und in die weitere Behandlung oder Begleitung einfliesst.
Catherine Kohler Riessman, Narrative Methods for the Human Sciences (Thousand Oaks, CA: Sage, 2008). Oliver Sacks, The Man Who Mistook His Wife for a Hat (New York: Simon & Schuster, 1998).
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Narrative, die von Betroffenen erzählt werden, ohne dass sie die einzelnen Adressaten sehen oder kennen, beispielsweise, wenn sie über ihre Geschichte ein Buch schreiben, einen Film drehen, ihre Geschichte ins Netz stellen oder sich in einem Chatraum offenbaren.
Stehen Erzähler und Zuhörer in einem direkten Austausch, entsteht eine unmittelbare Ko-Konstruktion der erzählten Geschichte. In einem diskursiven Ansatz treffen zwei subjektive Meinungen aufeinander und schaffen einen dritten Raum, in welchem durch das Erzählen neue Erkenntnisse gewonnen werden können.²⁶ Dies gilt nicht nur für den Zuhörenden, sondern auch für den Sprechenden selbst, der mit dem Erzählen seine eigene Geschichte evaluiert. So wird eine Geschichte „ein Mal erzählt, aber zwei Male gehört“²⁷: einmal von den Zuhörenden und einmal von den Sprechenden. Verhandelt werden eigene oder kollektive Ziele, Ideale und kulturelle Werte. Wie diese Ko-Konstruktion ausfällt, ist von zahlreichen Faktoren abhängig: von den unmittelbaren Umständen, dem Ort des Zusammenseins und der Interaktionen zwischen den Beteiligten. Beide Seiten bringen eine Biografie, Erfahrungen, soziokulturelle Prägungen, Rollen und Erwartungen mit, beide können durch das Erzählte emotional berührt werden, Reaktionen können sich im anderen spiegeln. So hat schon das aufmerksame Zuhören einen interventionellen Charakter. Dies gilt auch im Rahmen von Interviewsituationen. Nicht nur die gestellten Fragen intervenieren (das tun sie natürlich offensichtlich), sondern auch die Anwesenheit der Ohren und Augen der Interviewenden, die eine bestimmte Aufmerksamkeit einführen. Sie schaffen bis zu einem gewissen Mass eine kokonstruierte Wirklichkeit, auch wenn sich die Interviewer um eine grösstmögliche Abstinenz bemühen.
2 Ergebnisse aus der Interviewstudie 2.1 Ziele und Aufbau der Studie Im Rahmen einer grossen Interviewstudie, die zwischen 2009 und 2016 stattfand, konnten wir bei 62 Menschen mit weit fortgeschrittenen Tumor- und Nicht-Tumorerkrankungen Einblick in ihre Vorstellungen und Wünsche zum eigenen Le Roy Schafer, Listening in Psychoanalysis, in: Narrative 13/3 (2005), 271– 280; Kathy Charmaz, Constructing Grounded Theory, 2. Aufl. (Los Angeles: Sage, 2006). Lars-Christer Hydén, Illness and Narrative, in: Sociology of Health and Illness 1/1 (1997), 48 – 69.
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ben, ihrer Endlichkeit und dem Sterben gewinnen.²⁸ Wir wollten wissen, was schwer kranke Menschen meinen, wenn sie sagen, dass sie sterben wollen: Welche Absichten sie diesbezüglich haben, welche Gründe, Werte und Vorstellungen zugrunde liegen, wie sich die Wünsche über die Zeit verändern und welche Bedeutung der soziale Kontext hat. Die ausführlichen Interviews erlaubten aber auch Einblicke, was Menschen angesichts ihres Lebensendes überhaupt erzählen, wie sie es erzählen und welche Bedeutung dies für sie selbst und im interpersonellen und soziokulturellen Kontext haben kann.²⁹
2.2 Die Lebenssituation der interviewten Patientinnen und Patienten Die interviewten Patientinnen und Patienten lebten zu Hause, in einem Altersoder Pflegeheim, oder sie waren in einem Akutspital oder Hospiz hospitalisiert. Die meisten waren durch ihre Erkrankungen trotz palliativmedizinischer Versorgung mittel bis schwer eingeschränkt. Sie litten unter körperlichen und psychischen Beschwerden (Schmerzen, Atemnot, Übelkeit, Angst, depressive Stimmung) oder Einschränkungen (Lähmungen, Abhängigkeit von Sonden,
Doppelstudie „Terminally ill patients’ wish to die“ (2009 – 2016). Dr. med. Heike Gudat (CoLeitung), Prof. Christoph Rehmann-Sutter (Co-Leitung), Dr. phil. Kathrin Ohnsorge und (ab 2013) lic. theol. Nina Streeck. Interview-basierte Fallstudien an 30 Tumorpatienten und 32 Patienten mit Nicht-Tumorerkrankungen: davon 11 Menschen mit Organversagen (bspw. terminale Herzinsuffizienz, Nierenversagen, COPD), 10 Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen (Amyotrophe Lateralsklerose und Multiple Sklerose) und 11 mehrfachkranke Betagte („Frailty“). Detaillierte Beschreibung von Setting und Methode in: Kathrin Ohnsorge, Christoph Rehmann-Sutter, Heike Gudat, What a Wish to Die Can Mean: reasons, meanings and functions of wishes to die, reported from 30 qualitative case studies of terminally ill cancer patients in palliative care, in: BMC Palliative Care 13/38 (2014). http://www.biomedcentral.com/1472- 684X/13/38 (letzter Zugriff: 20.01. 2017). Ohnsorge et al., Intentions in Wishes to Die, in: Psycho-Oncology 23 (2014), 1021– 1026; Ohnsorge et al., What a Wish to Die Can Mean (s. Anm. 29); Kathrin Ohnsorge, Heike Gudat, Guy Widdershoven, Christoph Rehmann-Sutter, ‚Ambivalence‘ at the End of Life. How to Understand Patients’ Wishes Ethically, in: Nursing Ethics 19/5 (2012), 629 – 641; Christoph Rehmann-Sutter, Heike Gudat, Kathrin Ohnsorge, Hg., The Patient’s Wish to Die. Research, Ethics, and Palliative Care (Oxford: Oxford University Press, 2015); Christoph Rehmann-Sutter, „Ich möchte jetzt sterben“ – über Sterbewünsche am Lebensende, in: Thorsten Moos, Christina Schües und Christoph Rehmann-Sutter, Hg., Randzonen des Willens (Frankfurt a.M.: Lang, 2015). Kathrin Ohnsorge, Christoph Rehmann-Sutter, Nina Streeck, Guy Widdershoven, Heike Gudat, Was bedeutet es, das eigene Sterben zu „akzeptieren“? Ergebnisse aus einer qualitativen Studie mit 62 Palliativpatienten, in: Zeitschrift für Palliativmedizin, 2017 [zur Publikation angenommen].
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Sauerstoffgabe). Bei manchen waren die Beziehungen zu den Angehörigen wegen der hohen Pflegeabhängigkeit belastet, oder sie hegten Sorgen betreffend ihrer Angehörigen, der Finanzen oder der zukünftigen Versorgungssituation. Bei den meisten Tumorpatienten fanden die Interviews in der letzten Lebensphase statt, bis hin zu wenigen Tagen vor dem Tod. Bei den Nicht-Tumorpatienten war dies seltener der Fall, bedingt durch die schwer einschätzbare Prognose³⁰ oder weil Interviews wegen Verwirrtheit, Bewusstseinseintrübung oder lähmungsbedingtem Sprechverlust (bspw. bei ALS) nicht mehr durchgeführt werden konnten.
2.3 Wie erzählten die Betroffenen? Motivationen, Einstieg in die Gespräche und Bewältigung der Interviews Die Patienten wurden von ihren Behandelnden angefragt, „über ihre Einstellung zum Leben, ihrer Endlichkeit und ihrem Sterben“ zu erzählen. Viele Patienten äusserten im Vorgespräch Bedenken, dazu in einer „wissenschaftlichen Befragung“ kompetent Auskunft geben zu können. Gleichzeitig zeigten sie ein erkennbares Bedürfnis, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Manche stimmten zu in der Hoffnung, durch ein Gespräch etwas für sich selbst klären zu können oder aber, um einen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Bei den meisten Interviewten legten sich die Bedenken rasch. Mit der Einstiegsfrage „Wie geht es Ihnen im Moment?“ begaben sie sich mitten in ihre eigene Geschichte. Beginnend mit den aktuellen Beschwerden schlugen sie in den ersten Minuten oft einen Bogen zu den Aspekten, die sie am meisten beschäftigten. Einige der wichtigsten Aspekte werden im Folgenden dargestellt.
Sterbewünsche Viele Patienten hatten sich eingehend mit ihrer Krankheitssituation beschäftigt und stellten sich Fragen zum Weiterleben. Wie unmittelbar das Sterbethema aufgegriffen wurde, veranschaulichen die ersten Sätze eines Patienteninterviews: Barney Glaser und Anselm Strauss, Time for Dying (Chicago: Aldine Transaction, 1968); June R. Lunney, Joanne Lynn, Daniel J. Foley, Steven Lipson und Jack M. Guralnik, Patterns of Functional Decline at the End of Life, in: JAMA 289 (2003), 2387– 2392; Scott Murray, Marilyn Kendall, Kristy Boyd und Aziz Sheikh, Illness Trajectories and Palliative Care, in: BMJ 330 (2005), 1007– 1011.
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I: Als Eingangsfrage möchte ich Sie fragen, wie es Ihnen momentan gerade geht. P: Schauen Sie, mir geht es eben zu gut. Ich kann nicht sterben, [lacht] es geht mir zu gut. Ich habe keine Schmerzen, nichts. Das muss ich auch nicht haben, das möchte ich auch nicht unbedingt. Aber ich warte jetzt schon so lange auf den Tod. (77jähriger Patient mit Lungenkarzinom, Interview 11 Tage vor seinem Tod)
Schon mit den ersten Worten bringt der Patient sein bevorstehendes Lebensende ins Spiel. Er tut dies mit grosser Selbstverständlichkeit und Offenheit – nicht unbedingt, weil er nicht mehr leben will, sondern weil das Reden über Sterben und Tod ein selbstverständlicher Teil seiner gedanklichen Welt ist. Die Interviews machten deutlich, dass Sterbewünsche komplexe, dynamische Konstrukte sind, deren Konstellation und Bedeutung nur durch die Narration des Betroffenen verstanden werden können. Oft bestanden verschiedene, unterschiedlich intensive Wünsche nebeneinander. Sie konnten sich widersprechen, bei den Betroffenen Gefühle von Ambivalenz auslösen, mussten dies aber nicht: Also dann die erste Zeit, wo, wo, wo ich so, also wirklich, ich bin da seelenbetäubt gewesen („seelebetäubt bin i gsi“). […] Ich hab’ mich aus / rein aus sicherheits-technischen Gründen hab’ ich mich bei Exit angemeldet, wenn ich die Notbremse ziehen wollte. […] Ich bin nicht suizidal. Allein die Vorstellung lässt mich schaudern. Und das stimmt für mich mit meiner Lebensphilosophie nicht überein, das zu machen. Und nicht aus irgendwelchen moralischen oder religiösen Gründen, sondern … ne-e! Also, ich hab’ einfach das Gefühl, die Natur wird das bestimmen. (Patientin mit Brustkrebs, 55 Jahre, wollte leben, 3 Jahre vor ihrem Tod)
Mit dieser Patientin konnten wir vier lange Interviews führen. Es war ihr ein Bedürfnis, uns ihre Gedanken zu ihrer Krankheitsgeschichte, ihren Erlebnissen und Erkenntnissen mitzuteilen. Sie erlebte dies als emotionale Arbeit, aber auch als Erleichterung und als Form eines persönlichen Vermächtnisses. Sie sprach in einem klangvollen Berner Dialekt und fand sprachliche Eigenkreationen, die das Transkribieren ins Schriftdeutsche bisweilen anspruchsvoll machten. Einige Beispiele für ihre bildhaften Beschreibungen waren: „seelebetäubt“, „dahisärbele“, „pur luteri Angst“, „schmärzglähmt“, „vor Schmärze chochet“, „i ha cheni Lamälle meh“ (ich habe eine dünne Haut bekommen), „inbetween-Kontakt“ (zur aufgedrängten Begleitung durch einen Psychiater, der keinen Zugang zu ihr fand). Im oben zitierten Ausschnitt aus dem ersten Interview beschreibt sie, wie sie unter dem „Diagnoseschock“ verschiedene, sich widersprechende Handlungsmöglichkeiten abwägt. Die bildhafte Sprache lässt uns Zuhörende das „Gewitter der Gefühle“ regelrecht miterleben. Sterbewünsche beinhalten verschiedene Absichten („intentions“). Manche Patientinnen und Patienten wünschen das Sterben herbei, wollen es aber nicht beschleunigen. Manche wollen, dürfen es aber nicht beschleunigen, beispiels-
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weise aus moralischen Gründen. Andere haben den festen Wunsch oder in diesem Fall den Willen, das Sterben zu beschleunigen und entsprechende Massnahmen einzuleiten. Dies kann beinhalten, lebenserhaltende Behandlungen abzusetzen oder darauf zu verzichten, aufzuhören zu essen, einen assistierten Suizid zu organisieren und anderes. Sterbewünsche beinhalten also weitaus mehr als den Wunsch, das Sterben zu beschleunigen („wish to hasten death“). Es ist weder ein linearer Prozess, sich das Sterben erst ein bisschen zu wünschen und später beschleunigen zu wollen, noch lässt die Absicht allein Rückschlüsse auf den Leidensdruck der betroffenen Person zu. Menschen, die das Sterben herbeisehnen, dies aber aus moralischen Gründen nicht dürfen, können ebenso leiden wie Menschen, die eigentlich gerne weitergelebt hätten, aber das Sterben wegen der zunehmenden Abhängigkeit oder Symptomlast aktiv beschleunigen wollen. Als ich jung war, habe ich einmal gedacht, also so vielleicht mit 20 oder 30, habe ich gedacht, wenn ich einmal Krebs bekommen würde, dann würde ich mich erschiessen. Aber heute denke ich das gar nicht mehr. Ich mache das nicht. Auch aus ethischen Gründen nicht und auch wegen meiner Frau, wegen meinen Angehörigen. Meine Frau hat gesagt, das wäre das Schlimmste für mich, wenn du das machen würdest. Aber das kommt nicht in Frage. Aber ich habe nichts dagegen, wenn das ein wenig schneller geht. (Patient mit Gallengangkarzinom, 86 Jahre, rund 3 Monate vor seinem Tod)
Anhand der Interviews konnten wir ein Modell entwickeln, dass zwischen Absichten („intentions“), Gründen („reasons“), Haltungen/Werten („meanings“), Funktionen („functions“) und sozialen Interaktionen unterscheidet (siehe Abbildung 1). Das Modell soll in der Praxis helfen, Sterbewünsche aufzuschlüsseln, ihre Bedeutung für die Betroffenen besser zu verstehen und die Kommunikation zu verfeinern, dies auch, indem unrichtige Vorannahmen durch eine kontextgerechte Analyse relativiert werden.³¹ Tumorerkrankungen sind auch heute noch mit dem Image der leidvollen, tödlichen Krankheit behaftet, obwohl dies für viele Tumorarten so gar nicht mehr stimmt. Ähnlich gilt die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) als „Krankheit der tausend Abschiede“, weil die fortschreitende Muskellähmung zu einer schweren Pflegeabhängigkeit führt und sich Betroffene wegen Mimik- und Stimmverlust nicht mehr mitteilen können. Die mittlere Lebenserwartung beträgt 5 Jahre, kurative Ansätze bestehen bisher keine. Das Stigma „Krebs“ und „ALS“ löst immer auch die Konfrontation mit dem Sterbenmüssen aus. Hingegen lernen Menschen
Vgl. Ohnsorge et al., ‚Ambivalence‘ at the End of Life (s. Anm. 29); Ohnsorge et al., Intentions in Wishes to Die (s. Anm. 30); Ohnsorge et al., What a Wish to Die Can Mean (s. Anm. 29).
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Interaktionen mit dem sozialen Umfeld Gründe Reasons Haltungen Meanings
Sterbewunsch Lebenswunsch
Absicht Intention
Funktionen Functions Warum?
Was?
Abb. 1. Bild zur eigenen Krankheit
mit Organversagen ihre Erkrankung als „instabilen Lebensumstand“ kennen, der trotz wiederkehrender, schwerer Krisen immer wieder stabilisiert werden kann. Die Betroffenen ordnen ihre Erkrankung nur selten als lebensbedrohlich ein, obwohl sie oft unter erheblichen Symptomen und Einschränkungen leiden. In diesem Sinn äusserten sich auch die Studienpatienten. Ein Studienpatient mit terminaler Organerkrankung, selbst Arzt gewesen, drückte es so aus: I: Können Sie sich für die Zukunft eine Situation vorstellen, in der Sie sagen, jetzt möchte ich nicht mehr weiterleben? P: Ja, ich denke vor allem, wenn ich irgendwie ein Krebsleiden bekommen würde. Das habe ich bis jetzt nicht. […] Das wäre für mich eine Katastrophe! I: Bei Ihrer Krankheit ist das nicht so? P: Nein, nein, nein. I: Was ist da anders? P: Ich weiss nicht, das ist einfach meine Einstellung. Wissen Sie, es gibt einfach so Sachen, da hat man einfach einen Horror davor, und das kann man nicht überwinden. (Patient mit schwerer Herz- und Lungenkrankheit, 82 Jahre, Interview knapp 2 Monate vor seinem Tod)
Ambivalenz In instabilen Lebenssituationen ist das Nebeneinander widersprüchlicher Wünsche normal. So denken unheilbar kranke Menschen intensiv über ihre Bedürfnisse und die Vor- und Nachteile ihrer Handlungsmöglichkeiten nach. Sie wägen ab zwischen aggressiven Behandlungen, Therapiealternativen, Abwarten oder Therapieverzicht. Behandeln vermag möglicherweise das Leben zu verlängern,
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macht aber auch Angst vor Komplikationen, zusätzlichem Leiden oder Kontrollverlust. Zuwarten oder Verzichten bewahrt vor belastenden Therapien, Zeit im Spital und ergibt vielleicht mehr Lebensqualität und Leben in der vertrauten Umgebung, führt aber vielleicht auch zu einem früheren Tod. Wenn Behandlungen belastend sind und nicht sicher zu Lebensverlängerung und ausreichender Lebensqualität führen, wenn Betroffene therapiemüde sind, dann ist dies ein sehr schwieriges Abwägen. Oft stehen schwer vereinbare Wünsche nebeneinander. So wollen Betroffene weiterleben, aber keine belastenden Behandlungen über sich ergehen lassen. Sie leiden unter den Einschränkungen ihrer Krankheit und möchten deswegen eigentlich nicht mehr leben, aber das Zusammensein mit der Familie verschafft ihnen immer wieder Inseln, in denen sie sich das Weiterleben wünschen. Dieses Nebeneinander fand sich auch bei vielen unserer Studienpatienten. Ihre Schilderungen offenbarten komplexe Entscheidungszusammenhänge, die mit der eigenen Situation zu tun hatten, aber auch auf ihrem Verständnis für die Situation der Angehörigen beruhte. Betroffene erlebten dabei nicht unbedingt das Gefühl von Ambivalenz oder dass moralische Vorstellungen in Spannung standen, wie folgendes Beispiel zeigt: P: Das, nur so, was ich so sagen kann, man stirbt. Und man wäre vielleicht froh, wenn das vorüber ist, die Türe zu machen kann, das Kapitel abgeschlossen hat. I: Hmhm. P: Aber richtig zu. […] Der ist schon viel da, der Gedanke. I: Aber habe ich Sie jetzt richtig verstanden: Sie wären froh, wenn die Tür schon zu wäre? P: Nein, nein, Die kann ruhig noch offen sein […] Man hat auch immer wieder das Gefühl, vielleicht findet man noch etwas, mit dem man das Schloss aufmachen kann. Und dass es dann wieder in Ordnung ist. (Patient mit Prostatakarzinom, 68 Jahre, 2 Wochen vor dem Tod)
Dieser Patient hegte keinen offensichtlichen Sterbewunsch, aber er imaginierte immer wieder, wie es wäre zu sterben und welche guten Gründe es dafür geben könnte. Er benutzte dazu erst ein eher statisches Bild von einem Kapitel, das beendet wird (und nicht mehr geöffnet werden kann). Dann nimmt er das angebotene Bild der Türen auf, die man auf- und zuschliessen kann. Aktuell entscheidet er sich dann doch lieber für die Tür, die sich noch einmal zum Leben öffnet. In den Studieninterviews kamen verschiedene widersprüchliche Wünsche zum eigenen Leben und Sterben häufig vor. Die Aussagen der Betroffenen konnten nur durch ein vertieftes Verständnis der Narration eingeordnet werden. Anhand zweier Patientengeschichten haben wir aufgezeigt, wie schnell widersprüchliche Aussagen von den Behandelnden negativ gewertet oder pathologi-
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siert werden können, wenn ihnen die Zeit für eine fundierte Auseinandersetzung mit der Patientensituation fehlt.³²
Akzeptanz Für die Studienpatienten hatte das Thema der Akzeptanz eine hohe Bedeutung. Sie unterschieden zwischen Akzeptieren-Können und -Wollen. Ihr AkzeptierenKönnen erlebten sie als labiles Gleichgewicht, das immer wieder verloren gehen konnte und neu gewonnen werden musste. Betroffene beschrieben verschiedene Gründe und Motivationen, warum sie das Sterben akzeptieren wollten: Akzeptieren und Loslassen als Hilfe, sich auf das Sterben vorzubereiten; Akzeptieren als Teil des guten Sterbens oder als generelle Lebenseinstellung und Tugend; Akzeptieren des (irdischen) Lebensendes aufgrund spiritueller Vorstellungen; Akzeptieren, um etwas Unausweichliches aushalten zu können. Manchen verschaffte das Akzeptieren wieder Handlungsraum, um sich aktiv gegenüber einer auferlegten Situation verhalten zu können. Akzeptieren war häufig verbunden mit normativen Forderungen, die entweder an sich selbst gestellt, anderen gegenüber erhoben oder durch das soziale Umfeld an die Betroffenen herangetragen wurden. „Nicht-Akzeptieren“ war nicht unbedingt mit „Verdrängen“ gleichzusetzen. Patienten, die sich für das Leben-Wollen entschieden, verknüpften dies mit einer positiven Werteentscheidung und nicht mit einem Nicht-Wahrhaben-Wollen.
Zur Last fallen Das Gefühl, zur Last zu fallen, ist auf einen Beziehungskontext bezogen. In den Interviews erschien es als eines der grossen Themen. Über die Hälfte der Patienten erwähnte spontan Aspekte zu diesem Thema, dann erst wurde es durch die Interviewenden vertieft. Meistens bestand eine Interaktion zwischen Patient und Angehörigen, manchmal auch mit professionellen Betreuenden. Es beinhaltete ein komplexes Zusammenspiel aus Wahrnehmungen, Wertvorstellungen, gegenseitigen Annahmen (über die oft nicht miteinander gesprochen wurde) und Verhaltensweisen. Patienten, aber auch Angehörige äusserten in diesem Zusammenhang Emotionen wie Angst, Schuld, Scham, Wut, Selbstzweifel oder Enttäuschung. Wichtig ist aber, dass genauso Liebe, Fürsorge und Besorgnis für die anderen mitschwangen.
Ohnsorge et al., ‚Ambivalence‘ at the End of Life (s. Anm. 29).
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Patienten entwickelten Strategien, um Angehörige vor Gefühlen wie Scham, Angst und Sorge zu bewahren. So verheimlichten sie Beschwerden, vermieden belastende Gespräche mit ihren Angehörigen, gingen ins Pflegeheim oder in ein Hospiz, verzichteten auf Therapien oder gingen neue ein: Ich bin ja natürlich noch glücklich, dass ich nicht in einer Institution bin, sondern zu Hause. Aber das ist jetzt zu Ende. […] und dann merkte ich, jetzt wird das zu viel für diese Frau. Sie will / sie fühlt sich überfordert. Sie ist – anders als in einem Spital – nicht für eine Schicht sondern für 24 Stunden zuständig. Während so vielen Jahren hat mich die gleiche Frau rund um die Uhr betreut. Nun gut, ich war ja nicht schwer krank, ich war nicht krank, ich war nur schwach. Aber das ist doch, he / für sie war das eine zu grosse Belastung. Und dann haben wir beschlossen, jetzt gehe ich nicht mehr zurück. (Mann, 98 Jahre, Frailty) Dass ich nur noch hinüberschlafen möchte. Sie weiss es zwar, aber für sie ist es wahnsinnig … Wenn ihre Liebe nicht so gross wäre (brüchige Stimme), hätte ich keine Chemo gemacht. (Mann, 77 Jahre, mit Lungenkarzinom)
Obwohl etliche Beziehungen durch die Krankheitssituation belastet waren, fiel uns auf, dass nur ganz wenige Patienten explizit sagten, „ich fühle mich als Last“. Meistens wurden Teilaspekte erwähnt oder Geschichten erzählt, die passiert waren und von welchen man auf das Gefühl der Scham oder Sorge, zur Last zu fallen, rückschliessen konnte. Umgekehrt schienen Angehörige unter allen Umständen vermeiden zu wollen, bei den Patienten das Gefühl aufkommen zu lassen, für sie eine Last zu sein: Im ersten Moment dachte ich „oh nein“, aber dann habe ich ihn gewaschen und parat gemacht, dass alles wieder in Ordnung ist, und das war ihm dann nirgends recht. Er hat dann auch geweint und gesagt: „Ja es ist Zeit, dass ich bald gehen kann.“ Dann habe ich gesagt: „Sag das ja nie mehr. Das ist kein Grund!“ (Ehefrau eines Patienten mit ALS, 62 Jahre)
Der oben erwähnte 62jährige Patient litt an einer rasch fortschreitenden ALS. Er konnte bis wenige Tage vor seinem Tod zu Hause bleiben. Möglich war dies durch seine praktisch veranlagte Ehefrau, die gegenüber Familie und Freunden offen über die Erkrankung sprach, bei den unzähligen kleinen Verschlechterung immer wieder Lösungen fand, sich aber auch gut helfen liess. Bei seinen zunehmenden Lähmungen und dem Sprachverlust wurde sie zu seinem „Sprachrohr“. Er nahm ihre liebevollen Bemühungen dankbar an, verzweifelte aber immer mehr an seiner wachsenden Pflegeabhängigkeit. Sie nahm in diesen Momenten sein Leiden wahr und sah sich in der Verantwortung, seine negativen Gefühle auszuräumen. Das obenstehende Zitat fängt einen dieser Momente ein. Ihr Ehemann hatte zum ersten Mal unwillkürlich Urin verloren, es war der Beginn seiner Inkontinenz.
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Das Thema „Zur Last fallen“ zeigte deutlich auf, wie wichtig das Erzählen ist, um die persönlichen Konstellationen, Konflikte, moralische Vorstellungen und Strategien zu verstehen – nicht nur, weil die Sinnzusammenhänge ganz verschiedene Richtungen aufweisen konnten (Abhängigkeit/Liebe), sondern auch, weil vieles gar nicht, verzerrt oder in scheinbar anderen Kontexten erzählt wurde („the nonnarrated and disnarrated“). Es zeigte sich, wie wichtig es ist, den Patienten und ihren Begleitern Unterstützung anzubieten, dass man aber auch beachten muss, welchen Sinn diese Gefühle in den moralischen Vorstellungen der Betroffenen machen.
2.3 Wie verhandelten Patienten ihre Situation? Storylines In den Krankheitsnarrativen der interviewten Patientinnen und Patienten fanden sich die „Storylines“ wieder, die Arthur Frank beschrieben hat (s.o.)³³: Im Vordergrund stand das von unheilbarer Krankheit bedrohte Leben, das von grossen körperlichen und emotionalen Einschränkungen, Beziehungsverlusten und Ängsten vor der Zukunft geprägt war („Chaos“). Auch mit der Erkenntnis, unheilbar krank zu sein, gelang es manchen Patienten, sich Räume zu verschaffen, in denen sie sich als unversehrt erlebten. Manche Betroffene verdrängten ihre fortgeschrittene bedrohliche Erkrankung auch oder schilderten sie mehr als chronischen Zustand, bei dem leider immer wieder Krisen auftraten, die aber glücklicherweise bewältigt werden konnten („Restitution“). Manchmal schilderten Betroffene, durch die Krankheitserfahrung besonderen Zugang zu ihrer Spiritualität oder zu neuen Erkenntnissen gefunden zu haben („Quest“). Für die Studienpatienten bedeutete das Erzählen emotionale Arbeit. Es war ein Akt des Trauerns um ein unversehrtes Leben, aus dem sie herausgefallen waren. Sie erzählten in einfachen Worten, aber eindringlich von Verlusten und von dem, was sie bis vor Kurzem noch vor dem freien Fall bewahrt hatte (Frank), jetzt aber auch schon wieder weggegeben werden musste. Hoffnungen bezogen sich oft auf die familiäre Situation, die Trauer der Angehörigen und die durch die eigene Pflegebedürftigkeit gesetzten Grenzen. Viele Interviewte vermittelten ihre Haltungen oder moralischen Vorstellungen über beispielhafte Geschichten, die sie selbst erlebt hatten oder die ihre Lebenssituation widerspiegelten. Viele Patienten – vor allem Tumorbetroffene –
Vgl. Frank, Five Dramas of Illness (s. Anm. 3).
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hatten sich über ihr Leben, ihre Endlichkeit, das Sterben, den Sinn ihres Lebens immer und immer wieder Gedanken gemacht. Erschütternderweise gaben manche Patienten an, zum ersten Mal überhaupt jemandem „die ganze Geschichte“ erzählt zu haben, dies auch nach jahrelanger Krankheit.
Sprechen als Bedürfnis Vielen Betroffenen war das Sprechen ein spürbares Bedürfnis. Sie breiteten ihre Biografie, Krankheitsgeschichte und ihre Erlebnisse vor den Interviewerinnen aus, teilten mit ihnen belastende oder sogar beschämende Gedanken, offenbarten sehr persönliche Ideen oder sprachen von schwierigen Entscheidungssituationen, in denen sie scheiterten. Umgekehrt schmückten sie biografische Daten mit bewegenden Geschichten aus, erzählten abgeklärt von eigentlich schwierigen Familiengeschichten oder überdeckten gekonnt die traurige Realität einer langjährigen Suchterkrankung. Viele Patienten vermittelten in einer einfachen Alltagssprache, was sie beschäftigte. Eher wenige waren sprachgewandt und schilderten ihre Situation detailreich. Der Erzählfluss war teilweise durch körperliche Schwäche oder Kurzatmigkeit unterbrochen, Erinnerungen erschienen lückenhaft, die Reihenfolge verschiedener Ereignisse blieb manchmal uneindeutig. In Schlüsselmomenten, wenn Betroffene tief in ihr Erleben eintauchten oder wenn es um wichtige Lebensfragen ging, verlangsamte sich der Redefluss oft, es entstanden grössere Sprechpausen. Während der Gespräche kamen Emotionen auf, wie Trauer, Angst, Verzweiflung, Wut und Enttäuschung, aber auch Freude, Zufriedenheit und Stolz. Kein Interview musste wegen der emotionalen Belastung abgebrochen werden. Einzig ein Patient erlebte das Interview rückblickend als belastend, da er sich beim Erzählen ganz unerwartet an ein bislang verdrängtes Kindheitstrauma erinnerte. Umgekehrt erlebten sehr viele Patienten die Interviews als Zeichen der Wertschätzung und teilweise als klärend. Einige Interviews dauerten auf Wunsch der Patienten länger als die vorgesehene Stunde. Somit stellten die Interviews trotz unserer grösstmöglichen Zurückhaltung eine Intervention dar.
Kommunikationsräume Obwohl das Setting eines Forschungsprojekts eine grösstmögliche emotionale Zurückhaltung der Interviewer vorsieht, entstanden dichte Kommunikationsräume und Interaktionen zwischen Erzählenden und Zuhörenden. Die Interviewten schienen sich bei ihrem Gegenüber zu vergewissern, ob ihre Geschichte ver-
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standen wurde und auch ob sie gutgeheissen wurde. Die Interviewten achteten aufmerksam auf Reaktionen.
Verstanden werden wollen Für die Patienten war es wichtig, die Kontrolle über den Plot ihrer Geschichte zu behalten. Sie wollten ihre Erfahrungen, Wünsche und Sorgen verstanden wissen, ihre Erlebnisse sollten greifbar und spürbar werden. Das führte dazu, dass manche Geschichten besonders „rund“ arrangiert, vorbildlich, berührend und damit moralisch weniger angreifbar präsentiert wurden. Bekannt ist dies aus medial präsentierten Narrativen, in denen die Erzählenden ihre Zuhörer nicht kennen und sich die Deutungskontrolle über den Plot bewahren wollen.³⁴
Sprachlosigkeit Bei einigen wenigen Betroffenen offenbarte sich im Interview eine grosse Sprachlosigkeit. Entweder waren sie es nicht gewohnt sich auszudrücken, oder aber die Krankheitssituation und die Aussicht, sterben zu müssen, wurde als unwirklich, belastend, ja als undenkbar erlebt. Eine junge Patientin mit Mammakarzinom sagte: P: Also seelisch ist, was mich belastet, wenn ich denken muss, zum Beispiel, dass ich meine Mutter und mein Kind zurücklassen muss. Das ist das, was mich seelisch kaputt macht. Das ist dieser Aspekt, ja. I: Ist es auch so, dass Ihre Mutter Ihnen das manchmal zeigt, oder haben Sie …? P: Also wir können sehr gut darüber sprechen. Sie, wie ich, wir sprechen beide in einer dritten Person, also ich rede im Prinzip, wie wenn das jemand anders / also, ich spreche schon übers Thema, aber wie wenn das jemand anderen betreffen würde. Und sie macht es etwa ähnlich wie ich, um das nicht so nahe herankommen zu lassen. Aber wir sprechen schon darüber, wo ich jetzt gerne begraben werden möchte und so, aber eher so, wie wenn man das für jemand anders bestimmen würde und nicht für sich selbst. Das merkt man schon, wie man das versucht, das von sich selber wegzudrängen. (Patientin mit Mammakarzinom, 34 Jahre, mit einem Sohn von 3 Jahren, anderthalb Monate vor dem Tod)
Diese junge Patientin befand sich in einer unendlich schwierigen Situation. Schon vor der Tumorerkrankung litt sie unter emotionalen Problemen. Sie hatte kein
Hawkins, Reconstructing Illness (s. Anm. 20). Man beachte dazu auch den Beitrag von Arnulf Deppermann im vorliegenden Band.
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leichtes Leben gehabt. Sie hatte einen kleinen Sohn, der Kindsvater war jetzt unter der zunehmenden Erkrankung zu ihr zurückgekehrt. Grössten Halt fand sie bei ihrer Schwester und ihrer Mutter, die beide sehr trauerten. Die Patientin wollte für ihren Sohn weiterleben, sie liebte ihn über alles. Gleichzeitig litt sie unter ihren zahlreichen einschränkenden Beschwerden und wollte, „dass das ein Ende hat“. Sie hatte grosse Angst vor dem Sterben und vor dem „Nichts“, das mit dem Tod kommen würde. Über ihre Situation zu sprechen, war für sie gleichzeitig Bedürfnis und Bedrohung. Sie versuchte, im „Hier und Jetzt“ zu leben und Wünsche für einen möglichst unbelasteten Alltag zu formulieren, was ihr recht gut gelang. Diese Wünsche für sich selbst sprach sie in der Ich-Form aus. Wenn Themen zu bedrohlich, un-denkbar wurden, wechselte sie die Perspektive und sprach von sich in einer dritten Person oder von „man“. Auch gegen Ende dieses Zitats schwenkte sie um. Die Mutter handhabte dies genau gleich. Die Patientin schien ihre Ängste durch diese Distanzierung aushaltbarer zu machen, sie ordnete die bedrohlichen Probleme einer fremden Person zu, sie „depersonalisierte“ sie. Bei anderen Patienten fielen eine besonders burschikose Sprache, ein Galgenhumor oder zynische Bemerkungen auf: Man wird erst krank, wenn man zum Arzt geht. Im Moment, wo ich nicht mehr selbstständig handeln kann, muss ich noch 20 Franken haben für einen Kälberstrick. (Patient mit terminaler Herzerkrankung und COPD, 78 Jahre, knapp 2 Monate vor seinem Tod)
Der Patient befand sich seit Monaten in einer instabilen Gesundheitssituation und wurde jetzt nach einer erneuten Krise im Spital interviewt. Die Behandlungsmöglichkeiten schienen langsam ausgeschöpft. Es fiel auf, dass sich der Patient nicht an die Therapievereinbarungen hielt. Er fühlte sich von den Ärzten schlecht informiert. Die Betreuenden berichteten von zahlreichen Gesprächen. Im Studieninterview liess sich kein Sterbewunsch ausmachen, jedoch eine grosse Spannung zwischen der Belastung, ständig neue Krisen aushalten müssen, und der Sorge, für die ebenfalls kranke Ehefrau da sein zu müssen. Der Patient schien dafür keine Sprache zu finden. Es schimmerten auch Trauer und Angst vor der Zukunft durch. Nicht sterben wollen, sich nicht richtig behandeln lassen und nicht darüber sprechen wollen – die interviewte Pflegende räumte im Interview ein, er sei „der schwierigste Patient, den sie je gehabt habe“.
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3 Diskussion Sich über Geschichten mitzuteilen, die eigene Geschichte zu erzählen und so eine Verbindung zu anderen Menschen zu schaffen, ist ein genuines menschliches Bedürfnis. Vielleicht gilt dies für chronisch und schwer kranke Menschen noch mehr als für Gesunde, wenn Krankheit ihnen Sicherheit und Perspektiven nimmt, das Leben in existentieller Weise bedroht und sich die eigene Identität unter krisenhaften Ereignissen, einem verwundeten Körper und belasteten Beziehungen aufzulösen droht. Die eigene Geschichte zu erzählen kann helfen, Erlebtes einzuordnen, zu remodellieren, Kontrolle und Handlungsraum zu behalten oder wiederzufinden, eigene Bedürfnisse zu formulieren, zu imaginieren und Sinn in der eigenen Situation zu finden. Vieles davon gilt im Übrigen auch für die Angehörigen schwer kranker Menschen, die sich ebenfalls in fragilen Lebenssituationen befinden. Wie unsere eigene Forschung zeigt, bestand bei den interviewten Menschen am Lebensende ein grosses Bedürfnis, sich mitzuteilen, in den eigenen Bedürfnissen und Haltungen verstanden zu werden und die Verbindung zur Lebensgemeinschaft bis zuletzt zu erhalten. Das Erzählen war jedoch auch ein Akt des Trauerns – Trauern um ein unversehrtes Leben, um die bevorstehende Trennung von geliebten Menschen und um unerfüllte Lebenspläne. Trotz körperlicher Beschwerden, emotionaler Belastungen und kognitiver Einschränkungen entwickelten die Patienten in den Interviews komplexe Gedanken zu ihrer Lebenssituation. Oft ergaben sich unerwartete Wünsche, Bedürfnisse und Sinnzusammenhänge. Erst die Narration schaffte Zugang zu den vielschichtigen Gedankenkonstrukten. Manches konnte bis zuletzt nicht ganz aufgelöst werden oder blieb unverständlich. Ergründen und verstehen erfordern auch im klinischen Alltag Zeit, Interesse für die Situation des Erzählenden und im therapeutischen Umfeld Beziehungsarbeit. Wie Charmaz beschreibt, bringen Patienten die Erfahrungen mit, dass ihre Geschichte andere belastet und umgekehrt sie selber verletzbar macht.³⁵ Beide, Erzählender und Zuhörer, meiden möglicherweise zu schmerzhafte oder destabilisierende Gedanken – aus Angst vor der eigenen Reaktion oder aus Rücksicht auf den Anderen. Dies kann auch in Interviewsituationen passieren. Hollway und Jefferson sprechen von „defended subjects and defended researchers“³⁶. Sowohl im klinischen als auch im Forschungskontext mit Interviews entstehen immer ko-
Charmaz, Constructing Grounded Theory (s. Anm. 26). Wendy Hollway und Tony Jefferson, Doing Qualitative Research Differently. A Psychosocial Approach (Los Angeles: Sage, 2000).
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konstruierte Erzählungen. Dies alles muss bei der späteren Analyse berücksichtigt werden. Unsere Interviewstudie bestätigte, wie ausserordentlich wichtig das SichMitteilen gerade in der letzten Lebensphase ist. Vor besonders grosse Herausforderung stellen uns dabei Betroffene, welche die Sprache nicht (mehr) als Kommunikationsmittel nutzen können – sei es, weil sie sich damit schon immer unsicher gefühlt haben, weil die schwere Erkrankung zu einer inneren Sprachlosigkeit geführt hat oder weil sie sich aus kognitiven oder anderen krankheitsassoziierten Umständen nicht mehr ausdrücken können. Dies betrifft auch verwirrte und demente Menschen. Für Menschen, denen das Denken und Sprechen schwerfällt, müssen unter Umständen andere Kommunikationsformen gefunden werden. Dies können körperzentrierter Kontakt, Musik, Kontakt mit Tieren sein oder die zusätzliche Befragung von Angehörigen. Wir wissen heute, dass auch kognitiv eingeschränkte Menschen Biografiearbeit als sinnstiftend erleben. Dürst et al.³⁷ konnten beispielsweise zeigen, dass auch Menschen mit fortgeschrittener Demenz das Bedürfnis haben und auch dazu in der Lage sind, sich über ihre Biografie, Sinnhaftigkeit und ihre Lebens- und Sterbewünsche auszutauschen. Gerade diese Menschen würden davon profitieren, wenn früh eine Kultur des Erzählens gepflegt wird. Es würde die Beziehungsarbeit bei Demenz vermutlich länger ermöglichen. Patienten müssen im klinisch-medizinischen Kontext immer wieder um angemessenes Gehör kämpfen. Dies gilt auch für die Grenzbereiche des Lebens, wie die Fragen zu Lebensende, Endlichkeit und Sterbewünschen. Um die wegweisenden Botschaften aus den verschiedenen Erzählsträngen herauszuhören und zu verstehen, ist jedoch nicht nur die grundlegende Bereitschaft des Zuhörens gefordert, eine „Demut gegenüber der erzählten Geschichte“³⁸, sondern auch Raum und Zeit. Andernfalls kann es passieren, dass die komplexen Botschaften in einem Narrativ zu einer „romantischen Agenda“³⁹ trivialisiert werden. Damit wird der vielleicht nicht immer schlüssigen, aber dadurch auch unverwechselbaren Narration ihre Authentizität wieder genommen.⁴⁰ Unter Zeitmangel, bei fehlen-
Anne-Veronique Dürst at al., Le désir de mort chez les résidents en institutions de long séjour, in: Guy Jobin, Alain Legault et Nicolas Pujol, Hg., Actes du colloque: L’Accompagnement de l’expérience spirituelle en temps de maladie (Québec: UCL Presses Universitaires de Louvain, 2017), 109 – 119. DasGupta, Irvine und Spiegel, The Possibilities of Narrative Care Medicine (s. Anm. 5). Paul Atkinson, Narrative Turn or Blind Alley?, in: Qualitative Health Research 7 (1997), 325 – 344. Shapiro, Illness Narratives (s. Anm. 22); Sayantani DasGupta, Narrative Humility, in: The Lancet 371/9617 (2008), 980 – 981.
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dem Raum für Gespräche, Unsicherheit der Behandelnden im Umgang mit Entscheidungen am Lebensende und Mangel an therapeutischen Beziehungsangeboten werden entscheidende Sinnzusammenhänge übersehen oder falsch gewichtet. Ein problematisches Feld hierfür scheint die autonomielastige Diskussion im Rahmen der Sterbehilfe zu sein. Sie übertönt die anderen Aspekte wie den sozialen Kontext, die Einsamkeit, welche die Betroffenen bei schwierigen Entscheidungen erleben, und die moralischen Ansprüche, die an sie herangetragen werden. Narrative in schwerer Krankheit sind ein fragiler Akt.⁴¹ Sie können Leiden und Verletzungen wiederaufleben lassen und Trauer auslösen. Andererseits können sie Bewältigungsmöglichkeiten für die Zukunft anbieten. Narrative sterbender Menschen führen bis dicht an das Lebensende heran. Sie bieten auch den (noch) Gesunden die Chance, aus einem sicheren Lebensbereich heraus in einen Grenzraum einzutreten, in dem uns die Sterbenden vielleicht etwas voraushaben („Limination“⁴²). Allerdings werden wir uns dann auch mit unserem eigenen Sterben beschäftigen müssen. Im besten Fall machen wir die Situation durch das gemeinsame Auskundschaften für schwer kranke Menschen erträglicher. Möglicherweise gewinnen wir Evidenzen für gesundheitsbezogene, patientenspezifische Belange in Grenzzonen des Lebens.⁴³ Sicher bewahren sich Patienten damit ihre soziale Identität länger, indem das erzählende Ich spürbar bleibt. Wie katastrophal sich der Abbruch von Kommunikation und sozialer Beziehung zwischen Sterbenden und Weiterlebenden auswirkt, zeigte Peter Noll in seiner Biografie Diktate über Sterben und Tod ⁴⁴ auf. Er verstarb 1982 mit 54 Jahren an einem Blasenkarzinom. Das Gespräch zwischen einem, der weiss, dass seine Zeit bald abläuft, und einem, der noch eine unbestimmte Zeit vor sich hat, ist sehr schwierig. Das Gespräch bricht nicht erst mit dem Tod ab, sondern schon vorher. Es fehlt ein sonst stillschweigend vorausgesetztes Grundelement der Gemeinsamkeit. Nach dem üblichen Ritual des Sterbens müssen beide, der Sterbende und der Weiterlebende, sich an bestimmte Regeln halten: doch sind die Regeln anders als beim Fussball, ganz verschieden, sodass kein Zusammenspiel entsteht. Auf beiden Seiten wird viel Heuchelei verlangt. Darum auch die gequälten Gespräche an den Spi-
Cheryl Mattingly, Performance Narratives in Clinical Practice, in: Brian Hurwitz, Trisha Greenhalgh und Vieda Skultans, Hg., Narrative Research in Health and Illness (London: Blackwell Publishing, 2004), 73 – 94. Frank, The Necessity and Dangers of Illness Narratives, Especially at the End of Life (s. Anm. 3). Hovey und Paul, Healing, the Patient Narrative-Story and the Medical Practitioner (s. Anm. 19). Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod (München: Piper Verlag, 2009).
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talbetten. Der Weiterlebende ist froh, wenn er wieder draussen ist, und der Sterbende versucht einzuschlafen.
In diesem Zitat scheinen die Gefühle des Verlassenseins und der Perspektivenlosigkeit auf, die viele Menschen erleben, wenn das eigene Sterben bevorsteht und erlebbar wird. Peter Noll beschreibt darin aber auch, wie ihn die unterlassene Kommunikation von der sozialen Gemeinschaft abschneidet. Gespräche über das eigentlich Wichtige fehlen nicht aus Nachlässigkeit oder Zufälligkeit, sondern weil es zu einem aktiven, eingespielten Ritual gehört, nicht zu sprechen, eben „totzuschweigen“. Indirekt spielt er auch auf die unprofessionelle Unbeholfenheit der Behandelnden an, die „gequält“ sind und es nicht schaffen, ihren Patienten zu begegnen, eine Brücke zu den Weiterlebenden zu schlagen und damit eigentlich zur ganzen Gesellschaft. Seit Peter Nolls Diktaten vor rund 30 Jahren wurden die Patientengeschichten wieder mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dennoch haben es subjektiv gefärbte zeitintensive Patientenschilderungen in der Medizin schwer. Während quantitative Analysen reproduzierbar sind und normierbare Vergleiche zwischen einzelnen Patienten erlauben, erweisen sich Patientengeschichten abhängig von der Verfassung des Erzählers, der Umgebung und dem/den Zuhörenden. Wichtig ist zu verstehen, dass Narrative dabei keine objektiven Wahrheiten transportieren. Es geht darin mehr darum, Werte, Haltungen, Erfahrungen der Erzählenden zu verstehen, welchen Sinn sie den Ereignissen geben, in welcher Art sie ihre Erlebnisse vermitteln und welchen gemeinsamen moralischen Raum sie zwischen sich selbst und den Zuhörenden herstellen möchten. Trotz dieser wichtigen Aspekte fehlt die narrative Medizin weiterhin als integraler Teil der Schulmedizin – in der Ausbildung, in Diagnostik, Therapie und den meisten Entscheidungsalgorithmen. Die beziehungsgestützte Hausarztmedizin ist in vielen Gesundheitssystemen akut bedroht. In den meisten finanziellen Abgeltungsmodellen werden technische Leistungen höher gewichtet als Gespräche. In unserer Studie stellten wir fest, dass einige Tumorpatienten während unserer Interviews erstmals Gelegenheit fanden, ihre Krankheitsgeschichte in ihrer Ganzheit zu erzählen und zu ordnen – dies auch nach mehrjährigen Krankheitsverläufen. Alle Patienten zeigten ein grosses Redebedürfnis zu ihrer sozialen Situation, wobei das Zur-Last-Fallen, die zunehmende Abhängigkeit, Veränderungen von Beziehungen, Trauer und das befürchtete Leiden am Lebensende grossen Raum einnahmen. Viele Betroffene handelten dies in einem inneren Dialog mit sich selber aus. Die Gründe dafür waren sicher vielfältig. Unter anderem stellt sich aber die Frage, wie weit die Behandelnden die Krankheitsbewältigung ihrer Patienten unterstützt und eine individualisierte, patientenzentrierte Entscheidungsfindung gepflegt hatten, beispielsweise über einen nar-
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rationsbezogenen Ansatz. Es ist keine Frage der Zeit, den Betroffenen Raum für ihre Erzählung zu geben, sondern eine Frage der Strukturen, der Kommunikation und der Haltung. Auch unsere individualisierte Gesellschaft tut sich schwer mit Krankheit, Sterben und Tod, nachdem die Medizin viele Krankheiten kontrollierbar gemacht und das Sterben aus der Öffentlichkeit verbannt hat. Hier fragt sich, wie weit die Gesellschaft idealtypische Krankheitsnarrative schafft, indem sie keine kreativere Gesprächskultur findet, wenn es um das Thema Lebensende geht. Fühlten sich Menschen am Ende ihres Lebens länger in der sozialen Gemeinschaft eingebettet, wenn sie sich in einer mehr patientengeleiteten Gesprächs- und Gestaltungskultur bewegten? Würden wir der Medizin und Gesellschaft damit nicht auch eine CareEthik zurückgeben, die den Versorgungsfragen der wachsenden Chronic Care besser gerecht wird? Die Zukunft gehört der personalisierten Medizin. Eigentlich ist es ohne den narrativen Zugang gar nicht möglich, eine individuell passende Therapievereinbarung bei chronischer oder unheilbarer Krankheit zu treffen. Zu komplex präsentieren sich die Krankheitssituationen, zu zahlreich sind die verfügbaren Therapieansätze und zu breitgefächert sind die Lebenserfahrungen, Wertvorstellungen und Bedürfnisse in unserer pluralistischen Gesellschaft. Wir alle, die unweigerlich einmal an unser Lebensende kommen werden, wünschen uns, dass dies berücksichtigt wird. So ist es aus ethischer Sicht geboten, narrative Medizin zu lehren, zu üben, zu beforschen und in den medizinischen Alltag zu integrieren.
Anmerkung Das Studienteam der Studie „Terminally ill patients’ wish to die“ (2009 – 2016) bestand aus Dr. med. Heike Gudat (Co-Leitung), Dr. phil. Kathrin Ohnsorge, Prof. Christoph Rehmann-Sutter (Co-Leitung) und (ab 2013) lic. theol. Nina Streeck. Finanzierung der Studie durch Oncosuisse, die Gottfried und Julia BangerterRhyner-Stiftung und die Freie Akademische Gesellschaft (alle drei für Tumorpatienten), den Schweizerischen Nationalfonds (Nicht-Tumorpatienten) und die Förderstiftung des HOSPIZ IM PARK Arlesheim (gesamtes Projekt).
V. Rück- und Ausblick
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Letzte Worte und weitergehende Geschichten Vom vielfachen Sinn des Erzählens am Lebensende Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes war die Intention, die Vielfalt heutigen Erzählens am und vom Lebensende unter der Leitkategorie des Sterbenarrativs zu untersuchen. Die praktische Absicht lag darin, die aktuelle empirische Erforschung von Sterbeverläufen zu ergänzen durch jenes Wissen, das aus publizierten Selbstzeugnissen zu gewinnen ist, sowie durch eine kritische Reflexion auf vorherrschende Vorstellungen davon, was es heißt, gut zu sterben. In meinem Schlussbeitrag möchte ich einige Fäden, die vorangehenden Beiträgen ausgespannt wurden, weiterführen und miteinander verbinden, dies freilich ohne den Anspruch, die in sehr verschiedene Richtungen laufenden Diskussionen auf einen finalen Nenner zu bringen. Soweit es zu einer Bündelung von Gedanken kommt, hat diese eher den Status eines Zwischenresümees, an dem sich überprüfen lässt, inwiefern sich die ursprüngliche Intention als fruchtbar erwiesen hat. Ich unterteile meine Überlegungen in vier Schritte. Zunächst wende ich mich der für diesen Band leitenden Kategorie des Sterbenarrativs zu und lote vor dem Hintergrund der vorangehenden Beiträge ihr deskriptives und kritisches Potential aus. Danach überprüfe und differenziere ich den einleitend eingeführten Merkmalskatalog.¹ An dritter Stelle analysiere ich den vielfältigen Sinn des Erzählens am Lebensende, um dann zu der Ausgangsfrage zurückzukehren, inwiefern solches Erzählen sich mit dem Anliegen verbinden lässt, in wissenschaftlichen oder öffentlichen Diskursen über Sterben und Tod die Stimme der Betroffenen zu Gehör zu bringen.
1 „Sterbenarrativ“ als deskriptive und kritische Kategorie In einem Beitrag zur Hirntod-Debatte skizzierte Ralf Stoecker kürzlich zwei verbreitete Todesbilder, die er an berühmten Texten illustriert. Das erste nennt er das
Vgl. in diesem Band, 1– 15, v. a. 3. https://doi.org/10.1515/9783110600247-016
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„Winnetou-Bild des Todes“.² Dabei bezieht er sich auf das Ende von Karl Mays bekannter Roman-Trilogie: Als der letzte Ton verklungen war, wollte er sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er: „Schar-Iih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!“ Es ging ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quoll aus seinem Munde; der Häuptling der Apachen drückte nochmals meine Hände und streckte seine Glieder. Dann lösten sich seine Finger langsam von den meinigen – er war tot!³
Stoecker, der diese Sterbeszene in seiner eigenen Lesebiografie verortet und sie als „einschneidendes Kindheitserlebnis“ beschreibt, geht von der Überzeugung aus, dass wir mit Karl Mays Helden ein Bild des Todes teilen, „dem zufolge ein Mensch zunächst lebt und dann, prompt und schlagartig, tot ist“⁴. Das hindere uns nicht, gleichzeitig eine völlig andere Vorstellung von Sterben und Tod für wahr zu halten. Stoecker nennt diese andere, konkurrierende Vorstellung in Anspielung auf das folgende Rilke-Zitat den „Kammerherren-Tod“: Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für zehn Wochen gekommen, und die blieb er. […] Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das war der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genährt hatte. […] Wie hätte der Kammerherr den angesehen, der von ihm verlangt hätte, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.⁵
Die beiden Erzählsequenzen, auf die ich zurückkommen werde, eignen sich zu einer Reflexion auf den Leitbegriff des vorliegenden Bandes. Wie die vorangegangenen Beiträge zeigen, kann die Kategorie „Sterbenarrativ“ doppelt gebraucht werden: zum einen als Synonym zu „Sterbeerzählung“ und als solches ein Sammelbegriff für alle Formen des Erzählens am und vom Lebensende. Dazu gehören dann nicht allein Selbstzeugnisse Sterbender, sondern ebenso Berichte von An- und Zugehörigen. Auch fiktionale Texte wie die beiden eben zitierten sind dieser Kategorie zuzuordnen. Zum anderen kann sich die Rede von einem Sterbenarrativ auch auf die den jeweiligen Erzählungen zugrunde liegenden Sche-
Ralf Stoecker, Die Ausdifferenzierung des Todes durch die moderne Medizin und ihre ethischen Konsequenzen, in: Franz-Josef Bormann und Gian Domenico Borasio, Hg., Sterben. Dimensionen eines anthropologischen Grundphänomens (Berlin: de Gruyter, 2012), 368 – 383. Karl May, Winnetou III, hg.v. Roland Schmid (Bamberg: Karl-May-Verlag, 1982), 474. Stoecker, Die Ausdifferenzierung des Todes (s. Anm. 1), 369. Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: ders, Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg.v. Manfred Engel u. a., Bd. 4 (Berlin: Insel, 2003), 463 f.
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matisierungen beziehen. Das „Winnetou-Bild des Todes“ und der „Kammerherren-Tod“ sind zwei prägnante Beispiele für Sterbenarrative in diesem zweiten Sinne. Im einleitenden Beitrag des 2009 erschienenen Studienbandes The Study of Dying ⁶ listet Allan Kellehear mit Blick auf die empirische und soziologische Sterbeliteratur sieben weitere Sterbenarrative auf in diesem spezifischeren zweiten Sinn: 1. Sterben als Akt: Der Sterbende behält bis zuletzt die Kontrolle über sein Schicksal und gestaltet die Rolle des Sterbenden aktiv aus. 2. Sterben als Reise: Die Metapher der Reise evoziert einen strukturierten Übergang von hier nach dort. Die Eigenaktivität kennt hier unterschiedliche Ausprägungen: Eine Reise kann man zwar antreten und unternehmen, doch kann man auch mitgenommen werden und ist dann auf Gefährte(n) angewiesen. 3. Sterben als oszillierender Prozess: Das dritte Narrativ, das die durch die Reisemetaphorik nahegelegte Linearität korrigiert, ist aus der Perspektive der Begleitenden entworfen, die intermittierende Phasen beobachten, ein Pendeln zwischen „Weggehen“ und „Zurückkommen“, zwischen „Abtauchen“ und „Wiedererwachen“. 4. Sterben als Rückzug: Im vierten Narrativ wird das Verhältnis des Sterbenden zu der ihn umgebenden Gesellschaft in den Vordergrund gerückt und als Prozess geschildert, in dem der/die Sterbende sich aus dieser Gemeinschaft löst. Kellehear macht darauf aufmerksam, dass auch in diesem Modell Sterbenden eine aktive Rolle zugeschrieben wird, wobei der Rückzug durch Vergleiche aus der Tierwelt mitunter in den Bereich des Instinktiven gerückt wird. 5. Sterben als Kollaps und Desintegration: Die medizinische Perspektive wird im fünften Narrativ leitend. Die Beschreibung des fortschreitenden Ausfalls organischer Funktionen steht hier stellvertretend für den Sterbeprozess insgesamt. Die Rolle der sterbenden Person ist eine gänzlich passive: Sie ist einem Prozess der Desintegration ausgesetzt und kollabiert schließlich zusammen mit ihren Organen. 6. Sterben als Marginalisierung: Komplementär zum vierten Narrativ, nach dem sich Sterbende aus innerem Impuls aus der Gesellschaft zurückziehen, kann das Sterben aus gesellschaftskritischer Perspektive als Marginalisierung beschrieben werden, als Prozess der Abschiebung, Entmächtigung und Entrechtung.
Allan Kellehear, What the social and behavioral studies say about dying, in: ders., Hg., The Study of Dying (Cambridge: CUP, 2009), 1– 26.
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Sterben als Transformation: Das letzte von Kellehear aufgelistete Narrativ ist verwandt mit jenem der Reise, betont jedoch den Identitätswandel. Während das erstere Narrativ davon lebt, dass dieselbe Person, die von A aufgebrochen ist, in B ankommt, ist nach dem letzten die sterbende Person am Ende eine andere geworden.
Mit Blick auf die in diesem Band versammelten Beiträge ließe sich diese Liste leicht ergänzen – etwa durch das Narrativ der Konversion in extremis ⁷. Eine deskriptive Vollständigkeit ist jedoch nicht Kellehears Ziel.Vielmehr ist sein Entwurf von der praktischen Absicht geleitet, dominante Erzählmuster herauszuarbeiten und kritisch zu beleuchten. Es soll vor Augen geführt werden, dass Narrative ihre Prägnanz der Kunst der Ausblendung und starken Wertungen verdanken. Sie profilieren einen Aspekt des Sterbeprozesses auf Kosten alternativer Beschreibungsmöglichkeiten. Und sie fungieren als normative Leitbilder des „guten“ oder „schlechten“ Sterbens, die erst in einer reflexiven Thematisierung problematisierbar werden. Die Notwendigkeit, leitende Sterbenarrative kritisch zu hinterfragen, ergibt sich aus der nicht immer produktiven Überkreuzung von Literatur und Leben. Bereits Emerson beobachtete, dass Vorstellungen vom guten Sterben den Blick für reale Sterbeprozesse verstellen können: „Der Tragöde Palmer starb, als er in Drury Lane eine Sterbeszene hätte spielen sollen; das Publikum zischte ihn aus, weil der Held nicht gut starb, aber wie man feststellte, war der arme Schauspieler tot.“⁸ „Narrative“ in dem von uns favorisierten zweiten Sinn potenzieren den Zwang, der dem Erzählen ohnehin innewohnt. Denn es vollzieht sich immer mit Blick auf bestimmte Erwartungen, wie eine Geschichte verlaufen und wie sie enden soll. Das Erzählen am Lebensende hat sich mit der nicht unschuldigen Erwartung auseinanderzusetzen, dass eine gute Geschichte originell sein und einen runden Abschluss haben sollte. Mit Blick auf seine zwischen Behandlungserfolgen und Rückschlägen oszillierende Lebenslinie konstatiert Tom Lubbock: „My story doesn’t make a good story.“⁹ Mit ihren vielen Wechselfällen gleiche sie eher einer Seifenoper als einer hochstehenden Erzählung: „My diagnosis belongs to a low or middle genre.“¹⁰ Dass Erzähler immer auch Hörer ihrer eigenen Geschichten sind und von ihnen ebenso bestimmt werden wie sie diese formen und autorisieren, betrifft in Vgl. den Beitrag von Andreas Mauz, 19 – 59, hier 43 f. Ralph Waldo Emerson, Journals and Notebooks VI. Zitiert nach: Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2015), 237. Tom Lubbock, Until Further Notice, I Am Alive (London: Granta, 2012), 75. Ebd., 108.
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besonderer Weise das autobiografische Erzählen, das in diesem Band im Vordergrund steht. Das Erzählen seiner auf ein nahes Ende zulaufende Lebensgeschichte, das Selbstauslegung und Selbstfestlegung zugleich ist, geschieht im Rahmen bestimmter Erzählkulturen und ihrer Konsonanz- und Kohärenzerwartungen, die nicht nur die konkreten Erzählungen bestimmen, sondern auch auf die Erzählenden zurückwirken. Wie Brigitte Boothe und Dragica Stix am Beispiel von präsuizidalen Abschiedsbriefen zeigen,¹¹ ist die erzählerische Selbstexposition noch in ihren bescheidensten und flüchtigsten Formen eine Gestalt der Selbstpositionierung und der Selbstinszenierung innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes bzw. im Rahmen der Geschichte(n), in die wir verstrickt sind. Wenn Menschen sich und andere erzählend auf bestimmte (Lebens‐)Rollen festlegen, folgen sie einem narrativen Zwang, dessen Eigendynamik sich gerade dort besonders entfalten kann, wo es um das Ende der eigenen Geschichte, wo es um Lebensendgeschichten geht. Die narrative Tendenz zur finalen Selbstfestlegung wird durch das Medium der Schrift verstärkt. So ist Mars, der von Walter Lesch untersuchte autobiographische Bericht Fritz Zorns,¹² als Anklageschrift zu lesen, die nicht nur die Schuld der Angeklagten, sondern auch die tragisch verlaufene Lebensgeschichte des Autors final festschreibt. Aus solchen Narrativen gibt es, so scheint es, schon im Prozess des Erzählens kein Entrinnen mehr. Vor diesem Hintergrund kann sich die kritische Auseinandersetzung mit Sterbenarrativen sowohl auf die Frage der deskriptiven Genauigkeit der erzählten Geschichte(n) als auch auf jene ihrer normativen Implikationen konzentrieren. Während letzteres mit den Leitbildern eines guten Lebens verknüpft ist und damit in ein viel weiteres Diskussionsfeld führt, stellt sich in der ersten Hinsicht u. a. das Problem, dass deskriptive Genauigkeit nicht ohne Narrative auskommt. Man kann Sterbeprozesse – oder das Sterben einer bestimmten Person – nicht beschreiben, ohne auf narrative Grundmuster zurückzugreifen. Ein bestimmtes Sterbenarrativ zu problematisieren, bedeutet zugleich, auf ein anderes zurückgreifen, das seinerseits kritisierbar ist. Die Frage nach der deskriptiven Genauigkeit kann sich auch auf erzählerische Details konzentrieren. So weist Stoecker darauf hin, dass dem letzten Satz der eingangs zitierten Winnetou-Passage – „er war tot!“ – aus der Perspektive heutigen medizinischen Wissens zu misstrauen sei. Aufgrund der beschriebenen Verletzung (Winnetou hatte einen Lungendurchschuss erlitten) sei es viel wahrscheinlicher, dass der Häuptling der Apachen in diesem Moment gar noch nicht starb, sondern lediglich aufgrund des Blutverlustes das Bewusstsein verlor.
Vgl. 139 – 157. Vgl. 184– 186.
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Dass es sich bei dieser erzählerischen Ungenauigkeit nicht um eine belanglose Nebensache handelt, zeigt sich daran, dass das von Stoecker kritisierte Winnetou-Bild des in einem Augenblick stattfindenden Todes zerstört wird, wenn man an dieser Stelle das Sterben genauer erzählt. Doch aus welcher Perspektive hätte Karl May bzw. sein Erzähler die letzten Lebensminuten seines Helden nach Old Shatterhands vorschneller Todesannahme beschreiben sollen? Dass bewusstlos wirkende Menschen in Todesnähe sehr intensive Lebenserfahrungen zuteil werden können, belegt die unüberschaubare Fülle an Nahtoderfahrungsberichten. Sie widersprechen der Vorstellung, dass mit dem krankheits- oder unfallbedingten Verlust des Tageswachbewusstseins die bewusste Lebenszeit schlagartig abbricht. Der Anspruch, in verlässlicher Weise über ein Lebensende zu informieren, ist gegengenüber faktualen Erzählungen deutlich höher als gegenüber fiktionalen. Anders als im Fall Karl Mays, dessen deskriptive Ungenauigkeiten uns kaum stören, lesen wir eine wissenschaftliche Biografie mit der Erwartung, dass das Erzählte durch sorgfältig geprüfte Quellen belegbar ist.¹³ Noch anspruchsvoller sind wir bei autobiografischem Erzählen.Wie sensibel die durch solches Erzählen geweckten Erwartungen auf Enttäuschungen reagieren, zeigt ein berühmtes Beispiel eines Sterbejournals: William N. P. Barbellions The journal of a disappointed man and A last diary. ¹⁴ In dem 1919 erstmals veröffentlichten Tagebuch berichtet der Autor von seiner Erkrankung an Multipler Sklerose. Das Journal endet mit dem editorischen Vermerk: „Am 31. Dezember starb B.“ Die Erwartung uneingeschränkter Authentizität, die auch das Lesen autobiographischer Sterbeerzählungen jüngeren Datums bestimmen dürfte, wurde durchkreuzt, als bekannt wurde, dass Barbellion den letzten Satz selbst hinzusetzte und erst einige Monate später verstarb. Die Entscheidung, sein faktuales Tagebuch mit einem fiktionalen Satz zu beenden, brachte den Autor in Verruf und weckte starke Zweifel an der Authentizität des gesamten Berichts. Die Frage der Verlässlichkeit betrifft jedoch nicht allein die Erwartung, dass ein Autor sein Lesepublikum nicht hinters Licht führt und die genannten Informationen korrekt sind. Fraglich sein kann ebenso die Art und Weise der Darstellung. Findet sich der Formzwang, der Arthur W. Frank und John Paley in Krankheitsgeschichten diagnostizierten, nicht ebenso im Erzählen am und vom Lebensende? Folgt solches Erzählen nicht primär emotionalen Bedürfnissen, die zwar legitim sein mögen, zum Anspruch verlässlichen Erzählens jedoch in
Vgl. den Beitrag von Christian Klein in diesem Band (97– 113). Willian N. P. Barbellion [Bruce Frederick Cummings], The journal of a disappointed man and A last diary. Introd. by Herbert George Wells and Deborah Singmaster (London: Hogarth, 1984).
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Spannung stehen? Erzählt Paul Kalanithi von sich selbst nicht eine tragische Heldengeschichte und erreicht so den Ruhm, auf den er als Neurochirurg verzichten musste?¹⁵ Gerade durch eine kritische Thematisierung leitender Sterbenarrative kann der Blick dafür geschärft werden, dass sich das Schreiben am Lebensende nicht erschöpft in erzählerischen Gattungen im engeren Sinn, sondern auch Meditationen, Gedichte und Beschreibungen umfasst. So sind Peter Nolls Notizen über Sterben und Tod¹⁶ tatsächlich das, was der Titel des Buches verspricht: ein Ansammlung von Gedanken, Erinnerungen, Beobachtungen, Kommentaren. Das Erzählen am Lebensende verhält sich mitunter selbst kritisch zu dominanten Sterbenarrativen, indem es solche ausdrücklich problematisiert oder auf die Grenzen des Erzählbaren verweist und sich ihnen mitunter allein schon dadurch entzieht, dass das Erzählen episodisch, lückenhaft und fragmentarisch bleibt (was durch editorische Eingriffe gelegentlich überdeckt wird). Harold Brodkeys This Wild Darkness (dt. Die Geschichte meines Todes) belegt, wie vielgestaltig sich das Verhältnis konkreter Sterbeerzählungen zu vorgegebenen Sterbenarrativen darstellt. Brodkey lotet durchgängig die Grenzen des Erzählbaren aus und verweigert seinen Leserinnen und Lesern das feste Geländer einer klaren chronologischen Ordnung. Das Verschwimmen der zeitlichen Strukturen, das lesend über weite Strecken nachvollzogen werden kann, führt schließlich an eine Grenze, in der das Erzählen in einer meditativen Evokation poetischer Bilder verklingt: Gott ist etwas Unermessliches, während diese Krankheit, dieser Tod, der in mir steckt, dieses kleine, banale Ereignis, lediglich real ist, restlos, ohne ein Wunder zu bergen – oder eine Lehre. Ich stehe auf einem frei dahintreibenden Floß, einem Kahn, der sich auf der biegsamen, fließenden Oberfläche eines Stroms bewegt. Eine unsichtbare Situation. Ich weiß nicht, was ich da tue. Die Unwissenheit, die angespannte Balance, die abrupten Stöße und die Instabilität breiten sich in kleinen, immer weitere Kreise schlagenden Wellen über all meine Gedanken aus. Frieden? Den hat es auf der Welt niemals gegeben. Doch auf dem geschmeidigen Wasser, unter dem Himmel, unverankert, reise ich nun dahin und höre mich lachen, zuerst vor Nervosität und dann vor echtem Staunen. Ich bin davon umgeben.¹⁷
Brodkeys Erzählung greift aus in die Zukunft, um dann in der Beschreibung eines Übergangs zu münden, der im Präsens erzählt wird. Das Narrativ der Reise, das Paul Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe. Was am Ende wirklich zählt – das Vermächtnis eines jungen Arztes (München: Knaus, 2016). Peter Noll, Diktate über Sterben und Tod, mit der Totenrede von Max Frisch (München: Piper, 1987). Zu Frischs Auseinandersetzung mit dem Sterben seines Freundes,vgl. Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt (Berlin: Suhrkamp, 2010), passim. Harold Brodkey, Die Geschichte meines Todes (Reinbek: Rowohlt, 1996), 188 f.
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mythologisch anreichert und sogleich wieder durchkreuzt wird („Eine unsichtbare Situation“), beschließt Brodkeys vielschichtigen Bericht seiner komplexen Erkrankung an AIDS. Der Fluss erzählbarer Lebenszeit mündet in einer Präsenz, die sich der Erzählung, nicht jedoch dem Staunen entzieht. In der Schwebe bleibt, ob der Schluss noch der faktualen Erzählung zuzurechnen ist – als Beschreibung eines präsent Erlebten –, oder ein imaginatives Hoffnungsbild darstellt, mit dem der Autor den finalen Ausgang seines Lebens vorwegnimmt und zugleich in der Schwebe hält. Obwohl Brodkeys Bericht alles andere als beschönigend ist – vom körperlichen Abbauprozess wird ebenso drastisch erzählt wie vom Leiden an sozialer Ausgrenzung –, bietet auch er „am Ende“ ein Leitbild eines guten Sterbens an, in dem das Leben sich rundet, ausklingt, in einen finalen Frieden findet. Dass dieses Finale trotzdem nicht konventionell wirkt, verdankt sich dem literarischen Können des Autors. In der Imagination seiner Leserinnen und Leser lebt er weiter als Reisender in eine andere Wirklichkeit oder als Schriftsteller, der nach dem letzten kunstvollen Satz, sein Schreibwerkzeug aus der Hand legt – und damit sein Sterben auf seine eigene Weise rituell gestaltet.
2 Merkmale des Erzählens am Lebensende Wie der vorliegende Band belegt, kann am und vom Lebensende aus sehr unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden: Die Perspektive der Sterbenden wird ergänzt durch jene der An- und Zugehörigen; und auch professionelle Begleitpersonen melden sich gelegentlich öffentlich erzählend zu Wort. Betroffene sind sie alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise. In der Überzeugung, dass der Perspektive der Sterbenden selbst ein besonderes Gewicht zukommt und in gängigen Sterbediskursen unterrepräsentiert ist, werde ich mich im Folgenden auf ihre Perspektive konzentrieren. In den Blick nehme ich sowohl schriftliche Berichte, die aus eigener Initiative verfasst und veröffentlicht wurden, als auch mündliche Erzählungen, die entweder im Rahmen von empirischen Studien erhoben und transkribiert oder in Berichten von Angehörigen oder professionellen Helfern festgehalten wurden. Bevor ich nach dem Sinn solchen Erzählens frage, soll in diesem Abschnitt versucht werden, die schon in der Einleitung genannten Merkmale weiter zu konturieren und vor dem Hintergrund der in diesem Band versammelten Beiträge zu präzisieren und zu ergänzen. Ein Vergleich zu den in vielerlei Hinsicht verwandten Krankheitserzählungen erweist sich in diesem Zusammenhang als aufschlussreich. Wie Arnulf Deppermann in seinem Beitrag belegt, unterscheidet sich das Erzählen in Todesgewissheit deutlich vom zukunftsoffenen Erzählen in Krankheitssituationen. Während bei letzterem eine Konzentration auf unmittelbar Erlebtes zu beobachten ist,
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hat ersteres im Allgemeinen einen stärker retrospektiven Zug. Ein zweiter Unterschied zu Krankheitserzählungen besteht in einer merkwürdigen Asymmetrie: Während Krankheitserzählungen thematisch zentriert sind – auf die Krankheit selbst –, ist das bei Sterbeerzählungen oft gerade nicht der Fall. Wider Erwarten befassen sie sich weit intensiver mit dem Leben als mit dem Tod. Was Sandra Butler zu ihrer gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin verfassten Krankheits- und Sterbeerzählung schreibt, gilt für viele ähnliche Berichte: Es handle sich um ein Buch „about living expansively, openheartedly, joyfully in the face of our inevitable death“¹⁸. Auch fürs mündliche Erzählen am Lebensende gilt nach Wolfgang Drechsel,¹⁹ dass es das Sterben selten direkt zum Thema macht, mag es auch indirekt in allem, was erzählt wird, mitschwingen. (1.) Als erstes Merkmal von Sterbeerzählungen hatten wir eingangs die plötzliche Konfrontation mit dem Lebensende genannt und diese als eine besondere Gestalt der peripeteia bezeichnet. In manchen Erzählungen tritt sie in aller Schärfe auf. Etwa bei Brodkey, der notiert: „So endete mein Leben, und mein Sterben begann.“²⁰ Da es jedoch bei vielen Krankheiten oft lange unklar ist, ob sie zum Tode führen oder aber kuriert oder zumindest stabil gehalten werden können, geschieht der Übergang nicht selten schleichend und in einem längeren Prozess: vom Bewusstsein, dass die Krankheit tödlich verlaufen könnte, bis zur allmählich sich erhärtenden Gewissheit, dass sie es tun wird. Das bedeutet zugleich, dass die Grenzen zwischen Krankheitserzählungen und Sterbeerzählungen fließend sind und sich oft erst im Nachhinein herausstellt, dass die Erzählung einer Erkrankung mit ungewissem Ausgang das erste Kapitel einer Geschichte ist, die mit dem Tod enden wird. Die Peripetie tritt in solchen Fällen als plötzliche Konfrontation mit dem möglichen Tod auf, als schockartige Realisation einer radikalen Lebensbegrenzung. So beginnt Christopher Hitchens mit der Beschreibung der durch die Diagnose eines Speiseröhrenkrebs bewirkte „sanfte, nachdrückliche Deportation aus dem Land der Gesunden über die scharf markierte Grenze ins Territorium der Krankheit“²¹. Obwohl Hitchens gegenüber seiner Krankheit eine kämpferische Haltung entwickelt und alles tut, um ihren tödlichen Ausgang abzuwenden, ist ihm von Anfang an bewusst: „Wenn das Leben in irgendeiner Weise ein Wettlauf ist, war ich nun sehr abrupt unter den Finalisten angekommen.“²² Eine besondere Variante der genannten Peripetie findet sich dort, wo die Todesgewissheit mit
Sandra Butler, Barbara Rosenblum, Cancer in two voices (London: Woman’s Press, 1994), 5. Vgl. 239 – 258, hier 240. Brodkey, Die Geschichte meines Todes (s. Anm. 17), 16. Christopher Hitchens, Endlich. Mein Sterben (München: Pantheon, 2013), 27. Ebd. 29.
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einer persönlichen Entscheidung gegen einen (weiteren) Therapieversuch verbunden ist. Das kann wie bei Peter Noll ganz am Anfang stehen oder aber einen langen Zyklus von Bestrahlungen und Chemotherapien beenden wie bei Paul Kalamithi und Tom Lubbock. Der Unterschied zwischen Krankheitserzählungen und Sterbeerzählungen zeigt sich nicht zuletzt an einem doppelten Rollenwechsel: aus Kranken werden Sterbende und an die Stelle von kurativ tätigen Ärzten treten Palliativmediziner. In Brodkeys Beschreibung dieses Rollenwechsels tritt neben dem Arzt Barry auch seine Frau Ellen in eine neue Rolle ein: „Das Ärgerliche am Tod auf der Türschwelle ist, dass es einem selbst passiert. Und auch, dass man nicht länger der Held seiner eigenen Geschichte ist, nicht einmal mehr deren Erzähler. Barry war der Held meiner Geschichte und Ellen die Erzählerin.“²³ Die Unklarheit darüber, in welcher Rolle man sich eigentlich befindet, gehört zu den besonderen Belastungen vieler Krankheits- und Sterbeverläufe. Paul Kalanithi macht auf die Identitäts- und Sprachprobleme aufmerksam, die sich aus der unklaren Rolle ergeben: „Auch die Verbkonjugation verschwimmt. Was ist richtig: Ich bin Neurochirurg, ich war Neurochirurg, ich war früher Neurochirurg und werde wieder Neurochirurg sein?“²⁴ Eine ähnliche Notiz findet sich auch bei Tom Lubbock: [T]here is a narrative problem. I don’t know at what stage, and in what story, I am. […] [A]t any time we live in stories, shapes, trajectories: we have envisageable ends, and envisageable paths towards them. Some conditions such as mine would be clearly moribund, and some would be looking for recovery, and some would be looking for reasonable life prolongation, but I don’t know what my narrative frame is – well, moribund, surely enough, but span is all.²⁵
Lubbock sträubt sich dagegen, sich vorschnell als Sterbender zu identifizieren: „A dying man – it’s just not me!“²⁶ Der Identitätskonflikt zwischen der Rolle des Überlebenden und jener des Sterbenden begleitet Lubbock über weite Strecken seiner Erkrankung. Er fühlt sich hin- und hergerissen zwischen zwei Rollen, die von einem einzigen Selbst verkörpert werden.²⁷ Die Beschreibungen der inneren
Brodkey, Die Geschichte meines Todes (s. Anm. 17), 80. Brodkey macht indirekt auf ein weiteres Merkmal von Sterbeerzählungen aufmerksam: Sie sind in besonderer Weise ko-konstruktiv, auf soziale Unterstützung angewiesen: Sei es, wie bei Lubbock und Herrndorf, bereits während des Erzählprozesses, sei es in Gestalt der posthumen Edition des hinterlassenen Berichts. Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe (s. Anm. 15), 164. Lubbock, Until Further Notice (s. Anm. 9), 61 f. Ebd. 86. Ebd. 129 (vgl. auch 140 und 142).
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und äußeren Bedenken, die Rolle der „Finalisten“ zu übernehmen, gehören zu den spannendsten Aspekten der von uns untersuchten Literatur. Kalanithi stellt fest, dass er die von Kübler-Ross beschriebenen Phasen in umgekehrter Reihenfolge durchlebt.²⁸ Und Hitchens kritisiert das „notorische Phasenmodell“ als in seinem Fall gänzlich unpassend. Durch seinen exzessiven Lebensstil habe er bewusst die Kerze an beiden Enden brennen lassen, weshalb es für ihn keinen Grund zum Lamentieren oder zum Zorn gebe. Was die Phase des sogenannten Feilschen betrifft, so liebe er zwar die Metaphorik des Kampfes. Er gibt jedoch zu bedenken, dass „das Bild des tapferen Soldaten oder Revolutionärs das Allerletzte“ sei, was einem angesichts eines an einer Infusion hängenden Patienten einfalle. Das Gefühl sei ein ganz anderes: „Sie fühlen sich überwältigt von Passivität und Ohnmacht – Sie lösen sich in Machtlosigkeit auf wie ein Stück Würfelzucker im Wasser.“²⁹ (2.) Als zweites Merkmal nannten wir eingangs die erzählerische Suche nach der Essenz ³⁰ und der Kohärenz der zu Ende gehenden Lebensgeschichte. Das trifft sich mit dem, was Emil Angehrn als die beiden Fluchtlinien solchen Erzählens herausarbeitet: die Suche nach der verlorenen Zeit und jene nach der Ganzheit des Lebens.³¹ Wer als Zuhörerende oder Leser in diese erzählende Suche einbezogen wird, tritt in die privilegierte Position eines Zeugen, dem offenbar wird, was dieses Leben erfüllte oder zumindest im Modus der Sehnsucht leitete. Thomas Fuchs’ Aussage, dass der „dunkle Hintergrund des Todes […] die Farben des Lebens zum Leuchten“ zu bringen vermag,³² lässt sich an vielen der in diesem Band untersuchten Berichte verifizieren. Sie bezeugen nicht nur das fragende Suchen, sondern nicht selten auch das Finden zum Wesentlichen, das sich im Erzählen klären mag, ihm jedoch vorausliegt. So etwa bei Barbara Rosenblum, die nach einer längeren und wechselvollen Krebserkrankung und vielen aufreibenden Therapien mit Blick auf das herannahende Ende schreibt: Ich habe den Eindruck, einfacher und einfacher zu werden, immer klarer zu sehen, was meine Essenz ist. Die Dinge sind nicht mehr so kompliziert. […] Ich erfahre meine Entscheidungen und Präferenzen eher als einen Schritt Richtung Klarheit denn als Begrenzung.
Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe (s. Anm. 15), 138 f. Hitchens, Endlich (s. Anm. 21), 32. Dass im Ringen mit dem Tod das Wesentliche (l’Essentiel) des Lebens auftaucht, ist ein Leitgedanke in Paul Ricœurs Reflexionen auf das ihm bevorstehende Sterben, vgl. ders., Lebendig bis in den Tod. Fragmente aus dem Nachlass, übers. u. hrsg. v. Alexander Chucholowski (Hamburg: Meiner, 2011), 16 ff. Vgl. 61– 78. Thomas Fuchs, Das ungelebte Leben, Michael Anderheiden und Wolfgang U. Eckart, Hg., Handbuch Sterben und Menschenwürde (Berlin: de Gruyter, 2012), 495 – 510, hier 508.
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Mag man diesem Prozess auch Simplifizierung nennen. Ich erlebe es eher als ein Ankommen im eigenen vollsten und wahrsten Selbst und der schlichten Anerkennung dessen, was ist. […] Ein Ankommen bei den wesentlichen Dingen.³³
Während die Einholung und Vergegenwärtigung dessen, was das zurückliegende Leben inspirierte und in der gegenwärtigen Situation kostbar macht, im schriftlichen Erzählen oft in reflexiver Weise geschieht, zeigt Wolfgang Drechsel, dass das mündliche Erzählen am Lebensende eher indirekten Wegen folgt. Drechsels Beobachtungen treffen sich mit dem, was Erhard Weiher als „symbolische Kommunikation“ Sterbender beschrieb.³⁴ Die besondere Rahmung, die durch das Bewusstsein der Todesnähe entsteht, verleiht scheinbar alltäglichen Mitteilungen eine symbolische Tiefendimension. Im Erzählen von der Kochleidenschaft, vom eigenen Weinberg oder von Fontanes Effi Briest kann zum Ausdruck kommen, womit sich jemand identifiziert (im Sinne von Harry Frankfurts „caring“³⁵), was ihn zeitlebens inspirierte und was ihn noch an der Todesschwelle trägt. Das kann sich mitunter, wie in einem von Douglas Ezzy zitierten Bericht eines 40-jährigen an AIDS erkrankten Mannes, in einem einzigen Satz kondensieren: „I hope I’ve been a good son.“³⁶ In der eigentümlichen Verschränkung der Zeiten stellt dieser für solche Gespräche in Todesnähe typische Satz ein Kondensat einer Lebensenderzählung dar. Die Hoffnung, die in ihm zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf ein Vergangenes, das zwar noch in die Gegenwart hineinreicht, letztlich in seiner Verwirklichung bereits abgeschlossen ist. An die erzählende Vergegenwärtigung zentraler Lebensmotive, die sich oft in Schlüsselerfahrungen verdichten, verbindet sich nicht selten mit Bemerkungen über den fragmentarischen Charakter dessen, was gelebt und verwirklicht werden konnte. Auch dafür finden sich in den untersuchten Berichten starke Bilder. Paul Kalanithi vergleicht sich beispielsweise mit einem Läufer, „der direkt hinter der Ziellinie zusammenbricht“³⁷. Entgegen der Vorstellung, die sich in Lebensenderzählungen äußernde Suche nach Kohärenz tendiere dazu, sein Leben als Roman zu erzählen, ist darauf hinzuweisen, dass bereits eine einzige Metapher genügen kann, dieses Kohärenzbedürfnis zu erfüllen. Der eben zitierte Satz, der Vollen-
Butler, Rosenblum, Cancer in two voices (s. Anm. 18), 105. Erhard Weiher, Symbolische Kommunikation in Seelsorge und Spiritual Care, in: Simon PengKeller, (Hg.), Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen, Berlin: de Gruyter, 2017 17– 34. Harry Frankfurt, The Reasons of Love (Princeton/Oxford: PUP, 2004). Douglas Ezzy, Finding Life Through Facing Death, in: Bruce Rumbold, Hg., Spirituality and Palliative Care. Social and Pastoral Perspectives (Oxford: OUP, 2002), 64– 81, hier 73. Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe (s. Anm. 15), 110.
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dung und Abbruch metaphorisch miteinander verknüpft, ist dafür ebenso ein Beispiel wie die Rede vom „roten Faden“ oder der „Leitmelodie“ eines Lebens. (3.) In der Suche nach einem passenden Ziel- und Endpunkt des Lebens machten wir eingangs das dritte Merkmal von Sterbeerzählungen fest. In ihrer Zukunftsorientierung unterscheidet sich diese Suche deutlich von jener nach der Essenz und Kohärenz des Lebens, die retrospektiv ausgerichtet ist. An die Stelle der Erinnerung tritt die Imagination, die erzählende Vergegenwärtigung des Erwarteten, Erhofften oder Befürchteten. Die imaginierte Zukunft kann näher oder ferner liegen. Es lässt sich behelfsmäßig zwischen drei Zukunftsdimensionen unterscheiden: Die erste findet sich in Erzählungen, in denen das Vergegenwärtigte noch im Nahhorizont der verbleibenden Lebensspanne lokalisiert ist. Die erzählerische Imagination bezieht sich in diesem Fall beispielsweise auf letzte Wünsche und noch zu Erledigendes, was testamentarische Verfügungen aber auch, wie bei Herrndorf, die Vorbereitung eines Suizids umfassen kann. Die zweite Zukunftsdimension kommt ins Spiel, wenn die Todesgrenze erzählend überschritten wird: im Ausmalen der eigenen Beerdigung oder der Lebenswege der zurückbleibenden Angehörigen und Freunde. Schließlich kommt in der erzählerischen Imagination von Sterbenden gelegentlich auch die „große“ Transzendenz zur Sprache und öffnet eine dritte Zukunftsdimension. Der Ausgriff in diese tiefste Zukunft hinein nimmt gelegentlich sehr konkrete Gestalt an. Nicht selten imaginieren Sterbende, jenseits des Todes mit bereits verstorbenen geliebten Menschen wiedervereinigt zu werden.³⁸ Die erzählerische Imagination kann jedoch auch die Form einer unbestimmten Sehnsucht annehmen. Emil Angehrn bringt sie mit Ernst Bloch zur Sprache: als tagträumerische Hoffnung, dass die Verheißung, die dem erinnerten Glück einwohnt, ihre Erfüllung finden wird. Der seltene Versuch, den eigenen Tod in Form einer kleinen Autothanatographie vorwegzunehmen, fand sich posthum in den autobiografischen Notizen des Psychoanalytikers Donald Winnicott. Nach zwei Zitaten von T.S. Eliot („Costing not less than everything“; „What we call the beginning is often the end. And to make an end is to make a beginning. The end is where we start from.“) und der Überschrift „Prayer“ findet sich das Gebet: „Oh God! May I be alive when I die.“ Darauf folgt die erwähnte autothanatographische Notiz: I died. It was not very nice, and it took quite a long time as it seemed (but it was only a moment in eternity). There had been rehearsals […]. When the time came I knew all about the lung heavy with water that the heart could not negotiate, so that not enough
Vgl. Simon Peng-Keller, Symbolische Kommunikation in Todesnähe. Beobachtungen klinischer Seelsorgerinnen und Seelsorger, in: ders. (Hg.), Bilder als Vertrauensbrücken. Die Symbolsprache Sterbender verstehen (Berlin: de Gruyter, 2017), 119 – 140, hier 133.
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blood circulated in the alveoli, and there was oxygen starvation as well as drowning. But fair enough, I had had a good innings: mustn’t grumble as our old gardener used to say … Let me see. What was happening when I died? My prayer had been answered. I was alive when I died. That was all I had asked and I had got it. (This makes me feel awful because so many of my friends and contemporaries died in the first World War, and I have never been free from the feeling that my being alive is a facet of some one thing of which their deaths can be seen as other facets: some huge crystal, a body with integrity and shape intrinsical in it.)³⁹
Winnicott nimmt nicht allein sein körperliches Sterben vorweg, sondern auch die Erhörung seines Gebets, noch im Sterben lebendig zu sein. In den Dank dafür mischt sich die mit den Kriegserinnerungen verbundene Scham, die ihn zeitlebens als Überlebender begleitete und ihn nun auch in seiner vorwegnehmenden Imagination des eigenen Sterbens neu überfällt. (4.) Wenn wir in der Einleitung den selbsttherapeutischen Charakter von Sterbeerzählungen als viertes Merkmal bezeichneten, dachten wir an die retrospektive Verarbeitung lebensgeschichtlich weiter zurückreichender Ereignisse. Wir hatten dabei besonders das mündliche Erzählen im Rahmen von Seelsorgegesprächen im Blick⁴⁰ und nahmen an, dass sich dieser Aspekt ebenso in schriftlichen Zeugnissen finde. Im Laufe unserer Untersuchung zeigte sich jedoch, dass die erzählerische Thematisierung belastender Lebensereignisse in dem von uns untersuchten schriftlichen Erzählen einen viel geringeren Raum einnimmt, als wir es vermutet hatten. Winnicotts Notiz, die auf weit zurückreichende Kriegserinnerungen Bezug nimmt, gehört nach unserer Wahrnehmung eher zu den Ausnahmen. (5.) Während das vierte Merkmal offenbar lediglich das mündliche Erzählen am Lebensende charakterisiert, konnten wir das fünfte auch für schriftliche Zeugnisse verifizieren: die erzählende Verarbeitung von krankheitsbedingten Veränderungen des Selbst- und Welterlebens, leibseelischem Schmerz und unvertrauten Erfahrungen. Erzählen am Lebensende kann in dieser Hinsicht als „emotionale Arbeit“ beschrieben werden.⁴¹ In den meisten von uns untersuchten Zeugnissen wird nicht allein der Krankheitsverlauf beschrieben, sondern ebenso die oft belastenden Erfahrungen in der Welt der Medizin. Wie in vielen publizierten Krankheitsberichten knüpft sich an die erzählerische Verarbeitung belastender
Donald W. Winnicott, Psycho-Analytic Explorations, hg.v. Claire Winnicott u. a. (Cambridge/ MA: Harvard University Press, 1989), 4. Um nur ein Beispiel unter vielen zu zitieren: George Fitchett, Steve Nolan, Spiritual Care in Practice. Case Studies in Healthcare Chaplaincy (London: Jessica Kingsley Publishers, 2015), 223 – 241. Vgl. den Beitrag Heike Gudats in diesem Band (284– 308).
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Widerfahrnisse nicht selten der ausdrückliche Wunsch, die eigenen Erfahrungen anderen Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Barbara Rosenblums Auseinandersetzung mit der Fehldiagnose ihrer Krebserkrankung und der Zweiklassenmedizin steht stellvertretend für viele andere Berichte.⁴² Bei Harold Brodkey tritt die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen hinzu. Sowohl Rosenblum als auch Brodkey beschreiben zudem eindringlich, wie das Zeiterleben durch Krankheit, Therapie und nahes Lebensende starken Veränderungen unterworfen ist. Der bisherige Tages-Nacht-Rhythmus zersplittert im Erleben Rosenblums in unzählige Zeitfragmente, während die Chemotherapie ihr einen Rhythmus von Übelkeit und Erschöpfung aufzwingt.⁴³ In Kalanithis Erleben verflacht die Zukunft zur immerwährenden Gegenwart.⁴⁴ Und Brodkey beschreibt den Verlust der Zukunft, die „zu einer weichen, matten Wand“ werde,⁴⁵ als Gefühl, von seinem Alter abgeschnitten zu sein, und als zweidimensionales Wirklichkeitserleben:⁴⁶ „Ich konnte kein vernünftiges Interesse an der Zukunft empfinden. Die einzelnen Momente wurden außerordentlich tiefenlos – nicht wertlos, aber flach und bedeutend leerer.Wenn man erfährt, dass man unheilbar krank ist, wird die Zeit zu einer höchst verwirrenden, vielleicht uninteressanten, banalen Sache.“⁴⁷ Doch wird nicht nur von einer Verflachung, sondern auch einer Verdichtung und Vertiefung der Zeit erzählt. Geburtstage, Feiertage und Jahreszeiten bekommen einen besonderen Glanz. Unter den Passivitäten, die Sterbeerzählungen beschreiben, finden sich auch solche glücklicher Art. Dazu gehören auch die Mehrheit jener visionären Erlebnisse, auf die Wolfgang Drechsler in seinem Beitrag aufmerksam macht und deren Erforschung das Vorlaufprojekt zum vorliegenden Studienband gewidmet war.⁴⁸ (6.) Im letzten von uns benannten Merkmal des Erzählens am Lebensende, seinem oft testamentarischen Charakter, überkreuzen sich Form und Inhalt. Das besondere Gewicht, das vielen der untersuchten Erzählungen zu eigen ist, ver-
Vgl. Simon Peng-Keller, Sich schreiben im Schatten des Todes. Zu Sandra Butlers und Barbara Rosenblums Cancer in two voices (1991), in: Hermeneutische Blätter, 2, 2016 (Sterben / Erzählen), 93 – 105, hier 95 f. Butler, Rosenblum, Cancer in two voices (s. Anm. 18), 27. Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe (s. Anm. 15), 165. Brodkey, Die Geschichte meines Todes (s. Anm. 17), 21. Ebd., 129. Ebd., 24. Vgl. Simon Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wachvisionen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care (Berlin: de Gruyter, 2017); ders., Symbolisierungen des ultimativen Abschieds. Zum Bilderleben Sterbender, in: Schweizer Archiv für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie 167 (2016), 81– 87.
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danken sie der Kraft letzter Worte.⁴⁹ Das betrifft gleichermaßen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, das mündliche und das schriftliche Erzählen. Auch wo dies nicht ausdrücklich benannt wird, haben letzte Worte einen Vermächtnischarakter. Sie lassen sich als Abschiedsworte zu verstehen, in die sich letzte Wünsche und Hinweise an die Zurückbleibenden mischen können. Sie besiegeln das zu Ende gehende Leben, verewigen es im Medium des Wortes. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür bildet das Abschiedsgedicht von Alfonsina Storni, in dem auch die genannten Dimensionen prospektiver Imagination in eigentümlicher Verschränkung auftauchen. Bevor sich Storni am 25. Oktober 1938 in der Morgenfrühe von einer Mole in den Südatlantik stürzte, schickte sie dieses Gedicht kommentarlos an die argentinische Tageszeitung La Nación, die es am darauffolgenden Tag zusammen mit ihrer Todesanzeige veröffentlichte. Der bevorstehende Tod wird als Einschlafszene imaginiert, die das Gefühl einer kosmischen Geborgenheit evoziert: Ich gehe schlafen Blütenzähne und eine kleine Haube aus Tau, Hände wie Kräuter, du, meine feine Amme. Mach mein Bett parat, mit Leintüchern aus Erde Und einer dicken Decke aus gezupftem Moos. Bald geh ich schlafen, meine Amme, bring mich ins Bett. Stell mir ein Lämpchen hin, Irgendein Sternbild, das dir gefällt. Mir ist jedes recht. Ein klein wenig näher bitte. Lass mich allein. – Du hörst die Knospen aufbrechen … von oben wiegt ein Himmelsfuß dich ganz leise und ein Vogel zeichnet eine Melodie dazu damit du vergisst … Danke. Ach, noch eine Bitte: Falls er noch einmal telefoniert, Sag ihm, es habe nun keinen Zweck mehr, ich sei gegangen …⁵⁰
Vgl. Simon Peng-Keller, Vom Sinn letzter Worte. Dignity Therapy als Spiritual Care, in: Elena Ibello und Anne Rüffer, Hg., Reden über Sterben (Zürich: rüffer & rub 2016), 12– 25. Übersetzt von Hildegard E. Keller, zitiert nach: Dies., „Voy a dormir“ und „Alfonsina y el mar“. Das Abschiedsgedicht einer Autorin und das Lied über eine Selbstmörderin, in: Hermeneutische Blätter, 2, 2016 (Sterben / Erzählen), 33 – 51, hier 49.
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3 Die Frage nach dem Sinn des Erzählens am Lebensende Lebenszeit ist umso kostbarer, je absehbarer das Lebensende ist. Die Zeit, die noch bleibt, so der allgemeine Wunsch, soll mit wesentlichen Dingen gefüllt sein. Dass so viele Menschen unter den Bedingungen des sich abzeichnenden Endes bereit sind, einen Teil der verbleibenden Lebenszeit schreibend zu verbringen, ist zumindest auf den ersten Blick merkwürdig. Denn Schreiben kostet ja nicht nur Zeit, sondern ist auch mit Mühe und in Krankheitssituationen oft auch mit zusätzlichem Schmerz verbunden. Was bewegt Menschen dazu, all das auf sich zu nehmen, um von ihren Erfahrungen in Todesnähe zu erzählen? Allan Kellehear deutet dieses Erzählbedürfnis als Suche nach einer narrativen Einheit des Lebens⁵¹ und der „letzten Inspiration“⁵². Corina Caduff weist auf den Autonomiegewinn hin, der solches Erzählen zu erzielen vermag.⁵³ Wolfgang Herrndorffs Buch Arbeit und Struktur, das in diesem Band mehrfach zur Sprache kam, belegt in programmatischer Weise, wie das Erzählen in Todesnähe dazu beitragen kann, die verbleibende Lebenszeit selbstbestimmt zu verbringen und reflexive und imaginative Freiheitsräume zu eröffnen. Erzählend bewahren sich Menschen am Lebensende ihre soziale Identität.⁵⁴ Das Erzählen ermöglicht nicht nur eine Distanzierung zum unmittelbar Erlebten, sondern schafft darüber hinaus Reflexions- und Imaginationsräume. Es ermöglicht Souveränität über die Zeit.⁵⁵ Das zeigt sich am stärksten, wo es sich um sterbende Autoren handelt, die sich als solche auch angesichts des baldigen Todes behaupten und das kreative Potential ihrer ungemütlichen Situation abschöpfen. Nimmt man all das in den Blick, so kann man bereits jetzt festhalten: Das Erzählen am Lebensende zieht seinen Sinn nicht aus dem bevorstehenden Tod, sondern aus dem Leben, das erinnert und imaginiert wird. Als kreativer und kommunikativer Vollzug ist es in sich sinnstiftend. Allan Kellehear, The Inner Life of the Dying Person (New York: CUP, 2014), 11. Ebd., 12. Corina Caduff, Szenen des Todes. Essays (Basel: Lenos, 2013), 152, 158. Dass ihm das Aufschreiben geholfen habe, sich gegen den Verlust seiner Autonomie zu wehren, betont auch Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung (München: Kiepenheuer & Witsch, 2009), 9. Vgl. noch einmal den Beitrag Heike Gudats in diesem Band. Vgl. John M. Coetzee, Doubling the Point. Essays and Interviews (Cambridge: HUP, 1992), 203 f.: „As for writing and the experience of writing, there is a definite thrill of mastery – perhaps even omnipotence – that comes with making time bend and buckle, and generally with being present when signification, or the will to signification, takes control over time.“
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Die eben beschriebenen Merkmale weisen auf weitere Sinndimensionen solchen Erzählens hin. Es hat, wie Arnulf Deppermann, Heike Gudat, Brigitte Boothe und Dragica Stix zeigen, schon allein als Selbstpositionierung in einem sozialen Raum seinen kommunikativen Sinn.⁵⁶ Es dient, wie bereits erwähnt, mitunter dazu, aktuelle Erfahrungen zu verarbeiten und sich unter neuen Bedingungen Orientierung zu verschaffen. Erzählend können dichte Lebensmomente dankbar vergegenwärtigt, Schuld bekannt und bereut oder verpasste Lebensmöglichkeiten betrauert werden. Und nicht zuletzt enthalten die untersuchten Selbstberichte auch Lebensbilanzen und letzte Worte für die Zurückbleibenden. Hält man sich an die Texte, so ist die Frage nach dem Sinn des Erzählens am Lebensende vielfältig und deshalb nur mit Blick auf den konkreten Fall zu beantworten. Die Frage nach dem Sinn lässt sich jedoch noch auf einer anderen, wenn man möchte: tieferen Ebene stellen. Denn lassen sich die genannten Aspekte nicht nochmals bündeln als Ausdruck einer Suche nach dem Sinn „des Ganzen“? Kellehear scheint das zumindest nahezulegen, wenn er schreibt: „Although life can seem to be a series of random, sometimes cruel, events, most of us cannot leave it at that. We need to try to make sense of it, to tell a final story to ourselves, even to those we love, about how our story ends, how the story of me ends.“⁵⁷ Kellehears Beobachtungen laufen auf die These zu, der Sinn des Erzählens am Lebensende sei „letztlich“ die Suche nach dessen letztem Sinn. Lässt sich diese These an den von uns untersuchten Texten belegen? Oder anders gefragt: Handelt es sich überhaupt um eine empirische Aussage, die sich an Texten belegen ließe? Ist Kellehears Aussage eher als philosophische, gar als theologische These zu verstehen? Diese Fragen lassen mindestens zwei Antwortvarianten zu: eine bescheidenere und eine anspruchsvollere. – Die bescheidenere besteht darin, die evaluative Suche nach dem „Sinn des Ganzen“ in die obige Reihe der Sinnmöglichkeiten zu stellen und darin etwas zu sehen, was das Schreiben in Todesnähe inspirieren kann. Darüber hinausgehend könnte man jedoch auch darauf hinweisen, dass jede Form des Erzählens eine Form der Sinnbildung darstellt und der Mensch als storytelling animal ein sinnsuchendes Wesen ist und es bis zu seinen letzten Worten bleibt. Was das Erzählen in Todesgewissheit auszeichnet, wäre so gesehen, dass der „dunkle Hintergrund des Todes“ nicht allein „die Farben des Lebens“, sondern auch die Sinnbildungs Ausführlich dazu: Sandra Adami, Zwischen Annäherung und Distanzierung. Die sprachliche Verhandlung der Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit bei der Diagnose Darmkrebs. Eine qualitative Analyse (Freiburg i.B.: Universität Freiburg i.B. 2015), https://freidok.uni-freiburg.de/ data/10055 (letzter Zugriff: 20.02. 2017). Kellehear, The Inner Life of the Dying Person (s. Anm. 51), 52.
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prozesse zum Leuchten bringt,⁵⁸ die in allem Erzählen am Werke sind. Angesichts des Widersinns von Krankheit und Tod wächst den durch das Erzählen aufgespannten Sinnhorizonten eine stärkere Leuchtkraft zu. Dass auch ihre Brüchigkeit stärker aufscheint, steht dazu nicht im Widerspruch. Die anspruchsvollere Variante, die Frage nach dem Sinn finalen Erzählens zu beantworten, kennt ihrerseits Variationen. Das sich in solchem Erzählen manifestierende Sinnbedürfnis kann man mit Friedrich Nietzsche und Hans Blumenberg als eine der menschlichen Selbsterhaltung dienende Strategie interpretieren, den Abgrund des Todes und die Absurdität mit einem apollinischen Schleier zu überdecken. Erzählen am Lebensende wäre dann eine Form palliativer Imagination, eine Sinnkonstruktion, die ebenso illusionär wie lebensdienlich ist. Oder in den Worten von Silvia Bovenschen formuliert, die angesichts ihrer Endlichkeit auf die treibende Kraft hinter ihrem Erzählbedürfnis reflektiert: Was tue ich hier? Geht es um die Rettung (Selbstbehauptung) meines altgewordenen Ichs? […] Ich glaube eigentlich (?) nicht an diese Ich-Behauptungen, jedenfalls nicht in ihren essentialistischen Varianten […]. An die Kontinuität der Geschichte meines Lebens, die doch wohl eher eine Kontinuität der Brüche war. Aus irgendeinem Grund benötigt mein Geist diese Kontinuitätsveranstaltung.⁵⁹
Finales Erzählen kann man jedoch – mit Paul Ricœur⁶⁰ und Emil Angehrn – auch als Versuch sehen, einen „entgegenkommenden Sinn“⁶¹ zu artikulieren oder die Stelle zu markieren, an der sich ein Sinn zeigt, der erzählend nur angedeutet werden kann: als Präsenzereignis, das sich einer Versprachlichung weitgehend entzieht. Die Texte, die aus einem solchen Ausloten der Grenzen des Erzählbaren hervorgehen, wären dann als Zeugnisse zu lesen, denen der Anspruch innewohnt, der erzählend geborgene oder zumindest ertastete Sinn erschöpfe sich nicht in Selbstvergewisserung und Selbsttröstung, die mit dem Tod derer, die ihn bezeugen, zu Ende kommt. Zu vermuten ist, dass es nicht zuletzt diese Sinnverheißung ist, die den in diesem Band untersuchten Erzählungen gegenwärtig eine solch große Resonanz einbringt.
Fuchs, Ungelebtes Leben (s. Anm. 32), 508. Silvia Bovenschen, Älter werden (Frankfurt a. M.: Fischer, 2008), 153. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung. Band II: Zeit und literarische Erzählung (München: Fink, 1989), 46 – 51. Ricœur setzt sich kritisch mit Frank Kermodes These auseinander, die narrative Suche nach finaler Konsonanz, nach dem „guten Ende“, folge einem menschlichen Trostbedürfnis, das angesichts des Todes in besonderer Intensität auftrete. Emil Angehrn, Der entgegenkommende Sinn: Offenbarung und Wahrheitsgeschehen, in: Christof Landmesser und Andreas Klein, Hg., Offenbarung – verstehen oder erleben? Hermeneutische Theologie in der Diskussion (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2012), 59 – 76.
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Um einem Missverständnis zuvorzukommen: Die Frage nach dem Sinn des Erzählens am Lebensende ist sorgsam zu unterscheiden von jener, ob menschliches Leben selbst seinen Sinn aus einer narrativen Struktur zieht, die durch den Tod seine finale Form bekommt. Diese Sicht vertrat beispielsweise Georg Simmel, wenn er dem Tode eine formgebende Bedeutung zuschrieb: „Er begrenzt, d. h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt.“⁶² Als Schluss- und Zielpunkt einer Lebensgeschichte käme dem Tod dann jene Rolle zu, die in einer Erzählung ihr Ende hat.⁶³ Es liegt auf der Hand, dass diese Sicht, ähnlich wie das einstige Verständnis der Todesstunde als alles entscheidender Moment, das Lebensende in hohem Maße ethisch auflädt. Ein „guter Tod“ ist dann nicht nur intrinsisch wünschenswert, sondern auch deshalb, weil er das Leben abrundet und ihm so rückwirkend Sinn verleiht. Was in der positiven Variante annehmbar erscheinen mag, entpuppt sich in seiner negativen Version als problematische Überlastung der Faktizität von Sterbeverläufen. Die Vorstellung, dass ein „schlechter Tod“ (was immer darunter zu verstehen ist) sich negativ auf den Gesamtsinn des gelebten Lebens auswirken soll, überspannt die Analogie zwischen Erzählung und Leben in einer Weise, die sich ähnlich belastend auf konkrete Sterbeverläufe auswirken kann, wie die von Kellehear kritisierte Dominanz bestimmter Sterbenarrative.⁶⁴ Wie Michael Coors in seinem Beitrag herausstellt,⁶⁵ ist die sich durch die Analogie zwischen Leben und Erzählung zumindest nahelegende Positivierung des Todes auch aus theologischer Sicht zu kritisieren. Sie führt nicht zuletzt zu einer isolierten Betrachtung von einzelnen Lebensgeschichten und verdeckt ihre Verwobenheit mit anderen Geschichten. Die überzogene Erwartung, dass Lebensgeschichten sich in sich runden sollten und ein Kammerherr ein Kammerherrentod sterben sollte, wird korrigiert, wenn Lebensgeschichten als Teil einer sie
Georg Simmel, Zur Metaphysik des Todes, in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais (Berlin: de Gruyter, 1984), 29 – 35, hier 31. Die Vertreter des hier referierten Arguments haben, ohne das zu thematisieren, klassische Erzählformen vor Augen, in denen dem Ende die Aufgabe zukommt, den (Haupt‐)Erzählstrang konsequent abzuschließen. Dass modernes Erzählen sich gerade auch gegen diesen Zwang des guten Endes stellt, wird dabei übersehen. Eine ausführliche Kritik dieses „narrativistischen Arguments“ findet sich bei Marianne Kreuels, Über den vermeintlichen Wert der Sterblichkeit. Ein Essay in analytischer Existenzphilosophie (Berlin: Suhrkamp, 2015). 197– 216, hier 211– 215.
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umfassenden Geschichte wahrgenommen werden. Und dies kann sowohl in religiöser als auch nichtreligiöser Form geschehen. Bei aller Kritik an der These vom Tod als narrativem Ende einer Lebensgeschichte ist festzuhalten: Für die Zurückbleibenden und ihren Trauerprozess ist es zweifellos in hohem Maße bedeutsam, wie sie das Sterben eines nahestehenden Menschen erleben und erzählen. Wie das Sterben von ihnen wahrgenommen wird – ob als runder Abschluss, jäher Abbruch oder qualvolles Dahinsiechen –, schreibt sich nicht selten in die Lebensgeschichte der Überlebenden ein und prägt ihre eigenen Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich Sterben und Tod. Die wahrnehmungsformende Vorstellung, dass Menschen so sterben wie sie leben – Winnetou einen Winnetou-Tod und der Kammerherr ein Kammerherren-Tod –, kann vor diesem Hintergrund als ein Trostnarrativ verstanden werden, der das Kohärenzbedürfnis der Zurückbleibenden stillt und die Hoffnung nährt, dass das eigene Leben sich in möglichst ferner Zukunft sinnreich runden werde.
4 Die Bedeutung faktualer Sterbeberichte für das Verstehen von Sterbeprozessen Die Untersuchung faktualen Erzählens am Lebensende kann sich mit dem Anspruch verbinden, in wissenschaftlichen oder öffentlichen Diskursen über Sterben und Tod die Stimme der Betroffenen zu Gehör zu bringen. Die wissenschaftliche und klinische Wahrnehmung des Sterbens unterliegen einer Verzerrung, die auf das zurückzuführen ist, was Havi Carel und James I. Kidd als „epistemische Ungerechtigkeit im Gesundheitsbereich“ beschrieben haben.⁶⁶ Gewisse Erzählformen, so die Beobachtung, genießen in klinischen Kontexten grossen Kredit, während andere von vornherein als „unzuverlässig“ disqualifiziert werden. Weil Erfahrungen von Sterbenden empirisch und kommunikativ schwer zugänglich sind, wird ihnen in der wissenschaftlichen und klinischen Wahrnehmung von Todesverläufen nicht jene Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdienen. In seiner kritischen Analyse gegenwärtiger Vorstellungen vom Sterben konstatiert Allan Kellehear nicht allein eine Dominanz der medizinischen Perspektive, sondern ebenso, dass Sterbeverläufe in der Regel aus der Perspektive der Zurückbleibenden konstruiert werden, ohne dabei hinreichend zu beachten, dass die Außen- und Innenperspektiven gerade in Sterbeprozessen stark divergieren. Was Angehörige und Pflegende wahrnehmen, entspricht nicht unbedingt der Havi Carel/James I. Kidd, Epistemic injustice in healthcare: a philosophical analysis, in: Medicine, Health Care and Philosophy 17 (2014), 529 – 540.
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Selbstwahrnehmung von Sterbenden. Kellehear, der sich selbst an mehreren empirischen Studien zu Sterbeerfahrungen beteiligte, macht darauf aufmerksam, dass aufgrund der ethischen und praktischen Schwierigkeiten, in diesem Bereich Forschungsprojekte durchzuführen, die Perspektive der Sterbenden in der Forschungsliteratur stark unterrepräsentiert ist. Wie Walter Bruchhausens Beitrag zeigt,⁶⁷ gilt das auch für weite Teile der Medical Humanities. Sie verschaffen zwar den Krankheitserfahrungen Gehör, viel weniger jedoch den Sterbeerfahrungen. Das von Kellehear und anderen vertretene Anliegen hat sich, wie eingangs erwähnt, mit mehreren Einwänden auseinanderzusetzen. Neben dem sich auch bei Krankheitserzählungen stellenden Problemen der Zuverlässigkeit und der Verallgemeinerbarkeit konkreter Zeugnisse kommt bei Sterbeerzählungen das Problem hinzu, dass sie den Sterbeverlauf nur bis zu einem gewissen Punkt schildern können und dann abbrechen. Die Grenze, an die auch empirische Studien stoßen, zeigt sich auch in den von uns untersuchten Texten deutlich: Die finale Sterbephase kann nicht mehr selbst erzählt werden, weil sie alle Kräfte der Sterbenden absorbiert und es sich um eine Erfahrung handelt, die sich einem retrospektiven Erzählen entzieht. Trotz dieser Vorbehalte gibt es gute Gründe, die es rechtfertigen, den Selbstberichten Sterbender in der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Sterbeprozessen ein größeres Gewicht einzuräumen, als dies bislang der Fall war. Sie können das Verstehen von Sterbeverläufen in mindestens dreierlei Hinsicht bereichern: als Korrektiv, als deskriptive Präzisierung und als Ergänzung zu dem, was aus der Außenperspektive zu beobachten ist. 1) Narrative Selbstzeugnisse als kritische Korrektive: Den faktualen Berichten Sterbender kommt allein schon deshalb eine Korrekturfunktion zu, als sie auf Perspektivendifferenzen und die Neigung aufmerksam machen, von dem Beobachtbaren auf die Innenperspektive der Erlebenden zu schließen oder die Perspektive der betroffenen Angehörigen mit jener der Sterbenden zu vermengen. Für die Frage der angemessenen Begleitung sind solche Berichte zudem deshalb informativ, als in ihnen oft auch professionelle Helfer und Anund Zugehörige auftauchen. Die untersuchten Texte sind auch solche über wohltuende und belastende Formen professioneller Begleitung am Lebensende. Besonders lehrreich sind Berichte, in denen die Doppelperspektivität zum Gestaltprinzip wird⁶⁸ oder die von Menschen verfasst wurden, die bis vor kurzem selbst auf die Seite der Helfenden gehörten.⁶⁹ Eine kritische Unter-
Vgl. 259 – 282. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist Butler, Rosenblum, Cancer in two voices (s. Anm. 18). Kalanithi, Bevor ich jetzt gehe (s. Anm. 15).
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suchung von Sterbeberichten kann auch zeigen, wie gängige Vorstellungen vom Sterben das Erleben der Betroffenen prägen und diese mitunter zu einer reflexiven Distanzierung nötigen. So tauchen Kübler-Ross’ Sterbephasen, wie bereits erwähnt, in nicht wenigen Berichten auf – als Modell, das durch den eigenen Sterbeprozess gerade falsifiziert wird. 2) Narrative Selbstzeugnisse als „hermeneutische Stethoskope“ ⁷⁰: Wie in anderen Bereichen, in denen es um das genaue Verstehen bestimmter Lebensprozesse geht, können faktuale Berichte von Sterbenden zur deskriptiven Präzisierung genutzt werden. Was es heißt, an ALS oder einem Glioblastom zu sterben, lässt sich durch die Lektüre von Philip Simmons’ Learning to Fall ⁷¹ oder Tom Lubbocks Until Further Notice, I Am Alive ⁷² besser verstehen als durch das Studium entsprechender medizinischer Literatur, in der die Krankheits- und Sterbeverläufe weitgehend unter Ausklammerung der Bedeutung geschildert werden, die ihnen im Kontext konkreter Lebensgeschichten zuwächst. Zählt man nicht allein die Theologie, sondern auch die Medizin und Pflegewissenschaft zu den praktischen Wissenschaften, ist das durch faktuale Berichte zu gewinnende Wissen nicht gering zu schätzen. 3) Narrative Selbstzeugnisse als komplementäre Wissensquellen: Neben der Korrektur und der Präzisierung vorhandenen Wissens über Sterbeverläufe können die hier thematisierten Berichte auch Aspekte erschließen, die nur so gewonnen werden können. Insofern stellen die in Todesnähe verfassten Selbsterzählungen zumindest in einigen Fällen komplementäre Wissensquellen dar.Wie sich im Verlauf eines Sterbeprozesses die Wahrnehmung und das Selbsterleben verändert, lässt sich nicht anders als durch die Selbstberichte der Betroffenen in Erfahrung bringen. Das gilt insbesondere für das intensive bildhafte Erleben, das nach jüngsten empirischen Untersuchungen ein wesentlicher Bestandteil von Sterbeprozessen darstellt.⁷³ Ob auch die Berichte, die von ähnlichen visionären Erfahrungen in episodischer Todes-
Richard Martinez, Narrative Understanding and Methods in Psychiatry and Behavioral Health, in: Rita Charon, Martha Montello (Hrsg.), Stories Matter: The Role of Narrative in Medical Ethics (New York: Routledge, 2002), 126 – 137, hier 131. Philip Simmons, Learning to Fall. The Blessings of an Imperfect Life (New York: Bantam, 2000). Lubbock, Until Further Notice, I Am Alive (s. Anm. 9). Christopher W. Kerr/James P. Donnelly/ Scott T. Wright/Sarah M. Kuszczak/Ane Banas/ Pei C. Grant/ Debra L. Luczkiewicz, End-of-Life Dreams and Visions. A Longitudinal Study of Hospice Patients’ Experiences, in: Journal of Palliative Medicine 17/3 (2014), 296 – 303; Allan Kellehear, Sterbebett-Visionen. Relevanz für die Palliative Care, in: Pierre Bühler und Simon Peng-Keller, Hg., Bildhaftes Erleben in Todesnähe. Hermeneutische Erkundungen einer heutigen ars moriendi (Zürich: TVZ, 2014), 121– 131.
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nähe berichten, verlässliche Informationen über das Erleben von Sterbenden bieten, darüber lässt sich naturgemäß nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Auch wenn der Anspruch vieler Nahtoderfahrungsberichte, eine detailgenaue Wiedergabe des Erlebten darzustellen, aus erzähl- und diskursanalytischer Perspektive fraglich erscheint:⁷⁴ Es gibt wenig Anlass zu bezweifeln, dass das, was Menschen in episodischer Todesnähe erleben, weitgehend dem entsprechen dürfte, was ihnen in der Finalphase des Sterbeprozesses widerfährt.
Ein solcher Authentizitätsanspruch übergeht zum einen die (in manchen Berichten durchaus benannten) Schwierigkeit, ein außerordentliches Erleben visionärer Art zu versprachlichen. Die Artikulation solchen Erlebens ist auf Narrative angewiesen, die das Erlebte formen und insofern auch schon interpretieren. Zum andern geht im Zusammenhang von Nahtoderfahrungsberichten in der Regel der kommunikative Zusammenhang vergessen, dem sie sich verdanken. Vgl. dazu: Peng-Keller, Sinnereignisse in Todesnähe (s. Anm. 48), 77– 82.
Namenregister Abbott, H. Porter 26 Abel, Julia 89 Abel, Olivier 73 Ächtler, Norman 1, 22 f., 52 f. Adami, Sandra 126, 136 f., 328 Agamben, Giorgio 74 Ahrens, Petra-Angela 203 Ajdacic-Gross, Vladeta 145 Allen, Richard 86 Altwasser, Volker Harry 69 f., 74 Alzheimer, Alois 159 f. Amann, Klaus 274 Amenábar, Alejandro 278 Améry, Jean 139, 147 – 149, 152, 205 Améry, Marie 147 Anderheiden, Michael 7, 115, 278, 321 Androutsopoulos, Jannis 119 Angehrn, Emil 11, 61 – 78, 270, 321, 323, 329 Aristoteles 67, 70, 83, 87 f., 198 Arendt, Hannah 221 Arndt-Sandrock, Gabriele 202 Assauer, Rudi 165, 167 – 169, 171, 173 f. Atkinson, Paul 305 Augustinus 62, 164, 171 Aumü ller, Matthias 24, 26 – 28 Austen-Leighs, James E. 279 Auster, Paul 64 Authenrieth, Ulla 134 Baker, Alan 52 Bamberg, Michael G. W. 6 Barbellion, Willian N. P. 316 Bardenheuer, Hubert J. 7 Barthes, Roland 109 f. Beauchamp, Tom L. 201 Beauvoir, Simone de 279 Belling, Catherine 201, 217, 221, 261 Benjamin, Walter 221 Berner, Knut 212 Berzlanovich, Andrea 145 Bion, Wilfried 246 Birke, Dorothee 88 https://doi.org/10.1515/9783110600247-017
Bloch, Ernst 76, 323 Blöcker, Gü nther 98 Blödorn, Andreas 89 Blumenberg, Hans 329 Blumhardt, Christoph 194 Boethius 181 Bolton, Gillie 261 Bölts, Stephanie 3 Booth, Wayne 39 Boothe, Brigitte 22, 139 – 157, 220, 315, 328 Bopp-Kistler, Irene 159, 161 Borasio, Gian Domenico 217, 229 f., 312 Bormann, Franz-Josef 217, 312 Bormuth, Matthias 205 Bösel, Sebastian 228 Boss, Pauline 159 Bovenschen, Silvia 329 Boyd, Kristy 293 Briese, Olaf 280 Brinker, Kurt 140 Brockmeier, Jens 163 f., 175, 228, 232 – 234, 283 Brodkey, Harold 317 – 320, 325 Brody, Howard 224 – 227 Brooks, Peter 87 Bruchhausen, Walter 3, 14, 259 – 282, 332 Bryden, Christine 165 – 167, 170, 172 Bucher, Toralf 145 Bueger, Christian 81 Bühler, Pierre 44, 51, 213, 333 Bullerjahn, Claudia 134 Buñuel, Luis 2, 10, 43 f., 48 – 50, 56 – 59 Bury, Mike 289 Butler, Sandra 319, 322, 325, 332 Caduff, Corina 327 Canetti, Elias 197, 314 Capps, Lisa 124 Carbaugh, Donal 163 f. Carel, Havi 331 Carr, David 118, 227 f. Carrière, Jean-Claude 49 Carroll, Noël 84
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Namenregister
Casanova, José 54 Charmaz, Kathy 291, 304 Charon, Rita 260, 262, 284 – 286, 333 Chatman, Seymour 28 Childress, James F. 201 Chion, Michel 133 Chochinov, Harvey M. 285 Chucholowski, Alexander 216, 321 Cierpka, Manfred 49 Clark, Marc 224 Coetzee, John M. 327 Cole, Thomas R. 206 Collard, Anna 38, 264, 285 Conradi, Peter 202 Coors, Michael 2, 13, 108, 197 – 216, 229, 259, 330 Corsten, Michael 3 Daemmrich, Horst S. 46 Daemmrich, Ingrid G. 46 Daiute, Colette 285 Dalferth, Ingolf U. 210 Danneberg, Lutz 29 Danto, Arthur C. 67, 88, 122 DasGupta, Sayantani 36, 284, 305 Dausner, René 192 Davis, Robert 166 DeBaggio, Thomas 165, 170, 173 – 175 Decker, Kerstin 107 f. De Fina, Anna 117 Deister, Arno 144 Deppermann, Arnulf 12, 115 – 137, 198 f., 302, 318, 328, Dilthey, Wilhelm 67, 162 Drechsel, Wolfgang 14, 239 – 258, 319, 322 Dreßke, Stefan 205 – 211 Durkheim, Emile 145 Dü rst, Anne-Veronique 305 Dü well, Marcus 222, 277 Eckart, Wolfgang U. 7, 115, 321 Eckel, Jan 112 Edvardsson, David 286 Ehlich, Konrad 24, 28 Eibl, Karl 27 Eichinger, Ludwig 133 Eisenwort, Brigitte 145
Eisenwort, Gregor 145 Ellens, J. Harold 268 Elwyn, Glyn 261 Emanuel, Ezekiel J. 205 Emanuel, Linda L. 205 Emerson, Ralph Waldo 197, 314 Engel, Manfred 312 Engelhardt, Dietrich von 280 Engelke, Ernst 216 Enskat, Rainer 269 Etzemü ller, Thomas 112 Eva, Gail 36 f., 39, 287 Ezzy, Douglas 322 Felder, Ekkehard 115 Feldmann, Klaus 115 Fenske, Uta 1 Ferrell, Betty R. 267 Figge, Horst H. 274 f. Fischer, Susanne 203 Fitchett, George 324 Flasch, Kurt 164, 181 Fludernik, Monika 28 Foessel, Michaël 181 Foley, Daniel J. 293 Fontane, Theodor 322 Forster, Edward Morgan 279 Förstl, Hans 160 Frank, Arthur W. 168, 175, 228, 233 f., 261, 284, 288, 300, 306, 316 Frankfurt, Harry 322 Frebel, Lisa 161 Freeman, Mark 164, 232 – 235 Frei, Andreas 145 Frenzel, Elisabeth 46 Fricker, Miranda 37 Frisch, Max 5, 189, 317 Frisé, Adolf 98 Fuchs, Thomas 321, 329 Fugain, Michel 179, 195 Fuhrmann, Manfred 83 Gabriel, Gottfried 81 Gadinger, Frank 81 Ganschor, Luise 119, 131 Ganzini, Linda 203 Gehring, Petra 211
Namenregister
Geiger, Arno 80, 161 Genette, Gérard 102 f., 117 f., 165 Georgakopoulou, Alexandra 117, 132 Giebel, Astrid 242 Gigon, Olof 181 Glaser, Barney G. 284, 293 Goethe, Johann Wolfgang von 62, 79 Goffman, Erving 125 Grande, Jasmin 42 Greenhalgh, Trisha 36, 38, 217, 261, 264, 270, 284 f., 306 Greisch, Jean 197 Griebner, Reinhard 105 f. Groleau, Danielle 286 Groß, Dominik 42 Gudat, Heike 1, 3, 14, 283 – 308, 324, 327 f. Gü lich, Elisabeth 140 Gunaratnam, Yasmin 36, 38 – 40, 168, 228, 284 f. Guoqiang, Qiao 22 Guralnik, Jack M. 293 Gwyn, Richard 261 Gygax, Franziska 3 Haas, Stefanie 197 Habermas, Jü rgen 201 Hädecke, Wolfgang 107 f. Hähner, Olaf 100 Hakers, Hille 6 Halbwachs, Maurice 73 Haldemann, Frank 190 Hall, Joanne M. 285 Hamacher, Bernd 97 Hammer, Andreas 132 Hammer, Rachel 261 Hardy, Barbara 283 Hart Nibbrig, Christiaan L. 5, 190 Hauerwas, Stanley 202 Hausendorf, Heiko 140 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 66 Heidegger, Martin 70, 89, 116 Heine, Heinrich 12, 107 – 109, 139 Heine, Matthias 42 Heinrich, Klaus 72 Heinrichs, Bert 277 Hellwig, Karin 99 Henning, Tim 82 f.
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Henrich, Dieter 70, 73 f. Henseler, Heinz 152 Herbert, Ulrich 99 f. Herman, David 6 Herrndorf, Wolfgang 69, 74, 92 f., 116, 119, 134, 187, 193 f., 204, 320, 323, 327 Herxheimer, Andrew 263 Hess, Volker 270 Hille, Stephan 228 Hindenburg, Paul von 12, 104 f., 107, 109 Hippokrates 276 Hirschauer, Stefan 274 Hitchens, Christopher 44, 319, 321 Hofheinz, Marco 200, 213, 259 Hollway, Wendy 304 Holly, Werner 133 Holritz Rasmussen, Birgit 286 Homann, Ursula 147 Hörl, Christoph 215 Hovey, Richard 287, 306 Hü benthal, Christoph 222 Hudson Jones, Anne 277 Hü hn, Peter 21, 26 Hü lk, Walburga 52 Hunsaker Hawkins, Anne 288 Hurst, Marsha 268 Hurwitz, Brian 36, 217, 261, 264, 270, 284, 306 Husserl, Edmund 209 Hydén, Lars-Christer 173, 175, 228, 230, 232 – 234, 283 f., 291 Hyvärinen, Matti 228, 230, 232 f. Iakushevich, Marina 8 Ibello, Elena 161, 326 Imhof, Kurt 129 Inhetveen, Rü diger 29 Irvine, Craig 268, 284, 305 Jacobi, Rainer-M. E. 277 Jagow, Bettina von 280 Jahraus, Oliver 29 f. Jannidis, Fotis 23, 28 Jarzebski, Sebastian 81 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) Jefferson, Tony 304 Jobs, Steve 126
63
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Namenregister
Johanns, Ulrike 243 Johnson, Ginger A. 286, 289 Joisten, Karen 218 Joyce, James 262 Jox, Ralf 198 Jü ngel, Eberhard 213 Kafka, Franz 79 Kalanithi, Paul 317, 320 – 322, 325 Kallmeyer, Werner 122 Kammandel, Verena 280 Kamphaus, Franz 183 Kaplan-Myrth, Nili 261 Karasek, Hellmuth 184 Käser, Rudolf 3 Kay, Steve 270 Kayser, Wolfgang 24 Kehl, Karen A. 205 Kehlmann, Daniel 191 – 193 Kellehear, Allan 4, 11, 15, 313 f., 327 f., 330 – 333 Keller, Hildegard E. 326 Kendall, Marilyn 293 Kerby, Paul Anthony 197 Kermode, Frank 4, 329 Kerr, Christopher W. 333 Kidd, James I. 331 Kierkegaard, Søren 71 Kindt, Tom 24, 26, 29, 30, 41, 89 Kipke, Roland 201 Kirmayer, Laurence J. 286 Kitwood, Tom 162 Klauk, Tobias 11, 20, 22, 28, 79 – 94, 198, 207 Klein, Andreas 329 Klein, Christian 3, 12, 20, 27, 97 – 113, 199, 316 Kleinman, Artur 262, 284, 286 Kleist, Heinrich von 139, 146, 148 f. Kleist, Ulrike von 146 Klepper, David 116 Klessmann, Michael 243 Klie, Thomas 161 Klinkert, Thomas 65, 71 Klosterman, Lorrie 266 Klotz, Peter 29 Knop, Andreas 199
Kohler Riessman, Catherine 286, 290 Konitzer, Martin 265 Köppe, Tilmann 11, 20, 22, 24, 26, 28, 30, 79 – 94, 198, 207 Koschorke, Albrecht 1, 52 – 55, 57 f., 241 Koselleck, Reinhardt 73 Kötten, Rü diger 29 Krakauer, Jon 90 f. Krämer, Gü nter 160 Kraus, Wolfgang 235 Krauss, Lawrence M. 44 Kreitzscheck, Dagmar 240 Kreuel, Marianne 330 Kristeva, Julia 110 Kü bler-Ross, Elisabeth 249, 256, 271, 285, 321, 333 Kü hn, Peter 129 Kumlehn, Martina 161 Kurzeck, Peter 65 Kusch, Roger 203 Labov, William 117, 122 Lacan, Jacques 162 f. Lacoue-Labarthe, Philippe 71 Lahn, Silke 26, 30, 45 – 47 Lamarque, Peter 28, 82, 85 Lamping, Dieter 41, 81 Landmesser, Christof 329 Langer, Susanne K. 48 Launer, John 262 Laux, Gerd 144 Lejeune, Philippe 102 Lerner, Gerda 5 Lesch, Walter 13, 179 – 195, 199, 222, 277, 315 Lessing-Sattarie, Marie 29 Lester, David 145 Levi, Primo 73 Levy-Strauss, Claude 275 Lewis, Bradley 264 Lightfoot, Cynthia 285 Lilie, Ulrich 242 Linde, Charlotte 124 Lindemann Nelson, Hilde 222, 223, 287 Lindorfer, Simone 145 Linke, Angelika 119 Lipson, Steven 293
Namenregister
Löbner, Sebastian 7 Locher, Miriam A. 3 Look, Reinhardt 200 Lotman, Jurij 166 Lubbock, Tom 314, 320, 333 Lubkoll, Christine 45 Lucius-Hoene, Gabriele 117 f., 124, 131, 137, 263 Lunney, June R. 293 Luther, Henning 250 Luther, Martin 213 f. Lynn, Joanne 293 Lyotard, Jean-François 171 MacArtney, John I. 271 MacIntyre, Alasdair 6, 202, 222 – 224, 227, 230 Magnotti, Alyssa 125 Magnotti, Nick 125 f., 129, 134 Maio, Giovanni 76, 176 Mann, Thomas 79, 280 Marti, Kurt 44, 194 Martínez, Matías 20, 24, 41, 102, 117, 118, 121, 166 Martinez, Richard 333 Marquard, Odo 73, 180 Maynard, Brittany 12, 116, 122 – 125, 127, 134 f., 228 Matt, Peter von 317 Mattingly, Cheryl 306 Mauz, Andreas 1 – 15, 19 – 59, 142 f., 197, 314 Max, Katrin 280 May, Karl 312, 316 McCandless, Chris 90 f. McPherson, Ann 263 Mead, George Herbert 132 Medved, Maria I. 228 Mehl-Madrona, Lewis 266 f. Meister, Jan-Christoph 21, 26, 30, 41, 45 ff., 50 Merkel, Reinhard 279 Michel, Thomas 228 Mieth, Dietmar 183 Miller, Norbert 63 Miller, Rachel 263 Mojsisch, Burkhard 164 Mölk, Ulrich 45
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Möller, Hans-Jü rgen 144 Montello, Martha M. 260, 285 f., 333 Monty Python 179, 195 Moos, Thorsten 292 Morgenthaler, Christoph 51 Morris, David B. 267 Moser, Tilmann 188 Mü ller, Hans-Harald 29 Mü ller-Funk, Wolfgang 42 Mü ller-Hergl, Christian 167 Mü ller-Kampel, Beatrix 45 Munch, Edvard 32 Murdoch, Iris 202 Murray, Scott 86, 293 Muschg, Adolf 184 – 186 Nelson, Katherine 285 Neufeld, Anna Katharina 189 Neumann-Braun, Klaus 134 Nietzsche, Friedrich 329 Nolan, Steve 324 Noll, Peter 5, 306 f., 317, 320 Nü nning, Vera 21, 23, 27 Ochs, Elinor 124 Ohnsorge, Kathrin 292, 295, 298, 308 Oliviere, David 36, 168, 228, 284 Olson, Greta 6, 21, 35 Onea, Edgar 84 Overing, Joanna 284 Paley, John 36 f., 39, 287, 316 Pascal, Blaise 98 Paul, Jim 287 Paulus 212 Peng-Keller, Simon 1 – 15, 19, 42, 51, 59, 93, 115, 117, 142 f., 174, 242, 311 – 334 Pfister, Jonas 23 Plessner, Helmuth 210 Pletscher, Marianne 159 Polkinghorne, Donald E. 284, 287 Poltier, Hugues 190 Porombka, Stephan 103, 105 Powell, Jill 285, 289 Prince, Gerald 21 f. Proust, Marcel 63 – 66, 76, 78 Puchalski, Christina M. 267
340
Namenregister
Purves, Ian 270 Pyta, Wolfram 104 f., 107 Rack, Jochen 72 Rapport, Nigel 171, 284 Raulff, Ulrich 97 Rawls, John 201 Rechel-Mertens, Eva 63 Rehbein, Jochen 28 Rehmann-Sutter, Christoph 36, 292, 308 Reiter, Udo 14, 219 – 221, 224 f., 228 f., 231 Remen, Rachel Naomi 267 Renn, Joachim 235 Rian, Johanna 261 Richter, Myriam 97 Ricoeur, Paul 6, 72 f., 164, 197 – 200, 202, 210, 216, 321, 329 Riedel, Manfred 68 Riha, Ortrun 280 Rilke, Rainer Maria 312 Ringel, Erwin 144 Ritschl, Dietrich 200 Robertson-von Trotha, Caroline Y. 242 Rochlitz, Rainer 164, 198 Rölli, Marc 211 Romagnoli, Simone 190 Romein, Jan 98 Rorty, Richard 116 Rosenberg, Jay F. 80 Rosenblum, Barbara 319, 321 f., 325, 332 Rosenzweig, Franz 212 Roser, Traugott 31 – 35, 39 – 41 Ross, David 201 Roth, Philip 68 f., 74 f. Rousseau, Jean-Jacques 62 Rudnytsky, Peter L. 262 Rü ffer, Anne 161, 326 Rumbold, Bruce 322 Runge, Anita 105 Ryan, Marie-Laure 35 Saarenheimo, Marja 228, 230, 232 f. Sacks, Oliver 290 Salomon, Fred 277 Samoyault, Tiphaine 109 Sartwell, Crispin 230 – 232, 235 Saunders, Cicely 215 f., 229, 284 f.
Schafer, Roy 291 Schallberger, Peter 145 Schapp, Wilhelm 175, 197 Schappach, Beate 3 Schäubli-Meyer, Ruth 166 – 168, 173 f. Scheffel, Michael 21, 52, 89, 117 f., 121, 166 Scheuer, Helmut 98 Schlingensief, Christoph 116, 134, 184, 186 – 188, 191 f., 327 Schmid, Roland 312 Schmid, Wilhelm 179 Schmid, Wolf 25 Schmidt, Axel 115, 117 Schmitten, Jü rgen in der 198 Schmitz, Hermann 209 Schneider, Jost 45 Schnicke, Falko 100 Schü es, Christina 292 Schulz, Peter 129 Schü tze, Fritz 122 Schwartz, Werner 200 Schweda, Mark 161 Schweitzer, Albert 105 – 107, 109 Schwerdt, Ruth 279 Scott, Ridley 32 Sebastian, Michael 116 Seghers, Anna 98 Selden, Raman 22 Sembdner, Helmut 146 Semprun, Jorge 73 f. Shapiro, Johanna 289, 305 Sheikh, Aziz 293 Shepperd, Sasha 263 Silcock Downie, Robert 280 Simmel, Georg 330 Simmons, Philip 333 Singmaster, Deborah 316 Skultans, Vieda 217, 284, 306 Sloterdijk, Peter 163 Smith, Murray 86 Snyder, Lisa 159, 161, 169 Soborowski, Maxine 211 Sollors, Werner 45 Sonneck, Gernot 145 Spiegel, Maura 284, 305 Spittler, Johann Friedrich 203 Spoerhase, Carlos 29, 31
Namenregister
Spörl, Uwe 80 Springhart, Heike 257 Stanzel, Franz K. 117, 133 Staudt, Christina 268 Steger, Florian 280 Stegmeier, Jörn 115 Steigleder, Klaus 222, 277 Sterin, Gloria 160 Sterne, Laurence 65 Stierle, Karlheinz 73 Stix, Dragica 12, 139 – 157, 220, 315, 328 Stock, Ulrich 161 Stoecker, Ralf 311 f., 315 f. Stoellger, Philipp 210 Stojković, Dragica 145 Stolle, Martin 119 f., 127, 129 Straub, Jü rgen 221, 235 Strauss, Anselm L. 284, 293 Strawson, Galen 28, 227, 232 Streeck, Nina 14, 205, 217 – 235, 292, 308 Strohmaier, Alexandra 42 Swinnen, Aagje 161 Tamboukou, Maria 228, 230, 233 Taylor, Charles 221, 223 Taylor, Richard 166 – 168, 172 – 174 Theunissen, Michael 71 f. Thomä, Dieter 6, 218, 227 Tolle, Susan W. 203 Tolstoi, Lew 50, 69, 74, 262 Tomlinson, Tom 223, 225 – 227, 232 Ueding, Gert 98 Utsch, Michael 242 Van Dormael, Jaco 193 Vedder, Ulrike 161, 189 Velleman, David J. 83 f., 88 Vigo, Alejandro G. 269 Vindrola-Padros, Cecilia 286, 289 Vogel, Henriette 146 Wagner, Birgit 156 Wagner-Egelhaaf, Marina 163 Waldenfels, Bernhard 209 Walter, Marc 145
341
Wasserbäch, Birgit 240 Wegner, Dirk 122 Wegner, Gerhard 203 Weidermann, Volker 189 Weiher, Erhard 322 Weinrich, Harald 67, 248 Weisgerber, Leo 8 – 10 Weizsäcker, Viktor von 272, 276 f. Wells, Herbert George 316 Welsh, Caroline 51 Wentzek, Dieter 242 Werner, Micha H. 222 Wessel, Theo 242 Wewetzer, Hartmut 146 f. White, Hayden 111 f. Widdershoven, Guy 292 Wiedemann, Wolfgang 246 Wieland, Wolfgang 269 Williams, Gareth 284 Williams, John 69, 74 Willinger, Ulrike 145 Wils, Jean-Pierre 179 Wilson, George M. 86, 89 f. Winko, Simone 23, 28 Winnicott, Claire 324 Winnicott, Donald W. 323 f. Wißmann, Peter 166 f., 169, 172 f. Wittgenstein, Ludwig 4, 73 Wittkowski, Joachim 217 Wittwer, Héctor 42, 273 Wohmann, Gabriele 245 Wolf, Werner 34 Woods, Angela 227 f., 233 Woods, Simon 229 f. Yaphe, John 263 Yildiz, Taylan 81 Young, Allan 286 Zacher, Albert 249 Zalta, Edward N. 52 Ziebland, Sue 263 Zima, Peter V. 22 Zimmermann, Christian 166 f., 169, 172 f. Zorn, Fritz 184 – 188, 191 f., 315 Zymner, Rü diger 80
Sachregister Abschied 3, 13, 69, 72, 78, 93, 166, 169, 176, 229, 254, 267, 275, 289, 195, 325 Abschieds – -brief 12, 139 – 157, 219 f., 315 – -gedicht 326 – -wort 326 Adressierung 126, 129 f., 136 Akzeptanz 128, 141, 207, 216, 271, 292, 298 Alternativmedizin 260, 266 Alzheimer 51, 159 – 176 Angehörige 3, 32, 35, 115, 118, 127, 129, 132 f., 145 – 147, 155 f., 160 f., 171 – 173, 176, 203, 205, 209, 241, 243, 248, 253 – 255, 260, 264 f., 270, 272 f., 281, 290, 293, 295, 297 – 300, 304 f., 318, 323, 331 f. Angst 44, 69 f., 119, 128, 141, 144, 160, 174, 180, 186, 188 – 190, 192 f., 203, 212, 214, 242, 244, 251 – 254, 258, 286, 288, 290, 292, 294, 297 f., 300 f., 303 f. Anklage 139, 144, 184, 186 f., 194, 315 Auferstehung, Auferweckung 212 – 214, 245, 288 Authentizität 43, 70 f., 183, 245, 288 f., 305, 316, 334 Autobiographie passim Autothanatographie 323 Autonomie 82, 187, 190, 194, 205, 207, 257, 290, 306, 327 Betreuende 72, 161 f., 290, 298, 303 Bewältigung (coping) 12, 134, 136 f., 140 f, 144, 159, 166, 246, 266, 293, 306 f. bildhaftes Erleben 51, 294, 333 Bioethik 6, 190, 201, 222, 224, 259, 273, 277 Biographie passim Chronologie
97, 162, 169, 233, 271, 317
Demenz 13, 51, 80, 159 – 176, 220, 231, 289, 305 Diagnose 109, 120 f., 123 f., 145, 159 f., 168 – 170, 172 f., 176, 184, 187, 189, 191, https://doi.org/10.1515/9783110600247-018
201, 239, 243, 247, 263, 287, 289, 294, 319, 325, 328 Diskurs (d. Erzählens) s. Erzähldiskurs Emplotment 111 epistemische Ungerechtigkeit 36, 331 Erinnerung passim Erzähl(‐en/s) – (auto‐)biographisches passim – -diskurs 25 f., 30, 33 – 35, 39, 46 f., 50, 53, 57 – Ethik des 13 f., 211, 217 – 235, 277 – faktuales 20, 48, 101 – 103, 109, 111, 163, 316, 318, 331 – 333 – -figur 24, 27, 30, 32, 43, 45 – 47, 70, 79, 182, 204, 210, 290 f., 300 – fiktionales 5, 20, 69, 81 f., 101, 111, 163, 198, 280, 312, 316 – nichtfiktionales 11, 85 – 89, 90 – 93 – -formular 53 – Funktionen des 11, 14, 19, 22, 24 f., 34, 41, 47, 54, 82, 84 – 89, 90 – 94, 111, 118, 136, 141, 171 – 174, 223, 228, 259, 271, 282, 332 – gebrochenes 234 – Geschlossenheit des (narrative closure) 5, 12, 82 – 94, 207, 233, 235 – -medium 3, 19 f., 24 f., 34 f., 101, 128 – 136, 142 – -muster 1 f., 58, 112, 288 f., 314 – multimediales 12, 115 – 137 – Nichterzähltes (nonnarrated) 289, 300 – -oberfläche 53 – -plot 12, 32 – 34, 37, 79, 82 – 84, 87 f, 92 – 94, 111, 163, 271, 286 – 290, 302 – -pragmatik 24 – 26, 34, 38, 102, 274 – prospektives 2, 7, 13, 43, 48 f., 59, 84, 89, 92 f., 140, 155, 198, 210, 248 – retrospektives 7, 49, 67 f., 70 f., 84 f., 89, 92, 140 f., 143, 148, 163, 170, 318, 323 f., 332 – -situation 33 – -skript 129
344
Sachregister
– -stoff 1, 25 f., 45 – -story s. Story – -strategie 32, 102, 118, 200 – -tempo 4, 50 – -theorie (Narratologie) 6, 11, 20 – 22, 25, 31, 33, 40, 52, 82, 90, 94, 207, 235 – -typologie 32, 35, 39, 48, 241, 244 – -unzuverlässiges (unreliable) 12, 30, 37 – 39, 113, 164, 331 Erzählung passim Ethik (des Erzählens) s. Erzählen[s], Ethik des Ethnomedizin 266, 273, 274 – 276 False Memory-Phänomen 289 Faktualität s. Erzählen, faktuales Fiktionalität s. Erzählen, fiktionales Gedächtnis 54, 63, 66, 73, 75 f., 159 – 176, 289 Gefühlstransplantation 245 – 247 Generation 100, 172, 186 Generativität 172 Geschichte passim Gegenwart(s) – -dimension 4, 108, 144, 161 – 164, 168, 172 f., 175, 247, 325 – gegenwärtig 11, 21, 50 f., 117, 179, 189, 192, 200, 248, 271, 329, 331 – Vergegenwärtigung 5, 11, 61 – 78, 213, 249, 322 f., 328 Grundmuster (narrative) 168, 315
5, 53, 163, 165 –
Handlungs – -abfolge 88, 79 – -schema 53, 111 f., 165, 167 f. Heldengeschichte 10, 32, 111 f., 312, 316 f. Himmel 58, 127, 146, 152, 192, 214, 254, 256, 317, 326 Hirntod s. Tod, HirnHospiz 117, 204 – 216 Identität passim Identität (narrative) s. narrative Identität Intensivmedizin 272, 278 f.
Internet 12, 115 – 137, 142, 156 Interviewsituation 291, 304 Interviewstudie 14, 285, 291 – 308 Imagination (palliative) 329 Interpretation 2, 6, 15, 29 – 31, 34, 39, 46, 56, 62, 160, 164, 169, 183, 269, 274, 276, 278 f., 280 f., 287 Jenseits
32, 34, 58, 181, 187, 254 f., 323
Kindheit(serinnerung) 76 f., 105, 168, 289, 301, 312 Kohärenz (narrative) 3, 14, 93 f., 162, 217 – 235, 315, 321 – 323, 331 Kommunikation passim – biographische 3 – symbolische 5, 193, 209, 258, 322 f. Konfiguration (narrative) 198 f., 208 – 211, 213, 215 Konsonanz (narrative) 164, 199, 213, 315, 329 Konstruktion (narrative) 32, 54 f., 62, 90, 97, 137, 140, 163, 174, 290 f., 329 Konversion in extremis s. Sterbebettkonversion Krankheit(s) – -bewältigung 134 – -bild 160 – -biographie 128, 243 – chronische 115, 117, 136, 160, 260 – 264, 284 f., 300, 304, 308 – -erfahrung 234, 262 f. – -erzählung (‐geschichte) 24, 119, 123, 234, 246, 262, 318 – 320, 332 – -narrativ 262, 285, 288, 290, 300, 308 – -situation 169 – -symptom 143, 189 – -verständnis 270 – -weg 129 Krise 1, 42, 69, 98, 168, 173, 179, 243, 286, 296, 300, 303 Krebs 12, 14, 51, 69, 81, 115 – 137, 184 – 187, 191, 243, 251 f., 254, 262 f., 267, 279 f., 288 f., 294, 296, 319, 321, 325 Leben(s) – abschiedliches
72
Sachregister
– -bilanz 194, 328 – -endforschung 11, 19 – 59 – ewiges 213 – -funktion 40 – -geschichte 3 f., 6, 13, 93 f., 159, 162, 164 f., 168 f., 174, 212 – 214, 217 f., 220 – 229, 231, 233 f., 240, 247 – 249, 255, 267, 315, 321, 330 f. – gutes 144, 166, 194, 230 – -lauf 12, 68, 100, 162, 171 – ungelebtes 76, 249, 255 – Verewigung des 3, 93, 326 – -zusammenhang 162, 168 – 171 Medical Humanities 14, 259 – 282, 332 Medical Anthropology 259, 262, 265, 274, 276 f. Mythos 112, 248 f., 288 Narrativ – Abschieds- 156 – 157 – Basis- 54 – dominierendes 11, 50 f., 59, 107, 166, 212 – Individual- 55 – Kollektiv- 55 – Krankheits- s. Krankheitsnarrativ – Master- 55 – Sterbe- s. Sterbenarrativ – Verbal- 10 narrative closure s. Erzählen[s], Geschlossenheit des narrative Ethik s. Ethik des Erzählens narrative humility 36, 38 narrative Identität 117, 137, 161, 233, 235 narrative medicine 14, 36, 259 – 282 narratives Schema 1, 4, 13, 197 – 216, 241 narrative turn 21, 273 Narrativität 5, 14, 20, 26 – 28, 35, 159, 168, 199, 227, 259, 264 f., 271, 281 Narratologie s. Erzähltheorie Normativität 197 – 216, 224, 227, 235, 244 Palliativ(‐medizin) 14, 20, 50, 115, 229, 263, 269, 271 f., 283 – 308, 320 Paradies 76, 184, 192 Paratext 102 f., 166, 190
345
Pflegende 106 – 108, 162, 208 – 209, 211, 286, 303, 331 Präfiguration (narrative) 209 f. Präsenzereignis 329 Refiguration (narrative) 199, 202, 210 Resilienz 271 Retrospektive (narrative) 7, 57, 67 f., 70 f., 140 f., 143, 163, 170, 248, 319, 324, 332 Ritual 58, 188, 255 f., 266, 274 f., 306 f. Romantisierung 305 Schmerz 3, 50, 75, 77, 93, 124, 147, 150, 153, 167, 185, 188, 203 – 205, 208, 216, 244, 249, 251 f., 257, 262 f., 292, 294, 304, 324, 327 Schulmedizin 284, 307 Selbstbehauptung 190, 329 Seelsorge 14, 31 – 34, 139 f., 239 – 258, 324 Selbstpositionierung 131, 315, 328 Sinn 1, 15, 24, 32, 34, 61, 67 f., 70, 73, 77, 82 f., 86 f., 110 f., 125 f., 134, 136, 163, 173, 182, 194 f., 207, 221, 228, 262, 281, 283, 287, 289, 300 f., 304 – 307, 311, 318, 327 – 331 Sinnsuche 91, 168, 235, 263, 328 Social Media 119 Spiritualität 5, 91, 167, 176, 205, 242, 251, 255 f., 261, 267, 298, 300 Sprachverlust 299 Sterben – eigenes 32, 43, 74, 115, 179 – 195, 217, 240 f., 244, 252, 258, 324 – fremdes 3, 5, 105, 167, 204 – friedliches 206 f., 209, 211, 256 – gutes 14, 32, 109 f., 197 – 216, 227 – 232, 298, 318 – natürliches 41, 206 – sinnloses 32 Sterben als – Akt 313 – Reise 106 f., 152 f., 191, 313 f., 317 f. – oszillierender Prozess 313 – Rückzug 69, 313 – Kollaps und Desintegration 313 – als Marginalisierung 313 – als Transformation 276, 314
346
Sachregister
Sterbe – -begriff 7 – 11 – -bettkonversion 2, 43 f, 55 – 59, 314 – -ort 220 – -phantasie 57, 144, 256 – -phasen 249, 256, 262, 285, 332 f. – -prozess (‐verlauf) 198, 208, 210, 232 f., 252 f., 256 f., 272, 275, 311, 313 – 315, 320, 330 – 334 – -sakrament 2, 59 – -situation 241, 248, 251 f. – -szene 2, 49, 107, 197, 312, 314 – -wunsch 36, 38, 110, 290, 293 – 297, 303, 305 – -zeitpunkt 13, 193 Sterbeerzählung – erstpersonale 92 f. – fiktionale 280 – geschlossene 92 – im engeren Sinn 2, 48 f. – im weiteren Sinn 49 f. – präsentative 10, 47 f. – prospektive 2, 7, 13, 43, 48 f., 59, 92 f., 155, 198, 210, 248, 297, 323, 326 – reflexive 10, 47 f., 176, 188, 322, 327 – retrospektive 49, 67 f., 71, 92, 140 f., 143, 63 Sterbenarrativ – primäres 10, 59 – sekundäres 10, 59 – tertiäres 10, 59 – erster Ordnung 14, 240 – zweiter Ordnung 14, 241, 244 – 256 – dritter Ordnung 14, 241 – individuelles 55, 205, 207, 240 f. – rudimentäres 245 – sub contrario 211, 240, 248, 258 Story 1, 15, 36 – 39, 84, 111, 132, 168, 200, 224, 234, 287, 288 f., 300, 314, 320, 328 Suizid (Selbstmord) 12, 91, 116, 127, 139 – 157, 167, 203 – 206, 214, 219, 220, 222, 263, 323 Suizidhilfe 50 f., 116, 127, 145, 167, 194, 203 f., 219, 225, 228 f., 278, 295 Teleologie (narrative) 163, 168 – 171
83, 85, 88 f., 92, 94,
Tiefenstruktur (narrative) 53, 57 Tod(es) – Angst vor dem 69 f., 128, 174, 180, 186, 189 f., 192, 203, 212, 214, 251 – 253, 258, 288, 292, 294, 303 – -bilder 311 – eigener 13, 49, 59, 74, 92, 156, 179, 188, 190, 193, 203, 213, 323 – Fluch- 213 – -gewissheit 117, 119, 121 – 128, 318 f., 328 – guter 194, 205, 213, 229 f. – Helden- 10, 312, 316 f. – Hirn- 42, 278 f., 311 – Kammerherren- 312 f., 331 – Nah- 5, 316, 325, 334 – natürlicher 213 – -urteil 185, 243 – Winnetou-Bild des 41 f., 312 f., 315 f., 331 Tötung auf Verlangen 51 Trauer 5, 33, 115 – 117, 132, 154, 156, 247, 263, 289, 300 – 304, 306, 331 Traum 75, 141, 155, 187, 253 f., 323 Trauma 76, 263, 289, 301 Verdrängen 61, 70, 164, 182, 248, 252, 276, 298 Vergessen 61, 75, 77, 144, 157, 159, 164 – 166, 175 Vermächtnis 3, 57, 93, 126, 143, 153, 157, 294, 326 Vertrauen 73 f., 76, 133, 142, 147 f., 166, 190, 242 – 245, 249, 258, 290 Verzerrung (narrative, disnarrated) 289, 300, 331 Verzweiflung 13, 144 f., 174, 185, 244, 246, 252 – 253, 256, 301 Vision 5, 185, 325, 333 f. Vulnerabilität 257 – 258 Wahrheit (narrative) 81, 87, 101 f., 107, 122, 289 f., 307 Widersinn 329 Wortfeld („sterben“) 7 – 11 Zeiterleben 325 Zeugnis 12, 62, 68 f., 73, 108, 115 – 137, 143, 146, 156, 173, 193, 195, 311 f., 324, 329, 332 f.
Sachregister
Zukunfts – -dimension 323 – -bezug 4, 32, 35, 65, 67, 72, 76, 84, 89, 127, 141, 144, 149, 153, 157, 160, 162, 164, 168 f., 173 – 176, 180, 203, 219, 221,
347
247 f., 253, 285, 288 f., 293, 296, 300, 303, 306, 308, 317, 325, 331 – -offene Narration 12, 117, 119 – 121, 128, 318 Zwang (narrativer) 54 f., 314 – 316, 330