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German Pages 560 [558] Year 2020
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Vom Gott der Philosophen Religionsphilosophische Erkundungen
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495823613
B
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Vom Gott der Philosophen
VERLAG KARL ALBER
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A
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik
Vom Gott der Philosophen Religionsphilosophische Erkundungen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik On the God of Philosophers Philosophical investigations of religion In seventeen studies Wolfdietrich Schmied-Kowarzik illuminates the philosophical understanding of God during the last 250 years in the context of philosophical ultimate justification. In doing so, he presents the arguments of representative thinkers such as Kant, Hegel, Schelling, Schleiermacher, Nietzsche, as well as Rosenzweig, Heidegger, Bloch, Fischer and Lévinas in respect of the upcoming problems of humanity. In the synopsis the highly different approaches result in a differentiated picture of the newer philosophy of religion. The Author: Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik was professor of philosophy at the University of Kassel from 1971 to 2007. His most recent publications published by Verlag Karl Alber are: The Diversity of Cultures and Responsibility for the One Humanity (2017), Karl Marx – The Dialectic of Social Practice (2018) and The Dialectical Relationship between Man and Nature (2018). Since 2011 he lives in Vienna.
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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Vom Gott der Philosophen Religionsphilosophische Erkundungen In siebzehn aus individueller Problemgestaltung ausgewählten Studien versucht Wolfdietrich Schmied-Kowarzik das philosophische Gottesverständnis der letzten 250 Jahre im Kontext der philosophischen Letztbegründung aufzuhellen und auf unsere anstehenden Menschheitsprobleme hin weiterzudenken. Hierbei kommen maßgebliche Denker wie Kant, Hegel, Schelling, Schleiermacher, Nietzsche sowie Rosenzweig, Heidegger, Bloch, Fischer und Lévinas in ihrer je eigenen Argumentation zu Wort. In der Zusammenschau ergeben die höchst verschiedenen Denkansätze ein differenziertes Bild der neueren Religionsphilosophie. Der Autor: Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik war von 1971 bis 2007 Professor für Philosophie an der Universität Kassel. Zuletzt erschienen im Verlag Karl Alber: Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit (2017), Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (2018) und Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (2018). Seit 2011 lebt er in Wien.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49097-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82361-3
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Inhalt
Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
Philosophie und religiöser Glaube 1.
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
. . . . . .
43
2.
Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Absolute Religion oder unterwegs zu einer philosophischen Religion 3.
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119
5.
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie« .
150
6.
Schelling – Vom »notwendig Gott-setzende Bewusstsein« .
186
4.
Der Mensch ohne Gott 7. 8.
Feuerbach und Marx: »Der Mensch, das höchste Wesen für den Menschen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Blochs aufrechter Gang wider die Barbarei und Apokalypse
251 7
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Inhalt
9.
Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
278
10. Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Erneute Annäherungen an die Gottesproblematik 11. Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
12. Ehrenbergs Weg vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
13. Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386
14. Fischer – Die Affinität von Wirklichkeit und Sinn sowie die Gottesfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421
Ergänzende Differenzierungen 15. Mit Gott im Gespräch – Zu Cohen, Buber und Rosenzweig
. . . . . . . . . . . . 453
16. Philosophie der Offenbarung – Zu Schelling, Jaspers und Rosenzweig . . . . . . . . . . .
475
17. Der Andere und die Wechselstiftung – Zu Lévinas und Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . .
492
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Eine Laienpredigt: »Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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543
In Gedenken an meine Eltern, dem aus Österreich stammenden Philosophen, Prof. Dr. Walther Schmied-Kowarzik (1885–1958), und der deutsch-baltischen Dichterin, Gertrud von den Brincken (1892–1982), die mir durch ihre um und mit Gott ringenden Arbeiten 1 die ersten Richtungsweiser waren.
1 Walther Schmied-Kowarzik, »Gotteserlebnis und Welterkenntnis«, in: Festschrift für Johannes Volkelt, München 1918; Glaubensbekenntnis eines freien Protestanten, Görlitz 1933; Frühe Sinnbilder des Kosmos. Gotteserlebnis und Welterkenntnis in der Mythologie, Ratingen 1974: http://dx.doi.org/doi:10.17170/kobra-202003091050 Gertrud von den Brincken, »Glauben« (Gedichte), in: Was ich noch sagen wollte. Späte Gedichte und zweistimmige Lyrik (1959–1982), (Gesamtauswahl der Lyrik aus sieben Jahrzehnten in vier Bänden, hg. v. Iris von Gottberg), Kassel 2011, IV: 61 ff.: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hebis:34–2012010440168; Alle Ismaele. Ein philosophischer Roman, Kassel 2019.
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Vorwort
Die Philosophie fragt anders nach Gott als die Religion bzw. die Religionen. Diese brauchen erst gar nicht nach Gott zu fragen. Für sie ist Gott die aus der Überlieferung bekannte schlechthin gewisse Gestalt, auch wenn er nicht Gott genannt wird, vielmehr unter vielen Namen angerufen wird, oder wenn er gar gänzlich anders verehrt wird als der monotheistische Gott Kleinasiens und des Okzidents. Von ihm ist alles, was ist; alles, was geschieht, ist sein Werk; auf ihn hin sind alle von den Menschen geforderten Handlungen bezogen. Der Glaubende einer Religion weiß sich vor Gott gestellt, von ihm ist er abhängig, und von ihm wird er zur Rechenschaft gezogen. Ob Gott sei, ist für den Glaubenden eine undenkbare Frage. Wohl kann er mit seinem Gott voll Verzweiflung rechten und ringen, aber Gott bleibt dabei immer der Gewaltigere und Mächtigere, wie dies auch Hiob im Letzten einsehen muss. Aber die Frage, ob Gott sei oder nicht, kennt der Glaubende einer Religion nicht. Auch die Philosophie meint denselben Gott der Religion, ja es ist sogar die Philosophie, die darauf besteht, dass es nur eine Gottheit geben kann, wenn es eine gibt. Doch steht sie nicht in der Immanenz des Glaubens der Religion, sondern in der Immanenz ihres eigenen Frage- und Begründungszusammenhanges, den sie allerdings selbst nochmals kritisch zu hinterfragen hat. Das besagt zum einen, dass die Philosophie in ihrem Fragen nichts voraussetzen darf, auch Gott nicht, wenn sie nach Gott fragt, aber zum andern, dass sie sehr wohl für sich selbst auf Grenzen zu stoßen vermag, die auf Anderes über sich hinaus verweisen. Zunächst fragt die Philosophie, wenn sie nach Gott fragt, ob das Absolute, in das wir selbst als Fragende mit einbezogen sind, als Einheit von Existenz und Sinn bzw. von Wirklichkeit und Vernunft begriffen zu werden vermag. In Anlehnung an Kants Erinnern an den »bestirnten Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« (Kant, IV, KpV: A 288) können wir einerseits das Universum beden11 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Vorwort
ken, in dem wir uns auf einem Sandkorn vorfinden, das wir Erde nennen, um zu erkunden, ob es in einem Sinnzusammenhang mit uns steht, und anderseits erhoffen, dass unser Engagement für ein besseres Zusammenleben der Menschen untereinander und mit der irdischen Lebenswelt irgendeine Bedeutung für das Universum haben möge. Noch tiefergründender angesetzt, lautet die Frage: »Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?« (Schelling, XIII: 7) Dieser Frage kann sich die Philosophie nicht entziehen, das ist die Grundüberzeugung, von der her dieses Buch geschrieben wurde. Aber wir sehen, dass die Philosophen trotz aller Ähnlichkeiten ihres Fragens zu oftmals kontroversen, ja sich widersprechenden Antworten kommen, auch dass sie Ungereimtheiten behaupten und sich zu Hypostasen versteigen, mit denen wir uns nicht zufriedengeben können. Diese Differenzen und Widersprüche ergeben sich aus ihren jeweiligen philosophischen Systemansätzen, von denen her die Philosophen das Gottesproblem aufwerfen bzw. in dem sie ihren Begründungsweg beschließen. Daher versucht das vorliegende Buch in einzelnen Studien zu ausgewählten Denkern der Neuzeit, die behandelte Gottesproblematik nicht herausgehoben für sich, sondern im Kontext des jeweiligen philosophischen Systemzusammenhangs zu bedenken. Es sind vier unterschiedliche Problemkreise, die die Auswahl und Folge der behandelten Denker bestimmen: die grundlegende erkenntnistheoretische Frage nach der Affinität von Denken und Sein, die Problematik unseres Einbezogenseins in die Natur, und die Fundierung der menschlichen Sittlichkeit sowie schließlich die Suche nach der alles vermittelnden Affinität von Sinn und Existenz, die den Kern der Gottesproblematik bildet. All diese Fragestellungen gehören auf das Engste zusammen, indem sie aber von den Philosophen unterschiedlich gewichtet werden, wandelt sich auch ihr Gottesverständnis bis zur Unversöhnlichkeit gegeneinander. Erst aus der Untersuchung ihrer unterschiedlichen philosophischen Zugangsweisen zur Gottesproblematik und ihren gegenseitigen kritischen Abgrenzungen wird sich im systematisch-geschichtlichen Durchgang unsere eigene versuchte Antwort auf die Gottesfrage verdichten. Dabei bemühen sich die vorliegenden religionsphilosophischen Erkundungen – weit davon entfernt, selber letztgültige Antworten geben zu können – Einblicke freizugeben, die zum Weiterdenken anregen sollen. Denn kein philosophischer Denker vermag in diesen letzten Fragen nach Gott für einen anderen zu denken, sondern er
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Vorwort
kann nur versuchen, seine Gedanken so zu gestalten, dass der andere zu eigenen Fragen und Antworten angeregt wird. * * * Das vorliegende Buch Vom Gott der Philosophen ist keine philosophiegeschichtliche, aber auch keine systematische Abhandlung, die wie ein Lehrbuch das Gottesproblem in der Philosophie in all ihren Verästelungen erschöpfend darzustellen versucht 1, trotzdem verfolgt es – auch wenn es aus individueller Problemgestaltung erfolgt – eine philosophiegeschichtliche Linie und zielt auf eine systematische Durchdringung der Frage nach Gott. So erfahren einige in den ersten Kapiteln aufgeworfene Probleme erst in späteren Ausführungen eine differenziertere Erhellung und einige schroffe Gegensätze werden erst durch nachfolgende Denker abgemildert oder gar aufgehoben. Ohne auf Xenophanes, den Begründer der philosophischen Diskussion der Gottesfrage in unserer Tradition, einzugehen und ohne in die Kontroverse zwischen Platon und Aristoteles einzusteigen, die zwischen Schelling und Hegel einen neuen Höhepunkt erfährt, aber auch ohne Bezugnahme auf das Ringen zwischen Theologie und Philosophie, das das gesamte Denken des Mittelalters beherrscht und mit einer gänzlichen Trennung beider in der Neuzeit endet, setzt unsere Studie Vom Gott der Philosophen in der Zeit des Beginns der klassischen deutschen Philosophie ein, da wir auch heute noch in diesem Denkzusammenhang verwurzelt sind. Nach einer kurzen »Problemeröffnung«, die gleichsam einen Vorgriff auf das Folgende zu gewähren versucht, beginnen wir unter der gemeinsamen Perspektive »Philosophie und religiöser Glaube« mit den religionskritischen Erwägungen von Immanuel Kant, die für alle folgenden Konzeptionen der philosophischen Gottesproblematik bis heute richtungsweisend geblieben sind. Ihnen gegenüber stellen wir Friedrich Schleiermachers philosophische Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter zur Seite, die trotz einiger erweiternder Korrekturen gegenüber Kant, durchaus der von Kant geforderten Trennung von Philosophie und Theologie von der anderen Hierzu sei verwiesen auf das große, doppelbändige Werk von Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. I: Wesen, Aufstieg und Verfall der philosophischen Theologie, II: Abgrenzung und Grundlegung (1975).
1
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Vorwort
Seite her entgegenkommt. Beide Disziplinen, die Theologie und die Philosophie, haben unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen: Die Theologie hat den Mitgliedern einer bestimmten Konfession exegetisch ihre Glaubensinhalte in ihrem begrifflichen Zusammenhang zu erschließen, dagegen fragt die Philosophie unabhängig von jeder Konfession nach Gott als dem letzten Sinnzusammenhang allen Seins. Beide widersprechen sich in ihren Aussagen nicht, wenn sie sich in ihren Grenzen halten, auch können sie sich verstehend akzeptieren, wenn sie sich nicht in ihren eigenen Blickrichtungen einigeln, ja, sie können sich sogar im Dialog gegenseitig bereichern. 2 Die nächsten vier Kapitel »Absolute Religion oder unterwegs zu einer philosophischen Religion«, die eng zusammengehören, zeichnen die Denkentwicklung der Hauptprotagonisten des Deutschen Idealismus nach – Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Alle drei Denker durchlaufen dabei selbst unterschiedliche Denkentwicklungen, die sie zunächst jeweils zu zweit beginnen – Fichte und Schelling von 1794 bis 1800 sowie Schelling und Hegel von 1801 bis 1807 – um dann jeweils zu bemerken, dass sie von Anfang an ganz Unterschiedliches intendieren, so dass daraus unüberbrückbare Gegnerschaften entstehen. Das erste Kapitel ist auf Fichtes und Schellings Aufbruch in ein Kant vollendendes transzendentales System bezogen, um dann im zweiten Kapitel den bis in religionsphilosophische Verdammungen ausartenden Konflikt zwischen Schelling und Fichte darzulegen. Die darauffolgenden beiden Kapitel konfrontieren sodann die durchaus problemverwandten, jedoch zugleich unversöhnbaren Positionen von Hegel und Schelling zur Gottesproblematik. Mit diesen beiden Denkern erreichen wir die philosophische Letztbegründung auf ihrem höchsten Argumentationsniveau – nicht nur für die damalige Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern durchaus auch bis heute. Der Konflikt zwischen beiden kreist um das Problem, inwieweit das Denken das Sein bestimmend und begreifend in sich einzuholen vermag bzw. inwieweit das Sein dem Denken unvordenklich voraus ist, insofern das Denken als existierendes selber allem begrifflichen Bestimmen voraus ist. Diese Kontroverse durchzieht auch noch die Neubestimmungsversuche der Gottesfrage im 20. Jahrhundert. Siehe hierzu die Werke von Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) und Erich Heintel, Mündiger Mensch und christlicher Glaube (2004).
2
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Vorwort
Doch zunächst folgen vier Kapitel zum Thema »Der Mensch ohne Gott«, die sich mit Positionen der Leugnung der Gottesproblematik befassen, die dabei aber in die Schwierigkeit geraten, die letztbegründende Einheit von Natur und Geschichte nicht mehr angemessen thematisieren zu können. Ludwig Feuerbach und Karl Marx versuchen in radikaler Kritik der Hegelschen Philosophie, den absoluten Geist auf den menschlichen Geist zurückzunehmen, der selbst wiederum in der Natur verwurzelt ist. Insofern Hegel – wenn auch in verklärter Form – unterstreicht, dass die Erkenntnis Gottes der Philosophie die Selbsterkenntnis Gottes darstellt, so besagt dies – wie Feuerbach unterstreicht – doch nichts anderes, als dass die menschliche Vernunft die Idee Gottes erzeugt. Es kommt also nur darauf an, dass der Mensch die Idee Gottes als Ausdruck seines eigenen göttlichen Wesens erkennt, um zu erfassen, dass der Mensch dem Menschen Gott ist, was vor allem bedeutet – wie Marx betont –, dass er dies auch gegen die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten menschheitsgeschichtlich zu verwirklichen habe. Doch wie passen hier noch die menschliche Vernunft und die Natur zusammen? Während also Feuerbach und Marx die göttlichen Ideale als Ziele für das menschliche Handeln vom Himmel auf die Erde herunterholen wollen, ist für Friedrich Nietzsche der längst schon erfolgte Tod Gottes mit der Überwindung der jüdisch-christlichen Moral verbunden, die mit ihrer Mitleidsideologie gegenüber den Schwachen und Kranken den Menschen in den Nihilismus führt, insofern diese das Lebensbejahende der Stärkeren behindert und negiert. Demgegenüber gilt es, da ein Gott als richtungsweisende Instanz fehlt, auf den kommenden Übermenschen zu setzen, der in seinem Willen zur Macht – ohne moralische Skrupel – die Weltgeschichte im Sinne der natürlichen Lebensgesetze des Stärkeren vorantreiben wird. Um die argumentativen Schwächen dieser beiden Positionen wissend, versuchen Ernst Bloch – im Anschluss an Feuerbach und Marx – und Martin Heidegger – Nietzsche zu Ende denkend – Konzepte einer Philosophie frei von Gott zu entwerfen, die jedoch konträr zueinander ausfallen. Diese Konzepte gelingen ihnen aber nur dadurch, dass sie neue Glaubenssätze einführen, die philosophische Fragen und Begründungen zu überspielen versuchen. So entstehen im 20. Jahrhundert »erneute Annäherungen an die Gottesproblematik«, die wiederum nur in einer Auswahl an vier Denkern unterschiedlicher Denktraditionen dargelegt werden. An Richard Hönigswald – einem der bedeutendsten Kantianer der ersten 15 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Vorwort
Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich zugleich auch sehr gründlich mit Schleiermacher auseinandergesetzt hat – lässt sich zeigen, wie von einem transzendental-analytischen Ansatz – von Kant her und über Kant hinaus – das Problem des Glaubens philosophisch bestimmt zu werden vermag, ohne sich einer bestimmten Konfession verschreiben zu müssen. Mit den Vettern Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig – die beide zu den Pionieren der frühen existenzphilosophischen Kritik am Kantianismus und Hegelianismus gehören – begeben wir uns einen Schritt weiter in das Grenzgebiet zwischen Philosophie und Religion hinein, was zugleich in das aufregendste interreligiöse Gespräch zwischen einem Juden und einem Christen mündet, das bis heute richtungsweisend geblieben ist. Schließlich begegnen wir in Franz Fischer einem Denker, der die transzendental-dialektischen Konflikte zwischen Hegel und Schelling so aufzuheben versucht, dass die Gottesproblematik im Sinne Kants wieder im vollen Sinne als Postulat der praktischen Vernunft zum Ausdruck zu kommen vermag. Daran anschließend werden in drei »ergänzenden Differenzierungen« philosophische Probleme angesprochen, die die vorausgehenden Erörterungen konkretisieren und offengebliebene Fragen in die Diskussion einbeziehen. Da dabei auch einige vorausgehende Diskussionen erneut berührt werden, kommt es, um den Diskussionskontext wahren zu können, zu kleineren inhaltlichen Wiederholungen und Wiederaufnahmen von einzelnen Zitaten. Begonnen wird mit Erläuterungen zum Vertrauen in Gott bei jüdischen Denkern wie Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig, die sich als Herausforderungen an die christliche Theologie erweisen. Doch noch grundlegender sind die Klärungen zum Offenbarungsbegriff zwischen F. W. J. Schelling, Karl Jaspers und Franz Rosenzweig, an denen Grenzübergänge zwischen religiösen und philosophischen Redeweisen deutlich werden. Schließlich werden Differenzierungen einander gegenübergestellt, mit denen Emmanuel Lévinas und Franz Fischer unabhängig voneinander zur gleichen Zeit den ungreifbaren göttlichen Grund auszusagen versuchen, in dem eine »Ethik des Anderen« bzw. eine »Logik der Menschlichkeit« wurzeln. Der »Epilog« versucht, in kritischer Reflexion nochmals den ganzen Argumentationsverlauf zu durchleuchten und die darin verfolgte Gedankenbewegung freizulegen sowie offene Fragen anzusprechen. Die Unabgeschlossenheit unseres existentiellen Fragens klingt sodann nochmals in der abschließenden Laienpredigt an, die dem 16 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Vorwort
Psalm-Wort gewidmet ist: »Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?« * * * Der ursprüngliche Entwurf zu diesem Buch ging von Arbeiten zu verschiedenen Denkern der Neuzeit aus, die im Rahmen von Diskussionen ihrer philosophischen Letztfragen bis zum Gottesproblem vordrangen. Doch wurde bald klar, dass nicht nur eine Reihe von Ergänzungskapiteln neu eingefügt werden musste, sondern auch, dass das Vorliegende großteils umzuschreiben war, damit das Buch als Ganzes dem intendierten Thema und Titel genügen kann. Schließlich sind es nur noch die »Problemeröffnung« sowie die »ergänzenden Differenzierungen« und die abschließende »Laienpredigt«, die unverändert in diesen Band eingehen. Alle anderen Kapitel sind gänzlich umgearbeitet, mit anderen Ausführungen zusammengefügt oder völlig neu geschrieben. Durch diese Ergänzungen und Umarbeitungen zog sich die Fertigstellung des Bandes nicht nur immer weiter hinaus, sondern sein Umfang wurde auch immer länger und länger, so dass schließlich noch eine rigorose Kürzung vorgenommen werden musste. Ich hoffe, dass durch diese Verknappungen die Verständlichkeit der ohnehin komplexen philosophischen Grundlegungsproblematiken nicht allzu sehr gelitten hat. Denn das jeweilige Gottesverständnis der Philosophen ist nur aus ihren philosophischen Letztbegründungen verständlich und begründbar. Überhaupt ist es die Absicht dieses Buches, kein dogmatisiertes oder dogmatisierbares Gottesverständnis der Philosophie zu postulieren, sondern zu zeigen, dass über den Gott der einzelnen Philosophen bzw. über deren Verleugnungen Gottes philosophisch nur im Kontext ihrer jeweiligen philosophischen Grundlegungen entschieden werden kann. An dieser Stelle möchte ich Herrn Lukas Trabert, dem Verlagsleiter des Karl Alber Verlags, danken für die Geduld und seinen Rat, mit dem er meine Arbeit begleitete. Danken möchte ich auch meiner Frau Iris Schmied-Kowarzik dafür, dass sie nicht nur die sich immer wieder verlängernden Arbeitsphasen tolerierte, sondern auch die mühselige Arbeit der Endkorrektur des Manuskripts auf sich nahm.
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Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns 1
Vorbemerkung Für jemanden, der im Glauben steht, erscheint ein Beweis der Existenz Gottes absurd, denn Gott ist ihm existentiell gewiss. Ja, ein wirkender und richtender Gott hat für ihn sogar mehr Gewissheit als irgendetwas anderes in der Welt. Vor Gott ist alles andere belanglos und selbst der Gläubige zweifelt, verzweifelt an sich selbst vor Gott. Wo der Versuch eines Gottesbeweises unternommen wird, da sind einerseits schon Zweifel laut geworden, ob es Gott überhaupt gibt, und da wird andererseits bereits die philosophische Vernunft als eine untrügliche Instanz anerkannt, die dem Glauben Halt und Stütze geben kann. So entwickelte Anselm von Canterbury (1033– 1101) im Proslogion (um 1077) den ontologischen Gottesbeweis – und nur dieser kann ein vollgültiger Vernunftbeweis sein, da in ihm allein aus Vernunftgründen vom Begriff Gottes auf die Existenz geschlossen wird: Gott ist das Größte, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Dieses Größte kann aber nicht nur in Gedanken sein, sondern muss auch wirklich existieren, sonst wäre es nicht das Größte. »Es existiert also ohne Zweifel etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, sowohl im Verstande als auch in der Wirklichkeit.« (Anselm von Canterbury, Proslogion, 1077/2005: 23) 2 Diesem Gedanken kann sich – so Anselm – niemand entziehen, also ist die Existenz Gottes bewiesen. Natürlich war Anselm, der Erzbischof von Canterbury, ein gläubiger Christ. Nicht für sich selbst brauchte er den Beweis, dass Gott Eröffnungsvortrag zum Internationalen Franz-Rosenzweig-Kongress in Jerusalem am 17. 9. 2006, erschienen in: Yehoyada Amir / Yossi Turner / Martin Brasser (Hg.), Faith, Truth, and Reason. New Perspectives on Franz Rosenzweig’s »Star of Redemption«, (Rosenzweigiana 6), Freiburg/München 2012: 15–35. 2 Alle Zitate werden im Text mit Autorennamen, gängigem oder leicht identifizierbarem Kurztitel, gegebenenfalls mit Band- und mit Zeitenzahl ausgewiesen. Alle weiteren Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. 1
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Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
existiert, sondern gegenüber den Zweiflern aus philosophischer Vernunft. Aber im Grunde hat er durch diesen Beweis den Siegeszug der Vernunft über den Glauben in Europa unaufhaltsam gemacht, denn er akzeptiert mit ihm implizit die Vernunft als höchste beweisende Instanz. Nun konnte bereits ein Zeitgenosse Anselms, der Mönch Gaunilo von Marmoutiers, nachweisen, dass die Beweisführung nicht schlüssig ist, da das Größte, das wir uns in der Wirklichkeit denken können, auch nur ein Gedachtes ist, durch das die tatsächliche Existenz Gottes nicht bewiesen wird. Und so kam schon im Laufe der scholastischen Philosophie und Theologie ans Tageslicht, dass es einen Gottesbeweis nicht geben kann. Überraschenderweise kramt René Descartes in den Meditationen den ontologischen Gottesbeweis wieder aus. Er braucht ihn nicht, um Gottes Existenz zu beweisen, denn diese erscheint ihm nicht sonderlich problematisch, sondern er bedarf seiner, um eine verbindende Brücke herzustellen zwischen dem sich selbst gewissen Denken, dessen Existenz ihm gewiss ist, und den seienden Dingen, deren Existenz er nicht beweisen kann und nur vermittelt über Gott glaubt absichern zu können. Denn nur – so argumentiert Descartes – »wenn die objektive Realität irgendeiner meiner Ideen so groß ist, daß ich dessen gewiß bin, daß […] ich selbst nicht die Ursache dieser Idee sein kann, so folgt daraus notwendig, daß ich nicht allein in der Welt bin, sondern daß auch irgendeine andere Sache, welche die Ursache dieser Idee ist, existiert. […] Es bleibt daher einzig die Idee Gottes […]. Unter dem Namen Gottes verstehe ich eine Substanz, die unendlich, unabhängig, von höchster Einsicht und Macht ist, und von der Ich selbst geschaffen worden bin, ebenso wie alles andere Existierende«. (Descartes, Meditationen, 1641/1972: 34 ff.)
1.
Gottesbeweis oder Erweis Gottes
Gegen diese Form des ontologischen Gottesbeweises ist Immanuel Kant angetreten und hat stringent gezeigt, dass es keinen theoretischen Gottesbeweis geben kann. In der Kritik der reinen Vernunft (1781) arbeitet er heraus, dass das Dasein, das Existieren, kein Prädikat des Urteilens ist, sondern die »absolute Position«, auf die sich das urteilende Denken schlechthin mit all ihren Prädikationen bezieht. »Sein ist offenbar kein reales Prädikat […]. Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.« (Kant, 20 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Gottesbeweis oder Erweis Gottes
KrV, II: B 626) 3 Es kann also grundsätzlich nicht vom Begriff, von der Idee Gottes mit theoretischen Mitteln auf das Dasein, das Existieren Gottes geschlossen werden. »Ich behaupte nun, daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind«. (Kant, KrV, II: B 664) Nun verweist Kant bereits unmittelbar im folgenden Satz darauf, dass für ihn hiermit die Frage nach dem Dasein Gottes keineswegs abgetan ist. Zwar weist er jeglichen Versuch, Gottes Dasein aus spekulativer, theoretischer Vernunft beweisen zu wollen, zurück, schafft aber dadurch zugleich Raum für ein ganz anderes Für-wahrHalten des Daseins Gottes aus praktischer Vernunft. »Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aber kann ich nicht zu bewirken hoffen, als nur durch die Übereinstimmung meines Willens mit dem eines heiligen und gütigen Welturhebers« (Kant, KpV, IV: A 233). Schon allein, um sittlich in die Geschichte hinein handeln zu wollen, erweist sich uns das Dasein Gottes als Postulat, als eine praktisch notwendige Voraussetzung. Denn »gleichwohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der notwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang postuliert: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen. Also […] ist [es] moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.« (Kant, KpV, IV: A 225 f.) * * * Doch noch einmal kommt es durch Hegel zu einer großen Rehabilitierung des ontologischen Gottesbeweises, und zwar nicht nur peripher in der Religionsphilosophie allein, sondern als durchgängiger Beweisgang seines philosophischen Gesamtsystems schlechthin. Hatte nicht schon Kant durch seine philosophische Argumentation, die von der Begrenzung der theoretischen Vernunft zur praktischen Vernunft fortschreitet, bewiesen, dass die philosophische, die spekulative Vernunft umfassender ist, als er es ihr zugesteht? Die 3 Kant greift dabei etwas abgewandelt auf seine frühe Arbeit Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763/1956, I: 630 ff.) zurück. Bei den drei Kritiken von Kant werden die Seitenzahlen nach der Erstauflage (A) bzw. Zweitauflage (B) angegeben.
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Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
Philosophie ist die spekulative Vernunft – so betont Hegel –, die durch alle Teile ihres argumentativen Fortgangs voranschreitet – vom Bedenken des Denkens in der Wissenschaft der Logik im Anfang bis hin zum sich selbst als absoluten Geist begreifenden Geist Gottes in der Philosophie der Religion. Gerade dieses dialektische Voranschreiten ist die Form ihres Beweisens und Begreifens. Daher widerspricht sich Kant selbst, wenn er einerseits behauptet, dass es keinen spekulativen Beweis Gottes geben könne, gleichzeitig aber das Dasein Gottes als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft aufweist. Noch entscheidender für den ontologischen Gottesbeweis aber ist Hegels Ablehnung von Kants Argument, dass das Dasein, das Existieren kein Prädikat sei, sondern die absolute Position, auf die sich das Denken bezieht. Für Hegel ist das Sein die unmittelbarste, gänzlich unhintergehbare, erste Prädikation. Denn muss das Denken, das von einer ihm vorausliegenden absoluten Position redet, sich nicht eingestehen, dass gerade diese Rede ihre unmittelbarste, aber zugleich unbestimmteste, nichtssagendste Prädikation darstellt? Nicht umsonst verweist Hegel gleich zu Beginn seiner Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes auf die sich gegenseitig spiegelnde Korrespondenz von Logik und Beweis des Daseins Gottes, denn die Wissenschaft der Logik ist selbst schon der durchgängige ontologische Gottesbeweis, indem sie die »Evolution Gottes« aus seinem und durch sein Sich-selbst-Begreifen darstellt. So beginnt die Logik beim »reinen Sein« als der unmittelbarsten Prädikation, die zugleich das »reine Nichts« denkender Vermittlung ist und schreitet von da durch sämtliche Prädikationsweisen bis zur »absoluten Idee« fort, die alle nur denkbaren Bestimmungen des Seins nun in sich enthält – der dialektische Beweisgang der Logik leistet also gerade das, was Anselm vom ontologischen Gottesbeweis fordert. Von dieser absoluten Idee sagt nun Hegel am Ende der Logik: »So ist denn auch die Logik in der absoluten Idee zu dieser einfachen Einheit zurückgegangen, welche ihr Anfang ist; die reine Unmittelbarkeit des Seins […]. Aber es ist nun auch erfülltes Sein, der sich begreifende Begriff, das Sein als die konkrete, ebenso schlechthin intensive Totalität.« (Hegel, Logik II, 6: 572) Das Missliche dieses so großartigen, unüberbietbaren Versuchs Hegels zu demonstrieren, wie das Denken das Sein in all seinen Bestimmungen konstituiert, ist aber, dass dieser Beweis des Daseins Gottes nicht nur in der Sphäre des Begriffs verbleibt, sondern dass hier in der Erkenntnis Gottes notwendig der genetivus obiectivus 22 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Gottesbeweis oder Erweis Gottes
und der genetivus subiectivus in eins verschmelzen, so dass der Begreifensprozess der Erkenntnis Gottes durch uns mit der Selbsterkenntnis Gottes in seinem Sein in eins zusammenfallen – wie dies Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion darlegt: »Der Geist ist Wissen […], er muß diesen Kreislauf durchgemacht haben […]. Das ist der Weg und das Ziel, daß der Geist seinen eigenen Begriff, das, was er an sich ist, erreicht habe […]. Die geoffenbarte Religion ist die offenbare, weil in ihr Gott ganz offenbar geworden. […] Dieser Gang der Religion ist die wahrhafte Theodizee; er zeigt alle Erzeugnisse des Geistes, jede Gestalt seiner Selbsterkenntnis als notwendig auf, weil der Geist lebendig, wirkend und der Trieb ist, durch die Reihe seiner Erscheinungen zum Bewußtsein seiner selbst als aller Wahrheit hindurchzudringen.« (Hegel, Religion I, 16: 87) * * * Wie Schelling in seiner Spätphilosophie herausarbeitet, begeht Hegel hier nicht nur denselben Fehler wie Anselm und Descartes, indem er die unmittelbarste Prädikation des Seins mit der »absoluten Position« tatsächlichen Existierens – um mit Kant zu sprechen – gleichsetzt, sondern Hegel geht sogar so weit, abzustreiten, dass es überhaupt eine intendierbare Position oder Positivität außerhalb der Immanenz der Logik geben könne, auf die sich das Denken bezöge. Da Hegel keine Unterscheidung zwischen dem Dass des Seins und dem Was des Seins trifft bzw. zulässt, sondern das Dass als erste, unmittelbare Bestimmung des Was ansieht, lässt die dialektische »Bewegung des Begriffs«, die die Philosophie durch das Gesamtsystem hindurch vollzieht, »auch für Gott nichts anderes zu, als […] selbst nur der Begriff zu seyn. […] Seine Meinung ist: Gott ist nichts anderes als der Begriff, der stufenweise zur selbstbewußten Idee wird, als selbstbewußte Idee sich zur Natur entläßt, aus dieser in sich selbst zurückkehrend zum absoluten Geist wird.« (Schelling, Geschichte neuerer Philosophie, X: 127) Demgegenüber unterscheidet Schelling – in Fortführung des kantischen Grundgedankens – zwischen der negativen Philosophie oder Vernunftwissenschaft, die allein in den Was-Bestimmungen des Seins verbleibt, beginnend mit den Bestimmungen der Naturphilosophie über die Bestimmungen des Menschseins in der Geschichte bis hin zur Bestimmung des Absoluten, der Idee Gottes. Während sich nun aber die Was-Bestimmungen der Naturphilosophie und der Phi23 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
losophie der menschlichen Welt auf das Dass des in Erfahrungen Vorliegenden beziehen können, kommt die negative Begrenztheit der Vernunftwissenschaft an der Idee Gottes endgültig zum Vorschein, denn es gibt keine Einzelerfahrungen von Gott und keine Möglichkeit, von der Was-Bestimmung der Idee Gottes auf das Dass seiner Existenz zu schließen. Hier an der Idee Gottes tritt die Differenz zwischen Begriff und Existenz voll hervor, und die Philosophie als Vernunftwissenschaft beginnt ihre negative Begrenztheit einzusehen und gibt somit Raum für eine positive Philosophie, durch die wir uns existentiell aus dem unvordenklich vorausliegenden Existieren verstehen. Die positive Philosophie ist völlig anders geartet als die negative, in der die Vernunft beweisend und begreifend von einer Bestimmung des Seienden zur nächsten fortschreitet und dabei alleiniges Subjekt des Begreifensprozesses ist und bleibt, wie dies Hegel durchaus treffend herausgearbeitet hat. Für die positive Philosophie ist jedoch die »unvordenkliche Existenz«, das Existieren, das Erste, in das hinein wir selbst existierend gestellt sind. Diesem Ersten gegenüber hat die begreifende Vernunft sich in einer »Ekstasis« zurückzunehmen, um sich und alles andere Seiende aus dem »absoluten Subjekt« des Existierens erfassen zu können. »So lang Er [der Mensch] noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt zum Objekt werden, und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. Indem er […] sich des Wissens begibt, macht er Raum für das, was das Wissen ist, nämlich für das absolute Subjekt […]. In diesem Akt, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen, setzt er eben das absolute Subjekt als das Wissen ein [… –] Ekstase.« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 229) Die positive Philosophie ist daher – wie Schelling sagt – geschichtliche Philosophie, insofern sich der Mensch, der wir je selber sind, in die geschichtliche Existenz gestellt erfährt und nun fragt, ob sich ihm – also uns – in ihr Gott als Daseiender offenbart, d. h. ob sich die Existenz uns als ein Sinnzusammenhang erweist, aus dem wir uns vor Gott gestellt erfahren können. Dies ist keine punktuelle Erfahrung, obwohl sie uns natürlich immer wieder punktuell aufgeht, sondern eine das ganze Menschsein, die ganze Menschheitsgeschichte umspannende Bewegung der Sinnerschließung, der Offenbarwerdung. »Die Offenbarung ist der Vorgang, durch welchen die Menschheit von der blinden, unfreien Religion erlöst wird, durch den also die freie, geistige Religion […] erst vermittelt und möglich gemacht ist […], denn der wahre Inhalt des Christenthums ist eine Geschichte, 24 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Beweis oder Erweis der Selbstherrlichkeit des Menschen
in die das Göttliche selbst verflochten ist, eine göttliche Geschichte.« (Schelling, Offenbarung, XIII: 194 f.) Einen Gottesbeweis aus dem Vorrang der Vernunft zu erbringen, ist ganz unmöglich, denn es gibt keinen Übergang vom Begriff zur Existenz, diese liegt jenem immer schon »unvordenklich voraus«. Gott kann sich uns nur aus dem Sinnhorizont unserer geschichtlichen Existenz erweisen. Aber auch ein solcher Erweis Gottes, durch den Gott uns als daseiend offenbar wird, wie ihn die positive Philosophie zu erbringen versucht, erschließt sich uns nicht unmittelbar, denn uns wird Gott erst aus dem uns mitumfassenden Sinnzusammenhang geschichtlicher Existenz offenbar. Damit aber ist der Erweis Gottes in die zweifache Unabgeschlossenheit der Geschichte gespannt: einerseits in die Geschichtlichkeit eines daseienden Gottes, wie sie von Schelling in den Weltaltern entworfen wird, und andererseits durch das den Menschen aufgegebene geschichtliche Handeln hindurch. So schreibt Schelling – terminologisch noch nicht eindeutig zwischen Erweis und Beweis unterscheidend – in seiner Philosophie der Offenbarung (1841): »Die Erfahrung, welcher die positive Philosophie zugeht, ist nicht nur eine gewisse, sondern die gesamte Erfahrung von Anfang bis zu Ende. […] Aber eben darum ist dieser Beweis [eigentlich: Erweis] selbst […] die ganze positive Philosophie, – diese ist nichts anderes als der fortgehende, immer wachsende, mit jedem Schritt sich verstärkende Erweis des wirklich existierenden Gottes, und weil das Reich der Wirklichkeit, in welchem er sich bewegt, kein vollendetes und abgeschlossenes ist […], sondern ein seiner Vollendung fortwährend entgegengehendes ist, so ist auch der Beweis [eigentlich: Erweis] nie abgeschlossen, und darum auch diese Wissenschaft nur Philo-sophie.« (Schelling, Offenbarung, XIII: 130 f.)
2.
Beweis oder Erweis der Selbstherrlichkeit des Menschen
Aber ist nicht die ganze Fragestellung – ob Gottesbeweis oder Erweis Gottes – obsolet geworden durch das Zeitalter der Gottlosigkeit, in das die westliche Zivilisation seit gut zwei Jahrhunderten eingetreten ist? Nach Hegels letztem großen Gottesbeweis versucht sein ehemaliger Schüler Ludwig Feuerbach, indem er den absoluten Geist auf den menschlichen Geist zurücknimmt, den Beweis zu erbringen, dass 25 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
Gott eine bloße Projektion der Ideale des Menschen sei, die es für den Menschen zurückzugewinnen gelte. In diesem Sinne schreibt Ludwig Feuerbach in Das Wesen des Christentums (1841) in direkter Umkehrung von Hegel: »Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. […] Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele […]: Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochne Selbst des Menschen […]. Das absolute Wesen des Menschen ist sein eignes Wesen.« (Feuerbach, Christentum, 5: 30 f. und 22) Zwar ist die christliche Religion mit dem Gedanken der Menschwerdung Gottes bereits auf dem rechten Weg zur Selbsterkenntnis der Religion aus dem Wesen des Menschen, aber noch wird diese Selbsterkenntnis im christlichen Glauben in einer religiösen, d. h. entfremdeten Gestalt festgehalten, insofern Christus noch immer als Gott vom Menschsein abgehoben wird. »Erst in Christus ist daher der letzte Wunsch der Religion realisiert, das Geheimnis des religiösen Gemütes aufgelöst – aufgelöst aber in der der Religion eigentümlichen Bildersprache –, denn was Gott im Wesen ist, das ist in Christus zur Erscheinung gekommen.« (Feuerbach, Christentum, 5: 172) Erst dort wird das Christentum auf sein wahres Wesen zurückgeführt, wo die Religion vollständig in die Menschwerdung aufgehoben wird, wo Theologie zur Anthropologie, also »der Mensch zum höchsten Wesen für den Menschen« wird. So sagt Feuerbach, sein Anliegen selbst kommentierend: »Nicht ich, die Religion betet den Menschen an, ob sie oder vielmehr die Theologie es gleich leugnet; […] die Religion selbst sagt: Gott ist Mensch, der Mensch Gott; nicht ich, die Religion [das Christentum] selbst verleugnet und verneint den Gott, der nicht Mensch, sondern nur ein ens rationis ist, indem sie Gott Mensch werden lässt […]. Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten«. (Feuerbach, Christentum, 5: 403) Der Mensch allein ist Schöpfer, ist Sinnstifter, ist Herrscher seiner Welt, er braucht und er verträgt keinen Gott mehr neben sich. Er braucht das Absolute nicht außer sich, denn er trägt es in sich. Feuerbach setzt und hofft dabei darauf, dass, wenn die Religion erst einmal aufgehoben ist, die Verwirklichung der Ideale der praktischen Vernunft, der Gerechtigkeit, Liebe und Geschwisterlichkeit unter den Menschen anheben werde. Er möchte das Sittengesetz, das schon Kant aus der Abhängigkeit der Religion befreit hat, die er jedoch – einer Fußfessel gleich – hinter sich herschleppt, gänzlich in das Reich menschlicher Selbstverwirklichung heimholen. 26 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Beweis oder Erweis der Selbstherrlichkeit des Menschen
Aber Feuerbachs Glaube an das ideale Wesen des Menschen und die Realisierung seiner Ideale kann grundsätzlich nicht theoretisch bewiesen werden, denn dort, wo die Idee des Absoluten gestrichen wird, bleibt nur noch der empirische Mensch mit seinen widersprüchlichen Trieben und noch widersprüchlicheren Gesetzgebungen, die keinen grundsätzlichen Halt und keine aufrichtende Hoffnung zu geben vermögen. Das Sittengesetz ist das Gebot der praktischen Vernunft, doch darf das Sittengesetz genauso wenig wie die Wahrheit anthropologisiert werden, soll sie nicht ihren Geltungscharakter verlieren. Dies hatte Platons Sokrates schon treffend Protagoras gegenüber herausgestellt: Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, sondern die Vernunft – und die Vernunft, d. i. die Welt der Ideen mit der Idee des Guten an ihrer Spitze. * * * Nietzsche weiß um diese Unmöglichkeit, die Ideale der Sittlichkeit halten zu wollen, sobald die Idee Gottes gefallen ist. Daher verkündet er das Kommen des Übermenschen, der Gott und die Moral überwunden haben wird. Der Tod Gottes braucht nicht bewiesen zu werden, denn diesen hat der Mensch längst durch die Tat erwiesen. Mit seiner Wissenschaft, seiner Ökonomie, seiner Politik, seiner Kunst lebt er bereits in einer gottlosen Welt, und es gibt für ihn auch kein Zurück mehr: »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? […] Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, II: 127) Aber noch hat der Mensch nicht ganz begriffen, was er bereits getan hat. Er hat nicht begriffen, dass nun er an Gottes Stelle zu treten hat. Nun, da kein Gott mehr für die Geschehnisse der Welt verantwortlich gemacht werden kann, muss der Mensch die Sinngebung der Geschichte in seine Hände nehmen. Aber wie soll der ängstliche, immer nur zu Gehorsam und Sklavendienst erzogene Mensch, Gott ersetzender Sinnstifter der Welt werden? Noch vernebelt die jüdisch-christliche »Sklavenmoral« der Nächstenliebe und des Mitleids für die Armseligen, Schwächlichen und Kränklichen, die in säkularisierter Form auch in die Ideale der demokratischen und 27 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
sozialistischen Politik eingedrungen sind, ihm seine Herrlichkeit und Herrschaftlichkeit. Das Unglück dieser jüdisch-christlichen »Skavenmoral«, die von »der Stärke verlang[t], daß sie sich nicht als Stärke äußere« (Nietzsche, Genealogie der Moral, II: 789), gilt es durch eine radikale »Umwertung aller Werte« zu überwinden, um so den unerbittlichen »Willen zur Macht« des Gott-ersetzenden »Übermenschens« zur Geltung zu bringen. (Nietzsche, Aus dem Nachlass, III: 634) Erst der künftige, der von der jüdisch-christlichen Religion und Moral befreite Mensch, der sich für immer von allen moralischen Skrupeln frei zu machen vermag, wird das Gesetz des Lebens zum eigenen Gesetz der Menschenzucht und Menschenzüchtung zum Starken und Großen erheben und so zum Übermenschen und neuen Herren-Menschen werden. Nietzsche selbst sieht sich nur als Vorbote des Kommenden – des Übermenschen »jenseits von Gut und Böse«. »Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch […]. Dieser Mensch der Zukunft […], der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen«. (Nietzsche, Genealogie der Moral, II: 837) * * * Doch der erlösende Übermensch, wie ihn sich Nietzsche ersehnte und heraufbeschwor, ist ausgeblieben. Stattdessen sind jene selbsterklärten Übermenschen »jenseits von Gut und Böse« des 20. Jahrhunderts aufgestanden, vor deren Menschheitsverbrechen wohl selbst Nietzsche erschrocken wäre. Da die Werte der Religion und Moral entwertet waren, hat der Übermensch des 20. Jahrhunderts sich selbst seine Ideologie der Erlösung diktiert, und sie erwies sich von unausdenklicher Unmenschlichkeit. Nicht, dass Nietzsche für diese Schrecken verantwortlich wäre. Wir dürfen den Seher nicht für das zur Rechenschaft ziehen, was die Menschen, die auf ihn hörend und ihn missverstehend, angerichtet haben. Nietzsche sprach nur aus, was er heraufkommen sah. Dass er das Heraufkommende für eine Morgenröte hielt, obwohl es im vollen Wortsinn der Holocaust war, gehört mit zur Blendung, die dieser Weltbrand bereits am Seher vorauswirkt. 28 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Rosenzweigs »neues Denken«
Nietzsches Erweis des Übermenschen jenseits von Gut und Böse ist fehlgeschlagen, er kann auch nicht erbracht werden. Zwar leben auch wir in einem Zeitalter, das offensichtlich keinen Gott mehr braucht, weder in den modernen Wissenschaften noch in der globalisierten Ökonomie, weder in der Technik noch in den politischen Ideologien hat Gott einen Ort. Dafür sind die Wissenschaften, die Ökonomie, die Technik und die Ideologien selbst zu unseren Ersatzgöttern geworden, zu den Realprojektionen, die der Mensch sich erschuf und an die er nun glaubt, auf die er hofft und denen er blindlings dient. Der Erweis des Übermenschen »jenseits von Gut und Böse« erweist sich als Hybris, denn der Mensch kann sich nicht selbst zum Übermenschen emporschwingen, er wird – zumal seiner höchsten Aufgabe der Sittlichkeit beraubt – zum Opfer der brutalen Unmenschlichkeit seiner eigenen Hervorbringungen. Insofern stehen wir immer noch vor der verzweiflungsvollen Frage nach dem Sinn unserer geschichtlichen Existenz – »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (Schelling, Offenbarung, XIII: 7) 4 – und diese ist für uns inzwischen mehr denn je eine existentielle geworden, eine Frage auf Leben und Tod – im wahrsten Sinne des Wortes –, denn überlassen wir uns den mensch-erzeugten Gemächten, die unser gott-loses Zeitalter beherrschen, so berauben wir uns nicht nur unserer Menschlichkeit, sondern auch unserer Lebensgrundlage. Deshalb ist es längst nicht mehr eine bloß spekulative Frage, nach dem Sinn unserer geschichtlichen Existenz zu suchen, sondern eine sittlich-praktische, von der die weitere geschichtliche Existenz der Menschheit abhängt. Und dieser Frage kann und darf sich die Philosophie nicht entziehen.
3.
Rosenzweigs »neues Denken«
Äußerlich gesehen handelt es sich bei Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) um ein in Thematik und Sprache theologisches bzw. glaubensphilosophisches Werk, das, ohne von Feuerbach und Nietzsche besonders Notiz zu nehmen, an Schellings positive Philosophie anknüpft. Erst dem näheren Hinsehen erschließt sich, dass der Stern in all seinen Teilen eine schrittweise voranschreitende philosophische
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Siehe auch Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849), IV: 13 ff.
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Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
Selbstbegrenzung in der Frage der Gotteserkenntnis darstellt, die implizit sehr wohl eine Antwort auf Feuerbach und Nietzsche enthält. Zunächst überrascht, dass Rosenzweig im ersten Teil, der ausdrücklich von der Begrenztheit philosophischer Erkenntnis handelt, ganz selbstverständlich von Gott als einer Tatsache spricht, ganz so wie die Welt und der Mensch Tatsachen für die philosophische Erkenntnis darstellen. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass Rosenzweig ausdrücklich gegen den Idealismus von Parmenides bis Hegel – ja sogar bis Cohen – keineswegs vermeint, dass das Sein durch das Denken erzeugt werden könne, sondern Tatsachen liegen aller philosophischen Erkenntnis voraus. Jedoch nicht als schon Gewusstes, sondern als unbestimmtes Nichts, als »Nichts des Wissens«. In Umformung der Dialektik Hegels sowie der Infinitesimalmethode Hermann Cohens entwickelt Rosenzweig seine Methode der Bestimmung von Möglichkeit und Grenze philosophischer Erkenntnis. Zum einen ist die philosophische Erkenntnis immer bejahend auf das Tatsächliche bezogen, von dem sie aber zunächst nichts anderes weiß, als dass es nicht Nichts ist – Kants »absolute Position« und Schellings »unvordenkliches Sein« klingen hier an. Aber bei dieser Bejahung des Nicht-Nichts kann das Denken nicht stehen bleiben, es will das Tatsächliche wissen, und dies kann es nur durch beständige Verneinung des Nichts ihres Wissens – nur diesen zweiten Teil der Methode kennen Hegel und Cohen. Doch erst durch den dritten Schritt der permanenten Verknüpfung von Bejahung und Verneinung durch das »Und« – so führt Rosenzweig aus – kommt das philosophische Wissen des Tatsächlichen zu seinem Abschluss. Obwohl die Methode philosophischer Erkenntnis der Bejahung, Verneinung sowie des verknüpfenden »Und« jeweils dieselbe bleibt, ist ihr Ergebnis völlig verschieden auf die Tatsachen von Welt, Mensch oder Gott bezogen. So bejaht das philosophische Denken das unendliche Wesen Gottes, und es verneint jegliche endliche Begrenzung der Freiheit Gottes und »beides zusammen formt die Lebendigkeit Gottes« (Rosenzweig, Stern, GS II: 34) In diesem Sinne ist Gott in seinem metaphysischen Sein eine Tatsache, ebenso wie der metalogische Sinn der Welt und das metaethische Selbst des Menschen. Als Tatsachen überragen sie die Immanenz philosophischer Erkenntnis, an sie arbeitet sich die Philosophie seit der griechischen Antike im Erkennen ihres Wesens und Wirkens immer nur schrittweise heran. Doch der hier angesprochene lebendige Gott ist noch nicht der jüdische oder christliche Gott, sondern der Gott philosophischer Er30 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Rosenzweigs »neues Denken«
kenntnis. So haben schon Xenophanes und Anaxagoras, Platon und Aristoteles das metaphysische Sein Gottes zu bestimmen versucht. Dabei wird nicht das Dasein Gottes bewiesen, sondern dieses Dasein immer schon als eine Tatsache vorausgesetzt. Bewiesen wird dabei immer nur, was die philosophische Erkenntnis unter Voraussetzung der Tatsache des Daseins Gottes von Gott zu bestimmen vermag. Alle Erkenntnis des Wesens und der Freiheit Gottes ist ein durch Jahrtausende erarbeitetes philosophisches Wissen. Hierin und nur hierin liegt die bestimmende, differenzierende Kraft philosophischer Gottesbeweise, die aber niemals die Existenz Gottes zu beweisen vermögen. Um die Begrenztheit dieser Erkenntnis zu unterstreichen, hatte Schelling in diesem Zusammenhang philosophischer Gotteserkenntnis immer hinzugefügt: ›Sofern Gott ist, können wir ihn philosophisch nur so denken.‹ Dies gilt aber – wenn auch in modifizierter Form – ebenso von der philosophischen Erkenntnis der Welt und des Menschen. Aber mit diesen vom Denken her bestimmbaren drei unhintergehbaren Tatsachen kann das philosophische Denken nicht weiter zu einer positiven Standortbestimmung unserer selbst in der Welt und vor Gott vordringen, hier liegt die negative Grenze des nur aus sich selbst bestimmten Denkens. Dort jedoch, wo wir um eine Sinnorientierung unserer geschichtlichen Existenz ringen, reicht uns der Gott der Philosophen nicht aus. Es ist gerade Nietzsche – so legt Rosenzweig dar – der mit seiner verzweifelten Leugnung Gottes – »wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein« –, eindrucksvoll einen ganz anderen Gott – ihn negierend – anspricht. (Rosenzweig, Stern, II: 20 f.) Um Antwort auf unser je eigenes existentielles Daseinsproblem gewinnen zu können, muss das Denken zuallererst eine Kehre vollziehen, aus dem Vorrang des Begreifenwollens hin zu einer erfahrenden, vernehmenden, geschichtlichen Philosophie, wie sie Schelling für die positive Philosophie fordert und wie sie Rosenzweig im zweiten Teil des Stern vorlegt. In ihr geht es darum, die geschichtliche Existenz, in die geworfen wir uns vorfinden, als einen Sinnzusammenhang zu erfassen, aus dem wir Orientierung für das uns geschichtlich aufgegebene Handeln gewinnen können. Ein solcher Sinnzusammenhang kann weder in der wissenschaftlichen Naturerkenntnis aufgefunden noch durch politische Entscheidungen hervorgebracht werden, sondern er erschließt sich uns nur dort, wo sich uns unsere geschichtliche Existenz als eine von Gott 31 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
ermöglichte und durch uns mit zu vollbringende Sinnbestimmung erfahren wird – dies meinte schon Kant mit dem Postulat des Daseins Gottes für unser sittliches Handeln. In einer solchen positiven Philosophie existentieller Sinnbestimmung wird – wie Rosenzweig im Sinne Schellings ausführt – immer schon nach Gott als geschichtlichem Gegenüber gefragt, aber nicht in Form eines philosophischen Beweises, sondern im Sinne eines existentiellen Fragens und Suchens, ob und wie sich uns Gott geschichtlich erweist und wir uns vor ihm geschichtlich bewähren. Nach Rosenzweig erschließt sich der Sinnhorizont unserer geschichtlichen Existenz durch die drei zusammengehörigen Dimensionen: Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Wir erfahren den Sinn unseres kreatürlichen Daseins in der Natur, im Zusammenhang mit aller Kreatur unweigerlich als Schöpfung. (Rosenzweig, Stern, II: 124 ff.) Dieser Erfahrung können wir uns gar nicht entziehen, wo wir nach dem Sinnzusammenhang der Natur fragen. In der Erfahrung des Sinnzusammenhangs der Natur als Schöpfung liegt zugleich das zeitliche Moment des Vergangenen, d. h., wo immer wir uns unserer Existenz bewusstwerden, liegt der kreatürliche Vermittlungszusammenhang der Natur bereits vor. Das Moment des Vergangenen in der Schöpfung liegt darin, dass es der Gegenwart unseres BewusstSeins grundsätzlich vorausliegt, immer schon da-ist, also nie Gegenwart sein kann. Damit stehen wir aber auch schon im Zentrum der Sinnfrage: in der Gegenwärtigkeit der Offenbarung. Nur dem Menschen kann der Sinnzusammenhang seines Existierens offenbar werden, und zwar aus der Gegenwärtigkeit seiner sprachlichen Existenz. (Rosenzweig, Stern, II: 174 ff.) Zu dieser Gegenwärtigkeit gehört alles bewusste menschliche Sein als ein Menschliches. Der Mensch wird sich seiner und allem anderen Seienden in der Sprache bewusst, d. h. in der sprachlichen Verständigung mit anderen Menschen. Sinnverstehen und Sinnverständigung sind immer ein gegenwärtiges Ereignen, auch dann, wenn es sich um Sinnzeugnisse aus der frühen Menschheitsgeschichte handelt. Die Gegenwärtigkeit des Sinns der Sprache liegt zwar im Ereignen menschlicher Sinnverständigung, aber der in ihr liegende Sinn geht im Menschlichen der Verständigung nicht auf. In der und durch die Sprache ereignet sich vielmehr Offenbarung, Offenbarwerdung eines Sinnes, der mehr ist und mehr offenbart, als die Menschen je darin auszusprechen vermögen. Anders ist das »Wunder« von Sprache nicht erfahrbar, in der wir immer schon 32 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Rosenzweigs »neues Denken«
stehen – nicht nur in der Sprache, die wir erlernt haben, sondern in der Sprachlichkeit überhaupt. Sprache ist wie eine zweite Schöpfung, so wie die Schöpfung – von der Offenbarung her gesehen – bereits eine erste Offenbarung ist – und doch sind sie beide gänzlich verschieden. Hierin, dass der Sinn jedem Sinnereignis der Sprache immer schon anwesend zugrunde liegt, kann uns durch sie der absolute Sinn selbst aufgehen, oder anders gesagt: kann der Mensch mit Gott ins Gespräch treten, das – weit mehr als bei Hiob – auch ein Ringen und Rechten mit Gott sein kann. Den dritten Sinnhorizont menschlicher Existenz diskutiert Rosenzweig unter dem Begriff Erlösung. (Rosenzweig, Stern, II: 229 ff.) Zunächst steht der Mensch in der Aufgegebenheit der Nächstenliebe, die das zeitliche Moment der Zukunft trägt. Auch hier meint Zukunft nicht etwas, was einmal Gegenwart sein wird, sondern die Gerichtetheit des menschlichen Handelns auf das Kommen des Reichs. Die Versöhntheit des Menschen mit dem Menschen und des Menschen mit der Natur bleiben als Aufgaben immer weiter bestehen. Als Aufgegebenheit der Errichtung des Reichs hört diese Zukunft nie auf, Zukunft zu sein, der Mensch kann immer nur durch sein sittliches Handeln auf die Erlösung zugehen. Aber die Erlösung selbst als Endgültiges kann nie durch die Menschen erwirkt werden, vielmehr kann Erlösung, absolut verstanden, grundsätzlich nur aus der Ewigkeit her in die Zeit, in die Geschichte einbrechen. So wie Rosenzweig gegen Ende des zweiten Buchs des Stern sagt: »Gott erlöst in der Erlösung […] sich selber. Mensch und Welt verschwinden in der Erlösung, Gott aber vollendet sich.« (Rosenzweig, Stern, II: 266) »Von Gott also nimmt die Erlösung ihren Ursprung, und der Mensch weiß weder Tag noch Stunde. Er weiß nur, daß er lieben soll und stets das Nächste und den Nächsten […]; die Stunde weiß allein Er, der das Heute jeden Augenblick erlöst zur Ewigkeit.« (Rosenzweig, Stern, II: 269) Dort, wo wir nach dem Sinn unserer Existenz zur Orientierung unseres Handelns fragen, finden wir uns dreifach in einen Sinnzusammenhang gestellt, der zugleich die Dimensionen unserer geschichtlichen Existenz ausspannt. Nur in diesem Sinne – nicht als Beweis – erweist sich uns Gott ebenfalls dreifach als geschichtliches Gegenüber, denn wir können uns nur dann für eine Sinngebung unserer geschichtlichen Existenz einsetzen, wenn wir uns aus einer Sinn und Existenz vermittelnden Instanz her begreifen, die wir nicht selber sein können. Und doch ist auch dies nur Philosophie – zwar positive Philosophie im Sinne Schellings, aber doch nur Philosophie, 33 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
denkende Umschreibung und Ausdeutung unserer existentiellen Sinnsuche. Im dritten Teil des Stern der Erlösung geht Rosenzweig noch einen Schritt weiter und stellt sich in den Horizont der geschichtlich gewachsenen Offenbarungsreligion des Judentums und bedenkt von daher auch das Christentum. Jede dieser beiden Glaubensgemeinschaften versucht aus ihrer je eigenen Zwiesprache mit Gott, in Liturgie und Gebet, Orientierung für die Bewältigung ihres geschichtlichen Lebens zu gewinnen. Die unterschiedlichen Glaubensperspektiven von Judentum und Christentum – dem Festhalten des Volkes Israel am Bund mit Gott einerseits und dem neuen Bund der Christen aus der Nachfolge Christi andererseits – werden von Rosenzweig jeweils aus ihrem liturgischen Jahr ausgelegt. Beide Offenbarungsreligionen schließen sich in ihren Glaubenswahrheiten aus und können daher nie zusammenkommen, aber beide müssen sich zugleich eingestehen, dass sie nicht im Besitz der absoluten Wahrheit stehen, denn nur Gott ist die absolute Wahrheit. Die absolute Wahrheit Gottes ist jedoch nicht irgendein Glaubensdogmatismus, sondern dass »er Wahrheit ist, sagt uns zuletzt doch nichts anderes, als daß er – liebt« (Rosenzweig, Stern, II: 432), nur so können wir unsere Sinnorientierung aus seiner Sinnermöglichung erfahren. Dort, wo sie beide – Jude und Christ – einsehen, dass sie Gottes Wahrheit nicht ganz besitzen, sondern ihnen diese jeweils nur soweit zuteilwird, als sich Gott ihnen gegenüber offenbart, können sie sich für einen interreligiösen Dialog miteinander öffnen. Dies darf aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie die Wahrheit, die ihnen zuteilwird, in einem philosophischen Relativismus auflösen, wie Rosenzweig es Gotthold Ephraim Lessings Nathan 5 vorhält, sondern jeder – Jude und Christ – hat für seine Glaubenswahrheit einzustehen und diese vor Gott je in seiner Weise in das alltägliche Leben hinein zu bewähren. Diese Wahrheit, die uns in unserer geschichtlichen Existenz offenbar wird, kann von uns nicht anders beantwortet werden als durch die Bewährung unseres Lebens. Daher lautet der Schlusssatz des Stern der Erlösung: »Ins Leben.« (Rosenzweig, Stern, II: 472) Denn der »letzte Sinn« unseres geschichtlichen Seins vor Gott kann – wie Rosenzweig in »Das neue Denken« (1925) erläutert – nicht darin lieGotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (1778/1983). Siehe Rosenzweigs Vorträge zu Lessing in Kassel 1919 in: Rosenzweig, Zweistromland, GS III: 449 ff.
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Ausblick auf Emmanuel Lévinas und Franz Fischer
gen, Gottes Anwesenheit in der Geschichte theoretisch zu beweisen, sondern dass wir uns, vor ihn gestellt erfahren und sittlich-praktisch bewähren: »Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selbst verantwortet werden. […] Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr – bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie«. (Rosenzweig, Neue Denken, III: 160) So hebt sich die Philosophie am Ende auf und verwirklicht sich durch uns in die Bewährung des Lebens hinein.
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Ausblick auf Emmanuel Lévinas und Franz Fischer
Ohne Zweifel ist Rosenzweigs Stern der Erlösung eine eindrucksvolle philosophische Antwort auf Feuerbach und Nietzsche, aber nach Auschwitz und Hiroshima scheint auch diese Rede von Gott noch zu unbefangen positiv zu sein. Nach Auschwitz – so sagte Hans Jonas – kann es keine Rede von einem geschichtlich sinngebenden Gott mehr geben. (Jonas, Auschwitz, 1987: 14) Auf die menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts bezogen und auf die sich für das 21. Jahrhundert abzeichnenden Zerstörungen vorausweisend, versuchen Emmanuel Lévinas und Franz Fischer Antworten zu finden. Wobei es ihnen – wie schon Rosenzweig – nicht um eine philosophische Widerlegung des Atheismus geht, sondern vielmehr um den Widerstand gegen die praktizierte Gottlosigkeit, wie sie in der Shoa zum Ausbruch kam – jedoch nicht nur in ihr, sondern wie sie sich in allen Barbareien wider die Mitmenschlichkeit sowie im Hinblick auf unsere voranschreitende Vernichtung unserer Lebensgrundlage Jahr für Jahr ereignen. * * * »Nach dem Tode eines bestimmten, die Hinterwelt bewohnenden Gottes«, so schreibt Emmanuel Lévinas in Antwort auf Nietzsche im Schlusssatz von Jenseits von Sein oder anders als Sein geschieht (Lévinas, Jenseits von Sein: 395) – und mehr noch in Reaktion auf Auschwitz, wo selbsternannte Herrenmenschen ihr Übermenschsein jenseits von Gut und Böse erprobten –, erweist sich uns »die Unmöglichkeit, Gott zu entkommen«. (Lévinas, Jenseits von Sein: 285) 35 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
Ganz aus der Gedankenwelt der Phänomenologie aus der Nachfolge Edmund Husserls und Martin Heideggers kommend und sie zugleich überhöhend, erneuert Lévinas sowohl die Kantische Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft als auch den Primat der letzteren. Husserls transzendentale Egologie und Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit verbleiben in einer theoretischen Einstellung, in der der Andere oder gar das absolut Andere allenfalls als Gegenstände unserer Intentionalität aufscheinen. 6 Demgegenüber verweist Lévinas auf die ganz andere Ordnung der sittlichen Verantwortung für den Anderen, die nicht aus unserem Dasein und unserer Intentionalität ableitbar ist, sondern geradezu in unser Dasein und Bewusstsein »einfällt« und uns dadurch allererst in unser sittlich verantwortliches Menschsein beruft. Ebenso wie Kant lehnt Lévinas jegliches theoretisches Erkennen der Existenz Gottes ab (Lévinas, Jenseits von Sein: 212), doch in der »Epiphanie des Antlitzes«, des in die Verantwortung-Gerufenseins durch den Anderen, bricht gleich einer »Heimsuchung« die ganz andere Ordnung des Ethischen in unser Denken ein. (Lévinas, Spur des Anderen: 221) »Das Antlitz tritt in unsere Welt von einer absolut fremden Sphäre aus ein, d. h. genau, von einem Absoluten aus, das übrigens der eigentliche Name der fundamentalen Fremdheit ist.« (Lévinas, Humanismus: 41) Die »Verantwortung für den Anderen« erwächst nicht unmittelbar aus der Erkenntnis des Anderen, sondern in ihr offenbart sich eine völlig neue und andere Ordnung, die mit der phänomenologischen Ordnung der Dinge aus theoretischer Vernunft nichts gemein hat. Das In-die-Verantwortung-Gerufensein geschieht uns immer nur vom Antlitz des Andern her. Nicht dass der Andere sie von uns intentional einfordern könnte, sondern diese »Vorladung« erfolgt gerade aus der Nacktheit und Schutzlosigkeit des Anderen. Doch da sie je an mich ergeht, und allein ich sie verantwortend übernehmen kann, werde ich allererst durch den Anderen in die ›Eigentlichkeit‹ meiner Bewährung als Ich gerufen. So finden wir in jeder Heimsuchung durch das Antlitz des Anderen eine Spur von einer »dritten Person« – Gott –, wobei diese nur anwesend ist in seiner Abwesenheit. »Das Jenseits, aus dem das Antlitz kommt, ist die dritte Person. […] Die Illeität [Erheit] der dritten Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1965).
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Ausblick auf Emmanuel Lévinas und Franz Fischer
Person ist die Bedingung der Unumkehrbarkeit unumkehrbarer Abwesenheit, die die eigentliche Erhabenheit der Heimsuchung begründet.« (Lévinas, Spur des Anderen: 229 f.) So liegt die »Quelle des Gebots« der Verantwortung für den Anderen in der Spur des Wortes Gottes, das nirgends anders fassbar und erfüllbar wird als im Versuch seiner Bewährung. »Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur […], zu ihm hingehen, heißt […] auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.« (Lévinas, Spur des Anderen: 235) »Gott bezeugen heißt gerade nicht dieses außer-ordentliche Wort aussprechen, [… sondern das] Sich-›Ausliefern‹ an den Nächsten.« (Lévinas, Jenseits von Sein: 327) Der Erweis Gottes ist kein irgendwie gearteter neuer philosophischer Gottesbeweis, sondern im Hören des Anrufs des Nächsten offenbart sich Gott, der nirgends anders fassbar ist, als in diesem Anspruch des Ethischen selbst – dies eben ist »jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht«. »Gehorsam gegenüber dem absoluten Befehl […], gegenüber dem Wort Gottes – unter der Bedingung, Gott nicht anders zur Sprache zu bringen als ausgehend von diesem Gehorsam. Un-bekannter Gott, der nicht Gestalt annimmt und sich den Verleugnungen durch den Atheismus aussetzt!« (Lévinas, Wenn Gott ins Denken fällt: 263 f.) * * * Ohne von Lévinas zu wissen, spricht der 1970 allzu früh verstorbene österreichische Philosoph Franz Fischer zur gleichen Zeit, von christlichen Zusammenhängen herkommend, ganz Ähnliches aus. Bereits in seiner Philosophie des Sinnes von Sinn (1956) benennt er die grundlegende Differenz zwischen philosophischer Erkenntnis und vollbringender Liebe: »Jenseits der Philosophie als dem begriffenen Logos, der sich als Wissen das Gewissen ist, als Gewissen zum Glauben an Gott, als dem Vollbringen der Liebe, als der Wirklichkeit der Gemeinde, vermittelt […], ist nicht Philosophie. Die Philosophie hebt sich auf – das philosophierende Denken (Ich) hebt sich auf zum Gewissen, dessen Jenseits die Entscheidung des Gewissens (aus seinem Wissen) zum Glauben, nicht an Gott als theoretisch begriffenen Logos, sondern zum Glauben an den positiven Logos – als die vollbringende, verwandelnde, Gemeinde-stiftende Liebe ist, ist sie so oder so 37 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Problemeröffnung: Vom Gottesbeweis zum Erweis Gottes durch uns
nicht mehr aus der Philosophie vermittelt.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 81) Während Fischer in dieser frühen Schrift noch von der Philosophie her in negativer Selbstbegrenzung über sie hinaus auf die vollbringende Liebe verweist, bemüht er sich, in seinem späteren Werk Proflexion und Reflexion (1965) eine sprachliche Form zu finden, die der Logik der philosophischen Reflexion eine Logik der Liebe vollbringenden Proflexion entgegenzustellen. Die Logik der Reflexion ist für Fischer – ähnlich wie die Odyssee der Dialektik für Lévinas – ein Denken, das sich und alles andere theoretisch übergreifend zu sich zurückholt, wie dies Hegel unübertroffen gezeigt hat. So kennt dieses Denken weder den Anderen als Anderen noch das absolut Andere, sondern alles verbleibt in der Selbstbezogenheit des Geistes, der sich für das Absolute hält. Aber ist dies nicht gerade ein solches absolutes Denken, das nicht nur das Sittlich-Praktische ausschließt, sondern in letzter und grausamster Konsequenz auch Auschwitz zulässt. Demgegenüber entwirft Franz Fischer in der Logik der Proflexion ein Denken, das sich ganz dem Anderen hinwendet und das offen ist für den Anderen. Die Logik der Proflexion ist gleichsam die Explikation des »Wegs und der Wahrheit«, der Liebe, von der Jesus von Nazareth spricht. Dies expliziert Fischer in der »Losung« von Proflexion und Reflexion: »Durch die Losung sind wir in die Entscheidung zwischen der von sich reinen [proflexiven] und der von sich erfüllten [reflexiven] Stellvertretung gestellt. […] In der von sich reinen Stellvertretung wenden wir uns im Übergang der offenen Grenze aus uns mit uns in uns ohne uns voraus, und folgen dabei im Mut des von sich reinen Vertrauens der Erkenntnis des Guten.« (Fischer, Proflexion und Reflexion: 106) Für Franz Fischer sind sowohl die vergöttlichende Theologie als auch der anthropologische Atheismus Feuerbachs verfehlende Missverständnisse ein und derselben Aufgegebenheit der Nächstenliebe. »Das, was wir der Gotteslehre vorwerfen, ist ihre Richtung zu dem von der Welt Reinen und nicht zu dem zur Welt Reinen. (Fischer, Proflexion – Logik der Menschlichkeit: 527 f.) Demgegenüber wirft er dem anthropologischen Atheismus vor, dass dieser die von sich reine Aufgegebenheit der Nächstenliebe für eine von sich erfüllte Menschlichkeit ansieht und auszuleben versucht. Wo wir im philosophierenden Beweisenwollen verbleiben, erweisen sich die ontologische Theologie sowie die atheistische Anthropologie als gleich fehlgehende Vexierbilder. Wo wir dagegen in das Vollbringen der Logik 38 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Ausblick auf Emmanuel Lévinas und Franz Fischer
der Proflexion eintreten, da erweist sich uns Gott im wechselweisen Vollbringen der Mitmenschlichkeit, die jedoch keineswegs als reflexive Verabsolutierung des Menschen missverstanden werden darf. Entschieden lehnt Fischer es ab, Gott außerhalb der proflexiven Wechselstiftung des Menschentums, an einen »dritten Ort« zu versetzen. Was Fischer hier als »dritten Ort« abwehrt, ist nicht das, was Lévinas als »dritte Person« versteht, sondern meint die Verdinglichung Gottes, die geradezu verhindert, dass sich Gott im sinnstiftenden Geschehen der Proflexion selbst ereignen kann: »Der von uns reine und von uns erfüllte Mensch stellt im von uns reinen Menschen Gott als Gott vor und gibt im von uns erfüllten Menschen den Menschen als Menschen wieder. Damit ist Gott als von uns reiner Mensch im von uns erfüllten Menschen derselbe von sich, und der von uns erfüllte Mensch ist als von uns reiner Mensch in Gott derselbe von sich. Gott ist als Menschenvater das, was der Menschsohn ist, und der Menschensohn ist als Gottessohn das, was Gott ist. Ist der von uns reine Mensch das, was der von uns erfüllte Mensch ist, und ist der von uns erfüllte Mensch das, was der von uns reine Mensch ist, so sind wir aus diesem in jenem und aus jenem in diesem Mensch und damit als dieselben von uns nicht dieselben von uns.« (Fischer, Proflexion – Logik der Menschlichkeit: 473 f.) * * * Rosenzweig, Lévinas und Fischer sagen keineswegs das Gleiche – es gibt große Differenzen in Argumentation und Stoßrichtung ihrer jeweiligen Ausführungen –, es handelt sich bei ihnen vielmehr um Ergänzungen, die sich dem Selben annähern, das schon Kant und Schelling meinten: Gott kann nicht theoretisch bewiesen werden, wohl aber ist er der ermöglichende Grund für Epiphanie und Proflexion des Anderen, er fällt als mitmenschliche Aufgegebenheit in unser Denken ein und erweist sich als Spur für unsere mitmenschliche Bewährung sowie unsere Mitverantwortung für Natur und Geschichte.
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Philosophie und religiöser Glaube
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1. Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes 1
Als Kant seine Kritik der reinen Vernunft 1781 (21787) veröffentlicht, trägt diese den Titel eines Gesamtprojekts, dessen ausstehende Schritte Kant noch keineswegs klar überblickt. Selbst die folgende Kritik der praktischen Vernunft (1788) lässt den weiteren Fortgang nicht erkennen. Erst in der Einleitung zur dritten Kritik der Urteilskraft (1790) thematisiert Kant erstmals den Gesamtzusammenhang der drei Kritiken und versucht mit der dritten Kritik die »Kluft« zwischen den beiden ersten zu überbrücken. Wie sehr auch dieser Abschluss nur ein sich herantastender ist, zeigt sich nicht nur an dem zweifachen Versuch einer Einleitung, sowie an der keineswegs gelungenen Verknüpfung der beiden Teile der »ästhetischen« und der »teleologischen Urteilskraft«, sondern auch an der dann noch nachgereichten Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), die zwar keine vierte Kritik im strengen Sinne ist, aber doch erst – nach den drei kritischen Fragen: »Was kann ich wissen?«, Was soll ich tun?«, »Was darf ich hoffen?« –, die abschließende Frage aufzuwerfen vermag: »Was ist der Mensch« (Kant, Logik, III: A 25) im Sinnzusammenhang von Natur und Geschichte, von Schöpfung und Erfüllung? Wir werden also Kants kritischer Philosophie nur dann voll gerecht, wenn wir versuchen, sie sowohl vom Vermittlungsversuch der dritten Kritik 2 als auch von seiner Religions-Schrift her zu verstehen. Neu verfasstes Kapitel mit kleineren Rückbezügen auf die Beiträge: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »›Von dem Endzwecke … der Schöpfung selbst‹«, in: Michael Hofer / Christopher Meiller / Hans Schelkshorn / Kurt Appel (Hg.), Der Endzweck der Schöpfung. Zu den Schlussparagraphen (§§ 84–91) in Kants Kritik der Urteilskraft. Für Rudolf Langthaler zu seinem 60. Geburtstag, Freiburg/München 2013: 64– 89; sowie Ders. »Kant – Anthropologia transcendentalis im Primat praktischer Vernunft«, Vortrag vom 17. 11. 1998 im Großen Festsaal der Universität Wien zum 80. Geb. von Michael Benedikt (unveröffentlicht). 2 Hier kann nur in Stichpunkten zusammengefasst werden, was ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinan1
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Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
1.1 Die Systematik der drei Kritiken Kants 1.1.1 Die Kritik des theoretischen Verstandes Die erste Kritik behandelt »nur die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche« (Kant, KU, V: A III), wobei der zunächst im Vordergrund stehende erste analytische Teil sich vornehmlich mit der wissenschaftlichen Verstandeserkenntnis befasst. Ausgehend von der Frage, wie synthetische Urteile a priori, d. h. allgemeingültige Aussagen über empirische Sachverhalte möglich sind, wie sie in der Mathematik und in der Naturwissenschaft vorliegen, versucht Kant, die Bedingungen der Möglichkeit (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse aufzudecken, die er verwirrender und ungerechtfertigter Weise »Erfahrungen« nennt. Während er die ›lebensweltlichen‹ Erfahrungen zwar darunter subsumiert zu haben glaubt, verfolgt seine Problemdiskussion nur die synthetische Vermittlung von raum-zeitlich-isolierten Sinneseindrücken unter die mathematischen und dynamischen Verstandeskategorien, also vorrangig die Konstitutionsproblematik der empirisch-mathematischen Wissenschaften. 3 Wissenschaftliche Erkenntnisse sind objektive und allgemeingültige Gesetzesaussagen über Zusammenhänge isoliert erhobener Sinnesdaten unter methodologischen Fragevorgaben. Und für sie gilt, was Kant zu Recht unterstreicht, dass die allgemeinen Gesetze der Gegenstandsbestimmung und ihre Kausalverknüpfungen nicht aus der ›Erfahrung‹ stammen, sondern dieser immer schon konstitutiv zugrunde liegen. Dabei bezieht sich die Objektivität der Erkenntnis nicht ontologisch auf die Wirklichkeit an sich – oder in Kants Worten: auf »das Ding an sich« –, sondern allein auf die intersubjektive Gewissheit der Verknüpfungsregeln des Verstandes, durch die die erdersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 15 ff. und 37 ff. sowie Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 40 ff. 3 Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft von »Erfahrung« spricht, so meint er eigentlich nur die empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, insofern muss Kants berühmte Formel lauten: »die Bedingungen der Möglichkeit der [wissenschaftlichen Erkenntnis] überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der [wissenschaftlichen Erkenntnis], und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori«. (Kant, KrV, II: B 197) Ohne es zu wollen, priorisiert Kant hiermit die wissenschaftlich bestimmte Erscheinungswelt und verdrängt dadurch alle anderen Dimensionen lebensweltlicher Erfahrungen aus dem Horizont philosophischen Bedenkens.
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Die Systematik der drei Kritiken Kants
scheinenden Sinneseindrücke zu objektiven Gegenstandserkenntnissen und Kausalzusammenhängen bestimmt werden. »Daß Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind, daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als so fern diesen Begriffen korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur so fern es Objekte der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben können, wird im analytischen Teile der Kritik bewiesen«. (Kant, KrV, II: B XXV f.) Das Anliegen, das Kant mit der ersten Kritik verfolgt, ist jedoch nicht so sehr auf die Fundierung wissenschaftlicher Verstandeserkenntnis gerichtet als vielmehr auf deren Begrenzung auf das von ihr empirisch-mathematisch Ermittelte und Bestimmte, denn die theoretische, die »spekulative Vernunft« kann – ja, muss sogar – die Wirklichkeit an sich denken können. »Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.« (Kant, KrV, II: B XXVI f.) Die Kritik der reinen Vernunft kann diese Grenzziehung nur deshalb vornehmen, da sie – selbst als theoretische, d. h. »spekulative Vernunft« – denkend über die Grenzen des bloß empirisch Bestimmbaren hinausreicht. Denn anders wären gar keine Ganzheiten thematisierbar und Grenzbegriffe bildbar, die gleichwohl zur Strukturierung und Begrenzung jeder wissenschaftlichen Erkenntnis erforderlich sind. Wir kommen also zu dem »befremdlichen Resultat«, dass nämlich jedwede wissenschaftliche Erkenntnis »nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als für sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse. Denn das, was uns notwendig über die Grenze der Erfahrung und aller Erscheinungen hinaus zu gehen treibt, ist das Unbedingte, welches die Vernunft in den Dingen an sich selbst notwendig und mit allem Recht zu allem Bedingten, und dadurch die Reihe der Bedingungen als vollendet verlangt.« (Kant, KrV, II: B XX). Allerdings kann die spekulative Vernunft die Wirklichkeit an sich und alle mit ihr zusammenhängende Begriffe nur als Ideen bedenken, von denen es selbstverständlich keine empirische Demonstration geben kann. Hieran gerät die theoretische Vernunft in für sie 45 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
unlösbare Antinomien, denn bestimmende Verstandeserkenntnisse kann sie nur über einzelne Erscheinungszusammenhänge treffen, die Idee einer Wirklichkeit an sich bleibt dem Verstande fremd. Aber auf sich selbst bezogen, muss die theoretische Vernunft sehr wohl die Wirklichkeit an sich als eine Idee thematisieren, die sie jedoch nicht zu bestimmen, sondern nur zu reflektieren vermag. (Kant, KrV, II: A 408 ff.) Die strenge Eingrenzung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Welt der Erscheinungen und der spekulativen Vernunft auf die Reflexion »regulativer Ideen« hat jedoch für Kant nicht nur die Bedeutung einer »negativen« Begrenzung, sondern gibt zugleich »positiv« Raum für die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch zur Bestimmung unseres freien Willens. Sie gibt Raum für eine empirisch-wissenschaftlich nicht erreichbare »übersinnliche« Wirklichkeit an sich, in der wir als frei uns entscheidende, als »intelligible« Subjekte gleichwohl immer schon praktisch stehen und gefordert sind. 4 Denn Freiheit ist etwas, was in der Welt streng wissenschaftlicher Erkenntnisse von durchgängig bestimmten Kausalzusammenhängen nicht vorkommen kann. Freiheit wäre überhaupt undenkbar, wenn die wissenschaftlich bestimmten Kausalzusammenhänge der Erscheinungswelt für die Wirklichkeit an sich Geltung hätten: »Denn sind Erscheinungen Ding an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdenn ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselbst ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die, samt ihrer Wirkung, unter dem Naturgesetze notwendig sind. Wenn dagegen Erscheinungen für nicht mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.« (Kant, KrV, II: B 564) 5 Diesen Bereich sittlich-praktischen Bewusstseins ebenfalls als Bereich sittlich-praktischer Erfahrungen anzusprechen und zu differenzieren, hat sich Kant durch seine Priorisierung der wissenschaftlich bestimmten Erscheinungswelt verbaut, was zu den irreführenden Umschreibungen der Wirklichkeit an sich als einer »übersinnlichen intelligiblen Welt« führt. 5 Bezogen auf die Wirklichkeit an sich kämpft Kant zu Recht gegen eine Ontologisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse an, aber schon ihre unbegründete Vorrangstellung und Ausweitung auf die gesamte Erfahrungswelt ist eine unzulässige ›Ontologisierung‹, die Kant in der Kritik der Urteilskraft und in den späteren geschichtsphilosophischen, politischen und pädagogischen Schriften nur mühevoll zu revidieren vermag. 4
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1.1.2 Die Kritik der praktischen Vernunft Wenn wir auch niemals die Wirklichkeit an sich empirisch-wissenschaftlich erkennen können, so sind wir uns als sittlich-praktisch Geforderte und Handelnde doch unmittelbar bewusst, dieser »übersinnlichen intelligiblen Welt« anzugehören. Die »moralischen Gesetze« (Kant, KpV, IV: A 53) ergehen an uns ganz unmittelbar ohne jegliche Vermittlung über die theoretischen Erkenntnisse der erscheinenden Welt, und sie fordern – kategorisch imperativ – von uns, dass wir uns frei aus sittlicher Einsicht entscheiden. Diese »Freiheit des Willens«, d. h. die Möglichkeit, unseren Willen allein aus der sittlichen Einsicht der Vernunft zu bestimmen, ist »das einzige Faktum der reinen Vernunft« (Kant, KpV, IV: A 56) – wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ausführt –, auf das wir die praktisch-sittliche Bestimmung unseres Menschseins zu bauen vermögen. Damit sind wir aber als sittlich-praktische »Wesen an sich« – wie Kant in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten darlegt – immer schon in die Wirklichkeit an sich hineingestellt. »Um [uns] selbst als praktisch zu denken« (Kant, Grundlegung, IV: A 119) reicht es nicht hin, uns in unserem empirischen Dasein in der Welt der Erscheinungen theoretisch wissenschaftlich zu bestimmen, sondern wir sind genötigt, uns als »Glieder einer intelligiblen Welt« – »d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst« (Kant, Grundlegung, IV: A 111, 119) – zu begreifen. »Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. […] Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelligenz […] nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein.« (Kant, Grundlegung, IV: A 108 f.) 6
Dass Kant im Rahmen seiner Kritik der praktischen Vernunft in Bezug auf die intelligible Welt von einer »Verstandeswelt« spricht, hat ebenfalls zu großen Verwirrungen beigetragen. Hier gilt es nur anzumerken, dass die wissenschaftlichen Ver-
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Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
Mit diesen Bestimmungen von uns als »intelligiblen Wesen« in einer »intelligiblen Welt« sind – wie Kant betont – keinerlei theoretisch-empirische Erkenntnisse verknüpft, sondern sie sind »als praktische Begriffe, auch nur zum praktischen Gebrauche« (Kant, KpV, IV: A 9) bestimmt. So ist auch in diesem Zusammenhang die Rede von einer »übersinnlichen Natur« nichts anderes als eine »Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft«. (Kant, KpV, IV: A 74) 7 Gleichwohl kommen wir »in praktischer Absicht« nicht umhin, uns als »Glieder einer intelligiblen Welt« zu begreifen, ja, mehr noch: Dort wo wir frei aus sittlicher Einsicht uns entscheiden, erfahren wir uns unmittelbar praktisch als autonome Wesen in einer vernunftbestimmten Wirklichkeit an sich. »Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz, und das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogar mit Bestimmung der Art; wie es als ein solches tätig sein könne, erkennt.« (Kant, KpV, IV: A 189 f.) Ohne hier ausführlicher auf Kants praktische Philosophie eingehen zu können, sei um des Gesamtzusammenhangs willen, wenigstens der innerste Kern seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) umrissen. Zunächst zeigt Kant auf, dass nur der Wille im eigentlichen sittlichen Sinne gut sein kann. Alle anderen Reden von »gut« – ein guter Verstand, ein guter Arzt, ein gutes Gesetz – meinen »gut« nur im Hinblick auf anderes. Unter einem guten Willen verstehen wir jedoch einen solchen, der sich allein aus Achtung vor dem Sittengesetz für eine sittlich gute Tat entscheidet. Dem korrespondierend ist das »Sittengesetz« nichts anderes als die praktische Vernunft selber, die an uns als »kategorischer Imperativ« ergeht und uns zur Freiheit aus Sittlichkeit verpflichtet. Durch die Anerkennung der praktischen Vernunft in mir erkenne ich zugleich unbedingt auch jedes andere vernünftige Wesen als Selbstzweck an sich selbst an: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (Kant, Grundlegung, IV: A 66 f.) standeserkenntnisse jedenfalls keinerlei Zugang zu uns als sittliche Verstandeswesen in der intelligiblen Welt haben. 7 In der Bezeichnung »übersinnlich« zeigt sich erneut die Kehrseite des verengten, empirisch-wissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs, denn alle mitmenschlich-sozialen Erfahrungen sind zwar nicht empirisch-wissenschaftlich erfassbar, sehr wohl aber »sinnlich« – im lebensweltlichen Sinne – zugängig.
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Die ganze Bedeutung von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten kommt aber erst im »dritten praktischen Prinzip« zum Ausdruck. Es ist dies das Prinzip der freien Selbstbestimmung des Menschen aus und durch die praktische Vernunft. Es fordert, dass der Mensch sich nur einem solchen Gesetz beugen soll, von dem er sich auch als Gesetzgeber einsehen kann, sowie dass nur das ein allgemeingeltendes Sittengesetz sein kann und darf, dem jedes vernünftige Wesen aus praktischer Vernunft zuzustimmen vermag: »Die praktische Notwendigkeit [des Sittengesetzes …] beruht […] bloß auf dem Verhältnis vernünftiger Wesen zueinander, in welchem der Wille eines vernünftigen Wesens jederzeit zugleich als gesetzgebend betrachtet werden muß, weil es sie sonst nicht als Zweck an sich selbst denken könnte.« Und die Dignität sittlicher Tugend »ist nichts Geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft, […] nur demjenigen allein gehorchend, die es selbst gibt und nach welchen seine Maxime zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der er sich zugleich selbst unterwirft) gehören können.« (Kant, Grundlegung, IV: A 77 ff.) Die Möglichkeit dieses wechselweisen Bezogenseins von individuellem Willen und allgemeinem Sittengesetz liegt in uns als vernünftigem Wesen selbst und in ihr gründet unsere Freiheit. Ihre Konkretisierung stellt sich uns als eine doppelte, nie abschließbare geschichtliche Aufgabe dar: die Bildung und Bewährung des Gewissens als der differenzierten Orientierung unserer je individuellen Willensentscheidung am Sittengesetz und die Mitbestimmung an der uns allen gemeinsam aufgegebenen inhaltlichen Konkretisierung des Sittengesetzes und deren geschichtlicher Verwirklichung.
1.1.3 Die Kritik der Urteilskraft Betrachten wir die Ergebnisse der ersten beiden Kritiken Kants, so werden wir uns als ›Bürger zweier Welten‹ bewusst, denn »in einem und demselben Subjekte« haben wir ein »empirisches Bewußtsein« von uns als »Erscheinung« in der wissenschaftlich bestimmbaren Welt der Kausalitätsbezüge sowie ein »reines Bewußtsein« von uns »als Wesen an sich selbst« in der intelligiblen Welt sittlicher Freiheit. (Kant, KpV, IV: A 10) Damit aber stehen wir vor der Aufgabe der Vermittlung beider Welten, die Kant sich in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft (1790) vornimmt und im zweiten Teil der »teleologi49 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
schen Urteilskraft« dann auch einzulösen versucht. Es stellt sich die Frage, ob wir Grund haben, einen Zusammenhang beider Welten, deren »Bürger« wir sind, anzunehmen oder gar »genötigt« sind, uns in einem solchen Gesamtzusammenhang zu denken. Der Reflexionsgang ist hierbei für Kant ein zweifacher: Zum einen erschöpft sich unsere Naturerkenntnis keineswegs in der streng kausalen Bestimmung von Naturgegenständen gemäß den empirisch-wissenschaftlichen Gesetzesaussagen. Bei unserer Naturbeobachtung stoßen wir vielmehr unausweichlich auf Phänomene des Organischen und auf Lebenszusammenhänge, die sich überhaupt nicht kausal-mechanisch bestimmen lassen. Der lebendige Organismus stellt für uns eine erfahrbare »objektive Realität« (Kant, KU, V: A 29) dar, die nur aus ihrer eigenen inneren Zweckmäßigkeit heraus begriffen werden kann. Sein Begriff »führt die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanismus der Natur, der uns hier nicht mehr genug tun will«. (Kant, KU, V: A 293) Gestehen wir aber ein, dass es solche Organismen gibt, die ihren »Begriff« in sich tragen – und wir sind ja selbst ein solcher Organismus –, dann sind wir »genötigt«, eine »Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke« (Kant, KU, V: A 296 f.) zu reflektieren, in die wir Menschen als organisierte Wesen mit einbegriffen sind. Dies ist aber keine kausal-bestimmende wissenschaftliche Gegenstandserkenntnis, sondern eine Reflexion eines Gesamtzusammenhangs, dem wir selber mitangehören. Wir stoßen also hier in der teleologischen Urteilskraft auf eine erweiterte Idee der Natur. Doch ist damit keineswegs eine Einheit von wissenschaftlicher Naturerkenntnis und reflektierender Naturanschauung erreicht. Vielmehr werden wir gerade dadurch, dass die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur als Kausalzusammenhang und die »regulative Idee« von der Natur als ein Zweckzusammenhang theoretisch nicht aufeinander reduzierbar sind und doch nur Teilaspekte der Bestimmung der Natur darstellen, erneut in eine Antinomie getrieben. (Kant, KU, V: A 307) Gleichwohl können wir nicht umhin, ein gemeinsames »übersinnliches Substrat« einer Wirklichkeit an sich anzunehmen, obgleich wir dieses wissenschaftlich in keinster Weise bestimmen, sondern immer nur in reflektierender Urteilskraft deuten können. 8 Dass Kant in all diesen Fragen, ganz gegen seine eigenen transzendentalphilosophischen Einsichten – angefangen von der Rede von den kausalen »Naturgesetzen« bis
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Die Systematik der drei Kritiken Kants
Nun enden an diesen theoretischen Grenzen jedoch noch keineswegs die Reflexionen Kants zur teleologischen Urteilskraft. Vielmehr haben wir – weil wir nicht nur »organisierte Wesen« in der Natur sind, sondern auch moralisch-vernünftige Wesen, die sich durch ihr Handeln in der Welt ihren sittlichen Verpflichtungen gemäß zu verwirklichen versuchen – den Gesamtzusammenhang der Welt auch noch »in praktischer Absicht« zu reflektieren. Der »kategorische Imperativ« ergeht an uns als »intelligible« Wesen, die sich als sittlich Handelnde in der Welt bewähren und verwirklichen sollen, d. h. er zielt auf die Verwirklichung des »höchsten Gutes« in der Welt, auf »ein weltbürgerliches Ganzes« (Kant, KU, V: A 389), ein sittliches Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Frieden. Um aber überhaupt die Hoffnung haben zu können, dass wir diese Aufgabe der Verwirklichung eines »höchsten Gutes« auch nur erstreben können, müssen wir bereits voraussetzen, »daß nicht allein wir einen uns a priori vorgesetzten Endzweck haben, sondern auch die Schöpfung, d. i. die Welt selbst, ihrer Existenz nach einen Endzweck habe« (Kant, KU, V: A 425), den wir beauftragt sind, mit zu vollbringen. Bedenken wir nur die Teleologie der Natur, so können wir allenfalls vom Menschen als dem »letzten Zweck« in der »Kette der Naturzwecke« sprechen, insofern er das einzige Wesen ist, das wir kennen, das in der Lage ist, sich selbst und den Gesamtzusammenhang der Natur zu reflektieren. (Kant, KU, V: A 385 f.) Steht aber der Mensch auch als sittlich-freies Wesen zur Diskussion, das durch sein sittlichzwecksetzendes Handeln auf die künftige Geschichte zu wirken hat, so steht die Fragestellung einer »moralischen Teleologie« zur Debatte, die uns zwingt, von einem »Endzweck der Schöpfung« zu sprechen, denn wir beziehen uns dann »auf nichts in der Natur (als einem Sinnenwesen), wozu der in ihr selbst befindliche Bestimmungsgrund nicht immer wiederum bedingt wäre« (Kant, KU, V: A 393), sondern auf einen Natur und Sittlichkeit umgreifenden Sinnzusammenhang, dessen Ermöglichungsgrund einerseits bereits gegeben sein muss, andererseits jedoch erst durch das sittliche Handeln der Menschen verwirklichen werden kann: »Es ist ein Urteil, dessen sich selbst der ge-
hin zu der Privilegierung des »Mechanism der Natur« – ungerechtfertigterweise einer ›Ontologisierung‹ wissenschaftlicher Erkenntnisse Vorschub leistet, sei hier erneut unterstrichen. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984/2018): 29 ff.
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Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
meinste Verstand nicht entschlagen kann, wenn er über das Dasein der Dinge in der Welt und die Existenz der Welt selbst nachdenkt: […] daß, ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde.« (Kant, KU, V: A 405 f.) Da aber die Verwirklichung des »höchsten Gutes« als erstrebtes Glück und als sittlich-praktische Aufgegebenheit nur unter der ermöglichenden Einheit von Natur und Vernunft, Existenz und Sinn, gegeben sein kann, steht sie immer schon unter dem »praktischen Postulat«, der praktisch bestimmenden Voraussetzung des »Daseins Gottes«. »Folglich müssen wir eine moralische Weltursache (einen Welturheber) annehmen, um uns, gemäß dem moralischen Gesetze, einen Endzweck vorzusetzen; und, so weit als das letztere notwendig ist, so weit […] ist auch das erste notwendig anzunehmen: nämlich es sei ein Gott.« (Kant, KU, V: A 419 f.) Diese völlig neue Problemdimension, dass das Ganze der Welt eine von Gott geschaffene Schöpfung ist, in die wir mit unserem von Gott gebotenen sittlich-praktischen Auftrag mit einbezogen sind, stellt selbstverständlich keine theoretisch konstitutive Bestimmung der Natur dar, sondern einen allein für die sittlich-praktische Bestimmung unseres Menschseins in der Welt tauglichen »Glaubenssatz«, dem aber als solchem nicht nur eine reflektierende, sondern auch eine konstitutive Gewissheit »in praktischer Absicht« zukommt. Denn wo immer wir ein Leben aus sittlicher Bestimmtheit zu verwirklichen streben – wie es die praktische Vernunft von uns fordert –, da handeln wir immer schon aus dem Postulat, der praktischen Voraussetzung, einer voraus ermöglichten Vermittlung von Sinn und Existenz. Daraus ergibt sich für Kant letztlich, dass wir dort, wo wir uns als praktisch Handelnde in der Welt begreifen und zu verwirklichen versuchen, immer schon praktisch genötigt sind das »Dasein Gottes« für wahr zu halten. Wo immer Menschen um die Verwirklichung von Sittlichkeit (ethisch, pädagogisch und politisch) ringen, leben und handeln sie immer schon – ob sie sich dies eingestehen oder nicht – unter der praktischen Voraussetzung des Daseins Gottes. »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiführung des höchsten Guts (als Zwecks) gedacht werden soll: so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, 52 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die ethisch-geschichtliche Anthropologie und das Postulat des Daseins Gottes
d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion.« (Kant, Religion, IV: Anm. A XIII)
1.2 Die ethisch-geschichtliche Anthropologie und das Postulat des Daseins Gottes 1792 erscheint in Königsberg zunächst ohne Autorennamen das Buch Versuch einer Kritik aller Offenbarung, das so sehr aus dem Geist der drei Kritiken Kants geschrieben ist, dass es für eine vierte Kritik von Kant gehalten wird. Als dann die nächsten Exemplare den wahren Namen des Autors Johann Gottlieb Fichte nennen und Kant öffentlich kundtut, dass nicht er der Autor ist, aber er mit den Ausführungen durchaus übereinstimme, ist der junge Fichte als Philosoph in aller Munde. Aber auch Kant selbst ist nun unter Druck, seine eigenen Gedanken zur Religion öffentlich vorzulegen. Unter Einbeziehung der bereits 1792 erschienenen Abhandlung »Über das radikale Böse in der menschlichen Natur« legt Kant daraufhin im folgenden Jahr seine Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) vor. Die darin zusammengefassten vier Abhandlungen reichen zwar in der systematischen Argumentationsstrenge bei weitem nicht an Fichtes Kritik aller Offenbarung heran, sind aber – wenn auch eher beiläufig in Nebensätzen verpackt – in der Entmythologisierung christlicher Glaubenssätze weit radikaler. In der ersten Abhandlung stellt sich Kant – nachdem er in den drei Kritiken die drei großen Fragekomplexe: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? thematisiert hat – der umfassendsten aller philosophischen Fragen: Was ist der Mensch? (Kant, Logik, III: A 25) In dieser ersten Abhandlung entwickelt Kant eine ethisch-geschichtliche Anthropologie, die sich zwar einer religiösen Rückbindung versichert, aber gleichzeitig eine Kritik der Religion bzw. Religionen durchscheinen lässt, die in vielerlei Hinsicht radikaler ist als die manch seiner Nachfolger. Insgesamt ist die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft einerseits in gewisser Weise Kants vierte Kritik, andererseits jedoch wiederum keine Kritik in streng transzendentalphilosophischer Hinsicht. Sie ist insofern vierte Kritik, als erst in und mit ihr die Selbstreflexion der Vernunft abgeschlossen wird. Sie ist insofern keine Kritik im Sinne der drei vorhergehenden, da sie nicht mehr in 53 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
transzendentaler Reflexion die Bedingungen der Möglichkeit der Vernunft aufdeckt, sondern nach den Möglichkeiten geschichtlicher Verwirklichung der menschlichen Vernunft fragt. Schon in der Vorrede, die die erste Abhandlung mit den drei folgenden zu einem Ganzen zusammenzufügen versucht, betont Kant, dass eine ethisch-anthropologische Grundlegung des Menschseins, nicht ohne das praktische Postulat des »Dasein Gottes« auszukommen vermag, da die »Moral […] unumgänglich zur Religion« führt, »wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« (Kant, Religion, IV: A IX f.) Die von Kant dabei umrissene »philosophische Theologie« bildet die Kerneinsicht der »reinen Vernunftreligion«, an der jede Offenbarungsreligion – und so auch die jüdische und christliche – mit ihrem erzählerischen Beiwerk und wundersamen Zusätzen zu messen ist. Insofern sollten die christlichen Theologen Philosophie studieren, um den wahren sittlichen Kern ihrer eigenen Religion zu erfassen. Niemals aber dürfe eine Religion glauben, mit ihren Glaubenssätzen über die Vernunft obsiegen zu können, »denn eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten.« (Kant, Religion, IV: A XIII f.) 9 »Daß die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte« (Kant, Religion, IV: B 3) – so beginnt Kant im »ersten Stück« der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) seine ethisch-geschichtliche Grundlegung unseres Menschseins. Schon diese Klage setzt voraus, dass die Menschen ihr menschliches Zusammenleben als durch das Böse beherrscht erfahren, was wiederum voraussetzt, dass sie von der prinzipiellen Möglichkeit eines sittlich besseren Zusammenlebens wissen und auch davon, dass sie ein solches durch ihre eigenen Anstrengungen mit herbeiführen können und müssen. Dies ist sehr gerafft die Grundproblematik der ethisch-geschichtlichen Anthropologie, die Kant im ersten Stück sei-
Darauf erhielt Kant auf Betreiben des Ministers für »geistliche Angelegenheiten« unter König Friedrich Wilhelm II. 1794 in einem »Spezialbefehl« ein Schreibverbot über theologische Themen auferlegt, das Kant nach dem Tode von Friedrich Wilhelm II. 1798 für sich als wieder aufgehoben erklärte. (Kant, Streit der Fakultäten, VI: A V ff.)
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ner Religions-Schrift in ihrer Dialektik – ausgehend von der »Anlage zum Guten« über den »Hang zum Bösen« bis zur »Revolutionierung der Denkungsart« – entfaltet. Diese Dialektik kann nur – wie Kant unterstreicht – »von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur« (Kant, Religion, IV: B 15) ausgehen, andernfalls wäre sittliches Handeln unmöglich. Der wirkliche Mensch lebt, hat Vernunft und ist zur sittlichen Selbstbestimmung fähig, dies sind die drei Gaben, die der Mensch als Mensch von Natur aus, d. h. von Anfang an als wirklich daseiendes Vernunftwesen mitbekommen hat und die ihm unverlierbar sind, solange er Mensch ist. »Alle diese Anlagen im Menschen sind nicht allein (negativ) gut (sie widerstreiten nicht dem moralischen Gesetze), sondern sind auch Anlagen zum Guten (sie befördern die Befolgung desselben). Sie sind ursprünglich; denn sie gehören zur Möglichkeit der menschlichen Natur.« (Kant, Religion, IV: B 19) Die »Anlage zum Guten« gründet in jedem Menschen, denn sie ermöglicht die Verwirklichung des Menschseins in seiner sittlichen Freiheit. »Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.« (Kant, Religion, IV: B 18) Der Mensch kann sie in sich missachten, verdrängen, unterdrücken – auch darin liegt seine Freiheit –, aber er kann sie niemals auslöschen, ohne sich dabei selbst als Mensch auszulöschen. Nun meint dies nicht, dass der Mensch ursprünglich – im zeitlichen Sinne vom Urzustande an bzw. von der Geburt an – gut war und danach in einen Zustand des Bösen, der Entfremdung, geraten ist, sondern dass er grundsätzlich, jederzeit und unaufhebbar die Achtung vor dem Sittengesetz in sich vorfindet und zu aktivieren vermag, das sie in seiner praktischen Vernunft selbst gründet. Erst von dieser Grundlage her können wir nun vom »Hange zum Bösen in der menschlichen Natur« sprechen. (Kant, Religion, IV: B 20) Ein Hang – so erläutert Kant – ist keine Anlage, nicht etwas naturhaft Vorgegebenes, denn er setzt die freie Entscheidung bereits voraus. Der radikale – bis in die Wurzel menschlichen Daseins zurückreichende – Hang zum Bösen besteht in einer ursprünglich »selbstverschuldeten« Verkehrung und Verderbtheit des menschlichen Herzens: nicht dem Sittengesetz der praktischen Vernunft zu folgen, sondern der Selbstliebe nachzugeben, wodurch dann die Vernunft zum Instrument eines Begehrens wird, ein Mittel im Dienst der 55 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Befriedigung je individueller Selbstliebe. »Der Satz: der Mensch ist böse, kann […] nichts anders sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt, und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. […] Da dieser Hang nun selbst als moralisch böse […] betrachtet werden […] muß […]: so werden wir diesen einen natürlichen Hang zum Bösen, und, da er doch immer selbstverschuldet sein muß, ihn selbst ein radikales, angebornes (nicht destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur nennen können.« (Kant, Religion, IV: B 26 f.) Prinzipiell lässt sich vom Hang zum Bösen in der menschlichen Natur sagen, dass er weder unmittelbar aus der Sinnlichkeit des Menschen stammt, denn dann könnte er dem Menschen nicht angerechnet werden (tierische Unvernünftigkeit), noch kommt er unmittelbar aus der Vernunft des Menschen (eine teuflische, zerstörerische Verderbnis der Vernunft), denn auch dann könnte er dem Menschen nicht angelastet werden. Er stellt vielmehr die radikale Verkehrtheit der Triebfedern in ihrer Verhältnisbeziehung dar: Das Böse ist die Unterordnung der Vernunft unter den Antrieb der Selbstliebe. »Der Mensch (selbst der ärgste) tut […] auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr, kraft seiner moralischen Anlage unwiderstehlich auf, und wenn keine andere Triebfeder dagegen wirkte, so würde er es auch als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen, d. i. er würde moralisch gut sein. Er hängt aber doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an den Triebfedern der Sinnlichkeit und nimmt sie (nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf.« (Kant, Religion, IV: B 33) Der Hang zum Bösen findet sich in jedem Menschen; keiner, auch der Gerechteste ist davon frei; keiner handelt von Natur auf (= von Anfang an) gut, in jedem lebt der Hang zum Bösen allein schon aus der Selbstliebe seinem Dasein gegenüber. Und doch ist in jedem auch – tiefliegender sogar – »die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz« angelegt; kein Mensch steht als vernünftiges und daseiendes Wesen außerhalb dieser Doppelbestimmtheit. Erst in der Situation der Versuchung kann sich die Kraft zur freien Sittlichkeit (Pflicht) erweisen und bewähren. Der Mensch hat die unauslöschliche Gabe der Freiheit zur Sittlichkeit, aber auch den radikalen und bleibenden Hang zum Bösen. 56 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Damit stellt sich die Frage nach der Möglichkeit der Überwindung des Hangs zum Bösen und »der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft« (Kant, Religion, IV: B 48), d. h. der Widerherstellung des Vorrangs der Achtung für das Sittengesetz. Diese kann nicht als Erwerbung von etwas Verlorenem verstanden werden, sondern nur als eine »Revolutionierung der Denkungsart«, einer periagogē im Sinne Platons (Politeia, Bücher VI–VII), einer Umkehrung der Verkehrtheit hin zur entschiedenen Unterordnung der Selbstliebe unter das Sittengesetz. »Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns ist also nicht Erwerbung einer verlorenen Triebfeder zum Guten; denn diese, die in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht, haben wir nie verlieren können […]. Sie ist also nur die Herstellung der Reinigkeit derselben, als obersten Grund aller unserer Maximen.« (Kant, Religion, IV: B 52) Insofern aber diese »Zumutung der Selbstbesserung« nicht als die Erringung eines endgültigen Zustandes des Gutseins vorstellbar ist, da ja der Hang zum Bösen, mit unserem Dasein verknüpft, niemals absolut überwunden werden kann, so muss auch die Revolutionierung der Denkungsart eine permanent zu erneuernde Aufgabe sein, denn in eine absolute Position des Gutseins kann der Mensch niemals gelangen. Nun gäbe es unter dieser Voraussetzung nie einen bildungsoder gesellschaftsgeschichtlichen Fortschritt zum Sittlichen, sondern immer nur einzelne sittliche Entscheidungen, ohne Möglichkeit, an diese anzuknüpfen oder auf sie aufbauen zu können, wenn die »Revolution in der Gesinnung« nicht zugleich auch von einer »Reform der Sinnesart«, d. h. der Einübung tugendhaften Handelns zur Festigung eines moralischen Charakters begleitet sein könnte. »Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt), notwendig, und daher auch dem Menschen möglich sein muß. Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er so fern, dem Prinzip der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch, d. i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Prinzips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, 57 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege seines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde.« (Kant, Religion: IV: B 55) Hierin liegt die Aufgabe der »moralischen Bildung des Menschen« sowohl des einzelnen Individuums als auch des ganzen Menschengeschlechts; in ihr geht es um die permanent zu erneuernde Überwindung des Hangs zum Bösen und um die schrittweise Festigung sittlicher Grundsätze in der eigenen und gemeinsamen Lebensgestaltung – um ihr Gelingen muss ständig und stetig gerungen werden. »Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von der Gründung eines moralischen Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt, und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt.« (Kant, Religion, IV: B 55 f.) Nur beiläufig spricht Kant aus, dass sich seine Ausführungen zur Dialektik von der Anlage zum Guten, über den Hang zum Bösen bis zur Revolutionierung der Denkungsart gegen die Augustinische Lehre der Erbsünde richten – erst im nachfolgenden »zweiten Stück« wird Kant hieraus eine entschiedenere Kritik an der Christologie ableiten. Zum »Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur« schreibt Kant: »Wenn die Wirkung auf eine Ursache, die mit ihr doch nach Freiheitsgesetzen verbunden ist, bezogen wird, wie das mit dem moralisch Bösen der Fall ist: so wird die Bestimmung der Willkür zu ihrer Hervorbringung nicht als mit ihrem Bestimmungsgrunde in der Zeit, sondern bloß in der Vernunftvorstellung, verbunden gedacht, und kann nicht von irgend einem vorhergehenden Zustande abgeleitet werden […]. Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten, von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen, die unschicklichste: es sich, als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen, vorzustellen«. (Kant, Religion, IV: B 40 f.)
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Kants Kritik des Christentums
1.3 Kants Kritik des Christentums 1.3.1 Von dem Kampfe des Guten Prinzips mit dem Bösen Nach dieser ethisch-anthropologischen Grundlegung im »ersten Stück« wechseln wir nun zu den religionsphilosophischen und christologie-kritischen Ausführungen der nächsten Stücke über, die im Folgenden möglichst dicht an Kants eigenen Worten dargelegt werden sollen. Deutlicher als in all seiner vorhergehenden ethischen und religionsphilosophischen Ausführung spricht Kant hier aus, dass der höchste Zweck allen sittlichen Handels der Menschen und damit der letzte Zweck der Schöpfung »die Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit« ist: »Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses, und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon, als oberster Bedingung, die Glückseligkeit, die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist.« (Kant, Religion, IV: B 73) Wird dieser letzte Zweck aller Schöpfung als personifiziertes Ideal eines sittlich vollkommenen Menschen ausgesprochen, so kann man ihn als »Gottes eingeborenen Sohn« umschreiben: »Dieser allein Gott wohlgefällige Menschen ›ist in ihm von Ewigkeit her‹ ; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn […]. ›In ihm hat Gott die Welt geliebt‹ und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, ›Kinder Gottes zu werden‹ […]. Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann.« (Kant, Religion, IV: B 73 f.) Nur insofern wir diesem Ideal nachstreben und die Leiden erdulden, die sich unserem sittlichen Handeln entgegenstellen, können wir hoffen, Gott wohlgefällig zu werden: »Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit […] können wir uns nun nicht anders denken, als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben […], sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichs-
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ten Tode um des Weltbesten willen, und selbst für seine Feinde, zu übernehmen bereitwillig wäre.« (Kant, Religion, IV: B 75) Wie steht es nun mit der »objektiven Realität« dieses personalisierten Ideals eines vollständig sittlichen Menschen und seiner Gottessohnschaft? Zunächst gilt es daran zu erinnern, dass es hier nicht um eine wissenschaftliche Erkenntnisobjektivität, sondern um die Objektivität der praktischen Vernunft, und zwar im Hinblick auf die uns aufgegebene Verwirklichung sittlicher Freiheit geht. Insofern ist als erstes festzuhalten: »Diese Idee hat ihre Realität in praktischer Beziehung vollständig in sich selbst. Denn sie liegt in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir sollen ihr gemäß sein, und wir müssen es daher auch können. […] Es bedarf also keines Beispiels der Erfahrung«. (Kant, IV, Religion: B 76 f.) Nicht weil irgendeinmal ein Mensch dieses Ideal erfüllte, kommt ihm objektive Realität zu, sondern es besitzt ihre objektive Realität für die praktische Vernunft »von Ewigkeit her« (Kant, Religion, IV: B 73). 10 Da es aber ein Ideal ist, dass an jeden Menschen als aufgegebene Zweckbestimmung ergeht und somit auch erfüllt werden kann, ist es durchaus möglich, dass es Erfahrungen ihrer Erfüllung geben kann. »Eben darum muß auch eine Erfahrung möglich sein, in der das Beispiel von einem solchen Menschen gegeben werde […]; denn, dem Gesetz nach, sollte billig ein jeder Mensch ein Beispiel zu dieser Idee an sich abgeben; wozu das Urbild immer nur in der Vernunft bleibt; weil ihr kein Beispiel in der äußern Erfahrung adäquat ist […]. Wäre nun ein solcher wahrhaftig göttlich gesinnter Mensch zu einer gewissen Zeit gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen […], so würden wir doch nicht Ursache haben, an ihm etwas anders, als einen natürlich gezeugten Menschen anzunehmen […], weil das Urbild, welches wir dieser Erscheinung unterlegen, doch immer in uns (obwohl natürlichen Menschen) selbst gesucht werden muß, dessen Dasein in der menschlichen Seele schon für sich selbst unbegreiflich genug ist«. (Kant, Religion, IV: B 78 f.) Die Aufgegebenheit, dem Ideal der Gottsohnschaft nachzustreben, ergeht an uns und ist von uns zu erfüllen – ausschließlich wir selbst haben an unserer »moralischen Besserung« zu arbeiten, niemand kann uns das abnehmen. »Das Gesetz sagt: ›Seid heilig (in euSiehe hierzu die nahezu 400 Jahre vor der Kreuzigung von Jesus von Nazareth niedergeschriebenen Erwägungen von Platon (Politeia: 360e ff.) zum Martertod des Gerechtesten unter den Menschen.
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Kants Kritik des Christentums
rem Lebenswandel), wie euer Vater im Himmel heilig ist‹ ; denn das ist das Ideal des Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbilde aufgestellt ist.« (Kant, Religion, IV: B 84) Auch kann niemals – »so viel wir nach unserem Vernunftrecht einsehen« – eine »Sündenschuld« oder gar das »radikale Böse« selbst »von einem andern getilgt werden« (Kant, Religion, IV: B 94). Denn es kann streng deduziert werden, dass »nur unter der Voraussetzung der gänzlichen Herzensänderung sich für den mit Schuld belasteten Menschen vor der himmlischen Gerechtigkeit Lossprechung denken lasse, mithin alle Expiationen, sie mögen von der büßenden oder feierlichen Art sein, alle Anrufungen und Hochpreisungen (selbst die des stellvertretenden Ideals des Sohnes Gottes) den Mangel der erstern nicht ersetzen […] können; denn dieses Ideal muß in unserer Gesinnung aufgenommen sein, um an die Stelle der Tat zu gelten.« (Kant, Religion, IV: B 102 f.) Die Heilige Schrift trägt symbolhaft den Kampf der beiden »Prinzipien im Menschen als Personen außer ihm« vor – als das Ringen des »Heilands« mit dem »Fürsten dieser Welt«. Werden die Erzählungen der Versuchung von Jesus durch den Satan ihrer mythologischen Beschreibung entkleidet, so werden sie zu einem »Beispiel für alle«, durch das »die Pforten der Freiheit für jedermann« eröffnet werden, »die ebenso wie er, allem dem absterben wollen, was sie zum Nachteil der Sittlichkeit an das Erdenleben gefesselt hält«. »Man sieht leicht: daß, wenn man diese lebhafte, und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige populäre Vorstellungsart von ihrer mystischen Hülle entkleidet, sie (ihr Geist und Vernunftsinn) für alle Welt, zu aller Zeit praktisch gültig und verbindlich gewesen, weil sie jedem Menschen nahe genug liegt, um hierüber seine Pflicht zu erkennen. Dieser Sinn besteht darin, daß es schlechterdings kein Heil für die Menschen gebe, als in innigster Aufnehmung echter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung: daß dieser Aufnahme nicht etwa die so oft beschuldigte Sinnlichkeit, sondern eine gewisse selbst verschuldete Verkehrtheit […] entgegen wirket, eine Verderbtheit, welche in allen Menschen liegt, und durch nichts überwältigt werden kann, als durch die Idee des Sittlichguten in seiner ganze Reinigkeit, mit dem Bewußtsein, daß sie wirklich zu unserer ursprünglichen Anlage gehöre, und man nur beflissen sein müsse, sie von aller unlauteren Beimischungen frei zu erhalten, und sie tief in unsere Gesinnung aufzunehmen, um durch die Wirkung, die sie allmählich aufs Gemüt tut, überzeugt zu werden, daß die gefürchteten Mächte des Bösen dagegen nichts ausrichten […] können«. (Kant, Religion, IV: B 114 f.) 61 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
1.3.2 Die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden Im vorhergehenden Stück stand das von Ewigkeit her gesetzte Ideal des Sohns Gottes, des vollkommen sittlichen Menschen als Endzweck der Schöpfung im Zentrum der Debatte, nun untersucht Kant im »dritten Stück« die Möglichkeiten der geschichtlichen Erfüllung dieses Ideals durch die Verwirklichung eines Reichs Gottes auf Erden: »Die Herrschaft des guten Prinzips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird.« (Kant, Religion, IV: B 129) Was Kant hier als Ziel einer Verwirklichungsgemeinschaft vorschwebt, ist ein »ethisches Gemeinwesen«, das »immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen« sein muss. (Kant, Religion, IV: B 133) Dieses »ethische Gemeinwesen« unterscheidet sich grundsätzlich von allen rechtlichen und politischen Institutionen, dem Staat oder einem Völkerbund, insofern es als »zwangsfreie« Vereinigung ohne alle »öffentlich machthabende Autorität« sich allein vor Gott als »moralischem Weltherrscher« zu verantworten hat. »Also kann nur ein solcher als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens gedacht werden, in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen […]. Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher. Also ist ein ethisches gemeines Wesen nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich.« (Kant, Religion, IV: B 138 f.) Doch es fragt sich, angesichts der allerorts vorherrschenden »ungeselligen Geselligkeit« unter den Menschen, wie sich ein solches »ethisches Gemeinwesen« überhaupt zu bilden und zu erhalten vermag: »Wie kann man aber erwarten, daß aus so krummen Holze etwas völlig Gerades gezimmert werde? Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführungen nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann. Deswegen ist aber doch dem Menschen nicht erlaubt, in Ansehung dieses Geschäftes untätig zu sein […]. Er muß vielmehr so verfahren, als ob alles auf ihn ankomme, und nur unter dieser Bedingung darf er hof62 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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fen, daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen.« (Kant, Religion, IV: B 141) Das Ideal einer solchen »Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren aber moralischen Weltregierung« nennt Kant die »unsichtbare Kirche«, sie ist die regulative Idee, die alle historisch entstandenen »sichtbaren Kirchen« beseelt, doch sind diese alle nur »Annäherungen an jene«. (Kant, Religion, IV: B 142) Es kann für uns grundsätzlich nur einen Gott geben, der die Welt erschaffen hat, der sie regiert und der sie einst zu sich holen wird, nur ihn kennen wir mit Bestimmtheit als praktisches Postulat des Daseins Gottes aus unserem Auftrag der Verwirklichung des Sittengesetzes in der Geschichte. »[D]enn eigentlich entspringt der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche diesen den ganzen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen kann.« (Kant, Religion, IV: B 147) Und so kann es für uns auch nur eine (unsichtbare) Kirche und »Vernunftreligion« geben, die die ganze Menschheit umfasst, obwohl wir gegenwärtig sehr wohl sehen und wissen, dass es viele Religionen, Konfessionen und sichtbare Kirchen gibt. »Der reine Religionsglaube ist zwar der, welcher allein eine allgemeine Kirche gründen kann; weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt […]. Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran schuld, daß auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient«. (Kant, Religion, IV: B 145) Auch hier macht sich im Menschen der Hang des Bösen bemerkbar, die Eigenliebe über die Sittlichkeit zu stellen, was dazu führt, dass der »gottesdienstliche Cultus« über die »moralische Verpflichtung« gestellt wird, denn der »gottesdienstliche Dienst« entspringt dem »Wunsch, Gott zu gefallen«, um sich dadurch die Gunst Gottes für die eigenen Belange zu erkaufen. 11 Von hierher ergibt sich für die Philosophie die Aufgabe, den Kirchenglauben mit seiner Berufung auf Heilige Schriften und historische Traditionen zur reinen Vernunftreligion zu läutern. »Denn selbst das Lesen dieser heiligen Schriften, oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen; das Historische aber, was dazu nichts beiträgt, ist etwas an sich ganz Gleichgültiges, mit dem man es 11
Siehe auch hierzu die Ausführungen Platons, Politeia: 366b f.
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halten kann, wie man will. [Denn …] die moralische Besserung des Menschen, [macht] den eigentlichen Zweck aller Vernunftreligion aus […], so wird diese auch das oberste Prinzip aller Schriftauslegung enthalten. Diese Religion ist ›der Geist Gottes, der uns in alle Wahrheit leitet‹. […] Alles Forschen und Auslegen der Schrift muß von dem Prinzip ausgehen, diesen Geist darin zu suchen, und ›man kann das ewige Leben darin nur finden, sofern sie von diesem Prinzip zeuget‹.« (Kant, Religion, IV: B 161 f.) 12 Was hier gegenüber jedwedem Kirchenglauben gefordert wird, ist eine Revolutionierung der Denkungsart, keine erzwungene »äußere Revolution«, sondern eine innere Umkehr vom herrschenden Hang der Selbstliebe im Kirchenglauben zur »moralischen Anlage in uns, welche letztere die Grundlage und zugleich Auslegerin aller Religion ist«: »In dem Prinzip der reinen Vernunftreligion, als einer an allen Menschen beständig geschehenen göttlichen (ob zwar nicht empirischen) Offenbarung, muß der Grund zu jenem Überschritt zu jener neuen Ordnung der Dinge liegen, welcher, einmal aus reifer Überlegung gefaßt durch allmählich fortgehende Reform zur Ausführung gebracht wird […]; denn was Revolutionen betrifft, die diesen Fortschritt abkürzen können, so bleiben sie der Vorsehung überlassen, und lassen sich nicht planmäßig, der Freiheit unbeschadet, einleiten. Man kann aber mit Grund sagen: ›daß das Reich Gottes zu uns gekommen sei‹, wenn auch nur das Prinzip des allmählichen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion, und so zu einem (göttlichen) ethischen Staat auf Erden«. (Kant, Religion, IV: B 181) Obwohl Kant dem Christentum eine besondere Rolle unter den Formen der historischen Glaubenslehren einräumt und ihm sogar zugesteht, dass es gegenüber dem Judentum »auf einem ganz neuen Prinzip gegründet, eine gänzliche Revolution in Glaubenslehren bewirkte« (Kant, Religion, IV: B 190 f.; B 252), so ist auch das Christentum noch weit von der reinen Vernunftreligion entfernt. Zwar kann der wahre Religionsglaube aus den überlieferten Schriften herausgehört werden, wenn der »Lehrer des Evangeliums […] sich als einen vom Himmel gesandten [verkündigt], indem er zugleich, als einer solchen Sendung würdig, den Fronglauben (an gottesdienstliche Tage, Bekenntnisse und Gebräuche) für an sich nichtig, den moralischen An einer späteren Stelle erläutert Kant, dass von hier auch der Sinn des Satzes zu verstehen ist, dass dann »Gott alles in allem ist«. (Kant, Religion, IV: B 205 f.)
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dagegen, der allein die Menschen heiligt, ›wie ihr Vater im Himmel heilig ist‹, und durch den guten Lebenswandel […] beweist, für den allein seligmachenden erklärte, nachdem er durch Lehre und Leiden bis zum unverschuldeten und zugleich verdienstlichen Tode an seiner Person ein dem Urbilde der allein Gott wohlgefälligen Menschheit gemäßes Beispiel gegeben hatte« (Kant, Religion, IV: B 191), doch haben seine Jünger und die nachfolgenden Kirchengründer, daraus einen alles verkehrenden Glauben an ihn als einer vergöttlichten Person gemacht. 13 Ebenso wurde der Gedanke der Errichtung eines Reichs Gottes auf Erden, der nur von einer Gemeinschaft erstrebt werden kann, die an die Idee der Gottsohnschaft der Menschen glaubt, zu einem »historischen Offenbarungsglauben« verkehrt, der – ins Jenseits verlegt – aus dem Glaube an einen historischen »Gottmenschen« gründen sollte: »Der lebendige Glaube an das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit (den Sohn Gottes) an sich selbst ist auf eine moralische Vernunftidee bezogen, sofern sie uns nicht allein zur Richtschnur, sondern auch zur Triebfeder dient, und also einerlei, ob ich von ihm, als rationalem Glauben, oder vom Prinzip des guten Lebenswandels anfange. Dagegen ist der Glaube an eben dasselbe Urbild in der Erscheinung (an den Gottmenschen), als empirischer (historischer) Glaube, nicht einerlei mit dem Prinzip des guten Lebenswandels (welches ganz rational sein muß), und es wäre ganz etwas anders, von einem solchen anzufangen, und daraus den guten Lebenswandel ableiten zu wollen.« (Kant, Religion, IV: B 174 f.) Natürlich können wir bezogen auf den einen Gott, den wir zur Verwirklichung der praktischen Vernunft notwendig für wahr halten müssen, von einer »göttlichen Dreieinigkeit« sprechen, insofern Gott in Bezug auf unsere geschichtliche Existenz als »allmächtiger Schöpfer«, »gütiger Regierer« und »gerechter Richter« angesprochen wird, aber all dies sind keine Substanzen Gottes und noch viel weniger Personen in Gott, sondern in all dem werden nur Verhältnisbeziehungen zu »uns als moralische Wesen« ausgesprochen. (Kant, Religion, IV: B 211) »Das höchste, für Menschen nie völlig erreichbare, Ziel der
In einer Anmerkung fügt Kant dem noch hinzu: »Die als Anhang hinzugefügte geheimere, bloß vor den Augen seiner Vertrauten vorgegangene Geschichte seiner Auferstehung und Himmelfahrt […] kann, ihrer historischen Würdigung unbeschadet, zur Religion innerhalb der Grenzen den bloßen Vernunft nicht benutzt werden.« (Kant, IV, Religion: B 192) 13
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moralischen Vollkommenheit endlicher Geschöpfe ist aber die Liebe des Gesetzes. Dieser Idee gemäß würde es in der Religion ein Glaubensprinzip sein: ›Gott ist die Liebe‹ ; in ihm kann man den Liebenden […], den Vater; ferner, in ihm, so fern er sich in seiner alles erhaltenden Idee, dem von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit, darstellt, seinen Sohn; endlich auch, so fern er dieses Wohlgefallen auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit der Bedingung jener Liebe des Wohlgefallens einschränkt, und dadurch als auf Weisheit gegründete Liebe beweist, den heiligen Geist verehren«. (Kant, Religion, IV: B 219 f.) Wird dieser »Keim des wahren Religionsglaubens« im Christentum freigelegt und ungehindert weiterentwickelt, so können wir eine »kontinuierliche Annäherung zu derjenigen, alle Menschen auf immer vereinigenden Kirche [dem ›Fundament einer allgemeinen Weltreligion‹] erwarten, die die sichtbare Vorstellung (das Schema) eines unsichtbaren Reichs Gottes auf Erden ausmacht.« (Kant, Religion, IV: B 197 f.) »Diese Vorstellung […] ist ein schönes Ideal der durch Einführung der wahren allgemeinen Religion bewirkten moralischen, im Glauben vorausgesehenen Weltepoche, bis zu ihrer Vollendung, die wir nicht als empirische Vollendung absehen, sondern auf die wir nur im kontinuierlichen Fortschreiten und Annäherung zum höchsten auf Erden möglichen Guten […] hinaussehen, d. i. dazu Anstalt machen können. […] ›Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe hier, oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch!‹« (Kant, Religion, IV: B 205)
1.3.3 Von Religion und Pfaffentum Im vierten Stück wendet sich Kant nochmals der Diskrepanz zwischen der »unsichtbaren Kirche«, an der jeder teilhat und jeder »Dienst« tut, der das Sittengesetz als Gebote Gottes befolgt, und dem »Afterdienst« der »sichtbaren Kirche« mit ihren vielfältigen Eigeninteressen sowohl von Seiten der kirchlichen Institution als auch der einzelnen Gemeindeglieder. »Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote.« (Kant, Religion, IV: B 229) Daher gibt es – wie Kant in der Anmerkung ausdrücklich erläutert – »keine besonderen Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion [wahren Vernunftreligion]; denn Gott kann 66 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken.« (Kant, Religion, IV: B 230) Gleichwohl ist ein Großteil des kultischen »Gottesdienstes« als ungleicher Tauschhandel zwischen den jeweiligen Eigeninteressen um das Seelenheil der Gemeindeglieder und der Machterhaltung der Institution organisiert. Zwar gibt es in der »christlichen Religion« von ihrem ersten Verkünder her durchaus in hervorgehobener Weise einen sittlichen Kern, der aber von den gelehrten Verwaltern der christlichen Kirche mit allerlei »Geschichten« umrahmt, die als die wahren »Facta« des Glaubens behandelt werden. (Vgl. Kant, Religion, IV: B 248) So schaffen sich die gelehrten Kirchenvertreter das Bild eines Gottes, der »am leichtesten zu [ihrem] Vorteil« zu gewinnen ist, sie schüren einen »Religionswahn«, der die Gläubigen von »der beschwerlichen ununterbrochenen Bemühung, auf das Innerste unsrer moralischen Gesinnung zu wirken«, überhebt. (Kant, Religion, IV: B 257) Dem setzt Kant das eigentliche »moralische Prinzip der Religion« entgegen: »Ich nehme erstlich folgenden Satz, als einen keines Beweises benötigten Grundsatz an: alles, was, außer dem guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.« (Kant, Religion, IV: B 260 f.) Von den vielen weiteren Ausführungen Kants zum »Pfaffentum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips« und dem entgegenstehenden »Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen« sei nur noch Kants Ausführung zum Gebet hervorgehoben, dass wenn es nicht als förmliches »Wortopfer« und »Gnadenmittel« behandelt wird, und somit in den Bereich des Aberglaubens fällt, sondern vielmehr die Bitte um wahre Einsicht zur konkreten Erfüllung des Gebots »liebe einen jeden als dich selbst« (Kant, IV, Religion: 242) verstanden wird, und die den »herzlichen Wunsch« ausdrückt, »Gott in allem unserm Tun und Lassen wohlgefällig zu sein, d. i. die alle unsere Handlungen begleitende Gesinnung, sie, als ob sie im Dienste Gottes geschehen, zu betreiben, ist der Geist des Gebets, der ›ohne Unterlaß‹ in uns statt finden kann und soll.« (Kant, Religion, IV: B 302) Denn der »wahre (moralische) Dienst Gottes […] ist […] ein Dienst der Herzen […] und kann nur in der Gesinnung, der Beobachtung aller wahren Pflichten, als göttlicher Gebote […] bestehen.« (Kant, Religion, IV: 299) Unbeschadet des Glaubens, dass es nur einen Gott gibt und dass unser Streben auf eine Gemeinschaft aller moralisch Handelnden in 67 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes
menschheitlichem Maßstab gerichtet ist, gilt doch auch – wie Kant in einer Anmerkung klarstellt –, dass jeder in seinem sittlichen Ringen um und mit Gott, dies allein in seiner je eigenen Weise zu vollbringen habe. »Es klingt zwar bedenklich, ist aber keineswegs verwerflich, zu sagen: daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen […] sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren.« (Kant, Religion, IV: B 257)
1.4 Nachbemerkungen Auch wenn wir Kants Verengung des Begriff der Erfahrung auf die wissenschaftliche Erkenntnis nicht teilen können, da dadurch alle anderen Dimensionen lebensweltlicher Erfahrung heimatlos werden, angefangen von der sinnlichen Erfahrung der Natur bis hin zu den mitmenschlichen und menschheitlichen Erfahrungen in ihren sozialen und geschichtlichen Bezügen, ist Kants Feststellung, dass es keinen theoretisch zwingenden Beweis des Daseins Gottes geben kann, auch auf den weiteren Kreis aller Erfahrungsdimensionen bezogen, grundsätzlich richtig und unhintergehbar. Damit gilt aber auch das Umgekehrte: Es kann keinen theoretisch zwingenden Beweis der Nicht-Existenz Gottes geben. Wir sind der Gottes-Problematik niemals enthoben, denn diese stellt sich – so versucht Kant aufzuzeigen – im Bereich der praktischen Vernunft, d. h. in unseren sittlich-praktischen Verwirklichungsversuchen unabdingbar als praktisches Postulat, denn alles Hoffen der Menschen, ein dem Sittengesetz gemäßes sozial-gerechtes und friedliches Zusammenleben in der Welt verwirklichen zu können, setzt als Ermöglichungsgrund das »Dasein Gottes«, d. h. die Vermittlung von »Natur und Vernunft«, von Existenz und Sinn, voraus, und zwar nicht als wissenschaftlich beweisbare Erkenntnis, sondern als ein praktisches Für-wahr-Halten, ohne das jegliches auf die Zukunft gerichtetes sittliches Handeln sinnlos wäre. Dies versteht Kant unter den Postulaten der praktischen Vernunft, d. h. den »Glaubenssachen. Dergleichen ist das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt; dessen Begriff in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend, seiner objektiven Realität nach bewiesen werden kann, dessen Gebrauch aber zur bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks doch durch praktische reine 68 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
Vernunft geboten ist, und mithin als möglich angenommen werden muß. Diese gebotene Wirkung, zusamt den einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich dem Dasein Gottes und der Seelen-Unsterblichkeit, sind Glaubenssachen«. (Kant, KU, V: B 457 f.) Der Primat der praktischen Vernunft erfüllt sich erst über die negative Selbsteingrenzung als theoretische Vernunft, durch die eine sittliche Verwirklichung der praktischen Vernunft möglich wird. So liegt in der negativen Selbsteingrenzung der theoretischen Vernunft zugleich die Eröffnung ihres positiven Sinnes: »Da aber eine Grenze selbst etwas Positives ist, […] so ist es doch eine wirkliche positive Erkenntnis, deren die Vernunft bloß dadurch teilhaftig wird, daß sie sich bis zu dieser Grenze erweitert, so doch, daß sie [als theoretische] nicht über diese Grenze hinaus zu gehen versucht«. (Kant, Prolegomena, III: A 181) Indem sich die Philosophie selber als theoretische negativ eingrenzt, stellt sie sich in den Dienst einer selber in der und für die Wirklichkeit wirkenden sittlichen Praxis. Diese Praxis kann und darf nicht blind aus sich selbst und um ihrer selbst willen agieren, sondern sie ist allererst ermöglicht durch die sinnstiftende Vernunft, der sich der Mensch verpflichtet weiß. Beide wechselseitigen Voraussetzungen, die selbst Postulate und Forderungen der menschlichen Sinnbestimmung und Verwirklichung sind, gründen letztlich in der praktischen Voraussetzung des »Postulats der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes«. (Kant, KpV, IV: A 226) – Dies ist ein praktisches Postulat, in das das menschliche Dasein praktisch immer schon unvordenklich hineingestellt ist, denn der Mensch kann seinem intelligiblen Sein in der Wirklichkeit an sich praktisch nicht entgehen, auch wenn er diese theoretisch niemals einzuholen vermag. Von hier her und hierauf bezogen übt Kant Kritik an den Dogmen der christlichen Religion, beginnend mit der Erbsünde des Menschen, der Menschwerdung Gottes in Christus oder dem Versprechen eines jenseitigen Himmelreichs, denn all diese Deutungen biblischer Erzählungen behindern nur die Verwirklichung des sittlichen Auftrags der wahren »philosophischen Theologie« bzw. »reinen Vernunftreligion«, die uns auch aus den Worten von Jesus von Nazareth überliefert ist. Gottes eingeborener Sohn, das ist das Ideal des Menschen, dem jeder einzelne allein durch seine eigene Revolutionierung der Denkungsart zum Guten nachzustreben hat, niemand kann ihm dieses eigene Ringen abnehmen, auch Gott nicht. Jesus war ein 69 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Mensch, der dieses Ideal des sittlich guten Menschen vielleicht in bisher unübertroffener Weise erfüllt hat, insofern vermag er Vorbild zu sein, aber seine Vergöttlichung stünde »unsere[r] Nachfolge […] eher im Wege«. (Kant, Religion, IV: B 79) Auch verweist seine Lehre nicht auf ein Heil in einem jenseitigen Leben, sondern ist auf ein Reich bezogen, das durch uns Menschen erfüllt werden soll. »Die Herrschaft des guten Prinzips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist […] nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen […], die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird.« (Kant, Religion, IV: B 129)
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2. Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter 1
Sechs Jahre nach dem Erscheinen von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft kommt die Erstlingsschrift des 31jährigen reformierten Predigers und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten ihrer Verächter (1799) heraus. In ihr wendet sich Schleiermacher zwar vor allem an seinen frühromantischen Freundeskreis um Friedrich Schlegel und den Kreis des Salons von Henriette Herz, aber er hat auch Kants aufgeklärte Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft im Visier, der er eine nicht minder aufgeklärte Verteidigung der Religion entgegenstellt, um dieser eine eigenständige Dimension neben Philosophie und Moral zu erstreiten. Nur auf diese Erstlingsschrift des jungen Theologen Schleiermacher gehen wir hier skizzenhaft ein, denn Friedrich Schleiermachers zweiundzwanzig Jahre später erschienenes theologisches Hauptwerk Der christliche Glaube (1821/22) ist zwar in seiner grundsätzlichen Position kaum verändert, aber in seiner Form tritt die Glaubenslehre als christliche Exegetik auf – wie Schleiermacher selber betont 2 –, die Neu verfasstes Kapitel mit kleineren Rückgriffen auf die Beiträge: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Schleiermachers dialektische Grundlegung der Pädagogik als praktische Wissenschaft«, in: Kurt-Victor Selge (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, 2 Bde., (1985), II: 773–788 sowie Ders. »Dialektik der gesellschaftlichen und geschichtlichen Praxis – Skizze ihrer unterschiedlichen Systematisierung bei Schleiermacher, Hegel und Marx«, in: Ludwig Nagl / Rudolf Langthaler (Hg.), System der Philosophie. Festgabe für Hans-Dieter Klein (2000): 199 ff. 2 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), 1960, I: 10: »Da die Dogmatik eine theologische Disziplin ist, und also lediglich auf die christliche Kirche ihre Beziehung hat, so kann […] diese Glaubenslehre sich völlig von der Aufgabe lossagen, von allgemeinen Prinzipien ausgehend eine Gotteslehre aufzustellen oder auch eine Anthropologie und Eschatologie […] Denn was über diese Gegenstände von der menschlichen Vernunft sich betrachtet ausgesagt werden kann, das kann in keiner näheren Beziehung zur christlichen Kirche stehen als zu jeder anderen Glaubensoder Lebens-Gemeinschaft.« 1
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hier nicht zur Debatte stehen soll, denn wir wollen bei unseren Annäherungen an ein philosophisches Gottesverständnis nicht allzu sehr in den Sog konfessioneller Dogmenauslegungen geraten. In den Reden Über die Religion versucht Schleiermacher, eine philosophisch aufgeklärte Begründung der Religion vorzulegen, um sie aus der Eingrenzung in die »bloße Vernunft« und aus der alleinigen Dienstbarkeit für die Sittlichkeit zu befreien. Dem philosophischen Selbstverständnis Schleiermachers gemäß hat die Philosophie alle Bereiche menschlichen Denkens und Handelns theoretisch wie praktisch aufzuklären, was aber gerade nicht bedeuten soll, sie der Philosophie unterzuordnen, sondern ganz im Gegenteil, sie in ihrer jeweils eigenen Dimensionen freizulegen. In diesem Sinne hat die Philosophie dem Menschen die Bereiche der Erkenntnis, des sittlichen Handelns, der Kunst und eben auch der Religion zu erschließen. Wohl deshalb, weil Friedrich Schleiermacher als der bedeutendste protestantische Theologe nach den Reformatoren in die Geschichte eingegangen ist, blieb sein großes philosophisches Gesamtwerk im Schatten der dominant erstrahlenden Philosophie des Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) weitgehend verborgen. So denkt man heute meist nicht zuerst an ihn, wenn es um die Wiedererneuerung der Dialektik geht, dabei gehören Schleiermachers an die klassische griechische Philosophie von Platon und Aristoteles anknüpfende dialektische Begründung der Wissenschaften der Naturerkenntnis und des sittlichen Lebens – wie er sie in seinen großen philosophischen Vorlesungen seit 1810 an der neu gegründeten Universität zu Berlin vorgetragen hat – zu den bahnbrechendsten Anfängen der Moderne. 3 Abgesehen von der evangelischen Theologie sowie der Pädagogik, in der Schleiermacher immer noch eine wissenschaftsgeschichtlich und fundamentalphilosophisch herausragende Bedeutung zuerkannt wird, kennt man Schleiermacher heute fast nur noch als Begründer der Hermeneutik, die – ganz gegen seine eigenen Intentionen – über Wilhelm Dilthey bis Hans-Georg Gadamer zu einer
Nicht im streng historischen Sinne, wohl aber von der transzendental-pragmatischen Konzeption seiner Philosophie her, muss Schleiermacher als der Vorläufer der Strömung des siebzig Jahre danach entstehenden amerikanischen Pragmatismus und dessen europäischen Nachfolgern von Wilhelm Jerusalem und Max Scheler bis zu Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas angesehen werden.
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Schleiermachers Dialektik
fundamentalphilosophischen Methodik universalisiert wurde. 4 Dabei verfährt Schleiermacher selber in all seinen Grundlegungen – und so auch in seiner Hermeneutik – nicht hermeneutisch, sondern dialektisch. Um verständlich zu machen, von woher Schleiermacher zu seinem Gottesverständnis vordringt, sollen zunächst seine Dialektik und ihre Konkretisierung, bezogen auf die menschheitliche Praxis, skizziert werden, die sein gesamtes philosophisches und theologisches Denken durchherrscht.
2.1 Schleiermachers Dialektik Unter Dialektik versteht Schleiermacher – der kongeniale Übersetzer der Dialoge Platons – die »Kunst der Gesprächsführung«. D. h. zunächst, dass die Dialektik ihren Standort und ihren Entfaltungsraum nirgends anders hat als in der lebensweltlichen Praxis menschlicher Kommunikation. Dialektik ereignet sich als geschichtlicher Prozess in der kommunikativen Auseinandersetzung der Menschen miteinander in Bestimmung der Wirklichkeit, in der sie leben. Schon hier erkennen wir, dass die Dialektik als Kunst der Gesprächsführung, die sich als wissenschaftliche Gedankenbildung selbst thematisiert, die Selbstaufklärung ihrer eigenen Praxis ist, um so zu einem bewussten Vollzug kommunikativer Wirklichkeitsinterpretation zu gelangen. Die Dialektik als Kunst der Gesprächsführung ist die philosophische Disziplin, in der sich das Denken – die Erkenntnis und das Wissen – selbst bedenkt, d. h. sie steht nicht jenseits des Prozesses, den sie aufzuhellen versucht, auch sie vermag nur Selbstaufklärung der Praxis des Denkens, Erkennens und Wissens zu sein, um so eine bewusstere theoretische Praxis zu werden. Dabei steht die Praxis des Denkens in einer doppelten Verschränkung; sie ist einmal Erkennen, denkende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit von Natur und Geschichte, und zum andern Gespräch, kommunikative Auseinandersetzung der Menschen untereinander; oder genauer: Nur im geschichtlichen Prozess der Verständigung über die Wirklichkeit vermag die theoretische Praxis ihre Aufgaben der Wissensgewinnung und Wissenstradierung zu erfüllen. »Die Gesprächsführung endlich Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik; hg. v. Manfred Frank, (1977). Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik (1900); Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960).
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auf dem Gebiet des reinen Denkens in dem bereits angegebenen Sinn setzt eine Hemmung des reinen Denkens voraus entweder in einem, und dann entsteht Selbstgespräch, oder zwischen mehreren dann entsteht das eigentliche Gespräch. […] Soll nun die Dialektik sich ausschließlich auf das Wissen in dem angegebenen Sinne beziehen, […] so können wir nicht auch behaupten, daß die Regung zum Wissenwollen von ihr ausgehe, und sie der notwendige Anfang alles Wissens sei; vielmehr setzen wir voraus, daß schon immer in der Richtung auf das Wissen ist gedacht worden. […] Denn Kunstlehre nennen wir jede Anleitung bestimmte Tätigkeiten richtig zu ordnen, um ein Aufgegebenes zu erwirken.« (Schleiermacher, Dialektik, II: 9, 12 f.) In ausdrücklicher Berufung auf Platon und Aristoteles – seinen großen Vorbildern – zeigt Schleiermacher, dass keine Erkenntnisund Wahrheitstheorie denkbar ist, die ausschließlich nur Kommunikationstheorie oder ausschließlich nur Adäquationstheorie wäre, beide würden die Einbettung des Denkens und Wissens als theoretische Praxis in die gesellschaftliche Praxis grundsätzlich zerstören und damit sich selbst das Fundament ihrer Begründung entziehen. 5 Nur in der gekreuzten Verschränkung der kommunikativen Auseinandersetzung der Subjekte miteinander und der erkennenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ist eine Theorie der Praxis des Denkens, Erkennens und Gesprächs möglich. »Folgt nun hieraus, daß Beziehung des Denkens auf das Sein die Bedingung alles Streites ist, und ist der Streit die eigentümliche Form der eigentlichen Gesprächsführung auf dem Gebiet des reinen Denkens, mithin die Voraussetzung der Dialektik, so ist auch die Beziehung des Denkens auf das Sein Bedingung der Dialektik […], dieses alles [ist] dasselbe, und das, worauf allein die Aufgabe der Dialektik sich bezieht.« (Schleiermacher, Dialektik, II: 23) Wobei sich diese dialektisch selbstaufklärende Bedingungsanalyse des Denkens zugleich als Aufgabenerschließung der Dialektik des Denkens erweist. Da es sich um die dialektische Selbstaufklärung des Denkens handelt, kann Dialektik nach Schleiermacher nichts anderes sein als Aufdeckung jener polaren Entgegensetzungen, in die sich das Denken immanent eingespannt erfährt. Durch die gegenseitige Verschränkung der grundlegendsten Spannungsbögen zwischen Erkenntnis und Gespräch, zwischen Bedingungsanalyse und AufgabenerschlieSiehe hierzu Platon, Kratylos. Vgl. Josef Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften (1972).
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ßung wird sich das Denken in einem immer feinmaschigeren Netz von Problemdifferenzierungen theoretisch wie praktisch seiner selbst bewusst. »Die Prinzipien des Verfahrens in der Konstruktion des Denkens in bezug auf das Wissen wollen wir suchen; und so betrachten wir dabei uns selbst, inwiefern die Funktion des Denkens uns angehört […]. Deshalb können wir uns einen absoluten Anfang des Denkens nicht vorstellen, sondern müssen uns vielmehr mitten in das Denken hineinstellen.« (Schleiermacher, Dialektik, II: 317) Von daher ergeben sich zwei aufeinander bezogene Themenbereiche der Dialektik: die Klärung der »transzendentalen Grundlagen alles Wissens« und die »technischen oder formalen« Anleitung denkenden Forschens zur Gewinnung neuer Erkenntnisse. »Wenn wir dies als allgemeines Schema der Aktion, die wir suchen, zugrunde legen, so ist hier immer zweierlei verbunden, was für die Betrachtung relativ zu trennen ist: 1. Die Konstruktion eines Denkens an und für sich, und 2. Die Kombination eines Denkens mit einem schon Gedachten und Gegebenen.« (Schleiermacher, Dialektik; II: 321) Doch die ganze Selbstaufklärung der Dialektik – wie sie Schleiermacher in seinen Dialektik-Vorlesungen seit 1814 immer wieder ausführt – ist nur als die methodologische Grundlegung für das zu verstehen, was Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Analyse unserer menschlichen Praxis zur Orientierung dieser Praxis in seinem System der Sittenlehre, der Psychologie, Politik, Pädagogik, Ästhetik und Hermeneutik zur dialektischen Erschließung und Orientierung unserer Wirklichkeit vorgelegt hat. Das System der Sittenlehre oder die Ethik, die Schleiermacher seit 1805 in immer differenzierteren Ausformulierungen vorgetragen hat, ist eine praxisanalytische Selbstaufklärung aller Formen gesellschaftlicher Praxis von ihren universellsten bis zu ihren individuellsten Gestalten, von den hervorbringenden und bildenden Arbeiten bis zu den erkennenden und symbolisierenden Tätigkeiten. Die gesellschaftliche Praxis wird also hier verstanden als der umfassende kulturanthropologische und geschichtliche Horizont des Werdens der Menschheit durch ihr eigenes Tätigsein in deren immer differenzierteren Ausgestaltungen. »Das menschliche Geschlecht bestehet aus einzelnen Wesen, die einen gewissen Zyklus des Daseins auf der Erde durchlaufen und dann wieder von derselben verschwinden, und zwar so, daß alle, welche gleichzeitig einem Zyklus angehören, immer geteilt werden können in die ältere und die jüngere Generation […]. Allein wenn wir das menschliche Geschlecht betrachten in den grö75 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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ßeren Massen, die wir Völker nennen, so sehen wir, daß diese in dem Wechsel der Generationen sich nicht gleich bleiben, sondern es gibt darin ein Steigen und Sinken in jeder Beziehung […]. Das aber ist klar, daß dem Steigen und Sinken menschliche Tätigkeit zum Grunde liegt«. (Schleiermacher, Pädagogik, II: 9) Gleichwohl ist das menschliche Dasein nicht allein durch gesellschaftliche Praxis bestimmt, sondern es ist zugleich durch die Natur bedingt. Ähnlich wie Schelling sieht auch Schleiermacher das menschliche Dasein aus zwei einander entgegenwirkenden Potenzreihen konstituiert: Einerseits geht der Mensch bis hinein in das menschliche Bewusstsein und die menschliche Vernunft aus dem Werdeprozess der Natur hervor, der sich als Vernünftigwerden der Natur umschreiben lässt. Dieser Naturprozess hört keineswegs mit dem Menschen auf, sondern durchwirkt als Lebensprozess auch alles gesellschaftliche und geschichtliche Sein des Menschen; die produktiven Kräfte des Lebens und des Leibes sind gleichsam die materielle Basis allen Menschseins (Schleiermacher, Ethik: 8). Andererseits ist das geschichtliche Werden des Menschen gerade nicht durch den Naturprozess festgelegt, sondern alle kulturellen Gestaltungen sind Produkte der eigenen gesellschaftlichen Praxis, die sich geradezu dem Naturprozess entgegenwirkend als Wirklichwerden der Vernunft, als verändernder Eingriff der menschlichen Vernunft in die Natur darstellen lässt. Nirgends können die Menschen aus diesem Doppelprozess von Natur und Vernunft heraustreten, denn ihr gegenseitiges Bezogensein liegt bereits in unserer leiblichen und zugleich kulturellen Existenz begründet. Allerdings ist dieses Bezogensein zunächst ein naturwüchsig bewusstloses, das wir jedoch von der Seite der vernünftigen Gestaltung gesellschaftlicher Praxis in der Geschichte zu einer bewussten Einheit führen können und müssen. »Die Einzelwesen sind nur als die ursprünglichen Organe und Symbole der Vernunft zu sezen; das Handeln der Vernunft auf die Natur aber ist ein Handeln der ganzen Vernunft auf die ganze Natur; der ethische Prozeß ist nicht vollendet als indem die ganze Natur vermittelst der menschlichen der Vernunft organisch oder symbolisch angeeignet ist, und das Leben der Einzelwesen ist kein Leben für sie selbst, sondern für die Totalität der Vernunft und die Totalität der Natur.« (Schleiermacher, Ethik: 15) Wir können zwar nirgends aus der Einheit von Natur und Vernunft, in der wir selber stehen, heraustreten, aber wir können – und 76 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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müssen auch – sie getrennt bedenken und untersuchen, ohne allerdings dabei je ihr wechselweises Bezogensein vergessen zu dürfen. Thematisieren wir den Naturprozess, so geschieht dies zum einen in der spekulativen Naturphilosophie, der Physik im antiken Sinne, und zum andern durch die empirischen Naturwissenschaften, der Physik, Chemie, Biologie im neuzeitlichen Sinne bis hin zur Anatomie und Physiologie. Thematisieren wir dagegen den Prozess menschlicher Praxis, so haben wir ebenfalls zweifach vorzugehen: einerseits in der philosophischen Theorie der Sittlichkeit, der Ethik im antiken Sinne, und andererseits in der empirischen Erforschung des gesellschaftlichen Lebens von der Anthropologie und Psychologie bis zur Kulturund Geschichtswissenschaft. Konzentrieren wir uns nun auf die philosophische Theorie der Sittlichkeit, so steht diese in einem dialektischen Spannungsbezug zu den empirischen Wissenschaften vom Menschen. Auch hier gilt es, zu zeigen, dass keine der beiden Seiten je gänzlich ohne die andere auskommen kann, weder kann die philosophische Ethik in ihrem Bedenken der gesellschaftlichen Wirklichkeit das konkrete situative Handeln der Menschen deduzieren, noch vermag die Empirie aus der Beobachtung gesellschaftlichen Geschehens den Gedanken der Sittlichkeit überhaupt zu fassen. Schleiermacher wird nicht müde, auf den Ungedanken einer rein normativen Ethik hinzuweisen und er ist stolz darauf, dass in seinem System der Sittenlehre keinerlei imperative Sollenssätze vorkommen. Aber er weist auch die empirischen Wissenschaften vom Menschen in ihre Schranken, denn wenn ihre Beobachtungen menschlichen Seins zum Selbstverständnis der Menschen in ihrer Praxis beitragen sollen, so sind sie auf eine philosophische Sinnbestimmung sittlichen Menschseins angewiesen. In seiner Pädagogik-Vorlesung von 1826 führt Schleiermacher diesen dialektischen Bezug sowohl auf den Aufgabenhorizont als auch auf den Gegebenheitszusammenhang näher aus: »Denn die Theorie der Erziehung ist nur die Anwendung des spekulativen Prinzips der Erziehung auf gewisse gegebene faktische Grundlagen. Diese faktischen Voraussetzungen werden aber einerseits sich beziehen auf den Zustand, in welchem die Pädagogik den zu Erziehenden findet, andererseits auf den Zustand, für welchen er zu erziehen ist. Stellen wir nun die allgemeine aus der Ethik hergeleitete Formel für die Erziehung des Menschen auf und sagen: Die Erziehung soll bewirken, daß der Mensch, so wie sie ihn findet […] durch die Einwirkungen auf ihn der Idee des Guten möglichst entsprechend gebildet werden: 77 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
so wird die Anwendung der Formel unbedingt abhängen von faktisch Gegebenem.« (Schleiermacher, Pädagogik, II: 20) Nur im Wissen um diese doppelte Bezogenheit kann eine philosophische Ethik unter der Berücksichtigung einschlägiger Beobachtungen der empirischen Wissenschaften vom Menschen als ein System der Sittenlehre entworfen und ausformuliert werden. Ihre Aufgabe ist daher das selbstaufklärende systematische Durchdenken der gesellschaftlichen Praxis in ihren uns selbst betreffenden Bedingungs- und Aufgabenfeldern zur Gewinnung von Handlungsorientierungen für unsere eigene Praxis im gesellschaftlichen Kontext. Dabei kann das System der Sittenlehre uns niemals Entscheidungen abnehmen und Handlungen vorschreiben, sondern immer nur Horizonte und Ansprüche der Praxis eröffnen; entscheiden und verantworten kann jeder sein Handeln nur selber. Beginnen wir nun mit der Klärung unserer menschlichen Praxis, wie sie Schleiermacher in seinem System der Sittenlehre, der Güterlehre seiner Ethik, vorlegt. (Schleiermacher, Ethik: 1 ff., 227 ff.) Wir haben hier den umfassendsten Horizont gesellschaftlicher Praxis vor uns, in die wir geschichtlich gestellt sind und deren Bewältigung uns sittlich aufgegeben ist. Als Praxis, in der wir uns immer schon vorfinden, ist ihre dialektische Aufklärung nur von innen her denkbar als Analyse der polaren Spannungen, in denen sie sich durch unser Handeln hindurch vollzieht. Die grundlegendste polare Spannung der gesellschaftlichen Praxis ist die zwischen Individuum und Gesellschaft. Es ist kein menschliches Leben eines Individuums außerhalb der Gesellschaft möglich, aber es gibt auch keine Gesellschaft jenseits der sie vollziehenden Individuen. Beide, Individuen und Gesellschaft, können sich nur als wechselseitig aufeinander bezogene Spannungspole realisieren, abstrakt für sich genommen, sind sie weder denkbar noch wirklich. (Schleiermacher, Ethik: 9 ff.) Allerdings gibt es mannigfaltige Formen verzerrter gesellschaftlicher Praxis, in denen entweder die Gesellschaft über die Individuen zu dominieren trachtet, oder die Individuen die Gesellschaft zu ignorieren versuchen. Doch wollen wir auf diese negativen Abgrenzungen, die bei Schleiermacher eine wichtige aporetische Rolle spielen, hier nicht näher eingehen, um wenigstens in groben Zügen die Konturen der Gesamtargumentation sichtbar machen zu können. Orthogonal zu diesem ersten steht der zweite Spannungsbogen des geschichtlichen Prozesses, d. h. wir befinden uns in der gesell78 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schleiermachers Dialektik
schaftlichen Praxis immer im Mittelpunkt der Gegenwart, der die vorausgegangene Menschheitsgeschichte als bestimmende Gegebenheit zur Grundlage hat und der auf die künftige Menschheitsgeschichte als Handlungshorizont zuschreitet. Auch hier ist menschliche Praxis nicht anders denkbar als eingespannt in diesen Spannungsbogen von Vorgegebenheit und Aufgegebenheit. Jeder Versuch, die Vorgegebenheit der geschichtlichen Situation zu ignorieren oder die Zukunft als Vorbestimmtheit zu nehmen, zerstört den Kern der Praxis, die sich durch das menschliche Handeln hindurch ereignet. Die hier vorausgesetzte Spannung zwischen Empirie geschichtlicher Gegebenheiten und philosophischer Antizipation sittlicher Aufgegebenheiten rührt daher, dass wir immer schon im Prozess gesellschaftlicher Praxis als sowohl gewordener als auch aufgegebener stehen und so, mitten in diesen Praxisprozess eingespannt, ihn immanent für uns aufzuklären haben, um entschieden handeln zu können. Niemals können wir aus der menschlichen Praxis heraustreten, um sie theoretisch oder praktisch von außen feststellen oder festschreiben zu können, sondern unsere einzige Möglichkeit ihrer Bestimmung liegt in der dialektischen Selbstaufklärung der gesellschaftlichen Praxis, in die wir gestellt sind, wobei diese Selbstaufklärung niemals nur einseitig theoretische Analyse des Vorfindlichen ist, sondern uns zugleich auch immer die an uns gestellten Ansprüche gesellschaftlicher Praxis ins Bewusstsein hebt. (Schleiermacher, Pädagogik: II, 11) Damit kommen wir zum dritten, zu den beiden anderen erneut orthogonal stehenden Spannungsbogen: der hervorbringend-bildenden Bearbeitung der Natur und Organisation des gesellschaftlichen Lebens einerseits sowie andererseits der erkennend-symbolisierenden Tätigkeiten sprachlicher Kommunikation und wissenschaftlicher Forschung. Auch diese beiden gesellschaftlichen Tätigkeitsformen – der Arbeit und der Sprache – sind polar aufeinander bezogen, denn die gesellschaftliche Arbeit und Organisation ist genauso auf die Ausformung der Sprache und das gesellschaftliche Wissen angewiesen, wie diese wiederum auf jene. Schleiermacher versteht das Denken, das Wissen bzw. die Theorie ausdrücklich nicht als etwas Isoliertes und Abgetrenntes für sich, sondern als erkennende und symbolisierende Tätigkeit (Sprache), der die produktive und gestaltende Tätigkeit (Arbeit) koordiniert gegenübersteht. Nur gemeinsam umfassen diese polaren Teilmomente die gesellschaftliche Praxis. (Schleiermacher, Ethik: 35 ff.) 79 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
Durch diese drei orthogonal verschränkten Spannungsbögen wird gleichsam ein Würfel erzeugt, dessen imaginäre Räume nun zur Aufklärung der gesellschaftlichen Praxis gegenseitig in Bezug gesetzt werden können und müssen: so beispielsweise die individuellen Gegebenheiten und die gesellschaftlichen Ziele oder umgekehrt die gesellschaftlichen Gegebenheiten und die individuellen Ziele bzw. die Arbeits- und Wissensprozesse bezogen auf individuelle oder gesellschaftliche Gegebenheiten bzw. Zielsetzungen. Hier können wir nicht die Differenzierungen der gesellschaftlichen Praxis in ihrer grundlegenden Dreidimensionalität weiterverfolgen, wie sie Schleiermacher durch eine immer feinere Vernetzung der sich gegenseitig kreuzenden polaren dialektischen Spannungsbögen aufhellt, sondern nur noch darauf hinweisen, dass sich bezogen auf den letztgenannten Spannungsbogen gesellschaftlicher Praxis nochmals eine Differenzierung in theoretische und praktische Wissenschaften durchführen lässt. Ohne eine vollständige Auffächerung vorlegen zu wollen, seien hier als theoretische Disziplinen der Gesellschaft die Geschichte und, bezogen auf die Individuen, die Psychologie genannt. Demgegenüber stehen als praktische Disziplinen die Politik, die auf die Praxis der gesellschaftlichen Organisation gerichtet ist, und die Pädagogik, die sich auf die Praxis der Bildung der Individuen konzentriert, korrelativ gegenüber, wie dies Schleiermacher in seiner großen Pädagogik-Vorlesung von 1826 ausführt. Für die praktischen Disziplinen ergibt sich daraus eine weitere dialektischer Selbstanwendung: Die praktischen Wissenschaften – Politik und Pädagogik – haben die vorfindliche Praxis so aufzuklären, dass dadurch die politisch und pädagogisch Handelnden in ihrer Praxis eine Orientierung für ihr Handeln erfahren. Auch diese beiden praktischen Disziplinen sind untereinander polardialektisch aufeinander verwiesen, denn die pädagogische Praxis ist selbst Teil der politischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, so wie die politische Praxis dem Anspruch der Höherbildung des Menschen zum Menschen unterstellt ist. (Schleiermacher, Pädagogik: II, 13) 6 Das Faszinierendste an Schleiermachers dialektischer Analyse gesellschaftlicher Praxis ist somit, dass er sich immer bewusst hält,
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008): 32 ff., 59 ff.
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dass es sich bei jeder Analyse von der Praxis zugleich um eine für die Praxis handelt. Dies schließt von vornherein aus, dass sie je entweder allein als empirisch feststellende oder als normativ vorschreibende Wissenschaft missverstanden werden kann. Vielmehr erfolgt die dialektische Praxisanalyse immer aus dem Horizont der praktisch Handelnden, sie klärt die Praxis auf, in der der Handelnde immer schon steht, um ihm zu ermöglichen, bewusster in die Praxis einzugreifen, denn gesellschaftliche Praxis ist ja selbst nichts anderes, als das miteinander Handeln der Individuen. Daher ist – wie Schleiermacher sagt – »doch überhaupt auf jedem Gebiet, das Kunst [im Sinne von bewusstem Handeln] heißt im engeren Sinne, die Praxis viel älter als die Theorie, so daß man nicht einmal sagen kann, die Praxis bekomme ihren bestimmten Charakter erst mit der Theorie. Die Dignität der Praxis ist unabhängig von der Theorie; die Praxis wird nur mit der Theorie eine bewußtere.« (Schleiermacher, Pädagogik, I: 11) Die Praxisanalyse vermag nur die immer schon sich vollziehende gesellschaftliche Praxis durch ihre Aufklärung zu einer bewussteren Praxis der Handelnden voranzubringen. Aus diesem Grund ist Schleiermacher der »Überzeugung«, dass der gesellschaftlichen Fortentwicklung der Menschheit in der Geschichte »eine reine Kontinuität der Praxis« zugrunde liegt. Auf den sittlichen Fortschritt der Menschheit in der Geschichte bezogen bedeutet dies, dass das Vermögen zur Sittlichkeit immer schon in der gesellschaftlichen Praxis selbst angelegt ist und von sich aus zur Verwirklichung drängt. Es kommt – für Schleiermacher – also nur darauf an, dass die Individuen über die gesellschaftliche Praxis in ihrer sittlichen Struktur aufgeklärt werden, um sie mit Bewusstheit sittlich voranzubringen: »So haben wir denn unser Augenmerk nur darauf hinzurichten, daß wir eine solche Theorie aufstellen, die, zwar immer anknüpfend an das Bestehende, doch auch zugleich dem natürlich, sicher fortschreitenden Entwicklungsgang entspricht. Je mehr dies uns gelingt, desto weniger dürfen wir dann um die Praxis bekümmert sein, da wir die Überzeugung haben, daß eine reine Kontinuität der Praxis, die aber zugleich Fortentwicklung der Theorie in sich schließt, daraus hervorgehen werde.« (Schleiermacher, Pädagogik: II, 146)
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2.2 Religion als Einsicht in unsere schlechthinnige Abhängigkeit Eingebettet in diese transzendental-pragmatische Praxisanalyse stellt Friedrich Schleiermacher die Frage nach der Religion. Dabei grenzt er sich von Kants Ausführungen zum praktischen Postulat des »Dasein Gottes« ab, denn die Frage nach Gott stellt sich nicht nur und nicht erst in der praktischen, sondern ebenso sehr in der theoretischen Philosophie, wenn diese nur weit genug gefasst wird. Kant trat mit der Erkenntnisfragestellung nach der Gewissheit empirisch-wissenschaftlicher Aussagen – ›Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‹ – in die theoretische Philosophie ein und konnte innerhalb dieses Horizonts mit Recht kein Gottesproblem mehr finden. Geht man dagegen – wie Schleiermacher – von der lebensweltlichen Erfahrung aus und fragt von dort nach den Voraussetzungen, die in ihre Konstitution eingehen, so kommt man nicht an dem Gottesproblem als transzendentem Grund allen menschlichen Daseins im natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeitszusammenhang vorbei: »Kant behauptet, das Dasein Gottes könne auf theoretische Weise nicht bewiesen werden, sondern sei begründet durch die Postulate der praktischen Vernunft. […] Vergleichen wir unseren Gang mit dem Kantischen, so sind wir von Anfang an auf das Entgegengesetzte gekommen, weil wir gleich [auch] Postulate für das Wissen suchten.« (Schleiermacher, Dialektik, II: 281 f.) Gehen wir der theoretischen Frage nach, wie das Denken das Sein zu denken vermag, so stoßen wir auf die Einsicht, dass wir die Einheit von Denken und Sein immer schon in uns selber tragen: »Die Identität des Seins und Denkens tragen wir in uns selbst; wir selbst sind […] das denkende Sein und das seiende Denken.« (Schleiermacher, Dialektik II: 270) Hinter dieses »unmittelbare Selbstbewusstsein« gibt es kein Zurück, es muss der Ausgangspunkt unserer weiteren Klärungen sein. Dieses unmittelbare Selbstbewusstsein ist auch das Zentrum all unseres Denkens und all unseres Wollens, die ihrerseits erfahrend bzw. begehrend auf das Seiende in der Welt bezogen sind. Es ist dieses unmittelbare Selbstbewusstsein, das all unser Denken und Wollen – so rudimentär oder intensiv auch immer – ›begleiten können muss‹. (Schleiermacher, Dialektik II: 286) Zu diesem uns begleitenden Selbstbewusstsein haben wir keinen anderen Bezug als das unmittelbare existentielle »Gefühl« unserer selbst. Aber zugleich ist dieses unmittelbare Selbstbewusstsein unserer 82 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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selbst auch verknüpft mit dem Gefühl unserer »schlechthinnigen Abhängigkeit vom Grund alles Seins«, den wir auch Gott nennen können, und dies verbindet uns mit allem Seienden der Welt. »Das Bewußtsein Gottes haben wir immer mit dem Bewußtsein der Gemeinschaftlichkeit alles Seins in unserem Selbstbewußtsein, d. h. nicht anders als in dem Moment, wo unser Sein mit dem Sein außer uns verknüpft ist.« (Schleiermacher, Dialektik II: 301) 7 Also auch hier sind wir in unserem unmittelbaren Selbstbewusstsein sowohl in theoretischer als auch in praktischer Beziehung eingespannt in einen polaren Spannungsbogen zwischen der Idee des Grundes alles Seins und der Idee der Welt, der Totalität alles Seins, wobei jedoch – anders als beim Spannungsbogen zwischen Denken und Wollen, theoretischer und praktischer Vernunft, der ein immanenter ist – diesmal die beiden Pole jenseits unserer Verfügung liegen, also »transzendente« Ideen darstellen. Trotzdem können wir uns der theoretisch wie praktisch uns betreffenden Sinnfragen nach dem Grund alles Seins als terminus a quo und des Sinns der Welt als terminus ad quem nicht entziehen. »Wir haben kein anderes Interesse am transzendenten Grunde als immer in Beziehung auf die Idee der Welt; und auch in unserem unmittelbaren Selbstbewußtsein ist er uns nie anders als in Verknüpfung mit demselben gegeben. […] Jeder Versuch, den transzendenten Grund in solcher Verbindungslosigkeit mit der Idee der Welt darzustellen, zerstört immer sich selbst.« (Schleiermacher, Dialektik II: 301) Der transzendente Grund alles Seins begleitet daher auch all unser Denken in seinen letzten Bezügen, denn wir können die Totalität der Welt und uns in ihr nicht ohne ihn denken, ebenso wenig wie wir die Welt in ihrer Totalität und uns in ihr, ohne Rückbezug auf den transzendenten Grund dieser Welt antizipieren können. Insofern ist der transzendente Grund – entgegen der Ausführungen von Kant – Gegen Schleiermachers »Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit« polemisierte Hegel in seiner Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie: »Gründet sich die Religion im Menschen nur auf ein […] Gefühl seiner Abhängigkeit […], so wäre der Hund der beste Christ, denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle.« (Hegel, 11: 58) Darauf antwortet Schleiermacher nur erläuternd: »Wir haben in unserer Sprache keinen anderen Ausdruck hierfür, und es ist nur Mangel an Distinktion, wenn man glaubt, daß dieser Ausdruck noch etwas anderes bedeuten könnte« (Schleiermacher, Dialektik II: 287), denn nur der Mensch besitzt einen solchen fühlenden (denkend-seienden) Selbstbezug zu sich in seiner Endlichkeit im existierenden Universum.
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auch ein Postulat der theoretischen Vernunft. »Der transzendente Grund bleibt immer außerhalb des Denkens und wirklichen Seins, aber ist immer die transzendente Begleitung und der Grund beider. Es gibt daher keine andere Repräsentation dieser Idee als im unmittelbaren Selbstbewußtsein; denn in die beiden Formen der Denkfunktionen kann er nie aufgehen, weder als terminus ad quem noch a quo.« (Schleiermacher, Dialektik II: 307) Insofern kann es für Schleiermacher letztlich keinen wahrhaften Atheismus geben, sondern immer nur Widerlegungen dogmatisierter Gottesbilder, denn weder trägt das Sein seinen Grund in sich selbst noch verfügt das Denken über die Kraft, Sein zu erschaffen. Das unmittelbare Selbstbewusstsein als Potenz der Vermittlung von Denken und Sein weiß zugleich von seiner Endlichkeit und schlechthinnigen Abhängigkeit vom Grund alles Seins und seiner Beschränktheit in der räumlichen und zeitlichen Totalität der Welt. Will der Atheismus diesen transzendenten Grund des Seins aufgeben, so leugnet er jegliche Begründbarkeit des Seins und des Denkens und damit auch die Sinnhaftigkeit seiner Aussage. »Von hier aus gesehen ist der Atheismus stets ein Mißverständnis. Denn beim Streben nach dem Wissen ist er unmöglich und entsteht nur bei nicht gehöriger Trennung zwischen Dogmatismus und Philosophie.« (Schleiermacher, Dialektik II: 312) 8
Diese durchaus schon existentiell gedachte Dialektik Schleiermachers hat Sören Kierkegaard eine Generation später zu einer existentialistischen Dialektik überhöht: »Der Mensch ist Geist […] Geist ist das Selbst […] Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält […] Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss entweder sich selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis wahrscheinlich das Dritte, aber dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann doch wiederum ein Verhältnis, verhält sich zu dem, was da das ganze Verhältnis gesetzt hat. Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält«. (Kierkegaard, Krankheit zum Tode, IV: 13) Vgl. Wilhelm Anz, »Schleiermacher und Kierkegaard: Übereinstimmung und Differenz«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 82/4 (1985): 409 ff.
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Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
2.3 Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern In seiner Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter von 1799 versucht Schleiermacher, der junge Prediger der Reformierten Kirche, sich jeglicher exegetischer Argumentation zu enthalten und zunächst nur das Phänomen der Religion rein phänomenologisch zu bestimmen. Dies tut er aber weder um die Religion von außen zu beurteilen noch um sie philosophisch zu vereinnahmen, sondern um ihre Besonderheit und Eigenständigkeit zu unterstreichen, der wir uns nicht entziehen können. So appelliert er bereits eingangs an seine gebildeten Leser, von allem abzusehen, »was sonst Religion genannt wird« und sich allein auf die »Äußerungen und edlen Taten gottbegeisterter Menschen« zu richten, da aus ihnen allein der wahre Kerngehalt der Religion spricht. 9
2.3.1 Die Anschauung des Universums Die Religion ist das Höchste, was die Philosophie aufzuklären hat. Sie hat mit der theoretischen Philosophie (Metaphysik) und der praktischen Philosophie (Moral) gemein, den Bezug zum Universum zu bedenken. Der Bezug der Religion zum Universum erfolgt nicht in der Absicht, daraus Erkenntnisse oder Pflichten abzuleiten, sondern ganz im Gegenteil, die Religion beseelt und erfüllt unser theoretisches und praktisches Verhältnis zum Universum: Religion muss »etwas eigenes sein, was in der Menschen Herz« zu dringen vermag. (Schleiermacher, Religion: 27) »Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will […] mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann […]. Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen […]. Die Moral geht vom Bewußtsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern, und ihr alles unterwürfig machen; die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist«. (Schleiermacher, Religion: 29) Obwohl hier noch nicht ausdrücklich ausgesprochen, sollten wir doch schon an dieser Stelle anmerken, dass für Schleiermacher das ›Göttliche‹ des Jesus von Nazareth gerade darin liegt, dass er in ganz besonderer Weise ein solcher »gottbegeisterter Mensch« war.
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Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
Insofern lebt die Religion »als das notwendige und unentbehrliche Dritte« aus der Anschauung des Universums heraus, das unser innerstes Gefühl und Gemüt erfüllt: »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen.« (Schleiermacher, Religion: 29) Dabei bestimmt Schleiermacher die Anschauung – ähnlich wie Schelling in etwa zur selben Zeit (Philosophische Briefe (1795), I: 318 ff.) – als eine vom Angeschauten ausgehende Bewegung: »Anschauen des Universums […] ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion […]. Alles Anschauen geht aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren […]. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus«. (Schleiermacher, Religion: 31 f.) Dabei erweist sich die Religion in ihrer Anschauung des Universums nicht nur als die sinnstiftende Mitte für Metaphysik und Moral, sondern sie bewahrt den Menschen auch davor, sich in ein unbeschränktes »Gefühl der Gottähnlichkeit« zu hypostasieren, durch das er – wie im Prometheus-Mythos entworfen – in die Gefahr gerät, das Universum und sich in ihm zu vernichten: »Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit.« (Schleiermacher, Religion: 31) Das »Gefühl der Beschränktheit« – oder wie er später sagen wird: der »schlechthinnigen Abhängigkeit« (Schleiermacher, Glaubenslehre: 171 ff.) – nimmt dem Menschen nicht die Würde und die Energie für seine Aufgaben in der Welt, ganz im Gegenteil, sie gibt ihm Orientierung und Kraft sie zu vollbringen. »Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nicht aus Religion.« (Schleiermacher, Religion: 38) Die noch etwas ungenaue Umschreibung »Anschauung des Universums« – wie sie Schleiermacher in den Reden Über die Religion (1799) gebraucht – impliziert zweierlei: Einerseits das andächtige Bestaunen des lebendigen Daseins in der Natur vom bestirnten Himmel bis zu der unendlichen Vielfalt von Fauna und Flora, die unsere Erde bevölkern, und andererseits das ehrfürchtige Erfasstwerden von der Gewissheit, dass wir dies alles und uns selbst einem göttlichen Grund 86 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
verdanken, der dies alles nicht nur erschaffen hat, sondern dies auch ununterbrochen weiter trägt, erhält und leitet. »Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle all ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes […]. Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion. […] Er ist die Geburtsstunde alles Lebendigen in der Religion.« (Schleiermacher, Religion: 42) Doch dieses Gefühl des gemeinsamen Daseins mit aller Kreatur ist wiederum nur die eine Seite der Anschauung des Universums, ihr zur Seite steht das Gefühl der Liebe zu den Menschen, zu den »Völkern und Generationen der Sterblichen«, zu der »unendlichen, ungeteilten« Geschichte der Menschheit. »Umsonst ist alles für denjenigen da, der sich selbst allein stellt; denn um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben, und er findet sie nur in Liebe und durch Liebe. […] Die verschiedenen Momente der Menschheit aneinander zu knüpfen, und aus ihrer Folge den Geist in dem das Ganze geleitet wird erraten, das ist ihr höchstes Geschäft. Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion, mit ihr hebt sie an und endigt mit ihr […] und alle wahre Geschichte hat überall zuerst einen religiösen Zweck gehabt und ist von religiösen Ideen ausgegangen.« (Schleiermacher, Religion: 50 u. 56) Doch so wie die Religion als Anschauung des Universums nicht mit der Erkenntnis der Welt zu verwechseln ist, sondern darüber hinaus das Gefühl des Dankes einschließt, das alle Erfahrung des Daseins begleitet, ebenso bleibt sie auch nicht bei einer sittlich-politischen Bestimmung der menschlichen Geschichte stehen, sondern richtet sich mit ihrer Liebe des Nächsten auf ein Reich Gottes auf Erden, ja schließlich auf ein Einswerden mit Gott. »Die Religion weiß nichts von einer solchen parteiischen Vorliebe [einzelner Nationen], die moralische Welt [bloß irdischer Ziele] ist ihr auch nicht das Universum, und was nur für diese gälte, wäre ihr keine Anschauung des Universums. In allem was zum menschlichen Tun gehört […] im kleinsten wie im größten weiß sie die Handlungen des Weltgeistes zu entdecken und zu verfolgen […]. Den Weltgeist zu lieben, ist das Ziel unserer Religion.« (Schleiermacher, Religion: 60, 45) Mit der Benennung »Gott« geht Schleiermacher in den Reden über Religion sehr sparsam um, denn – so betont er ausdrücklich – »meine Religion strebt nach dem Universum« und das »Universum ist mehr« als Gott (Schleiermacher, Religion: 69, 74), worunter die 87 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
meisten Menschen nur ein Ebenbild ihrer selbst sehen. »Den mehrsten ist offenbar Gott nichts anders als der Genius der Menschheit. Der Mensch ist das Urbild ihres Gottes, die Menschheit ist ihr alles, und nach demjenigen, was sie für ihre Ereignisse und Führungen halten, bestimmen sie die Gesinnungen und das Wesen ihres Gottes.« (Schleiermacher, Religion: 69) 10 Letztlich ist das Wesen der Religion nichts anderes als das demütig-bejahende Sich-selbst-Finden eines jeden einzelnen von uns im natürlichen und geschichtlichen Universum, in das wir geboren wurden und in dem wir uns zu bewähren haben. Dass diese bejahende Anschauung des Universums und die bekennende Haltung zum Universum keineswegs leicht durchzuhalten sind, daran kann kein Zweifel bestehen angesichts der Schicksalsschläge, die nahezu jeden einzelnen »verschwemmt und […] auf tausend Arten verwundet und quält« und noch mehr angesichts der Ungerechtigkeiten, die Menschen von Menschen zufügt werden. Aber sind es nicht die widerständigen Anschauungen und standhaften Haltungen, wider die Leiden und die Unterdrückungen, die wir an allen frommen, ja heiligen Menschen bewundern, die uns darin zum Vorbild werden? Und so beendet Schleiermacher seine zweite Rede »Über das Wesen der Religion« mit dem Appell an die Gebildeten unter ihren Verächtern, danach zu streben, sich als Teil des allumfassenden, allgütigen Universums zu fühlen: »Versucht doch aus Liebe zum Universum Euer [selbstsüchtiges] Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier Eure Individualität zu vernichten, und im Einen und Allen zu leben, strebet darnach mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert […]. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.« (Schleiermacher, Religion: 73 f.)
2.3.2 Über die Religionen Nach zwei vorbereitenden Zwischenkapiteln über »Die Bildung der Religion« und »Über das Gesellige in der Religion« wendet sich Schleiermacher im letzten und erneut zentralen, fünften Kapitel Die hier anklingenden Gedanken weisen auf Schleiermachers Schüler Ludwig Feuerbach voraus, der sie allerdings umkehren wird. Siehe das Kapitel 7 »Feuerbach und Marx: ›Der Mensch, das höchste Wesen für den Menschen‹«.
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Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
»Über die Religionen« einerseits der Vielfalt der Religionen und andererseits der Besonderheit des Christentums zu. Jeder Mensch trägt das Bedürfnis zur Anschauung des Universums in sich (Schleiermacher, Religion: 68), er »bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe«. (Schleiermacher, Religion: 67) Schon allein deshalb ist Religion ohne eine Gemeinschaft »gegenseitiger Mitteilung« und der Tradierung religiöser ausgeprägter Anschauungen und »Ahndungen« nicht denkbar, aber darüber hinaus sind die religiösen Anschauungen des Universums – wie die Wissenschaften und die sittlichen Gesetze auch – ein Bereich, der einer kommunikativen geschichtlichen Ausdifferenzierung unterliegt und auf diese auch ausgerichtet ist, denn Religion als Anschauung des Universums ist »ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes« (Schleiermacher, Religion: 135), das auf einen »Bund von Brüdern [und Schwerstern]« 11 zuschreitet. (Schleiermacher, Religion: 130) Im Gegensatz zu Kants Zurückweisung aller »positiven«, sich auf Offenbarungen berufenden Religionen zugunsten der allein durch die Vernunft erreichbaren »natürlichen Religion«, unterstreicht Schleiermacher, dass es ohne positive, sich auf Gründungsfakten berufende Religionen gar keine lebendige Religion gäbe: »Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen: denn ein Grund muß doch da sein, und es kann nur ein subjektiver sein«. (Schleiermacher, Religion: 154) In allen Religionen müssen wir ihre besondere Form der Anschauung des Universums und ihr Bestreben der Versöhnung mit dem Universum anerkennen. Doch daraus folgt kein gleichgültiger Relativismus, denn wir können keineswegs die unterschiedlichen Differenzierungen ihrer Anschauungen und Hoffnungen übersehen. Insofern stehen sie in einem Wettstreit miteinander, der aber niemals als äußerer Machtkampf ausgetragen werden darf, sondern allein mit religiösen Mitteln überzeugender Lebensführung in Wort und Tat – daraus geht ihr weltgeschichtlicher Reifungsprozess hervor. 12 Dieser Zusatz ist ganz im Sinne von Friedrich Schleiermacher. Siehe hierzu seine Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels ›Lucinde‹ (1800), in: Friedrich Schlegel, Lucinde (1799/1980). Dazu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Reflexionen zu Wilhelm von Humboldts Phänomenologie der Geschlechter, in: Erhard, Wicke / Wolfgang Neuser / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Menschheit und Individualität. Zur Bildungstheorie und Philosophie Wilhelm von Humboldts (1997): 181 ff. 12 Hierin weiß sich Schleiermacher durchaus in einer Tradition stehend mit Gotthold 11
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Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
Schleiermacher bekennt sich in den Reden Über die Religion dazu, dass für ihn das Christentum, mit seiner Berufung auf Jesus von Nazareth als »positiver Religionsstifter« und »erhabener Mittler zwischen Gottheit und Menschheit« (Schleiermacher, Religion: 163) die bisher differenzierteste Vermittlergestalt der Religion darstellt. Dieser Vorzug unter den Religionen wurzelt in der »Grundidee«, »daß Alles Endliche höherer Vermittlung bedarf um mit der Gottheit« versöhnt zu werden. (Schleiermacher, Religion: 167) »Wenn alles Endliche der Vermittlung eines Höheren bedarf […], um seine Verbindung mit dem Universum zu unterhalten und zum Bewußtsein derselben zu kommen: so kann ja das Vermittelnde, das doch selbst nicht wiederum die Vermittlung benötigt sein darf, unmöglich bloß endlich sein; es muß Beiden angehören, es muß der göttlichen Natur teilhaftig sein, ebenso und in eben dem Sinne, in welchem es der Endlichen teilhaftig ist. […] Dieses Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprünglichkeit seiner Ansicht, und von der Kraft derselben sich mitzuteilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit. […] Er allein von nichts als diesem Gefühl unterstützt, und Er ohne zu warten jenes Ja aussprach, das größte Wort was je ein Sterblicher gesagt hat: so war dies die herrlichste Apotheose, und keine Gottheit kann gewisser sein als die, welche so sich selbst setzt.« (Schleiermacher, Religion: 168) Es gab göttliche Menschen vor Jesus, und es wird göttliche Menschen noch nach ihm geben, aber das schmälert nicht Jesu Botschaft und Leuchtkraft für uns, die wir schwach und sündig sind gegenüber seiner herrlichen Gottgewissheit, denn die »Grundanschauung jeder positiven Religion ist ewig«, so müssen wir zwar für »Zeiten des Verderbens«, die »allem Irdischen« bevorstehen, noch »neue Gottesgesendete« erhoffen, aber die Religion, die sie bringen werden, wird eine »Palingenesie des Christentums« sein. Doch am Ende, dem Ende aller Geschichte, »wird eine Zeit kommen, […] wo von keinem Mittler mehr die Rede sein wird, sondern der Vater Alles in Allem«. Dann wird es nur noch »die Eine und unteilbare Gemeinschaft der Heiligen, die alle Religionen aufnimmt«, geben. (Schleiermacher, Religion: 171 ff.)
Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/1977): 7 ff. und natürlich auch mit dessen Nathan der Weise (1778).
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Nachbemerkungen
2.4 Nachbemerkungen Obwohl Schleiermachers ›transzendental-pragmatische‹ Dialektik aufgrund der unterschiedlichen methodologischen Ausgangspunkte nur bedingt auf Kants transzendental-logische Vernunftkritik beziehbar ist, kann doch festgehalten werden, dass Schleiermacher überzeugend zeigen kann, dass das Postulat des »Daseins Gottes« zweifellos nicht nur im Rahmen der praktischen Vernunft gilt, sondern ebenso sehr der theoretischen Vernunft zu Grunde liegt, sofern darunter nicht nur die empirisch-wissenschaftliche Verstandeserkenntnis verstanden wird, wie sie in der ersten Kritik von Kant behandelt wird. Denn ohne Zweifel begreift die menschliche Vernunft theoretisch selbstkritisch, dass sie sich in einer Wirklichkeit vorfindet, die sie nicht selbst hervorgebracht hat, und dass ihr praktisch, d. h. den sittlich handelnden Menschen, die Aufgabe zufällt, sozial-gerecht und ökologisch-verantwortlich die zukünftige Wirklichkeit zu gestalten. Dies setzt aber – wie Kant für die praktische Vernunft richtig gezeigt hat – die ermöglichende Einheit von »Natur und Vernunft«, von Existenz und Sinn, voraus, die Kant das »Postulat des Dasein Gottes« und Schleiermacher – etwas existentieller getönt – das positive Einbezogensein in die »Anschauung des Universums« nennt. Es ist dies eine bejahende und mitverantwortliche Grundhaltung der Wirklichkeit gegenüber, der wir angehören. Auch in einer weiteren Beziehung müssen wir Schleiermacher zustimmen, dass es auf der Grundlage einer solchen Bejahung der Wirklichkeit keinen Atheismus geben kann, sondern allenfalls nur Abweisungen bestimmter dogmatisierter Gottesbilder, gegen die sich Schleiermacher als auch Kant entschieden zur Wehr setzen. Der einzig denkbare Atheismus wäre nur auf der Grundlage einer extrem ablehnenden Grundhaltung der Wirklichkeit gegenüber denkbar. Es ist dies selbst eine religiöse Gegenposition, die schlechterdings die bestehende Wirklichkeit als absolut negativ auffasst, ein Abgrund der Schlechtigkeit, die zu keinerlei Verbesserung fähig ist, so dass es daraus nur ein Entfliehen geben kann, ein sich Lösen von der irdischen Welt und ein angestrebtes Aufgehen ins Nirvana, ein sich Auflösen im Nichts. Eine solche auf die Überwindung des Seins gerichtete religiöse Gegenhaltung, wie wir sie von dem aus Indien stammenden ursprünglichen Buddhismus kennen, der sich dann in Südund Ostasien in mannigfaltigen, auch lebensbejahenden Variationen weiterentwickelt hat, ist in Europa erstmals durch Arthur Schopen91 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter
hauer bekannt und populär gemacht worden. Zu Kants und Schleiermachers Zeiten spielt sie noch keinerlei Rolle. Zwar wird der Begriff »Gott« bei Kant und Schleiermacher unterschiedlich betont: Während er für Kant als absolut fundierende Einheit von Dasein und Erfüllung, von Existenz und Sinn, zentral ist, bevorzugt der junge Schleiermacher hierfür lieber den Begriff des Universums, das uns positiv umschließt und dem wir positiv verpflichtet sind. Schleiermacher zieht diese bildlose Umschreibung vor, da sich sowohl die Konfessionen als auch ihre Verächter unter Gott allzu oft anthropologisierte Gestalten vorstellen, wie sie dem Aberglauben und der Magie in aller Welt angehören, um sich Gott ihren Wünschen und Interessen gemäß überredbar zu halten und für sich einsetzbar zu machen. Aber in einem Punkt sind sich Kant und Schleiermacher einig, die triviale Vorstellung von einer Dreieinigkeit Gottes, wie sie in den meisten christlichen Konfessionen dogmatisiert wird, bedarf einer gründlichen Entmythologisierung, denn so göttlich Jesus von Nazareth in seiner Lehre und seinem Leben auch war und dafür bis zum Tode am Kreuz einstand, er war und blieb Mensch, alles andere darüber hinaus ist nicht nur philosophisch nicht begründbar, sondern steht auch einem gelebten Christsein entgegen. Auch hier gehen beide Denker von unterschiedlichen Seiten her an die christliche Lehre der Sohnschaft des Jesus von Nazareth heran. Während Kant betont, dass die Rede von der Sohnschaft sich auf das Ideal des Menschen als Ebenbild Gottes bezieht, das Jesus – nach allem, was wir historisch von ihm wissen – vorbildlich erfüllt hat, so dass er ein Vorbild des Nachstrebens zu sein vermag, unterstreicht Schleiermacher dieselbe Grundaussage nur von der anderen Seite her: In Jesus hat sich das Wort Gottes, wie es an alle Menschen gerichtet ist, in bisher unübertroffener Weise inkarniert, darin ist Jesus für alle, die ihm folgen, göttliches Vorbild. Der Unterschied zwischen beiden liegt nur darin, dass Schleiermacher als Theologe sich zu Christus als Mittler bekennt, während Kant als Philosoph nur ein Verständnis für diejenigen äußert, die glauben, sich nur über einen solchen Mittler auf den Weg zur gottgewollten Sittlichkeit begeben zu können.
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Absolute Religion oder unterwegs zu einer philosophischen Religion
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3. Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus 1
3.1 Vorbemerkungen Die nächsten vier Kapitel zu den drei großen Denkern des sog. Deutschen Idealismus – Fichte, Schelling, Hegel – gehören zusammen, da die Entwicklung ihrer Positionen ein durch ein halbes Jahrhundert fortschreitender geistiger Prozess des miteinander Philosophierens und gegeneinander Streitens war, oder genau gesagt, sich in zwei aufeinander folgenden Bewegungen des Zusammenwirkens und der anschließenden Entzweiung von Fichte und Schelling (1794–1814) sowie von Schelling und Hegel (1801–1832) vollzog. Da Fichte bereits 1814 und Hegel 1832 starben, ist Schelling der einzige, der diesem Prozess von 1794 bis zu seinem Tod 1854 – natürlich als Partei – in allen ihren Facetten durchlebt hat. Alle drei Denker betreten die Bühne der Philosophie mit dem Anspruch, das großartige dialektische Projekt einer Kritik der Vernunft durch die Vernunft, das Kant begonnen hat, aber nicht ganz zu bewältigen vermochte, in einem einzigen systematischen Begründungszusammenhang zu bringen und zu vollenden. Gleichzeitig sind alle drei Denker davon überzeugt, mit ihren letztbegründeten Systemen alle philosophischen Themenbereiche erschöpfend behandeln und so auch die Religionen und ganz speziell das Christentum als höchste Form des Glaubens in ihrem inhaltlichen Wesenskern erfassen und begründen zu können. Ohne Zweifel ist Fichtes Versuch Über den Begriff der Wissenschaftslehre (1794) der impulsgebende Startschuss. Ihm schließt sich Neu verfasstes Kapitel mit Rückgriffen auf die Vorträge: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Existenz denken. Schellings Sonderstellung im Deutschen Idealismus«, Gastvortrag am Institut für Philosophie der Universität Warschau am 31. Mai 2019 (unveröffentlicht) sowie Ders. »Monade und System bei Schelling und Hönigswald« vorgetragen auf der Tagung zur Verabschiedung von Hans Dieter Klein an der Universität Wien vom 8.–9. April 2010, erschienen in: Rudolf Langthaler / Michael Hofer (Hg.), Monade und System – Wiener Jahrbuch für Philosophie XLII (2010): 91–103.
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
der noch studierende Schelling im selben Jahr an, beide bringen sie in den nächsten Jahren in rascher Folge grundlegende Studien zur Wissenschaftslehre bzw. zum Transzendentalen Idealismus heraus. Und doch ist uns heute klar – da wir all ihre Schriften und Manuskripte überblicken –, dass Fichte und Schelling mit dem Einsatz ihres Philosophierens bei der intellektuellen Anschauung des »Ich bin Ich« von Anfang an Unterschiedliches verfolgen. Als Fichte und Schelling selbst ihre Differenzen im Briefwechsel nach Fichtes Weggang aus Jena 1799 bemerken, schlägt ihre vermeintliche philosophische Gemeinsamkeit in eine verbitterte Gegnerschaft um, die bis zu gegenseitigen religiösen Diffamierungen ausartete, die den Gegner auch öffentlich diskreditieren sollte. Beide Denker vollziehen im Laufe ihres Streites gravierende Wendungen teils begrifflicher, teils substantieller Art. Schelling jedenfalls wendet sich ab 1801 ausschließlich der Durchführung eines umfassenden vernunftwissenschaftlichen Systems der Philosophie zu. Hegel, Schellings Jugendfreund aus gemeinsamen Tübinger Studienjahren, kommt 1801 nach Jena und wirft sich gleich in seiner ersten philosophischen Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801) ganz auf die Seite Schellings. Und in den kommenden gemeinsamen Jahren in Jena geben Schelling und Hegel zusammen das Kritische Journal der Philosophie (1802/03) heraus, in der sie nicht einmal ihre Beiträge namentlich kennzeichnen, so sehr sind sie von der Gemeinsamkeit ihres Anliegens überzeugt. Doch nun wiederholt sich etwas ganz Ähnliches: Während Schelling auch nach seiner Berufung nach Würzburg 1803 die Linie seines seit 1801 begonnenen materialen vernunftwissenschaftlichen Systems der Philosophie bis 1806 weiterverfolgt, können wir, die wir Hegels unveröffentlichte Jenaer System-Entwürfe vorliegen haben, nachvollziehen, wie sich Hegel Schritt für Schritt von der gemeinsamen Linie entfernt. Als Hegel diese Differenz in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) öffentlich macht, fällt Schelling nicht nur aus allen Wolken, sondern er muss schmerzhaft erkennen, dass Hegel mit seinem System der Philosophie viel mehr eine Weiterentwicklung der Position von Fichte verfolgt, die seinen ganzen Bemühungen gänzlich entgegenstrebt. Dies ruft nicht nur eine unversöhnliche Gegnerschaft in ihren philosophischen Positionen hervor, sondern bringt Schelling auch dazu, nach neuen Wegen zu suchen, seine Position entschiedener gegen Hegels Angriffe behaupten zu können. Dies führt dann 96 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Von der Kritik der Vernunft zur intellektuellen Anschauung
schrittweise zu Schellings Spätwerk, das er allerdings nur in Vorlesungen in Erlangen (ab 1821), München (ab 1827) und Berlin (ab 1841) vorträgt, die aber erst nach seinem Tod 1854 von seinem Sohn herausgegeben worden sind. 2 In den folgenden vier Kapiteln wird zunächst der gemeinsame, aber bereits deutlich unterschiedliche Ausgangspunkt von Fichte und Schelling behandelt, um sodann im zweiten Kapitel den religionsphilosophischen Konflikt zwischen Schelling und Fichte darzulegen. Es folgen sodann zwei Kapitel, die die Religionsphilosophie von Hegel und von Schelling in ihrem Anliegen herauszustellen versuchen.
3.2 Von der Kritik der Vernunft zur intellektuellen Anschauung Kant hat mit dem Gesamtprojekt einer Kritik der reinen Vernunft ein Problem aufgeworfen, das die philosophische Diskussion seither beschäftig, zumal er dem selbst gesteckten dialektischen Programm einer Kritik der Vernunft durch die Vernunft, trotz aller genialen Impulse nicht gänzlich gerecht wird, da es ihm nicht gelingt, das philosophierende Subjekt der Kritik mit dem untersuchten erkennenden Subjekt, dem lebendigen Subjekt und dem sittlichen Subjekt, die wir alle je selber sind, in ihrer inneren Verknüpfung zu vermitteln. An diesem Problem entzündet sich die nach-kantische Philosophie seit Ende des 18. Jahrhunderts. Entschieden behauptet Kant, dass »[u]nsere Erkenntniß […] aus zwei Grundquellen« gespeist wird (Kant, KrV, II: B 74), die nur gemeinsam Aussagen über das Seiende zulassen: die anschauende Sinnlichkeit und der begreifende Verstand. Ihre Vermittlung vollbringt die »ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption«. »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«. (Kant, KrV, II: B 131) Wobei Kant – und hier rächt sich seine Gleichsetzung von Erfahrung und Erkenntnis – daran festhält, dass auch unser existentieller Selbstbezug nur über die empirischen Eindrücke von uns herrühren könne. Die sinnlichen Eindrücke von uns selbst affizieren unser Bewusstsein von außen, nur die Anschauungsformen Raum und Zeit und die Verstandeskategorien liegen in unserem Bewusstsein Viele Manuskripte und Vorlesungsmitschriften wurden erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckt und erstmals herausgegeben.
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
selbst begründet, so dass sich die ursprünglich synthetische Einheit allein auf deren Verknüpfung bezieht. Diese »ist ein Actus der Spontaneität, d. i. sie kann nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden«. (Kant, KrV, II: B 132) Daher lehnt Kant auch entschieden eine »intellektuelle Anschauung« ab, die Denken und Sein direkt verknüpft, da eine solche allein der göttlichen Vernunft zukommen kann. Doch umso schwerer fällt es Kant, die Synthesis von Sinnlichkeit und Vernunft, die wir immer schon vollziehend in unserem Selbstbewusstsein vollbringen, zu bestimmen. Und doch kommt dem »ich denke« die eigentümliche Bewusstheit zu, dass ich es bin, der da denkt und der da anschaut und der daher beides im »Schematismus reiner Verstandesbegriffe« immer schon aufeinander zu beziehen vermag. In einer Anmerkung zu den »Paralogismen der reinen Vernunft« kommen die Paradoxien, in die sich Kant hierbei verstrickt, treffend zum Ausdruck: »Das: Ich denke, ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz und hält den Satz, Ich existiere, in sich. […] Er drückt eine unbestimmte empirische Anschauung, d. i. Wahrnehmung, aus, (mithin beweiset er doch, daß schon Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehört, diesem Existenzialsatz zum Grunde liege) geht aber vor der Erfahrung vorher […]. Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: Ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das Ich in diesem Satze sei empirische Vorstellung; vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken überhaupt gehört. Allein ohne irgend eine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Actus, Ich denke, doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens.« (Kant, KrV, II: B 422 f.) Hier schimmert doch so etwas wie eine intellektuelle Anschauung durch, die als die eigentliche »ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption« nicht nur als Bedingung der Möglichkeit all unserer empirischen Verstandeserkenntnisse, sondern auch unserer intelligiblen Selbstbestimmung und unserer leiblich-geschichtlichen Selbstverortung in Natur und Geschichte zu Grunde liegen muss. Ja, ohne die das dialektische Unternehmen einer Kritik der Vernunft durch die Vernunft nicht denkbar wäre. Dieses mehr praktizierte als durchdachte Eingeständnis Kants, dass die intellektuelle Anschauung des »Ich bin Ich« als Akt der Spontaneität allem Anschauen und allem Begreifen vorausgehen muss, wird nun ab 1794 für Fichte und für den 98 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Von der Kritik der Vernunft zur intellektuellen Anschauung
von ihm inspirierten blutjungen Schelling zum Ausgangspunkt ihrer – Kant allererst zu Ende denkenden – Transzendentalphilosophie erhoben, deren Vollzugsbasis und Explikationsziel in der intellektuellen Anschauung des »Ich bin Ich« gründet. 3 Die transzendentale Rückfrage nach dem obersten Prinzip all unseres Bewusstseins und Wissens, all unseres Anschauens und Begreifens gründet selber in der intellektuellen Anschauung des »Ich bin Ich«: Von diesem obersten Grundsatz sagt Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95): »Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins.« »So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich«. »Ich bin nur für Mich; aber für Mich bin Ich notwendig (indem ich sage für Mich, setze ich schon mein Sein). Sich selbst setzen, und Sein sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich.« »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eignes Sein.« (Fichte, Gesamte Wissenschaftslehre, I: 290 ff.) Und fast wie ein Echo klingt es einige Monate später, wenn Schelling in der Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795), erläutert, weshalb das einzig denkbare Unbedingte in unserem Wissen nur das »absolute Ich« sein kann. »Ich bin, weil Ich bin. Ich bin! Mein Ich enthält ein Seyn, das allem Denken und Vorstellen vorhergeht. Es ist, indem es gedacht wird, und es wird gedacht, weil es ist; deßwegen, weil es nur insofern ist, nur insofern gedacht wird, als es sich selbst denkt. Es ist also, weil es nur selbst sich denkt, und es denkt sich nur selbst, weil es ist. Es bringt sich durch sein Denken selbst – aus absoluter Causalität – hervor.« (Schelling, Vom Ich, I: 167) »[D]as Ich allein ist nichts, ist selbst nicht denkbar, ohne daß zugleich sein Seyn gesetzt werde, denn es ist gar nicht denkbar, als insofern es sich selbst denkt, d. h. insofern es ist. […] Das Ich ist also nur durch sich selbst als unbedingt gegeben.« (Schelling, Vom Ich, I: 168) Ohne Zweifel stimmen Fichte und Schelling hier in gleicher Weise darin überein, dass die letzte transzendentale Klärung all unseres Bewusstseins und all unseres Wissens sowie schließlich die Vernunftkritik selbst in der intellektuellen Anschauung des »Ich bin Ich« gründen muss, insofern hier die unverbrüchliche Einheit aller AnVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk, (2015): 35 ff.
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
schauung und alles Begreifens vorliegt. Und doch werden schon in dieser frühesten Phase ihrer Gemeinsamkeit die Akzente von Fichte und Schelling unterschiedlich gesetzt. Bis zum Erscheinen des Systems des transzendentalen Idealismus (1800) sind Fichte und Schelling selbst überzeugt, dass sie an ein und demselben transzendentalphilosophischen Projekt in Fortführung Kants arbeiten, obwohl sie beide mit dem »Ich bin Ich« als Prinzip allen Philosophierens – ihnen aber nicht bewusst – unterschiedliche Ziele verfolgen. Erst in ihrem Briefwechsel ab 1800 wird ihnen langsam deutlich, dass sie immer schon an unterschiedlichen transzendentalen Systemen arbeiteten. Während Fichte bei dieser Identität der Selbst- und Seins-Gewissheit den Akzent auf die Selbstgewissheit (das Ich = Ich) legt, die die Daseinsgewissheit (das Bin) umgreift, so geht Schelling von der Grundfrage nach der »Realität des menschlichen Wissens« (Schelling, Erläuterung des Idealismus, I: 375) aus, die ermöglicht, dass wir uns als daseiend in der daseienden Welt vorfinden. Der Unterschied lässt sich wohl am besten an der Problematik der »Realität« festmachen. Für Fichte ist – seit seinen ersten Arbeiten zur Wissenschaftslehre von 1794 – alles »theoretische Wissen« von der Natur – und er meint darunter ganz im Sinne von Kant das naturwissenschaftliche Wissen – gänzlich aus dem menschlichen Verstand konstituiertes Wissen – also vom Ich dem Ich bloß Entgegengesetzes, somit reine Negation. Da Fichte aber obendrein noch den Kantischen Gedanken des »Dings an sich«, einer Wirklichkeit an sich, grundsätzlich verwirft, insofern wir von keiner Natur wissen können, die hinter unserem Wissen von der Natur liegt, ist das Wissen von der Natur rein entgegengesetztes Nicht-Ich und daher nichts aus sich selbst Reales. »Alles Nicht-Ich ist Negation; und es hat mithin gar keine Realität in sich.« (Fichte, Gesamte Wissenschaftslehre, I: 327) Noch entschiedener formuliert Fichte dies in seiner späteren Polemik Über das Wesen des Gelehrten (1806) gegen Schellings Naturphilosophie: Die »sogenannte Natur […] ist nicht lebendig, […] sondern tot«. (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 363) Erst dort wo Fichte über die »Grundlage der Wissenschaft des Praktischen« handelt, wo also dem Willen des Menschen etwas entgegentritt, kommt der ›Natur‹ eine zu überwindende Realität zu. D. h. als »gefühlte« Schranke des sittlichen Strebens erfährt das endliche Ich die ihm entgegenstehende Natur als real, aber diese reale Natur – etwa unsere Triebe und Gelüste – können wir durch unseren sittlich100 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Von der Kritik der Vernunft zur intellektuellen Anschauung
freien Willen beherrschen: »Hier liegt der Grund aller Realität der Natur. Lediglich durch die Beziehung des Gefühls auf das Ich […] wird Realität für das Ich möglich, sowohl die des Ich, als die des Nicht-Ich. […] An Realität überhaupt, sowohl die des Ich, als des Nicht-Ich findet lediglich ein Glaube statt.« (Fichte, Gesamte Wissenschaftslehre, I: 493 f.) 4 Und in der Bestimmung des Menschen (1800) unterstreicht Fichte noch deutlicher, dass wir erst über die praktische Philosophie zu einer Realitätserfahrung der Welt gelangen, die kein Wissen, sondern Glaube ist: »Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen […]. Alle meine Ueberzeugung ist nur Glaube, und sie kommt aus der Gesinnung, nicht aus dem Verstande. […] Nicht anders verhält es sich mit allen Menschen, welche je das Licht der Welt erblickt haben. Auch ohne sich dessen bewußt zu sein, fassen sie alle Realität, welche für sie da ist, lediglich durch den Glauben; und dieser Glaube dringt sich ihnen auf mit ihrem Dasein zugleich, ihnen insgesamt angeboren.« (Fichte, Bestimmung des Menschen, III: 349 ff.) Schelling dagegen fragt in seiner Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie von vornherein entschiedener nach der erfahrenen Realität im Wissen: »Wer etwas wissen will, will zugleich, daß sein Wissen Realität habe. Ein Wissen ohne Realität ist kein Wissen. […] Es muß einen letzten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt […].« Dieses Prinzip »müßte das Vollendende im ganzen System des menschlichen Wissens seyn, es müßte […] – als Urgrund aller Realität herrschen.« (Schelling, Vom Ich, I: 162) Dieses oberste Prinzip alles Wissens vom Seienden liegt wie Fichte und Schelling gemeinsam betonen im »Ich bin Ich«. Die Differenz zu Fichte tritt erst dort offen hervor, wo Schelling entschieden drauf besteht, dass alle »Epochen« unseres Bewusstseins vom ersten Augenblick an wechselweise aus Realität und Negation bestimmt sind, d. h. schon die ursprünglichste Naturerfahrung ist für das endliche Ich kein bloßes Nicht-Ich,
Noch entschiedener als Kant geht es Fichte darum, die Freiheit des Menschen zu retten. Würden die empirisch-wissenschaftlichen Kausalzusammenhänge ontologisch die reale Wirklichkeit abbilden, dann gäbe es keine Freiheit, denn wir wären in unserer Wirklichkeit determiniert. Durchschauen wir aber, dass die sog. »Naturgesetze« konstituierte Gesetze unserer Verstandeserkenntnis sind, so können sie auch nicht uns in unserer wirklichen Welt des Handelns festlegen, denn nur als praktisch Handelnde erfahren wir praktisch eine uns entgegenstehende reale Welt.
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
sondern eine wechselseitige Bestimmtheit von Realität und Negation. Also ist das, was wir als Natur erfahren, ebenso daseiende Realität wie das daseiende Ich. Ganz entschieden spricht dies Schelling in seiner Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur (1796–98) aus: »Die theoretische Philosophie, sagt man, soll die Realität des menschlichen Wissens erweisen. […] Alles Denken und Schließen aber setzt bereits eine Wirklichkeit voraus, die wir nicht erdacht noch erschlossen haben. […] Man kann uns diese Wirklichkeit nicht entreißen, ohne uns uns selbst zu entreißen.« (Schelling, Erläuterung des Idealismus, I: 375 f.) 5 Der eigentliche Differenzpunkt zu Fichte besteht also darin, dass Schelling die ›Kritik der theoretischen Vernunft‹ von vornherein nicht auf die Fundierung und Begrenzung wissenschaftlicher Naturerkenntnis fokussiert, sondern tiefer bei der Naturerfahrung ansetzt. 6 Die Frage, wie die Physik die bereits erfahrene Natur erkennend vermisst, ist eine sekundäre, die primäre transzendentale Frage der theoretischen Vernunftkritik muss sich darauf richten, wie unser daseiendes Bewusstsein sich in der daseienden Welt erfährt. In diese grundlegende Naturerfahrung sind die Anschauungsformen von Zeit und Raum genauso transzendental eingezeichnet, wie die substantialen Formen der Dinge, die Prozesse des sich reproduzierenden Organismus einerseits und die des Ich, der Denkbewegung und des sich organisierenden Intellekts andererseits. Dies alles geht »vorbewusst« in die Konstitution unserer Naturerfahrung ein. Erst dort, wo das Bewusstsein als frei mit seinen Erkenntnisformen umzugehen vermag und in einen kommunikativen Prozess bewusster Naturaneignung eintritt, können die Menschen beginnen, Formen wissenschaftlicher Naturerkenntnisse zu entwickeln, die aber keineswegs mit den vorbewussten Naturerfahrungen von uns selbst in der Welt identisch sind.
Die Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur hat Schelling stark gekürzt 1809 unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre neu herausgebracht. 6 Erst Schelling nimmt im System des transzendentalen Idealismus den Satz von Kant beim Wort: »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«. (Kant, KrV, II: B 197) 5
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System des transzendentalen Idealismus
3.3 System des transzendentalen Idealismus Seit 1798 hält Schelling als 23jähriger Professor an der Universität Jena parallel Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie und zur Naturphilosophie. Verfolgen wir hier zunächst seine Weiterentwicklung des Kantischen Projekts der Kritik der reinen Vernunft, wie er sie in seinem Buch System des transzendentalen Idealismus (1800) darlegt. Dabei setzt Schelling die »ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption«, die bei Kant nur die empirisch-wissenschaftlichen Verstandeserkenntnisse fundiert, grundlegender als die intellektuelle Anschauung an. Es kann keine Erfahrung geben, die nicht in dieser Daseins- und Selbstgewissheit verankert ist. Die intellektuelle Anschauung des »Ich bin Ich« ist nicht nur letztes Prinzip alles Bewusstseins, sondern aus ihren sich wechselseitig bedingenden und bestimmenden Tätigkeiten von Anschauung und Reflexion und deren Synthesis lassen sich alle Konstitutionsformen der Naturerfahrung, der sittlichen Selbstbestimmung und des ästhetischen Erlebens entwickeln, so dass dadurch der Prozess ihrer Selbstbewusstwerdung durch alle Horizonte von Welt- und Selbstkonstitution hindurch dargelegt werden. Aus dem Widerstreit von Anschauung und Reflexion sowie ihrer gegenseitigen Vermittlung lassen sich sämtliche Inhalte der Selbst- und Welterfahrung in der Stufenfolge ihrer gegenseitigen Ermöglichung, Durchdringung und Begrenzung transzendentalphilosophisch rekonstruieren. Die Transzendentalphilosophie, die diese Stufenfolge insgesamt durchläuft, erweist sich somit als die tätige Selbstanschauung des Geistes im Prozess seines transzendentalen Bewusstwerdens durch all seine Formen hindurch, in ihr schaut sich der Geist als daseiender und sich-wissender sowie als Welt-habender an. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, I: 382) Im ersten, theoretischen Teil des Systems des transzendentalen Idealismus entwickelt Schelling die bewusstlose Vorgeschichte des Bewusstseins. Wo wir die Ganzheit des Geistes Stufe für Stufe transzendentalphilosophisch rekonstruieren, betreiben wir, zunächst auf die Naturerfahrung bezogen, Aufklärung unseres vorbewussten Bewusstseins. Das will sagen: Die Stufen des Empfindens, des Anschauens, des organischen Erlebens – wie sie Schelling transzendentalphilosophisch als Inhalte des Bewusstseins entwickelt – sind alle schon in unsere Erfahrung der Natur eingegangen, wenn wir zu unserem individuellen Selbstbewusstsein gelangen und uns als daseiend in der daseienden Welt erfahren. 103 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
Im Gegensatz zu Kant und Fichte beginnt Schelling – so könnten wir modern gesprochen sagen – mit der transzendentalen Konstitution der ›lebensweltlichen‹ Naturerfahrung, die vorbewusst all unserer bewussten Selbst- und Welterkenntnis vorausliegt, wie Schelling rückblickend in seiner Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie (1833) schreibt: »Hier ergab sich nun aber sogleich, daß freilich die Außenwelt für mich nur da ist, inwiefern ich zugleich selbst da und mir bewußt bin (dieß versteht sich von selbst), aber daß auch umgekehrt, sowie ich für mich selbst da, ich mir bewußt bin, daß, mit dem ausgesprochenen Ich bin, ich auch die Welt als bereits – da – seyend finde, also daß auf keinen Fall das schon bewußte Ich die Welt produciren kann.« (Schelling, Geschichte neuerer Philosophie, X: 93) So beginnt Schelling nach der prinzipiellen Grundlegung des »Ich bin Ich«-Bezuges mit der alles fundierenden »ursprünglichen Empfindung«. Dabei dringt nichts Äußeres mechanisch ins Bewusstsein ein, sondern alles geht, wenn wir die transzendentale Konstitutionsgeschichte des Bewusstseins aus sich selbst aufdecken, aus den eigenen entgegengesetzten Tätigkeiten – Anschauung 7 und Reflexion – hervor. In der Empfindung trennt sich für das Bewusstsein erstmals vorbewusst: ein Sich-Empfinden von einem außer ihm Empfundenen. Hier in der Empfindung tritt – wenn auch nicht bewusst, sondern eben empfunden – erstmals das »Ich bin« als Empfindendes in Abgrenzung vom Da-ist-etwas-außer-mir als Empfundenes in Erscheinung. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 399 ff.) Aber erst in der »produktiven Anschauung« kommt das vorbewusste Bewusstsein vermittelt über den inneren und äußeren Sinn, vermittelt über Zeit und Raum zur Anschauung des daseienden Gegenübers von äußerer Welt und innerem Bewusstsein – zwar immer noch nicht als selbstbewusstes Ich, aber doch als ein auf sich selbst bezogenes Bewusstsein. So erschließt sich uns auf dieser zweiten Stufe über die Zeitlichkeit unserer inneren Anschauung die Kontinuität unseres Bewusstseins und über die Räumlichkeit der äußeren Anschauung die Verknüpfungen alles Seienden. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 426 ff.) Doch es gilt noch eine dritte Stufe zu benennen, die die eigentliche Vermittlung unserer endlichen Welt- und Selbsterfahrung geAnschauung, das sei hier nochmals betont, meint bei Schelling – wie ebenfalls bei Schleiermacher – eine Bewegung, die vom Existierenden ausgeht, auch wenn sie eine Bewegung des existierenden Bewusstseins ist.
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System des transzendentalen Idealismus
währleistet, und diese liegt im organischen Leben, dem wir erlebend mitangehören. »So besteht also die von uns sogenannte dritte Beschränktheit darin, daß die Intelligenz sich selbst erscheinen muß als organisches Individuum. […] Der Grundcharakter der Organisation ist also, daß sie mit sich selbst in Wechselwirkung, Produzierendes und Produkt zugleich sei […], aus welchem alle weiteren Bestimmungen der Organisation a priori abgeleitet werden können.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 495) Jedes menschliche Bewusstsein erfährt die daseiende Natur, in die es selber daseiend mit einbezogen ist, lebensweltlich in gleicher Weise – dies ist die positive prästabilierte Harmonie der Bewusstseine. Die Geschichte des vorbewussten Zu-sich-selber-Kommens des Bewusstseins endet dort, wo das Ich ins Selbstbewusstsein seiner selbst heraustritt, aber es findet sich dabei nicht nur in einer wirklichen Welt vor, sondern auch anderen selbstbewussten Subjekten gegenüber. Erst auf dieser Grundlage kann sich nun die sprachliche, kulturelle und wissenschaftliche Vergegenständlichung der Naturerkenntnisse herausbilden, auf die sich Kants Verstandeskritik und Fichtes Wissenschaftslehre überhaupt erst beziehen. Und diese ist wiederum Voraussetzung für die bewusste Verfügung der Menschen über die so vergegenständlichte Natur, für die bewusste Einwirkung der Menschen in die Natur. So kommt Schelling auch erst beim Übergang zur »praktischen Philosophie« auf die »prästabilierte Harmonie« der Kommunikation der Individuen zu sprechen, auf deren Grundlage allererst gemeinschaftlich und sprachlich eine wissenschaftliche Natur- und Welterkenntnis aufgebaut werden kann. »Vorerst also wird zwischen Intelligenzen, die auf einander durch Freiheit einwirken sollen, eine prästabilirte Harmonie seyn müßen in Ansehung der gemeinschaftlichen Welt, die sie vorstellen. […] Diese gemeinschaftliche Anschauung ist die Grundlage, und gleichsam der Boden, auf welchem alle Wechselwirkung zwischen Intelligenzen geschieht«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 543) Also erst auf der Grundlage lebensweltlicher Naturerfahrung erhebt sich dann die wissenschaftliche Konstitution der Naturerkenntnis, die sich zwar auf die vorausliegende lebensweltliche Naturerfahrung bezieht, aber diese doch kulturell und methodologisch einer unterschiedlichen kommunikativen Konstitution unterwirft und in ihren verschieden ansetzenden, jedoch methodologisch bestimmten Weisen der Weltkonstitution ins Unendliche fortschreiten: 105 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
»Die Intelligenz wird jetzt nicht aufhören zu produciren, aber sie producirt mit Bewußtseyn, es beginnt hier also eine ganz neue Welt, welche von diesem Punkt aus ins Unendliche gehen wird. Die erste Welt, wenn es erlaubt ist so sich auszudrücken, d. h. die durch das bewußtlose Produciren entstandene, fällt jetzt mit ihrem Ursprung hinter das Bewußtseyn gleichsam. Die Intelligenz wird also auch nie unmittelbar einsehen können, daß sie jene Welt gerade ebenso aus sich producirt, wie diese zweite, deren Hervorbringung mit dem Bewußtseyn beginnt.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 537) Diese Wechselwirkung unseres sprachlichen Welthabens differenziert sich je nach den unterschiedlichen Kultur- und Wissenschaftsgemeinschaften. Durch deren gemeinsame Weltkonstitution wird ihnen erst eine allgemein benennbare, objektive Welt hervorgebracht. Gleichwohl setzt diese Weltkonstitution die vorbewusste Naturerfahrung voraus, denn beispielsweise Zeit und Raum oder organisches Leben werden nicht erst kommunikativ konstituiert. »Nur dadurch, daß Intelligenzen außer mir sind, wird mir die Welt überhaupt objektiv. […] Für das Individuum sind die andern Intelligenzen gleichsam die ewigen Träger des Universums, und so viel Intelligenzen, so viel unzerstörbare Spiegel der objektiven Welt. Die Welt ist unabhängig von mir, obgleich nur durch das Ich gesetzt, denn sie ruht für mich in der Anschauung anderer Intelligenzen, deren gemeinschaftliche Welt das Urbild ist, dessen Übereinstimmung mit meinen Vorstellungen allein Wahrheit ist.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 555 f.) So wie Schelling die transzendentale Kritik der theoretischen Vernunft als umfassende Analyse der Naturerfahrung fasst, so bleibt er auch in der »Kritik der praktischen Vernunft« innerhalb des Systems des transzendentalen Idealismus nicht bei dem bloßen Aufweis der Bedingung sittlicher Freiheit stehen, sondern erweitert seine Analyse auf die drei Bedingungen der Möglichkeit sittlicher Erfahrung: (1) der Freiheit des Willens konstituiert aus der Intersubjektivität freier Anerkennung durch andere Subjekte, (2) der Begrenzung der Freiheit des Individuums durch das konstituierte Recht zur Erhaltung der Gemeinschaft und (3) die Geschichte als aufgegebener Prozess vermittelnder Verwirklichung von Freiheit und Recht als Endzweck und Aufgabe menschlichen Daseins in der Welt. 8 8
Vgl. dazu das Kapitel »Schelling – Freiheit, Recht und Geschichte«, in: Wolfdietrich
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System des transzendentalen Idealismus
Erst dort, wo das Selbstbewusstsein sich seiner Freiheit bewusst wird und gemeinsam mit den anderen in die Welt handelnd eingreift, hebt die neue Sphäre des zweiten praktischen Teil der transzendentalen Idealismus an, denn der »Akt der Selbstbestimmung, oder das freie Handeln der Intelligenz auf sich selbst ist nur erklärbar aus dem bestimmten Handeln einer Intelligenz außer ihr.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 540) Denkbar ist eine solche Ermöglichung je individueller Freiheit durch eine geistige Einflussnahme aus der Kommunikation mit anderen Individuen nur durch eine »prästabilirte Harmonie negativer Art«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 545) »Diese Forderung selbst aber ist nichts anderes als der kategorische Imperativ, oder das Sittengesetz, welches Kant so ausdrückt: du sollst nur wollen, was alle Intelligenzen wollen können.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 573 ff.) Darüber hinaus ist bewusste Selbstbestimmung des Individuums immer nur im und aus dem gemeinschaftlichen Handlungshorizont der miteinander kommunizierenden Menschen denkbar; oder genauer, die freie Selbstbestimmung des Individuums setzt die Verständigungs- und Handlungsgemeinschaft sich wechselseitig fordernder und frei anerkennender Individuen voraus. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 551) Freiheit ließe sich in konkreter Sittlichkeit nicht verwirklichen, wäre sie auf den Zufall menschlichen Zusammenwirkens angewiesen (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 582). Es bedarf also eines objektiven »Zwangs« geregelter Ordnung, sonst ist Sittlichkeit weder zu realisieren noch abzusichern. Selbstverständlich kann es sich hierbei nicht um einen Zwang »gegen die Freiheit« handeln, sondern es ist ein Zwang »gegen den vom Individuum ausgehenden und auf dasselbe zurückkehrenden eigennützigen Trieb«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 582) Zur Entstehung der rechtlichen Ordnung führt Schelling näher aus, dass es die Not ist, welche die Menschen zunächst gesellschaftlich bewusstlos zwingt, ihr Zusammenwirken zu regeln. Daher haftet der so entstehenden rechtlichen Ordnung die objektive »Gewaltthätigkeit« der Not an, die »die Menschen getrieben hat, eine solche Ordnung, ohne daß sie es selbst wußten, entstehen zu lassen.« (Schelling, SW, III: 584 f.) Daraus ergibt sich, dass die so entstandenen rechtlichen »Verfassungen« keinen dauerhaften Bestand haben, »weil der Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 58 ff.
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
Mechanismus einer Verfassung seinen Zwang gegen freie Wesen richtet, die sich nur solange zwingen lassen, als sie ihren Vortheil dabei finden […]. Es 1äßt sich also erwarten, daß vorerst bloß temporäre Verfassungen entstehen, welche alle […] früher oder später sich auflösen werden, da es natürlich ist, daß ein Volk unter dem Drang der Umstände manche Rechte erst aufgibt, die es nicht auf ewig veräußern kann, und die es früher oder später zurückfordert, wo denn der Umsturz der Verfassung unvermeidlich«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 585) 9 Von daher entfaltet Schelling dann – ganz im Sinne von Kant – die geschichtliche Zielperspektive eines Bundes freier Staaten. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 586 f.) Ist aber die Zielperspektive eines freien und gerechten »Völkerbundes« nicht ein irrwitziger, völlig utopischer Traum? Wollen wir in diesem Ideal mehr als einen utopischen Traum sehen, so müssen wir transzendentalphilosophisch die Ermöglichungsbasis seiner Realisierbarkeit nachweisen. Um diese aber aufzeigen zu können, müssen wir uns noch dem dritten großen Themenfeld der praktischen Philosophie zuwenden: der Geschichte als Aufgegebenheit. Das transzendentalphilosophische Problem, dem sich Schelling hier letztlich stellt, ist die Frage, ob die Geschichte als die allmähliche Auflösung des Widerstreits von individueller Freiheit und allgemeiner Rechtsordnung gedacht werden kann. Der hier umschriebene Widerstreit kann nur aufgelöst werden, wenn »in der Freiheit selbst wieder Nothwendigkeit ist« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 594), oder anders gesagt, wenn im freien Handeln selbst etwas angelegt ist, was die individuelle Freiheit überschießt, etwas, was sich zunächst im Handeln der Menschen als blinde Notwendigkeit durchsetzt, aber schrittweise in der Geschichte als bewusste und damit frei gewollte Aufgabe ergriffen und realisiert zu werden vermag. Alles kommt also darauf an, diese Notwendigkeit in der Freiheit, dieses Hier weicht der junge Schelling ganz entschieden von Kants moralischer Abweisung jeglicher Revolution ab und stellt sich deutlich hinter Jean-Jacques Rousseaus Eingangssätze seines Contract Social (1762/1977): 5 f.: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. […] Solange ein Volk zu gehorchen gezwungen ist und gehorcht, tut es gut daran; sobald es das Joch abschütteln kann und es abschüttelt, tut es noch besser; denn da es seine Freiheit durch dasselbe Recht wiedererlang, das sie ihm geraubt hat, ist er entweder berechtigt, sie sich zurückzuholen, oder man hatte keinerlei Recht, sie ihm wegzunehmen.« 9
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»schlechthin Objektive« im »schlechthin Subjektiven« nachzuweisen und aufzuhellen. Es kann nicht außerhalb der Freiheit liegen und ebenso wenig erst von außen hinzutreten, sondern es muss von Anbeginn an ihr selbst, d. h. dem menschlichen Wirken und Handeln innewohnen. »Denn nur dann, wenn in dem willkürlichen, d. h. völlig gesetzlosen, Handeln der Menschen wieder eine bewußtlose Gesetzmäßigkeit herrscht, kann ich an eine endliche Vereinigung aller Handlungen zu einem gemeinschaftlichen Zweck denken.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 597) Schon aus diesen letzten Überlegungen wird deutlich, dass wir die künftige Geschichte niemals theoretisch vorausbestimmen können, sondern nur als einen praktischen »Glaubensartikel« des Hoffens zum Besseren in uns tragen. Aber dieser Glaubensartikel hat im Wirken und Handeln der Menschen selbst seine reelle Basis und ist das, was all unser Wirken und Handeln leitet, sofern dieses nicht allein auf sich selbst zurückbezogen bleibt, sondern mitmenschlich in die Zukunft zu wirken trachtet. »Es muß hier etwas seyn, das höher ist, denn menschliche Freiheit, und auf welches allein im Wirken und Handeln sicher gerechnet werden kann; ohne welches nie ein Mensch wagen konnte, eine Handlung von großen Folgen zu unternehmen.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 595) Also kommt alles darauf an, dass diese Notwendigkeit selbst als frei vollzogene Aufgabe erfasst werden kann. So soll beispielsweise die Erhaltung der Gattung der Menschheit, die in allem Handeln der Menschen naturhaft angelegt ist, den zusammen handelnden Menschen zu einer frei, sittlich und gerecht zu vollbringenden »politischen« Aufgabe in der Geschichte werden. »Es bekommt nämlich hier das Objektive im Handeln eine ganz andere Bedeutung, als es bisher gehabt hat. Nämlich alle meine Handlungen gehen als auf ihren letzten Zweck auf etwas, das nicht durch das Individuum allein, sondern nur durch die ganze Gattung realisierbar ist; wenigstens sollen alle meine Handlungen darauf gehen.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 596) Daher kann es nichts anderes sein als die Gattungsbasis des menschlichen Wirkens und Handelns selbst, »die Intelligenz an sich (das absolut Objektive, allen Intelligenzen Gemeinschaftliche).« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 599) Anders gesagt: Die gesellschaftliche Praxis der Menschen selbst ist grundsätzlich auf die Erhaltung und Verwirklichung der menschlichen Gattung angelegt, vollzieht sich also ursprünglich als eine natürliche Sittlichkeit, auch 109 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
dort, wo sie sich dessen noch nicht bewusst geworden ist, wohl aber sich bewusst werden und damit als der freien geschichtlichen Verwirklichung aufgegeben erfahren werden kann. Aber in diesem Problemlösungshorizont liegt keine Garantie, dass die wirkliche Geschichte den Erfüllungshorizont freien sittlichen Zusammenlebens aller Menschen wirklich erreichen werde. Ihr »endliches Erreichen« können wir »weder aus Erfahrung, soweit sie bis jetzt abgelaufen ist […] noch auch theoretisch a priori« beweisen. Für die Bestimmung der Geschichte als menschheitlicher Aufgabe ist jedoch bereits viel erreicht, wenn wir in dieser Synthesis die grundsätzliche Ermöglichungsbasis und ihre praktische Aufgegebenheit aufzuweisen vermögen, doch bleibt dieser Aufweis »nur ein ewiger Glaubensartikel des wirklichen und handelnden Menschen«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 593) Nun bleibt Schelling bei dieser Horizontbestimmung der uns praktisch aufgegebenen Geschichte allein nicht stehen, denn da wir einerseits Naturwesen sind, die in den Gesamtzusammenhang lebendiger Naturzusammenhänge gestellt sind, andererseits durch unser geschichtliches Handeln in den Naturzusammenhang einwirken, stellt sich die Frage, ob es eine Natur und Geschichte umgreifende Sinnvermitteltheit gibt. Diese Fragestellung bringt uns an die letzten Grenzen transzendentaler Selbstexplikation des »Ich bin«. Sie wendet sich zurück auf die der Vermitteltheit des »Ich bin« noch vorausliegende »absolute Identität«, auf das Absolute selbst, das dem »Ich bin« ein »ewiges Unbewußtes« bleiben muss. »Eine solche prästabilierte Harmonie des Objektiven (Gesetzmäßigen) und des Bestimmenden (Freien) ist allein denkbar durch etwas Höheres, was über beiden ist, was weder Intelligenz, noch frei, sondern gemeinschaftliche Quelle des Intelligenten zugleich und des Freien ist.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 599) Dem »Ich bin« kann dieses schlechthin Absolute »nie Objekt des Wissens, sondern nur des ewigen Voraussetzens im Handeln, d. h. des Glaubens sein«. (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 600 f.) Kant spricht diese ewige Voraussetzung als das »Postulat des Dasein Gottes« an. (Kant, KdU, IV: A 419 f.) Was hier postuliert wird, ist das Absolute, das in allem Existieren und in allem Handeln wird und wirkt. Insofern führt Schelling – Kant radikalisierend – aus: »Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 603). Nur dass dabei niemals vergessen werden darf, dass 110 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Gott nicht unabhängig von uns wird und wirkt, sondern er »offenbart und enthüllt […] sich nur sukzessiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so daß ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, [insofern] sind wir Mitdichter des Ganzen, und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen […]. Der Mensch führt durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Daseyn Gottes, einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet seyn kann.« – Wenn sie vollendet sein wird, »dann wird auch Gott seyn« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 603 f.), nämlich »alles im allem«. 10 Mit dem System des transzendentalen Idealismus gelingt es Schelling nicht nur durch die Differenzierung der (lebensweltlichen) Naturerfahrungen diese von den empirisch-wissenschaftlichen Naturerkenntnissen zu unterscheiden, sondern er wird auch – ohne Kants »Primat der praktischen Vernunft« aufzugeben – Schleiermachers kritischem Einwand gerecht, dass das »Postulat des Dasein Gottes« nicht erst und nur für die praktische Philosophie gilt, sondern für die ganze Philosophie, also auch für die theoretische Vernunfterkenntnis. Denn dieses Postulat gründet im »ewig Unbewussten« der »absoluten Identität« aus der sich das »Ich bin Ich« erfährt, in der es sich bewegt und vor dem es sich zu verantworten hat. Insofern erfüllt sich das Kantische Projekt der Kritik der reinen Vernunft erst in Schellings System des transzendentalen Idealismus. Vergessen wir aber nicht, was wir bisher in der Darstellung ausgeblendet haben, dass Schellings System des transzendentalen Idealismus als in sich geschlossene transzendentale Bewusstseinsanalyse von vornherein darum weiß, dass es nur die eine Seite des Problems darstellt, der zur Seite noch eine materiale Thematisierung der Wirklichkeit an sich, die Schelling Naturphilosophie nennt, zu treten hat. 11
Auf die Ausführungen Schellings im abschließenden Teil des System des transzendentalen Idealismus zur Teleologie und zur »ästhetischen Produktion« gehe ich hier nicht weiter ein. Siehe dazu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 85 ff. 11 Vgl. Rainer Zimmermann, Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie. Moderne Implikationen Schellingscher Naturphilosophie (1998). Vgl. auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 97 ff. 10
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
3.4 Die gegenläufige Parallelität von Transzendental- und Naturphilosophie Erinnern wir uns zurück, dass Schelling schon von seinen frühesten Anfängen an – so in seinem Timaeus-Manuskript (1794) –, ganz entschieden aber seit seinen Jenaer Vorlesungen parallel zu seinen Studien zum System des transzendentalen Idealismus auch an einem Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) und dessen nachgereichter Einleitung zu dem Entwurf (1799) arbeitet, einer Naturphilosophie, die von vornherein nicht mehr von der transzendentalen Frage nach der Erfahrung der Natur und noch weniger von der (wissenschaftlichen) Erkenntnis der Natur ausgeht, sondern sich der Frage stellt, wie die Natur aus sich selbst heraus als Gesamtzusammenhang – dem wir selber mit angehören – begriffen werden muss. Gerade seine transzendentale Bestimmung der Naturerfahrung ermöglicht ihm einen Übergang zu einer parallel verlaufenden Naturphilosophie, d. h. zu einem Vernunftbegreifen der Natur aus sich selbst, der wir selbst mit angehören. Insofern wir die Natur (lebensweltlich) als Gesamtzusammenhang erfahren können, so muss es auch möglich sein, diesen Gesamtzusammenhang aus sich selbst heraus zu begreifen. »Nicht also wir kennen die Natur, sondern die Natur ist a priori, d. h. alles Einzelne in ihr ist zum Voraus bestimmt durch das Ganze oder durch die Idee einer Natur überhaupt. Aber ist die Natur a priori, so muß es auch möglich seyn, sie als etwas, was a priori ist, zu erkennen, und dieß eigentlich ist der Sinn unserer Behauptung.« (Schelling, Einleitung, III: 279) Nun darf eine solche Naturphilosophie, die im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft (1790) den produktiven Gesamtzusammenhang der Natur aus sich selbst thematisiert, nicht mit den Naturerkenntnissen der Naturwissenschaften verwechselt werden, die jeweils unter methodologischen Vorgaben immer nur Einzeldaten in technisch verwertbare Kausalzusammenhängen zu bringen versucht. Die Naturphilosophie deckt keine Kausalzusammenhäng auf, sondern bedenkt die Natur aus ihren eigenen Potenzen im Gesamtzusammenhang, dem wir als Denkende mitangehören. Eine Naturphilosophie im Sinne von Schelling ist Fichte schlechterdings undenkbar. Die Möglichkeit einer Vernunfterkenntnis von der Natur streitet Fichte – noch entschiedener als Kant – grundsätzlich ab. Denn während Kant immerhin noch eine Grenzbestimmung der Vernunft zur Wirklich112 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die gegenläufige Parallelität von Transzendental- und Naturphilosophie
keit an sich zulässt, lehnt Fichte eine solche kategorisch ab. Denn unser ganzes Wissen von der Natur geht für ihn in unserem wissenschaftlich konstituierten Wissen von der Natur auf. Für Fichte kann es immer nur Naturwissenschaften geben, die Sinnesdaten einem verständigen methodologischen Zugriff unterwerfen und die dadurch zu Kausalaussagen kommen können, die den Zwecksetzungen menschlichen Handelns technisch dienstbar gemacht werden können. Eine Vernunfterkenntnis einer eigenständigen Naturwirklichkeit, in die wir Menschen lebendig mit einbezogen sind, ist für Fichte undenkbar. Natur ist ihm theoretisch ein Nicht-Ich und praktisch das Material menschlicher Zwecksetzungen: »[S]o hat die Natur ihren Grund freilich auch in Gott, aber keineswegs als etwas, das da absolute da ist und da seyn soll, sondern nur als Mittel und Bedingung eines anderen Daseins, des Lebendigen im Menschen, und als etwas, das durch den steten Fortschritt dieses lebendigen immer mehr aufgehoben werden soll.« (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 18) Eine aus sich selbst zu begreifende Natur haben Kant und ebenso Fichte niemals zu denken gewagt, weil sie die transzendentale Konstitution wissenschaftlicher Naturerkenntnis – jedoch mit unterschiedlicher Akzentsetzung – mit der transzendentalen Konstitution der Natur gleichsetzen. Demgegenüber versucht Schelling – und nach und mit ihm auch Hegel – zu zeigen, dass nur die philosophische Vernunft die Wirklichkeit an sich begreifen könne und müsse, da nur sie die Natur als Gesamtzusammenhang bedenkt, während die Naturwissenschaften, wie dies Kant durchaus richtig gesehen hat, immer nur das Erscheinende unter methodischen Verstandesvoraussetzungen in Kausalbezüge bringen können. Liefert nicht Kant selber durch die Kritik der Urteilskraft den besten Beweis dafür, dass die philosophische Vernunft sich in ihrem Begreifen der Natur keineswegs in die Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Naturerkenntnis einzwängen lassen muss, da schon allein die Betrachtung eines einzelnen »Grashalms« uns dazu zwingt, ihn als einen »Begriff aus sich selbst« zu begreifen? Also nicht wir konstituieren den Grashalm durch unsere Verstandeserkenntnis, sondern er ist aus sich selbst als Naturwesen konstituiert. Und sind wir nicht »genötigt« – wie Kant zu Recht unterstreicht – beim Vorliegen auch nur eines einzigen Organismus auf eine sich selbst organisierende und sich selbst reproduzierende Gesamtnatur rückschließen zu müssen? (Kant, KdU, V: A 296 f.) Ja mehr noch – wie Kant zwar an113 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
merkt, aber selbst zu wenig beachtet –: Sind wir nicht selbst in unserer leiblichen Existenz ein solcher Organismus und daher in unserem Dasein auf eine sich selbst organisierende und sich selbst reproduzierende Natur angewiesen, deren Teil wir sind? So ist das, was Schelling mit seinem System der Naturphilosophie unternimmt die vernunftwissenschaftliche Erfüllung dessen, was Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft als Fragestellung aufgeworfen hat. Nur dass Schelling nicht bei der bloßen Forderung stehenbleibt, die Idee einer sich »selbst organisierenden« Natur anzunehmen, sondern versucht, die Natur in ihrem Prozesszusammenhang, in den wir selbst mit einbezogen sind, vernunftwissenschaftlich zu begreifen. Die Ermöglichung eines solchen uns selbst mit umfassenden Systems der Naturphilosophie sieht Schelling in dem von Leibniz aufgenommenen und fortentwickelten Gedanken einer »prästabilierten Harmonie« gegeben, die nicht als eine prästabilierte Harmonie von Innen- und Außenwelt, Geist und Materie, zu verstehen ist, sondern als eine »immanente prästabilierte Harmonie« zwischen individueller Monade und monadischem Universum, wie Schelling bereits in seiner Auseinandersetzung mit Platons Timaios in seiner Studienzeit ausführt. 12 D. h. die transzendental ermittelte Einheit von Daseins- und Selbstgewissheit, die wir je selber sind, steht in prästabilierter Harmonie zur Einheit von Wirklichkeit und Vernunft des absoluten Weltzusammenhangs, in den wir uns mit einbezogen erfassen. Wenn sich Bewusstsein und Welt derart ineinander spiegeln, dann hat es Sinn, transzendentalphilosophisch nach der Stufenfolge der konstituierenden Momente des Bewusstseins zu fragen, die die Totalität unserer Welterfahrung ausmachen, und umgekehrt naturphilosophisch die Stufenfolge der Potenzen zu verfolgen, die die Natur bis zur Hervorbringung des menschlichen Bewusstseins durchläuft. Beide aufeinander zulaufende Denkwege erweisen sich dann als Annäherungen an ein und dieselbe angezielte Einheit, die wir doch nie ganz, sondern immer nur im Sprung eines Perspektivenwechsels erreichen: einmal transzendentalphilosophisch aus der Immanenz des Bewusstseins und zum anderen naturphilosophisch aus der Immanenz des Naturprozesses bis zum Menschen als bewusstem Naturwe12 Schelling, Timaeus (1794), 1994: 42. Vgl. Hans Dieter Klein, System der Philosophie, IV: 91 f.
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Schellings Übergang zum materialen System der Philosophie
sen. Dabei kann sich der Mensch dieser Doppelperspektive nicht entziehen, denn als daseiendes und sich wissendes Wesen steht er selbst in dieser Einheit und erweist sich somit – wie Schelling in den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) sagt – als »das sichtbare, herumwandernde Problem aller Philosophie«. (Schelling, Ideen, II: 54)
3.4 Schellings Übergang zum materialen System der Philosophie Schellings System des transzendentalen Idealismus ist ohne Zweifel eines der eindrucksvollsten Werke des Deutschen Idealismus und es ist bedauerlich, dass es in der transzendentalphilosophischen Diskussion niemals die Rolle gespielt hat, die ihm zukommen müsste, denn in vielen grundlegenden Problemklärungen ist es bis heute unüberholt. Nun hat Schelling selbst mit zum Vergessen seines System des transzendentalen Idealismus (1800) beigetragen, da er noch im selben Jahr – nach einem brieflichen Grundsatzstreit mit Fichte 13 – den transzendentalen Idealismus als eine bloß »subjektive Propädeutik« zum eigentlichen vernunftwissenschaftlichen System einer Wirklichkeitsphilosophie zurückgestuft hat, das nun allein in den Bahnen seiner Naturphilosophie fortschreitet. 14 Das System des transzendentalen Idealismus – so betont Schelling jetzt – kann in seiner transzendentalen Rückbezogenheit auf das Bewusstsein niemals zu einem Wissen der absoluten Identität vordringen, daher kann sie nur eine subjektive Propädeutik zur eigentlichen Philosophie sein, die als Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit an sich mit der absoluten Einheit von Vernunft und Wirklichkeit zu beginnen hat. Entwürfe zu einem solchen System der Philosophie trägt Schelling in seinen Vorlesungen in Jena und Würzburg von 1801 bis 1806 vor und publiziert immer wieder Entwürfe, die er manchmal, den ersten ausgeführten Teil hervorhebend, Naturphilosophie nennt, obwohl die Bezeichnung »Vernunftwissenschaft«, die er später bevorzugt, oder auch Wirklichkeitsphilosophie treffender gewesen wäre. 15 Fichte – Schelling: Briefwechsel: 107 ff. Das System des transzendentalen Idealismus, bekommt daher nachträglich die Rolle zugesprochen, die Hegel später seiner Phänomenologie des Geistes (1807) als Hinführung zum System der Philosophie von Anfang an zuschreibt. 15 Einmal kündigt er das System auch als Identitätsphilosophie an, eine Benennung, die sich in der philosophiegeschichtlichen Literatur am stärksten durchgesetzt hat, 13 14
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Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
Entscheidend aber ist, dass Schelling weiterhin am methodischen Zugang der »intellektuellen Anschauung« festhält, doch bezieht sich diese nun ausdrücklich nicht mehr auf die Selbstgewissheit des »Ich bin Ich«, sondern auf die absolute Identität von Vernunft und Wirklichkeit, von Ideellem und Reellem. Denn wo wir die Wirklichkeit aus sich selbst durch die Vernunft begreifen wollen, sind wir nicht mehr an das unmittelbare Selbstbewusstsein des »Ich bin Ich« gebunden, jedenfalls gehen wir nicht von diesem aus, sondern begreifen uns selbst vielmehr als einen Teil der absoluten Einheit von Vernunft und Wirklichkeit. Schelling vollzieht den Überstieg zur Vernunfterkenntnis in einer methodologischen Reflexion auf das Verfahren, das er bereits in der Naturphilosophie von 1799 erfolgreich angewandt hat. Abgekürzt können wir dieses Verfahren in Anknüpfung daran so umschreiben: Wir erfahren immer schon eine in sich vermittelte Natur, also muss es möglich sein, ihren Wirklichkeitszusammenhang, dem wir selbst mit angehören, auch denkend nachvollziehend begreifen zu können, denn wir selbst sind nicht nur als Naturwesen, sondern auch in all unserem Wirken – Denken, Handeln, Gestalten – Teil dieses uns mitumfassenden Wirklichkeitszusammenhangs. 16 Das Absolute – dies hörten wir bereits als einen »Glaubenssatz« des Systems des transzendentalen Idealismus ausgesprochen – offenbart sich durch unser Handeln hindurch in der Geschichte und es ist die Vernunft, die diesen Zusammenhang zu erfassen und begreifend auszufüllen vermag. Allerdings müssen wir, um zu dieser Vernunfterkenntnis zu gelangen, die selbstauferlegte Begrenzung und Bindung des transzendentalen Idealismus an die Unhintergehbarkeit der Selbstgewissheit des »Ich bin« aus methodologischen Gründen aufgeben, um zu der noch grundlegenderen absoluten Identität von Denken und Sein, Vernunft und Wirklichkeit zurückzugelangen. Dieses Zurückschreiten zur absoluten Identität nennt Schelling in der ersten Ankündigung seines neuen Systemgedankens: »Depotenziren«. Mit deutlicher Abobwohl diese Charakterisierung bei weiten nicht so sprechend ist, wie die Benennung »Real-Idealismus«, die Schelling später in seiner Selbstcharakterisierung verschiedentlich wieder aufgreift. (Schelling, Geschichte neuere Philosophie, X: 107) 16 Was Schelling hier ausführt ist die zur Vernunfterkenntnis ausgeweitete Problematik der reflektierenden Urteilskraft, die Kant in der Kritik der teleologischen Urteilskraft anspricht: Es geht um unsere wirkliche Selbsterkenntnis aus dem Gesamtzusammenhang von Natur und Geschichte.
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Schellings Übergang zum materialen System der Philosophie
grenzung gegenüber Fichte schreibt Schelling in der Abhandlung Über den wahren Begriff der Naturphilosophie (1801): »Ich wünsche, daß man vor allen Dingen die Philosophie über das Philosophiren von der Philosophie selbst unterscheide. […] Es ist keine Frage, daß diese Philosophie über das Philosopiren subjektiv (in Bezug auf das philosophirende Subjekt) das Erste ist […]. Solange ich im Philosophiren mich in dieser Potenz erhalte, kann ich auch kein Objektives anders als im Moment seines Eintretens ins Bewußtseyn […], nimmermehr aber in seinem ursprünglichen Entstehen im Moment seines ersten Hervortretens […] erblicken […]. Das Objektive in seinem ersten Entstehen zu sehen, ist nur möglich dadurch, daß man das Objekt alles Philosophirens, das in der höchsten Potenz = Ich ist, depotenzirt, und mit diesem auf die erste Potenz reducirten Objekt von vorne an construirt.« (Schelling, Wahrer Begriff, IV: 84 f.) Nun liegen in der Depotenzierung im Grunde zwei Seiten einer Gedankenbewegung: Zum einen gilt es, die subjektive Subjekt-Objekt-Identität des »Ich bin Ich« zu überwinden, um unserer eigenes Wirklichseins aus und in dem alles durchwirkenden Wirklichkeitszusammenhang zu begreifen. Zum anderen schreitet die Depotenzierung jedoch keineswegs zu einem rein Objektiven in dem Sinne fort, dass sie je zu einem factum brutum käme. Schon die frühe Naturphilosophie vergisst niemals, dass sie Philosophie ist, ja genauer gesagt, die höchste Form der Vernunfterkenntnis darstellt. So schreibt Schelling in seinem ersten Systementwurf Darstellung meines Systems der Philosophie (1801): »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird. […] Das Denken der Vernunft ist jedem anzumuthen; um sie als absolut zu denken, […] muß vom Denkenden abstrahirt werden. Dem, welcher diese Abstraktion macht, hört die Vernunft unmittelbar auf etwas Subjektives zu seyn […]; sie wird also durch jene Abstraktion zu dem wahren An-sich, welches eben in den Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven fällt.« (Schelling, Darstellung meines Systems, IV: 115) Im Grunde kann es keine Einführung von außen in das System der Philosophie geben, da alles Denken eines jeden von uns immer schon in der absoluten Identität von Vernunft und Wirklichkeit gründet. Insofern ist ihre innere Bewusstwerdung aus Vernunft durch Vernunft »jedem anzumuten«, daher beginnt Schelling in all seinen Systementwürfen zwischen 1801 bis 1806 unmittelbar mit einer Selbstexplikation der absoluten Identität, des Absoluten, das er auch 117 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichte und Schelling – Vom »Ich bin Ich« zum Real-Idealismus
Gott nennt, wobei diese Benennungen nur verschiedene Aspekte ein und desselben Ausgangspunktes sind. »Das Absolute kann daher ewig nur ausgesprochen werden als absolute, schlechthin untheilbare Identität des Subjektiven und Objektiven, welcher Ausdruck gleich ist dem der unendlichen Selbstbejahung Gottes und dasselbe bezeichnet.« (Schelling, Aphorismen zur Einleitung, VII: 154)
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4. Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens 1
4.1 Die Idee des Absoluten und die Philosophie der Natur Im Folgenden wollten wir in knappen Zügen auf die ersten Paragraphen der Würzburger-Vorlesung System der gesamten Philosophie (1804), der wohl ausgereiftesten Gestalt von Schellings RealIdealismus eingehen, die nach dem Vorbild Spinozas aufgebaute »Konstruktion« oder »Deduktion« des Absoluten: »Die erste Voraussetzung alles Wissens ist, daß es ein und dasselbe ist, das da weiß, und das da gewußt wird.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 137) Die Vernunfterkenntnis ist Selbsterkenntnis des Absoluten, damit wird – so erläutert Schelling sogleich in den folgenden Paragraphen gegen Fichte gewendet – das Missverständnis abgewiesen, dass die Vernunft ein subjektiv dem Menschen zugehörendes Vermögens sei, dem eine objektiv-seiende Welt gegenüberstehe. So formuliert Schelling nahezu Wortgleich mit Hegel zur selben Zeit: »Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir […]. In der Vernunft ist jene ewige Gleichheit selbst zugleich das Erkennende und das Erkannte – nicht ich bin es, der diese Gleichheit erkennt, sondern sie selbst erkennt sich, und ich
Neu verfasstes Kapitel mit Rückbezügen auf die Vorträge: Wolfdietrich SchmiedKowarzik, »Das Problem der Natur. Nähe und Differenz Fichtes und Schellings« vorgetragen auf dem Internationalen Fichte-Kongress 200 Jahre Wissenschaftslehre – Die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes vom 26. September bis 1. Oktober 1994 in Jena, erschienen in: Wolfgang H. Schrader (Hg.), Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre (Fichte-Studien 12), Amsterdam/ Atlanta 1997, 211–233 sowie Ders. »Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums. Zur Religionsphilosophie im Spätwerk Fichtes« gehalten auf dem Internationalen Fichte-Kongress, vom 14. bis 18. Oktober 2003 in München, erschienen in: Günter Zöller / Hans Georg von Manz (Hg.), Praktische Philosophie in Fichtes Spätwerk, (Fichte-Studien 29), Amsterdam/New York 2006: 199–210; siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerkt, Freiburg/München 2014: 117 ff.
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bin das bloße Organ von ihr.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 140, 143) 2 Aber noch ein zweiter Gedanke wird damit sogleich abgewehrt und widerspricht dem Systemgedanken Hegels ganz und gar: Nicht die Vernunft erkennt sich selbst, sondern in der Vernunft erkennt sich das absolute Sein selbst. »Die Absolute Gleichheit des Subjekts und Objekts kann allgemein affirmirt werden nur, wenn das An-sich, das Wesen alles Seyns selbst kraft seiner Natur das Affirmirende und das Affirmirte von sich selbst ist. […] Ein solches […] ist nur das Absolute oder Gott. Denn absolut ist nach der allgemeinen Idee davon nur ein solches, welches von sich selbst und durch sich selbst ist. […] Gott ist die absolute Affirmation von sich selbst«. (Schelling, Gesamten Philosophie, VI: 148) Es ist ganz unmöglich das Absolute als einen Begriff zu denken, der dem Sein entgegensteht, sondern es ist gerade die Idee des Absoluten, dass sie das Absolute ist und sich als solches ausspricht. Jeder, der die Idee des Absoluten ausspricht, weiß sich von ihr umfasst. Dabei versteht Schelling – und ähnlich auch Hegel – unter Ideen alles, was von der absoluten Identität von Denken und Sein umfasst wird, auch hier unterscheiden sie sich voneinander nur in Nuancen, auf die noch zurückzukommen sein wird. 3 Wie Spinoza geht es Schelling um das absolute Sein der einen Substanz oder Gottes, dieses darf aber nicht als bloßes Sein, als bloße Objektivität angesprochen werden, sondern es muss darin zugleich als die sich durch uns vollziehende Erkenntnis der absoluten Vernunft mitgedacht werden. Spinozas Philosophie kommt nicht über einen objektiven Realismus hinaus, Fichte setzt dagegen einen subjektiven Idealismus, ihnen beiden entgegen will Schelling zu einer absoluten Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit vorstoßen. »Es ist eine unmittelbare Erkenntniß Gottes oder des Absoluten. Denn in der Vernunft erkennt die ewige Gleichheit des Subjekts und Objekts Ohne Zweifel könnten diese Ausführungen auch ebenso gut von Hegel stammen: »Das Absolute ist dasjenige, welches unmittelbar durch seine Idee auch ist, oder es ist dasjenige, zu dessen Idee es gehört zu seyn, dessen Idee also die unmittelbare Affirmation von Seyn ist […]. In Ansehung des Absoluten ist das Ideale unmittelbar auch das Reale.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 149) Die Differenzen werden erst dort sichtbar, wenn wir die unterschiedlichen Akzentsetzungen auf das Wirklichsein beachten. 3 Siehe dazu die nächsten beiden Kapitel 5: »Hegel – ›Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie‹« und 6: »Schelling – Vom ›notwendig Gott-setzenden Bewusstsein‹«. 2
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sich selbst, d. h. die Vernunft ist eine unmittelbare Erkenntniß von ihr […]. Die unmittelbare Affirmation der Idee Gottes durch das Wesen der Vernunft, welche selbst nur die Idee Gottes ist und nichts anderes, war den dogmatischen Systemen [Spinoza] unzugänglich.« (Schelling, Gesamten Philosophie, VI: 151) Mit der absoluten intellektuellen Anschauung treten wir, wenn wir sie aus der Bindung an das »Ich bin« lösen, in die Form der erkennenden Selbstaffirmation des Absoluten aus sich selbst ein. Das Ich erlebt dann sein »Bin« gar nicht mehr aus seiner Identität, sondern als daseiend aus dem alles umfassenden Sein: 4 »Jene Form der absoluten Affirmation seiner selbst durch sich selbst, die das Wesen des Absoluten selbst ist, diese Form […] wiederholt sich in der Vernunft, und sie ist das Licht in dem wir das Absolute begreifen, der wahre und eigentliche Mittler zwischen ihm und der Erkenntniß. […] Jenes absolute Licht, die Idee Gottes, schlägt gleichsam ein in die Vernunft und leuchtet in ihr fort als eine ewige Affirmation von Erkenntniß. Kraft dieser Affirmation, die das Wesen unserer Seele ist, erkennen wir, daß das Nichtsseyn ewig unmöglich und niemals zu erkennen noch zu begreifen ist, und jene letzte Frage des am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnden Verstandes, die Frage: warum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt? – diese Frage ist auf ewig verdrungen durch die Erkenntniß, daß das Seyn nothwendig ist […]. Denn erst dann erkennen wir, daß nicht nichts ist, sondern daß nothwendig und ewig das All ist.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 155) »Das Erste in der Philosophie ist die Idee des Absoluten« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 155), aber nur deshalb, weil sich uns das ganze All aus ihr und in ihr erschließt. »Alles ist Eins, oder das All ist schlechthin Eines. […] Die ganze unendliche Realität in den unendlichen Weisen ihres Affirmirtseins durch die Idee Gottes ist Eine Realität. […] Gott ist nicht die Ursache des All, sondern das All selbst.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 175 ff.) Alles, was die Vernunft als Ideen aus der Einheit von Subjektiven und Objektiven, von Ideellen und Reellen erkennt, erfasst sie aus der Abkunft aus dem Absoluten oder aus Gott. Erläuternd fügt Schelling hinzu: »Ich bemerke also zuvörderst, daß ich unter Idee hier und in der Folge nicht Dies hat Schelling bereits 1795 in den Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kritizismus bezogen auf die eigentlich intendierte tiefste Erkenntnis Spinozas ausgeführt. (Schelling, Philosophische Briefe, I: 319)
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den bloßen Modus des Denkens […] verstehe, sondern […] die Urgestalt, das Wesen in den Dingen, gleichsam das Herz der Dinge […], das wahrhaft Reale in allen Dingen«. (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 182 f.) In diesem Zusammenhang verweist Schelling ausdrücklich auf Platons »Ideenlehre, die von den meisten Geschichtsschreibern der Philosophie bald als bloß logische Abstrakta, bald als wirkliche, physisch-existirende Wesen gedacht wurden«. (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 185) Weder sind die Ideen Gedankendinge ohne Realität noch bilden sie eine zweite Realität jenseits der empirisch erscheinenden Welt, sondern ganz im Gegenteil in ihnen begreifen wir die Dinge aus dem und im Wirklichkeitszusammenhang des Absoluten. Nicht der von der Vernunft erfasste Wirklichkeitszusammenhang muss sich gegenüber der empirisch erscheinenden Welt und den auf sie bezogenen partial-verknüpften Verstandeserkenntnissen ausweisen, sondern geradezu umgekehrt, die empirisch vereinzelten Erscheinungen und ihre kausalen Verstandesverknüpfungen, insofern sie sich absondern von dem Gesamtzusammenhang, aus dem sie sind, erweisen sich als Scheinbilder, als »relatives Nichtseyn« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 187), gegenüber dem Wirklichkeitszusammenhang im Absoluten. »Kein Einzelnes hat den Grund seines Daseyns in sich selbst« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 193), sondern hat seine Abkunft allein aus Gott, dem Wirklichkeitszusammenhang im Absoluten. Gott ist als Affirmierendes und Affirmiertes die absolute Identität seiner selbst auf unendliche Weise. Doch jedes dieser Momente, zwar nicht losgelöst vom Absoluten, jedoch je in ihrer Besonderheit betrachtet, ergibt die Systemteile, die selbst wiederum beide Momente des Affirmierens und des Affirmiertseins in sich vereinigen. So erweist sich (1) das Affirmierte, das selbst wieder affirmierend ist, als das »reale All oder die Natur« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 202), (2) das Affirmierende, das affirmiert ist, als das »ideale All« der menschlichen Geschichte (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 204) und (3) die vermittelnde Reflexion auf ihre relativen Besonderungen als Indifferenz beider. »In dem realen All für sich betrachtet, ebenso in dem idealen All für sich betrachtet, kann nicht die absolute Identität, sondern nur die Indifferenz beider Faktoren […] dargestellt werden. Denn sonst lösen sie sich wechselseitig ineinander auf.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 209) Hieraus erklärt sich die Triplizität der Systemteile und ebenso ergibt sich daraus die »Triplici122 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Idee des Absoluten und die Philosophie der Natur
tät der Potenzen« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 210) der einzelnen Systemteile selbst. Diese Betonung des Seins im Absoluten führt nun dazu, dass Schelling nicht nur die eine übergreifende Bewegung der Dialektik des Begriffs kennt, die durch das ganze System hindurchgeht – wie später Hegel –, sondern zwei Vermittlungsbewegungen thematisiert, die sich wechselseitig übergreifen und somit aufeinander bezogen sind. Ihre wechselweise Vermittlung wird schließlich im dritten Systemteil in der Kunst, der Philosophie und der Religion thematisiert. Die ersten beiden Vermittlungsbewegungen, die sich wechselweise übergreifen, sind zum einen der produktive Werdeprozess der Natur, aus dem nicht nur das menschliche Bewusstsein hervorgeht, sondern dessen existierenden Wirklichkeitszusammenhang wir als Existierende auch unauflösbar in uns tragen, und zum anderen der vom Bewusstsein anhebende geschichtliche Prozess des Erkennens, Handelns und Gestaltens der Menschen, der sich nur zu verwirklichen vermag, indem er die Natur übergreift. »Das reale und ideale All, jedes von beiden löst sich in seiner Absolutheit auf in das andere, und dadurch auch in die absolute Identität.« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 208) Nun ist selbstverständlich klar – und um diesen Punkt drehen sich alle einleitenden Vorklärungen Schellings zum System der Philosophie –, dass beide Bewegungen immer nur unter der stillschweigenden Voraussetzung der Identität mit der jeweils anderen formuliert werden können. Wir stehen also vom ersten Schritt des Systems an in der absoluten Identität von Vernunft und Wirklichkeit, genauer in der Identität zweier Bewegungen: der des wirklichen Werdeprozesses der Natur und der des Begreifens der Wirklichkeit. Beide müssen bis in ihre differenzierenden Potenzen hinein sich strukturell entsprechen: »Jeder Weise des Affirmirtseyns im realen All entspricht eine gleiche Weise des Affirmirens im idealen All. […] Das reale und das ideale All sind nur ein und dasselbe All. […] Das reale und ideale All fließen zur absoluten Identität zusammen in der Vernunft«. (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 204–217) Gerade auf dieses wechselseitige Übergreifen legt Schelling bei seiner Systemexplikation großen Wert, denn hierin drücken sich für ihn die ›Identität in der Differenz und die Differenz in der Identität‹ aus, und beides fällt nicht einfach zusammen. (Vgl. Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 209) Auf die Naturphilosophie bezogen geht es gerade darum, den existierenden Wirklichkeitszusammenhang der 123 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Natur zu begreifen, und dies ist nur möglich, wenn in der Identität die Differenz gewahrt bleibt, denn der existierende Vermittlungszusammenhang der Natur, dem wir existierend mit zugehören, und der begreifende Vermittlungszusammenhang, der die Natur erkennend umfasst, sind identisch und different zugleich – nur so kann es ein Denken des Seins, ein Begreifen der Wirklichkeit geben. Nach der Klärung des absoluten Ausgangspunkts aller Philosophie als Erkenntnis der Wirklichkeit an sich beginnt Schelling mit der Naturphilosophie, als dem ersten konkreten Teilstück des Systems der Philosophie. Auf die Naturphilosophie geht Schelling in allen seinen Entwürfen seit der ersten Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801 ausführlich ein, am detailliertesten in seiner Würzburger Vorlesung von 1804 System der gesamten Philosophie und der Natur insbesondere. Aber die sicherlich eindrucksvollsten Darstellungen sind die beiden letzten Klärungen seines Anliegens in den Aphorismen über die Naturphilosophie (1806) und in der Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur (1806). 5 Beginnen wir mit einem längeren Zitat aus den Aphorismen über die Naturphilosophie, das erahnen lässt, wie Schelling hier auf der neuen Stufe der Systemphilosophie doch auch wieder ganz anknüpft an die Dynamik seiner frühen naturphilosophischen Schriften von 1799: »Das bloße Daseyn ohne Rücksicht auf die Art und Form desselben müßte jedem, der es so erblickte, als ein Wunder erscheinen und das Gemüth mit Staunen füllen […]. In allem einzelnen Wirklichen ist eben die Existenz selbst das Grundlose, Unendliche, allein aus sich selbst Faßliche; wer aber könnte ohne tiefe Bewegung im Großen und Ganzen der Welt jenen ewig regen, lebensschwangern Strom anschauen, der jedes Ufer überschwillt, jede augenblickliche Fassung durchbricht, allerdings um sich wieder zu fassen, aber in keiner zu verweilen oder gefesselt zu werden! […] Da sie also nichts wäre, die Substanz (denn so dürfen wir bezeichnen, was die Existenz selbst ist), als diese reine Lust des Bejahens, ohne […] weiteren Grund oder Bestimmung, als daß sie es auf unendliche Weise sey, so wäre auch keine
5 Die Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Prinzipien der Schwere und des Lichts hat Schelling 1806 der zweiten Auflage seines Buches Von der Weltseele beigefügt (1. Auflage 1798), welche, obwohl sie eine der prägnanteste Darstellung der Naturphilosophie darstellt, oftmals übersehen wird.
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Form, Art noch Grad der Realität von ihr ausgeschlossen, sondern sie selbst nach der Nothwendigkeit ihres Wesens wäre alle jene Formen oder Conceptionen selbst, aus keinem andern Grund, als damit sie dieselben sey und auf unendliche Weise sich selbst in sich selbst habe und bejahe. Denn alle Existenz ist nur Selbstoffenbarung einer wesentlichen Natur.« (Schelling, Aphorismen Naturphilosophie, VII: 198 f.) Aus dem Blick der Vernunft schauen wir die Natur als unendliche Produktivität an, als natura naturans, wie sie sich durch alle ihre endlichen Gestaltungen hindurch in einen nie endenden Produktivitätszusammenhang erfüllt. Wo dieser Blick jedoch fehlt, bleiben nur die Naturprodukte vereinzelt für sich zurück, die selbst in eine Verkettung mit anderen Naturprodukten gebracht allenfalls Bruchstücke der Natur erahnen lassen, niemals aber zur Natur als wirklicher Ganzheit durchdringen. »Denn daß die Dinge existiren, sagtest du, nur inwiefern das Ewige seine Selbstoffenbarung ist in ihnen. Sie selbst, als sie selbst, sind daher nicht; sie haben oder sind wohl ein Leben, aber nur ein Leben des Unendlichen; denn das Seyn des Einen überwältigt ihr eignes Seyn. […] Alle Verhältnisse bloß äußerlicher Beziehung durch Raum, Zeit, Berührung u. s. w. sind nur ein Schatten jener ewigen Verkettung und wechselseitigen Gegenwart aller Dinge in dem ewig-Einen und unendlich-Vollen.« (Schelling, Aphorismen Naturphilosophie, VII: 199 ff.) In ihrer Vereinzelung und Isolierung, wie sie der Verstandeserkenntnis erscheinen, erweisen sich die endlichen Dinge im Hinblick auf das Ganze der wirklichen Natur als nichtig. Selbst wieder aus dem und in dem Wirklichkeitszusammenhang betrachtet, sind sie »erschaffene Natur«, haben sie als natura naturata – so unscheinbar und flüchtig sie auch zu sein scheinen – doch teil am Existenzzusammenhang, zu dem sie gehören. »Wie die schaffende Natur im Ganzen die Identität oder ewige copula ist der Substanz, inwiefern sie alle Dinge, und der Substanz, inwiefern sie die Einheit aller ist: so ist dieselbe nothwendig auch im Einzelnen die absolute Identität oder copula der Substanz, inwiefern sie dieses Einzelne, und derselben, inwiefern sie das Wesen aller Dinge, demnach unendlich ist. Alle Wirklichkeit beruht auf der untheilbaren Einheit dieser drei in einem jeden Ding, nämlich: der schaffenden Natur, der Substanz, sofern sie unendlich, und derselben, sofern sie nach ewiger Nothwendigkeit (alles seyend) auch dieses Einzelne ist. […] Da aber in Ansehung der Substanz schlechthin betrachtet, mit welcher das Einzelne (kraft der 125 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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copula) absolut verknüpft ist, jene Unendlichkeit eine actu vorhandene und wahrhaft wirkliche ist, so ist in der Substanz, als Natura naturans, jedes Ding nur als in reiner unwandelbarer Gegenwart und auf ewige Weise.« (Schelling, Aphorismen Naturphilosophie, VII: 203 f.) Die Copula – so erläutert Schelling in der Abhandlung Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur (1806) – ist das existierende Band, das die unendliche Einheit des Ganzen mit den vielen Endlichen verknüpft, wobei diese Verknüpfung keine der Kausalität ist, wie sie der Verstand unter den vereinzelten Erscheinungen herzustellen versucht, sondern der Existenzzusammenhang selbst. »Wir können das Band im Wesentlichen ausdrücken als die unendliche Liebe seiner selbst […], als die unendliche Lust sich selbst zu offenbaren. […] Das Absolute ist aber nicht allein ein Wollen seiner selbst, sondern ein Wollen auf unendliche Weise, also in allen Formen, Graden und Potenzen von Realität. Der Abdruck dieses ewig und unendlich sich-selber-Wollens ist die Welt. […] Das Universum, d. h. die Unendlichkeit der Formen, in denen das ewige Band sich selbst bejaht, ist nur Universum, wirkliche Ganzheit (totalitas) durch das Band, d. h. durch die Einheit in der Vielheit. Die Ganzheit fordert daher die Einheit (identitas) […]. Die Einheit des Bandes fordert daher die durchgängige Ganzheit desselben, und kann ohne diese nicht gedacht werden.« (Schelling, Verhältnis des Realen und Idealen, II: 362) Mit diesen grundlegenden Vorklärungen haben wir erst die Eckpunkte der »Allgemeinen Naturphilosophie oder Construktion der Natur oder des realen All« umrissen. Nun erst beginnt die »specielle Naturphilosophie oder Construktion der einzelnen Potenzen der Natur«, wie Schelling sie in der Vorlesung System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804) in ihren drei Potenzen darstellt: (1) »die Materie, sofern in ihr die Bewegung […] dem Seyn untergeordet ist« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 286 ff.), hier wird – modern gesprochen – das Gravitationssystem durchdacht, (2) »die Materie, sofern in ihr die Formen der Bewegung Formen der Thätigkeit sind« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 319 ff.), hier werden die dynamischen Prozesse des Magnetismus, der Elektrizität und chemische Reaktionen behandelt, und (3) »die organische Natur« (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 371 ff.), die hier in ihren eigenen Potenzen der Reproduktion, der Irritabilität und der Sensibilität untersucht und dargelegt werden. Diese Ausführungen Schellings zur organischen Natur gehören zum Differenziertes126 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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ten seiner Naturphilosophie, die vieles ansprechen, was bis heute noch impulsgebend für eine Philosophie des Lebens geblieben sind. Wie bereits erwähnt, hat Schelling neben verstreuten Bemerkungen zur Philosophie der ideellen Welt oder Philosophie der Geschichte nur in seiner Würzburger Vorlesung Darstellung des Systems der gesamten Philosophie (1804) sowie in der zehnten Vorlesung »Über das Studium der Historie und der Jurisprudenz« seiner Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) einige systematische Ausführungen zu diesem zweiten Teil des Systems der Philosophie vorgelegt. Mit dem Selbstbewusstwerden des Bewusstseins treten wir in die völlig neue Prozess- und Potenzenreihe der »ideellen Welt« ein, (1) des Erkennens von uns selbst und der Natur, (2) des willentlichen Eingreifens in die Natur und der Gestaltung unserer Lebenszusammenhänge sowie (3) in ein begreifendes Sinnverstehen des Gesamtzusammenhangs des göttlichen Alls in Kunst, Religion und Philosophie. Es ist wichtig, sich von Anfang an vor Augen zu halten, dass Schelling, wenn er in variierenden Ausdrücken von den Potenzen des »Wissens«, »Handelns«, »Gestaltens« handelt, nicht bloß den einzelnen Menschen meint, sondern von der ganzen Menschheit spricht. Die Potenzen des Bewusstseins in ihrer neuen Prozessreihe sind Potenzen der Menschheit insgesamt, der Menschen als vernünftige Wesen, und damit zugleich der Aufgaben ihrer geschichtlichen Entfaltung. Da die Menschen Natur- und Vernunftwesen zugleich sind, können sie aus diesem Indifferenzpunkt heraus die Natur in ihren Potenzen und die Potenzen ihrer eigenen geschichtlichen Welt begreifend durchdringen und handelnd in sie eingreifen. Alles, was die Naturphilosophie schrittweise in den Potenzen der Schwere, des Lichts und des Organismus entwickelt hat, konnte sie nur unter der Voraussetzung unseres In-der-Vernunft-Stehens. Erst jetzt tritt die Entfaltung des Systems der gesamten Philosophie (1804) in die Dimension ein, ihre Voraussetzung der absoluten Identität von Vernunft und Wirklichkeit, von Subjektivität und Objektivität, von Idealem und Realem durch die Selbstklärung der Vernunft in ihren Potenzen einzuholen. Wobei klar ist, dass wir die letzte Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft als Indifferenz von Vernunft und Wirklichkeit, die nicht dasselbe ist wie die absolute Identität von Vernunft und Wirklichkeit in der wir immer schon gründen, erst ganz am Schluss in der 127 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Selbstthematisierung der Philosophie erreichen können. Trotzdem muss der Entwicklungsgang des Systems der gesamten Philosophie nach einer Vorklärung des Standorts der Vernunft in der Affirmation des Absoluten, die erst am Ende eingeholt werden kann, in seinen konkreten Systemteilen mit der Naturphilosophie beginnen, denn die ideellen Potenzen der Vernunft hängen in der ›Luft‹ bzw. im Nichts, wenn sie nicht in der wirklichen Natur gründen.
4.2 Schellings Studie »Philosophie und Religion« Im selben Jahr, in dem Schelling die Vorlesungen zum System der gesamten Philosophie an der Universität Würzburg hält, erscheint auch seine Abhandlung Philosophie und Religion (1804), in der er erstmals öffentlich gegen Fichte Stellung bezieht. 6 Da Schelling in der Einleitung von Philosophie und Religion davon spricht, dass er seine Ausführungen im Sinne der antiken Ethik als »Anweisung zu einem seligen Leben« verstehe (Schelling, Religion, VI: 17), benennt Fichte seine nächste, religiöse Fragen behandelnde Vorlesungsschrift Anweisung zum seligen Leben (1806) und polemisiert darin seinerseits öffentlich gegen Schelling. Wir können das Absolute nur deshalb begreifen, da es die absolute Einheit von Vernunft und Wirklichkeit ist, in der auch die intellektuelle Anschauung der Vernunfterkenntnis des Seins wurzelt. Nur so ist es uns möglich, zu begreifen, wie alles wirkliche Seiende in einem Wirklichkeitszusammenhang mit dem Absoluten steht. Das Absolute ist ebenso das absolut Ideale als auch das absolut Reale sowie die absolute Vermittlung beider, die selbst wiederum nur »als ein Selbsterkennen beschrieben werden« kann. (Schelling, Religion, VI: 31) Auf das Absolute bezogen, ist die Selbsterkenntnis nur als sich realisierende Selbstpräsentation zu begreifen. »Sein selbständiges Produciren ist ein Hineinbilden, Hineinschauen seiner selbst in das Reale […]. Es ist daher nur ganz real, inwiefern es ganz ideal ist, und ist, in seiner Absolutheit, Ein und dasselbe, das auf ganz gleiche Wei-
Bei Beendigung ihres kontroversen Briefwechsels 1802 haben Fichte und Schelling ein Zurückhaltungsabkommen beschlossen, an das sich Schelling nicht mehr gebunden fühlt, da er von Hörern der Vorlesungen von Fichte erfahren hat, dass dieser öffentlich gegen seine Naturphilosophie polemisiert.
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se unter der Form beider Einheiten betrachtet werden kann.« (Schelling, Religion, VI: 34 f.) Auf dieser Grundlage versucht die Philosophie als Vernunftwissenschaft die Natur in ihren wesenhaften Potenzen der Materie, des Lichts und des Organismus aus dem Absoluten zu begreifen und ebenso die ideale Welt in ihren wesenhaften Potenzen des Erkennens, des Willens und der geschichtlichen Gestaltung freizulegen. Und in ihren bewussten Thematisierungen des Absoluten kehrt die Vernunfterkenntnis in den Gestalten der Kunst, Philosophie und Religion in ein Sich-Begreifen aus und in Gott zurück. In diesem Sinne ist »die Philosophie […] mit der Religion in ewigem Bunde.« (Schelling, Religion, VI: 70) Nun dürfen wir aber nicht übersehen, dass die menschliche Welt mit ihren wissenschaftlichen Verstandeserkenntnissen, ihren Handlungsinteressen und ihren weltanschaulichen Hoffnungen sich in völlig anderen Bahnen bewegt. Für sie gelten nur die einzelnen Dinge in ihren kausalen Zusammenhängen, die sich durch ihre Berechenbarkeit technischen Zweckzusammenhängen verfügbar machen lassen. In allen Verstandeserkenntnissen »wird das Nichtabsolute z. B. als dasjenige erkannt, in Ansehung dessen der Begriff dem Seyn nicht adäquat ist«, also Subjekt und Objekt einander äußerlich bleiben, und für sich und gegeneinander »ein Bedingtes, Nichtabsolutes bleiben«. »Auf die gleiche Art ließe sich derselbe Gegensatz durch alle andern Reflexionsbegriffe verfolgen.« (Schelling, Religion, VI: 22) Aber es ist und bleibt unmöglich, von hier aus jemals zur philosophischen Einsicht des Absoluten zu gelangen, genauso wie es unmöglich ist, vom Absoluten her die verständige Erscheinungswelt abzuleiten. Der Grund hierfür kann nur darin liegen, dass zwischen der Vernunfterkenntnis, die alles aus dem Zusammenhang mit dem Absoluten oder Gott zu begreifen versucht, und der Verstandeserkenntnis, die die einzelnen Dinge der Erscheinungswelt verknüpft, es einen grundlegenden Sprung gibt, denn für die Verstandeserkenntnis maßt sich das Ich an, das alleinige und absolute Subjekt seiner Setzung zu sein, wie es Fichte in seiner Wissenschaftslehre ausdrückt. »Fichte sagt: die Ichheit ist nur ihre eigne That, ihr eignes Handeln, sie ist nichts abgesehen von diesem Handeln, und nur für sich selbst, nicht an sich selbst. Bestimmter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als ein nicht im Absoluten, sondern lediglich in ihr selbst liegender wohl nicht ausgedrückt werden. […] Die Seele, ihren Abfall erkennend, strebt gleichwohl in diesem ein anderes Absolutes zu seyn, und 129 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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demnach Absolutes zu produciren. Ihr Verhängniß ist aber, das, was in ihr, als Idee, ideal war, real, demnach als Negation des Idealen zu produciren. Sie ist also produktiv von besondern und endlichen Dingen.« (Schelling, Religion, VI: 43 f.) Wie aber ist dieser »Abfall« des Ichs aus dem Absoluten möglich? Allein dadurch, dass das Ich das einzige Wirkliche in der ganzen Wirklichkeit der Natur ist, dass in die Freiheit gesetzt ist. In der Freiheit sich bewusst im Absoluten der Wirklichkeit zu begreifen und zu bewähren, aber auch in der Freiheit sich als eigenes Pseudo-Absolutes gegen das Absolute zu stellen. Dies stellt Schelling als die »Sündhaftigkeit« der Absolutsetzung des Ichs dar. »Der Grund des Abfalls […] liegt nun nicht im Absoluten, er liegt lediglich im Realen, Angeschauten selbst, welches ganz als ein Selbständiges, Freies zu betrachten ist. Der Grund der Möglichkeit des Abfalls liegt in der Freiheit […]; der Grund der Wirklichkeit aber einzig im Abgefallenen selbst, welches eben daher nur durch und für sich selbst das Nichts der sinnlichen Dinge producirt.« (Schelling, Religion, VI: 40) Nun hat zwar Fichte die Polemik Schellings in seiner Vorlesungsschrift Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) dahingehend mit einem Gegenangriff abzuwehren versucht, dass er selbst die gegenwärtige geschichtliche Epoche als ein Zeitalter charakterisiert, das mit seiner Fixiertheit auf den blinden Empirismus der Einzelerkenntnisse und auf die »leere Freiheit« mit ihrem Egoismus der Einzelinteressen das Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit« darstelle, das durch eine auf Gott bezogene Vernunft- und Sittlichkeitsorientierung darüber hinauszuführen sei, denn der wahre »Zweck des Erdenlebens« liege in »der menschlichen Gattung: alle Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten«. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, VI: 22 ff.) Wobei Fichte ausdrücklich dazu auffordert, die Natur den Zwecken der Menschheit dienstbar zu machen. Demgegenüber unterstreicht Schelling jedoch wiederum in seiner Gegenpolemik Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806), dass Fichte damit nur noch deutlicher den Abfall der zur Menschheit potenzierten Ichheit gegen die Natur und Menschheit umgreifende Absolutheit ausspreche. Wer die Natur nur als ein vom Ich gesetztes Nicht-Ich betrachtet, kann nicht zum wahren Absoluten gelangen, sondern verbleibt in der Verkehrtheit und Sündhaftigkeit der absolutgesetzten Ichheit. So betont Schelling schon in Philosophie und Religion: »Nur durch die 130 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schellings Studie »Philosophie und Religion«
Ablegung der Selbstheit und die Rückkehr in ihre ideale Einheit gelangt sie [die Seele] wieder dazu, Göttliches anzuschauen und Absolutes zu produciren.« (Schelling, Religion, VI: 44) Daher ist auch jegliche Tugend und Sittlichkeit, die sich nur menschlicher Gesetzgebung verpflichtet weiß, noch keine wahre Sittlichkeit. »Ja! wir glauben, daß es etwas Höheres gibt als eure Tugend und die Sittlichkeit, wovon ihr, armselig und ohne Kraft, redet […]. Nicht ein abhängiges, sondern ein in der Gesetzmäßigkeit zugleich freies Leben zu leben, ist absolute Sittlichkeit.« Erst dort, wo »die Seele […] mit Gott Eins zu seyn [versucht], ist Sittlichkeit […]. Sittlichkeit und Seligkeit verhalten sich demnach nur als die zwei verschiedenen Ansichten einer und derselben Einheit […] und das Urbild dieses Eins-Seyns […] ist in Gott.« (Schelling, Religion, VI: 56) Seele steht hier für endliche Individualität der Menschen, die sich zugleich einbezogen weiß in die Totalität von Natur und Geschichte, d. h. die sich aus der Ewigkeit Gottes und auf diese bezogen versteht. Dabei darf die Ewigkeit nicht als etwas jenseits der Zeit, im Sinne von vor oder nach der Zeit verstanden werden. Auch die Rede von der Unsterblichkeit der Seele kann nicht auf eine ewige Zeit nach der Geschichte verlegt werden. »Es ist daher Mißkennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit über die Ewigkeit der Seele und ihr Seyn in der Idee zu setzen, und, wie uns scheint, klarer Mißverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl individuell fortdauern lassen.« (Schelling, Religion, VI: 61) Der Bezug zur Ewigkeit Gottes ereignet sich bereits hier und jetzt. Es ist nur ein anderer Blick auf das Ganze von Natur und Geschichte, nicht die auf die Ichheit zentrierte Vergegenständlichung der einzelnen Dinge und Zwecksetzungen menschlichen Tuns auf allein selbstgesteckte Zwecke, bezogen auf die Ewigkeit Gottes im Hier und Jetzt. »Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten die Selbstheit verleiht, gibt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebenes Leben waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, als unabhängig existierende wieder in der Absolutheit zu seyn, welches durch die vollkommene Sittlichkeit geschieht. […] Nach unserer ganzen Ansicht fängt die Ewigkeit schon hier an, oder ist vielmehr schon«. (Schelling, Religion, VI: 63 f.) Nun ist zwar jeder einzelnen Seele je für sich die »Revolutionierung der Denkungsart« – wie Kant dies nannte – aufgegeben, aber letztlich ergeht dieser Auftrag an die Menschheit als Ganzes zu seiner 131 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
Erfüllung in der Geschichte. Denn »die Endabsicht der Geschichte [ist] die Versöhnung des Abfalls«. (Schelling, Religion, VI: 63) In dieser Weise sind alle Religionen in der Geschichte sich immer bewussterwerdende Wege zur Beseligung der Sittlichkeit des Menschengeschlechts in der Geschichte. »Unter diesem Bild der Liebe Gottes zu sich selbst [(Spinoza) …] ist dann auch der Ursprung des Universum aus ihm und sein Verhältniß zu diesem in allen denjenigen Religionsformen dargestellt, deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist.« (Schelling, Religion, VI: 63 f.) Und wie schon im System des transzendentalen Idealismus beschließt Schelling auch in Philosophie und Religion den Gedanken damit, dass die ganze Geschichte eine Offenbarung Gottes darstellt, die sich durch das bewusste Freiwerden der Menschen in der Geschichte vollzieht. »Da aber Gott die absolute Harmonie der Nothwendigkeit und Freiheit ist, diese aber nur in der Geschichte im Ganzen, nicht im Einzelnen ausgedrückt seyn kann, so ist auch nur die Geschichte im Ganzen – und auch diese nur eine successive sich entwickelnde Offenbarung Gottes.« (Schelling, Religion, VI: 57)
4.3 Fichtes Neuansatz und die Kontroverse von 1806 In der zweiten Vorlesung seiner Schrift Über das Wesen des Gelehrten – 1805 in Erlangen vorgetragen – präsentiert Fichte die obersten Grundsätze seiner Wissenschaftslehre in einer völlig neuen, fast an Schellings System der Philosophie erinnernden Terminologie: »1. Das Sein, durchaus und schlechthin als Sein, ist lebendig und in sich tätig, und es gibt kein anderes Sein, als das Leben […] 2. Das einzige Leben, durchaus von sich, aus sich, durch sich, ist das Leben Gottes oder des Absoluten […]. 3. Dieses göttliche Leben ist an und für sich rein in sich selber verborgen, es hat seinen Sitz in sich selber […]. Es ist – alles Sein, und außer ihm ist kein Sein […]. 4. Nun äußert sich dieses göttliche Leben, tritt heraus, erscheinet und stellet sich dar, als solches, als göttliches Leben: und diese seine Darstellung, oder sein Dasein und äußerliche Existenz ist die Welt«. (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 16) Halten wir hier zunächst einmal inne. Es scheint, als habe Fichte hier eine totale Wende vollzogen. Hatte er doch gerade noch, kaum vier Jahre vorher, in einem Brief vom Mai 1801 Schelling belehrt: »Es kann nicht von einem Seyn […], sondern es muß von einem Sehen 132 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichtes Neuansatz und die Kontroverse von 1806
ausgegangen werden.« (Briefwechsel F 126) Nun erfährt der Begriff Sein auch bei Fichte einen ähnlichen Wandel, wie ihn Schelling bereits im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799) ausgesprochen hatte: »Nun ist aber nach allgemeiner Uebereinstimmung die Natur selbst nichts anderes als der Inbegriff alles Seyns […]. Alles Einzelne (in der Natur) sey nur eine Form des Seyns selbst, das Seyn selbst aber = absoluter Thätigkeit.« (Schelling, Erster Entwurf, III: 13) Auch Fichte spricht jetzt vom Sein schlechthin, und er kennzeichnet dieses ausdrücklich als »lebendig und in sich tätig« und bekräftigt noch: »keineswegs aber ist es tot, stehend und innerlich ruhend« (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 16) wie die Objekte der Erkenntnis. Er drückt also mit dem Begriff des Seins und des Lebens schlechthin gerade das aus, was er früher im Brief an Schelling als »Sehen« umschrieb. Denn mit dem Sehen war ja keineswegs das sinnliche Sehen gemeint, sondern die »intellektuelle Anschauung«, die alle Erkenntnis tragende Tathandlung. Es ist frappierend, dass Fichte, der bisher unter Sein immer nur die Objekte der Erkenntnis verstand, nun plötzlich – genauso wie Schelling – vom absolut tätigen Sein spricht. Schelling hat also allen Grund zu frohlocken, hat er doch gerade im selben Jahr 1806 in seinen Aphorismen über die Naturphilosophie – dabei Sein und Existenz im gleichen Sinne gebrauchend – geschrieben: »Alle Einzelheit ist etwas durchaus Endliches, die Existenz aber […] an sich selbst unendlich […]. In allem einzelnen Wirklichen ist eben die Existenz selbst das Grundlose, Unendliche, allein aus sich selbst Faßliche«. (Schelling, VII: 200; 198) Und Schelling charakterisiert im Folgenden ausdrücklich die »Unbedingtheit und Unendlichkeit der Existenz« als tätiges »Sein« und »Leben«. So ist es verständlich, dass Schelling – natürlich nur um der Dramatik willen – zu Beginn seiner Replik Fichtes Kehre in der Bestimmung des Anfangs jubelnd begrüßt: »Wir im Gegentheil wollen mit aufrichtiger Freude die ersten Grundsätze hinnehmen, welche Fichte in der zweiten Vorlesung aufstellt. […] Wer sollte sich nicht des verschwundenen Gegensatzes freuen, in welchem das Seyn [bei Fichte früher] nur begriffen wurde als die reine Negation der Thätigkeit, nicht aber als das, was in sich selbst Thätigkeit ist«. (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 6) Doch diese Freude, die Schelling in seiner Replik dramatisch aufbaut, dient nur dazu, um gleich darauf von seiner Seite aus den unüberbrückbaren Abgrund zwischen Fichte und ihm herauszustellen, 133 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
den Fichte selbst in den unmittelbar folgenden Sätzen seiner Vorlesung Über des Wesen des Gelehrten ausspricht. Damit wir dieses Abgrundes in seiner ganzen gegenseitigen Schroffheit ansichtig werden können, müssen wir nochmals zu den Ausführungen Fichtes zurückkehren und dort weiterzitieren, wo wir vorhin abgebrochen haben. Wir hatten Fichte bis dahin zitiert, wo er davon spricht, dass sich das lautere göttliche Leben ins Dasein der Welt äußere und darstelle. Nun fährt Fichte fort: »5. Das göttliche Leben an sich ist eine durchaus in sich geschlossene Einheit, ohne alle Veränderlichkeit oder Wandel […]. In der Darstellung wird dasselbe, aus einem begreiflichen, nur hier nicht auseinanderzusetzenden Grund, ein ins unendliche sich fortentwickelndes und immer höher steigendes Leben in einem Zeitflusse, der kein Ende hat. […] Das Lebendige kann keineswegs dargestellt werden in dem Toten, denn diese beiden sind durchaus entgegengesetzt, und darum, so wie das Sein nur Leben ist, ebenso ist das wahre und eigentliche Dasein auch nur lebendig, und das Tote ist weder, noch ist es, im höheren Sinne des Wortes, da. Dieses lebendige Dasein in der Erscheinung nun nennen wir das menschliche Geschlecht. Also allein das menschliche Geschlecht ist da.« (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 17) Hiermit ist es ausgesprochen: »das Tote ist weder, noch ist es […] da«. Doch für alle, die dies überhört haben sollten oder nicht begriffen haben, dass sich dies auf die Natur bezieht, erläutert Fichte in seiner Vorlesung weiter, dass die Natur nur eine Schranke sei, der das menschliche Geschlecht – gemeint ist das menschliche Bewusstsein in seiner Allgemeinheit – bedarf, um sie »immer fort durch sein steigendes Leben durchbrechen« zu können (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 17) und – seine Hörer in Erlangen anredend – fährt Fichte fort: »Sie haben an dem soeben aufgestellten Begriff der Schranken […] den Begriff der objektiven und materiellen Welt; oder der sogenannten Natur. Diese ist nicht lebendig […], sondern tot, ein starres und in sich beschlossenes Dasein.« (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 18) Und wenige Sätze später appelliert er sodann an seine Hörer, sich nicht von Schellings Naturphilosophie irremachen zu lassen, denn diese vergöttere die Natur, und dies ist eine Vergötterung des Toten. Die Natur ist also für Fichte aus dem Sein und Leben ausgeschlossen, denn es gibt nur ein geistiges Sein und Leben, wie Fichte nun ausführlich erläutert. Die Natur ist jedoch nicht nur nichts Geistiges, sondern sie ist für sich selbst genommen überhaupt nichts, sie ist 134 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichtes Neuansatz und die Kontroverse von 1806
nur gesetzt als Schranke für das menschliche Bewusstsein, damit dieses über sie hinausstrebe, um zur Verwirklichung reinen geistigen Seins und Lebens zu gelangen. Schelling braucht in seiner Replik nichts aus Fichtes Sätzen heraus- oder in sie hineinzuinterpretieren, er braucht sie nur zu zitieren, sie sprechen für sich. Lakonisch fasst Schelling das Ergebnis zusammen: »Diese objektive Welt, welche Fichte im Sinn hat, ist also nicht einmal ein todtes; sie ist gar nichts, leeres Gespenst. Fichte möchte sie gerne vernichten, und doch zugleich auch erhalten, der moralischen Nutzanwendung zuliebe. Sie soll nur todt seyn, damit auf sie gewirkt werden kann«. (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 11) Doch dies ist nur das Vorgeplänkel zu den gegenseitigen Hauptattacken in ihren Schriften des Jahres 1806. Die härteste Polemik führt Fichte gegen Schelling in seiner Vorlesungsschrift Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in der Fichte das gegenwärtige Zeitalter als das »Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« deutet, das jedoch eine unüberspringbar notwendige Durchgangsepoche innerhalb der Menschheitsgeschichte darstellt und die daher von uns zu überwinden ist. 7 Denn in ihr vollzieht sich die Befreiung der Menschen aus aller überkommenen Autoritätsgläubigkeit, die die unabdingbare Vorbedingung dafür ist, dass die Menschen aus freier Einsicht zu einer vernünftigen und sittlichen Gestaltung ihrer Geschichte finden. In diesem Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit vollzieht sich einerseits die Befreiung von allen tradierten Fremdbestimmungen, Dogmatismen und Herrschaftsformen, aber in ihr blüht daher auch die »leere Freiheit«, die »nackte Individualität« und der rücksichtslose Egoismus auf, die sich in allen Bereichen menschlichen Lebens einnisten und sie zersetzen. Aber sie ist damit auch die notwendige Voraussetzung zu einer künftigen Epoche solidarischer Freiheit für eine vernünftige und sittliche Gesellschafts- und Geschichtsgestaltung. Auf das Problem der Naturerkenntnis und Naturbeherrschung bezogen, kennzeichnet Fichte das gegenwärtige Zeitalter einerseits als den krassesten positivistischen Empirismus und Rationalismus, der – eben erst den dogmatisch gesetzten sogenannten ewigen Vernunftwahrheiten des Glaubens entronnen – nun aller Vernunft entsagt Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ist eine der großartigsten geschichtsphilosophisch motivierten kritischen Analysen der auch heute noch bestehenden gegenwärtigen Epoche, die es verdient, immer neben oder gar vermittelnd zwischen der Geschichtsphilosophie von Hegel und Marx genannt zu werden.
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Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
und nur noch gelten lässt, was die eigenen Sinne zu fassen vermögen: »Was ich durch den unmittelbar mir beiwohnenden Begriff nicht begreife, das ist nicht, sagt die leere Freiheit« des Rationalismus. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, V: 416) Andererseits ist das gegenwärtige Zeitalter als ein extrem utilitaristischer Egoismus und Pragmatismus zu kennzeichnen: »[D]ie ganze Welt ist eigentlich nur darum da, damit Ich dasein und wohlsein könne. Wovon ich nicht begreife, wie es sich auf diesen Zweck beziehe, das […] geht mich nichts an.« (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, V: 421) Diese theoretische und praktische Selbstbezogenheit auf die nackte Individualität »ist der größte Irrtum und der wahre Grund aller übrigen Irrtümer, welche mit diesem Zeitalter ihr Spiel treiben«. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, V: 417) Diese »persönliche Selbstliebe« ist – darin sieht Fichte den wahren Kern des Übels – mit der Natur des Menschen »innigst verwachsen und unaustilgbar in sie verwebt«. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, V: 430) Aber der wahre »Zweck des Erdenlebens«, an dem sich das gegenwärtige Zeitalter noch nicht zu orientieren vermag, liegt nicht im Absolutsetzen der individuellen Natur, wie es gegenwärtig in den Wissenschaften, in den politischen Kämpfen und dem allgemeinen Atheismus zum Ausdruck kommt, sondern in »der menschlichen Gattung: alle [ihre] Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten«. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, V: 458) Und erst dort, wo das Individuum sein Streben in die Erfüllung dieser gemeinsamen menschlichen Aufgabe stellt, kann es zum »seligen Leben« vordringen. Vor diesen Gesamthintergrund äußert sich Fichte nun in der achten Vorlesung auch zur Naturphilosophie. Er spricht sehr allgemein von der Naturphilosophie und bezieht hierin sicherlich auch den Kreis der Romantiker und alle Strömungen der Mystik und der Kabbala mit ein, zentral aber zielt seine Polemik gegen Schelling, und gerade dieses unspezifische Ineinander macht seine Ausführungen so persönlich verletzend. Zwar gesteht Fichte am Anfang seiner Ausführungen ein, dass auch die Naturphilosophie an dem gegenwärtigen Zeitalter vollendeter Sündhaftigkeit – dem Empirismus und Utilitarismus – leidet und aus ihm herauszukommen versucht, aber sie schlägt den verkehrten Weg ein: Anstatt durch Vernunft und Sittlichkeit an der praktischen Überwindung der vollendeten Sündhaftigkeit zu arbeiten, wendet sie sich auf die Natur zurück und treibt dadurch – ohne es zu wissen und zu wollen – in die Sündhaftigkeit, d. h. in die Naturgebundenheit nur 136 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichtes Neuansatz und die Kontroverse von 1806
umso tiefer hinein. Gerade diese Verkehrung macht ihre Schwärmerei aus: »Da dieses Denken der Schwärmerei denkende Naturkraft ist, so geht es wieder zurück auf die Natur, hängt sich an den Boden derselben, und bestrebt eine Wirksamkeit in ihr; mit einem Wort: alle Schwärmerei ist und wird notwendig Natur-Philosophie.« (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, IV: 512) Anstatt die gegenwärtigen empirisch-rationalistischen Wissenschaften durch eine an der Wissenschaftslehre orientierte vernünftige Aufklärung aus ihrer blinden und engen Selbstbezogenheit und Naturontologie zu befreien, überspringt die naturphilosophische Schwärmerei alle Empirie und betreibt eine eigentümliche Begriffszauberei: »Also – die Schwärmerei [… erkennt man daran], daß sie immer Natur-Philosophie ist, d. h. daß sie gewisse innere, weiterhin unbegreifliche Eigenschaften in den Gründen der Natur zu erforschen strebt, oder erforscht zu haben glaubt, durch deren Gebrauch sie über den ordentlichen Lauf der Natur [die vom Verstand aufgewiesenen Kausalgesetze] hinausgehende Wirkungen hervorzubringen sucht.« (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, IV: 515) Und anstatt sich freizumachen vom Individualismus des gegenwärtigen Zeitalters, versinkt der naturphilosophische Schwärmer immer tiefer in diesem, da für ihn das Denken selbst zu einer blinden Naturkraft wird. Der Schwärmer lässt sich durch blinde »Einfälle« treiben, die ihm so »von Zeit zu Zeit durch den Kopf […] fahren, ohne daß er ihr eigentliches Princip entdeckt, oder einen entscheidenden Entschluß über ihre Annahme […] faßt«. (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, IV: 512) Schließlich unterscheidet sich die naturphilosophische Schwärmerei von der »echten Spekulation« der Vernunftwissenschaft dadurch, »daß sie niemals Moral oder Religions-Philosophie ist, welche beide sie vielmehr in ihrer wahren Gestalt inniglich hasset: (was sie Religion nennt, ist allemal eine Vergötterung der Natur)«. (Fichte, Gegenwärtige Zeitalter, IV: 515) Nun gibt es für Fichte aber ein »unfehlbares Kriterium« an dem das gebildete Publikum die wahre Vernunftwissenschaft von der naturphilosophischen Schwärmerei unterscheiden kann, nämlich »ob das Vorgetragene auf das Handeln sich beziehe und davon rede, oder ob auf eine stehende und ruhende Beschaffenheit der Dinge« (Fichte, Gegenwärtiges Zeitalter, IV: 514), denn die Vernunftwissenschaft spricht von der Natur immer nur in Bezug auf das menschliche Handeln, niemals aber von der Natur als etwas für sich Seiendes, denn eine solche Natur gibt es nicht. 137 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
Schelling geht in seiner Gegenpolemik Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806) überhaupt nicht auf das große geschichtsphilosophische Gemälde ein, das Fichte vom gegenwärtigen Zeitalter entwirft, sondern versucht nur den Kern der Gegensätze zwischen Fichte und ihm herauszuarbeiten. Daher ist seine Gegendarstellung thematisch viel enger, seine Polemik aber nicht so diffus wie die Fichtes, sondern sehr präzise auf den Punkt gebracht. Ohne das gegenwärtige Zeitalter selber zu kennzeichnen, dreht Schelling gleichsam den Spieß um und zeigt auf, dass Fichte der eigentliche Wortführer dieses Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit ist. »Wir hatten ihm nachgewiesen, daß er das eigentliche Princip der Sünde, die Ichheit, zum Princip der Philosophie gemacht […]; nun erklärt er eben dieses Zeitalter für das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit.« (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 26) Gerade das, was Fichte als das Charakteristische des gegenwärtigen Zeitalters herausstellt, nämlich die totale theoretische und praktische Selbstbezogenheit der »nackten Individualität« des Menschen, hat Fichte selber seit jeher als Prinzip seiner Philosophie gegenüber der Natur postuliert. Und auch jetzt spricht er dies in seinen neuesten Schriften aus – allerdings nicht auf den einzelnen Menschen, sondern auf das ganze menschliche Geschlecht bezogen. Sagt Fichte nicht selbst: »Also allein das menschliche Geschlecht ist da«, die Natur »ist nicht lebendig […], sondern tot« (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 17), und führte er nicht weiter aus, dass das menschliche Geschlecht »der objektiven und materiellen Welt« nur bedürfe, damit »die Naturkräfte den menschlichen Zwecken unterworfen werden«? (Fichte, Wesen des Gelehrten, V: 25; Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 8; 10; 17 f.) Für Fichte war – wie Schelling herausstellt – die Natur als Gegenstand der Erkenntnis immer nur ein »völliges Nichts von Realität«, »eine von der empirischen Subjektivität erzeugte, völlig willkürliche Vorstellung«. (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 108; 80) Aber diesen Gedanken kann Fichte nicht durchhalten, denn er bedarf selbst für die Naturerkenntnis eines kräftigen Anstoßes, den er gar nicht verleugnen kann: »Die Natur stößt ihn, drückt ihn, sie sticht ihn nicht bloß in die Ferse, sondern bedroht allerwärts und beständig sein ganzes Leben. […] Solches vergilt er ihr dann aber nach seiner Weise« mit »Haß«, »Ingrimm« und mit »höchster Abscheu«. (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 112) Er vergilt ihr dies vor allem dadurch, 138 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichtes Neuansatz und die Kontroverse von 1806
daß er sie ganz seinen »menschlichen Zwecksetzungen« und seiner »Nützlichkeit« unterwirft. Seine »Meinung von der Natur« ist die, »daß die Natur gebraucht, benutzt werden soll, und daß sie zu nichts weiter da ist, als gebraucht zu werden«. Ist es also nicht gerade Fichte, der – nun auf das menschliche Geschlecht im Ganzen bezogen – erneut »das finstere Götzenbild der Subjektivität und einer schnöden Moral wieder auf den Thron« hebt? (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 105; 17; 27) Wenn Fichte zu Beginn seiner Anweisung zum seligen Leben (1806), allerdings allein auf das geistige Leben bezogen, sagt: »Nicht im Sein an und für sich liegt der Tod, sondern im ertötenden Blicke des toten Beschauers« (Fichte, Seliges Leben, V: 116), so hat er im Grunde das Urteil über seine Philosophie selbst ausgesprochen, denn die Einstellung seiner Wissenschaftslehre ist es, die die Lebendigkeit des Seins tötet: »Wenn das an sich lebendige Seyn nur durch den todten Blick des todten Beschauers in Tod verkehrt wird, so ist ja das absolute Ich der Grund alles Todes und selbst todt; es ist dann das wahre böse Princip im Universum, der Gott dieser Welt, aber nicht der wahre Gott; […] so ist das absolute Bewußtseyn das wahre Princip der Irreligion, alles Argen und Ungöttlichen im Menschen.« (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 87 f.) In der Selbstermächtigung des Menschen, das einzig wahrhaft lebendige Dasein zu sein, wie sie Fichte auf das nach Sittlichkeit strebende Menschengeschlecht bezogen ausspricht, offenbart sich nach Schelling gerade das Widergöttliche dieser Lehre, denn sie leugnet die lebendige Natur und die unaufgebbare Einbezogenheit des Menschen in diese. Die letzte Konsequenz, die sich aus einer solchen Absolutsetzung des menschlichen Selbstbezuges bei gleichzeitiger Verleugnung jeglichen Bezuges zur Natur ergibt, muss die Selbstzerstörung der Menschheit sein, wie Schelling dies in seinen drei Jahre später erschienenen Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) dramatisch ausspricht: »Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es creatürlich zu werden strebt, eben in dem es das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt.« (Schelling, Freiheit, VII: 390 f.) Demgegenüber unterstreicht Schelling, dass sich der Mensch 139 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
nur dann in seiner wirklichen Freiheit begreifen könne, wenn er sich in eine kreatürliche Welt gestellt und im letzten für diese auch verantwortlich weiß. Nur dann vermag er sich in seiner menschlichen Kreatürlichkeit zu erfassen und zu bewähren, wenn er sich aus dem und im Kontext der Kreatürlichkeit der Natur begreift. Die wirkliche Kreatürlichkeit der Natur wird jedoch niemals durch objektive, kausalgesetzliche Naturerklärungen erfasst, denn in solcher Verstandeserkenntnis erscheint die Natur immer als ein lebloser Mechanismus, deren einziger Zusammenhalt allein im Erkenntnissubjekt liegt, sondern sie kann nur durch eine Naturphilosophie begründet und begriffen werden, die zur höchsten Anschauung der Natur als lebendiger Wirklichkeit zurückschreitet: »Wir gehen also mit der Idee der Naturphilosophie […] bis zu der Anschauung in der Wirklichkeit und bis zu dem gänzlichen Zusammenfallen der von uns erkannten Welt mit der Naturwelt. Nur in dem Punkt nämlich, wo das Ideale uns selbst ganz auch das Wirkliche […] geworden ist, […] liegt die letzte […] Versöhnung der Erkenntniß, wie die Erfüllung der sittlichen Forderungen allein dadurch erreicht wird, daß sie uns […] zur Natur unserer Seele und in ihr wirklich geworden sind.« (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 31 f.)
4.4 Fichtes ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums‹ 8 All diese Problemerörterungen Schellings zu einer aus sich selbst bestimmten Natur sind Fichte nicht nur ein Gräuel, sondern schlechthin unverschämte Gottesleugnungen, denn für ihn ist die Natur das dem Ich entgegenstehendes Nicht-Ich, dem theoretisch betrachtet als Naturwissen keine eigenständige Realität zukommt und das praktisch gesehen eine zu überwindende Schranke für den freien Willen darstellt. Dagegen polemisiert Schelling in seiner Fichte-Replik Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichteschen Lehre (1806): »Was er [Fichte] Natur nennt, ist
8 Die Anspielung des Titels bezieht sich auf Hermann Cohen, Philosophie der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919), da es beiden Denkern im Anschluss an Kant, jedoch mit unterschiedlichen konfessionellen Rückbindungen, um die Konstitution einer Religion der Vernunft geht. Zu Hermann Cohen siehe das Kapitel 15: »Mit Gott im Gespräch – Zu Cohen, Buber und Rosenzweig«.
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Fichtes ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums‹
uns nichts […]. Was dagegen wir Natur nennen, ist ihm freilich auch nichts […]. Hr. Fichte leugnet im eigentlichsten Sinne die Dinge an sich, nämlich er leugnet, daß das An-sich das Wirkliche sey […]. Wir leugnen nicht unmittelbar seine Theorie; wir leugnen das Faktum seiner Erscheinungswelt; es gibt gar keine solche Erscheinungswelt, als er annimmt, außer für eine verdorbene Reflexion.« (Schelling, Wahres Verhältnis, VII: 97) Die Natur theoretisch als Nicht-Ich zu bestimmen, der keine Realität zukomme, ist eine solche verdorbene Reflexion. Bereits seit seiner Kritik der Offenbarung (1792) ist es Fichte um die »Religion der Vernunft« gegangen, wie er sie aus Kants drei Kritiken noch vor Erscheinen der Religion innerhalb der bloßen Vernunft (1793) entnommen und systematisch zusammengefasst hat. Durch diese von Kant gelobte Schrift, wurde Fichte als Philosoph bekannt. Aber es bestanden natürlich damals bereits entscheidende Abweichungen, die vielleicht am besten aus einem Zitat aus Fichtes Anweisung zum seligen Leben (1806) hervorgeht, das zunächst die Gemeinsamkeit mit Kants Religionsverständnis ausdrückt, aber im letzten Satz eine Konsequenz zieht, der Kant niemals zugestimmt hätte: »Nicht darin besteht die Religion, worin die gemeine Denkart sie setzt, daß man glaube […]. Sondern, darin besteht die Religion, daß man, in seiner eigenen Person, und nicht in einer fremden, mit seinem eigenen geistigen Auge, und nicht durch ein fremdes, Gott unmittelbar anschaue, habe, und besitze. […] Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein; und umgekehrt, das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit, ist nichts anderes, denn das reine Denken.« (Fichte, Seliges Leben, V: 130 f.) Für Fichte ist seit 1805 die Religionslehre nicht nur ein Teil der Wissenschaftslehre, also der Philosophie, sondern diese gipfelt geradezu in der Religionslehre, insofern sich in ihr die gesamte Argumentation der Wissenschaftslehre nochmals in ihren Ursprung zurückwendet, nun nicht mehr nach den Erkenntnismöglichkeiten der Welt und den Zwecksetzungen in der Welt fragend, sondern nach dem unmittelbaren Bezug des Einzelnen zum Absoluten. In der Religionslehre gelangt das Bewusstsein zur Einsicht, dass Gott das absolute Sein ist, wobei Sein für Fichte immer »geistiges Sein« oder Wissen meint. Dieses allein ist »schlechthin durch sich selbst, von sich und aus sich selbst« (Fichte, Seliges Leben, V: 150) und außer ihm ist nichts. Gott aber ist nicht nur, sondern er ist auch da, d. h. er offenbart 141 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
sich im menschlichen Bewusstsein; ja in seinem wahren Dasein ist das Bewusstsein selbst nichts anderes als »göttliches Dasein«, »Offenbarung«, »geistiges Licht«. »Es ist, außer Gott, gar nichts wahrhaftig, und in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, da, denn – das Wissen: und dieses Wissen ist das göttliche Dasein selber, schlechthin und unmittelbar, und inwiefern Wir das Wissen sind, sind wir selber in unserer tiefsten Wurzel das göttliche Dasein.« (Fichte, Seliges Leben, V: 160) Nun ist das Dasein und Bewusstsein – das wir selbst sind – nur im Hinblick auf das absolut geistige Sein Gottes mit diesem eins, je für sich ist es eines unter vielen Bewusstseinen in einer Welt der Erscheinungen, an der es sich – sie erkennend und sie gestaltend – abzuarbeiten hat. Aber diese natürliche Welt ist nicht eigentlich da, sondern sie steht unserem göttlichen Dasein als ein bloßer Begriff gegenüber, ein an sich Totes, Abzusterbendes und zu Überwindendes. »Jenes stehende Vorhandensein ist der Charakter desjenigen, was wir die Welt nennen; der Begriff daher ist der eigentliche Weltschöpfer […], und nur für den Begriff, und im Begriffe ist eine Welt, als die notwendige Erscheinung des Lebens im Begriffe; jenseits des Begriffes aber, d. h. wahrhaftig und an sich, ist nichts, und wird in alle Ewigkeit nichts, denn der lebendige Gott in seiner Lebendigkeit.« (Fichte, Seliges Leben, V: 166) Aus dieser Doppeltbestimmtheit unseres Daseins und Soseins, zum einen in Bezug auf das Absolute und zum andern zur Welt, ergibt sich die Forderung und der Auftrag an uns, an der geschichtlichen Durchsetzung einer »wahren und höheren Sittlichkeit« zu arbeiten. Hierbei geht es um »ein das neue, und schlechthin nicht vorhandene, innerhalb des vorhandenen, erschaffendes Gesetz […]: es will die Menschheit, in dem, von ihm Ergriffenen, und, durch ihn, in andern, in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie, ihrer Bestimmung nach, ist, – zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung – des innern göttlichen Wesens.« (Fichte, Seliges Leben, V: 181) Dazu soll sich der Mensch aus der Fesselung an die Welt, dem Getriebensein von der Welt befreien und ganz aus der geistigen Einheit mit Gott leben und wirken. »Wirkliche und wahre Religiosität ist nicht lediglich betrachtend, und beschauend, nicht bloß brütend über andächtigen Gedanken, sondern sie ist notwendig tätig. Sie besteht […] in dem innigen Bewußtseyn, daß Gott in uns wirklich lebe, und tätig sei, und sein Werk vollziehe.« (Fichte, Seliges Leben, V: 185) Diese Einsicht stimmt – wie Fichte in der sechsten Vorlesung Der 142 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Fichtes ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums‹
Anweisung zum seligen Leben ausführt – ganz mit der christlichen Lehre überein, wie sie das Johannesevangelium von Jesus von Nazareth überliefert hat. Jesus von Nazareth hat »die Einsicht, in die absolute Einheit des menschlichen Daseins mit dem göttlichen«, schlechthin von und durch sich, durch sein bloßes Dasein »offenbar gehabt« und es daher offenbar gemacht. (Fichte, Seliges Leben, V: 195) In diesem Sinne spricht Jesus in Johannes 5, 30: »Ich und der Vater sind Eins.« Aber er spricht dies nicht allein auf sich bezogen aus, sondern als Anmutung für alle Menschen. Darin liegt der Auftrag der Nachfolge, die Jesus lehrt (Johannes 11, 25): »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.« (zit. n. Fichte, Seliges Leben, V: 199 f.) Selbstverständlich ist damit – so führt Fichte aus – nicht der physische Tod gemeint und es wird auch nicht von einem Reich nach dem physischen Tode gesprochen, sondern vom Absterben des Getriebenseins in der uns alltäglich beherrschenden Welt. Das Reich Gottes, das da kommen soll, und sich durch unsere Umkehr hier und jetzt bereits ereignet, wird errichtet aus der freien Ausgerichtetheit unseres Denkens und Handelns auf die gelebte Verwirklichung eines göttlichen Reichs der Liebe. »Die Liebe daher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunft, und die Wurzel der Realität, und die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit«. (Fichte, Seliges Leben, V: 253 f.) Ungefähr bis hierher – so können wir sehr grob zusammenfassend sagen – gelangt Fichte in Der Anweisung zum seligen Leben von 1806. In der Vorlesung zur Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche (1813) geht er noch darüber hinaus, indem er nicht mehr nur die Übereinstimmung von Wissenschaftslehre und Christentum herausstellt, sondern nun auch durch geschichtsphilosophische Argumentationen aufzuzeigen versucht, dass die Wissenschaftslehre das Christentum voraussetzen muss, die gleichzeitig aber auch die notwendige Begründung des Christentums zu leisten habe, so dass somit beide gemeinsam sich als Religion der Vernunft und der Freiheit erweisen. Um dieses Problem lösen zu können, müssen wir uns zunächst mit Fichte auf eine »Deduktion des Gegenstandes der Menschheitsgeschichte« (Fichte, Staatslehre, VI: 507) einlassen, die über das hinausgeht, was Fichte vorher in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1806) als Geschichtsphilosophie entworfen hat. 143 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
Das Problem, das Fichte über seine bisherige Geschichtsphilosophie hinaus nun stellt, ist die Frage, wie die Gewissheit in die Geschichte kommt, dass jeder von uns in seiner Person in der Einheit mit Gott leben kann und leben soll und dass daraus uns allen der Auftrag erwächst, mit allen anderen Menschen zusammen an der Verwirklichung des Reichs Gottes auf Erden zu arbeiten. »Das Menschengeschlecht soll mit eigener Freiheit, ausgehend von einem entgegengesetzten Zustande und diesen vernichtend, sich erbauen zu einem Reiche Gottes, zu einer Welt, in der Gott allein Prinzip sei aller Tätigkeit, und nichts außer ihm, indem alle menschliche Freiheit aufgegangen ist, und hingegeben an ihn.« (Fichte, Staatslehre, VI: 579) Alle Versuche – so führt Fichte aus – diese geschichtliche Gewissheit aus der Vernunft deduzieren zu wollen, enden in einen Zirkel der Begründung, denn hier wird eine Gewissheit der Einheit des Menschen mit Gott als Ursprung und Ziel zugleich gefordert, wie sie weder dem Menschsein uranfänglich zugrunde liegt, noch aus der Vernunft für sich ableitbar ist. Diese Einsicht in die Einheit von Mensch und Gott und in die Freiheit, aus ihr wirken zu sollen, muss also einmal in die Geschichte eingetreten sein, um danach als notwendig begriffen und ergriffen werden zu können. »Also die Freiheit setzt voraus das Bild, und das Bild setzt voraus die Freiheit. Dieser Zirkel löst sich nur so, daß das Bild einmal Sache, Realität sei, schlechthin ursprünglich und grundanfangend in einer Person sich verwirkliche. Dies nun bei Jesus.« (Fichte, Staatslehre, VI: 579 f.) Jesus von Nazareth lebte ganz aus sich selbst heraus die Einheit mit Gott. Er hatte dies nicht von anderen aus der Tradition gelernt, denn von dieser göttlichen Einheit gab es vorher kein Wissen, und er hat es auch nicht spekulativ aus der Vernunft, denn er spricht und vollzieht die Einheit seines Daseins aus dem Sein Gottes ganz unmittelbar. Dass es ein solches erstes Mal des In-Erscheinung-Tretens der Einheit von Mensch und Gott in der Geschichte geben musste, lässt sich nach Fichte geschichtsnotwendig begründen. Und es konnte sich dies auch nur ein einziges Mal ereignen, denn alle weiteren Berufungen auf diese Einheit von menschlichem und göttlichen Geist und dem daraus erfolgenden Auftrag der Nachfolge und der Errichtung eines Reich Gottes auf Erden setzen bereits dieses geschichtliche Hervortreten unabdingbar voraus. 9 Genau hiergegen haben sich Kant und Schleiermacher, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten ausdrücklich verwahrt. Siehe die vorhergehenden Kapitel 1 und 2.
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Fichtes ›Religion der Vernunft aus den Quellen des Christentums‹
»Er [Jesus] war berufen durch Gott. […] Daß alle Menschen Bürger werden könnten und sollten, war nur dadurch wahr, daß Gott es durch Jesus versprechen ließ […]. Jesus [ist] darum der erste Bürger des Reiches […]. Dieses […] ist nun eine ewig gültige historische Wahrheit für jeden, bis an das Ende der Tage, der jene Erscheinung als Faktum erfassen […] wird. Er [jeder Nachfolgende] wird auf einen einst vorhanden gewesenen Christus stoßen, auf einen eingeborenen Sohn Gottes, einen Menschen, den Gott unmittelbar zu seinem Werkzeuge gemacht, um durch ihn alle einzuladen, sich selbst mit Freiheit, durch freie Hingebung, dazu zu machen. Wahr darum ist, daß es notwendig einen Sohn Gottes gibt. […] Alle nachfolgende Entwicklung der Freiheit hat sich gegründet und ist bedingt gewesen durch das Vorhandensein jenes Evangelii«. (Fichte, Staatslehre, VI: 580 f.) Auch die Wissenschaftslehre – so betont Fichte nun – muss »einen Jesus in der Zeit voraussetz[en]« (Fichte, Staatslehre, VI: 577), um die »höhere Sittlichkeit« der Liebe als geschichtliche Möglichkeit und geschichtlichen Auftrag der Menschheitsgeschichte, in die wir alle gestellt sind, begreiflich zu machen. Jesus ist der »terminus a quo« der Freiheitsgeschichte der Menschheit, die mit dem Christentum anhebt, aber den vollen Sinn dieser Freiheitsgeschichte vermag erst die Wissenschaftslehre, d. h. die Philosophie verstehbar zu machen, sie ist daher der »terminus ad quem« des Bewusstwerdens des Wegs zur Erfüllung des Reichs Gottes auf Erden. »Zuvörderst muß die Anerkennung des Himmelreichs unabhängig gemacht werden vom historischen Glauben und der besonderen Gemütsverwandtschaft einzelner dazu, und die Form annehmen eines von jedermann, der nur menschlichen Verstand hat, zu Erzwingenden. Diese Bedingung ist wirklich erfüllt durch die Erscheinung der Wissenschaftslehre, die freilich noch ringt, und vielleicht noch Jahrhunderte ringen wird um ihr Verständnis und ihre Anerkenntnis unter den Gelehrten. Untergehen können ihre in der Welt begonnenen Anfänge nicht, denn sie ist eine absolute Forderung des Geschlechts durch Gott und aus Gott; sie muß aber die Beziehung nehmen auf das Reich Gottes, und ausdrücklich dies als ihren Grundpunkt aussprechen, denn nur so nimmt sie in sich auf eine lebendige Kraft, und erhebt sich über die Leerheit an praktischer Wirksamkeit, die der bloßen Spekulation beiwohnt.« (Fichte, Staatslehre, VI: 615)
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Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
4.5 Nachbemerkungen Der Hauptdifferenz zwischen Fichte und Schelling liegt in ihrem unterschiedlichen Verständnis der Natur. Für Fichte ist die Natur nur das durch das Bewusstsein konstituierte Erkenntniswissen von der Natur, und darüber hinaus kann es keine weitere Thematisierung der Natur, keine Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit an sich (Kants »Ding an sich«) geben. Insofern ist die Natur nur das dem Ich entgegengesetzte Nicht-Ich, dem keine eigene Realität zukommt. Demgegenüber thematisiert der junge Schelling schon innerhalb des Systems des transzendentalen Idealismus (1800) die Natur völlig anders. Er fragt nach den Bedingungen, die dem Bewusstsein die Konstitution eines Wissens der daseienden Natur ermöglichen, der wir daseinend mitangehören. Schelling bedenkt also die Konstitutionsbedingungen unserer Naturerfahrung. Von dieser transzendentalphilosophischen Thematisierung der Konstitution der Naturerfahrung vermag es Schelling darüber hinaus, zu einer vernunftphilosophischen Thematisierung »der wirklichen, der seyenden Natur« aus sich selbst (Schelling, VII: 30) 10 überzugehen, der wir als Naturwesen mit angehören. Eine Problemstellung, die Kant innerhalb der Kritik der Urteilskraft zwar aufwirft, aber nicht befriedigend mit seinem Projekt der Kritik der Vernunft durch die Vernunft in Einklang zu bringen vermag – und die Fichte sich total zu denken verbietet. Aus diesem Projekt einer Naturphilosophie – oder besser: einer uns selbst mitumfassenden vernunftwissenschaftlichen Wirklichkeitsphilosophie –, das Schelling ab 1801 als sein nun eigentliches Anliegen verfolgt, erwächst der unversöhnliche Streit zwischen Fichte und Schelling, der zunächst in Briefen und dann ab 1804 in Vorlesungen und Veröffentlichungen ausgetragen wird. Er gipfelt in der religionsphilosophischen Pointierung ihrer Denkansätze und der gegenseitigen Verdammung der Religionsphilosophie des je anderen als »vollendete Sündhaftigkeit«. Schelling ist der erste, der mit seiner Schrift Philosophie und Religion (1804) die Kontroverse mit Fichte öffentlich macht und dies zugleich bis in die Dimension des Religiösen ausweitet. Er unterstreicht dabei – hier nur sehr schematisch zusammengefasst –, dass Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996).
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Nachbemerkungen
Gott als absolute Einheit von Wirklichkeit und Vernunft einerseits das existierende Band ist, das alles Existierende der Natur umfasst, und andererseits das begreifende Band der Vernunft, das alles erkennend zu sich aufhebt. »Gott ist die absolute Affirmation von sich selbst, dieß ist die einzig wahre Idee Gottes […]. Jene Form der absoluten Affirmation seiner selbst durch sich selbst, die das Wesen des Absoluten selbst ist, […] wiederholt sich in der Vernunft, und sie ist das Licht in dem wir das Absolute begreifen, […] so ist die Idee Gottes in der geistigen Welt die erste Affirmation aller Realität«. (Schelling, Gesamte Philosophie, VI: 148, 154 f.) Der Mensch – gemeint ist das Kollektivsubjekt der Menschheit –, ist das einzige Wesen, das in die besondere Position der Freiheit gestellt ist, die Wirklichkeit und sich in ihr zu erkennen und durch sein Handeln mitzugestalten. Diese Freiheit impliziert nicht nur, dass der Mensch die Möglichkeit hat, sich in den göttlichen Universalwillen begreifend und handelnd einzubringen, sondern auch die Möglichkeit – ja sogar den Hang dazu – sich gegen den göttlichen Universalwillen zu stellen. Dies geschieht überall dort, wo der Mensch seinen Eigenwillen über den göttlichen Universalwillen stellt. Diesen »Abfall von Gott« legitimiert Fichte – so der Vorwurf Schellings – durch seine Philosophie, in der die Natur theoretisch nur Erkenntnisobjekt und praktisch nur Mittel zu ihrer Überwindung ist. Dies ist der Sündenfall der Selbstermächtigung des menschlichen Verstandes als vermeintlicher »Herr des Seins«. Aber im letzten richtet sich der Mensch damit nur selbst zu Grunde. »So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn, […] übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden […]. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Bande der Cratürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt.« (Schelling, Freiheit, VII: 390 f.) Fichtes Gegenvorwurf, den er in Vorlesungen zwischen 1804 bis 1806 in Berlin und Erlangen vorträgt, richtet sich gerade dagegen, dass Schelling die Natur in das Absolute Gottes mit einbezieht. Für Fichte ist Gott die absolute Geistigkeit, die er in späteren Jahren nicht mehr als absolutes Ich bezeichnet, sondern mit Sein, Leben und Tätigkeit umschreibt, worunter er aber immer nur das geistige Sein, das geistige Leben und das geistige Tätigsein meint. Gott gegenüber ist die Natur das absolut entgegengesetzte Nicht-Ich, das nicht für sich 147 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling und Fichte – Das Absolute der Natur oder das absolute des Wissens
Seiende, das Tote und Nichtige. Der Mensch aber ist geistiges Dasein, das sich aus der Natur als die ihn hemmende »Schranke« zu befreien hat, einerseits durch die wissende Durchdringung und Beherrschung der Natur und anderseits durch die sittliche Überwindung aller Hemmungen und Bindungen an die Natur auf ein künftiges absolutes Reich der Freiheit hin. Diesen Weg skizziert Fichte in seiner letzten Vorlesung 1813, die 1820 posthum unter dem Titel Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche herausgegeben wurde: »Nur Gott ist. Außer ihm nur seine Erscheinung. – In der Erscheinung nur das einzige wahrhaft Reale die Freiheit, – in ihrer absoluten Form, im Bewußtsein; also als eine Freiheit von Ichen. […] Nur durch die Freiheit ist er Glied der wahren Welt, ist er durchgebrochen zum Sein. Die Freiheit des Geistigen ist […] frei von der Natur; soll nicht selbst Antrieb, vielmehr völlig unterworfen sein jedem Zweckbegriffe, den man sich in ihr setzen kann, d. h. den das sittliche Gesetz setzt.« (Fichte, Staatslehre, VI: 479) Dass Gott nur geistiges Sein ist und nur das menschliche Bewusstsein geistiges Dasein ist und dass die Natur von beiden ausgeschlossen ist, unterstreicht Fichte einige Seiten weiter ausführlich: »Nach uns […] endet die bloße Natur – das Begriffene, nicht Begreifende, Angeschaute, nicht Anschauende – und ist abgeschlossen […]. Die Natur ist Tod und Ruhe: die Freiheit erst muß sie wieder beleben und anregen« durch ihre zwecksetzende Nutzung. (Fichte, Staatslehre, VI: 508) Von hierher ist Fichtes Vorliebe für das Johannes-Evangelium und dessen philosophische Deutung von Jesu Sohnschaft Gottes verständlich. Der Logos, der von Ewigkeit bei Gott ist und der auch den Menschen von Anbeginn als Möglichkeit des Bewusstseins und der Freiheit gegeben ist, erfasste Jesus »irgend einmal, in einem bestimmten Zeitpunkte in Jesu Leben« in seiner ganzen göttlichen Kraft, so »daß ihm klar einleuchtete, […] das Himmelreich in dem erklärten Sinne des Wortes, zu stiften.« (Fichte, Staatslehre, VI: 578) In der Einsicht, ein »göttliches Reich« der Liebe zu errichten, und durch seinen Einsatz dafür bis in den Tod wird Jesus zu Gottes Sohn, zum »erster Bürger des Reiches« (Fichte, Staatslehre, VI: 580) und zu Christus für alle, die ihm in der Erfüllung des Liebesgebots nachstreben. »In dieser Liebe ist das Sein und das Dasein, ist Gott und der Mensch Eins […]. Die Liebe ist die Quelle aller Gewißheit, und aller Wahrheit, und aller Realität.« (Fichte, Seliges Leben, V: 252 f.) Diese letzte Bezugnahme Fichtes auf die Liebe als das höchste 148 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
verknüpfende Band, das Gott und die Menschen sowie die Menschen untereinander verbindet, findet sich in ganz ähnlichen Formulierungen auch bei Schelling und Hegel, aber der philosophische Begründungszusammenhang, aus dem er jeweils erwächst, trennt sie abgrundtief. Hier bei Fichte bleibt die Natur aus dieser Liebe grundsätzlich ausgeschlossen.
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5. Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie« 1
5.1 Hegels Eintritt in die Philosophie Hegel schließt sich Schellings Weg zum philosophischen System an, als er Anfang 1801 nach Jena zieht. Bereits in seiner ersten philosophischen Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801), die er vorlegt, um sich 1801 in Jena habilitieren zu können, thematisiert Hegel die gerade erst aufgebrochene Kontroverse zwischen Fichte und Schelling und wirft sich für seinen Jugendfreund Schelling ins Zeug, gemeinsam experimentieren sie in den ersten drei Jahren des 19. Jahrhunderts an Entwürfen zu einem absoluten System der Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit. Auch geben sie in den Jahren 1802/03 zusammen das Kritische Journal der Philosophie heraus, dabei so sehr von ihrem gemeinsamen Anliegen überzeugt, dass sie es nicht für nötig halten, ihre Beiträge namentlich zu zeichnen. Sie bleiben auch in brieflichem Kontakt, als Schelling 1803 einen Ruf an die Universität Würzburg annimmt. Während Schelling in den nächsten drei Jahren eine Reihe von weiteren Entwürfen und Erläuterungen zu seinem System veröffentlicht, bleiben Hegels Systementwürfe aus jener Zeit unveröffentlicht – sie werden erstmals 110 Jahre später herausgegeben. 2 So ist es für Schelling ein Schock, als er im Sommer 1807 von Neu verfasstes Kapitel mit Bezugnahmen auf die Beiträge: Wolfdietrich SchmiedKowarzik, »Läßt sich Religion in Philosophie aufheben?«, in: Andres Arndt / Karol Bal / Henning Ottmann (Hg.), Glauben und Wissen (Hegel-Jahrbuch 2003), Berlin 2003: 118–124 sowie Ders. »Zur Konstitution des sittlichen Geistes in Hegels Jenaer Systementwürfen«, in: Heinz Eidam / Frank Hermenau / Draiton de Souza (Hg.), Metaphysik und Hermeneutik. Festschrift für Hans-Georg Flickinger zum 60. Geburtstag, Kassel 2004: 327–351 und Ders. »›… versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen‹. Vom Ende des Symphilosophierens von Schelling und Hegel«, in: Norbert Waszek (Hg.), G. W. F. Hegel und Hermann Cohen. Wege zur Versöhnung, Freiburg/München 2018: 109–124. Siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx, Frankfurt a. M. u. a., 2015. 2 Hans Ehrenberg / Herbert Link (Hg.), Hegels Erstes System. Nach Handschriften 1
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Hegels Eintritt in die Philosophie
Hegel die Phänomenologie des Geistes (1807) zugeschickt bekommt, in der sich Hegel bereits in der »Vorrede« öffentlich von Schellings Zugang zum System distanziert. Zwar hat Hegel vorsorglich in einem Brief vom Mai 1807, in dem er die baldige Buchsendung ankündigt, beteuert, die polemischen Spitzen der »Vorrede« seien gar nicht gegen ihn (Schelling) gerichtet, sondern wenden sich gegen die, die mit »Deinen Formen soviel Unfug« treiben. (Schelling, Briefe und Dokumente, III: 468) Aber in der »Vorrede« selbst wird dieser Unterscheidung zwischen Schelling und seinen Epigonen mit keinem Wort auch nur andeutend erwähnt. So wirkt Hegels grundlegende Abgrenzung wie eine schallende Ohrfeige für Schelling. Schelling ist jedenfalls über Hegels Angriff entsetzt, denn durch diesen wird alles zunichte gemacht, was er gegen Fichte erkämpft hatte und in dem er sich mit Hegel aus ihren gemeinsamen Jenaer Jahren einig glaubte. In seinem Antwortbrief vom 3. 11. 1807 schreibt er an Hegel: »Das, worin wir wirklich verschiedener Ueberzeugung oder Ansicht sein mögen, würde sich zwischen uns ohne Aussöhnung kurz und klar ausfindig machen und entscheiden lassen; denn versöhnen läßt sich freilich Alles, Eines ausgenommen. So bekenne ich, bis jetzt Deinen Sinn nicht zu begreifen, in dem Du den Begriff der Anschauung opponirst. Du kannst unter jenem doch nichts andres meinen, als was Du und ich Idee genannt haben, deren Natur es eben ist, eine Seite zu haben, von der sie Begriff, und eine, von der sie Anschauung ist.« (Schelling, Briefe und Dokumente, III: 471) Zwar bleibt ihre Jugendfreundschaft formell weiterhin bestehen, da Schelling Hegels Ausrede mit dem Verweis auf die Epigonen als Entschuldigung gelten lässt, aber das Symphilosophieren der beiden Denker des absoluten Idealismus ist seit 1807 endgültig entzweit. Für Hegel blieb Schelling ein Vorläufer seiner Dialektik, für Schelling betrat Hegel einen irrigen Weg, durch den er (Schelling) zu einem neuen Aufbruch wachgerüttelt wurde. Der Konflikt beider Denker geht ums Ganze letzter Erkenntnis, um den seit Anbeginn aller Philosophie bedachten Zusammenhang von Denken und Sein. Beide haben sie seit 1801 den subjektiven Idealismus Fichtes hinter sich gelassen, der meint, die Einheit von Selbsterkenntnis und Gegenstandserkenntnis könne nur im »Ich bin Ich« des subjektiven Bewusstseins festgemacht werden. Schelling und Heder Kgl. Bibliothek in Berlin, Heidelberg 1915; heute greifbar in: G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe i-III (1982–1987).
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Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
gel gehen darüber hinaus und versuchen eine materiale Philosophie aus der absoluten Einheit von Vernunft und Wirklichkeit zu begründen. Beide wissen sie, dass nur von einer absoluten Identität von Vernunft und Wirklichkeit her ein inhaltlich-materiales System der Philosophie ausführbar ist, aber beide versuchen, den Zugang zur Identität von Vernunft und Wirklichkeit in extrem unterschiedlicher Weise zu erreichen. Denn während Schelling sich durch eine »Depotenzierung« der Daseins- und Selbstgewissheit des Ich bin Ich zum »ewig Unbewußten« der »absoluten Identität« von Vernunft und Wirklichkeit zurückzuversetzen versucht, in der wir immer schon stehen, unternimmt Hegel in seinen Entwürfen bis hin zu seiner Phänomenologie des Geistes (1807) den Versuch, durch eine dialektisch vermittelte, schrittweise Überwindung der subjektiven Weltund Bewusstseinshorizonte bis zum »absoluten Wissen« der reiner Identität von Vernunft und Wirklichkeit vorzudringen, 3 um sich von dort in das System der Vernunfterkenntnis zu erheben. Oder vom System selbst her formuliert: Während Schelling den Akzent auf das Begreifen der Wirklichkeit legt, in die wir immer schon existierend einbezogen sind, beginnend mit der »Natur« über die »ideelle Welt« bis zu Kunst, Philosophie und Religion als Thematisierungen des Absoluten, um diese in ihren je eigenen Verwirklichungsformen nachzuvollziehen, liegt der Akzent bei Hegel auf dem Begreifen der Wirklichkeit, d. h. es geht ihm um den Prozess des Begreifens, beginnend beim Selbstbegreifen der »Logik« über das Begreifen des Anderen der »Natur« bis zur Selbsterkenntnis des »Geistes« an und für sich selbst. Schon zu Beginn der »Vorrede«, die sich nicht nur auf die Phänomenologie des Geistes, sondern auf das ganze geplante System bezieht, wie es dann von Hegel in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) vorgelegt wird, polemisiert Hegel gegen jene, die sich auf die Anschauung berufen, denn die Philosophie vermag ihre Wahrheit allein im Begriff auszudrücken: »Wenn nämlich das Wahre nur in demjenigen oder vielmehr nur als dasjenige existiert, was bald Anschauung, bald unmittelbares Wissen des Absoluten, Religion, das Sein […] genannt wird, so wird von da aus zugleich für die Darstellung der Philosophie vielmehr das Gegenteil der Form des Begriffs gefordert. Das Absolute soll nicht begriffen, sondern ge20 Jahre später wird Hegel die Einheit in den griffigen Merksatz verdichten: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.« (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 24)
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Hegels Eintritt in die Philosophie
fühlt und angeschaut [werden], nicht ein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen und ausgesprochen werden.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 14 f.) 4 Weiterhin ergießt sich Hegels Spott in der »Vorrede« über einen unmittelbaren Anfang mit der absoluten Identität, denn in einem solchen Absoluten am Anfang ist nichts mehr unterscheidbar: »Irgend ein Dasein, wie es im Absoluten ist, betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird, es sei zwar jetzt von ihm gesprochen worden, als von einem Etwas; im Absoluten, dem A = A, jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sei alles eins. Dies eine Wissen, daß im Absoluten alles gleich ist, der unterscheidenden und erfüllten oder Erfüllung suchenden und fordernden Erkenntnis entgegenzusetzen oder sein Absolutes für die Nacht auszugeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 22) 5 Daher lehnt Hegel einen Anfang ab, der wie »aus der Pistole geschossen« mit dem Absoluten beginne, und fordert stattdessen eine dialektisch vermittelnde Hinführung zum »absoluten Wissen«, wie er die Vernunfterkenntnis benennt. Den hinführenden Weg zum absoluten Wissen stellt Hegel in der Phänomenologie des Geistes dar, indem er zu zeigen versucht, wie das Bewusstsein, beginnend bei der unmittelbaren »sinnlichen Gewissheit«, schrittweise zu immer allgemeineren Bewusstseinshorizonten – Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist, Religion – aufsteigt, bis das subjektive Bewusstsein sich schließlich selbst »aufopfernd« ins absolute Wissen erhebt, insofern es begreift, dass der ganze dialektische Prozess, den es durchlaufen hat, nicht seine Leistung ist, sondern die der Dialektik des Geistes, die sich durch ihn hindurch vollzogen hat. »Ihr Ziel ist die Offenbarung der Tiefe und diese ist der absolute Begriff […]. Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst 4 Demgegenüber betont Schelling gleich zu Beginn von Philosophie und Religion: »Das Wesen dessen selbst aber, das als ideal unmittelbar real ist, kann nicht durch Erklärungen, sondern nur durch Anschauung erkannt werden; denn nur das Zusammengesetzte ist durch Beschreibung erkennbar, das Einfache aber will angeschaut seyn.« (Schelling, Religion, VI: 25 f.) 5 Ob darin nicht ein »Hyperpotenzierungssprung« in ein Absolutes vorliegt, in dem alle Farben im Weiß verschmelzen, sei hier nicht weiter erörtert. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur HegelKritik und zum Problem von Theorie und Praxis (1974): 119 ff.
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Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung […] bilde[t] die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur – aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 591) 6 In der »Vorrede« zur Phänomenologie verbannt Hegel die Anschauung ganz aus der dialektischen Bewegung des Begriffs, denn für das philosophische Denken gibt es kein ihm gegenüberstehendes Sein, das bloß angeschaut und nicht von ihm restlos ins Begreifen eingeholt werden könne: »Wir sehen uns daher oft von philosophischen Expositionen an dieses innere Anschauen verwiesen und dadurch die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes erspart, die wir verlangten. – Der Satz soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt; als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, der sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang. […] Die Darstellung muß, der Einsicht in die Natur des Spekulativen getreu, die dialektische Form behalten und nichts hernehmen, als insofern es begriffen wird und der Begriff ist.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 61 f.) Hegel fordert also, dass sich das denkende Bewusstsein dialektisch über das Begreifen seines Anderen, die wirklichen Erkenntnisgegenstände, zu sich als absolutes Selbstbegreifen, als sich selbst und sein Anderes übergreifendes Zu-sich-Kommen des Geistes erfülle. »Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. […] Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des sich selbst Setzens, oder die Vermittlung des sich anders Werdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegensetzende Verdopplung, welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und ihres Gegensatzes ist; nur diese sich wiederherstellende Gleichheit oder die Reflexion im Anderssein in sich selbst – nicht eine ur-
Wie Hegel in Anlehnung an Friedrich Schillers Gedicht »Die Freundschaft« (5, XI: 13 ff.) formuliert.
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Hegels Eintritt in die Philosophie
sprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 22 f.) Nur durch diese dialektische Bewegung, durch die sich das Denken ins Andere seiner selbst entäußert und aus der Entäußerung – sie begreifend – wieder zu sich zurückkehrt, vollbringt und erreicht sich durch die Totalität des Systems hindurch das Absolute als sich wissender absoluter Geist – wie Hegel, wohl ausdrücklich gegen Schelling gewendet, formuliert: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder sich selbst Werden, zu sein.« (Hegel, Phänomenologie, 3, 24) Aus der Perspektive Schellings gesehen, muss Hegel vorgehalten werden, dass er das Sein als das Andere des Denkens nirgends als eigenständiges Wirklichsein und eigenständig existierende Bewegung anerkennt. Es kommt nicht als eigenständiges Anderes, sondern nur als ein vom Denken gesetztes Anderes vor, das im Begreifen des zu sich selber kommenden Geist aufgehoben wird, nicht aber als ein aus sich selbst vermittelter Existenzzusammenhang, der seinerseits das Denken übergreift, insofern das Denken selber auch existiert. Dieses wechselseitige Übergreifen ist für Schelling von entscheidender Bedeutung, denn hierin drückt sich die »Identität in der Differenz und die Differenz in der Identität« von Wirklichkeit und Vernunft aus, wobei beides für ihn nicht einfach in eins zusammenfällt, sondern eben eine vermittelte Einheit bildet. Schellings Naturphilosophie geht es gerade darum, den existierenden Wirklichkeitszusammenhang der Natur zu begreifen, wobei der Begreifenszusammenhang nicht selbst der Wirklichkeitszusammenhang ist, die Differenz muss vielmehr gewahrt bleiben. Die entscheidende Differenz des Systems der Philosophie Hegels zu dem System Schellings liegt also darin, dass es bei Hegel kein existierendes Band gibt, durch das die Natur und die Geschichte in ihren Gestaltungen und mit sich selbst als Wirklichkeitszusammenhang verknüpft ist. Hegel kennt allein ein ideelles Band, das über das Begreifen der Natur zu sich als Geist zu kommen vermag, wobei der Natur – ähnlich dem Nicht-Ich bei Fichte – kein eigenes Selbstsein zukommt. So haben letztlich auch die verschiedenen Gestaltungen in der Natur keinen realen Bezug zueinander, sondern ihre Verbindung
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wird durch den dialektischen Prozess des Sich-selbst-Begreifens und Zu-sich-selbst-Kommens des Geistes erzeugt und eingeholt. Ja, selbst der Lebensprozess wird von Hegel nicht als ein existentieller Vermittlungszusammenhang gedacht, sondern als das immer noch an die Äußerlichkeit der Natur gefesselte Zum-Vorschein-Kommen der Selbstvermitteltheit der Idee. Daher können – weil es Hegel nicht um reale Potenzen, sondern allein um Begreifensstrukturen geht – Krankheit und Tod als die das äußerliche Leben überwindende, aus der Natur befreiende Übergangsmomente zur Unsterblichkeit des Geistes bestimmt werden. (Hegel, Jenaer Systementwürfe III: 165 ff.) Als Idee in ihrer unendlichen Äußerlichkeit ist die Natur ausdrücklich nichts für sich Seiendes, sondern die noch nicht begriffene Selbstentgegensetzung der Idee des Geistes, die es begreifend in den ganz aus sich selbst bestimmten Geist aufzuheben gilt. Dieser Aufhebung liegt eine doppelte Negation der Natur zu Grunde – sowohl von der Idee der Logik her als auch auf den sich als Geist wissenden Geist hin –, wie dies Hegel bereits in einem Fragment von 1803 klar ausgesprochen hat. Wobei er in diesem Fragment, vom sich wissenden Geist her auf die Natur zurückschauend, deren dialektische Bedeutung als das Andere des Geistes nochmals zusammenfassend überdenkt. »Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt. […] Der Geist ist nur das Aufheben seines Andersseyn; diß andere, als er selbst ist, ist die Natur […]. Der Geist hebt die Natur, oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist […]. Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist erst der Geist; er entreißt sich der Macht der Natur, indem sie aufhört, ein anderes zu seyn als er ist […]. Mit ihrem Schein des für sich seyns, oder des dem Geiste entgegengesetzt seyns verliert sie ihre Macht, denn sie hat nur Macht indem sie ein ihm fremdes ist.« (Hegel, GW 5: 370) 7 Die Bewegung, die Hegels Naturphilosophie, als zweiter Teil des Systems, vollzieht, ist also die begreifende Durchdringung der Natur durch den Geist, der die Natur gerade nicht als etwas für sich Seiendes, aus sich Existierendes nimmt, sondern sich in ihr in seinem äußerlichen Anderssein erkennt und nun stufenweise – beginnend Dieses Zitat und einige folgende mit GW gekennzeichnete Belegstellen sind dem Band 5 von G. W. F. Hegels Gesammelten Werken entnommen.
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Hegels Eintritt in die Philosophie
bei der äußerlichen Entgegensetzung der mechanischen Materie bis hin zur Vermitteltheit des organischen Lebens – das in der Natur verborgene Allgemeine der Idee aufdeckt und in sein Sich-selbst-Begreifen aufhebt. »Denn die Natur, indem sie das Andersseyn des Geistes ist, ist sie für sich das sich selbstgleiche, das nicht weiß, daß es ein anderes, entgegengesetztes ist, oder das sich in seiner sichselbstgleichheit nicht ein anderes ist, und daher in Wahrheit ein anderes an sich selbst ist. Das Bild seiner selbst, das der Geist in der Natur anschaut, ist darum allein seine Befreyung von der Natur, eben indem er sich sich selbst gegenüber stellt; darin hört er auf, Natur zu seyn; […] und die lebendige Befreyung oder das [Setzen des] Lebens in ihn ist, diß daß er diß Universum als sich selbst erkennt.« (Hegel, GW 5: 371) Hier kommt zum Ausdruck, dass Hegel schon in seinen ersten Jenaer Jahren das Moment der Anschauung als einen eigenständigen Bezug zum Sein aufgibt und so zu einer alleinigen Dialektik des Denkens oder der Selbstbewegung des Geistes kommt, die zwar auch ein Sein kennt, das aber nur ein immanentes Moment des Denkens selbst ist. So sehr Schelling einerseits über dieses »Eine«, nämlich über die Verleugnung der Anschauung entsetzt ist, und er daher ab 1807 Hegel nicht mehr als Mitstreiter seiner Philosophie zu akzeptieren vermag, so sehr wird ihm andererseits der Vorwurf Hegels, sein unmittelbarer Einsatz bei der absoluten Identität sei nur eine unvermittelte Setzung, zu einer nagenden Herausforderung, die sein weiteres Philosophieren kritisch begleitet und vorantreibt. Für Hegel stürzt Schelling in die begriffslose »Nacht […], worin […] alle Kühe schwarz sind«, und für Schelling stürzt Hegel in die anschauungslose Leere, in der Begriffe als Metaphern nur noch mit sich selbst verkehren. Hegels Vorwurf richtet sich dagegen, dass Schelling die Einheit von Denken und Sein, Vernunft und Wirklichkeit einfach behaupte und an den Anfang setze, nicht aber zeigen könne, wie das Denken in diese Höhen eines absoluten Wissens zu gelangen vermöge. Demgegenüber beharrt Schelling darauf, dass das Denken immer schon in der intellektuellen Anschauung der absoluten Identität von Denken und Sein gründet und daher gar nicht anders kann, als die Einheit, in der es selber wurzelt, schrittweise zu explizieren. Sein Hauptvorwurf aber richtet sich darauf, dass Hegel durch die Streichung der Anschauung und Einbeziehung des Seins ins Denken im Grunde das Sein als das Andere des Denkens verliert und damit rein im Denken verbleibt. 157 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Für Schelling liegt seit Anbeginn seines Philosophierens in der intellektuellen Anschauung ein doppelter Bezug, den er anfänglich Anschauung und Reflexion nennt. In der Anschauung gründet der unmittelbare Seinsbezug, der von der Reflexion, dem begrifflichen Denken, nicht eingeholt zu werden vermag. Die intellektuelle Anschauung ist gerade die unmittelbare Einheit beider Momente in der Daseins- und Selbstgewissheit des »Ich bin Ich«. Nun gründet aber diese intellektuelle Anschauung von Daseins- und Selbstbewusstsein in einer noch tiefer liegenden Identität, die Schelling schon im System des transzendentalen Idealismus als das »ewig Unbewußte« oder die »absolute Identität« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 600) nennt, denn unsere Daseinsgewissheit ist nicht der Seinsgrund alles Seins und die Selbstgewissheit unseres Denkens ist nicht der Grund der Vernünftigkeit der Wirklichkeit. Daher versteht Schelling ab Ende 1800 das System des transzendentalen Idealismus nur noch als eine Propädeutik zum System des Ideal-Realismus, zu dem man nur durch eine Depotenzierung der intellektuellen Anschauung der Daseins- und Selbstgewissheit des »Ich bin Ich« hin zu einer intellektuellen Anschauung der absoluten Identität von Wirklichkeit und Vernunft im Absoluten zu gelangen vermag. Dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes das Moment der Anschauung der Wirklichkeit in den Begriff aufzuheben versucht, hat zur Konsequenz, dass in Hegels absolutem System die Wirklichkeit nicht mehr als etwas aus sich selbst Seiendes aufscheinen kann, sondern nur noch als ein zu begreifendes und begriffenes Moment des Geistes erscheint. So beginnt das Hegelsche System nicht wie das System Schellings mit dem Begreifen der Wirklichkeit der Natur, in die wir gestellt sind, sondern mit der Wissenschaft der Logik als der Selbstklärung des Begreifens der Wirklichkeit. Und die Logik beginnt wiederum mit dem »reinen Sein« als der unbestimmtesten aller Denkkategorien und hat erklärtermaßen keinen Bezug auf das Andere einer Wirklichkeit. »Logisch ist der Anfang, indem er im Element des frei für sich seienden Denkens, im reinen Wissen gemacht werden soll. […] Die Logik ist die reine Wissenschaft, d. i. das reine Wissen in dem ganzen Umfange seiner Entwicklung. […] Das reine Wissen, als in diese Einheit zusammengegangen, hat alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben; es ist das Unterschiedslose; dieses Unterschiedslose hört somit selbst auf, Wissen zu sein; es ist nur einfache Unmittelbarkeit vorhanden. […] In ihrem wahren Aus-
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drucke ist daher diese einfache Unmittelbarkeit das reine Sein.« (Hegel, Logik, I, 5: 67 f.) Im folgenden Prozess der Vermittlung in der Logik kommt es zwar zu weiteren Differenzierungen der Denkbestimmungen des Daseins, der Existenz, der Wirklichkeit bis hin zum Begriff und zur absoluten Idee, aber sie allesamt beziehen sich nur auf Selbstdifferenzierungen des sich selbst explizierenden und begreifenden Denkens – sie dürfen bei Hegel nichts Anderes meinen als nur sich selbst, denn in ihrem Begreifen von Wirklichkeit sind sie die Wirklichkeit selbst und eine andere Wirklichkeit darüber hinaus ist undenkbar. »So ist denn auch die Logik in der absoluten Idee zu dieser einfachen Einheit zurückgegangen, welche ihr Anfang ist; die reine Unmittelbarkeit des Seins […]. Aber es ist nun auch erfülltes Sein, der sich begreifende Begriff, das Sein als die konkrete, ebenso schlechthin intensive Totalität.« (Hegel, Logik, II, 6: 572) 8 Das, was in der Logik vorgezeichnet ist, erfüllt und vollendet sich dann auch in den realphilosophischen Teilen der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) Hegels: Die Philosophie der Natur zeichnet den Prozess des Begreifens nach, durch den der Geist sich der Natur erkennend bemächtigt, und die Philosophie des Geistes vollzieht den Prozess des Sich-selbst-Begreifens des Geistes durch alle seine Gestaltungen hindurch. So kann Hegel das absolute System der Philosophie als die Erfüllung des ontologischen Gottesbeweises ausgeben, denn am Ende der Bewegung kann der Geist, der Gott ist, von sich selbst sagen: Ich bin das sich selbst begreifende Sein, denn es gibt kein Sein außer mir.
5.2 Hegels Philosophie des Geistes und die Religion 5.2.1 Hegels religionsphilosophische Anfänge Doch hat Hegel diese Position nicht immer vertreten. In den ersten drei Hauslehrerjahren in Bern (1793–96) ringt er in immer neuen Anläufen um ein religionsphilosophisches Verstehen des Geistes des Christentums. In diesen frühen Entwürfen fragt er nach dem Entstehen der Lehre und des Wirkens von Jesus von Nazareth im JudenHierin erweist sich Hegel als ein von der Transzendentalphilosophie zur Vernunftphilosophie erweiterter Fichte.
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tum und die weltgeschichtliche Bedeutung des daraus erwachsenden Christentums. Dabei verweist Hegel auf die Differenz zwischen der objektiven jüdischen Gesetzes-Religion und die von Jesus intendierte »subjektive Religion«, die eine »Sache des Herzens« (Hegel, Volksreligion und Christentum, 1: 16 f., 71) ist. Jesus versteht sich aus dem jüdischen Glauben heraus durchaus als Messias, der »das, was sie [die Juden] vom Messias erwarten, mehr auf Moralisches zu leiten« versucht (Hegel, Positivität der christlichen Religion, 1: 115), wobei der Akzent der befreienden Erfüllung nicht auf der »Lehre«, sondern auf dem »Tun« der Jünger liegt. »Jesus erhob seine Religionslehre nicht selbst zu einer eigentümlichen, sich durch eigene Gebräuche unterscheidenden Sekte, es kam auf den Eifer seiner Freunde und auf die Art, mit welcher diese seine Lehre aufgefaßt hatten, an, in was für einer Gestalt, mit welchen Ansprüchen sie dieselbe weiter verkündigen«. (Hegel, Positivität der christlichen Religion, 1: 118) Hegel vergisst aber nicht, darauf hinzuweisen, dass schon von den Aposteln an die jüdische Sekte der Christen wiederum zu einer objektiven Religion zu erstarren drohte, diesmal zu einem »knechtischen Dienst gegen den Meister«. (Hegel, Positivität der christlichen Religion, 1: 229) Diese Studien setzt Hegel in den ersten Frankfurter Entwürfen über Religion und Liebe seit 1797 – unter deutlichem Einfluss seines Freundes Hölderlin – mit stärkerem philosophischem Akzent fort. Er betont hier noch die unverzichtbare Funktion des Glaubens für die Fundierung aller Erkenntnis, denn alle Verbindung des Denkens mit dem Sein gründet im Glauben, wobei hierunter nicht ein Glaube an etwas, sondern eine Grundhaltung des Geistes zu verstehen ist: »Glauben ist die Art, wie das Vereinigte, wodurch eine Antinomie vereinigt ist, in unserer Vorstellung vorhanden ist. […] Vereinigung und Sein sind gleichbedeutend; in jedem Satz drückt das Bindewort ›ist‹ die Vereinigung des Subjekts und Prädikats aus – ein Sein; Sein kann nur geglaubt werden; Glauben setzt ein Sein voraus«. (Hegel, Religion und Liebe, 1: 250 f.) Höchste Form der Vereinigung ist die Liebe, sie wird von Hegel zum Paradigma des Sich-Einsfühlens mit dem Anderen erhoben: »Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen. […] Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, […] das Lebendige fühlt das Lebendige […]. Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist«. (Hegel, Religion und Liebe, 1: 244 ff.) Darüber hi160 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
naus wird die Liebe zum zentralen Ausdruck für alles christlich Religiöse, woran kein Verstand und keine Vernunft heranzureichen vermag: »Gott lieben ist sich im All des Lebens schrankenlos im Unendlichen fühlen« (Hegel, Geist des Christentums, 1: 362 f.) und »das Gefühl des Einssein in Jesu Geist« (Hegel, Geist des Christentums, 1: 368) führt zur Erfüllung des Glaubens in der christlichen Gemeinschaft aus dem Heiligen Geist. »Die Vollendung des Glaubens, die Rückkehr zur Gottheit, aus der der Mensch geboren ist, schließt den Zirkel seiner Entwicklung. […] Gott, der Sohn, der heilige Geist – lehret alle Völker (sind die letzten Worte des verklärten Jesus, Matth. 28,19), indem ihr sie in diese Beziehungen der Gottheit in das Verhältnis des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes eintaucht.« (Hegel, Geist des Christentums, 1: 389 f.) Doch im letzten Frankfurter Manuskript vor seinem Umzug nach Jena, dem sog. Systemfragment von 1800, treten die Vorahnungen der späteren Dialektik des Geistes bezogen auf die Erkenntnis Gottes hervor, wobei es sich noch nicht um die dreigliedrige Dialektik des Aufhebens handelt, sondern um eine zweigliedrige des Aufgehens: des Aufscheinens und des Verschmelzens. Hier wird der Geist als etwas gefasst, was nicht nur Sein und Denken, Glauben und Wissen ineinander aufgehen lässt, sondern auch die Verbindung herstellt zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geist. Gerade deshalb verbleibt diese Erhebung noch ganz in der unio mystica der Religion – wie Hegel mit Argumenten unterstreicht, die er zwei Jahre später dementieren und Kant, Jacobi und Fichte gegenüber kritisieren wird: »Diese Erhebung des Menschen […] vom endlichen Leben zum unendlichen Leben ist Religion. Das unendliche Leben kann man einen Geist nennen […]. Der Geist ist belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist. […] Dieses Teilsein des Lebendigen hebt sich in der Religion auf, das beschränkte Leben erhebt sich zum Unendlichen; und nur dadurch, daß das Endliche selbst Leben ist, trägt es die Möglichkeit in sich, zum unendlichen Leben sich zu erheben. Die Philosophie muß eben darum mit der Religion aufhören, weil jene ein Denken ist, also einen Gegensatz teils des Nichtdenkens hat, teils des Denkenden und des Gedachten […]. Die Erhebung des Endlichen zum Unendlichen charakterisiert sich [darüber hinaus] eben dadurch als Erhebung endlichen Lebens zu unendlichen, als Religion«. (Hegel, Systemfragment, 1: 421 ff.) Nur die Religion vermag jene mystische Vereinigung des endlichen Geistes mit dem absoluten Geiste zu erreichen. 161 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
Nachdem Hegel durch den Tod des Vaters 1799 ein kleines Vermögen geerbt hat, das ihn aus dem Zwang der Hauslehrertätigkeit befreit, entschließt er sich im Herbst 1800, nach Jena zu gehen und sich mit Niethammers und Schellings Unterstützung dort zu habilitieren. In den Monaten vor seinem Aufbruch nach Jena setzt er sich intensiv mit der damaligen philosophischen Diskussion und insbesondere mit Schellings Schriften auseinander. In Schellings Artikelserie Allgemeine Übersicht über die neueste philosophische Literatur (1797/98) stößt Hegel auf eine dreigliedrig-dynamische Bestimmung des Geistes, die Schelling in seinem gerade im Frühjahr 1800 erschienenen System des transzendentalen Idealismus noch weiter ausgebaut hat. So schreibt Schelling bereits 1797: »Der Gegenstand [der Transzendentalphilosophie] ist nichts anders, als unsre selbsteigne Synthesis, und der Geist schaut in ihm nichts an, als sein eignes Produkt. […] Durch die Tendenz zur Selbstanschauung begrenzt der Geist sich selbst. […] Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das Selbstbewußtseyn, und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts anders, als die Geschichte des Selbstbewußtseyns.« (Schelling, Erläuterungen des Idealismus, I: 379 ff.)
5.2.2 Hegels erste Jahre in Jena Mit diesem alles durchwirkenden Geistbegriff im Gepäck zieht Hegel Anfang 1801 nach Jena zu seinem Jugendfreund Schelling, der jedoch gerade in der brieflichen Auseinandersetzung mit Fichte zu seiner neuen philosophischen Position eines absoluten Real-Idealismus gefunden hat. 9 Schon mit seiner ersten philosophischen Druckschrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie von 1801 wirft sich Hegel für seinen Freund parteiergreifend in das Kampfgetümmel der damaligen philosophischen Auseinandersetzungen. Zwar bezieht er sich dabei in der Darstellung der Position Schellings vor allem auf dessen vorausgehende Schrift System des transzendentalen Idealismus von 1800 und deutet diese auf die neue Position Schellings eines absoluten Real-Idealismus um. Doch entscheidender ist, dass Hegel im Eingangskapitel erstmals seine eigene Siehe das vorhergehende Kapitel sowie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 117.
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Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
Philosophie einer Dialektik des absoluten Geistes – nun ganz von der Religionsphilosophie auf die Philosophie des spekulativen Wissens übertragen – darlegt. So betont Hegel nun, seinen eigenen Formulierungen vom Jahr davor widersprechend: »Diese bewußte Identität des Endlichen und der Unendlichkeit, die Vereinigung beider Welten, der sinnlichen und der intellektuellen, der notwendigen und der freien, im Bewußtsein ist Wissen.« Während der »Glaube« demgegenüber ein »Verhältnis oder Beziehung der Beschränktheit auf das Absolute« darstellt. (Hegel, Differenz, 2: 27 f., 32) Von hier her antizipiert Hegel auch schon die Grundrisse seines materialen Systems der Philosophie, das er zu dieser Zeit durchaus im vollen Einklang mit dem Systemprojekt Schellings versteht: »Das Bedürfnis der Philosophie kann sich darin befriedigen, zum Prinzip der Vernichtung aller fixierten Entgegensetzung und zu der Beziehung des Beschränkten auf das Absolute durchgedrungen zu sein. […] Die freie Vernunft und ihre Tat ist eins, und ihre Tätigkeit ein reines Darstellen ihrer selbst. […] In dieser Selbstproduktion der Vernunft gestaltet sich das Absolute in eine objektive Totalität, die ein Ganzes in sich selbst getragen und vollendet ist, keinen Grund außer sich hat, sondern durch sich selbst in ihrem Anfang, Mittel und Ende begründet ist.« (Hegel, Differenz, 2: 45 f.) Ging es in den vorhergehenden religionsphilosophischen Entwürfen darum, den christlichen Glauben in Inhalt, Form und Kult philosophisch begreifend zu erfassen, was dadurch gelingt, dass der unendliche Geist in seiner dreieinigen Lebendigkeit dem ihm ebenbildlichen endlichen Geist lebendig offenbar wird, so weitet sich nun in den Jenenser Schriften die Dialektik des Geistes auf die Philosophie insgesamt aus, was einerseits bedeutet, dass die Philosophie nicht mehr die Religion als die höchste Erkenntnisstufe anerkennt, sondern dass nun die Philosophie die Religion als vorletzte Stufe in und zu sich aufhebt, was andererseits die Konsequenz hat, dass nicht mehr die Liebe das Wunder der Vereinigung vollbringt, sondern dass nun die Philosophie in ihrem absoluten Wissen zum Wissen des Absoluten oder Gottes selbst wird. In Glauben und Wissen (1802) widerruft Hegel dann endgültig die Position des Frankfurter »Systemfragmentes«, in der er der Philosophie noch die Rolle des Entgegensetzens zusprach, über die nur der Glaube auf eine noch ausstehende Vereinigung hinzuweisen vermag. Nun unterstreicht er in ausführlichen Besprechungen der Positionen von Kant, Jacobi und Fichte, dass diese Getrenntheit nur auf 163 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
das Verstandeswissen zutrifft und auf alle Philosophien, die sich auf den Verstand beschränken. Ihnen gegenüber ist der Glaube eine gefühlte Hoffnung auf eine höhere Vereinigung. Aber die »wahre Philosophie« der Vernunft lässt sich nicht in die Grenzen des Verstandes beschränkten, sie durchdringt den Gegensatz von Anschauung und Reflexion, von Glauben und Wissen, sie selbst gelangt zur höchsten Vereinigung in der Vernunfterkenntnis des göttlichen Geistes, der durch die ganze Bewegung wirkt und durch sie hindurch zu sich selbst kommt. Je in unterschiedlicher Weise beschränken Kant, Jacobi und Fichte die theoretische Philosophie auf die Erkenntnis der Verstandeserkenntnis, um dem Glauben Raum zu verschaffen, aber der Glaube ist dabei nur das gefühlsmäßig unbestimmte Gegenstück zur Verstandeserkenntnis: »Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde.« (Hegel, Glauben und Wissen, 2: 289 f.) Es ist erst die philosophische Vernunft, die über die Beschränkungen der beiden vorausgehenden Formen zur wahren Gotteserkenntnis vorzudringen vermag. Diese wahre Gotteserkenntnis mirakelnd vorankündigend, schreibt Hegel in den Schlusssätzen von Glauben und Wissen, was er in der Phänomenologie des Geistes vorbereiten und in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion dann ausführen wird: »Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot […], rein als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, 164 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.« (Hegel, Glauben und Wissen, 2: 432 f.) Diese aus theologischen Wurzeln erwachsene Dialektik des Geistes hat gewaltige Konsequenzen für die Philosophie Hegels insgesamt, die dabei in zwei Formen in Erscheinung tritt: einerseits in der Phänomenologie des Geistes als dreistufige, zweigliedrige Treppe eines hinführenden Bildungsprozesses des Bewusstseins zum »absoluten Wissen«, und anderseits im Medium des »absoluten Wissens« des Systems der Philosophie in ihrer vollendeten Dreigliedrigkeit, mit der für Hegel eigentümlichen Vorreihung der Wissenschaft der Logik vor die Realphilosophie in den Gestaltungen der Natur als des Äußerlich-Seins der Idee und des Zu-sich-Kommens des Geistes durch alle seine Gestalten hindurch.
5.2.3 Die Religion innerhalb der Phänomenologie des Geistes Die Dialektik in der Phänomenologie des Geistes intendiert die gänzliche Überwindung des Gegensatzes von subjektivem Bewusstsein und objektiver Gegenständlichkeit und ihre gemeinsame Aufhebung in das absolute Wissen, in dem sich dann das System der Philosophie als Zu-sich-selber-Kommen des absoluten Geistes bewegt. Was an dieser Dialektik sofort auffällt, ist, dass sie trotz ihrer Dreigliedrigkeit zweigliedrig aufgebaut ist, sodass das jeweils einen Gegensatz aufhebende dritte Glied sofort wieder die eine Seite eines neuen Gegensatzes bildet, der wiederum in einem neuen Dritten aufgehoben wird, dem aber gleich wieder ein Gegenpart gegenüber tritt. So werden »Bewusstsein« und »Selbstbewusstsein« (abgekürzt gesprochen) als Momente in die »Vernunft« aufgehoben, ihr tritt der sittliche »Geist« gegenüber, deren Aufhebung in der »Religion« erfolgt, der wiederum das »absolute Wissen« entgegentritt, über dessen aufopfernde Selbsterkenntnis der Übertritt in das System der Philosophie erfolgt. Die Phänomenologie des Geistes ist noch nicht die Philosophie als Wissenschaft, sondern der Weg der »Entstehung der Philosophie« im menschlichen Bewusstsein, die »Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft«. (Hegel, Phänomenologie, 3: 73) Insofern sie im »Für-sich-Sein« der menschlichen Vernunft noch aus der Negation des ihr entgegengesetzten Gegenständlichen lebt, ist sie der »Weg des Zweifels« bis zur »Verzweiflung«. Trotz ihres schrittweisen Im-Andern-bei-sich-Seins ist sie noch nicht aus der Anti165 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
nomie zur gegenständlichen Welt herausgekommen. Geht die menschliche Vernunft diesen Weg bis zum Ende, so gelangt sie an einen Punkt der »Umkehr des Bewußtseins selbst, […] auf welchem es seinen Schein ablegt« (Hegel, Phänomenologie, 3, 78 ff.), in »bestimmter Negation« von seinem negativen »Für-sich-Sein« lässt und nun im absoluten Wissen sich als Moment des absoluten Geistes begreift. Das Denken gelangt zu der »Einsicht, daß die Natur des Denkens selbst die Dialektik ist, daß es als Verstand in das Negative seiner selbst, in den Widerspruch geraten muß«, dass es aber »aus sich auch die Auflösung des Widerspruchs, in den es sich selbst gesetzt« (Hegel, Enzyklopädie I, 8: 55), zu leisten vermag. Insofern in ihr bereits schrittweise die Vernunft zum Vorschein kommt, ist die Phänomenologie des Geistes als »Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft« (Hegel, Phänomenologie, 3: 80), denn ihre dialektische Bewegung ist »nicht eine bloß negative«, sondern ein notwendiges Moment zum »positiven Resultat« der Dialektik des »begreifenden Erkennens« im System der Philosophie als Wissenschaft. So treten nun drei Schritte in Erscheinung, durch die sich die Aufhebung des Glaubens ins absolute Selbstwissen des Geistes vollzieht, wie Hegel sie dann in den beiden letzten Kapiteln seiner Phänomenologie des Geistes von 1807 dargelegt und später in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (ab 1817) und insbesondere in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion expliziert: a) Im Kapitel »Die Religion« innerhalb der Phänomenologie des Geistes führt Hegel das zu Ende, was er mit seinen frühen religionsphilosophischen Entwürfen seit 1793 angestrebt hat, jedoch jetzt unter dem vorweg antizipierten Wissen, dass dieses religionsphilosophische Begreifen der Religion selbst nochmals durch die nächste und letzte Stufe ins »absolute Wissen« aufgehoben wird. So schreibt Hegel im Unterkapitel »Die offenbare Religion« bezogen auf die begreifende Durchdringung des christlichen Glaubens durch die Religionsphilosophie – und er korrigiert damit seine Ausführungen aus dem »Systemfragment von 1800« ausdrücklich: »Gott ist also hier offenbar, wie er ist; er ist so da, wie er an sich ist; er ist da, als Geist. Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar, und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist; und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 554) Auf dieser Bewusstseinsstufe der offenbaren Religion begreift 166 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
die Philosophie als Religionsphilosophie den christlichen Glauben in Inhalt, Form und Kult; denn »offenbare Religion« bedeutet – nach Hegel –, dass sich hier der göttliche Geist dem menschlichen Geist offenbart und zugleich der menschliche Geist zum göttlichen sich erhebt. Was die christliche Religion in ihrer anschaulich-vorstellenden Bildersprache als Gottes Ebenbildlichkeit des Menschen und als Menschwerdung Gottes sowie als erfüllte Auferstehung im Geiste umschreibt, wird hier religionsphilosophisch aus der Dialektik des Geistes begreifend durchdrungen. Aber die Religionsphilosophie bleibt hierbei selbst noch dem Medium der Religion verhaftet, deren Begriff sie darstellt, da göttlicher und menschlicher Geist noch getrennt gegeneinanderstehen. b) Auf der nächsten Stufe des »absoluten Wissens«, dem letzten Selbstbewusstwerden des Bewusstseins innerhalb der Phänomenologie des Geistes, zeigt Hegel auf, dass die Dialektik des zu sich kommenden Selbstbewusstseins nicht bei der Vorstellung des absoluten Geistes als Gegenstand der Religionsphilosophie stehenbleiben darf, sondern letztendlich begreifen muss, dass ihr Gang durch die Phänomenologie des Geistes die Tätigkeit des absoluten Geistes in der Erscheinungsform des menschlichen Bewusstseins ist. »Der Geist der offenbaren Religion hat sein Bewußstsein als solches noch nicht überwunden, oder, was dasselbe ist, sein wirkliches Selbstbewußtsein ist nicht der Gegenstand seines Bewußtseins; er selbst überhaupt und die in ihm sich unterscheidenden Momente fallen in das Vorstellen und in die Form der Gegenständlichkeit. […] Der seiner selbst in seinem Dasein gewisse Geist hat zum Elemente des Daseins nichts anderes, als dies Wissen von sich«. (Hegel, Phänomenologie, 3: 575, 578) In der Erhebung zum absoluten Wissen in der Phänomenologie des Geistes kommt das Bewusstsein zur Selbsteinsicht, dass es die tätige Dialektik des Geistes ist, die es nicht nur zu all den Stufen der Welt- und Selbsterkenntnis vorantrieb, sondern auch, dass es selbst nichts anderes als Geist in der Erscheinungsform des menschlichen Bewusstseins ist. Doch ist dies letzte Bewusstwerden in der Phänomenologie des Geistes lediglich die formale Selbsterkenntnis der tätigen Wirksamkeit des Geistes im Medium des Bewusstseins. c) Aber auch noch in dieser letzten Stufe der Phänomenologie des Geistes ist der Geist noch nicht endgültig zu sich selbst gekommen, denn das absolute Wissen des Geistes erscheint hier immer noch in einer Gestalt des an ein endliches Bewusstsein gefesselten Selbstbewusstseins. Erst wo das Selbstbewusstsein seine Bindung an sein 167 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
wissendes Selbst aufgeopfert hat – »Seine Grenze wissen heißt, sich aufzuopfern wissen. Diese Aufopferung ist die Entäußerung, in welcher der Geist sein Werden zum Geiste, in der Form des freien zufälligen Geschehens darstellt« (Hegel, Phänomenologie, 3: 590) –, also erst nach dieser letzten Selbstaufopferung des endlichen Bewusstseins tritt der Geist in das absolute Sich-selbst-Wissen als Geist, wie es im absoluten System entwickelt wird. Diese letzte Aufhebung, die durch den christlichen Glauben der Auferstehung vorbereitet ist, spricht Hegel – wie oben zitiert – bereits in seinen sibyllinischen Schlusssätzen von Glauben und Wissen an. Diese Auferstehung erhebt das menschliche Bewusstsein in das Sich-selbst-Wissen des Geistes, in der sich die Erkenntnis des absoluten Geistes als seine eigene Selbsterkenntnis vollzieht. Die Erkenntnis des absoluten Geistes im absoluten System der Philosophie ist somit die Selbsterkenntnis des absoluten Geistes selbst. In ihr gibt es weder Welt noch Selbst noch Gott an sich oder für sich, sondern sie sind nur noch Momente des Zu-sich-selber-Kommens des absoluten Geistes im Einsseins von genetivus subiectivus und genetivus obiectivus: »Diese Versöhnung des Bewußtseins mit dem Selbstbewußtsein zeigt sich hiemit von der gedoppelten Seite zustande gebracht, das eine Mal im religiösen Geiste, das andere Mal im Bewußtsein selbst als solchem […]. Die Vereinigung beider Seiten ist noch nicht aufgezeigt; sie ist es, welche diese Reihe der Gestaltungen des Geistes beschließt; denn in ihr kommt der Geist dazu, sich zu wissen nicht nur, wie er an sich, oder nach seinem absoluten Inhalte, noch nur, wie er für sich nach seiner inhaltslosen Form oder nach der Seite des Selbstbewußtseins, sondern wie er an und für sich ist. […] Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem vollständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbsts gibt, und dadurch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinem Begriffe bleibt, ist das absolute Wissen; es ist der sich in Geistsgestalt wissende Geist oder das begreifende Wissen.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 579, 582)
5.2.4 Die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Innerhalb des Systems selbst, das sich ganz und gar im »absoluten Wissen« bewegt, tritt dann mit dem aufhebenden Fortschreiten der Dialektik von einer zur nächsten Gestalt des Erkennens zugleich de168 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
ren aufbewahrendes Begreifen im Prozess des Zu-sich-selber-Kommens des absoluten Geistes hervor. In ihren Kategorien dialektischer Logik begreift die Idee die Natur als ihre »Entäußerung« und den Geist als ihre Bewusstwerdung. Die Philosophie erhebt hier den absoluten Anspruch, nicht nur die Wirklichkeit in der Totalität ihrer hervorgebrachten Gestaltungen nachvollziehend zu begreifen, sondern darin zugleich deren Selbstbewusstsein zu sein, sodass sich der philosophische Begriff als das über sein Anderes, die Wirklichkeit, vermittelte Bei-sich-Sein des absoluten Geistes darstellt. Dadurch wird die Philosophie zur absoluten Vollendung der »ersten Philosophie« des Aristoteles, alles aus den eigenen Prinzipien begreifend in sich einzuholen: »In Aristoteles tritt der Begriff auf, frei, unbefangen, begreifendes Denken, alle Gestalten des Universums durchlaufend, vergeistigend.« (Hegel, Geschichte der Philosophie III, 20: 457) Die Dialektik des absoluten Geistes umgreift im Medium der Philosophie als Selbstbewusstwerden des Geistes sowohl die Wirklichkeit im An-Sich ihres Werdens als auch die Geschichte im FürSich ihres Bewusstwerdens, so ist sie von Stufe zu Stufe Aufhebung zu sich selbst. Die Dialektik in dieser absoluten Gestalt ist »der Prozeß, der sich seine Momente erzeugt, und diese ganze Bewegung macht das Positive und seine Wahrheit aus« (Hegel, Phänomenologie, 3: 46). Sie ist die »selbstbewußte Vernunft, die sich Wirklichkeit gibt und als existierende Welt erzeugt; die Wissenschaft hat nur das Geschäft, diese eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein zu bringen.« (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 85) Hegel fasst also die Dialektik als die Bewegung absoluten Zusich-selber-Kommens des Geistes, wobei Geist nicht mehr als menschliche Vernunft zu verstehen ist, der noch die Wirklichkeit als Anderes gegenübersteht, sondern als der alles hervorbringende und durchdringende absolute Geist, in dem »alle Beziehung auf ein Anderes und auf Vermittlung aufgehoben« ist (Hegel, Logik I, 5: 68), in dem Natur und Geschichte als Momente seines Werde- und Bewusstwerdeprozesses begriffen sind. Diese Dialektik des Geistes begreift sich als das Übergreifen des Geistes über sich und sein Anderes, als Setzung (Negation) und Aufhebung (Negation der Negation) des Gegensatzes von sich und seinem Anderen im Geist. Da Hegels Dialektik ein Selbstbegreifen der Vernunft durch alle ihre Gestaltungen hindurch darstellt, ist sie auch dort, wo sie die Gestalten der gesellschaftlichen und geschichtlichen Praxis begreift, nicht – wie bei Schleiermacher – als Selbstaufklärung menschlicher 169 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
Praxis durch und für die Handelnden gedacht, sondern sie ist das begreifende Sich-selbst-Erfassen der ihrer geistigen Praxis innewohnenden Vernünftigkeit. Dies hat Hegel in seiner berühmten Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts ausdrücklich in einem schönen Bild ausgesprochen: »Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät […]; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 27 f.) Hegels Philosophie ist in all ihren Teilen ein Begreifensprozess, der sich als »Kreis von Kreisen« vollzieht. So ist die »Logik«, als Selbstklärung der Denkformen, in denen die Vernunft die Wirklichkeit zu erfassen vermag, der Kreis der Kreise der Seinslogik als Bestimmungen des unmittelbaren Seins, der Wesenslogik, als Reflexion auf das den Erscheinungen zugrunde liegende Wesenhafte der Wirklichkeit und schließlich der Begriffslogik, als die in den Anfang des Seins zurückkehrende Idee des Selbstbegreifens der Logik. »Wir sind jetzt zum Begriff der Idee, mit welcher wir angefangen haben, zurückgekehrt. Zugleich ist diese Rückkehr zum Anfang ein Fortgang. Das, womit wir anfingen, war das Sein, das abstrakte Sein, und nunmehr haben wir die Idee als Sein; diese seiende Idee aber ist die Natur.« (Hegel, Enzyklopädie I, 8: 393) In der darauffolgenden »Naturphilosophie« geht es Hegel um den Prozess des Begreifens der Natur als die der Logik des Denkens entgegenstehenden Äußerlichkeit und deren Überwindung. So ist der erste Kreis der begreifenden Erfassung der Natur, die Hegel als »Mechanik« fasst, die Materie in ihrer absoluten Äußerlichkeit in Raum und Zeit, dem als zweiter Kreis die dynamischen Beziehungen der seienden Dinge zueinander folgen, an die sich als dritter Kreis die Beobachtung der organischen Lebensbezüge anschließen. Wie sehr es Hegels Naturphilosophie um das begreifende Aufheben der Natur und nicht um den Versuch geht, die Natur als einen eigenständigen Prozesszusammenhang zu begreifen, wird wohl daran deutlich, dass Hegel den »Tod des Natürlichen« als die Aufhebung der Natur in den Geist bestimmt: »Über diesem Tode der Natur, aus dieser toten Hülle geht eine schönere Natur, geht der Geist hervor. […] Das Ziel der Natur ist, sich selbst zu töten und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten. Die Natur ist
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Hegels Philosophie des Geistes und die Religion
sich ein Anderes geworden, um sich als Idee wieder zu erkennen und sich mit sich zu versöhnen.« (Hegel, Enzyklopädie II, 9: 537 ff.) Die »Philosophie des Geistes« bildet selbst wiederum einen Kreis in drei Kreisen: den »subjektiven Geist«, das Selbstbegreifen des Menschen im Allgemeinen – Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie –, den »objektiven Geist«, das Selbstbegreifen der gesellschaftlichen Manifestationen des Menschlichen – Recht, Moralität und Sittlichkeit –, und schließlich den »absoluten Geist«, die Erhebung des menschlichen Geistes ins Absolute – Kunst, Religion und Philosophie. Jeder dieser Kreise wird wiederum durch drei Themenkreise erfasst, so z. B. die Sittlichkeit durch die unmittelbare Sittlichkeit der Familie, die entzweite Sittlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und durch die versöhnte Sittlichkeit des Staates. Der Staat wiederum wird erfasst durch das »innere Staatsrecht« der Verfassung, durch das »äußere Staatsrecht« der Staaten mit und gegeneinander und schließlich durch die »Weltgeschichte« als dem »Weltgericht«, das über Bestand und Bedeutung der Staaten urteilt. Bis hierher ist die Dialektik Hegels sicherlich keine geschichtliche, sondern eine strukturelle. Nun thematisiert Hegel aber als die letzte Gestalt des Zu-sich-selber-Kommens des Geistes innerhalb seiner objektiven Verwirklichungsformen die Weltgeschichte, und damit scheint sich doch der ganze Begreifensprozess in einen geschichtlichen Werdeprozess des Weltgeistes zu verwandeln, denn gemäß der Hegelschen Dialektik hebt diese letzte Gestalt des Weltgeistes alle vorhergehenden in sich auf, und d. h. anders gewendet, alle vorhergehenden Gestalten werden nun als in das geschichtliche Zu-sichselber-Kommen der Weltgeschichte getaucht erfasst. Sieht man aber genauer hin, so bemerkt man, dass für Hegel keineswegs der Prozess der menschlichen Geschichte das Zu-sich-selber-Kommen des Geistes darstellt, sondern dass für ihn das Zu-sich-selber-Kommen des Geistes zwar nur auf der Folie der Geschichte zur Erscheinung kommen kann, jedoch nicht mit der Geschichte der Menschen und Völker selbst zusammenfällt. (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 503) Die Stufen des Zu-sich-selber-Kommens des Geistes durch die Weltgeschichte hindurch stellen zwar eine geschichtliche Abfolge dar, trotzdem liegt für Hegel auch hier die Subjektivität und Kontinuität des dialektischen Prozesses nicht in der menschheitlichen Geschichte, sondern im Begreifensprozess der Freiheit des Weltgeistes. Da es Hegel in der Philosophie der Geschichte nicht um ein Begreifen des Werdeprozesses der Menschheitsgeschichte und ihrer noch aus171 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
stehenden Aufgaben geht, sondern um die Einsicht in das Zu-sichselber-Kommen des Geistes in der bisherigen Geschichte bis zur Gegenwart. So kann auch die Perspektive seiner Geschichtsphilosophie prinzipiell allein auf ein Begreifen der Vergangenheit gerichtet sein, auf den Fortschritt des Hervorgetretenseins der Freiheit bis hin zur Gegenwart als dem grundsätzlichen Ende der bisherigen Geschichte und als dem Standort der Einsicht in das Weltgericht, das die Weltgeschichte an Leben und Geist der Völker bisher vollzog. Hegels Dialektik der Geschichte ist nicht auf die Praxis der Menschen gerichtet, sondern sie hat eine gottesdienstliche Funktion, sie hat die Funktion, dem Menschen das Vertrauen zu geben, dass der Geist in der Weltgeschichte, über die Schlachtbank hinweg, die sie für die Menschen und Völker bedeutet, mit Notwendigkeit die Freiheit des Geistes voranbringt: »Daß die Weltgeschichte dieser Entwicklungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten – dies ist die wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist.« (Hegel, Philosophie der Geschichte, 12: 539) Gerade in dieser Einsicht, dass durch die Gräuel der menschlichen Geschichte hindurch der Geist Gottes in der Weltgeschichte das »Wahrhafte, Ewige, an und für sich Allgemeine« (Hegel, Philosophie der Geschichte, 12: 491) vollbringt, bahnt sich der Übergang zur letzten Gestaltung des Zu-sich-selber-Kommens des Geistes an, in der der Geist sich absolut selbst erkennt und weiß.
5.3 Hegels Philosophie der Religion Das Zu-sich-selber-Kommen des Geistes vollzieht sich nirgend anders als in der Geschichte, und d. h. durch die Bewusstseine der Individuen hindurch. Aber die Freiheit, von der Hegel dabei spricht, ist nicht die der einzelnen Individuen und auch nicht die einzelner Völker, sondern vielmehr die des substantiellen Geistes, der durch die Individuen und Völker hindurch in der Weltgeschichte voranschreitet und dabei zu sich selbst kommt. Dieser substantielle Geist der Freiheit drückt sich sowohl in der Freiheit des wissenschaftlichen Erkennens von Natur und Gesellschaft als auch in der praktizierten und 172 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie der Religion
verfassten Sittlichkeit der gesellschaftlichen Institutionen aus. Als freier Geist kann er nur in der wissenschaftlichen Bildung, der gelebten Sitte und in der rechtlichen Verfasstheit eines Volkes wirklich ins Dasein treten; und dieser wirklich gewordene substantielle Geist eines Volkes kann nur bewusst getragen werden durch die Individuen dieses Volkes. Allerdings spricht sich hier nur das Zu-sich-Kommen des sich in ihrer Freiheit bewusstwerdenden subjektiven und objektiven Geistes aus, an die sich abschließend noch im Kreis der Kreise – Kunst, Religion, Philosophie – der absolute Geist sich zu sich selber zu bringen hat. Wobei der Philosophie der Religion die Hauptlast der Vermittlung zwischen endlichem und unendlichem Geist zukommt. Denn in den Vorlesungen über die Ästhetik (I–III) kommt in den sinnlichen Gestalten des Kunstschönen zunächst nur die Idee des Absoluten in der kreativen Produktion und in der ästhetischen Anschauung zum Vorschein, während demgegenüber die Philosophie als die höchste und letzte Gestalt des absoluten Geistes keine andere Selbstexplikation kennt als das System der Philosophie selbst. In der Philosophie der Religion treten sich endlicher und unendlicher Geist – notwendig aufeinander bezogen und notwendig ihre Einheit suchend – einander gegenüber. Sie sind beide aufeinander verwiesen, der unendliche Geist ist nicht, wenn er nicht im endlichen Geist offenbar wird, und der endliche Geist verzweifelt, wo er sich nicht im unendlichen Geist findet. So sagt Hegel auf das Bewusstsein dieser Auseinandersetzung bezogen: »Die beiden Extreme sind jedes selbst Ich, das Beziehende; und das Zusammenhalten, Beziehen ist selbst dies in Einem sich Bekämpfende und dies im Kampfe sich Einende. Oder Ich bin der Kampf; denn der Kampf ist eben dieser Widerstreit, der nicht Gleichgültigkeit der beiden als Verschiedener, sondern das Zusammengebundensein beider ist. Ich bin nicht einer der im Kampf Begriffenen, sondern ich bin beide Kämpfende und der Kampf selbst.« (Hegel, Religion I, 16: 69) Die Philosophie der Religion darf nichts voraussetzen, was in einer bestimmten Kultur als religiöses Selbstverständnis in Lehre und Kultus gilt. Gleichwohl ist es ihr Anspruch, bis zu diesem religiösen Selbstverständnis in ihren höchsten und tiefsten Einsichten begreifend und rechtfertigend vorzudringen. Die Philosophie der Religion hat also alles aus der Vernunft heraus zu begründen, abzuleiten und zu rechtfertigen, sie hat »die Notwendigkeit der Religion an und für sich zu entwickeln und zu begreifen, daß der Geist von den ande173 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
ren Weisen seines Wollens, Vorstellens und Fühlens zu dieser absoluten Weise fortgehen muß«. (Hegel, Religion I, 16: 14) Ihrer dialektischen Methode gemäß, folgen auch die Vorlesungen über die Philosophie der Religion dem »sich explizierenden Begriff« in drei Schritten: (1) dem »Begriff der Religion im allgemeinen«, (2) der Besonderheiten der Religionen in ihrer geschichtlichen Bewusstwerdung und (3) der »Rückkehr des Begriffs aus seiner Bestimmtheit […] zu sich selbst« (Hegel, Religion I, 16: 64 f.), die sich für Hegel in der »absoluten Religion« – dem Christentum – erfüllt. In der Religion thematisiert die Philosophie in ihrem Gang der Selbsterkenntnis des Geistes den absoluten Geist als »das absolute Wahre, das an und für sich Allgemeine«, das auch Gott benannt werden kann. Aber an den Anfang gestellt, ist Gott nichts als ein Name, von dem wir nur wissen, dass für »das religiöse Bewußtsein […] Gott das absolut Wahre überhaupt ist, von dem alles ausgeht und in das alles zurückgeht«. (Hegel, Religion I, 16: 92) Wo also das religiöse Bewusstsein von Gott spricht, da erhebt es sich zu einem Gegenüber, das über sich und alles Seiende hinaus und zugleich das Begründende und Bestimmende von Allem ist. Alles ist aus und in Gott, diese »Vorstellung hat man mit dem Namen Pantheismus bezeichnen wollen.« (Hegel, Religion I, 16: 97) Wir aber – so Hegel weiter – haben uns zunächst der Frage nach der »Notwendigkeit des religiösen Bewußtseins« (Hegel, Religion I, 16: 105) zuzuwenden, denn wie oben angesprochen, geht es um ein Verhältnis des religiösen Bewusstseins zu Gott als seinem absoluten Gegenüber. Vergessen wir nicht den langen Weg, den die Philosophie bereits durch die Logik, die Naturphilosophie und die Philosophie des Geistes hindurch hinter sich hat, nach dem sich nun in der Gestalt der Religion der endliche Geist zum absoluten erhebt, um sich in diesem aufgehoben zu begreifen. »Das religiöse Bewußtsein dagegen ist in sich selbst das Abscheiden und Verlassen des Unmittelbaren, Endlichen und Übergang zum Intellektuellen oder, objektiv bestimmt, die Sammlung des Vergänglichen in sein absolutes, substantielles Wesen.« (Hegel, Religion I, 16: 106) Hier im religiösen Bewusstsein vollzieht sich der durchaus oftmals schmerzliche, auch verzweifelte Prozess des sich »Aufopferns« und sich »Verklärens« des endlichen in den absoluten Geist, den das System der Philosophie im Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes bereits im Allgemeinen dargelegt hat, hier nochmals von jedem einzelnen Bewusstsein vollzogen. Dabei ist »das 174 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegels Philosophie der Religion
Bewußtsein […] zugleich die Beziehung dieser beiden Selbständigen [endlicher und unendlicher Geist], in welcher beide als Eins gesetzt sind; indem ich vom Gegenstande weiß, so sind in meiner einfachen Bestimmtheit diese zwei, Ich und das Andere, in Einem.« (Hegel, Religion I, 16: 107 ff.) Aller Religion geht es um die Überbrückung der trennenden Kluft zwischen dem menschlichen Geist und dem absoluten Geist Gottes, um das Einswerden der Menschen mit Gott. Denn »in der Andacht und im Kultus hebt der Mensch diesen Gegensatz auf und erhebt sich zum Bewußtsein der Einheit mit seinem Wesen, dem Gefühl oder der Zuversicht der Gnade Gottes, daß Gott die Menschen zur Versöhnung mit sich angenommen hat.« (Hegel, Geschichte der Philosophie I, 18: 82) Unmittelbar erlebt der endliche Geist die Zugehörigkeit zum unendlichen Geist, »mein Sein und das Sein Gottes ist ein Zusammenhang, und die Beziehung ist das [gemeinsame] Sein«. (Hegel, Religion I, 16: 157) Zugleich ist diese Erfahrung kein Zustand, sondern ein »Werden«, ein Bewusstwerden des endlichen Geistes aus dem absoluten Geist, ein »Aufheben des einen, und zwar des Endlichen, welches nicht aushalten kann gegen das Unendliche. Dies Verhältnis, als Gefühl ausgedrückt, ist das der Furcht, der Abhängigkeit.« (Hegel, Religion I, 16: 169) Aber in diesem Gefühl der Abhängigkeit, ja Nichtigkeit des endlichen Geistes liegt zugleich ein affirmatives Moment, das man »die Güte des Unendlichen nennen« kann, »daß das Unendliche mich gewähren läßt.« (Hegel, Religion I, 16: 169) Zusammenfassend lässt sich also über den Begriff der Religion im Allgemeinen und zur Notwendigkeit des religiösen Bewusstseins sagen: »Die Vernunft ist der Boden, auf dem die Religion allein zu Hause sein kann. Die Grundbestimmung ist das affirmative Verhalten des Bewußseins, welches nur ist als Negation der Negation, als das Sichaufheben der Bestimmungen des Gegensatzes, die von der Reflexion als beharrend genommen werden.« (Hegel, Religion I, 16: 196) Die Religion erweist sich so als das Tor zur letzten Selbsterkenntnis des Geistes an und für sich selbst. In der Religion vollzieht sich der letzte Schritt des Sichbegreifens des Bewusstseins im absoluten Geist. »Wenn wir bisher den Ausdruck ›Bewußtsein‹ gebraucht haben, so drückt dies nur die Seite der Erscheinung des Geistes aus, das wesentliche Verhältnis des Wissens und seines Gegenstandes. […] Von diesem Verhältnis abstrahierend, sprechen wir [nun] vom Geist, und das Bewußtsein fällt dann als Moment in das Sein des Geistes; wir haben damit ein affirmatives Verhältnis des Geistes zum 175 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
absoluten Geist. […] Die Religion also ist Beziehung des Geistes auf den absoluten Geist. Nur so ist der Geist als der wissende das Gewußte.« (Hegel, Religion I, 16: 197) In ihrer vollen Wirklichkeit offenbart sich diese Einheit von endlichem und absolutem Geist im »Kultus« einer – jedweden – Glaubensgemeinschaft, die Hegel »Gemeinde« nennt. In der Andacht der Gemeinde ist Gott wirklich anwesend. »In dieser weiteren konkreten Bestimmung des Geistes geschieht es, daß der Begriff Gottes sich zur Idee vollendet.« (Hegel, Religion I, 16: 200) – Wobei »Idee« für Hegel die höchste Wirklichkeit geistigen Seins meint und ein anderes Sein als ein geistiges kennt Hegel nicht. Wer Gott nicht aus der Einheit des Geistes im Kultus der Gemeinde begreift, sondern an einem Gott als bloßen Gegenstand des Bewusstseins festhält, verharrt in einem abergläubischen Fetischismus, ist noch nicht zur höchsten und reinsten Gestalt der Religion vorgedrungen. Von dem höchsten Begriff Gottes sagt Hegel: »Gott ist so bestimmt als seiend für das Bewußtsein, als Gegenstand, als erscheinend; aber wesentlich ist er als die geistige Einheit in seiner Substantialität nicht nur bestimmt als erscheinend, sondern als sich erscheinend, also dem Anderen so erscheinend, daß er darin sich selbst erscheint.« (Hegel, Religion I, 16: 201) Um seine Aussage zu bekräftigen verweist Hegel auf die deutschen Predigten von Meister Eckhart: »Das Auge, mit dem mich Gott sieht, ist das Auge, mit dem ich ihn sehe; mein Auge und sein Auge ist eins. In der Gerechtigkeit werde ich in Gott gewogen und er in mir. Wenn Gott nicht wäre, wäre ich nicht; wenn ich nicht wäre, so wäre er nicht. Dies ist jedoch nicht not zu wissen, denn es sind Dinge, die leicht mißverstanden werden und die nur im Begriff erfaßt werden können.« (Meister Eckhart, zit. bei Hegel, Religion I, 16: 209) 10 Hegel fügt dem nur hinzu, dass es sich hierbei nicht um ein individuelles Glaubensgeschehen handelt, sondern um ein Geschehen in der Gesamtheit der Gemeinde, die ihrem Anspruch nach die ganze Menschheit umfasst. »Das subjektive Bewußtsein selbst ist aber ein beschränktes, bestimmtes Bewußtsein […]. In Gott liegt aber selbst Bewußtsein und Wissen« (Hegel, Religion I, 16: 213), und dieses erfüllt sich durch den Kultus der Gemeinde hindurch. »Insofern der Kultus auch ein Handeln ist, hat er einen Zweck in sich, und dieser,
In der Anmerkung verweisen die Hegel-Herausgeber auf Meister Eckharts deutsche Predigten »Qui audit me«, »Justus in perpetuum vivet«, »Beati pauperes spiritu«.
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Hegels Philosophie der Religion
der Glaube, ist die in sich konkrete Realität des Göttlichen und des Bewußtseins.« (Hegel, Religion I, 16: 218) Von hier her stellt sich Hegel erneut der Frage nach dem »Verhältnis der Religion zum Staat«, die er vom Staat her schon einmal innerhalb der Rechtsphilosophie aufgeworfen hat. Ihre gemeinsame Grundlage ist die Geschichte als die objektive Form des Zu-sich-selber-Kommens des Geistes: »Der Staat ist die wahrhafte Weise der Wirklichkeit; in ihm kommt der wahrhafte, sittliche Wille zur Wirklichkeit und lebt der Geist in seiner Wahrhaftigkeit. Die Religion ist das göttliche Wissen, das Wissen des Menschen von Gott und Wissen seiner in Gott. Dies ist die göttliche Weisheit und das Feld der absoluten Wahrheit. […] Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eins und dasselbe; sie sind an und für sich identisch. […] Es ist ein Begriff der Freiheit in Religion und Staat. Dieser eine Begriff ist das Höchste, was der Mensch hat, und er wird von dem Menschen realisiert.« (Hegel, Religion I, 16: 236 f.) Ihr Unterschied drückt sich allein in der Form aus, »daß die Forderung der Religion auf die Heiligkeit gehe, die des Staates auf Recht und Sittlichkeit; auf der einen Seite sei die Bestimmung für die Ewigkeit, auf der andern für die Zeitlichkeit und das zeitliche Wohl«. (Hegel, Religion I, 16: 240) Die »Weltgeschichte«, die sich als »der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« erweist, »ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben« (Hegel, Philosophie der Geschichte, 12: 32), zeigt sich hier erneut als Einheit in doppelter Blickrichtung: als Verwirklichung des Weltgeistes in seiner sittlichen Freiheit und als Erfüllung der Heiligkeit des göttlichen Geistes. Auf die Bestimmung des Begriffs der Religion folgt im zweiten und umfangreichsten Teil der Vorlesungen über die Philosophie der Religion Ausführungen zum geschichtlichen »Gang […], wie die wahrhafte Religion entsteht«. (Hegel, Religion I, 16: 252) Sie verfolgen »die Arbeit des Geistes durch Jahrtausende«, den die Völker durch die Geschichte hindurch vollbringen, »den Begriff der Religion auszuführen und ihn zum Gegenstand des Bewußseins zu machen.« (Hegel, Religion I, 16: 252) Auch die Religion durchläuft eine Geschichte; auch in ihr vollzieht sich das Zu-sich-selber-Kommen des Geistes in einer Folge von Gestalten. Der Geist in der Religion ist »das Heiligtum der Wahrheit selbst«, daher gilt es auch, dieses Bewusstwerden des Geistes in der Religion zu erfassen, »d. i. sie als vernünftige [zu] erkennen und an 177 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
[zu]erkennen […]. Denn sie ist das Werk der sich offenbarenden Vernunft, und ihr höchstes, vernünftigstes.« (Hegel, Geschichte der Philosophie I, 18: 82 f.) Hegel zeichnet hier zunächst (1) die »Naturreligion« in ihrer unmittelbaren geistigen und natürlichen Einheit der »Zauberei« nach, verfolgt dann (2) die Religionen der »Entzweiung des Bewußtseins« in die »absolute Macht« und die »Nichtigkeit« des Endlichen in China, Indien und im Buddhismus, um sich sodann (3) »dem Kampfe der Subjektivität, die sich in ihrer Einheit und Allgemeinheit herzustellen sucht« im Parsismus sowie der Religion in Syrien und Ägypten zuzuwenden. (Hegel, Religion I, 16: 254–441) Danach bespricht Hegel die »Religionen der geistigen Individualität«, worunter er (1) die »Religion der Erhabenheit« der Juden, (2) die »Religion der Schönheit« der Griechen und (3) die »Religion der Zweckmäßigkeit« der Römer behandelt. (Hegel, Religion II, 17: 7–184)
5.4 Die absolute Religion Schließlich und abschließend gelangt Hegel zur »absoluten Religion« in ihrer höchsten Gestalt der befreiten Geistigkeit des Christentums, der wir uns nun etwas ausführlicher zuwenden wollen. Was unter »absoluter Religion« zu verstehen ist, lässt sich mit Hegel so umreißen: »Wir haben die Religion näher bestimmt als Selbstbewußtsein Gottes […]; Gott ist Selbstbewußtsein, er weiß sich in einem von ihm verschiedenen Bewußtsein […]. Das endliche Bewußtsein weiß Gott nur insofern, als Gott sich in ihm weiß; so ist Gott Geist, und zwar der Geist seiner Gemeinde, d. i. derer, die ihn verehren. Das ist die vollendete Religion, der sich objektiv gewordene Begriff.« (Hegel, Religion II: 17: 187) D. h. wo sich der endliche Geist aus und im unendlichen Geist zu begreifen beginnt, begreift er den unendlichen Geist als seinen Ursprung und sein Ziel und begreift sich so aus dem absoluten Geist, der sich ein Gegenüber erschaffen hat, in dem er zu sich selber zu kommen vermag, und zwar nicht in einem einzelnen endlichen Geist, sondern in der Gemeinde »derer, die ihn verehren«. Dies ist noch nicht die letzte Stufe der Selbsterkenntnis des Geistes an und für sich selbst, aber die höchste Gestalt des Gegenübertretens und Sich-Eins-Wissens des endlichen und unendlichen Geistes in der Religion. Dies entfaltet nun Hegel in drei Schritten: (I) »Gott in seiner ewigen Idee an und für sich: Das Reich des Vaters«, 178 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die absolute Religion
(II) »Die ewige Idee im Elemente des Bewußtseins: Das Reich des Sohnes« und (III) »Die Idee im Elemente der Gemeinde: Das Reich des Geistes«. Das Reich des Vaters ist der im reinen Anschauen gefasste Gedanke der »ewigen Gegenwart« Gottes – gleichsam »vor der Erschaffung der Welt«. Mit diesem Gedanken »fängt die Religion, das Denken Gottes an«. (Hegel, Religion II, 17: 219) Aber die Bestimmung des Denken Gottes schreitet fort bis zur Differenzierung der Dreieinigkeit Gottes, denn es muss in der Bestimmung Gottes in seiner ewigen Idee an und für sich alles angelegt sein, was durch die späteren begrifflichen und geschichtlichen Differenzierungen noch bewusst hervortreten werde. So ist Gott von Anfang an schon als Geist in seiner absoluten Wahrheit bestimmt, zugleich aber auch als das sich offenbarende Leben in seiner unendlichen Fülle und schließlich als die ewige Liebe, die das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zweier Unterschiedener ist. »Diese ewige Idee ist denn in der christlichen Religion ausgesprochen als das, was die heilige Dreieinigkeit heißt; das ist Gott selbst, der ewig dreieinige.« (Hegel, Religion II, 17: 222) Das Reich des Sohnes ist die erschaffende »Welt des endlichen Geistes«. Der endliche Geist des Menschen ist ein zerrissener, einerseits trägt er die Ebenbildlichkeit Gottes in sich, und hierin liegt auch seine Verwurzelung im Guten, andererseits bereitet ihm seine immer auch selbst gewollte Fesselung im Endlichen »unendlichen Schmerz über sich selbst«. (Hegel, Religion II, 17: 263) Hier nun tritt innerhalb der jüdischen Religion und zugleich über sie hinausweisend Jesus hervor, der durch Lehre und Lebensführung »das Bewußtsein der Aussöhnung« aufscheinen lässt, das durch seinen Tod und seine Auferstehung für die Gemeinde besiegelt wird. »Dies Bestimmung, daß Gott Mensch wird, damit der endliche Geist das Bewußtsein Gottes im Endlichen selbst habe, ist das schwerste Moment in der Religion.« (Hegel, Religion II, 17: 276) Mit dem Leben Jesu beginnt die »Versöhnung des Menschen mit Gott«, aber die eigentliche »Umkehrung des Bewußtseins« ereignet sich erst »mit dem Tod Christi«, denn in ihm ist das »menschliche Verhältnis Christi aufgehoben, und an diesem Tode eben ist es, daß sich der Übergang macht in das Religiöse; da kommt es an auf den Sinn, die Art der Auffassung dieses Todes.« (Hegel, Religion II, 17: 287 f.) Doch noch ist damit nicht alles über den Tod Christi ausgesagt, denn in ihm liegt auch das Erschrecken: »Gott ist gestorben, Gott ist tot – dieses ist der fürchterlichste Gedanke, daß alles Ewige, alles 179 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
Wahre nicht ist, die Negation selbst in Gott ist; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden.« (Hegel, Religion II, 17: 291) Erst mit der »Auferstehung und Himmelfahrt Christi« tritt der wahre Geist Gottes in die Gemeinde ein: »Gott nämlich erhält sich in diesem Prozeß, und dieser ist nur der Tod des Todes. Gott steht wieder auf zum Leben: es wendet sich somit zum Gegenteil.« (Hegel, Religion II, 17: 291) »In dieser ganzen Geschichte ist den Menschen zum Bewußtsein gekommen […], daß die Idee Gottes für sie Gewißheit hat, daß das Menschliche unmittelbarer, präsenter Gott ist, und zwar so, daß in dieser Geschichte, wie sie der Geist auffaßt, selbst die Darstellung des Prozesses ist dessen, was der Mensch, der Geist ist: an sich Gott und tot – diese Vermittlung, wodurch das Menschliche abgestreift wird, andererseits das Ansichseiende zu sich zurückkommt und so erst Geist ist.« (Hegel, Religion II, 17: 297 f.) Diese Versöhnung und Einheit des Geistes, wie sie als Pfingstgeschehen der »Ausgießung des Geistes« erzählt wird, ereignet sich in der geschwisterlichen Liebe der Gemeinde, die in der Gewissheit der Glaubenden steht, dass durch Christus »die Versöhnung vollbracht ist« (Hegel, Religion II, 17: 307) und daher in der Gemeinde Wirklichkeit werden kann. Es sind überhaupt falsch gestellte Fragen, für die man nach längst abgestreiften Weltlichkeiten als Antwort sucht, wenn gefragt wird: »1. ist es überhaupt wahr, daß Gott nicht ist ohne den Sohn […] und 2. Ist dieser Jesus von Nazareth, des Zimmermanns Sohn, Gottes Sohn, der Christ gewesen?« (Hegel, Religion II, 17: 308) Solche Fragen tragen noch den »Aberglauben an die sogenannte Naturmacht und deren Selbständigkeit gegen den Geist« in sich. (Hegel, Religion II, 17: 316) Denn die Versöhnung des Geistes mit dem Geiste ist ein geistiges Ereignis, das alle Weltlichkeit von sich abgestreift hat. »Aber die Geschichte Christi ist Geschichte für die Gemeinde, da sie der Idee schlechthin gemäß ist […]. Dies ist es, worauf es ankommen muß; dies ist die Bewahrheitung, der absolute Beweis […]. Es ist der Geist, die inwohnende Idee, die Christi Sendung beglaubigt hat, und dies ist für die, die glauben, und für uns im entwickelten Begriff die Bewährung.« (Hegel, Religion II, 17: 311) Mit Recht hat Hegel immer wieder unterstrichen, dass er »Lutheraner« sei (Hegel, Geschichte der Philosophie I, 18: 94), wobei für ihn nicht nur das Abendmahl, sondern das ganze Glaubensgeschehen im Kultus der Gemeinde weder ein materielles (Katholizismus) noch 180 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die absolute Religion
ein nur geschichtlich erinnerndes (Calvinismus), sondern ein ausschließlich geistiges Ereignis darstellt. Nur so »wohnt der Geist Gottes« in der Gemeinde. Daher ist erst in der christlichen Offenbarung die Einswerdung wissendes Zu-sich-selber-Kommen des Geistes geworden. Denn in der Nachfolge Christi, dem Gottes- und Menschensohn tritt im christlich-lutherischen Glauben die Einswerdung des menschlichen und göttlichen Geistes in das geschichtliche Dasein der Gemeinde. »Der Geist selbst ist nur dies Vernehmen seiner selbst. Es ist nur ein Geist, der allgemeine göttliche Geist […]. Im Vernehmen seiner selbst ist Entzweiung gesetzt, und der Geist ist Einheit des Vernommenen und Vernehmenden. Der göttliche Geist, der vernommen wird, ist der objektive; der subjektive Geist vernimmt. Der Geist ist aber nicht passiv […]; es ist eine substantielle Einheit. Der subjektive Geist ist der tätige, aber der objektive Geist ist selbst diese Tätigkeit. Der tätige, subjektive Geist, der den göttlichen Geist vernimmt – und insofern er den göttlichen Geist vernimmt –, ist aber der göttliche Geist selber […]; der göttliche Geist lebt in seiner Gemeinde, ist darin gegenwärtig.« (Hegel, Geschichte der Philosophie I, 18: 93 f.) Diese höchste »Realisierung« der Einswerdung des endlichen und unendlichen Geistes, zu der der Geist in der Geschichte der Religion gelangt, verbleibt jedoch immer noch in den Formen der Andacht und des Glaubens und ist noch nicht die vollständig wissende Einheit des absoluten Geistes mit sich selbst, die sich erst in der »Verklärung des Glaubens in der Philosophie« (Hegel, Religion II, 17: 306) erfüllt. Denn die »Philosophie hat den Zweck, die Wahrheit zu erkennen, Gott zu erkennen, denn er ist die absolute Wahrheit; insofern ist nichts anderes der Mühe wert gegen Gott und seine Explikation. Die Philosophie erkennt Gott wesentlich als den konkreten, als geistige, reale Allgemeinheit, die nicht neidisch ist, sondern sich mitteilt.« (Hegel, Religion II, 17: 341) Nun wehrt Hegel ausdrücklich den Vorwurf ab, dass sich die Philosophie »über die Religion« stelle, dies aber ist ein grundlegendes Missverständnis, denn die »Philosophie steht mit der Religion auf gleichem Boden« (Hegel, Geschichte der Philosophie I, 18: 83, 100). Ihr »Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt sich bewähren und beglaubigen soll.« Also nur »über die Form des Glaubens« erhebt sich die Philosophie, »der Inhalt ist derselbe«. (Hegel, Religion II, 17: 341) Aber die Philosophie ist in der Form von der Religion unter181 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
schieden, da ihr der absolute Geist nicht mehr das dem geschichtlichen Weltgeist entgegenstehende Andere Gottes ist, vielmehr ist die Philosophie selbst und sie allein das Zu-sich-selber-Kommen des absoluten Geistes selber. Zu diesem Resultat ist die Philosophie aber selbst erst im Laufe des Zu-sich-selber-Kommens des absoluten Geistes durch die Geschichte der Philosophie gekommen, und er hat sich diesen Begriff von sich selbst im System der Philosophie, wie es Hegel entfaltet, erst erarbeitet. »Der nunmehrige Standpunkt der Philosophie ist, daß die Idee [in der Logik] in ihrer Notwendigkeit erkannt, die Seiten ihrer Diremtion, Natur und Geist, jedes als Darstellung der Totalität der Idee und nicht nur als an sich identisch, sondern an sich selbst diese eine Identität hervorbringend und diese dadurch als notwendig erkannt werde. Das letzte Ziel und Interesse der Philosophie ist, den Gedanken, den Begriff mit der Wirklichkeit zu versöhnen. Die Philosophie ist die wahrhafte Theodizee, gegen Kunst und Religion und deren Empfindungen, – diese Versöhnung des Geistes, und zwar des Geistes, der sich in seiner Freiheit und in dem Reichtum seiner Wirklichkeit erfaßt hat […]. Im Begreifen durchdringen sich geistiges und natürliches Universum als ein harmonierendes Universum, das […] in seinen Seiten das Absolute zur Totalität entwickelt, um eben damit, in ihrer Einheit, im Gedanken sich bewußt zu werden. […] Die letzte Philosophie ist das Resultat aller früheren; nichts ist verloren, alle Prinzipien sind erhalten. Diese konkrete Idee ist das Resultat der Bemühungen des Geistes durch fast 2500 Jahre«. (Hegel, Geschichte der Philosophie III, 20: 454) Wohl haben die Denker im Laufe der Geschichte der Philosophie die Gedankenarbeit vollbracht, aber nicht sie sind die Erfinder ihrer Gedanken, sondern es ist der absolute Geist selber, der durch diese weltlichen geschichtlichen Gestalten der philosophischen Systeme hindurch sich zum absoluten Wissen seiner selbst bringt. Der Geist selber und er allein ist der Maulwurf, der im Zu-sich-selber-Kommen sich durch die Geschichte der Philosophie vorarbeitet – auch Hegels System ist die nur gegenwärtig letzte Form des Sich-selbst-Wissens des absoluten Geistes. »Diese Arbeit des Geistes, sich zu erkennen, sich zu finden, diese Tätigkeit ist der Geist, das Leben des Geistes selbst. Sein Resultat ist der Begriff, den er von sich erfaßt: die Geschichte der Philosophie, die klare Einsicht, daß der Geist dies gewollt in seiner Geschichte […]. Die Geschichte der Philosophie ist das Innerste der Weltgeschichte.« (Hegel Geschichte der Philosophie III, 20, 456) 182 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
5.5 Nachbemerkungen Wie bereits mehrfach betont, ab 1801 bis 1806 arbeitet Schelling nur noch an einem materialen vernunftwissenschaftlichen System der Philosophie. Hegel schließt sich, als er 1801 nach Jena kommt, Schellings Schritt von der Transzendentalphilosophie zur Vernunftphilosophie vollständig an und unterstreicht dies auch in seiner ersten Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801). Der Weg, den er dazu einschlägt, ist jedoch ein gänzlich anderer, ohne dass dies zunächst den beiden Jugendfreunden aus dem Tübinger Stift auffällt. Als Hegel die Differenz zwischen Schelling und ihm in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) erstmals publik macht, fällt Schelling nicht nur aus allen Wolken, denn ihre Zusammenarbeit hatte sich nach Schellings Berufung nach Würzburg auf Briefe mit persönlichen Lebensberichten beschränkt, sondern Schelling fühlt sich geradezu von Hegel verraten, da dieser nun eine Position einnimmt, die insbesondere in der Naturfrage eher der Fichtes als seiner entspricht. Der Grund hierfür liegt darin, dass Hegel die vorantreibende Kraft in seiner Dialektik des Geistes, obwohl nun nicht mehr auf die Gewissheit des Ich – wie bei Fichte –, sondern auf die Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit bezogen, ganz auf die Seite des Begreifens des Geistes verlegt, wogegen der Natur nur die negative Rolle des durch ihre Erkenntnis und ihre Beherrschung zu Überwindenden zufällt. Oder anders gesagt, bei Fichte impliziert die intellektuelle Anschauung des »Ich = Ich« das Bin, die Selbstgewissheit trägt gleichsam die Daseinsgewissheit in sich, bei Hegel übergreift der Geist ausdrücklich das Begreifen und die begriffene Wirklichkeit, d. h. der Wirklichkeit – ob Natur oder menschlicher Praxis – kommt keine eigene positive Kraft zu. Daher beginnt Hegel sein materiales System der Philosophie mit der Logik als Selbstklärung des Prozesses des Begreifens, tritt dann in das begreifende Durchdringen der Natur als ihrem Anderen gegenüber, um schließlich in der Philosophie des Geistes durch alle Formen der Objektivierungen des Geistes bis zum absoluten Selbstbegreifen des Geistes in und durch sich selbst vorzudringen. Schelling hat dagegen die intellektuelle Anschauung genau anders herum akzentuiert verstanden: In ihrem anschauenden Moment des Bin liegt die treibende Kraft, die Reflexion dagegen ist das Moment des begreifenden Anhaltens. Dieses Modell des sich selbst Be183 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Hegel – »Die Verklärung des Glaubens in der Philosophie«
greifens des Selbstbewusstseins durch all ihre Gestalten im System des transzendentalen Idealismus versucht Schelling ab 1801 auf die Vernunfterkenntnis der Wirklichkeit zu übertragen. In der Wirklichkeit liegt das produktive Band, das durch das begreifende Band der Vernunft eingeholt werden muss. Daher beginnt Schelling mit der Naturphilosophie als unserer daseienden Grundlage, mit ihren Potenzen des Gravitationszusammenhangs, der dynamischen Prozesse der Materien untereinander und dem organischen Prozess der Reproduktion, um dann zur ideellen Welt mit ihren Potenzen des Erkennens, Wollens und Gestaltens fortzuschreiten und um schließlich bis zur Thematisierung des Absoluten in Kunst, Philosophie und Religion vorzudringen, die aber immer nur bis zu einem Streben nach Einbezogensein ins Absolute gelangen, niemals aber Selbsterkenntnis des Absoluten selbst zu sein vermag. Hegel hat – den Grundgedanken des Parmenides dialektisch zu Ende führend – die Einheit von Denken und Sein als die übergreifende Einheit des denkenden Geistes über sich selbst und sein Anderes, das Sein, gefasst und in der Formel der »Identität der Identität und Nicht-Identität« ausgesprochen. Über die Erkenntnis seines Anderen kann das Denken zu sich selber als Denken und Sein übergreifender Geist gelangen. Mit diesem absoluten Idealismus glaubt Hegel eine wahrhaft voraussetzungslose Philosophie vollendet zu haben, denn sie selbst ist im Vollzug des Begreifens aller Gestalten des Wirklichen zugleich die Selbsterkenntnis des absoluten Geistes oder Gottes selber. Aber Hegels Dialektik des Geistes lebt aus einer Voraussetzung, die sie nicht einzuholen vermag, da sie mit einer Setzung beginnt, die zugleich eine Verleugnung darstellt. Denn indem sie ihr Denken selbst für voraussetzungslos erklärt, setzt sie voraus, dass das Sein nichts sei als ein Begriff, als eine Prädikation – wenn auch die unmittelbarste – des Denkens. Dieser absolute Idealismus ist zwar in seiner Dialektik des Übergreifens genial, aber er verleugnet – vom ersten Gedanken an – das Sein in seiner Eigenständigkeit des Existierens. Damit wird das Sein nicht als das Andere des Denkens, sondern nur als sein Anderes, das vom Denken zu Begreifende aufgefasst, nicht darauf achtend, dass das Denken selbst ein Existierendes ist, das, einbezogen in das Andere des Existierens, dem Denken allemal unvordenklich voraus ist. So beginnt Hegels Logik beim »reinen Sein« als der unmittelbarsten Prädikation, die zugleich das »reine Nichts« denkender Vermittlung ist und schreitet von da durch sämtliche Prädika184 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
tionen bis zur »absoluten Idee« fort, die alle nur denkbaren Bestimmungen des Seins in sich enthält. Darin begeht Hegel hier – wie Schelling in seiner Geschichte der neueren Philosophie (1827) herausarbeitet –, nicht nur denselben Fehler wie Anselm von Canterbury und Descartes mit dem »ontologischen Gottesbeweis«, indem er die Prädikation des Seins mit der »absoluten Position« des tatsächlichen Existierens – um mit Kant zu sprechen (Kant KrV B 626) – vermengt, sondern Hegel geht sogar so weit, abzustreiten, dass es überhaupt eine Positivität außerhalb der Immanenz der Logik geben könne, auf die sich das Denken bezöge. Das hat enorme Konsequenzen für Hegels Religionsphilosophie und insbesondere für sein Verständnis der absoluten, der christlichen Religion. Wie dies Hegel bereits in seiner ersten Religionsschrift Glaube und Wissen (1802) angedeutet, aber schließlich in seiner Vorlesung zur Philosophie der Religion in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts klar ausformuliert hat: »Der Tod Christi ist aber der Tod dieses Todes selbst, die Negation der Negation. […] Am Tode Christi ist dieses Moment zuletzt noch hervorzuheben, daß Gott es ist, der den Tod getötet hat, indem er aus demselben hervorgeht […]. Dieser Tod aber, obwohl natürlicher, ist der Tod Gottes und so genugtuend für uns, indem er die absolute Geschichte der göttlichen Idee, das, was an sich geschehen ist und was ewig geschieht, darstellt. […] Es ist die Identität des Göttlichen und Menschlichen, daß Gott im Endlichen bei sich selbst ist und dies Endliche im Tode selbst Bestimmung Gottes ist. Gott hat durch den Tod die Welt versöhnt und versöhnt sie ewig mit sich selbst. Dies Zurückkommen aus der Entfremdung ist seine Rückkehr zu sich selbst, und dadurch ist er Geist«. (Hegel, Religion II, 17: 292 ff.) Es fragt sich nur, ob Hegel mit dieser fast an das Nirwana erinnernden Verklärung alles Natürlichen und Endlichen nicht letztlich den unbestreitbar bestehenden Reichtum seiner Philosophie in ein Gespensterreich von Metaphern aufhebt, wobei diesmal das Aufheben nicht mehr ein Aufbewahren, sondern nur noch ein endgültiges Aufgeben wäre.
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6. Schelling – Vom »notwendig Gottsetzenden Bewusstsein« 1
Hegels Selbsternennung des philosophischen Denkens zu dem das Sein mitübergreifenden absoluten Geist, oder sagen wir umgekehrt: Hegels Verleugnung eines realen Bezugs der Vernunft zur Wirklichkeit ist für Schelling das »Eine«, das ihn von seinem Jugendfreund unversöhnbar trennt und wogegen er ab 1807 anzukämpfen versucht. Wir können an dieser Stelle die verschiedenen Anläufe von Schellings Gegenentwürfe nach 1807 – die Freiheits-Schrift (1809) und die Weltalter-Entwürfe (1811–15)– nur knapp andeuten, um danach gleichsam vom Ende her die Konturen der letzten Antwort Schellings auf Hegels Herausforderung – sein Konzept des »notwendig Gottsetzenden Bewußtseins« zu umreißen.
6.1 Die Freiheit Gottes als Ermöglichung der Freiheit des Menschen 1809 erscheint unter dem Titel Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und damit zusammenhängende Gegenstände die letzte systematische Grundlegung Schellings, die er selber noch veröffentlicht, alle weiteren Werke – darunter Die Weltalter, die Philosophie der Mythologie, die Philosophie der Offenbarung, die Darstellung der rein-rationalen Philosophie und viele andere Vorlesungsmanuskripte –, die heute als das bedeutende
Hier verweise ich – ohne die vielen Einzelvorträge und -beiträge zu erwähnen – pauschal nur auf meine drei Schelling-Bücher: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016), »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996) und Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015).
1
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Die Freiheit Gottes als Ermöglichung der Freiheit des Menschen
Alterswerk Schellings diskutiert werden, sind erst nach seinem Tode herausgegeben worden. Aber die eigentliche Stoßrichtung der Studie zum Wesen der menschlichen Freiheit zielt darauf – wie es Schelling selber im Vorbericht betont –, den Missverständnissen entgegenzuwirken, die seine Schrift Philosophie und Religion (1804) »durch Schuld der Darstellung« (Schelling, Freiheit, VII: 334) ausgelöst hat. Den massiven Vorwürfen ausgesetzt, einen neuen Pantheismus zu predigen und in einen Neuplatonismus zu versinken, versucht Schelling durch ein völlig neues Durchdenken des Verhältnisses von Mensch und Gott entgegenzutreten. Bisher habe er die »allgemeine Darstellung seines Systems […] bloß auf naturphilosophische Untersuchungen beschränkt« (Schelling, Freiheit, VII: 333 f.), erst jetzt werde er »seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie mit völliger Bestimmtheit« (Schelling, Freiheit, VII: 334) vorzulegen beginnen. Daraus ergibt sich aber – was Schelling nicht so offen zugibt – die Notwendigkeit eines Neubeginns, denn durch die Thematisierung der menschlichen Freiheit wird es notwendig, auch das Absolute oder Gott neu von der Freiheit her zu bedenken. Dadurch verschiebt sich jedoch auch der Einstiegspunkt der Naturphilosophie, die bisher im Wesentlichen als aus sich selbst bestimmtes Werden bedacht wurde. Nun aber, da die menschliche Freiheit ins Zentrum der Philosophie der ideellen Welt gerückt wird, und zwar in ihrer radikalsten Form als Freiheit zum Guten wie zum Bösen, fragt es sich nicht nur, wie und weshalb das Absolute diese Freiheit zum Guten und Bösen zugelassen hat, sondern auch, welche Rollen der Natur und der menschlichen Geschichte zugedacht sind, denn ohne Klärung des »Zusammenhang[s] des Begriffs der Freiheit mit dem Ganzen der Weltansicht« würde »die Philosophie aber völlig ohne Werth seyn«. (Schelling, Freiheit, VII: 338) In diesem Sinne unterstreicht Schelling im Wesen der menschlichen Freiheit das Anliegen seiner Systemschriften: »Wechseldurchdringung des Realismus und Idealismus war die ausgesprochene Absicht seiner [Schellings] Bestrebungen.« (Schelling, Freiheit, VII: 350) Genau aber diese Wechseldurchdringung der beiden »gleich ewigen Anfänge« (Schelling, Freiheit, VII: 395; 408), des durch alles hindurchwirkenden existierenden Bandes und des alles begreifenden Bandes geht bei Hegel verloren, indem er die Anschauung unter den Begriff subsumiert, das Sein durch das Denken dialektisch im Geist aufgehoben wähnt. 187 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling – Vom »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein«
Indem die Freiheitsproblematik ins Zentrum der philosophischen Untersuchung der ideellen Welt gerückt wird, werden Nachjustierungen im System insgesamt erforderlich. Bisher hatte Schelling das Absolute im Hinblick auf die Naturphilosophie bedacht und die ideelle Welt vornehmlich unter dem Gesichtspunkt behandelt, die Vernunfterkenntnis der Natur zu sein. Die Frage nach der Freiheit des Handelns zum Guten und zum Bösen hebt erneut die philosophische Erörterung einer Sinndimension ins Zentrum, die Schelling bereits in seinem frühen Werk des Systems des transzendentalen Idealismus (1800) behandelt hat. Solange nur die Natur in ihrem Wirklichkeitszusammenhang bedacht wird, reicht es hin, den Sinnzusammenhang in der unendlichen Wirksamkeit der Naturpotenzen zu verorten: im Himmelsgeschehen, in den dynamischen Prozessen und im Organismus und seiner Evolution. Wo aber die Freiheit des menschlichen Handelns befragt wird, kommt etwas ins Spiel, was nicht durch die Naturbestimmtheit festgelegt ist, sondern erst durch die Menschen erreicht werden soll. Dadurch wird eine Sinnbestimmung der Geschichte angesprochen, die erst über das menschliche Handeln erreicht werden kann, zugleich aber als Ermöglichungsgrund bereits im Absoluten oder Gott vorbedacht sein muss. Somit wird klar, dass die Bestimmung der menschlichen Freiheit nicht ohne die sie begründende Freiheit des Absoluten oder Gottes thematisiert werden kann. Nun steht andererseits ebenfalls außer Frage, dass diese Möglichkeit, sich für das Gute oder Böse entscheiden zu können, nur in der menschlichen Freiheit vorkommen kann. Weder in Gott noch in der Natur kann das Böse liegen, denn das Böse kann nur als Gegenbegriff zu Gott gedacht werden, und in der Natur gibt es keinen Entscheidungsträger für das Böse. Gleichwohl muss die Freiheit Gottes so gedacht werden, dass durch sie die Freiheit des Menschen zur Entscheidung für das Gute – was aber die Möglichkeit der Entscheidung für das Böse impliziert – ermöglicht ist. Dies ist die sehr komplizierte und verschachtelte Ausgangssituation von Schellings Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit. Beginnen wir, um die Darstellung auf die große Linie zu konzentrieren, mit der Freiheit Gottes. Einerseits versteht sich die Freiheit Gottes von selbst, denn alles, was ist, ja, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, stellt eine Selbstoffenbarung des Absoluten oder Gottes dar. Doch wir verfehlen den Gedanken der Freiheit Gottes, wenn wir die Schöpfung allein als einen physischen oder logisch notwendigen Prozess betrachten, wie dies im reinen Realismus bzw. im reinen 188 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Freiheit Gottes als Ermöglichung der Freiheit des Menschen
Idealismus geschieht, denn dann geht die Möglichkeit der Bestimmung der Freiheit – auch die des Menschen – verloren. Die Freiheit Gottes lässt sich nur denken, wenn wir – trotz aller Einheit in Gott – zwei relativ unabhängige Akte in Gott denken, die in ihrer freien Vermittlung den Geist Gottes in seiner Freiheit und Persönlichkeit ausmachen. Aus ihnen geht zum einen der Schöpfungsakt hervor, die Entlassung der Natur aus Gott, deren Werdeprozess im Hervortreten eines Naturwesens mit Bewusstsein gipfelt, und zum anderen der Offenbarungsakt, der sich an die Menschen richtet und der noch keineswegs abgeschlossen ist, da er erst durch die Selbstbewusstwerdung der Menschen und das ihnen aufgegebene Handeln zur Vollendung gebracht werden kann. »Die vorläufige Frage wegen der Freiheit Gottes in der Selbstoffenbarung scheint zwar durch das Vorhergehende entschieden. Wäre uns Gott ein bloß logisches Abstraktum, so müßte dann auch alles aus ihm mit logischer Nothwendigkeit folgen; er selbst wäre gleichsam nur das höchste Gesetz, von dem alles ausfließt, aber ohne Personalität und Bewußtseyn davon. Allein wir haben Gott erklärt als lebendige Einheit von Kräften; und wenn Persönlichkeit nach unserer früheren Erklärung auf die Verbindung eines Selbständigen mit einer von ihm unabhängigen Basis beruht, so nämlich, daß diese beiden sich ganz durchdringen und nur Ein Wesen sind, so ist Gott durch die Verbindung des idealen Princips in ihm mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grund, da Basis und Existierendes in ihm sich nothwendig zu Einer absoluten Existenz vereinigen, die höchste Persönlichkeit; […] so ist Gott, als das absolute Band derselben, Geist im eminenten und absoluten Verstande. So gewiß ist es, daß nur durch das Band Gottes mit der Natur die Personalität in ihm begründet ist, da im Gegenteil der Gott des reinen Idealismus, so gut wie der des reinen Realismus, nothwendig ein unpersönliches Wesen ist, wovon der Fichtesche und Spinozische Begriff die klarsten Beweise sind. Allein weil in Gott ein unabhängiger Grund von Realität und daher zwei gleich ewige Anfänge der Selbstoffenbarung sind, so muß auch Gott nach seiner Freiheit in Beziehung auf beide betrachtet werden. […] Schlechthin freier und bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dieß ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und That.« (Schelling, Freiheit, VII: 394 f.) In Gott als Ermöglichungsgrund ist also als dritte vermittelnde und zielsetzende Kraft der Geist der Liebe gesetzt, insofern er frei über seine Kräfte, den »Willen zum Grund der Existenz« und den 189 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling – Vom »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein«
»Willen zur Offenbarung des Verstandes« 2 verfügen kann. Er ist das geistige Band beider, freie und liebende Einheit, in der kein Platz für das Böse sein kann. »Gott als Geist (das ewige Band beider) ist die reinste Liebe, in der Liebe aber kann nie ein Wille zum Bösen sein«. (Schelling, Wesen der menschlichen Freiheit, VII: 375) »Der Ungrund theilt sich aber in die zwei gleich ewigen Anfänge, nur damit die zwei […] durch Liebe eins werden. […] Denn […] das Geheimniß der Liebe [ist] daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere.« (Schelling, Freiheit, VII: 408) Die Schöpfung, die nur als Freisetzung des Willens zum Grunde gedacht werden kann, da es zuvor außer Gott nichts gibt und geben kann, ist zwar ein Heraustreten der Natur in die Existenz und ein Fortwirken im realen Existieren, aber dies ist kein blind-zufälliger Prozess, denn in ihm regt sich – so unbewusst am Anfang auch immer – bereits der zweite Wille der Formung durch den Verstand – durch das Licht und durch den Logos. (Schelling, Freiheit, VII: 363) Der Mensch ist das Wesen, das Gott mit der Schöpfung von Anfang an anzielt, ein Wesen, das nicht nur mit Bewusstsein den ihn vorausgehenden Prozess zu erkennen vermag, sondern das auch frei ist, das in ihm aufgehende Wort der Offenbarung zu vernehmen und den Willen zur Liebe in die ihm aufgegebene Geschichte hinein zu erfüllen. (Schelling, Freiheit, VII: 363 f.) Der Mensch ist nicht wie Gott, aber er hat dieselben Prinzipien in sich. Allerdings nicht absolut als Geist der Liebe, der alle Realität und Idealität durchwirkt, sondern nur auf sich als ein einzelnes Wesen bezogen. Wie alle Kreatur hat auch der Mensch den Eigenwillen in sich, er selbst sein zu wollen, dem steht das ideelle Prinzip des Verstandes oder des Wortes gegenüber, aus dem alle menschliche Erkenntnis und Sittlichkeit erwächst, über beide aber verfügt der menschliche Geist in unabhängiger Freiheit. (Schelling, Freiheit, VII: 411) So wie Gott in der Schöpfung der Natur den Widerstreit des dunklen Grundes und des Prinzips des Lichts zuließ, die in ihrer VerSchelling wechselt ab 1809 eine ganze Reihe von Begriffen grundlegend, so wird nun die Vernunft durch Verstand ersetzt: »Denn so hoch wir auch die Vernunft stellen, glauben wir doch z. B. nicht, daß jemand aus reiner Vernunft tugendhaft, oder ein Held, oder überhaupt ein großer Mensch sey […]. Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde […]. Aber nur der Verstand ist es, der das in diesem Grunde verborgene […] herausbildet.« (Schelling, Freiheit, VII: 414).
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Die Freiheit Gottes als Ermöglichung der Freiheit des Menschen
mittlung alle Formen des Lebens bis hin zu einem Wesen mit Bewusstsein aus sich selbst hervorbringen, ebenso überließ er dem Menschen die uneingeschränkte Freiheit, die so weit reicht, dass sie sich auch wider Gott zu richten vermag. Dies aber nicht mit der Absicht, dass der Mensch von ihm abfalle, sondern dass er ganz aus der Freiheit seines Geistes heraus im Laufe der Geschichte zu ihm zurückfinde, damit er die Liebe, aus der heraus Gott sich ihm offenbart, als bewusstgewordene Liebe den Geschöpfen und den Mitmenschen zurückschenke, so dass dereinst die Liebe, die in Gott immer schon ist, auch in der Welt, in Natur und Geschichte, herrsche. »Dieß geschieht allein durch die Offenbarung, im bestimmtesten Sinne des Wortes, welche die nämlichen Stufen haben muß wie die erste Manifestation in der Natur, so nämlich, daß auch hier der höchste Gipfel der Offenbarung, der Mensch, aber der urbildliche und göttliche Mensch ist […]. Die Geburt des Geistes ist das Reich der Geschichte, wie die Geburt des Lichtes das Reich der Natur ist.« (Schelling, Freiheit, VII: 377) Wie Kant (Religion, IV, B: 48 f.) 3 weiß auch Schelling, dass die »Revolutionierung der Denkungsart«, die Umkehr des Verhältnisses von Eigenwillen und Universalwille, kein einsamer und einmaliger Entschluss ist, sondern dass das Erwachen und Erstarken des Universalwillens im Menschen zu einer sittlichen Anstrengung sowohl eines jeden einzelnen Menschen als auch der Menschen in ihrer geschichtlichen Gemeinschaft werden muss. (Schelling, Freiheit, VII: 389) Wo es aber dem Menschen gelingt, seinen Eigenwillen dem Universalwillen wieder einzufügen, da geht in ihm der Geist der Liebe auf, der Gottes Geist immer schon erfüllt. Denn »das Geheimniß der Liebe [ist], daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte, und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere«. (Schelling, Freiheit, VII: 408) Doch, da für Schelling das Wort Sittlichkeit – in ausdrücklicher Gegnerschaft zu Fichte – verbunden ist mit einer absolutgesetzten Selbstbestimmung des Menschen, nennt er diese höchste Zielperspektive menschlichen Handelns »Religiosität«, fügt aber Theologie und Volksglauben abwehrend gleich hinzu: »Wir verstehen Religiosität in der ursprünglichen, praktischen Bedeutung des Siehe Kapitel 1: »Kants praktisches Postulat des Daseins Gottes«. Vgl. Christian Danz / Rudolg Langthaler (Hg.): Kritische und absolute Transzendenz. Religionsphilosophie und Philosophische Theologie bei Kant und Schelling, Freiburg/München 2006
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Schelling – Vom »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein«
Wortes. Sie ist Gewissenhaftigkeit, [… sie ist] höchste Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl.« (Schelling, Freiheit, VII: 392) Die Erfüllung des Geistes der Liebe ist Aufgabenperspektive der Menschen auf Erden, orientiert an dem Endziel von Schöpfung und Offenbarung: »Dann wird alles dem Geist [der Liebe] unterworfen [sein], […] das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohlthun, mit Einem Wort die Liebe, die Alles in Allem ist.« (Schelling, Freiheit, VII: 408)
6.2 »System der Weltalter« Mit den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) hat Schelling eine Wendung vollzogen, aber diese noch mit seinem vorausgehenden System zu verbinden versucht. Anderthalb Jahre später unternimmt er dann mit dem geplanten religionsphilosophischen Werk Die Weltalter einen gänzlichen Neuanfang, dessen Erscheinen er auf drei Bücher – »Die Vergangenheit«, »Die Gegenwart«, »Die Zukunft« – konzipiert. 4 Dieses Weltalter-Projekt verfolgte Schelling bis 1828 weiter. 5 Obwohl die Drucke als auch die späteren Vorlesungsmanuskripte von Schelling für die Veröffentlichung vorbereitet werden, kann er sich doch nicht entschließen, sie endgültig zur Publikation freizugeben. In den 30er Jahren ging das Projekt der Weltalter dann in die positive Philosophie über, die nun, deutlich auf einen Teilbereich der Philosophie eingeschränkt, der negativen Philosophie zur Seite gestellt wird, die das 4 Das Erscheinen der Weltalter lässt er von seinem Verleger Johann Friedrich Cotta bereits für 1811 ankündigen. Tatsächlich sind uns von den vielen Entwürfen drei Korrekturdrucke erhalten: von 1811 (Druck I), von 1813 (Druck II) sowie der Druck III (1815–1817), der vom Sohn Karl Friedrich August Schelling in die Sämtlichen Werke (Band VIII) aufgenommen wurde.Die beiden ersten Drucke erschienen im Band: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen (1946). Sie werden hier als Drucke I und II, jedoch mit den Seitenzahlen des Bandes von 1946 zitiert. 5 Unmengen von Entwürfen aus den folgenden Jahren fielen im Zweiten Weltkrieg den Bomben auf München zum Opfer. Aus den in Berlin lagernden Nachlassbeständen erschienen die beiden Bände Schelling, Weltalter-Fragmente, (2002). Gut ausgearbeitete Mitschriften der späteren Vorlesungen sind inzwischen erschienen: Schelling, Initia philosophiae universae. Erlanger Vorlesungen WS 1820/21 (1969) sowie Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesungen WS 1832/ 33 und SS 1988 (1972).
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Projekt des Systems der Philosophie von 1801 fortsetzt, wenn auch in leicht veränderter – weil eingeschränkter – Gestalt. Was sich schon in Hegels Vorrede zur Phänomenologie des Geistes abzeichnet, ist eine Logifizierung des Wirklichen; ihr entgegen versucht Schelling, den Existenz- und Wirkzusammenhang der Welt zu betonen. Noch – zu Beginn seiner ersten Weltalter-Entwürfe – glaubt Schelling, Hegels einseitige Betonung des Begriffs mit einer noch entschiedeneren Betonung des Vorausgehens der Existenz und damit des geschichtlichen Charakters seines Systems begegnen zu können. Schellings System der Weltalter ist, modern gesprochen, eine theologisch fundierte Evolutionsphilosophie, die versucht, die gegenwärtige Natur- und Menschheitsgeschichte in eine Anfang und Ende setzende göttliche Bestimmtheit der Weltalter einzubetten. 6 Gleich zu Beginn der Einleitung des ersten Druckes der Weltalter betont Schelling, dass die Aufgabenstellung einer solchen Geschichtsphilosophie, in die der Mensch gegenwärtig miteinbezogen ist, nicht durch eine Wissenschaft erfüllt werden kann, die »eine bloße Folge und Entwicklung eigener Begriffe und Gedanken sey. Die wahre Vorstellung ist, daß es die Entwicklung eines lebendigen, wirklichen Wesens ist, die in ihr sich darstellt.« (Schelling, Weltalter I, 3) Dies setzt aber voraus, dass der Mensch sich lebendig und erkennend mit in diesem Prozess einbezogen erfährt und begreift. Er trägt die Einheit von Daseins- und Selbstgewissheit, von Wirklichkeit und Vernunft in sich und ist daher befähigt, den ihn mitumgreifenden Wirklichkeitsprozess zu begreifen. »Dem Menschen muß ein Princip zugestanden werden, das außer und über der Welt ist; denn wie könnte er allein von allen Geschöpfen den langen Weg der Entwicklung von der Gegenwart bis in die tiefste Nacht der Vergangenheit zurück verfolgen, er allein bis zum Anfang der Zeiten aufsteigen, wenn in ihm nicht ein Princip von dem Anfang der Zeiten wäre? Aus der Quelle der Dinge geschöpft und ihr gleich, hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft der Schöpfung.« (Schelling, Weltalter III, VIII: 200) Nun bedeutet diese »Mitwissenschaft« keineswegs, dass der Mensch in einer Schau ein unmittelbares Wissen von Anfang und Ende der Welt und der ihn betreffenden Gegenwart hat, »denn unser Wissen ist Stückwerk« (Schelling, Weltalter III, VIII: 203), sondern 6 Jürgen Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken (1954).
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es besagt nur, dass auch er jene Scheidung der Prinzipien in sich trägt, die auch die Welt durchherrschen, und so ist es ihm möglich, sich schrittweise ein Begreifen der Wirklichkeit zu erarbeiten. Diese Arbeit ist das, was Platon Wiedererinnerung nannte. Bei den drei Büchern – »Vergangenheit«, »Gegenwart«, »Zukunft« – geht es nicht um unsere irdische, oder wie Schelling sagt: unsere gegenwärtige geschichtliche Zeitenfolge, sondern um die reale Konstitution der geschichtlichen Zeit selber. Weshalb gibt es für uns überhaupt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Im Druck II führt Schelling anschaulich an dieses Problem heran. »Wäre die Welt, wie einige vermeynte Weise behaupte[n], eine rück- und vorwärts in’s Endlose auslaufende Kette von Ursachen und Wirkungen: so gäbe es im wahren Verstande so wenig eine Vergangenheit als eine Zukunft.« (Schelling, Weltalter II: 119) Aber wir tragen unaustilgbar ein geschichtliches Zeitbewusstsein in uns, das uns immer vom Mittelpunkt der Gegenwart in die Vergangenheit zurück- und auf die Zukunft vorausschauen lässt. Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so werden wir zunächst der Zeugnisse einer tief zurückreichenden menschlichen Geschichte gewahr, doch kann der Rückblick dort nicht Halt machen, sondern wir finden in der Natur »Trümmer, Zeugen einer wilden Verwüstung« und erdgeschichtlicher Umwälzungen. Doch auch diese »ältesten Bildungen der Erde« reichen noch nicht an den »wahren Grund und Anfang« des gegenwärtigen Zeitalters heran. Ihnen voraus liegt die Entstehung der Gestirne als »Werke der allerersten Schöpfung«, der »ersten und stärksten Kraft« der Urzeit. (Schelling, Weltalter II: 120) Doch genau hier »bey’m letzten Sichtbaren angekommen, findet der Geist noch eine nicht durch sich selbst begründete Voraussetzung, die ihn an eine Zeit weist, da nichts war, als das Eine unerforschliche und von sich seyende Wesen, aus dessen Tiefe sich alles hervorgebildet«. (Schelling, Weltalter II: 121) Es ist für unsere Vernunft nicht möglich, dieses aus sich seiende Wesen nicht als Schöpfungsgrund unserer gegenwärtigen Weltzeit zu denken, denn in unserem sichtbaren Universum liegt ein solcher Schöpfungsgrund eindeutig nicht. Nun kann dieser Schöpfungsgrund nicht selbst wieder in unserer gegenwärtigen Weltzeit verortet sein, vielmehr liegt er in einer ›Vergangenheit‹ vor unserer Weltzeit, ist selbst das Zeit Erschaffende, durch den allererst Anfang und Ende unserer Zeit gesetzt sind. Im Grunde bezieht sich all das, was wir gerade über die Grenze der Vergangenheit unserer gegenwärtigen Weltzeit gesagt haben, mit 194 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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umgekehrten Akzentsetzungen auch auf die Grenze der Zukunft unserer gegenwärtigen Weltzeit; nur hat Schelling dies lediglich in Hinweisen und Andeutungen erwähnt. Wir können auch mit unseren Zukunftsvorstellungen, Erwartungen und Hoffnungen in der menschlichen Geschichte, der Geschichte der Erde, der Geschichte unseres Weltalls so weit als irgend konkretisierbar vorausdenken, vermuten, ahnen, doch irgendwann erreichen wir den Punkt, wo ein absolutes Ende unserer Zeit erreicht ist, hinter dem wir eine ›Zukunft‹ erhoffen, die nicht mehr von dieser Welt ist und die uns die Versöhnung mit dem Ewigen bringen wird. Dieses absolute Ende der gegenwärtigen Zeit ist für uns als menschliche Individuen – wie Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) ausführt (Schelling, VII: 474 ff.) – der Tod, aber auch die Erde und das Universum haben ihr Ende und jenseits dieser liegt die eigentliche ›Zukunft‹ – da wird Gott wieder »Alles in Allem« sein. Im »Frühesten Konzeptblatt« von 1810 entwirft Schelling den »Gedanken der Weltalter« als ein System von Weltzeiten, die überhaupt erst die geschichtliche Zeitlichkeit unserer gegenwärtigen Zeit mit ihrem Anfang und ihrem Ende konstituieren und begreifbar machen: »Die Zeit dieser Welt ist nur Eine große Zeit, die in sich keine wahre Vergangenheit noch eigentliche Zukunft hat; die aber ebendarum diese zum Ganzen der Zeit gehörigen Zeiten außer sich voraussetzt. Die wahre vergangene Zeit ist die vor der Zeit der Welt gewesene, die wahre zukünftige ist die nach der Zeit der Welt seyn wird, und so entwickelt sich ein System der Zeiten, von welchem die gegenwärtige, mit allem was in ihr vergangen, gegenwärtig oder zukünftig seyn mag, nur ein einziges großes Glied ausmacht.« (Schelling, Weltalter II: 188) Im zweiten Kapitel des Drucks I geht Schelling am ausführlichsten auf die Problematik der geschichtlichen Zeit ein. 7 Nicht nur jeder Mensch, sondern jedes »Ding, z. B. der Weltkörper oder das organische Gewächs; schlechthin jedes hat seine Zeit in sich selbst […]; kein Ding hat eine äußre Zeit, sondern jedes nur eine innre, eigne, ihm eingeborne und inwohnende Zeit.« (Schelling, Weltalter I: 78) So steht jeder und jedes in »seinem eignen Mittelpunkt der Zeit«. Dies ist wohl auch der partielle Wahrheitskern von Kants Bindung von Zeit und Raum an unsere Vorstellungen, doch Kant übersieht die 7 Vgl. Wolfgang Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie (1956).
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»allgemeine Subjektivität der Zeit […]. Kein Ding entsteht in der Zeit, sondern in jedem Ding entsteht die Zeit auf’s Neue und unmittelbar aus der Ewigkeit, und ist gleich nicht von jedem zu sagen, es sey im Anfang der Zeit, so ist doch der Anfang der Zeit in jedem, und zwar in jedem gleich ewiger Anfang.« (Schelling, Weltalter I: 78 f.) Diese »allgemeine Subjektivität der Zeit« verhindert keineswegs, dass wir mit unseren Mitmenschen und dem Menschengeschlecht sowie mit allen Lebewesen auf Erden und dem gegenwärtigen Universum insgesamt eine gemeinsame geschichtliche Zeit teilen könnten. (Schelling, Weltalter I: 79) 8 Der Anfang unserer Zeit – wir mögen sie so weit oder eng als möglich fassen – kann doch nie ein »Anfang in der Zeit« sein. Daher ist all unsere Zeiterfahrung anfangslose und endlose gegenwärtige Zeit. Der Schöpfungsgrund des Anfangs liegt in dem »vorweltlichen« Weltalter der Vergangenheit, die dem Weltalter der Gegenwart vorausliegt. Wir können dieses vorweltliche Weltalter mit vielfachen Worten umschreiben, mit »Es«, mit »Ewigkeit«, mit »Wille«, mit »Gott«; wichtig ist nur, zu begreifen, dass dieses vorweltliche Weltalter selbst in sich strukturiert und entschieden sein muss. Denn alles, was in der gegenwärtigen Welt als Naturpotenzen und Potenzen menschlicher Geschichte wirklich ist, muss in ihm als Ermöglichung angelegt sein, ja mehr noch, ihre Verwirklichung muss als Möglichkeit gewollt sein, und sie muss daher selbst auf das Weltalter der Zukunft hin orientiert sein, die der gegenwärtigen Welt in der einen oder anderen Form der Erfüllung offensteht. Schelling ist sich bewusst, dass er sich hierbei einer metaphorischen Sprache bedienen muss, die Unzeitliches zeitlich, Unräumliches räumlich, Unsagbares bildlich umschreibt und doch zugleich die Wörtlichkeit dieser Aussagen dementiert. »Haben wir uns erlaubt, jenem Urzustand in Worten eine Dauer zu geben, so war dieß nur bildlich oder mythisch nicht wissenschaftlich zu nehmen. Wer uns entgegenhält, daß wir die Herkunft der Welt durch lauter Wunder erklären, der sagt eben damit das Rechte. Glaubt denn irgend wer, daß die Welt ohne ein Wunder, ja ohne eine Reihe von Wundern habe entspringen können? Bis zur Geburt des Sohns [des von der Liebe geleiteten Handelns des Menschen] ist alles Wunder, alles Ewigkeit. Nichts entspringt durch Wir8 Vgl. Walter Schulz, Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität (1979): 222 f.; siehe auch Ders., Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings (1955).
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kung eines Vorhergehenden, sondern alles auf ewige Weise.« (Schelling, Weltalter I: 76 f.) 9 Der dritte, von Schellings Sohn herausgegebene Druck beginnt gleich mit Gott als dem »ältesten der Wesen«, von dem schon Thales von Milet gesprochen haben soll. Doch Gott könnte nicht Gott sowie Schöpfer der Welt sein, und er könnte sich nicht den Menschen offenbaren, wären in ihm nicht bereits unterscheidbare Mächte: (1) Die Notwendigkeit oder »Natur Gottes«, in der er sich zunächst nur auf sich selbst bezieht. »Gott ist der Nothwendigkeit seiner Natur nach ein ewiges Nein, das höchste in-sich-Seyn, eine ewige Zurückziehung seines Wesens in sich selbst, in der keine Creatur zu leben vermöchte«. (Schelling, Weltalter III, VIII: 218) (2) Die Freiheit, durch die Gott seine Notwendigkeit zu überwinden vermag, dem Prinzip des »ewigen Ja«, das »ein ewiges Ausbreiten, Geben, Mittheilen seines Wesens« beinhaltet. (Schelling, Weltalter, VIII: 218) (3) Das »Band«, die »Copula«, denn gegeneinander können beide Mächte nicht bestehen, erst die »Einheit von Ja und Nein« macht Gott zum »Wesen aller Wesen«, zur »reinsten Liebe« (Schelling, Weltalter III, VIII: 210), erst durch alle drei ist »Gott seinem höchsten Selbst nach […] reinster Geist.« (Schelling, Weltalter III, VIII: 236) Doch haben wir damit nur Gott der Idee nach erfasst, wie er in aller Ewigkeit in sich ruht, wie er vor der Schöpfung bei sich war. »Wir sehen sie [die Gottheit] gleich ursprünglich in drei Mächte gewissermaßen zersetzt. Jede dieser Mächte kann für sich seyn; denn die Einheit ist Einheit für sich, und jedes der Entgegengesetzten ist ganz vollständiges Wesen; doch kann keines seyn, ohne daß die andern auch sind, denn nur zusammen erfüllen sie den ganzen Begriff der Gottheit«. (Schelling, Weltalter III, VIII: 217) Wir haben damit nur das »ewig in sich selbst kreisende Leben« Gottes, seine »nie stillstehende rotatorische Bewegung« umschrieben. (Schelling, Weltalter III, VIII: 229) Aber die Frage, wie Gott dazu kommt, die Welt zu erschaffen, ist damit noch nicht beantwortet. Dass Gott die Welt aus dem Nichts erschaffen habe, ist eine unsinnige Rede. Allenfalls kann ihr Sinn darin liegen, ausdrücken zu wollen, dass es vor der Erschaffung der Welt nichts außer Gott gab. Doch auch Gott selber ist in seiner Ewigkeit vor der Schöpfung in gewisser Weise Nichts und Alles zugleich. (Schelling, Weltalter III, VIII: 235) 9
Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit (1991).
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Was bringt aber die drei Mächte in ihrem rotatorischen Bei-sichSein dazu, etwas außer sich zu erschaffen? Wobei das »außer« nicht räumlich gemeint sein kann, da es so etwas wie einen Raum in der Ewigkeit Gottes nicht gibt, sondern nur etwas umschreiben kann, was jenseits des eigenen Bei-sich-Seins ausdrückt. Der Grund zur Erschaffung der Welt kann auch nicht in einer der Mächte allein liegen, sondern nur in ihrem gemeinsamen Wollen, je für sich dominant zu werden, was aber nicht gleichzeitig geschehen kann, sondern einen Prozess der Abfolge in Gang setzt. Dabei kann nur das eigenständige Hervortreten des vereinigenden Geistes der Liebe das Motiv zum Entschluss sein, durch den zugleich die Reihenfolge des zeitlichen Hervortretens von Natur, Menschengeschichte und ihrer aufgegebenen Vermittlung festgelegt ist. Im Druck I umschreibt Schelling das zielbestimmte Motiv des Entschlusses so: »Liebe ist der Antrieb zu aller Entwicklung. Liebe bewegt das Urwesen zur Aufgebung der Verschlossenheit. Denn nicht äußerlich bloß, innerlich wird die zusammenziehende Kraft überwunden. […] Was könnte aber die zusammenziehende Urkraft anders aus sich zeugen, als das, dessen die Wesenheit begehrt, durch deren Verlangen sie allein in jenen Widerstreit versetzt wurde, das ihr ähnliche, die reinste Liebe!« (Schelling, Weltalter I: 57 f.) Mit dem Entschluss des Aus-sich-Heraustretens der Mächte macht Gott sich einerseits in seiner nur sich selbst wollenden Ewigkeit zur »vorweltlichen Vergangenheit«, gleichzeitig setzt er aber andererseits auch eine »nachweltliche Zukunft«, in der er in Ewigkeit »alles in allem« sein wird. »Ein Anfang der Zeit ist also undenkbar, wenn nicht gleich eine ganze Masse als Vergangenheit, eine andre als Zukunft gesetzt wird; denn nur in diesem polarischen Auseinanderhalten entsteht jeden Augenblick die Zeit.« (Schelling, Weltalter I: 75) Durch diese Spannung von »vorweltlicher Vergangenheit« und »nachweltlicher Zukunft« ist überhaupt erst unsere geschichtliche Zeit mit ihrer weltlichen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstituiert, die in ihrer Gegenwärtigkeit ebenfalls von der Ewigkeit Gottes gehalten wird. »In demselben Akt also, da Gott sich zur Offenbarung entschloß, wurde zugleich entschieden, daß Gott als das ewige Nein Grund der Existenz des ewigen Ja seyn sollte; es wurde eben damit zugleich bestimmt, daß Gott als die ewige Verneinung des äußeren Seyns überwindlich seyn sollte durch die Liebe.« (Schelling, Weltalter III, VIII: 303) Mit der Erschaffung der gegenwärtigen Welt und damit auch 198 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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von Zeit und Raum tritt Gott aus seiner Ewigkeit heraus, und dies kann nicht anders begriffen werden, als dass Gott in all seinen drei Mächten willentlich aus sich heraustritt und diese in ihre Selbständigkeit für sich und gegeneinander entlässt. Die Schöpfung, oder »erste Offenbarung Gottes«, folgt nicht mit Notwendigkeit aus Gottes Natur, sondern ist höchster Akt eines freien Entschlusses des göttlichen Geistes, eine »aus der innigsten Einheit kommende EntSchließung zu jener unbegreiflichen Urthat«. »Ohne einen freien Anfang gäbe es keine eigentliche Geschichte der Welt« (Schelling, Weltalter III, VIII: 304 f.), gäbe es kein Werden der Natur, keine Freiheit des Menschen, keine dem Menschen aufgegebene geschichtliche Zukunft. Aber um dies alles zu ermöglichen, müssen die Mächte in Gott in einer bestimmten Folge für sich freigesetzt werden, wobei jeder der Mächte die anderen in sich mitträgt, jedoch unter je anderer Dominanz. Die Schöpfung ist ein für die gegenwärtige Welt Anfang setzendes und zielbestimmendes Ereignis, durch das ein Werdeprozess in Gang gesetzt wird, der die Abfolge des Dominantwerdens der in die Selbständigkeit entlassenen Mächte bestimmt, wobei jedes dieser Mächte selbst alle drei ursprünglichen Kräfte in sich trägt, sonst können sie überhaupt nicht wirksam werden. Gleichwohl wird dadurch die Ewigkeit Gottes nicht außer Kraft gesetzt, sie trägt, begleitet und durchdringt die gegenwärtige Welt in jedem Augenblick. Werfen wir von hierher noch einen Blick auf jene Bemerkungen, in denen Schelling auf die folgenden beiden Bücher »Gegenwart« und »Zukunft« hinweist. Wieder müssen wir uns in die Perspektive der Ewigkeit Gottes zurückversetzen, um zu begreifen, dass auch die Gegenwart begleitet und geleitet wird durch eine in Erscheinung tretende Macht Gottes, die Schelling vor allem im Druck I als die Liebe benennt. Die Antizipation einer freiwählenden Liebe zueinander ist es, die die Mächte der Ewigkeit Gottes durch freien Entschluss je für sich auseinandertreten ließ. Als erste Macht setzt Gott aus dem Grund seiner Existenz die Natur in ihrer Wirklichkeit frei, dies erregt die Freiwerdung der zweiten Macht, des göttlichen Verstandes, oder wie es im Johannesevangelium heißt: den Logos oder das Wort. Auch diese zweite Macht ist in der Natur von Anfang an wirksam, aber zunächst völlig der ersten unterworfen, sie ist die Kraft, die in der Natur zum Licht, zum Leben und schließlich zur völligen Freiheit des Bewusstseins drängt. In den Metaphern christlicher Sprache drückt dies Schelling im Druck I wie folgt aus: »Wie im Herzen der 199 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Liebe, so wird aus dem Mittelpunkt der Contraction des ewigen Vaters der ewige Sohn geboren. […] der Sohn ist die Gränze der väterlichen Tiefe und der Quellbronn der verständlichen Dinge. […] Also durch die Zeugung des Sohnes tritt die dunkle Urkraft des Vaters selbst in die Vergangenheit zurück und erkennt sich als vergangen in Bezug auf ihn. […] Es beginnt mit dem Sohn die zweyte Epoche, die Zeit der Gegenwart, der herrschenden Liebe.« (Schelling, Weltalter I: 58 f.) Durch das freie Hervortreten der zweiten Macht in der Ewigkeit Gottes wird die Eigenständigkeit der »Geschichte des Menschengeschlechts« (Schelling, Weltalter III, VIII: 248) ermöglicht. Zwar hört »die väterliche Kraft […] nie auf zu wirken« (Schelling, Weltalter I: 62), und insofern bleibt alles Geistige an ihre Naturbasis rückgebunden, aber durch den Sohn wird das »stumme Band der Existenz […] in das vernehmliche, sprechende Wort« erhoben. »Aber nur durch und in dem Sohn ist das Seyende vom Seyn geschieden und in’s Geistige erhöht«. (Schelling, Weltalter I: 61) Im Druck II betont Schelling noch stärker die Unabhängigkeit der zweiten Person des Sohnes vom Vater, die sich in der ermöglichten Scheidung von Naturgeschehen und menschlicher Geschichte niederschlägt: »Unmöglich wäre alsdann, daß die Geister eine Freyheit gegen Gott hätten. Alles, was eine Freyheit gegen Gott hat, muß aus einem von ihm unabhängigen Grunde kommen, und wann es auch ursprünglich und im engeren Sinne in Gott ist, so muß es auch aus Etwas kommen, […] das in Gott selbst nicht Er selber ist. Also setzt die Existenz einer Geisterwelt etwas voraus, das von Ewigkeit in oder bey Gott ist, ohne doch selbst Gott zu seyn.« (Schelling, Weltalter II: 157) Aber in dieser scharfen Scheidung der Freiheit des menschlichen Geistes gegenüber der Natur liegt auch eine ungeheure Gefahr für den Menschen, denn er kann sich einbilden, völlig unabhängig von Natur und Gott allein aus seiner eigenen Freiheit zu sein. Aus dieser Gefahr befreit ihn nur der Sohn, der ihm den Weg zum Vater weist, der kein Weg zurück ist, sondern ein Weg voraus. »Aber diese Scheidung oder Entgegensetzung war nicht um ihrer selbst willen; sie war nur, damit das Ewige sich durch sie offenbare als Einheit der Einheit und des Gegensatzes.« (Schelling, Weltalter I: 63) Denn durch das Hervortreten der beiden ersten Mächte aus Gottes Ewigkeit in ihrem Wirken gegeneinander tritt nun auch die dritte Macht in ihrer Unabhängigkeit hervor, es ist dies der Geist der Liebe, der Vater und Sohn verbindet. Denn »Liebe ist, wenn bei existentieller Unabhängig200 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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keit Freyes zu Freyem gezogen wird.« (Schelling, Weltalter I: 64) Durch sein Hervortreten ermöglicht der Geist der Liebe ein Handeln, Streben und Hoffen der Menschen auf eine Zukunft hin. Denn »[n]och ist sie [die Gegenwart] eine Zeit des Kampfs«, aber es gilt daran zu arbeiten, dass »zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Wirklichkeit kein Unterschied mehr seyn [wird]. Es wird Eine Welt seyn, und der Friede des goldnen Zeitalters […] sich verkünden.« (Schelling, Weltalter I: 9) Nur dadurch, dass sich Gott in seiner Ewigkeit bei sich entschlossen hat bzw. immer wieder neu entschließt, die in ihm gebundenen Mächte je für sich als selbständige Personen hervortreten zu lassen, gibt es überhaupt eine existierende Welt mit einer strukturierten Gerichtetheit der geschichtlichen Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart, in der wir jeweils stehen, ist »der Mittelpunkt aller Zeit«, der immer eine bindende Vergangenheit vorausgeht und der immer eine aufgegebene Zukunft aufscheint, aber dies wäre nicht erfahrbar und denkbar, wenn nicht die Zeit in uns »in jedem Augenblick« aufs Neue aus der Ewigkeit entstünde. Denn »die eigentliche Kraft der Zeit liegt im Ewigen. […] In ihr ist auch nicht einmal eine Vorherbestimmung der Zeit, sie ist schlechthin über der Zeit.« (Schelling, Weltalter I: 75) Jede der Zeitdimensionen verweist in je ihrer Weise auf die Ewigkeit, auf das, »was in aller Zeit über der Zeit ist«. Mit dem System der Weltalter versucht Schelling erzählend, darstellend und antizipierend dieses »große Räthsel aller Zeiten« aufzuklären, dass das »Ich der ewig unanfänglichen Gottheit selber […] von sich sagen kann: Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.« (Schelling, Weltalter II: 134)
6.3 Vom »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein« Bis in sein hohes Alter hinein schreibt Schelling an seiner philosophischen Antwort auf Hegels System, ohne ihr eine endgültige Form geben zu können. Gerade in seinen letzten Lebensjahren in den späten 40er und frühen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts arbeitete Schelling an der Grundlegung seiner Philosophie, die mit der Prinzipienlehre des Bedenkens des Denkens von Sein beginnt und in einer universio sich zur Potenzenlehre der negativen Philosophie einerseits wendet, die das fortführt, was er früher als Vernunftwissenschaft intendierte, um andererseits in einer grundlegenden Kehre zur positi201 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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ven Philosophie nach dem Sinn unserer geschichtlichen Existenz je für uns zu fragen.
6.3.1 Vom reinen Denken des Seins Noch einmal nimmt Schelling in der Prinzipienlehre des Denkens des Seins innerhalb seiner Darstellung des Naturprozesses (1843–44) und seiner Darstellung der rein-rationalen Philosophie (1848 ff.) 10 die transzendentale Fragestellung Kants und seiner eigenen frühen transzendentalphilosophischen Ansätze auf. Aber mit der Frage: »Was denke ich, wenn ich das Existirende denke?« (Schelling, Naturprozesses, X: 303) beschränkt er sein Fragen nicht wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft auf die Möglichkeiten und Grenzen empirisch-wissenschaftlicher Verstandeserkenntnis, sondern fragt grundsätzlicher nach den Prinzipien des reinen Denkens, durch die es schlechthin auf das Seiende, das Existierende bezogen ist. »Mit dem transscendentalen […] Actus, dessen Ausdruck das Ich bin ist, dem Selbstbewußtseyn, ist für jeden Menschen ein ganzes System von Existenzen gesetzt. Die Quelle, der erste Grund aller Existenz, ist im Ich, oder eigentlich im Ich bin, diesem zeitlosen Akt, durch den ein jedes Vernunftwesen zum Bewußtseyn kommt, mit diesem zeitlosen Akte ist wie mit Einem Schlage für dieses Individuum das ganze System äußerer Existenzen gesetzt.« (Schelling, Offenbarung, XIII: 51) Diese Rückfrage liegt der Kantischen und Fichteschen Frage nach den Prinzipien bestimmten Erkennens voraus, denn bevor nach den Bedingungen der Möglichkeit empirisch-wissenschaftlichen Verstandeserkenntnis gefragt werden kann, muss zunächst geklärt werden, wie das Denken sich auf das Existierende selbst zu beziehen vermag, »wo die Gesetze des Denkens Gesetze des Seyns sind« (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 303). Schellings Prinzipienehre unterscheidet sich aber zugleich von Hegels Anfang in der Logik, der ein reines Bedenken des Denkens sein will, ohne zu bedenken, dass alles Denken immer schon Denken des Seins ist und sich somit die 10 Schellings Darstellung der rein-rationalen Philosophie (1848 ff.) wird oft in ihrem grundlegenden Charakter übersehen, da sie seit der ersten Gesamtausgabe der Schriften durch den Sohn Karl Friedrich August Schelling unter dem Titel Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie geführt wird. (XI, 253 ff.)
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transzendentale Reflexion sich auch auf das Denken des Seins zurückzuwenden hat. Schellings klärender Rückwendung geht es darum im Denken jene Elemente aufzudecken, durch die es auf das Sein bezogen ist, also um seine seins- und sinnkonstituierenden Elemente vor und in aller Erfahrung. Die Elemente des reinen Denkens sind die Bedingungen a priori für alle bestimmte Erfahrung des Seins und für alles wirkliche Wissen vom Sein.
6.3.2 Von der Ekstasis des Denkens Nie zuvor hat Schelling so entschieden und klar den Primat der Existenz vor dem Denken dargelegt wie in seiner ersten Erlanger Vorlesung Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821). Es genügt Schelling jetzt nicht mehr, die intellektuelle Anschauung des »Ich bin« als ursprüngliche Identität zu behaupten, sondern er betont nun gerade die Unruhe und den Umtrieb, in den das »Ich« gerät, indem es seine eigene Existenz zu denken versucht. Schelling hat diese Umwendung des Denkens in den Erlanger Vorlesungen Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft als »Ekstasis« umschrieben: Das begreifende Denken muss seine Subjektrolle aufgeben, alles zum Objekt seiner Erkenntnis machen zu wollen, um das Existieren als »absolutes Subjekt« zulassen zu können. Aber es gibt sich dabei nicht mystisch selbst auf, sondern wird nun zu einer sich in der geschichtlichen Existenz »erfahrenden Philosophie«, der es um eine Sinnorientierung in der existentiell gelebten Geschichte geht. »Aber Philosophie ist nicht demonstrative Wissenschaft, Philosophie ist, um es mit Einem Wort auszuspreche, freie Geistesthat […]. So lang Er [der Mensch] noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt [des Existierens] zum Objekt werden, und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. […] Nur in dieser Selbstaufgegebenheit [Ekstasis] kann ihm das absolute Subjekt aufgehen in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch in dem Erstaunen erblicken.« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 229) Der tieferliegende Widerspruch und »Urzwist« liegt darin, dass das wissenwollende Subjekt, die Existenz, in der es selber wurzelt, nur dadurch in ein System des Wissens zu bringen vermag, indem es diese zum Objekt, zum Gegenstand seiner Erkenntnis macht. Dadurch aber beraubt es der Existenz deren eigene Subjekthaftigkeit, Lebendigkeit und Freiheit des Wirkens. Doch gerade die existierende 203 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Wirklichkeit, aus der auch das menschliche Bewusstsein und Denken lebt, ist das eigentlich wirkliche »absolute Subjekt« des Wirkens in der Welt. Wo aber das Denken beginnt, Wirklichkeit im Wissen festhalten zu wollen, da entwirklicht es diese, macht das »absolute Subjekt« des Existierens zum Objekt des Wissens und erhebt sich selbst als Denken zum alleinigen Subjekt, das es aber nicht zu sein vermag. »Solange [der Denkende] noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt [der Existenz] zum Objekt, und er wird es darum nicht an sich erkennen.« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 228 f.) Aus diesem selbstzerstörerischen Trieb absoluten Wissen-Wollens gibt es kein anderes Entkommen als durch den entschiedenen Akt der »Ekstasis«, des Heraustretens in ein Nicht-wissen-Wollen, in die Bereitschaft, das Andere der Existenz aus sich selbst heraus erfahren zu wollen. Es gilt, die Raserei des Wissen-Wollens in sich selbst anzuhalten, sich freizumachen und zu öffnen für das ganz Andere des »absoluten Subjekts«, des »unvordenklichen Existierens«, in dem auch das Denken selbst wurzelt. »Wer es [das absolute Subjekt] erhalten will, der wird es verlieren, und wer es aufgibt, der wird es finden.« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 217 f.) Das denkende Bewusstsein opfert sich hierbei nicht auf, denn durch die freie Geistestat der »Ekstasis«, der Selbstbescheidung, gewinnt es sich vielmehr als existierendes Subjekt im existierenden Wirklichkeitszusammenhang zurück, vermag nun sein Denken aus der Wirklichkeit heraus zu verstehen und kommt so erst zu einer wahrhaft erfahrenden und geschichtlichen positiven Philosophie. 11 Man sieht diesem Anfang schon vom ersten Schritt die polemische Abgrenzung von Hegels Logik an, denn die Rückwendung des Denkens auf sich selbst, darf nicht vergessen, dass jede Rückwendung des Denkens nicht nur einen bloßen Selbstbezug des Denkens auf sich selbst darstellt, denn alles Denken ist Denken des Seins, und so ist auch die transzendentale Rückwendung ein Bedenken des Denken des Seins. Es kann sich daher gar nicht in die Immanenz der Logik des Denkens verlieren, sondern bleibt immer auf sein Anderes, das Sein, bezogen. »Um zu wissen, was das Seyende ist, müssen wir versuchen, es zu denken«. (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: Schelling kann mit diesen Gedanken zur Grundlegung der positiven Philosophie als Vorläufer dessen angesehen werden, was im 20. Jahrhundert dann als Seinshermeneutik entwickelt wurde, nur dass für ihn weiterhin auch noch die negative Philosophie mit ihrem Begreifen der Wirklichkeit fortbesteht.
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302) So kann es aber auch nicht auf den Irrwahn verfallen, sich selbst aus sich selbst konstituieren zu wollen, sondern es handelt sich dabei um eine – im Sinne Platons – dialektische Erfahrung des Denkens, die dieses in und an seiner Erfahrung des Seins macht – oder wie Schelling sich ausdrückt: Die Prinzipienlehre geht aus einer vollständigen Induktion philosophischer Selbstklärung des Denkens des Seins hervor. »Nur so viel ist auf den ersten Blick zu sehen, 1) daß die beschriebene Methode überhaupt inductiv (denn sie geht durch Voraussetzungen hindurch), 2) daß sie in dem besondern Sinn inductiv ist, wo die Vernunft, d. h. das Denken selbst es ist, welches diese Voraussetzungen findet, 3) daß das in dieser Methode Thätige das dialectische Vermögen, die Methode selbst also nach Platon die dialectische Methode zu nennen ist.« (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 323) Die transzendentale Rückfrage auf die Erfahrung des Denkens des Seins, die zugleich eine sprachphilosophische Rückbesinnung auf die Bedeutungsbezüge der Copula »ist« darstellt, findet drei Prinzipien vor, die sich insofern als vollständig erweisen, als ohne sie keine Erfahrung des Seins möglich ist. Diese drei Prinzipien sind erstens das »urständliche Sein« oder das Sein als zugrundeliegendes Subjekt (reine Möglichkeit) – vielleicht am besten mit der Kategorie der ousia des Aristoteles zu umschreiben –, zweitens das »gegenständliche Sein« oder das Sein als prädiziertes Objekt (reine Aktualität) – vielleicht am besten mit der »verité de fait« von Leibniz zu kennzeichnen – und drittens die Verknüpfung beider zu einem wirklich gemeinten Subjekt-Objekt (reine Synthesis) – um die Schelling seit seinen frühen philosophischen Ansätzen immer schon gerungen hat. Keine der drei Prinzipien kann für sich allein das Sein ausdrücken, sondern nur zusammen sprechen sie die »Idee des Seins« aus, auf die das Denken immer bezogen ist und ohne die es nichts denken kann. (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 318) 12 Aber vergessen wir nicht, wir befinden uns noch in der transzendentalen Rückbesinnung auf die Prinzipien des Denkens des Seins und sind keineswegs schon beim Denken des Seins selbst angelangt. Ja, wir können vorweg schon festhalten, dass der Übergang von der
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016): 46 ff.; sowie Ders., »Wegbahnung zu Schellings positiver Philosophie – ein alter Streit«, in: Heidelinde Beckers / Christine Magdalene Noll (Hg.): Die Welt als fragwürdig begreifen – ein philosophischer Anspruch. Festschrift für Hassan Givsan (2006): 217 ff.
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transzendentalen Reflexion auf die Denkprinzipien des Seins zum Denken des wirklichen Seins keineswegs – wie bei Hegel – als ein Entschluss der Idee, sich in die Natur zu entlassen, gefasst werden kann. 13 Aber auch der kantisch-frühschellingsche Gedanke der Identität der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und der Gegenstände der Erfahrung greift zu kurz, wie Schelling – hierin durchaus die Kritik Hegels in der Phänomenologie beherzigend – in einer Selbstkritik an seinen früheren Versuchen der »intellektuellen Anschauung« eingesteht. (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, X: 229) Von daher ergeben sich zwei entgegengesetzte Aufgaben der Philosophie: die negative und die positive Philosophie. Obwohl sich Schelling seit 1811 vornehmlich der Ausarbeitung der positiven Philosophie widmet, hat er doch niemals sein System einer materialen Vernunftwissenschaft aufgegeben, das er nun die »rein-rationale Vernunftwissenschaft« oder »negative Philosophie« nennt, denn anders kann der Wesenszusammenhang der Wirklichkeit in ihren großen Teilbereichen der Naturphilosophie, der Philosophie des menschlichen Wirkens und der Thematisierungen des Absoluten in Kunst, Philosophie und Religion nicht erforscht und dargelegt werden. Aber die rein-rationale Vernunftwissenschaft, wie sie Schelling nun im Spätwerk versteht, weiß entschieden von ihrer Begrenztheit und setzt die Gesamtheit der Erfahrungen als ihren Bezugspunkt immer schon voraus, ohne allerdings dem Irrtum zu verfallen, das Begreifen der Wirklichkeit aus der Erfahrung aufgreifen zu können. Der Übergang muss vielmehr als eine totale Umkehr oder – wie Schelling nun sagt – als eine »universio« begriffen werden, denn hier fragt das Denken nicht auf sich selbst zurück nach den Prinzipien des Denkens des Seins, sondern es ist mit seinem ersten Schritt beim Sein, das es als unmittelbar voraussetzt, um es sodann begreifend einzuholen. Mit dieser Universio begeben wir uns in die Sphäre der rein-rationalen Vernunftwissenschaft. »Dieser Vorgang kann daher die Universio genannt werden, das unmittelbare Resultat des Vor13 Siehe hierzu die Polemik Schellings gegen Hegel in seiner Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie (X, 153): »In der Logik liegt nichts Weltveränderndes. Hegel muß zur Wirklichkeit kommen. In der Idee selbst aber ist also durchaus keine Notwendigkeit der Weiterbewegung oder des Anderswerdens. […] Dieser Ausdruck ›entlassen‹ – die Idee entläßt die Natur – gehört zu den seltsamsten, zweideutigsten und darum auch zaghaftesten Ausdrücken, hinter die sich diese Philosophie bei schwierigen Punkten zurückzieht.«
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gangs ist das umgekehrte Eine – Unum versum, also Universum.« (Schelling, Naturprozesses, X: 311) Es ist dies eine Universio in mehrfacher Hinsicht: Das, was im transzendentalen Bedenken die Einheit der Prinzipien des Denkens des Seienden war, wird nun zur realen Einheit des Universums als ein alles Real-Seiende durchwirkender Gesamtprozess. Die einzelnen Prinzipien des Denkens, die im Denken nur zusammen das Seiende zu denken vermochten, treten nun als reale Potenzen selbständig für sich und gegeneinander wirkend in Erscheinung. Jedes einzelne Prinzip erfährt dabei selbst nochmals eine Umkehrung in sich, um als reale Potenz des Universums wirksam werden zu können. Die Prinzipien des Denkens werden nun – ihre Position vertauschend – zu Potenzen des Seins: die erste Potenz erweist sich als das schlechthin Vorausliegene, die zweite Potenz als die darauf bezogene reale Veränderung und die dritte Potenz als die wirkliche Verknüpfung beider. Dies zeigt sich sowohl auf die Systemteile im Ganzen bezogen in der Folge von Naturphilosophie, Geschichtsphilosophie und Thematisierung des Absolutem, als auch in den einzelnen Systemteilen selbst: Materie, Licht und Organismus sind die Potenzen der Natur; Erkennen, Wollen und Gestalten die Potenzen der geschichtlichen Welt sowie Kunst, Philosophie und Religion Potenzen der vermittelnden Thematisierung des Absoluten. (Schelling, Geschichte der neueren Philosophie, X: 114 ff.) 14 »Alles, was auf Existenz sich bezieht, ist mehr, als sich aus […] reiner Vernunft einsehen läßt. Ich kann mit reiner Vernunft […], nicht einmal die Existenz irgend einer Pflanze einsehen« (Schelling, Offenbarung, XIII: 172). »Das wirkliche Existiren der Natur und ihrer einzelnen Formen gewährt die Vernunftwissenschaft nicht; insofern ist die Erfahrung, durch die wir eben das wirkliche Existiren wissen, eine von der Vernunft unabhängige Quelle, und geht also neben ihr«. (Schelling, Naturprozesses, XIII: 61 f.) Aber die Vernunftwissenschaft stößt dort, wo sie zu ihrer letzten und höchsten Erkenntnis eines notwendig Absoluten, der Idee Gottes, aufsteigt, auf ein grundsätzliches Problem, denn mit dieser Idee korrespondiert keine nachweisbare Einzelerfahrung von etwas Existierendem. Dieser Problematik versuchten Philosophen von Anselm von Canterbury bis Descartes durch den ontologischen Gottesbeweis Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 168 ff.
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zu überwinden, indem sie vom Begriff eines notwendig seienden höchsten Wesens auf seine Existenz zu schließen versuchten. (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 262) Demgegenüber hat Kant ein für alle Mal aufgewiesen, dass es keinen ontologischen Gottesbeweis geben kann, denn das »ist« der Existenzaussage, die auf die Existenz als »absolute Position« verweist, ist keine bestimmende Prädikation und kann daher auch nicht theoretisch-begrifflich abgeleitet werden. Insofern nennt Kant (KrV, II: B 641) – wie Schelling betont – »die unbedingte, allem Denken vorausgehende Nothwendigkeit des Seyns den wahren Abgrund für die menschliche Vernunft« (Schelling, Offenbarung, XIII: 163), denn unsere theoretische Vernunft kann niemals zur Existenz vordringen. Dennoch – so Kant – verlangen wir aus praktischer Vernunft nach einer Sinnorientierung unseres sittlich-praktischen Handels, verlangen nach einer Vermittlung von Sinn und Existenz, also nach einem Erweis des »Dasein Gottes«. Dass Gott ist, kann – wie Kant betont – nur aus dem Horizont der praktischen Vernunft gewiss werden.
6.3.3 Die positive Philosophie Umso erstaunlicher ist es, dass Hegel den ontologischen Gottesbeweis nicht nur wieder einführt, sondern ihn sogar seinem ganzen vernunftwissenschaftlichen System zu Grunde legt, insofern ihm der Begriff des Seins das Existieren selbst impliziert, so dass ihm am Schluss in der Erkenntnis Gottes der genitivus obiectivus und der genitivus suiectivus in eins verschmelzen. (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 361, vgl. XIII: 72 f.) Gott ist bei Hegel das Sich-selbstBegreifen des absoluten Geistes durch all seine Gestalten hindurch. Genau gegen diese Verabsolutierung der Vernunftwissenschaft richtet sich Schellings »positive Philosophie«, die er seit 1830 in Vorlesungen in München und später in Berlin vorträgt. Die positive Philosophie beschreitet einen total anderen Weg: Nicht nach einer theoretisch-systematischen Bestimmung des Wirklichen in all ihren Gestalten wird hier gefragt, sondern unvordenklich in die geschichtliche Existenz gestellt, treibt uns die verzweiflungsvolle Frage nach dem Sinn unseres geschichtlichen Daseins um, denn nur daraus können wir Sinnorientierung für unser je eigenes Handeln gewinnen – dies ist die praktische Gottesfrage, der wir uns existentiell nicht entziehen können. 208 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Gerade aber an der Idee Gottes als der abschließenden Vermittlung des Ganzen zeigt sich die Begrenztheit dieses ganzen Unternehmens der Wirklichkeitserkenntnis im Medium rein-rationaler, negativer Philosophie, die die Wirklichkeit immer nur in der Allgemeinheit des Begriffs einzuholen vermag. An den Wirklichkeitsdimensionen der Natur und der Geschichte mag dies nicht so auffallen, weil wir diese immer auch in Einzelerfahrung anschaulich vor Augen haben, aber an der Idee Gottes tritt die Grenze der negativen Philosophie unabweisbar zu Tage, denn aus der Idee Gottes lässt sich niemals die wirkliche Existenz Gottes ableiten. Es gibt keinen ontologischen Gottesbeweis, wie Schelling nachdrücklich mit Kant gegen Hegel unterstreicht, denn das Existieren ist kein Prädikat des Denkens, sondern eine »absolute Position« (Kant), auf die das Denken nicht nur bezogen ist, sondern die es als selbst Existierendes auch in sich trägt. (Schelling, Geschichte der neueren Philosophie, X, 15 ff.) Hier, wo dem Denken das Unvordenkliche des Existierens aufgeht, wird eine erneute Umwendung der Philosophie notwendig, eine Umwendung von dem Versuch der rein-rationalen, negativen Philosophie, die die Wirklichkeit im Begriff bloß erkennend einholen will, hin zu einem positiven Philosophieren, das sich in die existierende Wirklichkeit gestellt erfährt und nun versucht, eine Sinnorientierung für sein Wirken in der geschichtlichen Wirklichkeit aufzufinden. Hierbei wird das Existieren nicht als Gegenstand des Denkens gedacht, sondern als das sich ereignende Existieren, das auch im Existieren des Denkens dem Denken oder dem Denkenden unvordenklich voraus ist. Es ist dies eine »positive Philosophie für das Leben« (Schelling, Offenbarung, XIII, 155), die uns selbst als Existierende in der geschichtlichen Existenz situiert. Diese Differenz der negativen und der positiven Philosophie herausstellend, sagt Schelling: »Denn negativ ist jene, weil es ihr nur um die Möglichkeit (das Was) zu tun ist, weil sie alles erkennt, wie es unabhängig von aller Existenz im reinen Gedanken ist; zwar werden in ihr existierende Dinge deduziert […], aber es wird in ihr darum nicht deduziert, daß die Dinge existieren; negativ ist jene, weil sie auch das Letzte, das an sich Actus (daher gegenüber von den existierenden Dingen überexistierend) ist, nur im Begriff hat. Positiv dagegen ist diese; denn sie geht von der Existenz aus, von der Existenz, d. h. dem actu Actus-sein des in der ersten Wissenschaft als notwendig existierend im Begriff (als natura Actus seiend) Gefundenen.« (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 564) 209 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Die positive Philosophie Schellings ist erfahrende Philosophie, da sie sich dem unvordenklichen Existieren, in das wir gestellt sind, erfahrend und verstehend öffnet, um von daher den Sinn unseres Daseins aus und in der Existenz erfassen zu können. Aber das ist nur ihr Ausgangspunkt; ihr Zielpunkt ist »geschichtliche Philosophie« zu sein. Damit ist gerade nicht eine die Geschichte (nach-)begreifende Philosophie gemeint, die das Wesen des menschlichen Handelns in der Geschichte vernunftwissenschaftlich zu bestimmen versucht, das zu erforschen ist die bleibende Aufgabe der negativen Philosophie, die positive Philosophie dagegen ist deshalb eine geschichtliche Philosophie, da sie uns unsere existentiell-praktische Bestimmung in der und für die Geschichte zu erschließen versucht.
6.4 Philosophie der Mythologie und der Offenbarung Schelling entfaltet seine Philosophie der Religion, die er in den beiden großen Vorlesungszyklen der Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung darlegt, als eine Geschichte der Selbstbewusst- und Freiwerdung des Bewusstseins – allerdings nicht als eine Befreiung von der Religion, sondern in ihr. Schellings Religionsphilosophie besteht aus drei Teilstücken, die »eine zusammenhängende Kette bilden«: »a) natürliche Religion = Mythologie, b) übernatürliche Religion, […] deren Inhalt durch Offenbarung entsteht, c) Religion der freien philosophischen Erkenntniß«. (Schelling, Offenbarung, XIII: 192 f.) Allerdings führt er nur die beiden ersten Teilstücke aus, denn durch das Verstehen des vergangenen und das Erfassen des gegenwärtigen religiösen Bewusstseins entsteht uns bereits eine Orientierung für die noch ausständige und in unsere Mitgestaltung gestellte künftige »Religion der freien philosophischen Erkenntnis«. (Schelling, Offenbarung, XIII: 193) Schellings Religionsphilosophie gründet in der Einsicht, dass das menschliche Bewusstsein seinem Wesen nach »notwendig Gott-setzendes Bewusstsein« ist, das sich dabei als Gott-gesetztes erfährt. Was nichts anderes besagt, als dass das Bewusstsein immer auf das Andere der Existenz bezogen ist, in der es selbst gründet. Es gibt kein Bewusstsein aus und für sich selbst, sondern es ist immer schon als selbst Existierendes in die Existenz gestellt. Mit der entschiedenen Betonung, dass das Bewusstsein sich weder allein aus sich selbst zu konstituieren noch sich allein aus der Teilhabe am absoluten Geist zu 210 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Philosophie der Mythologie und der Offenbarung
begreifen vermag, wendet sich Schelling natürlich erneut gegen Fichte und Hegel. Denn Schelling versteht die Erfahrungsgeschichte des »notwendig Gott-setzenden Bewusstseins« als das zunehmende Selbstbewusstwerden des menschlichen Bewusstseins hineingestellt in die natürliche Wirklichkeit und in die sittliche Mitverantwortung seiner geschichtlichen Existenz. Im tiefsten Kern gründet die Selbsterkenntnis des »notwendig Gott-setzenden Bewusstseins« zum einen in der Gewissheit, unvordenklich in die Existenz gestellt zu sein, und zum anderen in der Not, für das eigene Dasein einen sittlich-praktischen Sinn zu finden. Ob Existenz und Sinn überhaupt vermittelbar sind, ist die ewige Gottes-Frage, der wir uns nicht entziehen können – insofern ist unser Bewusstsein »notwendig Gott-setzendes Bewusstsein«. Die Konturen einer solchen erfahrenden und geschichtlichen Philosophie hat Schelling in seiner Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung umrissen. Und er hat damit einen großen Gegenentwurf zu Hegels Phänomenologie des Geistes geliefert, in der jedoch die Rollen von Phänomenologie und System entschieden umgewendet werden: Während bei Hegel die Phänomenologie den Weg der Selbstaufgabe des Bewusstseins ins »absolute Wissen« umschreibt, von dem her sich dann das System in seiner eigenen Logik vollzieht, arbeitet Schelling am System der rein-rationalen Philosophie die Selbsteinsicht ihrer negativen Begrenztheit angesichts der Existenzfrage heraus, sodass dadurch der Neubeginn einer positiven Philosophie ermöglicht wird, die Schelling in der Sinnfindungsgeschichte durch Mythologie und Offenbarung als eine Phänomenologie des »notwendig gottsetzenden Bewusstseins« entwirft. 15 In der Mythologie ist das Bewusstsein noch ganz vom Anderen seiner selbst, von den Göttergestalten besessen und beherrscht. Das Bewusstsein muss sich erst aus dem noch mythologischen verhängten ›Seinsgeschick‹ befreien. Dies geschieht aber nicht dadurch, dass es sich nun zum »Herrn des Seins« erklärt, sich als »absolutes Ich« (Fichte) ausgibt oder das »Kommen des Übermenschen« (Nietzsche) verkündet, sondern sich gerade – wie Schelling sich ausdrückt – als Sohn aus dem Vater versteht. Das Bewusstsein wird nur dort wirklich frei, wo es seine Herkunft aus dem Sein nicht verleugnet, wo es sich als »notwendig Gott-setzend« erfährt und so auch die noch ausVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016): 282 ff.
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ständige gemeinsame Aufgabe der Versöhnung im Geist zu antizipieren vermag. Die Befreiung aus der Mythologie tritt in der griechischen Tragödie in der Gestalt des Prometheus hervor: »Prometheus ist kein Gedanke, den ein Mensch erfunden, er ist einer der Urgedanken, die sich selbst ins Daseyn drängen und folgerecht entwickeln, […] in dem das Menschengeschlecht, nachdem es die ganze Götterwelt aus seinem Innern herausgebracht, auf sich selbstzurückkehrend, seiner selbst und des eigenen Schicksals bewusst wurde, das Unselige des Götterglaubens gefühlt hat. Prometheus ist jenes Princip der Menschheit, das wir den Geist genannt haben«. (Schelling, Mythologie, XI: 482) Die Offenbarungsgeschichte wird durch den jüdischen Monotheismus vorbereitet, erfüllt sich aber erst in Jesus von Nazareth, der durch sein Leben zu Christus wird. In Jesus von Nazareth tritt das menschliche Bewusstsein in die völlige Unabhängigkeit seiner Freiheit. Doch Jesus nutzt diese Freiheit nicht, um sich nun selbstherrlich als Gott absolutzusetzen, sondern er bekennt sich zu seiner Herkunft als Sohn vom Vater und bewährt dies bis in den erniedrigenden Tod am Kreuz: »Der Sohn konnte unabhängig von dem Vater in eigener Herrlichkeit existiren, er konnte freilich außer dem Vater nicht der wahre Gott, aber er konnte doch außer und ohne den Vater […] Herr des Seyns […] sein. Diese Herrlichkeit aber, die er unabhängig von dem Vater haben konnte, verschmähte der Sohn, und darin ist er Christus. Das ist die Grundidee des Christentums.« (Schelling, Offenbarung, XIV: 37) Diese Freiwerdung des menschlichen Bewusstseins bei gleichzeitigem Bekenntnis zu seiner Herkunft und Schickung und zu der noch ausstehenden Versöhnung im Geiste der Liebe stellt für Schelling sodann die Bewährung der Nachfolge Christi dar, der aus dem Weg der christlichen Kirchen offenbar wird, aber noch keineswegs abgeschlossen ist. Da ist zunächst einmal die alt-katholische Kirche des Petrus, in der die menschliche Freiheit noch durch die Zwangseinheit und die Autorität der Kirche repräsentiert wird. Da ist zum zweiten die im Protestantismus gestaltwerdende Kirche des Paulus, in der sich jeder Einzelne für sich in die Freiheit der Nachfolge berufen weiß. In der Zerrissenheit zwischen diesen beiden Polen stehen wir heute noch, aber mit einer Hoffnung und einem Streben nach vorne auf eine Kirche des Johannes hin, die eine solidarische Gemeinschaft der Menschen sein wird. In dieser Gemeinschaft erfüllt sich das, was 212 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Philosophie der Mythologie und der Offenbarung
Schelling die philosophische Religion nennt, die eine »Religion des Menschengeschlechts« sein wird. (Schelling, Offenbarung, XIV: 328) Für Schelling ist die »philosophische Religion« die Religion der Freiheit schlechthin; für ihn ist daher die Einsicht in die Menschwerdung Gottes zugleich die Freiwerdung des menschlichen Bewusstseins von allen ihm äußerlich entgegentretenden Gottheiten. Allerdings liegt die Freiheit des menschlichen Bewusstseins nicht darin, nun unabhängig von Gott sich selbst als »Herrn des Seins« absolutzusetzen, sondern darin – hineingestellt in die unvordenkliche geschichtliche Existenz – sich existentiell-praktisch aus dem Geist der Liebe in der Nachfolge Christi zu bestimmen. »Nur die Freiheit ist uns gegeben, wieder Kinder Gottes zu werden, d. h. das göttliche Leben in uns wieder herzustellen. […] Der Geist [der Liebe] gibt uns erst die Gewißheit, daß der Vater in uns ist und mit dem Vater auch der Sohn.« (Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung: II, 610) Was sich in der Gestalt von Jesus als Christus als geschichtliche Möglichkeit erschließt, wird uns in der noch unabgeschlossenen Geschichte des Christentums zur Aufgabe. Die petrinische und die paulinische Kirche sind Formen bereits vorliegender institutioneller und individueller Aneignung der Freiheit, aber noch steht die johanneische Gemeinschaft solidarischer Mitgestaltung der Verwirklichung des Reichs aus. In diesem Sinne wiederholt Schelling in der Philosophie der Offenbarung (XIII, 130 f.), was er schon im System des transzendentalen Idealismus 45 Jahre zuvor betont hatte: »Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten«, wobei wir durch unser Handeln hindurch »Mitdichter des Ganzen« sind. »Der Mensch führt durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes, einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet sein kann. […] Wann diese Periode beginnen werde, wissen wir nicht zu sagen. Aber wenn diese Periode sein wird, dann wird auch Gott sein.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 602 ff.) Insofern geht es der positiven Philosophie darum, die Geschichte als einen Zukunftshorizont zu erweisen, deren Erfüllung unserem Handeln mitaufgegeben ist. Ein solcher Erweis kann von uns erst erbracht werden, wenn wir das erfahrene Existieren, in das wir selbst miteinbezogen sind, als einen von Gott ermöglichten Sinnzusammenhang deuten können, auf den hin wir unser menschliches Handeln zu bewähren vermögen: »[U]nd so sehen wir wohl, daß jener 213 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Schelling – Vom »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein«
Erweis [, dass Gott ist], ein durch die gesammte Wirklichkeit und durch die ganze Zeit des Menschengeschlechts hindurchgehender ist, der insofern nicht ein abgeschlossener, sondern ein immer fortgehender ist, und ebenso in die Zukunft unseres Geschlechts hinausreicht, als in die Vergangenheit desselben zurückgeht. In diesem Sinne vorzüglich auch ist die positive Philosophie geschichtliche Philosophie.« (Schelling, Rein-rationaler Philosophie, XI: 571)
6.5 Nachbemerkungen Von Hegels absolute Geistphilosophie aufgeschreckt, nimmt Schelling spätestens mit seinen Weltalter-Entwürfen auf Seiten der Seinsfreunde die Gigantomachie gegen die Ideenfreunde wieder auf, ein Gigantenkampf, der einst zwischen Parmenides und Heraklit aufgebrochen war und den Platon im Sophistes auszudiskutieren versuchte, der nun aber zwischen Hegel und Schelling aufs Neue in ganzer Härte – wenngleich mit weitaus subtileren Argumenten – aufflammt. Vermag das Denken das Sein dialektisch begreifend in sich einzuholen, wie dies Hegel idealistisch unübertrefflich im Übergreifen des Denkens über sich und sein Anderes, das Begriffene, durchzuspielen versucht? Doch wird dadurch nicht – wie Schelling Hegel vorwirft – das Sein notwendig seiner Eigenständigkeit beraubt und zu einem bloßen Gegenstand des Denkens degradiert? Muss nicht vielmehr das Denken das Sein außer sich und in sich unvordenklich voraus akzeptieren, wie dies Schelling in seiner späten existenzphilosophischen Idealismuskritik ausführt? Gibt aber dadurch das Denken sich nicht selbst auf und versinkt in der absoluten Nacht der Unterscheidungslosigkeit – wie Hegel schon gegen die Identitätsphilosophie Schellings polemisierte? Wie muss also das Denken das Sein denken, um es nicht zu einem Moment seiner selbst zu degradieren, sondern es in seiner Andersheit, die es zugleich in sich trägt, wirken zu lassen? Wiederum nur auf die groben Grundrisse beschränkt, ist Schellings späte Antwort auf Hegels Herausforderung eines absoluten Idealismus eine dreifache. Der erste Schritt ist ein Bedenken der Prinzipien des reinen Denkens. Es ist dies das von Kant begonnene Projekt der transzendentalen Vernunftkritik, die daher aber nicht erst bei den empirisch-wissenschaftlichen Verstandeserkenntnissen beginnen darf, sondern zu klären hat, wie das Bewusstsein überhaupt 214 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
Sein zu erfassen vermag. Gerade aber deshalb geht es dabei nicht um ein reines Denken des Denkens, wie Hegel seine Wissenschaft der Logik versteht, denn alles Denken ist Denken des Seins, und so kann auch das Bedenken des Denkens des Seins nicht darum herum, die eigene Erfahrung des Denkens nach den an ihr entdeckten Prinzipien des Denkens des Seins zu befragen. Schelling lehnt sich hier an die Dialektik von Platon an, der sich ebenfalls der Induktionsmethode bedient (Schelling, Reinrationale Philosophie, XI: 321 ff.), um die Prinzipien des Denkens des Seins zu finden. 16 Von dieser transzendentalen Vorklärung ergeben sich sodann zwei Aufgaben: (1) die Vernunftwissenschaft oder negative Philosophie, die versucht, das Seiende, wie es uns in der Erfahrung vorliegt, aus seinem Seinszusammenhang zu begreifen. Negativ nennt Schelling diesen Teilbereich der Philosophie, da sie niemals bis zur Existenz selbst vorzudringen vermag, wie dies Hegel fälschlicherweise annimmt, sondern immer nur zum Begreifen des allgemeinen Seinszusammenhangs. Diese Negativität fällt in den Bereichen der Naturphilosophie und der Philosophie der ideellen Welt nicht weiter auf, denn hier kann sie immer auf vorliegende Erfahrungen verweisen. Wo sie aber bis zum Gottesproblem vordringt – und die Vernunftwissenschaft kann sich niemals des Gottesproblems entschlagen, denn als Fragen nach dem Gesamtzusammenhang alles Seienden kann sie sich dem Absoluten nicht entziehen –, muss sie sich eingestehen, dass sie trotz aller großartigen Bilder und notwendigen Gedanken, die sie von der Idee Gottes zu entwerfen vermag, die Existenz Gottes doch niemals zu beweisen vermag. Hier nun ist – nach Schelling – der Punkt der Wende von der negativen zur positiven Philosophie (2) erreicht. In der verzweifelten Einsicht, mit aller Vernunftphilosophie nirgends das Existierende erfassen zu können, gibt das Denken in einer »Ekstasis« seine Subjektrolle auf, um dem Existieren zu ermöglichen, als Subjekt hervorzutreten. Das Denken darf sich dabei nicht gänzlich aufgeben, wie Schelling in den Erlanger-Vorlesungen Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (IX: 209 ff.) betont, sondern gibt nur seine behauptete Vorrangstellung auf, um sich nun als existierendes Denken aus der »absoluten Subjektivität« der Existenz zu erfahren. Jedoch nicht, um sich passiv dem Geschick des Seins zu ergeben, wie es späVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016): 73.
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ter Heidegger entwickelt, sondern aktiv nach dem Sinn der Existenz suchend, in die wir immer schon geschichtlich gestellt sind. Die Philosophie bekommt hier eine völlig andere Rolle zugesprochen, ohne dadurch die Vernunftaufgabe des Begreifens der Wirklichkeit der negativen Philosophie gänzlich abzuweisen, wohl aber um sie in einem weiteren Schritt zu überhöhen. Die positive Philosophie dient der Sinnfindung des Menschen in der geschichtlichen Existenz, in die er gestellt ist, diese kann er aber nur finden, wenn ihm das Verknüpfende von Sinn der Existenz – und das ist Gott – aufgegangen ist und ihm zur Orientierung für sein eigenes Handeln in der Geschichte werden kann. Daher bleibt die positive Philosophie ein unabschließbares Ringen des Menschen um und mit Gott. Auf die Religionsphilosophie konzentriert, hat Schelling in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung, die zugleich einen Vorblick auf eine »philosophische Religion« gewähren, eine Phänomenologie des »notwendig Gott-setzenden Bewußtseins« entwickelt. Vom ersten geschichtlichen Schritt an ist das menschliche Bewusstsein in seiner Not, für die Orientierung seines Tuns den Sinn der Existenz zu kennen, in der es immer schon steht, auf Gott verwiesen. »Also […] weit entfernt von der Behauptung eines ursprünglichen A-theismus des menschlichen Bewußtseins, […] bin ich doch eben so weit entfernt, die Menschheit […] von einem Begriff Gottes ausgehen zu lassen. Das menschliche Bewußtseyn ist vielmehr ursprünglich mit dem Gott gleichsam verwachsen […] – das Bewußtsein hat den Gott an sich […]. Seine erste Bewegung ist nicht eine Bewegung, durch die es den Gott sucht, sondern eine Bewegung, durch die es sich von ihm entfernt.« (Schelling, Mythologie, XII: 120) Der theogonische Prozess, den die Menschheit in der Periode der Mythologie durchläuft, ist also eine Befreiungsgeschichte von den Zwangsgestalten der Götter, die die Menschen beherrschen. In der zweiten Periode der Offenbarung beginnt der Mensch die volle Freiheit Gottes und seine Freiheit ihm gegenüber zu entdecken. Dies gipfelt in der Gestalt des Jesus von Nazareth, der völlig frei ist von Gott, aber diese Freiheit nicht nutzt, um sich an Gottes Stelle zu setzen, sondern sich in seiner Freiheit zu Gott als seinem Vater bekennt. Was wesentlich darin besteht, die Liebe, die Gott den Menschen in ihrer Freiheit schenkt, als Liebe unter den Menschen und gegenüber der Schöpfung weiterzugeben. Die darauf aufbauende Geschichte der christlichen Gemeinschaften demonstrieren die stolperigen Versuche der christlichen Kir216 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nachbemerkungen
chen, die Lehre der Liebe in das alltägliche Leben der Menschen und der weltlichen Gemeinschaften untereinander zu verwirklichen. Über die petrinische Kirche des Katholizismus und die paulinische Kirche des Protestantismus mit all ihren Stärken und Schwächen steht aber die Hoffnung auf eine zukünftige johanneische Gemeinschaft noch aus. »Dieses Princip […] zu einer dritten Periode, in welcher die Einheit, aber als mit Freiheit bestehende, mit Ueberzeugung gewollt, und darum erst als ewige, bleibende hergestellt ist« (Schelling Offenbarung, XIV: 324), steht uns zur Verwirklichung noch bevor. Sie kann nur durch die von der Liebesbotschaft durchdrungenen Menschen, ihr aus freien Stücken verpflichtet, vollbracht werden – erst dann wird der Geist der Liebe Gottes »Alles in Allem« sein.
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Der Mensch ohne Gott
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7. Feuerbach und Marx – Der Mensch, das höchste Wesen für den Menschen 1
Ludwig Feuerbach, der zunächst zwei Semester in Heidelberg und dann ab 1824 in Berlin bei Friedrich Schleiermacher und August Neander evangelische Theologie studierte, wandte sich – in den Bann der Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geraten – 1825 ganz dem Studium der Philosophie zu, das er 1828 an der Universität in Erlangen mit der Dissertation Über die Vernunft abschloss, 2 die – überarbeitet und gedruckt – im selben Jahr auch für die Erteilung der venia legendi diente. Obwohl sich Feuerbach in seinen Erlanger Vorlesungen 3 noch ganz zu Hegels Philosophie bekennt, ist doch schon hier eine Transformation von Hegels absolutem Geist in das Absolute der menschlichen Vernunft deutlich erkennbar, die dann ein Jahrzehnt später das Fundament seiner Religionskritik bildet. 1830 erscheinen anonym Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit, die einen Skandal auslösen, der letztlich dazu führt, dass Feuerbach seine Vorlesungen 1836 in Erlangen aufgibt und sich ganz in das Herrenhaus seiner Frau in Bruckberg bei Ansbach zurückzieht. In diesen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit bedient sich Feuerbach bereits der Argumentation, die seine ganze Religionskritik durchziehen wird: »Wenn nun aber der Tod nur eine sich selbst verneinende Verneinung ist, so ist auch die Unsterblichkeit im gewöhnlichen Sinne als der bloße Gegensatz einer Nichtigkeit eine unwirkliche, unbestimmte Bejahung des Individuums, des Lebens und Neu verfasstes Kapitel mit Rückgriffen auf die Beiträge: Wolfdietrich SchmiedKowarzik, »Dialektik der gesellschaftlichen und geschichtlichen Praxis«, in: Ludwig Nagl / Rudolf Langthaler (Hg.), System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein, Frankfurt a. M. 2000:199–214 sowie Ders., »Karl Marx. Dialektik im Primat der Praxis«, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts, hg. v. Margot Fleischer / Jochem Hennigfeld, Darmstadt (1998): 103–122. 2 Ludwig Feuerbach, Über die Vernunft (1828), 1: 15 ff. 3 Ludwig Feuerbach, Einleitung in die Logik und Metaphysik (1829/30), 1975; Vorlesungen über Logik und Metaphysik (1830/31), 1976; Vorlesungen über die Geschichte der neueren Philosophie (1835/36), 1974. 1
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Feuerbach und Marx
Daseins. […] So wenig ich Etwas, Wirkliches von der Pflanze aussage, wenn ich sage, sie ist vergänglich […], so wenig affiziert und trifft das Prädikat der Unvergänglichkeit oder Unsterblichkeit die Seele oder das Individuum; aber ein nicht affizierendes, ein affektloses Prädikat ist kein Prädikat«. (Feuerbach, Tod und Unsterblichkeit, 1: 264 f.) Je bestimmter Feuerbach sich auf das Absolute der menschlichen Vernunft festlegt, umso mehr wird er zu einem entschiedenen Hegel-Kritiker, der den absoluten Idealismus materialistisch umzubauen versucht, wobei die Substanzphilosophie Spinozas, die Naturphilosophie Schellings und die transzendental-pragmatische Dialektik Schleiermachers zentrale impulsgebende Rollen spielen. Schon in seiner ersten Abhandlung Zur Kritik der Hegelschen Philosophie (1839) macht Feuerbach klar, dass Hegel mit dem unbestimmten »reinen Sein« als »voraussetzungslosem Anfang« der Wissenschaft der Logik (1812) einen höchst voraussetzungsvollen Anfang macht. Denn Hegel beginnt nicht mit dem der Anschauung vorliegenden Sein, sondern mit dem »Begriff des Seins«, dem er so auch gleich bescheinigen kann, dass er das »reine Nichts« an Bestimmtheit darstelle, so dass die Logik erst durch den dialektischen Prozess seine zunehmend »werdende« Selbstbestimmung bis zur »absoluten Idee« erfährt. Da Hegel mit dem »Begriff des Seins« operiert, bleibt seine Logik immer nur in der Immanenz des Denkens des Denkens, ohne das Sein als das Andere des Denkens, das nur über die »sinnliche Anschauung« erreichbar ist, auch nur zu antizipieren, und ohne zu berücksichtigen, dass sich wirkliches Denken nur in der sprachlichen »Vermittlung des Ich mit dem Du« ereignet. »Der Gegensatz des Seins […] ist nicht das Nichts, sondern das sinnliche, konkrete Sein. […] Die Dialektik ist kein Monolog der Spekulation mit sich selbst, sondern ein Dialog der Spekulation und Empirie. […] Das Denken kann nur Seiendes denken, weil es selbst eine seiende, wirkliche Tätigkeit ist. […] Die Sprache ist […] nichts anderes als die Realisation der Gattung, die Vermittlung des Ich mit dem Du, um durch die Aufhebung ihrer individuellen Getrenntheit die Einheit der Gattung darzustellen.« (Feuerbach, Kritik der Hegelschen Philosophie, 1: 28; 45; 18) Ausgeführt hat Feuerbach diese Hegel-Kritik, die gleichzeitig die Grundlegung seiner eigenen »neuen Philosophie« darstellt, in den beiden 1843 erschienenen Abhandlungen Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie und Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843). Sie bilden zugleich das philosophische Fundament sei222 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Grundsätze einer neuen Philosophie des Menschen
ner Religionskritik, die er in seinem Hauptwerken Das Wesen des Christentums (1841) und Das Wesen der Religion (1846) ausarbeitet.
7.1 Grundsätze einer neuen Philosophie des Menschen Was Feuerbach zu seinen beiden Entwürfen einer »neuen Philosophie« antreibt, ist die Klärung des »paradoxen Satz[es] Hegels: ›Das Bewußtsein [des Menschen] von Gott ist das Selbstbewußtsein Gottes‹«. (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 224) Das Paradoxe daran ist, dass Hegel mit seiner Religionsphilosophie die christliche Theologie zu retten versucht, dabei aber das »Geheimnis« zu ihrer »anthropologischen Überwindung« ausspricht. »Die Hegelsche Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlorene, untergegangene Christentum durch die Philosophie wiederherzustellen, und zwar dadurch, daß, wie überhaupt in der neuern Zeit, die Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identifiziert wird. […] Nur dadurch wird dieser Widerspruch bei Hegel den Augen entrückt […], daß die Negation Gottes, der Atheismus, zu einer objektiven Bestimmung Gottes gemacht […] wird.« (Feuerbach, Grundsätze, 3: 279 f.) Hegels Erkenntnis, dass das Bewusstsein von Gott mit dem Selbstbewusstsein Gottes zusammenfällt, ist das Ergebnis seiner sich durch das Gesamtwerk hindurchziehenden »Dialektik des Übergreifens«, die sich als Realisierung des ontologischen Gottesbeweises durch sein Gesamtwerk hindurch darstellt, da von Anfang an der Begriff des Seins das wirkliche Sein ersetzt. »Das Sein, mit welchem die Phänomenologie beginnt, steht nicht minder als das Sein mit welchem die Logik anhebt, im direktesten Widerspruch mit dem wirklichen Sein.« (Feuerbach, Grundsätze, 3: 289) Hegels Phänomenologie beginnt mit der »sinnlichen Gewissheit«, die in ihrem unmittelbaren Gehalt ihres »Hier«, »Jetzt« und »Dieses« nicht festgehalten zu werden vermag und daher zur näheren Bestimmung in die »Wahrnehmung« aufgehoben werden muss. Was aber Hegel hier – und ebenso in den weiteren Schritten – aufhebt, ist gerade nicht die sinnlich erfasste Tatsächlichkeit des Seins, sondern die vorliegende Bestimmtheit des Seins. »Das ›über sein Andres‹ – ›übergreifende‹ Denken ist das seine Naturgrenze überschreitende Denken. Das Denken greift über sein Gegenteil über – heißt: Das Denken vindiziert sich, was nicht dem Denken, sondern dem Sein zukommt. Dem Sein kommt aber die Einzelheit, Individualität, dem 223 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Denken die Allgemeinheit zu. Das Denken vindiziert sich also die Einzelheit – es macht die Negation der Allgemeinheit, die wesentliche Form der Sinnlichkeit, die Einzelheit zu einem Moment des Denkens.« »Nur ›was ist‹ hat die Philosophie nach ihm zum Objekt, aber dieses Ist ist selbst nur ein abstraktes, gedachtes. Hegel ist ein sich im Denken überbietender Denker – er will das Ding selbst ergreifen, aber im Gedanken des Dings, […] im Denken selbst«. (Feuerbach, Grundsätze, 3: 291; 296) Somit ist es auch kein Wunder, dass Hegels Philosophie mit der Religionsphilosophie enden muss, mit dem ›Alles in Allem‹ einholenden Gott, der »mystisch« mit der ihn denkenden Philosophie in eins verschmilzt. »Die Hegelsche Logik ist die zur Vernunft und Gegenwart gebrachte, zur Logik gemachte Theologie. […] Das Wesen der Theologie ist das transzendente, außer den Menschen hinausgesetzte Wesen des Menschen; das Wesen der Logik Hegels das transzendente Denken, das Denken des Menschen außer den Menschen gesetzt. […] Der absolute Geist offenbart oder realisiert sich nach Hegel in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie. [… Kurz d]er ›absolute Geist‹ ist der ›abgeschiedene Geist‹ der Theologie, welcher in der Hegelschen Philosophie noch als Gespenst umgeht.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 226) Damit spricht die Hegelsche Philosophie das Geheimnis aller Theologie aus und verbirgt es zugleich wieder vor sich selbst. Daher kann nur aus der radikalen Umkehr des absoluten Idealismus Hegels, die neue Philosophie des anthropologischen Materialismus erstehen, für den »der Mensch das höchste Wesen für den Menschen« ist. Denn die »Aufgabe der neueren Zeit« ist »die Verwirklichung und Vermenschlichung Gottes – die Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie«. (Feuerbach, Grundsätze, 3: 248) »Die neue Philosophie ist die vollständige, die absolute, die widerspruchslose Auflösung der Theologie in der Anthropologie; denn sie ist die Auflösung derselben nicht nur, wie die alte Philosophie, in der Vernunft, sondern auch im Herzen, kurz im ganzen, wirklichen Wesen des Menschen.« (Feuerbach, Grundsätze, 3: 317) Die neue Philosophie, die Feuerbach hier einfordert, ist nicht nur eine Korrektur oder Umkehr der Hegelschen Philosophie in ihren auf den absoluten Geist bezogenen letzten Aussagen, wie dies die Feuerbach nahestehenden Junghegelianer zu praktizieren versuchen, sondern ein grundlegendes Umstülpen der Grundlage seiner ganzen Philosophie, die Feuerbach aber nur in »Vorläufigen Thesen« und 224 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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»Grundsätzen« skizziert hat. Wie nahe Feuerbach dabei Schelling zur selben Zeit kommt, ist ihm nur andeutungsweise und vom HörenSagen bekannt und wird von ihm zudem bewusst übergangen, da es ihm – im Gegensatz zu Schelling – vornehmlich um die Überwindung der Theologie geht. »Wer die Hegelsche Philosophie nicht aufgibt, der gibt nicht die Theologie auf.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 238) So setzt Feuerbach Hegels Theorem vom Übergreifen des Denkens über sich und sein Anderes, das Sein, worunter Hegel aber nur das begriffene Sein versteht, ein Theorem vom gegenseitigen Übergreifen von Sein und Denken im Menschen entgegen. Einerseits ist das Sein das übergreifende über das Denken, insofern es der dem Denken vorausliegende Bezugspunkt alles Denkens und zugleich die Grundlage alles wirklichen Denkens ist, denn ein Denken ohne wirklich denkendes Subjekt verliert seine daseiende Grundlage. »Das wahre Verhältnis vom Denken zum Sein ist nur dieses: Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat, aber ein solches Prädikat, welches das Wesen seines Subjekts enthält. Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken. […] Sein wird nur durch Sein gegeben – Sein hat seinen Grund in sich, weil nur Sein Sinn, Vernunft, Notwendigkeit, Wahrheit, kurz Alles in Allem ist. […] Das Wesen des Seins als Sein ist das Wesen der Natur.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 238 f.) Doch dies ist nur die eine Seite der Wahrheit. Ihr muss die zweite Seite hinzugefügt werden, die darin besteht, dass die Menschen als denkende Wesen, die bewussten Subjekte der Geschichte darstellen, denen es nicht nur aufgegeben ist, die Welt zu erkennen und sich verfügbar zu machen, sondern denen auch aufgetragen ist, die Welt humaner und gerechter zu gestalten. »Die Einheit von Denken und Sein hat nur Sinn und Wahrheit, wenn der Mensch als der Grund, das Subjekt dieser Einheit gefaßt wird. Nur ein reales Wesen erkennt reale Dinge; nur wo das Denken nicht Subjekt für sich selbst, sondern Prädikat eines wirklichen Wesens ist, nur da ist auch der Gedanke nicht vom Sein getrennt. […] Hieraus ergibt sich folgender kategorischer Imperativ. Wolle nicht Philosoph sein im Unterschied vom Menschen, sei nichts weiter als ein denkender Mensch; […] denke in der Existenz, in der Welt als ein Mitglied derselben […]. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« (Feuerbach, Grundsätze, 3: 316; 321) 225 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Beide Seiten passen nur zusammen, wenn der Mensch sich aus dem Grund ihrer Einheit versteht, die in ihm selbst liegt. Der Mensch ist aus der Natur hervorgegangen, und sie bildet weiterhin seine Lebensgrundlage, gleichwohl ist er es, der durch seine Naturerkenntnis zweckbestimmend und verändernd in die Natur einzuwirken vermag. »Die neue Philosophie ist keine abstrakte Qualität mehr, […] – sie ist der denkende Mensch selbst – der Mensch, der ist und sich weiß als das selbstbewußte Wesen, der Natur, als das Wesen der Geschichte, als das Wesen der Staaten, als das Wesen der Religion – der Mensch, der ist und sich weiß als die wirkliche […] absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche, aller aktiven und passiven, geistigen und sinnlichen, politischen und sozialen Qualitäten – weiß, daß das pantheistische Wesen, welches die spekulativen Philosophen oder vielmehr Theologen vom Menschen absonderten, als ein abstraktes Wesen vergegenständlichten, nichts andres ist als sein eignes unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen fähiges Wesen. […] Der Mensch ist das [alleinige] Selbstbewußtsein.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 240 f.) Die radikale Umkehrung der neuen Philosophie Feuerbachs besteht darin, dass die von Hegel in seinem System des absoluten Idealismus zu Prädikaten des Subjekts des absoluten Geistes herabgestuften Momente als die wahren Subjekte des wirklichen Prozesses erkannt und verwirklicht werden. Nicht Gott ist das Subjekt des natürlichen und geschichtlichen Geschehens, sondern die natürlichen Kräfte und die gemeinschaftlich handelnden Menschen sind die wahren und wirklichen Subjekte. »Wir dürfen nur immer das Prädikat zum Subjekt und so als Subjekt zum Objekt und Prinzip machen – also die spekulative Philosophie nur umkehren, so haben wir die unverhüllte, die pure, blanke Wahrheit.« »Die unmittelbare, sonnenklare, truglose Identifikation des durch die Abstraktion vom Menschen entäußerten Wesen der Menschen mit dem Menschen kann nicht auf positivem Wege, kann nur als die Negation der Hegelschen Philosophie, aus ihr abgeleitet, kann überhaupt nur begriffen, nur verstanden werden, wenn sie als die totale Negation der spekulativen Philosophie begriffen wird, ob sie gleich die Wahrheit derselben ist.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 224; 227) Daraus ergibt sich das, was Feuerbach in den Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie einen »Anthropotheismus« nennt, eine Religion, die zugleich Aufhebung der Religion ist, in der der Mensch sich als das höchste Wesen für den Menschen begreift und 226 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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sich in diesem Sinne auch zu verwirklichen versucht: »Die neue Philosophie ist daher, als die Negation der Theologie, welche die Wahrheit des religiösen Affekts leugnet, die Position der Religion. Der Anthropotheismus ist die selbstbewußte Religion – die Religion, die sich selbst versteht. Die Theologie dagegen negiert die Religion unter dem Scheine, als wenn sie sie ponierte.« (Feuerbach, Vorläufige Thesen, 3: 236) Auf dem Wege zu einem Anthropotheismus ist das Christentum und darin wiederum der Protestantismus am weitesten fortgeschritten, allerdings immer noch in einer theologischen Verklärung, die die neue Philosophie gänzlich zu enthüllen und anthropologisch offenbar zu machen hat. »Der Gott, welcher Mensch ist, der menschliche Gott, also: Christus – dieser nur ist der Gott des Protestantismus. Der Protestantismus kümmert sich nicht mehr, wie der Katholizismus, darum, was Gott an sich selber ist, sondern nur darum, was er für den Menschen ist; […] er ist nicht mehr Theologie – er ist wesentlich nur Christologie, d. i. religiöse Anthropologie.« (Feuerbach, Grundsätze, 3: 248)
7.2 Die Aufhebung der Religion durch die Einsicht in das Wesen des Christentums Fünf Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerkes Das Wesen des Christentums (1841) legt Feuerbach – auch um einigen Missverständnissen entgegenzutreten – seine grundlegender ansetzende Arbeit Das Wesen der Religion (1846) vor. Beide Schriften zusammen können als Feuerbachs kritische Enthüllung der Glaubenslehre (1822) von Friedrich Schleiermacher gelesen werden, also als »Auflösung der Geheimnisse« der Theologien von ihren allerersten Anfängen bis zum Protestantismus der Gegenwart. Dabei werden, die in den Religionen verwendeten Bilder »als Bilder betrachtet« – also »weder zu Gedanken […] noch zu Sachen gemacht« –, in denen eine »psychische Pathologie« zum Ausdruck kommt, die »therapeutisch« behandelt werden kann und muss. (Feuerbach, Christentum, 5: 12) Die Methode, die dabei zum Einsatz kommt, ist die gegenüber dem Hegelschen absoluten Idealismus herausgearbeitete Umkehr der theologischen Verkehrung von Subjekt und Prädikat: »[D]ie Religion ist, allgemein ausgedrückt, Bewußtsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts andres sein als das Bewußtsein des Menschen von 227 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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seinem, und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen. […] Das Bewußtsein des Unendlichen ist nichts andres als das Bewußtsein von der Unendlichkeit des Bewußtseins. […] An dem Gegenstande wird daher der Mensch seiner selbst bewußt: Das Bewußtsein des Gegenstands ist das Selbstbewußtsein des Menschen.« (Feuerbach, Christentum, 5: 18 ff.) Zu Recht nennt Schleiermacher das »schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl« das Fundament aller Religion, und hieran knüpft auch Feuerbach an: »Das Abhängigkeitsgefühl des Menschen ist der Grund der Religion.« (Feuerbach, Religion, 4: 81) Der Mensch – das Individuum genauso wie die Menschheit insgesamt – findet sich, wo er zu Bewusstsein kommt, hineingeboren in die Natur. Er hat sich nicht selbst hervorgebracht, er ist tagtäglich auf die Natur als seiner Lebensgrundlage angewiesen, er weiß um seine Vergänglichkeit, aber nicht, wann ihn der Tod ereilt. So wird ihm »die Natur [… zum] erste[n], ursprüngliche[n] Gegenstand der Religion, wie die Geschichte aller Religionen und Völker sattsam beweist.« (Feuerbach, Religion, 4: 81) Aber dies ist zunächst nicht die Natur in den vom Menschen der Natur im Laufe der Jahrtausenden abgelauschten Gesetzen, sondern die Vorstellung einer »supranaturalistischen« Macht, die durch eine Vielzahl von Mächten das menschliche Leben bestimmt und beherrscht und die durch beschwörende Riten und besänftigende Opfer, zu einer wohlwollenden Haltung der menschlichen Gruppe gegenüber gestimmt werden soll: »Im Opfer versinnlicht und konzentriert sich das ganze Wesen der Religion. Der Grund des Opfers ist das Abhängigkeitsgefühl – die Furcht, der Zweifel, die Ungewißheit des Erfolgs, der Zukunft, die Gewissenspein über eine begangne Sünde –, aber das Resultat, der Zweck des Opfers ist das Selbstgefühl – der Mut, der Genuß, die Gewißheit des Erfolgs, die Freiheit und Seligkeit. […] Das Gefühl der Abhängigkeit von der Natur ist daher wohl der Grund, aber die Aufhebung dieser Abhängigkeit, die Freiheit von der Natur, ist der Zweck der Religion.« (Feuerbach, Religion, 4: 109 f.) Je mehr der Mensch in den letzten Jahrtausenden gelernt hat, die Natur durch Viehzucht und Ackerbau sowie später durch Wissenschaft und Technik in den Griff zu bekommen, wobei aber gleichzeitig ihr Leben immer stärker von sozialen Konflikten und Kriegen bedroht wird, umso mehr nehmen auch die Göttergestalten bis hin zum Monotheismus menschliche Züge an. Sowohl die göttlichen Gebote als auch die religiösen Riten bekommen soziale Gehalte und For228 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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men. »Die religiöse Bewunderung der göttlichen Weisheit in der Natur ist nur ein Moment der Begeisterung; sie bezieht sich nur auf die Mittel, aber erlischt in der Reflexion auf die Zwecke der Natur.« (Feuerbach, Religion, 4: 135) Stattdessen tritt nun im Monotheismus das gemeinsame sittliche Leben der Menschen als der Zweck der Religion immer stärker in den Vordergrund. Zunächst noch bezogen auf das eine, von Gott auserwählte Volk, wie dies im Judentum zum Ausdruck kommt, das die sozialen Gebote und die verheißene Erlösung allein auf das Volk Israel bezieht: »Aber der Utilismus ist die wesentliche Anschauung des Judentums. Der Glaube an eine besondere göttliche Vorsehung ist charakteristischer Glaube des Judentums; […] der Glaube an Wunder aber ist es, wo die Natur nur als ein Objekt der Willkür […] angeschaut wird. […] Und all diese Widernatürlichkeiten geschehen zum Besten Israels, lediglich auf Befehl Jehovahs, der sich um nichts als Israel kümmert, nichts ist als die personifizierte Selbstsucht des israelitischen Volks, mit Ausschluß aller andern Völker, die absolute Intoleranz – das Geheimnis des Monotheismus.« (Feuerbach, Christentum, 5: 134 f.) Diese Enge wird im Christentum überwunden, da in ihm ausdrücklich jeder Mensch und die Menschheit insgesamt als Zweck der christlichen Religion gemeint sind. Insofern gilt im Christentum – ihrem Selbstverständnis nach – erst vollgültig der Satz: »Der Mensch […] ist das Geheimnis der Religion.« (Feuerbach, Christentum, 5: 44) Dies kommt natürlich am stärksten im Gedanken der Menschwerdung Gottes zum Ausdruck, der zugleich die Gottwerdung des Menschen impliziert. »Wenn der menschgewordne Gott in der Inkarnation als das erste gesetzt und betrachtet wird, so erscheint freilich die Menschwerdung Gottes als ein unerwartetes, frappierendes, wunderbares, geheimnisvolles Ereignis. Allein, der menschgewordne Gott ist nur die Erscheinung des gottgewordnen Menschen, was freilich im Rücken des religiösen Bewußtseins liegt; denn der Herablassung Gottes zum Menschen geht notwendig die Erhebung des Menschen zu Gott vorher.« (Feuerbach, Christentum, 5: 57) Deshalb war der frühchristliche Streit um die Göttlichkeit Christi zwischen Atanasius und Arius religionsgeschichtlich von so großer Bedeutung. Christus war mit Gott nicht nur wesensähnlich (homoiousios) – wie Arius meinte –, sondern wesensgleich (homoousios), ja Gott selbst – wie Atanasius es vertrat –, denn in der darin ausgedrückten Menschwerdung Gottes lag das ganze Geheimnis des 229 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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»christlichen Christus« und die »Ehre der christlichen Religion«. (Feuerbach, Christentum, 5: 166, 86 f.) »Christus allein ist der persönliche Gott – er der wahre, wirkliche Gott der Christen, was nicht oft genug wiederholt werden kann. In ihm allein konzentriert sich die christliche Religion, das Wesen der Religion überhaupt«. (Feuerbach, Christentum, 5: 176) »Erst in Christus ist daher der letzte Wunsch der Religion realisiert, das Geheimnis des religiösen Gemütes aufgelöst – aufgelöst aber in der der Religion eigentümlichen Bildersprache –, denn was Gott im Wesen ist, das ist in Christus zur Erscheinung gekommen. (Feuerbach, Christentum, 5: 172) Es ist zur Erscheinung gekommen, dass der »Menschen das höchste Wesen des Menschen« ist. »Homo homini deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz, dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« (Feuerbach, Christentum, 5: 318) Der Ursprung der Religion liegt ohne Zweifel im Abhängigkeitsgefühl des Menschen von der Natur, und solange ihm die Naturmächte unerforschlich bleiben, fühlt er sich von diesen Mächten bedroht und sucht in religiösen Riten Schutz. Er macht sich Bilder von diesen Mächten, um sie beschwören und durch Opfer beschwichtigen zu können, denn der Zweck seiner religiösen Praktiken liegt im Wohlergehen seiner selbst und seiner Gemeinschaft. Je mehr der Mensch die Natur zu erkennen und erforschen beginnt, umso mehr werden die Naturmächte zu Naturgesetzen, die der Mensch zu nutzen und zu beherrschen lernt, die Götter verflüchtigen sich aus der Natur. »Daß er ist, verdankt er der Natur, daß er Mensch ist, dem Menschen. […] Beschränkt ist das Wissen des einzelnen, aber unbeschränkt die Vernunft, unbeschränkt die Wissenschaft, denn sie ist ein gemeinschaftlicher Akt der Menschheit«. (Feuerbach, Christentum, 5: 99) Aber das Abhängigkeitsgefühl des einzelnen Menschen gegenüber der Ungewissheit seines geschichtlichen Schicksals bleibt. Er macht sich ein Bild von einer glücklichen und friedlichen Zukunft für sich und seine Gemeinschaft. Doch solange der Mensch noch nicht so weit ist, diese mit anderen zusammen gemeinsam in die Hand zu nehmen, fühlt er sich einer Gottheit ausgeliefert, die seine Geschicke bestimmen kann und die es durch Gebete und Gottesdienste wohlwollend zu stimmen gilt. Je bestimmter der Mensch die Ideale eines mitmenschlichen Lebens zu artikulieren weiß, um so menschlicher werden die bildlichen Züge Gottes, bis schließlich Gott selbst zum Menschen wird und in die Geschichte eintritt. »Der Mensch ver230 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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mittelt durch Gott sein eignes Wesen mit sich – Gott ist das Band, das vinculum substantiale zwischen dem Wesen, der Gattung und dem Individuum.« (Feuerbach, Christentum, 5: 246) »Gott leidet – Leiden ist Prädikat – aber für die Menschen, für andere, nicht für sich. Was heißt das auf deutsch? Nichts andres als: Leiden für andere ist göttlich; wer für andere leidet, seine Seele läßt, handelt göttlich, ist den Menschen Gott. […] Christus als das sich selbst gegenständliche Herz – der Eindruck und Inhalt seiner Leidensgeschichte ein rein menschlicher.« (Feuerbach, Christentum, 5: 68) Genau dies hat Hegel in seiner spekulativen Religionsphilosophie aufgedeckt, aber er hat es selbst noch in einer religiösen Verkleidung vorgetragen. Denn Hegel hat die Geschichte der Selbstbewusstwerdung und Unabhänigkeitswerdung der menschlichen Vernunft selbst zu einem unabhängig vom Menschen sich vollziehenden Prozess der Selbstbewusstwerdung eines absoluten Geistes stilisiert. Die Menschen bilden nur »die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre«. (Hegel, Phänomenologie, 3: 591) Hier bedient sich Hegel – wie die Religion seit Jahrtausenden – der Verkehrung der Wirklichkeit der Prädikate naturhaften Geschehens und menschlichen Handelns in ein hypostasiertes absolutes Subjekt, das aus sich schafft und sich durch sie vollbringt. »Die Persönlichkeit Gottes ist die entäußerte, vergegenständlichte Persönlichkeit des Menschen. […] Auf diesem Prozesse der Selbstentäußerung, Selbstvergegenständlichung beruht auch im Grunde die neue, Hegelsche spekulative Lehre, welche das Bewußtsein des Menschen von Gott zum Selbstbewußtsein Gottes macht, nur mit dem Unterschiede, daß hier dieser Prozeß ein selbstbewußter ist und daher zugleich, in einem und demselben Moment, das entäußerte Wesen in den Menschen wieder zurückgenommen wird. Gott wird nicht nur von uns gedacht – er denkt sich selbst. Dieses sein Gedachtwerden ist, der Spekulation zufolge, das Sich-Denken Gottes; sie identifiziert die beiden Seiten.« (Feuerbach, Christentum, 5: 269) Die spekulative Philosophie Hegels spricht also das Geheimnis der Religion aus, aber immer noch in einem religiösen Gewand, das weiterhin die eigentliche Wahrheit verhüllt: »[D]er Glaube an Gott ist […] der Glaube des Menschen an sein eignes Wesen, an die Unendlichkeit seiner selbst«. (Feuerbach, Christentum, 5: 217) Wobei unter »Mensch« nicht das einzelne menschliche Individuum gemeint ist, sondern die Menschengattung in ihrer Verwurzelung in der 231 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Natur und in ihren idealen Zielen geschichtlicher Verwirklichung. Die Religion und auch noch die Hegelsche Philosophie versperrt geradezu die Verwirklichung wahrer Menschlichkeit durch die Menschen, da sie durch den Glauben an ein höheres, Geschichte bestimmendes Wesen von der praktischen Aufgabe der geschichtlichen Verwirklichung der Ideale der Menschlichkeit abhält. »Aber Religion hat nicht das Bewußtsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts; sie setzt sich vielmehr dem Menschlichen entgegen, oder wenigstens sie gesteht nicht ein, daß ihr Inhalt menschlicher ist. Der notwendige Wendepunkt der Geschichte ist aber dieses offne Bekenntnis und Eingeständnis, daß das Bewußsein Gottes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung, daß der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität erheben kann und soll, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung, daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken, ahnen, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das Wesen der menschlichen Natur.« (Feuerbach, Christentum, 5: 317) Wo wir dies durchschauen, stehen wir am Scheidepunkt, kritisch über die Religion hinauszuschreiten, denn wir begreifen: »Wer also den Menschen um des Menschen willen liebt, wer sich zur Liebe der Gattung erhebt, zur universalen, dem Wesen der Gattung adäquaten Liebe, der ist Christ, der ist Christus selbst.« (Feuerbach, Christentum, 5: 316) Wenn man die christlichen Symbole einmal tiefenhermeneutisch zu deutet gelernt hat, so wird man auch den wahren Sinn des Abendmahls verstehen: »Wein und Brot vergegenwärtigen, versinnlichen uns die Wahrheit, daß der Mensch des Menschen Gott und Heiland ist.« (Feuerbach, Christentum, 5: 325) In dieser Rolle als religiösen Tiefenhermeneutiker und philosophischen Propheten versteht sich Feuerbach. Er verkündet keine neue Wahrheit, sondern plaudert die geheime Wahrheit der Religion und des Christentums nur aus, um so den Menschen zu seiner eigenen Wahrheit zu verhelfen, dass er das höchste Wesen für den Menschen ist. »Nicht ich, die Religion betet den Menschen an, ob sie oder vielmehr die Theologie es gleich leugnet; […] die Religion selbst sagt: Gott ist Mensch, der Mensch Gott; nicht ich, die Religion selbst verleugnet und verneint den Gott, der nicht Mensch, sondern nur ein ens rationis ist, indem sie Gott Mensch werden läßt und nun […] diesen menschlich […] fühlenden und gesinnten Gott zum Gegenstand ihrer Anbetung und Verehrung macht. Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten«. (Feuerbach, Christentum, 5: 403) 232 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Marx’ Anknüpfung und Kritik an Feuerbach und Hegel
Denn wo diese Wahrheit einmal ausgesprochen ist und die Menschen massenhaft ergreifen wird, da wird auch das Zeitalter wahrer Humanität nicht auf sich warten lassen. »Doch kommen wird die Zeit, wo Lichtenbergs Prophezeiung erfüllt, wo der Glaube an einen Gott überhaupt, also auch an einen rationalistischen Gott ebensogut für Aberglaube gelten wird, als jetzt bereits der Glauben an den fleischlichen, wundertätigen, d. i. christlichen Gott für Aberglaube gilt, wo also statt des Kirchenlichtes des simplen Glaubens und statt des Zwielichts des Vernunftglaubens das reine Licht der Natur und Vernunft die Menschheit erleuchten und erwärmen wird.« (Feuerbach, Religion, 4: 147)
7.3 Marx’ Anknüpfung und Kritik an Feuerbach und Hegel 4 Noch am Ende desselben Jahres, da die beiden Abhandlungen von Ludwig Feuerbach zur Grundlegung einer neuen Philosophie des Menschen 1843 erscheinen, beginnt Karl Marx seine Einleitung zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie niederzuschreiben, die dann zu Beginn des neuen Jahres 1844 in der ersten und einzigen Nummer der Deutsch-Französischen Jahrbücher herauskommt. Gleich in den ersten Sätzen spricht Marx darin aus, wie er, anknüpfend an Feuerbach und zugleich über ihn hinausgehend, über eine grundlegende Kritik von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts zu einer Grundlegung der gesellschaftlichen Praxis voranzuschreiten beabsichtigt. Da er dabei bereits – wenn auch noch nicht auf die Fundamente der Ökonomie bezogen – die Konturen seines weiteren Lebenswerkes umreißt, sei hier ein längeres Zitat aus den Anfangspartien wiedergegeben: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. […] Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, 4 Dazu ausführlicher in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 99.
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Feuerbach und Marx
Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion […] ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.« (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1: 378) Feuerbach greift also zu kurz mit seiner Religionskritik, denn die Religion erwächst im Letzten aus der elenden Lage der Menschen, und solange die elende Lage der Menschen, gerade auch im sozialen Bereich, fortbesteht, wird es auch Religion als Opium des Volkes geben, um ihre elende Situation ertragbar zu machen. Die Kritik muss deshalb tiefer ansetzen bei den Ursachen für das soziale Elend der Menschen, erst dann wird die humane Gesellschaft, die sich Feuerbach bereits durch seine Religionskritik erhofft, wirklich werden können und die Religion überflüssig machen. »Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. […] Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren. Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.« (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1: 379) Ausdrücklich verweist Marx bereits hier darauf, dass unter Kritik nicht nur eine theoretische Aufdeckung eines missverstandenen Sachverhalts oder die Freilegung eines verdrängten Bewusstseinszustands gemeint ist, sondern dass Kritik sich als erster Schritt zu einer radikalen praktischen Veränderung verkehrter gesellschaftlicher Verhältnisse zu verstehen hat. Allerdings ist für eine radikale Überwindung verkehrter gesellschaftlicher Verhältnisse die vorausgehende kritische Analyse der Verkehrtheit der Verhältnisse unabdingbar geboten. »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem 234 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Marx’ Anknüpfung und Kritik an Feuerbach und Hegel
kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1: 385) Schon in den ersten im Sommer 1843 begonnenen Vorarbeiten zu einer Kritik der Hegelschen Staatslehre bedient sich Marx der Methode der Religionskritik Feuerbachs, überträgt sie jedoch auf das politische Feld des Staates und erweitert sie in ihrem praktischen Anspruch. Nicht nur die Göttergestalten der Religion sind, wie Feuerbach gezeigt hat, Hypostasierungen menschlicher Ängste und Sorgen, Wünsche und Hoffnungen, sondern auch die politischen Institutionen und insbesondere »der Staat« und »die Weltgeschichte« stellen im politischen Leben solche hypostasierte Subjekte dar und werden in Hegels Grundlinien der Rechtsphilosophie als solche dargestellt. »Eben weil Hegel von den Prädikaten der allgemeinen Bestimmung statt von dem reellen Ens (hypokeimenon, Subjekt) ausgeht, und doch ein Träger dieser Bestimmung da sein muß, wird die mystische Idee dieser Träger.« (Marx, Kritik der Hegelschen Staatslehre, 1: 224) »Die Idee wird versubjektiviert, und das wirkliche Verhältnis von Familie und bürgerlicher Gesellschaft zum Staat wird als ihre innere imaginäre Tätigkeit gefaßt. […] Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte […] zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.« (Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, 1: 206) Dies demonstriert Marx an Hegels dialektischer Begründung der Souveränität der konstitutionellen Monarchie als der höchsten Form einer Staatsverfassung, die von Hegel gegen die auf die »Vorstellung« einer auf der »Volkssouveränität« gründenden Demokratie gestellt wird. Hegel diffamiert die »Volkssouveränität« als einen »verworrenen Gedanken, [dem] die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt«. »Das Volk, ohne seinen Monarchen und die eben damit notwendig und unmittelbar zusammenhängende Gliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist.« (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 447) Marx nimmt diese Scheinargumentation sehr gründlich auseinander, denn »die ›verworrenen Gedanken‹ und die ›wüste Vorstellung‹ befindet sich hier allein auf der Seite Hegels« (Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, 1: 229). Nimmt man das Volk als »formlose Masse« vereinzelter Individuen, so kann man von dort aus allerdings niemals zu einem gegliederten Ganzen der menschlichen Gesellschaft 235 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
kommen, aber nichts außer dem Vorurteil Hegels belegt, dass das Volk diese »formlose Masse« ist, die allein durch den Monarchen ihre »Gliederung des Ganzen« erhalten kann. Was Hegel nicht begreift, ist, dass das »wirkliche Volk« in den konkreten gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen aufeinander selber das lebendige, gegliederte Ganze darstellt, das seine Substanz und sein Subjektsein nicht in einem anderen (dem Monarchen) hat, sondern eben in den wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen zueinander. Daher ist die Demokratie nicht nur eine bestimmte Verfassungsform, sondern materialiter die wahre, verwirklichte »Selbstbestimmung des Volkes«: »Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihrem wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt. Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen.« (Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, 1: 231) Während Marx’ Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1843 noch das Ziel einer radikalen Demokratie verfolgt, wird ihm im Jahre 1844 in Paris durch die Beobachtung der rasant wachsenden Industrialisierung und die damit verbundene Verarmung der Industriearbeiter sowie durch die sich dagegen erhebenden sozialistischen Protestbewegungen deutlich, dass die neue soziale Klassenspaltung nicht politisch, sondern nur durch Umwälzungen der ökonomischen Verhältnisse überwunden werden kann. Marx stürzt sich in den kommenden Monaten in ein Studium der Politischen Ökonomie und der bisherigen sozialistischen Theorie und beginnt an einer ersten Studie der »Kritik der Nationalökonomie« zu arbeiten, die uns in Teilstücken als die sog. Ökonomisch-philosophischen Manuskripte oder PariserManuskripte von 1844 überliefert sind. In diesen Manuskripten entwickelt Marx seine materialistische Dialektik einer emanzipativen Menschheitsgeschichte, deren methodologische Grundlegung er in zwei Entwürfen zu einem geplanten Schlusskapitel »Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt« in Auseinandersetzung mit Hegel darlegt. 5 In diesem Kapitel knüpft Marx auch nochmals an Feuerbachs Hegel-Kritik an und sagt anerkennend: »Feuerbach ist der einzige, der ein ernsthaftes, ein Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981), 2018: 183.
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Marx’ Anknüpfung und Kritik an Feuerbach und Hegel
kritisches Verhältnis zur Hegelschen Dialektik hat und wahrhafte Entdeckungen auf diesem Gebiete gemacht hat, überhaupt der wahre Überwinder der alten Philosophie«. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 568) Als die großen Leistungen Feuerbachs nennt Marx drei Punkte, die bestimmend für seinen eigenen Ansatz geworden sind und auch sein kritisches Verhältnis zu Hegel kennzeichnen: 1. den »Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion«; 2. »die Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach das gesellschaftliche Verhältnis ›des Menschen zum Menschen‹ […] zum Grundprinzip der Theorie macht«; 3. dass Feuerbach, gegenüber Hegels Dialektik »der Negation der Negation [– …] das auf sich selbst ruhende und positiv auf sich selbst begründete Positive entgegenstellt«. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 569 f.) Auf eine Formel gebracht, heißt das: Feuerbach hat die Philosophie als Gestalt des Jenseits entlarvt und hat ihr entgegen die »auf sich selbst gegründete Position«, die mit dem wirklichen Verhältnis des Menschen zum Menschen beginnt, gestellt. Doch zugleich hat Feuerbach die Hegelsche Dialektik als Vermittlungsbewegung verworfen, da sie das Wirkliche, das Positive, in keiner Weise begreifen könne. Doch damit hat Feuerbach mit seiner Kritik das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn er erkennt nicht, dass die Hegelsche Dialektik nichts anderes ist als der ins Jenseits entfremdete »Erzeugungsakt, (die) Entstehungsgeschichte des Menschen«, dass also Hegels dialektische Gedankenbewegung »den abstrakten, logischen, spekulativen Ausdruck für die Bewegung der Geschichte« darstellt. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 570) Feuerbach ist zwar Materialist, denn er beginnt mit dem wirklichen Verhältnis »des Menschen zum Menschen« und zur Natur, aber er begreift dieses Verhältnis nicht geschichtlich, sondern er setzt es positiv an den Anfang, ohne es in seinem geschichtlichen Werden aus der Entfremdung zu verstehen. Dies unterstreicht Marx auch ein Jahr später in der Deutschen Ideologie: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander« (Marx/Engels, Deutsche Ideologie, 3: 45). Dem erkenntnistheoretischen Idealismus Hegels darf nicht nur schlicht die Position eines anthropologischen Materialismus entgegen gestellt werden, sondern es gilt, Hegels idea237 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
listische Dialektik in eine geschichtsmaterialistische Dialektik umzuwandeln. Die Dialektik in Hegels Phänomenologie des Geistes vermeint, dass das Denken im Begreifen seiner selbst und seines Anderen, des Gegenstandes, zu einem übergreifenden absoluten Wissen kommt und so »in seinem Anderssein als solchem bei sich« ist. »Darin liegt einmal, daß das Bewußtsein – das Wissen als Wissen – das Denken als Denken – unmittelbar das andere seiner selbst […] Sinnlichkeit, Wirklichkeit, Leben zu sein vorgibt«. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 580 f.) Die Hegelsche Dialektik bewegt sich nur im Prädizierungsprozess und verleugnet jeglichen Bezug zu den wirklichen, aus sich heraus wirkenden Gegenständen. Diese Verkehrung der Wirklichkeit in eine bloß gedachte Wirklichkeit zeigt sich besonders daran, dass Hegel die Entfremdung nicht in bestimmten Sinnbestimmungen der Wirklichkeit sieht, sondern in der Entgegensetzung von Erkenntnisgegenständen überhaupt, die es aufzuheben gilt. »Nicht daß das menschliche Wesen sich unmenschlich, im Gegensatz zu sich selbst sich vergegenständlicht, sondern daß es im Unterschied vom und im Gegensatz zum abstrakten Denken sich vergegenständlicht, gilt als das gesetzte und als das aufzuhebende Wesen der Entfremdung« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 572). Liegt die Entfremdung für das Denken in der Gegenständlichkeit, d. h. nur in den vom Denken selbst gesetzten Bestimmungen, so kann die Aufhebung der Entfremdung und Aneignung des Denkens als Denken »nur eine Aneignung [sein], die im Bewußtsein, im reinen Denken, i. e. in der Abstraktion vor sich geht, die Aneignung dieser Gegenstände als Gedanken und Gedankenbewegungen«. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 573). Für Hegel vollzieht sich die dialektische Bewegung allein im Erkenntnisprozess des Bewusstseins, sowohl in seiner bestimmenden Entäußerung in den Gegenstand als auch in der zu sich zurückkehrenden Einholung seines Begreifens von sich und seinem Gegenstand, die selbstvermittelte Position des Denkens als Selbstbewusstsein. Dieser »falsche Positivismus Hegels«, sein »nur scheinbarer Kritizismus« »liegt hierin, daß der selbstbewußte Mensch, insofern er die geistige Welt – als Selbstentäußerung erkannt und aufgehoben hat, er dieselbe dennoch wieder in dieser entäußerten Gestalt bestätigt und als sein wahres Dasein ausgibt, sie wiederherstellt, in seinem Anderssein als solchem bei sich zu sein vorgibt« (Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte, 40: 581). 238 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Marx’ Anknüpfung und Kritik an Feuerbach und Hegel
Dadurch, dass Hegel in seiner Philosophie die Wirklichkeit als Wirkendes nicht kennt und somit auch nicht anerkennt, wird seine Philosophie zu einer absolut von der Wirklichkeit getrennten, rein in sich selbst kreisenden Gedankenwelt. »Die ganze Entäußerungsgeschichte und die ganze Zurücknahme der Entäußerung ist daher nichts als die Produktionsgeschichte des abstrakten, i. e. absoluten Denkens, des logischen spekulativen Denkens« (Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte, 40: 572). Dadurch setzt Hegel »den in sich kreisenden Akt der Abstraktion an die Stelle jener fixen Abstraktionen« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 586), die die bisherige Philosophie hervorgebracht hat. Hegels absolute Philosophie ist somit das menschliche Denken in seiner völligen Entfremdung gegenüber der Wirklichkeit. Die ganze dialektische Bewegung dieser absoluten Philosophie stellt keine wirkliche Bewegung dar, sondern ist eine Bewegung in Gedanken, die ihren Zweck in sich selbst sieht und sich daher selbst als Position ausgibt. Hegel erkennt die dialektische Bewegung nicht als Hinführung zum wirklichen, sich in der Wirklichkeit begreifenden Menschen an, sondern er sieht in der dialektischen Bewegung selbst die absolut aus und in sich seiende Position des Denkens. Die Wirklichkeit wird der Philosophie zur Prädikation des Geistes; die Philosophie des Geistes wird so »das absolute Subjekt als ein Prozeß, als sich entäußerndes und aus der Entäußerung in sich zurückkehrendes, aber sich zugleich in sich zurücknehmendes Subjekt und das Subjekt als dieser Prozeß; das reine, rastlose Kreisen in sich«. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 585) Aber in dieser dialektischen Bewegung des Denkens verbirgt sich – in entfremdeter Gestalt – eine wirkliche Bewegung. Denn recht gewendet, lässt die Hegelsche Dialektik auch eine positive Einsicht aufscheinen: »Das Große an der Hegelschen Phänomenologie und ihrem Endresultat« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 574) ist es, dass er diese dialektische Bewegung – wenn auch in entfremdeter Gestalt – zum ersten Mal als menschliche Produktionsgeschichte erfasst hat. Begreift man Hegels Philosophie von seiner »Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 574), so findet man darin die Momente einer wirklichen Bewegung, die der Mensch in der Wirklichkeit durchmacht, die über die Entfremdung und die Aufhebung der Entfremdung zur Bewegung des wirklichen Werdens des Menschen zum Menschen wird. »Hegel faßt also, indem 239 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
er den positiven Sinn der auf sich selbst bezogenen Negation – wenn auch wieder in entfremdeter Weise – faßt, die Selbstentfremdung, Wesensentäußerung […] des Menschen als Selbstgewinnung, Wesensäußerung […] Kurz er faßt […] die Arbeit als den Selbsterzeugungsakt des Menschen, das Verhalten zu sich als fremdem Wesen und das Betätigen seiner als eines fremden Wesens als das werdende Gattungsbewußtsein und Gattungsleben« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 583 f.). Voraussetzung für ein solches Verstehen der Hegelschen Dialektik ist, dass man die Entfremdung als wirkliche Macht einsieht, die nur durch wirkliche Aufhebung der Entfremdung überwunden werden kann und die damit die Gewinnung des Menschen als Menschen bedeutet, als Ermöglichung des tätigen Verhaltens des Menschen zum Menschen. Das Große an Hegel ist, dass er »die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift. […] Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige. Was also überhaupt das Wesen der Philosophie bildet, die Entäußerung des sich wissenden Menschen oder die sich denkende entäußerte Wissenschaft, dies erfaßt Hegel als ihr Wesen.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 574 f.). Marx’ Kritik wendet sich hier nicht so sehr darauf, dass Hegel nur die geistige Tätigkeit des Menschen als Arbeit begreift – wohl aber liegt darin ein Symptom der Entfremdung; denn nur das Denken, das allein sich selbst kennt, kann glauben, mitsamt seinen Gedanken bei sich zu sein und zu bleiben. Die eigentliche Verkehrtheit der Hegelschen Philosophie liegt also darin, dass Hegel das wirkliche Tätigsein des Menschen nicht als Entäußerung des Menschen in die Wirklichkeit fasst und so auch die Aufhebung der Entfremdung nicht als wirkliche Aufgabe, als wirkliche Aneignung der menschlichen Wirklichkeit als menschlicher begreifen kann; daher aber auch den vermittelnden und negativen Charakter der dialektischen Bewegung, der das wirklich positive Menschsein in der Wirklichkeit erst ermöglicht, prinzipiell als Selbstsein und Position verkennt. Hegel sieht in der Arbeit, und zwar der abstrakt geistigen, nur das Positive, weil für ihn die denkende Vermittlung selbst schon die Position ist; er sieht nicht die negative Seite der dialektischen Vermittlung, die in den 240 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die geschichtsmaterialistische Dialektik von Marx
wirklich elenden Verhältnissen der arbeitenden Menschen in der Geschichte besteht.
7.4 Die geschichtsmaterialistische Dialektik von Marx Unmittelbarer Anlass der Hegel-Darstellung und -Kritik ist für Marx die Erläuterung der eigenen dialektischen Theorie der geschichtlichen Entwicklungsbewegung des Menschen zum Menschen. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten hat Marx zum ersten Mal seine Theorie der geschichtlichen Emanzipation des vergesellschafteten Menschen zum sozial-bewussten und verantwortlichen Menschen darzustellen versucht. Es sind uns davon nicht alle Teile erhalten, wohl aber haben wir die beiden wichtigsten Kerngedanken in ihren grundlegenden Umrissen vorliegen. Im ersten Manuskript entwickelt Marx die Theorie der entfremdeten Arbeit, oder allgemeiner gesagt: der menschlichen Entfremdung, und im dritten Manuskript (»Privateigentum und Kommunismus«) spricht Marx – in einem längeren Anmerkungsexkurs zu einem verlorengegangenen Text – von der Aufhebung der Entfremdung durch die kommunistische Bewegung. Marx geht es gerade nicht wie Hegel um den Prozess des Begreifens des Zu-sich-selber-Kommens des Geistes in der Geschichte, sondern um das Begreifen der Geschichte der Menschen. Substrat und Subjekt dieses Prozesses sind daher die Menschen – nicht die vereinzelt Einzelnen, sondern die Menschen, die in gemeinsamer Produktion ihr Leben erhalten und gestalten. (Marx, Grundrisse, 42: 19 f.) In der gemeinsamen Produktion und Reproduktion ihres Lebens sind die Menschen unabdingbar an die Lebensprozesse der Natur rückvermittelt. Die Menschen sind als natürliche Lebewesen mit all ihren produktiven Fähigkeiten nicht nur durch die Naturproduktivität hervorgebracht, sondern müssen auch in einem ununterbrochenen Stoffwechselprozess mit der Natur stehen, um sich am Leben zu erhalten. Daher sind die Menschen im letzten auch verantwortlich dafür, dass ihre Eingriffe in die Natur nicht die lebendige Grundlage ihres Stoffwechselprozesses ruiniert. (Marx, Kapital III, 25: 782 ff.) 6 6 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus (1984/ 2018): 83 ff.
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Feuerbach und Marx
Für Marx ist die »produktive Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen« die entscheidende Potenz, durch die Natur und Geschichte verknüpft sind, denn in ihr ist sowohl die Naturhaftigkeit des Menschen eingebunden in die Gesamtnatur als auch die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen in ihrer Verwirklichung in der Geschichte gefasst. In der produktiven Lebenstätigkeit, die sowohl die vergegenständlichende Arbeit als auch die gesellschaftliche Praxis umfasst, offenbart sich einerseits die ganze Besonderheit des Menschen in seiner naturbeherrschenden Potenz als auch andererseits gerade seine unauflösliche Verbindung mit der Natur, deren Teil er doch immer bleibt. Weiterhin drückt der Begriff des Gattungswesens aus, dass der Mensch niemals als Einzelwesen bestehen kann, denn sowohl als naturhaftes als auch als geschichtliches Wesen kann er sich immer nur in den lebenspraktischen Bezügen der Gattung behaupten und verwirklichen. »Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. […] Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 516) In der produktiven Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen liegt die Doppelbestimmung des Mensch-Natur-Verhältnisses impliziert: Einerseits – gleichsam die Hegelsche Argumentation aufnehmend – zeigt Marx, dass die Menschen durch Arbeit und Praxis sich ihre Welt aufbauen und dass für sie Natur nur das ist, was sie in Wissenschaft und Produktion selber hervorgebracht haben. Somit erweist sich die produktive Tätigkeit der Menschen, ihre geistige und körperliche Arbeit, als das Übergreifende über die Natur: »Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens […]. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint [!] die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 516 f.) Andererseits betont Marx mit Schelling die Eingebundenheit der produktiven Tätigkeit der Menschen in die Produktivität der Natur, in deren lebendigem Zusammenhang überhaupt erst menschliches Leben, Denken und Handeln möglich ist und der die gesellschaftliche Praxis in ihrer Geschichte niemals zu entraten vermag. »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung 242 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die geschichtsmaterialistische Dialektik von Marx
als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen […] schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 577) Ähnlich wie Feuerbach legt auch Marx keine Naturphilosophie im Sinne Schellings vor, obwohl er dies als eine wichtige Aufgabe immer wieder einfordert, sondern diskutiert das Mensch-Natur-Verhältnis allein am Menschen, erläutert aber an ihm das Übergriffensein des Menschen durch die Natur. »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 578) Jedoch anders als Feuerbach bleibt Marx bei einer solchen anthropologischen Bestimmung des Menschen nicht stehen, sondern versucht, diese mit der geschichtlichen Bestimmung zu vermitteln, dass der Mensch gesellschaftlich und geschichtlich seine Welt selbst erst hervorbringen muss, und dass nichts für ihn wirklich sein kann, was er sich nicht selbst theoretisch und praktisch erarbeitet hat. Die gesellschaftliche Praxis der Menschen ist also zugleich das Übergreifende der Natur. Marx geht es gerade darum, die Dialektik beider Verhältnisbestimmungen, die bei Schelling und Hegel in einseitiger Betonung einander entgegenstehen, in ihrer unaufhebbaren Verschränkung aufzuweisen. Und so stellt er ganz bewusst der Aussage, dass der Mensch »unmittelbar Naturwesen« sei, direkt anschließend die Gegenaussage entgegen: »Aber der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen […], darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß. […] Weder die Natur objektiv – noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 579) Im Gegensatz zu Hegel und darin sehr viel stärker Schelling verbunden, erkennt Marx, dass die produktive Tätigkeit, die gesellschaftliche Praxis, nicht nur tätige Negation der Natur ist, sondern dass sie darin zugleich ein Teil der Produktivität der Natur selbst bleibt, dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Menschen zugleich immer Teil der sie übergreifenden Naturgeschichte ist, die in und durch den Menschen als Gattungswesen zu einem bewussten produktiven Verhältnis zu sich selbst kommt. Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, son243 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
dern auch das, was in und durch sie lebendig fortwirkt. So darf das Bewusstwerden der Menschen, dass sie es sind, die durch gesellschaftliche Praxis Geschichte machen, nicht von der Einsicht abgetrennt werden, dass sie dies nur können im Einklang mit der in ihnen selbst wirksamen Produktivität der Natur. Das den Geschichtsprozess Vorantreibende liegt jedoch in der gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis, in der gesellschaftlichen Ausformung der produktiven geistigen und materiellen Kräfte der Menschen, der Umgestaltung der natürlichen und sozialen Welt durch sie und in der fortschreitenden Bewusstwerdung dieses gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses sowie der geschichtlichen Verantwortung der Menschen für diesen geschichtlichen Prozess. Indem die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Produktion verändernd in die Welt eingreifen, verändern sie auch ihre Lebensverhältnisse und damit sich selbst. (Marx, Kapital I, 23: 192) Doch solange die in Gesellschaft produzierenden Menschen sich der Gesellschaftlichkeit ihrer Produktion nicht bewusst sind, erscheinen ihnen die geschichtlich hervorgebrachten Gesellschaftsverhältnisse mit all ihren sozialen Benachteiligungen der unmittelbaren Produzenten nicht als ihr Produkt, sondern als gottgewollte Naturgegebenheit, und ihr Veränderungsprozess als systemnotwendige Sachgesetzlichkeit, die ihren Lebensprozess bestimmen und denen sie sich zu fügen haben: »Sosehr nun das Ganze dieser Bewegung als gesellschaftlicher Prozess erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewussten Willen und besonderen Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht […]. Ihr [der Individuen] eigenes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht […]. Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als selbständige Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist.« (Marx, Grundrisse, 42: 127) Es kommt also darauf an, dass die Menschen und insbesondere die sozial Benachteiligten sich dessen bewusstwerden, dass die Gesellschaftsverhältnisse in ihrer sozialen Ungleichheit selber – wenn auch unbewusst – durch ihre gesellschaftliche Produktion hervorgebracht wurden und werden, um die Überwindung der sie benachteiligenden Verhältnisse in bewusster und solidarischer gesellschaftlicher Praxis 244 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die geschichtsmaterialistische Dialektik von Marx
betreiben zu können. »Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen […]. Mit der Aneignung der totalen Produktivkräfte durch die vereinigten Individuen hört das Privateigentum [der Produktionsmittel, das Kapital] auf.« (Marx/Engels, Deutsche Ideologie, 3: 67 f.) Die Marxsche Dialektik der geschichtlichen Praxis lässt sich am knappsten im Kontrast zu Hegels Dialektik der Sittlichkeit erläutern: Die Momente des dialektischen Fortschreitens sind hier nicht auf die Institutionen – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – verteilt, sondern als konstituierende Momente einer geschichtlichen Bewegung gefasst. Das substantielle Subjekt dieser Bewegung sind die »in Gesellschaft produzierenden Individuen«. Diese gesellschaftlichen Produktivkräfte liegen allen bisherigen und allen künftigen Gesellschaften substantiell zu Grunde und sie sind auch immer das Vorantreibende der Geschichte. (Marx/Engels, Deutsche Ideologie, 3: 72) Da die in Gesellschaft produzierenden Individuen zwar immer das substantielle Subjekt ihres gesellschaftlichen Lebens sind, dies aber zunächst nicht wissen, geraten die gesellschaftlich Handelnden in eine Entzweiung und Entfremdung, so dass sie sich von den selbsterzeugten Gesellschaftsverhältnissen bestimmen lassen. (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 512) Diese geschichtlich entstandene selbsterzeugte Entfremdung ist jedoch geschichtlich wieder aufhebbar, und zwar von den sich der Subjektivität ihrer gesellschaftlichen Praxis bewusstgewordenen Individuen, die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse in freier Assoziation und geschichtlicher Verantwortung in ihre Hände zu nehmen. »In der gegenwärtigen Epoche hat die Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen, die Erdrückung der Individualität durch die Zufälligkeit, ihre schärfste und universellste Form erhalten und damit den existierenden Individuen eine ganz bestimmte Aufgabe gestellt. Sie hat ihnen die Aufgabe gestellt, an die Stelle der Herrschaft der Verhältnisse und der Zufälligkeit über die Individuen die Herrschaft der Individuen über die Zufälligkeit und die Verhältnisse zu setzen.« (Marx/Engels, Deutsche Ideologie, 3: 424) Dieser geschichtlichen Dialektik von Marx geht es um die bewusste Subjektwerdung der in Gesellschaft produzierenden Individuen als Träger und Gestalter des Geschichtsprozesses. Die dialektischen Momente dieser Subjektwerdung – die Entfremdung und deren 245 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
Aufhebung – sind nicht einfach auf bestimmte Gesellschaftsformationen in der Geschichte zu übertragen. Die von Marx im Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859) genannten Gesellschaftsformationen: asiatische, antike, feudale und kapitalistische Produktionsweise sind bestimmte Gestalten der geschichtlich fortschreitenden Entfremdung, gehören also alle der entfremdeten Vorgeschichte an, die durch die in der Gegenwart einsetzenden Bewusst- und Subjektwerdung der gesellschaftlich Handelnden überwunden werden können und müssen. (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, 13: 9) Es ist völlig klar, dass die Marxsche Geschichtsphilosophie in der Gegenwart nicht das Ende der Geschichte sehen kann, denn da sie sich praxisphilosophisch an die Menschen als Subjekte des Geschichtsprozesses wendet, um sie durch kritische Aufklärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage zu befähigen, ihre zukünftige Praxis bewusst und solidarisch in die eigenen Hände zu nehmen, stellt sie sich selbst in den Dienst eines künftigen durch die frei assoziierten Individuen verantwortlich gestalteten Geschichtsprozesses. (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1: 379, 385) Ausdrücklich hat Marx immer wieder davon gesprochen, dass mit der revolutionären Bewegung, in deren Dienst er seine Praxisphilosophie stellt, die Vorgeschichte endet und die eigentliche bewusste gesellschaftliche Geschichte allererst beginnt. Denn bisher haben die Menschen sich nicht als Subjekte ihrer gesellschaftlichen Produktion, Arbeit und Praxis gewusst und sich daher von den selbst hervorgebrachten Verhältnissen fremdbestimmen lassen. Indem sie nun sich ihrer gesellschaftlichen Produktion und deren sozialen Folgen bewusstwerden, können sie allererst beginnen, zu verantwortlichen Subjekten der gesellschaftlichen Praxis und ihrer Geschichte zu werden. Daraus erwächst erst der wahre Sozialismus, des aus sich selbst beginnenden gesellschaftlichen Verhältnisses des Menschen zum Menschen: »Erst durch die Aufhebung dieser Vermittlung – die aber eine notwendige Voraussetzung ist – wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus.« (Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte, 40: 583) Marx hat keine bestimmte Gesellschaftsformation als Ziel der Menschheitsgeschichte vorgezeichnet oder gar diese ausgemalt, sondern er hat nur in praxisphilosophischer Absicht die geschichtliche Dialektik herausgearbeitet, dass der Mensch der in seiner gesellschaftlichen Produktion immer schon der Substanz nach Subjekt der Geschichte ist, sich aus der Fremdbestimmung der selbst hervor246 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Zur Kritik der Religion und ihre offensichtliche Schwäche
gebrachten Gesellschaftsverhältnisse befreien muss, um zum bewussten und verantwortlichen Subjekt seiner gesellschaftlichen Geschichte werden zu können. »Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, dass er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.« (Marx, Deutsche Ideologie, 3: 70)
7.5 Zur Kritik der Religion und ihre offensichtliche Schwäche Kehren wir von hierher nochmals zur Aufhebung der Religion zurück, wie sie von Marx begründet wird. Unmittelbar vor dem ersten Hegel-Exkurs nimmt Marx nochmals auf die Religions-Kritik Feuerbachs Bezug, die – wie Marx meint – durch seine dialektische Fundierung der Entwicklungsgeschichte des Menschen zum Menschen und deren den Menschen praktisch aufgegebene Verwirklichung endgültig aufgehoben ist. Seit jeher hat sich Marx für theologische Fragestellungen, oder sagen wir besser für philosophische Letztbegründungen nicht sonderlich interessiert. Genau diese Haltung lag auch dem Projekt zu Grunde, das sein Mentor aus der Studienzeit, Bruno Bauer, und er mit dem Zeitschriftprojekt »Atheismus« intendierten und zu dem sie auch Ludwig Feuerbach gewinnen wollten. Ganz in diesem Sinne ist auch die grundsätzliche Absage an jegliche Religion zu verstehen, die Marx abschließend in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten formuliert: »Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur und der Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden. Der 247 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Feuerbach und Marx
Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretischen und praktischen sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen, wie das wirkliche Leben positive, nicht mehr durch die Aufhebung des Privateigentums, den Kommunismus vermittelte Wirklichkeit des Menschen ist. Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 40: 546) Sosehr diese Position von Marx als Kritik und radikale Umstülpung der Hegelschen Philosophie des absoluten Geistes auch verständlich und nachvollziehbar ist, denn sie rückt die Wirklichkeit der lebendigen Natur und der menschlichen Geschichte wieder ins Zentrum philosophischen Bedenkens, sowenig überzeugen Marx’ Behauptung, dass »die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen« und damit der »unwiderstehliche Beweis von seiner [des Menschen] Geburt durch sich selbst«. Diese Argumentation von Marx liegt zwar ganz auf der um die Menschheitsgeschichte erweiterten Linie von Ludwig Feuerbach, aber sie unterminiert – wenn man den Begriff der »Weltgeschichte« beim Wort nimmt – Marx’ eigene geschichtsmaterialistische Dialektik, denn die menschliche Produktion hat sich – wie Marx selber in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten betont (Marx, 40: 577) – als Teilmoment der Produktivität der Natur zu verstehen. So hebt Marx noch im Kapital (1867) hervor: »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern.« (Marx, Kapital I, 23: 57 f.) Insofern bleibt die von Kant und Schleiermacher aufgeworfene Frage nach der Ermöglichung einer absoluten Einheit von Vernunft und Natur, von Sinn und Existenz bestehen. Die »Geburt durch sich selbst«, von der Marx spricht, kann sich nur auf die geschichtliche Selbstbestimmung des 248 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Zur Kritik der Religion und ihre offensichtliche Schwäche
Menschen durch sich selbst beziehen, nicht aber auf die diese selbst ermöglichende Naturgeschichte. Selbst wenn man einräumen wollte, dass Marx im obigen Zitat nur von der »Weltgeschichte« als Menschheitsgeschichte spricht und die Naturgeschichte, die er an anderer Stelle der Manuskripte von 1844 so eindringlich und richtungsweisend darlegt (Marx, 40: 544) 7, an dieser Stelle ausklammert, ist die geschichtliche Entwicklung des Menschen keinesfalls als »Geburt durch sich selbst« und allein als »Erzeugung« durch die menschliche Produktion zu umschreiben. In seinen oben genannten Formulierungen übernimmt Marx – ohne es wohl zu wollen – einen Gestus aus der Philosophie des absoluten Geistes von Hegel bei gleichzeitiger Umstülpung »vom Kopf auf die Füße«. Was Marx mit der Betonung erreichen will, ist durchaus verständlich: Die Menschheitsgeschichte ist das Werk der Menschen selbst, sie erfolgte bisher allzu sehr gesellschaftlich bewusstlos, es gilt sie bewusst in die sittliche Verantwortung der Menschen zu nehmen. Eine äußere Macht, die die Menschheitsgeschichte lenkt oder gar ein einzelnes Volk leitet oder gar jeden Einzelnen führt, gibt es nicht. Der Mensch selbst hat die Verantwortung nicht nur für sein individuelles Handeln, sondern auch für sein gesellschaftliches, menschheitliches Handeln zu übernehmen. Soweit so gut. Solange eine politisch-ökonomisch-ökologische Philosophie dies in der Reichweite ihre theoretischen Aussagemöglichkeiten ausführt, ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden, aber sie versteigt und übernimmt sich, wenn sie glaubt, daraus theologische Urteile ableiten zu können. Denn theologische Probleme können überhaupt erst diskutiert werden, wo das Absolute – das Universum, das All – anvisiert wird, in das wir selbst in Natur und Geschichte involviert sind. Erst wo nach dem Sinn der Existenz gefragt wird – »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (Schelling, Offenbarung, XIII: 7) – beziehungsweise nach dem Zusammenhang von Natur und Geschichte als Ermöglichung der Verwirklichung unserer sittlichen Hoffnungen (Kant, KU, V: 573 ff.), erreichen wir philosophisch den Horizont theologischer Fragestellungen. Und diese Thematisierung des Absoluten ist für jede Philosophie unumgehbar notwendig, denn von einer Naturphilosophie und einer Geschichts7 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophische Studien zu Marx und den westlichen Marxismus (1984/ 2018): 61 ff.
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Feuerbach und Marx
philosophie allein ist grundsätzlich keine Letztbegründung der Philosophie erreichbar. Man kommt dann immer nur zu Teilanalysen mittlerer Reichweite. Natürlich gibt es philosophisch gesehen keinen in die Geschichte eingreifenden Gott, natürlich ist weltlich gesprochen die Menschwerdung Gottes in einem einzelnen Individuum ein nicht begründbarer Gedanke, obwohl beides in einem religiösen Kontext durchaus sinnvolle Aussagen sein können, deren gefühlten Sinn sie symbolisieren. Grundsätzlich kann aber weder aus der begrenzten natur- noch aus der geschichtsphilosophischen Perspektive die Nicht-Existenz Gottes, das hieße des Absoluten, abgeleitet werden, und genauso wenig ist es möglich, subjektiven Glaubensüberzeugungen jeglichen Sinn abzusprechen.
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8. Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse 1
Drei Fragen sind es, die die Philosophie umtreiben, sagt Kant: Was können wir wissen? Was müssen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Die drei Kritiken Kants erschließen die transzendentalen Bedingungen ihrer Begründbarkeit. Doch nur auf die beiden ersten Grundlegungen lassen sich mit theoretisch-wissenschaftlicher bzw. sittlichpraktischer Bestimmtheit systematische Einsichten aufbauen – die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften (1786) und die Metaphysik der Sitten (1797). An die Kritik der Urteilskraft (1793) lässt sich jedoch keine Systemschrift anschließen, da hier unsere reflektierende Urteilskraft auf einen uns grundsätzlich nicht verfügbaren Sinnhorizont der Welt zielt, auf den als regulative Idee wir unser Denken und Handeln immer nur antizipierend ausrichten können. Gleichwohl hängt an diesem nur reflektierend antizipierbaren Sinnhorizont das Problem unseres Selbstverständnisses und unserer Selbstbestimmung in der Welt. Neben einer Reihe von kleineren politischen, pädagogischen und geschichtsphilosophischen Schriften hat Kant den Horizont dieser Frage insbesondere in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Kant, V, KU: 649 ff.) abgesteckt. Nicht nur Ernst Blochs opus magnum Das Prinzip Hoffnung (1959), sondern sein philosophisches Gesamtwerk ist ausschließlich der dritten der drei Fragen Kants gewidmet, die Bloch in ihrer ganzen Weite systematisch auszuloten versucht. Selbst dort, wo sich Bloch naturphilosophischen Themen zuwendet, geht es ihm nicht um die Nur in Auszügen identisch mit meinem gleichnamigen Vortrag in: Synthesis Philosophica, 4 vol. 2 fasc. 2 (1987) Zagreb: 489–501. Mit Ergänzungen aus den Beiträgen: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur«, in: Gvozden Flego / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Ernst Bloch – Utopische Ontologie, Band II des Bloch-Lukács-Symposions 1985 in Dubrovnik (1986): 219–237; sowie Ders. »›Weit hinaus zu hoffen‹. Kritisches zu Blochs humanem Atheismus«, in: Francesca Vidal (Hg.), »Kann Hoffnung enttäuscht werden?« (Bloch-Jahrbuch 1997), (1998): 12–30.
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
Frage nach einer theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt, vielmehr setzt er diese voraus und fragt weiter und tiefer nach den »Bahnungen ihrer [der Materie] Finalität und Offenheit« – wie es im zentralen Kapitel von Das Materialismusproblem (1972) heißt. Dies erfordert ein anderes Befragen der Natur als das der Naturwissenschaften, das Bloch über Feuerbach von Schelling her aufnimmt. (Bloch, Materialismusproblem: 315) Ebenso fragt Bloch in Naturrecht und menschliche Würde (1961) nicht erst nach dem, was wir tun sollen, sondern setzt die Antwort auf diese Frage bereits als geklärt voraus und bedenkt nur noch den Hoffnungshorizont der geschichtlichen Verwirklichung von Sittlichkeit und Sozialismus in aufrechtem Gang, den Bloch in der Nachfolge von Marx beschreitet. »Der Grundtenor des radikalen Naturrechts gegen den Staat ist klassenlose Gesellschaft, Reich der Freiheit […]. Im Sozialismus [… liegt] der Weg dahin, das hier endlich realisierbare Erbe dessen, was als innere Emanzipation, äußerer Frieden intentioniert war […]. Dazu war das fordernde Recht unterwegs die Eunomie des aufrechten Gangs in Gemeinsamkeit«. (Bloch, Naturrecht: 310; 314) Auch Blochs Kategorienlehre Experimentum Mundi (1975) ist in Titel und Durchführung nur dann verstehbar, wenn man sie als eine aus dem Weltprozess selbst erwachsende Logik des Hoffens versteht. 2 »Der Anfang geschieht also immer wieder im pochenden Nicht des zu sich selbst noch völlig Unmittelbaren, das sich dann wachsend zu seinem Etwas entwickelt, sich aus seinem Nicht-Haben herausmacht zu prozeßhaft-kategorialer Vermittlung und zur in die […] Gegenwart […] einschlagenden Praxis. Darum eben liegt die rechte Genesis nicht am Anfang, sondern vor-scheinend am Ende. […] Das hierauf gerichtete Prinzip […] ist ein immer wieder sich meldendes, im Weltexperiment sich selber vor sich habendes Prinzip des Durchhaltens und Gezieltseins, mit währendem Postulat«. (Bloch, Experimentum: 263) Letztlich aber muss sich eine Philosophie des Hoffens unabweisbar und unumgehbar der Auseinandersetzung mit der Religion stellen, denn: »Wo Hoffen ist, ist auch Religion« (Bloch, Atheismus: 13). Darauf zielt das »weit hinaus zu hoffen«, von dem Bloch in Atheismus im Christentum (1968) spricht, wobei es ihm – wie schon der 2 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999), darin das Kapitel: »Bloch – Suche nach uns selbst ins Utopische«: 210 ff.
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
Titel andeutet – um einen »humanen Atheismus« geht, »ein Transzendieren ohne Transzendenz«. »Nur: es gäbe keinen austragbaren Humanismus, wenn er außer seiner Moral nicht auch diese glücklichsten Grenzbilder des Wohin, Wozu, Überhaupt implizierte. […] Das nicht mehr entfremdete Humanum, das Ahnbare, noch Ungefundene seiner möglichen Welt, beides steht unabdingbar im Experiment Zukunft, Experiment Welt.« (Bloch, Atheismus: 298 f.) Ohne Zweifel versteht sich Bloch als humaner Atheist aus der Tradition von Feuerbach und Marx, er will das humane Hoffen aus jeglicher religio, d. h. für ihn »Rückbindung an Gott« befreien, aber wenn es nicht gelingt, diesen Atheismus philosophisch zu begründen, bleibt er ein wissenschaftlicher oder weltanschaulicher Dogmatismus. Daher stellt sich Bloch die Aufgabe, zur Untermauerung der politikökonomischen Sozialphilosophie von Marx eine atheistische Letztbegründung nachzuliefern, denn ohne eine solche bliebe sie eine Theorie mittlerer Reichweite, die jederzeit durch andere wissenschaftliche oder weltanschauliche Theorien geschichtlich überholbar bzw. ersetzbar wäre: »Was wirtschaftlich kommen soll, die notwendig ökonomisch-institutionelle Änderung, ist bei Marx bestimmt, aber dem neuen Menschen, dem Sprung, der Kraft der Liebe und des Lichts, dem Sittlichen selber ist hier noch nicht die wünschenswerte Selbständigkeit in der endgültigen sozialen Ordnung zugewiesen. […] Erst wer nicht nur von der Erde, sondern auch vom fälschlich preisgegebenen Himmel dagegen spricht, wird das Lügenspiel der bourgeoisfeudalen Staatsideologie wirklich entzaubern können […]. [D]esto dringender also erhebt sich die Pflicht, Marx in den oberen Raum, in die neuen, eigentlichsten Abenteuer des freigelegten Lebens, in das Wozu seiner Sozietät einzustellen. Das ist: die allzu kupiert angehaltene Sozialkonstruktion wieder in die utopisch überlegene Liebeswelt Weitlings, Baaders, Tolstois, in die neue Mächtigkeit Dostojewskischer Menschenbegegnungen, in den Adventismus der Ketzergeschichte einzubringen.« (Bloch, Geist der Utopie: 303 ff.) Bevor wir auf Blochs Fundierungsversuch eines humanen Atheismus näher eingehen, sei in groben Umrissen sein philosophisches Grundanliegen verdeutlicht. Erinnern wir zunächst an Blochs Erstlingswerk Geist der Utopie von 1918/1923, da sich dort bereits das Motiv seines gesamten Philosophierens ankündigt. 3 3 Ernst Blochs Geist der Utopie wird im Text ausschließlich nach der Zweitauflage (1923/1973) zitiert.
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
8.1 Das Grundanliegen der Blochschen Philosophie Geist der Utopie entstand während des Ersten Weltkriegs und expliziert wie kein anderes Werk das Grundanliegen von Bloch. Es kreist um Fragen unserer existentiellen Selbst- und Sinnfindung in der Welt, sucht nach einem Standort, von dem erneut begonnen werden kann, zu den großen Hoffnungen der Menschheit aufzubrechen, wenn der herrschende Wahnsinn des Weltkrieges erst einmal vorbei ist. So steht »die Selbstbegegnung« – wie Bloch dies nennt – im Zentrum dieser Schrift: die Selbstbegegnung des Menschen in der bildenden Kunst, in der Musik und schließlich – im Kapitel »Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage« – geht es um die philosophische Ergründung der Horizonte unserer existentiell-praktischen Sinnfindung in der Geschichte. Um auf die Thematik der unkonstruierbaren Frage, die wir für uns selbst sind, einzustimmen, sei ein Schelling-Zitat vorausgeschickt, auf das sich Bloch – ähnlich wie Heidegger – immer wieder berufen hat. Schelling schreibt: »Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Tun die Welt begreiflich mache, ist er selbst das Unbegreiflichste. […] Gerade Er, der Mensch, treibt mich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (Schelling, Offenbarung, XIII: 7) Genau um diese erste und letzte aller Fragen geht es nun auch Bloch. Sie bricht an uns selber auf, umgreift aber in unserer Selbstsuche den Sinnhorizont des gesamten Kosmos, und sie ist letztlich nie abschließend beantwortbar. Die Thematik der unkonstruierbaren Frage, die wir selbst an uns und für uns sind, erfährt jedoch nun von Bloch eine neuartige Auslegung. Sie kann an der aphoristisch auf einen Dreisatz verdichteten Grundaussage des Blochschen Philosophierens verdeutlicht werden. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« (Bloch, Tübinger Einleitung: 13) Am Anfang steht das »Bin«, das wir unvordenklich immer schon sind und dessen wir nie habhaft werden können. Dieses »Bin« ist nicht fassbar, ist das »Dunkel des gelebten Augenblicks«, das all unser Selbstsein begleitet, ja drängend vorwärtstreibt. »Daß man lebt, ist nicht zu empfinden. Das Daß, das uns als lebendig setzt, kommt selber nicht hervor. Es liegt tief unten, dort, wo wir anfangen, leibhaft zu sein.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 49) Dieser lebendige Grund des »Bin« ist noch nicht das Selbst, in dem wir uns zu haben versuchen, sondern ist das uns existierend Tragende und Treibende unseres Da254 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Das Grundanliegen der Blochschen Philosophie
seins. In ihm wurzelt unser Wollen und Hoffen, das unserem Leben einen Zielinhalt gibt, solange wir leben. Es ist eine Grundgerichtetheit unseres Daseins auf ein erfülltes Leben für uns, für die uns Zugehörigen und letztlich für die Menschheit. Dort, wo die Hoffnung für den einzelnen und bezogen auf die anderen total zusammenbricht, da entzieht sich der Mensch auch dem Weiterleben durch den Tod. Insofern ist das »Prinzip Hoffnung« das nach vorne, in die Geschichte gerichtete Hoffen unseres nach Erfüllung drängenden Menschseins. Die Unkonstruierbarkeit der Frage, die wir uns selbst sind, reflexiv im Begriff einholen zu wollen, ist ganz unmöglich. Das Was, das wir, reflexiv auf uns zurückgewandt, von uns zu begreifen versuchen, ist bestenfalls nur das, was wir gewesen sind oder gewesen sein wollen, es hat das Dass, das wir im Dunkel des gelebten Augenblicks sind, immer unerfassbar in seinem Rücken, obgleich in ihm das eigentlich Vorwärtsdrängende liegt. Alle rational das Seiende begreifen wollende Philosophie ist der zwangsläufig vergebliche Versuch, reflexiv das »Dunkel des gelebten Augenblicks« begrifflich fassen, das »Bin«, das wir existierend sind, festhalten zu wollen. Wo wir die Vergeblichkeit aller begrifflich reflexiven Versuche, rückwärtsgewandt über das Nicht-Mehr zu einer Selbstbegegnung und Sinnfindung zu kommen einsehen, da erschließt sich uns die Vorauswendung auf das Noch-Nicht: »Darum werden wir erst.« Und hiermit betreten wir die Bahn der ureigensten Entdeckung Blochs, die von Geist der Utopie an alle seine Schriften bestimmt: die hoffend ausgreifende Wendung auf das Noch-Nicht, das künftig werden kann und werden soll. »So öffnet sich überall dort, wo neues Leben beginnt, jenes offene Fragen […] als der Erwartungszustand des Heraufkommens überhaupt […] vor allem aber in der schöpferischen Arbeit selber wird jene eindrucksvolle Grenze zum noch nicht Bewussten deutlich überschritten. Ein Dämmern, ein inneres Hellwerden […], dem Dunkel des gelebten Augenblicks, dem namenlosen apriorischen Brauen in uns, an uns, vor uns her, im gesamten in Existenz-Sein an sich selbst, endlich das scharfe identische Licht zu entzünden, die Pforte des sich selbst Entgegenblickens zu eröffnen« (Bloch, Geist der Utopie, 242 f.). In dieser proflexiven Wendung 4 Wir benutzen hier vorweg einen Begriff von Franz Fischer aus seinem Buch Proflexion und Reflexion (1965/2007). Siehe dazu das Kapitel 17: »Der Andere und die Wechselstiftung – Zu Lévinas und Fischer«.
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
haben wir eine neue, ganz andere Chance, uns selbst zu begegnen. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass es nach wie vor um die Frage der Selbstfindung, der Sinnfindung unserer selbst geht. Das ganze reflexive Unternehmen der Selbsterkenntnis hat etwas Sich-in-sichEinzirkelndes und Beengendes an sich, ist es doch der Versuch, etwas zu fassen, was wir immer schon sind, ja gewesen sind. Ganz anders nun die proflexive Bewegung; sie öffnet sich den vielen Horizonten des noch Möglichen, sie atmet die frische Luft des Neuen, des Novum. Wo wir es versäumen, unser Hoffen, die Horizonte unseres Strebens gedanklich klärend zu ordnen und zu festigen, da geben wir uns an das Bestehende preis, überlassen die Zukunft dem Getriebe äußerer Mächte, da verlieren wir die uns Menschen aufgegebene Selbst- und Sinnfindung. Aus dem »Dunkel des gelebten Augenblicks« erheben sich die »Tagträume« unseres »antizipierenden Bewusstseins« auf ein besseres Leben hin. »Sie kommen allemal von einem Mangel her und wollen es abstellen, sie sind allesamt Träume von einem besseren Leben.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 85) Unser antizipierendes Bewusstsein, das auf das ihm Noch-Nicht-Erreichte ausgreift, ist Teil unseres lebendigen, nach Erfüllung drängenden Existierens und vermag dieses daher in der Richtung seiner hervorbringenden Produktivität anzuleiten. Dies aber nur deshalb, weil unser lebendiges Existieren selbst Teil einer existierenden Wirklichkeit ist, die einen noch ganz und gar unabgeschlossenen Prozess darstellt, den wir Natur nennen, und in den wir in unserer menschlichen Weise des Existierens und hervorbringenden Eingreifens selbst als ein Moment des noch offenen Prozesses einbezogen sind. Der Gesamtprozess der Welt mit der menschlichen Produktivität an ihrer Front hat eine Zukunft vor sich, die noch nicht festgestellt ist, die noch für entscheidende Wendungen offen sind. »Vieles in der Welt ist noch unabgeschlossen. Freilich ginge auch inwendig nichts um, wäre das Auswendige völlig dicht. Draußen aber ist das Leben so wenig fertig wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. […] Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 225)
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Zum dialektischen Verhältnis des Menschen in Natur und Geschichte
8.2 Zum dialektischen Verhältnis des Menschen in Natur und Geschichte Bloch knüpft hier an die Naturphilosophie Schellings an, und er ist damit einer der ganz wenigen Denker, die sich nicht vom Strom des naturwissenschaftlich-technischen Zeitgeistes mitreißen lassen. Bloch versucht wie Schelling, die Natur aus ihrem eigenen Produzieren und existentiellen Wirklichsein her zu begreifen. Wir sind dazu befähigt, da wir selbst in die Natur existentiell miteinbezogen sind, ja in unserem eigenen menschlichen Produzieren in ganz spezifischer Weise teilhaben am Produzieren der Natur. Unser eigenes Wirklichsein wäre unverständlich, könnten wir es nicht aus dem Wirklichsein der Natur begreifen, durch das wir nicht nur hervorgebracht sind, sondern das auch weiterhin in uns selbst noch wirksam ist. So betont Bloch, auf Schelling bezugnehmend: »Die ersten Schriften Schellings (bis 1801) befassen sich ausschließlich mit diesem Mitwissen des erzeugenden, gärend tätigen Wegs, der zur Materie führt und zugleich deren Weg ist. Schelling will die Materie aus den Kräften dieser Urtätigkeit […] nochmals entstehen lassen, gleichsam vor den Augen des Lesers, doch ebenso im Objekt selber; er glaubt also die Materie ›einleuchtend zu machen‹.« (Bloch, Materialismusproblem: 216 f.) Die Naturphilosophie hat die Natur, und zwar bereits die anorganische Materie, so in den ihr zugrundeliegenden dynamischen Potenzen zu begreifen, dass daraus verstehbar wird, wie sie aus sich selbst heraus lebendige Organismen hervorbringen konnte und kann. Im Organismus tritt die Produktivität der Natur in der potenzierten Gestalt eines sich selbst regulierenden Produzierens hervor. Aber erst im menschlichen Bewusstsein bringt die Natur aus sich selbst – bewusstlos zwar – eine Potenz hervor, in der nicht nur der Mensch zu sich selbst kommen, in ein selbstbewusstes Verhältnis zu sich als Individuum und als kulturelle Gemeinschaft treten kann, sondern mit der auch erstmals eine aus der Natur produzierte Gestalt der Natur auftritt, von der her auch die ganze Natur in ihrem vorausgehenden Werdeprozess begriffen werden kann. »Damit« – so unterstreicht Bloch – ergibt sich »auch der Begriff einer gärenden, vor allem prozeßhaften Materie, die sich physisch zum Licht, organisch zum Bewußtsein zu organisieren versteht. Der junge Schelling ging den leider bald vergessenen Weg dieses neu-epikurischen und, über Paracelsus, zugleich neu-alchymischen Begriffs; mit dem Menschenkind 257 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
als eigenem Kind der Materie selber, worin sie ein Auge aufschlägt, sich reflektiert.« (Bloch, Tübinger Einleitung: 203) Doch mehr als Schelling besteht Bloch darauf, dass dieser Gesamtprozess der Natur als hervorbringendes Produzieren auch naturhaft noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern noch Latenzen und Tendenzen in sich birgt, die ihr einen offenen Zukunftshorizont verleihen. »Die utopische Funktion der menschlich bewußten Planung und Veränderung stellt hierbei nur den vorgeschobensten, aktivsten Posten der in der Welt umgehenden Aurora-Funktion dar: des nächtlichen Tags, worin alle […] Prozeßgestalten noch geschehen und sich befinden.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 203) Damit sind wir erneut auf uns als Menschen zurückverwiesen, jedoch nun nicht auf das existentielle »Bin« jedes einzelnen von uns, sondern auf das »Wir« gesellschaftlich-geschichtlicher Arbeit und Praxis. Denn durch die Potenz des Bewusstseins sind die Menschen nicht nur in der Lage, die Welt als einen Prozess, in den sie einbezogen sind, zu erkennen, sondern auch in ihn – nach Maßgabe ihrer sich geschichtlich erweiternden Produktivkräfte – bewusst verändernd einzugreifen. Da das Kommende nicht vorweg entschieden ist, sondern in die Mitentscheidung des Menschen gestellt ist, bezeichnet Bloch den schöpferisch tätigen, den auf eine bessere Welt hin »arbeitenden Menschen«, als den eigentlichen »archimedischen Punkt« für die noch ausstehende Zukunft. Gemeint sind natürlich nicht die vereinzelten einzelnen, sondern die solidarisch auf das gemeinsame Ziel einer besseren Zukunft hin kooperierenden Menschen – und sie können auch keineswegs beliebig die Welt aus den Angeln heben, sondern jeweils nur nach den ihnen eigentümlichen Potenzen, den geschichtlich erschlossenen menschlichen Produktivkräften. »Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden; mit der Arbeit als Mittel zur Menschwerdung selber; mit den Revolutionen als Geburtshelfern der künftigen Gesellschaft, womit die gegenwärtige schwanger ist. [… Er steht] an der Front des Weltprozesses, wo die Entscheidungen fallen, neue Horizonte aufgehen. Und der Prozeß in diese Zukunft ist einzig der der Materie, die sich durch den Menschen als ihrer höchsten Blüte zusammenfaßt und zu Ende bildet.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 285 f.) Mit keinem Philosophen hat sich Ernst Bloch so intensiv auseinandergesetzt wie mit Hegel. Für Bloch ist Hegels System insgesamt eine Prozess-Philosophie, wie sie ihm selbst vorschwebt, aber nur dann, wenn Hegel mit Hilfe von Marx vom Kopf auf die Füße 258 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Zum dialektischen Verhältnis des Menschen in Natur und Geschichte
gestellt wird. Denn eigentlich erfüllt nur Hegels Philosophie des Geistes und hier speziell die Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie das Kriterium, Prozess-Philosophie zu sein. Aber auch hier »kreist« Hegel – wie Bloch kritisiert – »das Werden der Zukunft aus«. (Bloch, Subjekt-Objekt: 227) Hegel selbst hat immer wieder hervorgehoben, dass Philosophie nur den vergangenen Prozess erkennen könne und als gewordenen zu rechtfertigen habe. Diesem Verständnis der Philosophie als bloßem Begreifen im Nachhinein eines bereits abgeschlossenen Prozesses stellt Bloch sein ganzes Werk entgegen – und hier nun ruft er Marx als Zeugen an, vor allem im Kapitel »Weltveränderung oder die elf Thesen von Marx über Feuerbach« in Das Prinzip Hoffnung: »Es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist, und der dem Fluß der Gegenwart den spezifischen Raum gibt, den Raum neuer, betreibbar besserer Gegenwart. Also wurde die beginnende Philosophie der Revolution, das ist, die Veränderbarkeit zum Guten, allerletzt aus und im Horizont der Zukunft eröffnet. […] Erst der Horizont der Zukunft, wie ihn der Marxismus bezieht, mit dem der Vergangenheit als Vorraum, gibt der Wirklichkeit ihre reelle Dimension.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 329, 332) Die ganze Schärfe des Gegensatzes zwischen Hegel und dem Marxismus, wie ihn Bloch vertritt, wird uns jedoch erst dort deutlich, wo wir die Gesamtheit der Menschheitsgeschichte auf ihr mögliches Ende hin bedenken. Bekanntlich bestimmt Hegel die Weltgeschichte sehr hoffnungsvoll als die »schwere, lange Arbeit« des Geistes zum »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« (Hegel, Philosophie der Geschichte, 12: 32). Dieser »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« wird – nach Hegel – nicht eigentlich von den geschichtlich handelnden Individuen oder einzelnen Staaten intendiert und gewollt hervorgebracht, sondern er setzt sich als »List der Vernunft« hinter dem Rücken der Handelnden durch, jedoch gleichwohl durch deren Taten und Entscheidungen vorangetrieben. Für Hegel ist es daher unmöglich, auf ein weltgeschichtliches Ziel hin zu agieren, die höchste Identifikation des handelnden Individuums ist die mit seinem Volk und seinem Staat; aber auch die Staaten können sich immer nur in ihrem eigenen sittlichen Zusammenleben intendieren und nach außen gegen andere Staaten behaupten, ohne Möglichkeit einer gezielten Einflussnahme auf die Weltgeschichte. Gleichwohl vollzieht die Weltgeschichte unerbittlich ihr »Weltgericht« über die Handlungen der Individuen und Staaten, 259 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
durch das, was daraus wird; von den geschichtlichen Folgen her, vom Aufstieg und Untergang der Staaten und ihrer sittlichen Verfassung her vermag die Philosophie dieses Weltgericht, das die Geschichte selber vollzieht, nachzubegreifen. Bloch wehrt sich nun keineswegs gegen die Grundkonzeption der Hegelschen Geschichtsphilosophie, dass die Weltgeschichte die listig voranschreitende Bewusstwerdung und Verwirklichung von Freiheit sei. Im Gegenteil: Gerade dies unterstreicht das von ihm hervorgehobene »Prinzip Hoffnung« als treibendes Motiv in uns und im Prozess der Geschichte. Wogegen sich Bloch wendet, ist, dass nach Hegel die Weltgeschichte und ihr Weltgericht – für die handelnden Individuen immer nur Schicksal bleiben soll, dass es hier bei Hegel nur eine von der Philosophie nachzuvollziehende »Verwirklichung des allgemeinen Geistes«, aber keinen Fortschritt im weltgeschichtlichen Bewusstwerden des gesellschaftlichen Handelns der Individuen geben soll. Es ist die entscheidende Leistung der revolutionär-kritischen Philosophie von Marx, dass er die gesellschaftliche Produktionsgeschichte aus der naturwüchsigen List der weltgeschichtlichen Vernunft befreit und stattdessen den Menschen in die bewusste Aufgabe und Verantwortung ihrer weltgeschichtlichen Praxis beruft. Somit wird deutlich, dass für Bloch die Weltgeschichte ein Vorwärtsschreiten auf Befreiung hin immer war und immer sein wird, darin weiß er sich mit Hegel einig, aber wir, die wir die Weltgeschichte als diesen Prozess durch uns hindurch begreifen, können sie nicht sich selbst überlassen, sondern sind aufgerufen, bewusst auf dieses Ziel der Befreiung, der Solidarität unter den Menschen und der Allianz mit der Natur in weltgeschichtlichem Maßstab hinzuwirken. Dies ist für Bloch die Botschaft der Marxschen »Thesen über Feuerbach«: »So bekundet die Gesamtheit der ›Elf Thesen‹ : Die vergesellschaftete Menschheit im Bunde mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau der Welt zur Heimat.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 334) Mit Recht tritt hier, wo die Totalität menschlicher Geschichte als noch offener Prozess betrachtet wird, erneut die Natur in den Horizont der Problemanalyse, denn menschliche Geschichte ist als Ganzes selbst eingebettet in den nicht abgeschlossenen Prozess der Natur. Geschichte könnte nicht verändernder Umbau der Welt sein, hätte nicht die Natur in uns Produktivkräfte zur bewussten Umgestaltung freigegeben; aber auch nur über unsere geschichtlich gebildeten Produktivkräfte kann ein bewusster Umbau der Welt zum Frieden ge260 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Zum dialektischen Verhältnis des Menschen in Natur und Geschichte
lingen, auf den hin der Prozess der Weltwerdung immer schon drängt – dies ist der tiefste Kern der Blochschen Ontologie des Noch-NichtSeins. »Ohne Materie ist kein Boden der (realen) Antizipation, ohne (reale) Antizipation kein Horizont der Materie erfaßbar. Die reale Möglichkeit wohnt derart in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzen Natur.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 273 f.) Die Menschheitsgeschichte kann sich nicht gegen den alles umgreifenden Naturprozess erheben, sondern sich nur nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten menschlicher Praxis in Allianz mit ihm verwirklichen; letztes Ziel von Geschichte und Naturprozess ist daher – wie Bloch im Anschluss an den jungen Marx formuliert – die »Naturalisierung des Menschen und Humanisierung von Natur«. Doch so wie dort, wo die Geschichte noch nicht als die gemeinsame Arbeit auf eine solidarische Gesellschaft hin begriffen ist, Produktionsverhältnisse dominant werden, die den arbeitenden Menschen unterdrücken und ausbeuten und sich somit hemmend dem Fortschritt des Geschichtsprozesses zur Freiheit in den Weg stellen, so treten auch dort, wo wir die Natur nicht mehr und noch nicht wieder als werdenden Prozess begreifen, wissenschaftlich-technische Verhaltensformen auf, die die Natur als beliebig auszubeutenden und manipulierbaren Stoff behandeln. Aber diese zunehmende Entfremdung des Menschen von der ihn selber tragenden lebendigen Basis der Natur schlägt letztlich auf den Menschen selbst zurück: »An Stelle des Technikers als bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt. Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, […] so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 787) Wenn wir dieser entfremdeten Gestalt unseres gegenwärtigen bewusstlosen »Fortschritts«, der darin zugleich auch Rückschritt ist, entkommen wollen, so bedarf es einer grundsätzlichen Umkehr = Revolutionierung auch unseres wissenschaftlichen Denkens und technischen Handelns. Die Möglichkeiten dazu sind uns durchaus gege261 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
ben und kommen an gewissen Grenzerfahrungen der gegenwärtigen Naturwissenschaft und Technik selbst – wenn auch noch sehr bewusstlos – zum Vorschein. Dabei geht es darum, die Natur wieder als einen sich selbst produzierenden Zusammenhang zu erfassen. Schließlich ist es doch die Natur selber, die aus sich heraus Leben hervorgebracht hat und innerhalb des Lebens das menschliche Bewusstsein, das nun in der Lage ist, die Natur zu erkennen und produktiv in sie einzugreifen. In unserer bloß mechanischen Konstruktion der Welt leugnen wir diesen Produktionszusammenhang, zerstören aber gerade dadurch die natürlichen Potenzen des Lebens und des Bewusstseins. »In Wirklichkeit aber hat sie [die Natur] weder ausgeblüht, noch ist die menschliche Geschichte, in ihrer Leiblichkeit, Umgebung und vor allem in ihrer Technik, der Natur nur als einer vergangenen verbunden. Konträr: Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft, und nur auf diesen Horizont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien konkreter Technik zu. Je mehr gerade statt der äußerlichen eine Allianztechnik möglich werden sollte, eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte, desto sicherer werden die Bildekräfte einer gefrorenen Natur erneut freigesetzt.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 807)
8.3 Atheismus in unserer jüdisch-christlichen Tradition Begreifen wir die Natur als eine Prozessualität, die durch unsere geschichtliche Produktivität hindurch zu neuen Ufern einer humaneren und zugleich ökologischeren Zukunft aufbrechen kann, so begreifen wir auch – so betont Bloch ganz im Sinne von Feuerbach und Marx –, dass wir keiner Religion als einer Rückbindung an Gott bedürfen, ja mehr noch, dass die Religionen, die unsere bisherige Welt prägten und formten, diese atheistische Emanzipationsperspektive bereits in sich tragen, auf die aufbauend wir uns heute gänzlich befreien können. Diese Grundüberzeugung von Bloch soll an seinem Werk Atheismus im Christentum wenigstens in Stichworten umrissen werden:
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Atheismus in unserer jüdisch-christlichen Tradition
8.3.1 Der Auszug Das unerhört Neue – so betont Bloch –, das mit Moses in die Religionsgeschichte der Menschheit getreten ist, ist der Bund Gottes mit dem Volk Israel am Berge Sinai. Es ist ein Bund, der Wechselseitigkeit voraussetzt und einklagt. Der Gott, der das Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei geführt hat, verheißt diesem Schutz und Führung in die künftige Geschichte hinein, sofern sie sich sittlich bewähren; und in ihrer sittlichen Bewährung weiß sich das Volk Israel gehalten durch die Liebe Gottes. Dieser Bund wird besiegelt in den beiden Geboten der Gottes- und Nächstenliebe, die sich wechselseitig durchdringen und erfüllen. Erstmals – soweit unsere religionsgeschichtlichen Quellen reichen – wird die weitere Geschichte eines Volkes an seine sittliche Bewährung gebunden, ja: in die Mitverantwortung der Erfüllung des Gebots der Nächstenliebe gelegt. Schon hierin liegt ein unglaublicher Impuls zur »Enttheokratisierung« der Religion. Hier vollzieht sich »eine Palastrevolution im Gottesbild selber. Die Moralität gab nun dem Menschen ein gefährliches Maß, die Wege Gottes zu messen, der ihm als Synonym für Gerechtigkeit selber gelehrt wurde […]. Jachwe als Inbegriff der sittlichen Vernunft, das ist, nach dem Auszugsgott [dem Befreier aus der Sklaverei], das zweite riesige Wunschbild in der Theologie, selbst der Atheismus hat es nicht ganz aufgehoben, denn es hängt, wie immer auch unvermittelt, aus dem Sein ins Ideal über.« (Bloch, Atheismus: 105) Dies ist aber nur der Anfang, die Versittlichung verdichtet sich noch weiter in der Zeit der Könige durch die Propheten, wo dem jüdischen Glauben eine messianisch-sozialistische Perspektive zuwächst. Die Verhältnisse der Gegenwart, die Ausschweifungen des Königshofes und die Maßlosigkeit der Reichen anklagend, predigen sie Umkehr und verheißen das Kommen eines messianischen Reiches, in der den Armen und Geschundenen, den Elenden und Ausgestoßenen Gerechtigkeit widerfahren wird. »Das wirklich prophetisch Spezifische […] kam eben aus der ungerufenen Mitwirkung freier Moralität am Schicksal bis zuletzt, besonders bis zuletzt. Diese Mitwirkbarkeit, ja neue Weichenstellung, macht schon den Unterschied zwischen dem Propheten Jona und der durch ihn bewirkten (freilich nicht von ihm begriffenen) Abwendung des Untergangs Ninives und der griechischen ›Prophetin‹ Kassandra, die den Fluch über den Atriden nur vorhersehen, doch durch keinen Anruf, keine bewirkte
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
Umkehr wenden kann. […] Ersteres ist erst moralische GegenzugsPredigt in ihrem biblischen Novum«. (Bloch, Atheismus: 103) Doch wenden wir uns dem Buch Hiob zu, das das Subversivste des Alten Testaments darstellt, da es – wie Bloch betont – zum »Exodus aus der Jachwevorstellung selber« anleitet, diese geradezu von innen heraus sprengt. Hiob kündigt den Bund mit Gott auf, nicht, weil er den Anforderungen der Gottes- und Nächstenliebe nicht mehr genügen will, sondern weil Gott diesen Maßstäben nicht zu genügen vermag. Hiob »bezweifelt, ja verneint Gott als einen Gerechten« (Bloch, Atheismus: 118). Hiob, der Gott entgegentritt, ist ein »hebräischer Prometheus«, ihm gegenüber wirkt der Gott, der Hiob entgegentritt, moralisch blass, ja in seiner physischen Machtdemonstration geradezu hilflos. »Ein Mensch überholt, ja überleuchtet seinen Gott – das ist und bleibt die Logik des Buches Hiob, trotz der angeblichen Ergebung am Schluß. Die Urkategorie des Auszugs arbeitet hier in der gewaltigsten Verwandlung fort. Nach dem Exodus Israels aus Ägypten, Jachwes aus Israel, geschieht nun ein Exodus Hiobs aus Jachwe; freilich wohin?« (Bloch, Atheismus: 121) Im Buch Hiob ist dieses Wohin noch nicht klar. Ja, das Rebellische wird am Schluss des Buches beschwichtigend wieder zurückgenommen, wenn es da heißt: »Ich will meine Hand vor den Mund legen« (Hiob: 40,4). Aber das, was trotz allem im Buch Hiob erstmals zum Vorschein kommt, ist – wie Bloch mit Hinweis auf Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« 5, meint – humaner Atheismus, denn – so führt Bloch näher aus – »alle Hoffnung ist und bleibt fundiert in Hiobs eigenem guten Gewissen und der Rebellion aus ihm, die einen Rächer sucht. […] Er meint im Menschen und seiner Moralität einen Weg, der sowohl Natur wie Gott durchschneidet.« (Bloch, Atheismus: 130)
8.3.2 Der Menschensohn Auf die Anfänge des Christentums bezogen, betont Bloch, dass wir die Zeugnisse von Jesus von Nazareth im Neuen Testament geschichtlich aus ihrer Zeit lesen müssen. Der Jude Jesus verstand sich durchaus als jüdischer Messias, d. h. er verstand seine Mission als Jean Paul, »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« (1796/97), in: Werke in 12 Bdn., III: 270 ff.
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Atheismus in unserer jüdisch-christlichen Tradition
politische Eschatologie. Später – beginnend mit Paulus – setzte eine christliche Umdeutung des jesuanischen Selbstverständnisses und der jesuanischen Predigt ein, die ohne die darin mitschwingende apokalyptische Offenbarung ihren ursprünglichen Sinn verliert. Auch äußerlich wurde bis in Luthers Übersetzung hinein Vieles umgedeutet, so heißt es bei Lukas (17, 21) gerade nicht verinnerlichend: »Das Reich Gottes ist in euch«, sondern es lautet richtig übersetzt: »Das Reich Gottes ist mitten unter euch.« (Bloch, Atheismus: 143) Dies steht aber keineswegs im Gegensatz zu der folgenden Stelle: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, denn damit verweist Jesus nicht auf eine jenseitige Welt, sondern klagt die bestehenden Verhältnisse an. Dabei wendet sich seine Anklage nicht nur – wie die der Zeloten – gegen die römische Unterdrückung, sondern auch gegen die herrschende Kaste der Priester. So sehr er auch die Liebe unter seinen Brüdern und für das kommende Reich predigt, gegen die bestehenden Verhältnisse, spricht er sich entschieden anders aus: »Ich bin nicht gekommen Frieden zu senden, sondern das Schwert.« (Matthäus: 10,34) Deshalb lief ihm das Volk, die Armen, die Geknechteten und Beladenen zu, denn er verhieß ihnen ein anderes Reich. Dieser »Rebell und Erzketzer« wider die etablierte Tempelpriesterschaft wurde vom Hohepriester den Römern zur Aburteilung übergeben und von Pilatus als der angemaßte »König der Juden« gekreuzigt. Vieles im Neuen Testament ist uns verderbt überliefert, hat bereits durch Paulus und später auch durch die Staatskirche ihre Umgewichtung und Umdeutung erfahren, so die duldende Versöhnung mit den bestehenden Verhältnissen und die beschwichtigende Vertröstung auf eine Gerechtigkeit in einer jenseitigen Welt. Aber immer noch wirkt die eschatologische Hoffnung auf ein irdisch anbrechendes Reich Gottes durch alle Beschwichtigungsversuche nach und hat durch zwei Jahrtausende hindurch protestantische Ketzerbewegung gegen die herrschende Amtskirche beflügelt. Bezogen auf das kommende Reich erneuert Jesus das von Moses her (3. Buch Mose: 19, 18) bekannte Gebot der Nächstenliebe. »Das Evangelium predigen vom Reich Gottes, dazu bin ich gesandt«, so beschreibt er seine Mission (Lukas: 4, 43). Dieses kommende Reich schließt auch, ja gerade die unter den gegenwärtigen Verhältnissen Leidenden und Darbenden ein, und so sagt Jesus fordernd und warnend zugleich: »Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan.« (Matthäus: 25, 40) Dies alles ist als das Vorwärtstreibende aus der Geschichte des 265 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
Christentums bekannt und braucht hier nicht nochmals lange wiederholt zu werden. Was es aber darüber hinaus freizulegen gilt – so Bloch –, ist die Selbstbezeichnung des sich als Messias verstehenden Jesus als »Menschensohn«. Hierin sieht Bloch das eigentliche »Geheimzeichen Christi«. Natürlich kommt auch die Bezeichnung »Gottessohn« vor, doch darin liegt zu jener Zeit nichts Besonderes, zum einen, da sich alle Juden als Kinder Gottes verstanden, und zum anderen, da sich in allen Nachbarvölkern die Herrscher oder Oberpriester als Söhne Gottes ausgaben. Doch die betonte Verwendung der Benennung »Menschensohn« als Messias, lässt aufhorchen, gerade auch deshalb, weil die herrschende Theologie bis hin in die Gegenwart sie zu überspielen und zu verdrängen versucht. Bloch holt weit aus, um Erzählung und Deutung des Begriffs »Menschensohn« aus dem Zusammenhang des Alten und Neuen Testaments, aber auch aus der Gnosis und Kabbala zu rekonstruieren. Für uns entscheidend ist nur, dass damit eine neue Welt des Menschlichen berufen wird, deren Maße selbst im Menschlichen liegen. Aus einem apokryphen Text zitiert Bloch »die menschlichste Unio mystica als Unio mit dem Menschensohn«, die er zugleich auch als ein a-theistisches, ein »gott-loses Gebet« bezeichnet: »Ich bin du und du bist ich, und wo immer du bist, da bin ich in alles Lebende gesät, und aus welchem Ort du auch willst, sammelst du mich; wenn du aber mich sammelst, sammelst du dich selbst.« (Bloch, Atheismus: 164) 6 Im letzten aber zielt die Eschatologie des Reichs des Menschensohns auf die apokalyptische Utopie einer Sozietät kommunistischer Geschwisterlichkeit. Die christliche Urgemeinde hatte etwas davon zu leben versucht, später wurde diese eschatologische Vision als subversives Gegenbild gegenüber der herrschenden Amtskirche in den Ketzerbewegungen durch das ganze Mittelalter hindurch bis in die Bauernkriege hinein tradiert, und selbst in Schellings Philosophie der Offenbarung ist der Gedanke an die noch ausstehende johanneische Gemeinde lebendig. (Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIV: 326 ff.) Aber wahrhaft aus seiner Tiefe gehoben wird das Rätselwort »Menschensohn« in seiner ganzen a-theistischen Tiefe und Sprengkraft erst durch Ludwig Feuerbach und Karl Marx, aus deren Tradition Ernst Bloch seinen humanen Atheismus versteht und verstanden Zitiert nach Paul Wendland, Die hellenistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum (1912), II: 298.
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Tod und Apokalypse – Erwägungen zum Problem des Exterminismus
wissen will. Feuerbach ist es, der die »radikale Menschenlinie im Christentum« aus dem Jenseits in die Welt der Menschlichkeit zurückgeholt hat. Bekräftigend zitiert Bloch Feuerbach: »Das Geheimnis der Religion ist das Geheimnis des menschlichen Wesens selber.« »Der Glaube an das Jenseits ist daher der Glaube an die Freiheit der Subjektivität von den Schranken der Natur – folglich der Glaube des Menschen an sich selbst.« (Feuerbach, Das Wesen der Religion, SW, 1845, VII: 252 zit. nach Bloch, Atheismus: 236). Während jedoch Feuerbach in seiner Anthropologisierung des Wesens des Christentums (1844) die ins Jenseits projizierte Idee Gottes dem Menschen als sein selbst geschaffenes Ideal zurückholt, dringt Marx in seiner Religionskritik weiter vor und erneuert in radikaler Weise den eschatologisch-politischen Gehalt des Gedankens des Menschensohns, wenn er schreibt: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei; also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknebeltes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1: 385; zit. bei Bloch, Atheismus im Christentum: 67) Ziel dieser revolutionären Kritik ist – wie Marx es nennt – die »menschliche Emanzipation«, die Befreiung des Menschen zu einer »menschlichen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Menschheit«. Von hier her sind Blochs Schlusssätze von Atheismus im Christentum verständlich: »[W]enn christlich die Emanzipation der Mühseligen und Beladenen wirklich noch gemeint ist, wenn marxistisch die Tiefe des Reichs der Freiheit wirklich substantiierender Inhalt des revolutionären Bewußtseins bleibt und wird, dann wird die Allianz zwischen Revolution und Christentum in den Bauernkriegen nicht die letzte gewesen sein – diesmal mit Erfolg.« (Bloch, Atheismus: 299)
8.4 Tod und Apokalypse – Erwägungen zum Problem des Exterminismus Gehen wir – nach diesem Rückblick in die atheistische Religionsgeschichte – nochmals auf das grundlegende Mensch-Natur-Verhältnis zurück. Bloch bleibt bei den sozialistischen und ökologischen Hoffnungsbildern einer Allianz von Mensch und Natur nicht stehen, sondern er greift seit seiner Frühschrift Geist der Utopie bis zur Spät267 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
schrift Atheismus im Christentum zur Begründung seines religiösen Atheismus ins Metaphysische aus. Das Schwellenproblem zur überhöhenden metaphysischen, ja religiösen Perspektive ist das Problem des Todes, die über das Faktum des Sterbenmüssens hinaustreibende Sinnfrage. Wir kehren damit nochmals zu Geist der Utopie zurück. Durch den Tod wird alle Sinngebung menschlichen Lebens in Frage gestellt. Bloch hat hier den Mut, gegen alle Tabus aufklärerischer Rationalität und marxistischer Religions- und Metaphysikgegnerschaft, sich grübelnd auch den Fragen der Unsterblichkeit der Seele, d. h. dem Fortbestand der Seele jenseits des Todes und vor allem dem Wiedergeburtsgedanken zu stellen, mit dem er in Geist der Utopie deutlich sympathisiert. Dabei geht es Bloch um keine Glaubenslehre, sondern um unsere Selbstfindung im Sinnhorizont unseres Lebens im kosmischen Weltzusammenhang. Und da stellt sich nun der Tod als die größte aller Herausforderungen dar, insofern er alles zunichte zu machen droht. Ist mit dem Tode alles aus? Endet alle Sinngebung im Umsonst des Todes? Oder bleibt nicht doch etwas von unserer Wirksamkeit, unserem sittlichen Einsatz über den Tod hinaus erhalten? Ausdrücklich wird hier nicht mehr nach dem bloß irdischen Fortwirken gefragt, der Erinnerung an Menschen eine kurze Weile in den nachfolgenden Generationen, auch nicht nach den langzeitlichen kulturellen Wirkungen in der Menschheitsgeschichte, sondern es geht Bloch um die Frage nach dem Fortwirken des Seelischen und Geistigen über das irdisch-geschichtliche Dasein hinaus. Dies ist keineswegs eine spiritualistische Frage, sondern – wie Bloch sagt – eine erzmaterialistische. Gerade wenn wir das Seelische und Geistige nicht als etwas von außen uns Eingegebenes, sondern als Hervorbringungen und als Momente des Weltprozesses selbst begreifen, stellt sich materialistisch unausweichlich die Frage nach dem Verbleib des Seelischen und des Geistigen nach dem Tode jedes einzelnen Individuums und dem Tode der ganzen Menschengattung. Ohne ein solches über den Tod ausgreifendes Fragen nach dem Sinn des kosmischen Weltprozesses behält der Tod mit seiner Sinnloserklärung das letzte Wort. Er wäre die Auslöschung alles Menschlichen, dessen Auflösung in einem grundsätzlich als sinnlos anzusehenden kosmischen Weltprozess. Solche Infragestellung eines über den Tod hinausragenden Sinnes würde jedoch auch alle menschlich zukunftsbezogenen Sinnsetzungen prinzipiell haltlos und ziellos werden lassen, denn angesichts des letzten Umsonst des Todes verlören 268 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Tod und Apokalypse – Erwägungen zum Problem des Exterminismus
alle Zielhorizonte der Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Menschlichkeit ihren Sinn und ihre Dignität. Die hier aufbrechende Problematik einer »Apokalypse« bedeutet für Bloch in Geist der Utopie zweierlei, zum einen das Weltenende in einer Naturkatastrophe, durch die die Menschheit und die irdische Welt vorzeitig im Erdentod versinkt, zum anderen meint Apokalypse auch sehr jüdisch-christlich das Weltenende in seiner Sinnerfüllung. Noch ist völlig unentschieden, ob unsere Welt in einem »absoluten Umsonst« der Sinnauslöschung oder im »absoluten Überhaupt« der Sinnerfüllung enden wird. Und grundsätzlich bleibt auch hier die absolute Frage unkonstruierbar, wir können das Weltenende im Sinne der Offenbarung theoretisch nicht vorweg festlegen. Aber die Orientierung unseres Hoffens, unserer proflexiven Selbstsuche und Sinnfindung muss auf die Möglichkeit dieser apokalyptischen Sinnerfüllung bezogen bleiben, da von ihr her alle anderen Sinnhorizonte der Menschlichkeit ihre letzte Legitimation erhalten. Während Ernst Bloch 1918 in Geist der Utopie nur auf die vorzeitige Apokalypse durch eine Naturkatastrophe eingeht, hat sich für uns heute die Problematik dramatisch verändert, da eine vorzeitige Apokalypse ein durch uns Menschen selbst hervorgebrachtes ›Werk‹ sein kann, deren Möglichkeit in den Horizont unserer erlebbaren Geschichte getreten ist. Die Möglichkeit dazu besitzen wir erst seit einigen Jahrzehnten, aber sie kann nie mehr aus der Menschheitsgeschichte getilgt werden, weil das Wissen von diesen Zerstörungspotentialen und die technischen Möglichkeiten dazu nicht mehr rückgängig zu machen sind. Wir relativieren die Schrecken von Hiroshima und Nagasaki nicht, wenn wir sagen, dass für uns heute »Hiroshima« als Vorbote für sehr viel mehr steht. Seit Hiroshima wissen wir, dass wir in das Zeitalter des Exterminismus 7 eingetreten sind, in das Zeitalter der möglichen und auch bereits fortschreitenden Selbstvernichtung der Menschheit, die gleichzeitig eine Zerstörung alles irdischen Lebens implizieren kann. Diese nicht durch die Natur, sondern durch die Menschen selbst produzierte vorzeitige Apokalypse kann sich durch einen dritten Weltkrieg schlagartig ereignen, sie kann aber auch »friedlich« durch einen Plutonium-Unfall ausgelöst werden – TscherSiehe Edward P. Thompson, »›Exterminismus‹ als letztes Stadium der Zivilsation«, in: Das Argument 127: 326 ff. Siehe auch noch eindrücklicher: Günther Anders, Endzeit und Zeitenende (1972). 7
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Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
nobyl und Fukushima haben uns davon eine Vorahnung gegeben –, ja, sie kann noch viel schleichender, aber nicht minder unaufhaltsam allein schon durch die weiterhin ungehemmte Abgabe giftiger industrieller Abfallprodukte an Wasser, Luft und Boden erfolgen, durch eine langsame Unbewohnbarmachung der Erde. Ernst Bloch ist in seinem Spätwerk Experimentum mundi selbst noch auf diese neue Problematik des Exterminismus eingegangen und hat dagegen erneut auf die Dringlichkeit der von ihm vorher schon angemahnten Notwendigkeit einer Allianztechnik verwiesen, einer Technik, die nicht mehr rücksichtslos gegen die ökologischen Kreisläufe der Natur wirkt, sondern die mit der Natur und in Verantwortung für sie produziert. Diese Problematik nochmals zusammenfassend schreibt Bloch in Experimentum Mundi: »Derartige [revolutionäre] Praxis kann sich nicht darauf beschränken, das Verhältnis des Menschen zum Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft von Entfremdung zu befreien; sie geht weiter verändernd in das Verhältnis des Menschen zur Natur hinein. So daß der Mensch in der Natur nicht mehr zu stehen braucht wie in Feindesland, mit dem technischen Unfall als ständiger Drohung. […] Ein anderes nicht ausbeutendes Verhalten zur Natur wurde schon der objektiv-realen Möglichkeit nach bedeutet als befreundete, konkrete Allianztechnik. […] Das wird nun um so notwendiger, als sich der Unfall ja längst ausgewachsen hat zu drohender Selbstausrottung des Menschen, gründlicher Zerstörung seiner natürlichen Existenzbedingungen durch Mißachtung der Ökologie.« (Bloch, Experimentum Mundi: 251) Aber noch etwas viel Grundsätzlicheres gilt es abschließend anzusprechen. Der Kampf gegen die fortschreitende Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlage macht nur Sinn, weil wir noch hoffen, unseren Kindern und Kindeskindern ein menschliches Leben auf dieser Erde ermöglichen zu können. Von diesem Hoffen und Kämpfen dürfen wir auch keineswegs im mindesten ablassen, und doch reichen diese irdischen und menschheitsgeschichtlichen Antizipationen nicht aus, um den Sinnhorizont sittlich-menschlichen Strebens zu fundieren. Wo wir allein auf irdische, menschheitsgeschichtliche Erfüllungshorizonte hoffen, verschlingt der Menschheitstod alles in einem »absoluten Umsonst« und erklärt gleichsam als negatives Weltgericht auch alle vorhergehenden Bemühungen der Menschen um ein besseres Leben im Nachhinein für sinnlos. Angesichts der immer greifbarer auf uns zurückenden Menschheitskatastrophe müssen wir den Mut aufbringen, nach dem Sinn 270 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Exkurs zu Hans Jonas’ Kritik an Bloch
unseres Handelns auch über alle irdisch-menschheitsgeschichtlichen Erfüllungshorizonte hinaus zu fragen – wie dies erstmals Platon im zweiten Buch der Politeia anklingen ließ. Dies darf nicht, wie Bloch betont, als eine Flucht in irgendeine Glaubens- und Erlösungslehre missverstanden werden. Es geht vielmehr darum, dass der aufrechte Gang jedes einzelnen und derer, die ihn für die Menschheit gingen und gehen, auch dann noch einen erhofften Sinn haben muss, wenn – wie es immer wahrscheinlicher wird – alles scheitert, d. h. die Menschheit sich tatsächlich selber auslöscht. Die nicht nur theoretisch errechenbare Naturkatastrophe, sondern die praktisch möglich gewordene, in greifbare Nähe gerückte Menschheitskatastrophe zwingt uns, die von Bloch in Geist der Utopie aufgeworfenen religiös-metaphysischen Gedanken wieder aufzunehmen und radikaler noch weiterzudenken. Bloch deutet in Geist der Utopie an, dass für ihn das Hoffen über den Tod und den Menschheitstod hinausreicht, insofern sittliches Handeln, auch wenn es irdisch erfolglos ist und scheitert, als sittlich versuchtes über den Tod hinaus wirksam bleibt und gleichsam eingeht in die kosmische Gottwerdung, die nicht von sich aus, sondern nur durch unsere Mitwirkung zur apokalyptischen Erfüllung kommen kann. Bloch scheut sich nicht, die den Erdentod überbietende apokalyptische Hoffnung in betont jüdisch-christlichen Metaphern zu umschreiben, aber was er – an den jungen Schelling erinnernd – anstrebt, ist nicht an eine Glaubenslehre gebunden, sondern es ist eine erzketzerische, eine atheistische Religion, denn der Messias, das sind wir selber – wie Meister Eckhart bereits sagte –, wir sind »Wandernde und Kompaß zugleich.« (Bloch, Geist der Utopie: 345) Und allein in uns reift der Gott, der stärker sein wird als dieser letzte Tod.
8.5 Exkurs zu Hans Jonas’ Kritik an Bloch Angesichts der immer bedrohlicher auf uns zukommenden Möglichkeit der Selbstausrottung der Menschheit müssen wir uns – so führt Jonas in Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979) aus – zu allererst der metaphysischen Frage, die zugleich eine ethische ist, stellen, ob »uns die Zukunft der Menschheit und des Planeten am Herzen liegen soll«. (Jonas, Prinzip Verantwortung: 61) Es reicht nicht aus, dass die meisten von uns sie gefühlsmäßig bejahen, sondern wir müssen dies als Imperativ be271 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
gründen können, wenn wir daraus ethische und politische Maximen für unser Handeln ableiten wollen. 8 Jonas versucht das aufgeworfene Problem zweifach zu beantworten, zum einen durch eine naturphilosophische und zum andern durch eine ethische Fragestellung, die sich aufeinander beziehen und wechselseitig begründen. Naturphilosophisch gesehen sind wir Produkte eines unausdenklich langen Evolutionsprozesses. Dieser Evolutionsprozess hat uns in die Freiheit gesetzt, aus eigener Willkür und Selbstherrlichkeit auch in die Natur einwirken zu können, ja unsere gegenwärtige wissenschaftlich-technische Produktivität steht in der Möglichkeit, unser menschliches und alles irdische Leben auslöschen zu können. Nun sind wir zwar Subjekte unseres freien Handelns, aber doch nicht Subjekte unseres Daseins, wir sind vielmehr in die Subjektivität des kosmischen Evolutionsprozesses gestellt. Insofern haben wir nicht das Recht, uns und das Leben auf Erden zu zerstören, sondern haben – wie Jonas die ethische Konsequenz daraus formuliert – »das Erbe einer vorausgegangenen Evolution zu wahren«. (Jonas, Prinzip Verantwortung: 72) Der zweite Gedanke setzt bei der Ethik an und bezieht sich daher immer auf das mitmenschliche Handeln. Nun kann es vielleicht ethische Grenzsituationen geben, in denen der einzelne Mensch keine andere Sinngebung seines Lebens mehr für möglich hält als den eigenen Tod zu wählen, niemals aber hat der Mensch das Recht, den Selbstmord der Menschheit zu betreiben. »Niemals darf Existenz oder Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz in den Wetten des Handelns gemacht werden.« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 81) Und zwar deshalb nicht, weil wir dadurch über die Freiheit der anderen hinweg entscheiden würden. Voraussetzung der Freiheit der anderen ist aber ihr Dasein; insofern geht hier eine naturphilosophische Voraussetzung in die Ethik ein. Diese beiden Gedankenstränge begründen sich in gewisser Weise gegenseitig; aus ihnen ergibt sich der unbedingte Imperativ der Verantwortung für die Zukunft: »Also ist der Imperativ, daß eine Menschheit sei, der erste, soweit es sich um den Menschen allein handelt. […] Da sein Prinzip nun aber nicht wie beim Kantischen die Selbsteinstimmigkeit der sich Gesetze des Handelns gebenden Vernunft ist, […] so ergibt sich, daß das erste Prinzip einer ›Zukünftigkeitsethik‹ nicht selber in der Ethik liegt […], sondern in der Meta8
Vgl. Dietrich Böhler, Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas (1994).
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Exkurs zu Hans Jonas’ Kritik an Bloch
physik als einer Lehre vom Sein, wovon die Idee des Menschen ein Teil ist.« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 91 f.) Und das bedeutet, dass uns eine Verantwortung aus dem Sein zuwächst und dass wir uns auch in unserem Handeln vor ihm zu verantworten haben. Dies nennt Jonas »die Hütung des ›Ebenbildes‹ […]: die Ehrfurcht für das, was der Mensch war und ist […]. Dies […] gegen das eigene Tun des Menschen heil zu erhalten, ist nicht ein utopisches, doch ein gar nicht so bescheidenes Ziel der Verantwortung für die Zukunft des Menschen.« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 392 f.) Nun glaubt Hans Jonas, das von ihm herausgearbeitete »Prinzip Verantwortung« gegen das »Prinzip Hoffnung« von Ernst Bloch absetzen zu müssen, denn Hoffnung ist ein grenzenloses Erwünschen und Erträumen von Noch-Nicht-Seiendem, es drängt auf Veränderung, experimentiert mit dem Dasein und wettet auf eine ungewisse Zukunft; damit aber setzt es das menschliche und irdische Sein aufs Spiel. Denn Bloch ziele mit seinem »Prinzip Hoffnung« zum einen im Anschluss an Francis Bacon auf eine »zunehmende Macht über die Natur«. Insofern sei Blochs Rede von der »Humanisierung der Natur […] eine hypokritische Schönrednerei für totale Unterwerfung der Natur unter den Menschen zwecks totaler Ausbeutung für seine Bedürfnisse«. (Jonas, Prinzip Verantwortung: 370) Zum anderen ziele die Hoffnung im Anschluss an Marx auf eine selbst errichtete »klassenlose Gesellschaft«. Hier wirft Jonas Marx und Bloch vor, dass sie ein »Reich der Freiheit« ohne alle Notwendigkeit der Arbeit erstreben, einen universalen Zustand der »Muße«. Solche Utopie sei »doch barer Unsinn«, denn »es gibt gar kein ›Reich der Freiheit‹ außerhalb des Reichs der Notwendigkeit!« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 365) Und obendrein wäre solche Utopie mehr als gefährlich, da sie dem Menschen die Würde seines Daseins in der Welt raube. Der »Grundfehler der ganzen Ontologie des Noch-Nicht-Seins und des darauf gegründeten Primats der Hoffnung« liegt nach Jonas in der in ihr verborgenen »sozialtechnischen Futurologie« eines »bis ins Innerste auf Regelgerechtheit abgerichteten Homunculus« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 382), denn der Traum eines »Reichs der Freiheit« und der totalen »Beherrschung der Natur« schlägt um in eine Diktatur der Traumverwirklichung gegen die wirklich tätigen Menschen und ihre natürliche Lebenswelt. »Also diente die Kritik der Utopie, als extremes Modell, nicht so sehr der Widerlegung eines wie immer einflussreichen Denkirrtums, wie [vielmehr] der Grundlegung ihrer uns obliegenden Alternative: der Ethik der Verantwor273 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
tung, die heute nach mehreren Jahrhunderten postbaconischer, prometheischer Euphorie (der auch der Marxismus entstammt), dem galoppierenden Vorwärts die Zügel anlegen muß.« (Jonas, Prinzip Verantwortung: 388) Hans Jonas’ Polemik gegen Ernst Bloch – aber auch gegen Marx – geht an diesen total vorbei, ist ein einziges großes Missverständnis, ja man fragt sich, ob Jonas je überhaupt eine Zeile von Bloch oder von Marx gelesen hat, denn genau das, was Jonas – vermeintlich gegen Marx – über die Eingebundenheit des Menschen in das »Reich der Notwendigkeit« ausführt, wird bereits von Marx als dialektischer Zusammenhang von »Reich der Notwendigkeit« und »Reich der Freiheit« dargelegt: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört […]. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschafte Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen […]. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.« (Marx, Kapital III, 25: 828) Es ist schier unbegreiflich, dass Jonas zu einer solchen Verzeichnung des Anliegens von Marx und Bloch kommen konnte und die große Verwandtschaft seines Anliegens zur Blochschen Philosophie übersehen konnte. Das Gemeinsame der Philosophie der Hoffnung von Bloch und der Philosophie der Verantwortung von Jonas liegt ohne Zweifel darin, dass sie beide – wie Schelling und Marx auch 9 – die Produktivität des Menschen in die Produktivität der Natur eingebettet begreifen – aus ihr hoffend und für sie verantwortlich. Die Differenz beider Ansätze liegt in einer unterschiedlichen Akzentuierung des Einbezogenseins des Menschen in die Natur. Dies kommt ganz besonders deutlich in ihren Gleichnissen zum Ausdruck, in denen sie jeweils metaphysisch-theologisch die Letztfragen, die ihnen beiden wichtig sind, zu umschreiben versuchen. Letztlich muss sich eine Philosophie der Hoffnung ebenso wie eine Philosophie der Ver9 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984/2018) sowie »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel« (1996).
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Exkurs zu Hans Jonas’ Kritik an Bloch
antwortung – so betonen sie beide – unabweisbar und unumgehbar der Auseinandersetzung mit der Religion stellen. Während jedoch Bloch eine »a-theistische Religion« konzipiert, in der Gott als Hoffnungshorizont durch das sittliche Handeln der Menschen hindurch erst wird, entwirft Jonas einen »a-religiösen Gottesbegriff«, bei dem Gott als Evolutionsprozess der Welt bereits zugrunde liegt, für dessen »Hütung« die Menschen verantwortlich sind. Gott war für den gläubigen Juden – so führt Jonas in Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1987) aus – seit jeher der »Herr der Geschichte«, mit dem das Volk Israel einen geschichtlichen, in die Zukunft weisenden Bund eingegangen zu sein glaubte. Das Schweigen Gottes zum unsäglichen Leid von Auschwitz, zur Entmenschung der Opfer, zur unerbittlichen Auslöschung aller, sowohl derer, die sich zu ihrem Judesein bekannten, als auch derer, die als Juden abgestempelt wurden, stellt »selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage«. (Jonas, Auschwitz: 14) Nach Auschwitz kann Gott niemals mehr als »Herr der Geschichte« begriffen werden. Trotz dieser endgültigen Absage an die Vorstellung eines Schöpfer- und Herrschergottes bleibt es eine philosophische Aufgabe, an einem Gottesbegriff weiterzuarbeiten, um dadurch einem weiteren und gar noch schlimmeren Auschwitz entgegenzuwirken. Sein »a-religiöses« Verständnis von Gott kleidet Jonas in einen philosophischen Mythos: »Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der unendlichen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich: Da sie einging in das Abenteuer von Raum und Zeit, hielt die Gottheit nichts von sich zurück […], damit Welt sei, und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. […] Jeder Artunterschied, den die Evolution hervorbringt, fügt den Möglichkeiten von Fühlen und Tun die eigene hinzu und bereichert damit die Selbsterfahrung des göttlichen Grundes. […] Und dann zittert er, da der Stoß der Entwicklung, von seiner Schwungkraft getragen, die Schwelle überschreitet, wo Unschuld aufhört und ein gänzlich neues Kriterium des Erfolgs und Fehlschlags vom göttlichen Einsatz Besitz ergreift. Die Heraufkunft des Menschen. […] Mit dem Erscheinen des Menschen erwachte die Transzendenz zu sich selbst und begleitet hinfort sein Tun mit 275 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Bloch – Der aufrechte Gang wider Barbarei und Apokalypse
angehaltenem Atem, hoffend und werbend, mit Freude und mit Trauer, mit Befriedigung und Enttäuschung – und, wie ich glauben möchte, sich ihn fühlbar machend, ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen.« (Jonas, Auschwitz: 15–24) Eine faszinierende Erzählung, die fast wie eine Paraphrase zu Blochs Prozessphilosophie erscheint, welche aber bei Bloch eine kontrapunktische Fortführung erfährt, insofern Gott erst durch das Werk der Menschen hindurch zu sich als Gott zu kommen vermag. »Nur: es gäbe keinen austragbaren Humanismus, wenn er außer seiner Moral nicht auch diese glücklichsten Grenzbilder des Wohin, Wozu, Überhaupt implizierte. […] Das nicht mehr entfremdete Humanum, das Ahnbare, noch Ungefundene seiner möglichen Welt, beides steht unabdingbar im Experiment Zukunft, Experiment Welt.« (Bloch, Atheismus: 298 f.) Bereits im Schlusskapitel »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse« seines Buches Geist der Utopie (1918) entwirft Ernst Bloch die Konturen seiner a-theistischen Religion, die den geschichtsmaterialistischen Humanismus von Marx in einen absoluten Sinnhorizont zu stellen versucht. »Karl Marx« steht bei Bloch für die praktische Umsetzung des erhofften Wir-Horizonts der Geschichte, für die konkrete Realisierbarkeit des »sozialistischen Gedankens«. Aber wenn es um die letzten Sinnfragen geht, können wir philosophisch dabei allein nicht stehen bleiben. (Bloch, Geist der Utopie: 302 ff.) Philosophisch können wir uns der Letztfrage nach dem Sinn der Welt in ihrem Ende, der Apokalypse, nicht entziehen. Noch ist völlig unentschieden, ob unsere Welt in einem »absoluten Umsonst« der Sinnauslöschung oder im »absoluten Überhaupt« der Sinnerfüllung enden wird. Wir können das Weltenende theoretisch nicht vorweg bestimmen, aber die Orientierung unseres Hoffens, unserer konkret-utopischen Selbstsuche und Sinnfindung muss auf die Möglichkeit einer positiv-apokalyptischen Sinnerfüllung bezogen bleiben, da von ihr her alle anderen Sinnhorizonte der Menschlichkeit ihre letzte Legitimation erhalten. Und hier nun setzt Bloch Jonas Erzählung fünfzig Jahre zuvor bereits fort: »Wir leben und wissen nicht, wozu. Wir sterben und wissen nicht, wohin: […] Und doch, es bleibt uns hier, die wir leiden und dunkel sind, weit hinaus zu hoffen. […] Denn die menschliche Seele umspannt alles, auch das Drüben, das noch nicht ist. Sie allein wollen wir und das Denken dient ihr. […] In solcher Funktionsbeziehung zwischen […] Marxismus und Religion, geeint im Willen zum 276 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Exkurs zu Hans Jonas’ Kritik an Bloch
Reich, fließt sämtlichen Nebenströmen ihr letzthinniges Hauptsystem: die Seele, der Messias, die Apokalypse […] geben die letzten Tatund Erkenntnisimpulse, bilden das Apriori aller Politik und Kultur. […] Denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie, und in ihre Hände ist die Heiligung des Namens, ist Gottes Ernennung selber gegeben, der in uns rührt und treibt, geahntes Tor, dunkelste Frage, überschwängliches Innen, der kein Faktum ist, sondern ein Problem, in die Hände unserer gottbeschwörenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet.« (Bloch, Geist der Utopie: 343/346) So faszinierend beide metaphysisch-theologischen Erzählungen – noch dazu in ihrer gegenseitigen Ergänzung – auch sind, wir hören doch auch heraus, dass etwas an ihnen nicht stimmt, nicht stimmen kann. Denn wäre Gott gänzlich in das Werden des Weltprozesses aufgelöst, wäre er dieser selbst – wie Jonas formuliert –, so könnte er sich weder zum Evolutionsprozess entschließen, noch könnte er am Geschichtsprozess leiden. Genauso wenig, wie es eine Heiligung des Weltprozesses durch das Wirken der Menschen geben könnte – wie Bloch hofft –, wenn dieser nicht ein göttlicher Ermöglichungsgrund zugrunde läge. Ohne Gott als Ermöglichungsgrund kann es weder Verantwortung noch Hoffnung geben und, doch ist dieser Ermöglichungsgrund nur durch das sittliche Projekt unseres Menschseins hindurch fassbar. 10 Unvergleichlich prägnanter hat dies Schelling – Bloch und Jonas vorwegnehmend – bereits im System des transzendentalen Idealismus (1800) ausgesprochen: »Die Geschichte als Ganzes ist eine fortgehende allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten«. Doch ist Gott nicht unabhängig von uns, sondern er »offenbart und enthüllt […] sich nur sukzessiv durch das Spiel unserer Freiheit selbst, so daß ohne diese Freiheit auch er selbst nicht wäre, [insofern] sind wir Mitdichter des Ganzen, und Selbsterfinder der besonderen Rolle, die wir spielen. […] Der Mensch führt durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes, einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet sein kann […]. – Dort, wo sie vollendet sein wird, […] wird auch Gott sein.« (Schelling, Transzendentaler Idealismus, III: 602 ff.)
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999).
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9. Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus 1
9.1 Gott ist tot, es lebe der Übermensch Noch radikaler als bei Ludwig Feuerbach fällt eine Generation später Friedrich Nietzsches Abrechnung mit der Religion aus. Während Feuerbach noch das Wesen der Religion freilegen will, das in den sittlichen Idealen der Menschheit liegt, die einmal durchschaut, von den Menschen zur bewussten Verwirklichung gebracht werden können, gelten für Nietzsche Religion und Moralität als eine Einheit, die zusammen überwunden werden muss, da sie den natürlichen Lebenswillen negiert (Nietzsche, Genealogie, II: 899). Ja man könnte sogar von einem absoluten Gegensatz zwischen »Gottes-Glaube« und »Jasagen zum Leben« sprechen. (Nietzsche, Antichrist, II: 1163) Nietzsche glaubt die Nicht-Existenz Gottes nicht mehr erst beweisen zu müssen, denn diesen Beweis haben die Menschen schon längst erbracht, obwohl die Mehrzahl der Menschen dies immer noch vor sich selbst verbergen. Die Menschen haben schon längst seit dem Beginn der Neuzeit mit ihrer Welteroberung durch Politik und Ökonomie, durch Wissenschaft und Technik, durch ihre alltägliche Lebensführung und Vergnügungen bewiesen, dass sie Gott nicht mehr brauchen und anerkennen – selbst dann nicht, wenn sie der Konvention entsprechend noch sonntags in die Kirche gehen und ihre einstudierten Gebete sprechen. Dies ist der tiefere Sinn des Berichts vom »tollen Hervorgegangen aus zwei Vorträgen: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Nietzsche und das Christentum«, im Rahmen der Ringvorlesung: »Ich trage das Schicksal der Menschheit auf der Schulter« – Friedrich Nietzsche im 100. Todesjahr, Evangelisches Forum und Interdisziplinäre Arbeitsgruppe für philosophische Grundlagenprobleme, Kassel WS 2000/01 (unveröffentlicht) und »Zur Genealogie von Freiheit und Sittlichkeit« im Rahmen der Wiener Gespräche zur Philosophie »Politik und Moral« 24./25. Oktober 1987, zuerst erschienen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Einsprüche kritischer Philosophie. Kleine Festschrift für Ulrich Sonnemann, Kassel 1992: 111–130, wieder aufgenommen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie, Würzburg 1999: 126–145.
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Gott ist tot, es lebe der Übermensch
Menschen« über den »Tod Gottes«, den Nietzsche seit Die fröhliche Wissenschaft (1882) in immer neuen Varianten erzählt und weiter kommentiert 2: »Der tolle Mensch. Habt ich nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? Sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? Ausgewandert? so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‹ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: 2 Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft (1989): 16 ff.
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Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus
auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. ›Ich komme zu früh‹, sagte er dann, ›ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!‹« (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, II: 126 f.) Wer recht in die Erzählung hineinhört, wird gewahr werden, dass die »Tat« unumkehrbar geschehen ist. Zwar mag noch eine wehmütige Rückerinnerung verbleiben, an die Zeiten, da die Menschen noch an ihre selbsterschaffene Gottheit glaubten, aber diese sind unwiederbringlich vorbei, denn ihre selbstherrliche Lebensweise und Weltherrschaft lässt keinen Gott neben ihnen mehr zu. Der Mensch hat das von ihm erschaffene Ebenbild, das er einst fürchtete und verehrte, beschwor und benutzte, überflüssig gemacht, denn er selbst ist in seinem weltgeschichtlichen Handeln zum alleinigen Gott geworden. Doch ist dem Menschen die Konsequenz seiner Selbstherrlichkeit noch nicht ganz zu Bewusstsein gekommen, denn nun ist er gefordert selbst und allein Herr zu sein: »Gott starb: nun wollen wir – daß der Übermensch lebe.« (Nietzsche, Zarathustra, II: 523) Doch ist der Mensch dieser Aufgabe überhaupt gewachsen? Ist er nicht durch seine jahrhundertausendlange Unterwerfung unter die Herrschaft seiner Götzenbilder unfähig geworden, selbst sein Schicksal in die Hand zu nehmen? Der »tolle Mensch« ist zu früh auf dem Marktplatz erschienen. Die Menschen sind noch nicht soweit, die Aufgabe zu übernehmen, die ihnen ab jetzt zufällt, da Gott tot ist, denn dazu bedarf es des »Übermenschen«. So muss erst Zarathustra kommen, um den Menschen, den »letzten Menschen« alten Schlags, den Übermenschen zu predigen, damit jene zu diesem hinüberwachsen können. So spricht Zarathustra in dem von Nietzsche verfassten Evangelium Also sprach Zarathustra (1883–85): »Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, was überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein […]. Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde! Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von 280 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Gott ist tot, es lebe der Übermensch
überirdischen Hoffnungen reden! […] Verächter des Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete […]. Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit starben auch diese Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt das Furchtbarste und die Eingeweide des Unerforschlichen höher zu achten, als den Sinn der Erde!« (Nietzsche, Zarathustra, II: 279 f.) Was Zarathustra den Menschen zu lehren hat, damit er über sich hinaus den Übermenschen hervorbringe, wird zunächst nur dadurch deutlich, dass dem Menschen unerbittlich der ganze Nihilismus der bisherigen Religionsgeschichte, die ihren bestialischen Höhepunkt im Christentum hat, vor Augen geführt wird. »Das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit.« (Nietzsche, Antichrist, II: 1218) So »bleibt [es] dem Kritiker des Christentums nicht erspart, das Christentum verächtlich zu machen.« (Nietzsche, Antichrist, II: 1225) Dabei geht es nicht so sehr um die Gottesbilder, diese sind schon längst überwunden und vergessen, nein, die mit der Religion und speziell mit der christlichen Religion verbundene verkehrte Moralität hält die Seele der Menschen weiterhin gefangen, selbst da noch, wo der Tod Gottes schon längst akzeptiert ist. Dies ist es, was der »tolle Mensch« schmerzlich einsehen muss und Nietzsche dazu führt, neben Zarathustras Verkündung des Übermenschen auch noch in Jenseits von Gut und Böse (1886) und Die Genealogie der Moral (1887) die Zertrümmerung der nihilistischen, den Menschen kleinmachenden Moral in Angriff zu nehmen: »Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest« (Nietzsche, Nachlass, III: 880) – auch ihn gilt es zu überwinden. Die Frage, die Nietzsche seit Mitte der 80er Jahre umtreibt und zu immer schonungsloserer und bissigerer Polemik anstachelt, ist die Frage nach der »Herkunft unserer moralischen Vorurteile« (Nietzsche, Genealogie, II: 763), die die europäische Kultur zersetzen und uns immer mehr in den Nihilismus, in die Selbstaufgabe des Menschen treiben. Ihm geht es um die Suche nach einem Ausweg, um die Rettung des Menschen vor dem Untergang, auf den Europa und mit ihm die Menschheit zutreibt – oder wie Nietzsche in Ecce homo (1888) sagt: »Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werte ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt«. (Nietzsche, Ecce homo, II: 1125) Ende des vorvorigen Jahrhunderts sah Friedrich Nietzsche sich auf der Schwelle einer untergehenden Epoche abendländischen Nihilismus, der Selbstverleugnung des Menschen in Religion und Moral, 281 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus
hin zum neuen, zum »Willen zur Macht« befreiten Menschen (Nietzsche, Nachlass, III: 633), als dessen Vorboten und Verkünder er seinen Zarathustra versteht. Heute – fast anderthalb Jahrhunderte danach – wissen wir, dass Nietzsche recht hatte, wir haben inzwischen die Schwelle überschritten; aber das Ergebnis ist ein ganz anderes, als es Nietzsche zu sehen glaubte. Er hoffte auf den Übermenschen jenseits von Gut und Böse, der die bestialischen Ideen abendländischer Religion und Moral überwinden werde. So schreibt Nietzsche erläuternd in Jenseits von Gut und Böse (1886): »Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschenwillen zu lehren und große Wagnisse und Gesamt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ›Geschichte‹ hieß, ein Ende zu machen […]: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nötig sein, an deren Bilde sich alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blaß und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor unsern Augen schwebt«. (Nietzsche, Jenseits, II: 661) Er ist gekommen, dieser Übermensch jenseits von Gut und Böse, er bestimmte das 20. Jahrhundert in einer Bestialität, die selbst noch einen Nietzsche erschüttert hätte, und er bereitet durch uns das bestialischste seiner Werke vor: die Auslöschung der Menschheit und die Vernichtung alles Lebens auf Erden. Im Folgenden seien zunächst in einem ersten Abschnitt einige Gedankenstränge aus Nietzsches Genealogie der Moral in Erinnerung gebracht, um daran Nietzsches Liebe zu Jesus von Nazareth zu skizzieren, um schließlich Bruchstücke von kritischen Anfragen vorzulegen. Vorwarnend sei betont, dass es sich hier nicht um eine Nietzsche-Interpretation handelt, sondern – ihn zitierend und beim Wort nehmend – gilt es, Nietzsche polemisch zu nutzen, so wie er polemisch die Tradition abendländischer Philosophie gebrauchte, um dadurch Problemstellungen zuzuspitzen.
9.2 Die Genealogie des christlichen Nihilismus Nach Nietzsche ist gerade der Glaube an die Werte der abendländischen Religion und Moral das Gift, das den Menschen in den Nihilismus, in den Willen zum Nichts treibt. Dieses Gift gilt es in rück282 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Genealogie des christlichen Nihilismus
sichtsloser Kritik in seiner Verkehrung und in seinem Verhängnis bloßzustellen, damit in einer radikalen, erneuten Umwertung aller Werte der Mensch sich selber finde, sich seiner Freiheit und Größe bewusst werde und sich in einem »Ja zum Leben« und im »Willen zur Macht« bejahe. Ursprünglich gab es kein »Gut und Böse«, sondern nur ein »Gut und Schlecht«. Und was in diesem letzteren Sinne »gut« ist, setzte die Eroberer- und Herrenrasse, dieses »Rudel blonder Raubtiere« (Nietzsche, Genealogie, II: 827), die »Arier« fest, die überall von Indien bis Griechenland und Germanien den unterlegenen, schwächeren, »ansässigen Rassen« ihre neue staatliche Ordnung aufdrückten. Gut ist das Edle, Adlige und Vornehme, sind die vermögenden und besitzenden Herren. Es sind dies die rücksichtslosen Kampfestugenden, die ihnen den Sieg bescherten und die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Macht als kameradschaftliche Sitte unter sich praktizieren. Niedrig, gemein und schlecht ist dagegen das pöbelhafte Leben der unterjochten und versklavten Rassen. »[W]er jene ›Guten‹ nur als Feinde kennen lernt, lernt auch nichts als böse Feinde kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andererseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen – sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. […] Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff ›Barbar‹ auf den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind […]. Diese ›Kühnheit‹ vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare […], ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – alles fast sich für die, welche daran litten, in das Bild des ›Barbaren‹, des ›bösen Feindes‹ […] zusammen«. (Nietzsche, Genealogie, II: 785) 283 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus
So entsteht aus der Perspektive der Unterdrückten und Geknechteten, der Barbaren und Sklaven, die erste Umwertung der Werte und die Erfindung der Moral des »Gut und Böse«; indem die Unterdrückten ihre Unterdrücker zu »Barbaren« und »Bösen« erklären und sich selbst, die zu Unrecht Geschundenen, für die »Guten« halten. Aber dies gelingt erst dort, wo diese Umwertung der ursprünglichen Werte sich durchzusetzen vermag. Diese Durchsetzung der Umwertung ermöglicht zu haben, kommt den Priestern zu, diesen »ganz großen Hassern in der Weltgeschichte« und insbesondere den Juden, »jenem priesterlichen Volk«. Die Juden, dieses immer unterjochte Volk, hat »sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt geistiger Rache Genugtuung zu schaffen« gewusst. »Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich ›die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen […], die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!‹« (Nietzsche, Genealogie, II: 779) Aber das Volk der Juden, obwohl es durch die Unterdrückung gestählt in nie zuvor gewesener Weise gelernt hatte, für ihre Rache sich der Waffe des Geistes zu bedienen, hätte allein auf sich gestellt, die Umwertung der Werte nicht durchsetzen können. Erst durch eine unerhörte List, die in ihrer Hintertücke das Trojanische Pferd der Griechen weit übertrumpft, gelang ihnen die Eroberung der Welt durch ihre umgewerteten Werte: Sie opferten einen der ihren am Kreuz, gerade den, der am meisten ihre verdrehten Werte verkörperte, und alle Völker folgten ihm, den sie für einen Feind der Juden hielten. »Das aber ist das Ergebnis: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werte umschaffenden Hasses, desgleichen nie auf Erden dagewesen ist – wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller 284 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Genealogie des christlichen Nihilismus
Arten Liebe – und aus welchen andren Stamme hätte sie auch wachsen können? […] Daß man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit! Die Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone […]. Dieser Jesus von Nazareth, als das bildhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende ›Erlöser‹ – war er nicht gerade Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen jüdischen Werten und Neuerungen des Ideals! Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses ›Erlösers‹, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israels, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft großen Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam-greifenden und vorausrechnenden Rache, daß Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und ans Kreuz schlagen mußte, damit ›alle Welt‹, nämlich alle Gegner Israels unbedenklich gerade an diesem Köder anbeißen konnten? Und wüßte man sich andrerseits, aus allen Raffinement des Geistes heraus, überhaupt noch einen gefährlicheren Köder auszudenken? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des ›heiligen Kreuzes‹ gleich käme, jener schauerlichen Paradoxie eines ›Gottes am Kreuz‹, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile der Menschen?« (Nietzsche, Genealogie, II: 780 f.) Doch nicht genug damit, dass die Umwertung der ursprünglichen Herren-Werte über das Christentum den Menschen die Köpfe durch religiöse Wahnideen vernebelte, auch die Politik der Völker »verjüdelt und verchristlicht« sich immer mehr. Mit der Französischen Revolution und weiterhin mit der sozialistischen Bewegung dringen die Ideale der Demokratie und des Kommunismus als das Ressentiment der Unterdrückten und Niedrigen gegen das Starke und Kräftige immer mehr durch und zersetzen und unterhöhlen den Willen zur Macht. Worin liegt aber nun eigentlich das Gefährliche, das Widerliche, ja das Bestialische dieses verjüdelten, verchristlichten, verpöbelten Europas? »In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam Judäa noch einmal mit der Französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal: Die letzte politische Vornehm285 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus
heit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts, brach unter den volkstümlichen Ressentiment-Instinkten zusammen.« (Nietzsche, Genealogie, II: 796) »Das […] gilt beinahe für ganz Europa: im wesentlichen hat die unterworfene Rasse schließlich daselbst wieder die Überhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und sozialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur ›commune‹ zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Sozialisten Europas jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat – und daß die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist«. (Nietzsche, Genealogie, II: 776) »[D]as Volk hat gesiegt […]; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durcheinandergemengt) […]. Die ›Erlösung‹ des Menschengeschlechts (nämlich von ›den Herren‹) ist auf dem besten Wege; alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends […]. Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam«. (Nietzsche, Genealogie, II: 781) Der »Sklavenaufstand in der Moral« setzt sich überall durch, und das bedeutet, dass nun die Sklavenmoral von »Gut und Böse« dem Menschen nicht nur das Vertrauen in seine eigene Kraft und Stärke genommen und in eine unaustilgbare Schuld und Erbsünde umgelogen hat, sondern dass darüber hinaus durch den »Geniestreich des Christentums«, durch den der Mensch in ein Labyrinth selbstquälerischer Wahnideen einer Schuld gegen Gott eingesperrt wird, aus dem alle Fluchtwege durch die Kreuzesidee vernagelt sind: »Gott selbst, sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist« (Nietzsche, Genealogie, II: 832) – all dies fesselt den Menschen nicht nur für immer an Gott, sondern wird verinnerlicht zu einem »Folterwerkzeug« »seelischer Grausamkeit«, mit dem sich der Mensch unablässig selbstpeinigen muss. Es ist dies »die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat«. (Nietzsche, Genealogie, II: 834) Der Mensch »kommt aus diesem Kreis von [zauberischen] Strichen nicht wieder heraus: […] Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, ›des Sünders‹, für ein paar Jahrtausende nicht los – 286 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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wird man ihn je wieder los? –, wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders […]; überall das böse Gewissen, dies ›grewliche thier‹, mit Luther zu reden; überall die Vergangenheit zurückgekäut, die Tat verdreht […]; überall das zum Lebensinhalt gemachte Mißverstehen-Wollen des Leidens, dessen Umbedeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle; überall die Geißel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung; überall das Sichselber-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaft-lüsternen Gewissens; überall die stumme Qual, die äußerste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach ›Erlösung‹. […] [Der] alte große Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester – er hatte ersichtlich gesiegt, sein Reich war gekommen: schon klagte man nicht mehr gegen den Schmerz, man lechzte nach dem Schmerz; ›mehr Schmerz! mehr Schmerz!‹ so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten jahrhundertelang.« (Nietzsche, Genealogie, II: 881 f.) Es war Schopenhauer, dieser unbestechliche Philosoph, der dem Menschen einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu weisen versuchte; zwar nicht einen Weg, der aus dem Labyrinth heraus ins Leben führte, sondern im Gegenteil, den Weg der totalen Selbstverleugnung und Selbstaufopferung des Menschen, der dem Leben für immer entsagt, aber dadurch auch dem Labyrinth entkommt. Es ist dies »der ›letzte Wille‹ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus.« (Nietzsche, Genealogie, II: 863) So genial und aufrichtig dieser von Schopenhauer aufgewiesene Weg auch ist, er erweist sich doch selbst gezeichnet von der großen Krankheit Europas. Er hebt sich nur aus dem Labyrinth christlicher Wahnideen hinweg, bleibt aber im Irrenhaus der europäischen Mitleids-Moral gefangen, ist deren letzte Gestalt, die das Ende herbeisehnende Wahnidee. So berichtet Nietzsche in der Vorrede Zur Genealogie der Moral von seinem Schwellenerlebnis mit Schopenhauer: »Gerade hier sah ich die große Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? ins Nichts? –, gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückbleibende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend; ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unserer unheimlich gewordenen Kultur, als ihren Umweg zu 287 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus?« (Nietzsche, Genealogie, II: 767) Und doch hat Schopenhauer, ohne es selbst zu intendieren, den eigentlichen und einzigen Weg aus dem Labyrinth herausgewiesen. Er hat den Willen des Menschen wiederentdeckt. Zwar erscheint der Wille bei ihm noch durch die europäische Moral verdreht, als Wille zum Nichts, aber er ist doch Wille des Menschen, ihm allein zugehörig. Wo der Mensch aber sich seines eigenen Willens bewusst wird, zeigt sich ihm der Weg, das ganze labyrinthische und bestialische Wahnwerk um ihn herum zu zerbrechen, der Weg der Befreiung, der erneuten Umwertung aller Werte: der Willen zum Leben, der Willen zum Menschen, der Willen zur Macht, der Macht seines neu gefundenen Lebens, seines neu gefundenen Menschseins. Hierfür bürgt Nietzsches Zarathustra! Zarathustra steht auf der Schwelle, er weiß sich auf der Schwelle, er hält im sich auf sich selbst vertrauenden Willen des Menschen den Schlüssel zum Tor der Zukunft, zu seiner Macht und Herrlichkeit, in der Hand; der Mensch, der nach ihm kommt, mit diesem Schlüssel das Tor öffnet und über die Schwelle schreitet, wird der von der europäischen Religion und Moral befreite neue Herren-Mensch sein, der Übermensch. Zarathustra sieht sich nur als Vorbote des Kommenden – Zarathustra als Künder des Übermenschen. »Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir einen Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!« (Nietzsche, Genealogie, II: 788) Es ist eine Vision, die Nietzsche vor Augen hat und die er in eine abgestumpfte, verlogene Welt hinein verkündet, in eine bürgerliche Welt, die längst nicht mehr an Gott glaubt, sondern allein an ihre eigenen Geschäfte, ihren Investitionen und ihren Finanzspekulationen, deren Moral es ist, über die Ausbeutung anderer und die Zerstörung von Leben hinwegzusehen und zu gehen, aber die öffentlich die christliche Moral der Nächstenliebe und die Erhaltung der Schöpfung predigt. In die Taubheit und Verstocktheit unseres heutigen Marktplatzes ruft – ja schreit – Nietzsche, dieser »tolle Mensch«, verzweifelt seine Vision der Hoffnung hinein: »Aber irgendwann, in 288 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch, der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, […] während sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr […] die Erlösung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen …« (Nietzsche, Genealogie, II: 836 f.)
9.3 Jesus von Nazareth Ein Jahr nach dem Erscheinen der Genealogie der Moral zeichnet Friedrich Nitzsche unter dem Titel Der Anti-Christ. Fluch auf das Christentum (1888) noch eine weitere Genealogie der christlichen Religion und Moral nach, die in manchen Punkten klarer und radikaler ausfällt, in der er aber zugleich bekennt, dass er Jesus von Nazareth aus seinem Anathema auf das Christentum ausnimmt. Nie hat er liebevoller von einem Menschen gesprochen als von Jesus, ihn liebt er, obgleich er ihm keineswegs gänzlich nachfolgt. Daher hat er mit seinem Zarathustra ein neues Evangelium geschaffen, das das zu Ende führt, was Jesus nur »instinktmäßig« und noch nicht in seinem ganzen Gehalt und Umfang zu verkünden vermochte. Doch nicht von Zarathustra ist hier zu handeln, sondern von seinem geliebten Bruder und Vorläufer, Jesus von Nazareth. Friedrich Nietzsche hat David Friedrich Strauß’ Das Leben Jesu (1835/6) genau studiert und – in seiner psychologischen Art – viel über Jesus von Nazareth nachgedacht. Selbst durch die Entstellung und Verstümmelung der vier Evangelien hindurch vermag er Lehre und Wirken von Jesus nachzuempfinden und in ihrer Kernaussage zu erfassen. Es ist wohl diese große Liebe zu Jesus von Nazareth, die Friedrich Nietzsche zum unerbittlichen Feind des Christentums 289 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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macht. Friedrich Nietzsche schreibt in Der Antichrist. Fluch auf das Christentum: »In der ganzen Psychologie des ›Evangeliums‹ fehlt der Begriff Schuld und Strafe […]. Die ›Sünde‹, jedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft – eben das ist die ›frohe Botschaft‹. […] Er hat keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nötig – nicht einmal das Gebet. […] Nicht ›Buße‹, nicht ›Gebet um Vergebung‹ sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist ›Gott‹ ! […] ›Das Reich Gottes ist in euch‹ …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1195, 1191) Da die ersten Christen den Tod Jesu, dieses großen Symbolisten der Innerlichkeit, nicht aushielten, haben sie seine Lehre, sein Leben und seinen Tod umgelogen: in den Sohn Gottes, seine Auferstehung von den Toten, in das Jüngste Gericht, in das jenseitige Reich Gottes. Der größte aller Fälscher war dabei der jüdische Schriftgelehrte Paulus, der seine stoische Weltanschauung zur christlichen Religion umlog und mit dem daher die ganze Misere des Christentums beginnt. Aber ganz konnten die Evangelisten und auch Paulus nicht die »frohe Botschaft« des Jesus von Nazareth verunstalten. Für die, die sich in ihn einfühlen können, schimmert sie auch aus den verunstalteten Schriften hindurch. Jesus ist ein friedfertig Aufbegehrender gegen die erstarrte jüdische Pharisäer-Theologie und im Hinblick auf seine LiebestatBotschaft ein Vorläufer von Nietzsches Zarathustra, aber nicht nur das jüdische Volk, sondern auch seine Jünger haben ihn gänzlich missverstanden, und so wurde nach seinem Tod seine »evangelische Praktik« von seinen jüdischen Aposteln gänzlich in eine christliche Lehre der Schuld und Sühne verunstaltet. »Dieser heilige Anarchist, der das niedere Volk, die Ausgestoßnen und ›Sünder‹, die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief – mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren: Dies brachte ihn ans Kreuz«. (Nietzsche, Antichrist, II: 1189) Ausdrücklich wendet sich Jesus dagegen, dass das jüdische Volk weiterhin auf ihren Messias warten, dass es weiterhin Gesetze in ihrem sinnlosen Wortlaut als Gesetze Gottes einhalten solle. Auch ist das hiesige Leben auf Erden keine Vorstufe zu einem künftigen Leben. Das Richtmaß ihres Handelns sei die Liebe, die aus ihrem Innern erwache und erwachse. Seine »frohe Botschaft« lautete: »Das 290 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Jesus von Nazareth
wahre Leben, das ewige Leben ist gefunden, – es wird nicht verheißen, es ist da, es ist in euch: als Leben in der Liebe, in der Liebe ohne Abzug und Ausschluß, ohne Distanz. Jeder ist das Kind Gottes – Jesus nimmt durchaus nichts für sich allein in Anspruch –, als Kind Gottes ist jeder mit jedem gleich […]. ›Das Reich Gottes ist in euch‹ …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1191) Sowohl seine jüdischen Jünger als auch seine christlichen Nachfolger haben den »ursprünglichen Symbolismus« seiner Sprache mit ihrem Verweis auf »innere Realitäten« gründlich missverstanden. Weder hat Jesus sich je als Gottes eingeborenen Sohn stilisiert noch ein ewiges Leben nach dem Tod versprochen. »Der Begriff ›des Menschen Sohn‹ ist nicht eine konkrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas einzelnes, einmaliges, sondern eine ›ewige‹ Tatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes psychologisches Symbol. Dasselbe gilt noch einmal, und im höchsten Sinne, von dem Gott dieses typischen Symbolisten, vom ›Reich Gottes‹, vom ›Himmelreich‹, von der ›Kindschaft Gottes‹. […] Das ›Reich Gottes‹ ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ›tausend Jahren‹ – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1196 f.) So ist auch Jesu Tod und die hinzuerfundene Auferstehung nicht eine Vertröstung auf ein späteres Leben nach dem Tode, sondern allein das, was es für Jesus war: sein Einstehen für seine Liebesbotschaft bis zum allerletzten Ende: »Dieser ›frohe Botschafter‹ starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um ›die Menschen zu erlösen‹, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: […] – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er verteidigt nicht sein Recht, er tut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus … Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses tun. Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium. ›Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes!‹ – sagt der Schächer. ›Wenn du dies fühlst‹ – antwortet der Erlöser – ›so bist du im Paradiese, so bist du ein Kind Gottes.‹ Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen – ihn lieben …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1197) Während Jesus um ein Leben in Liebe für die Anderen lebte, hat seine »kleine Gemeinde« gerade diese »Hauptsache nicht verstanden«, nicht verstanden, dass es um eine Praktik hier und jetzt auf 291 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Erden geht und nicht um einen »Glauben an die Erlösung durch Christus« nach dem Jetzt. Solange Jesus lebte, konnten sie noch glauben, dass er irgendetwas in der gegenwärtigen Welt verändern werde, dass er so zeigen würde, dass er der Messias sei. Aber als er seinen schmachvollen Tod am Kreuze starb, waren sie völlig verzweifelt und orientierungslos. »An sich konnte Jesus mit seinem Tode nichts wollen, als öffentlich die stärkste Probe, den Beweis seiner Lehre zu geben … Aber seine Jünger waren ferne davon, diesen Tod zu verzeihen«. (Nietzsche, Antichrist, II: 1202) So kamen sie, um ihres Seelenheils willen, zu der »absurden Antwort«, Christus habe sich für die »Vergebung der Sünden« der Menschen »geopfert«, sofern sie an Christus als Sohn Gottes glauben. »Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum! – Jesus hatte ja den Begriff ›Schuld‹ selber abgeschafft – er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte die Einheit von Gott und Mensch als seine ›frohe Botschaft‹ …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1203) Aber es kommt noch schlimmer, als Paulus, der Konvertit Saulus, die weltgeschichtliche Bühne betritt und beginnt, Jesu »frohe Botschaft« von der Liebe in die »allerschlimmste« des Christentums in die »unerbittliche Logik des Hasses« gegen alles Leben umzuformen, indem er Jesu Lehre von der Liebe »nicht ins Leben, sondern ins ›Jenseits‹ verlegt – ins Nichts« (Nietzsche, Antichrist, II: 1205). Da »erschien Paulus … Paulus, der Fleisch-, der Genie-gewordne Tschandala-Haß gegen Rom, gegen ›die Welt‹, der Jude, der ewige Jude par excellence … Was er erriet, das war, wie man mit Hilfe der kleinen sektiererischen Christen-Bewegung abseits des Judentums einen ›Weltbrand‹ entzünden könne, wie man mit dem Symbol ›Gott am Kreuze‹ alles Unten-Liegende, alles Heimlich-Aufrührerische, die ganze Erbschaft anarchistischer Umtriebe im Reich, zu einer ungeheuren Macht aufsummieren könne. [… E]r begriff, daß er den Unsterblichkeits-Glauben nötig hatte, um ›die Welt‹ zu entwerten, daß der Begriff ›Hölle‹ über Rom noch Herr wird – daß man mit dem ›Jenseits‹ das Leben tötet …« (Nietzsche, Antichrist, II: 1230) Paulus hat diese verdrehte christliche Auffassung, »diese Unzucht von Auffassung mit jener rabbinerhaften Frechheit, die ihn in allen Stücken auszeichnet, dahin logisiert: ›wenn Christus nicht auf292 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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erstanden ist von den Toten, so ist unser Glaube eitel‹. – Und mit einem Male wurde aus dem Evangelium die verächtlichste aller unerfüllbaren Versprechungen, die unverschämte Lehre von der Personal-Unsterblichkeit … Paulus selbst lehrte sie noch als Lohn!« (Nietzsche, Antichrist, II: 1203) Und tatsächlich hat diese verdrehte christliche Auffassung nicht nur die »antike Kultur« um ihre »Ernte« gebracht, sondern auch die »maurische Kultur-Welt Spaniens« zerschlagen. Und selbst noch, nachdem die europäische Aufklärung längst schon Gottes Tod verkündet hat, knebeln die christliche Moral mit dem Schuld-Gedanken – »alles was leidet, alles was am Kreuz hängt, ist göttlich« (Nietzsche, Antichrist, II: 1217) – den Demokratismus, das »Sozialisten-Gesindel« und die »Tschandala-Apostel« der Gegenwart. Doch das Gegenwort gegen das Christentum, diesem »größten Unglück der Menschheit«, ist inzwischen von Zarathustra gesprochen: der Übermensch der Zukunft, mit seinem »Jasagen zum Leben« und mit seinem »Wille zur Macht«, mit seiner »großen Politik« wird kommen. Und so werden die kommenden Jahrhunderte den Übermenschen bringen, der alle jene kriecherischen Werte hinter sich lässt und ohne Gott, ohne Jenseits und Unsterblichkeit, das Heil des Menschen leben wird. »Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des Titels, mit dem dies Zukunfts-Evangelium benannt sein will. ›Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte‹ – mit dieser Formel ist eine Gegenbewegung zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewegung, welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings, nur auf ihn und aus ihm kommen kann. Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr notwendig? Weil unsre bisherigen Werte selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilismus die zu Ende gedachte Logik unsrer großen Werte und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Wert dieser ›Werte‹ war … Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig …« (Nietzsche, Aus dem Nachlass, III: 634 f.)
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9.4 Kritische Erwägungen Es hat begonnen dieses »furchtbarste [und] fragwürdigste … aller Schauspiele«, wir stehen als Akteure mitten in ihm drinnen, doch als das »hoffnungsreichste« vermögen wir es kaum noch zu bezeichnen. Es kündigte sich – noch etwas verhalten – auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs an, durchzog in Gelbkreuz-Gaswolken die Schützengräben vor Verdun – Entsetzen, Lähmung und Tod hinter sich lassend. Aber wahrhaft zeigte sich die »große Politik« des Willens zur Macht jenseits von Gut und Böse erst im Toben der wiedererwachten »blonden Bestie«. Die unsäglichen Gräuel der Massenvernichtung von Menschen in den KZs, in den Gaskammern von Auschwitz, Treblinka, Majdanek haben die Unmenschlichkeit, zu der Menschen fähig sind, in nie zuvor dagewesener Bestialität offenbart. Doch vergessen wir daneben nicht die Archipele GULAG, Vietnam und Kambodscha sowie die vielen Folter- und Todeskammern rund um die Welt bis zum heutigen Tag. Was uns aber noch bevorsteht, wurde uns 1945 in Hiroshima und Nagasaki vordemonstriert. Jeder von uns kennt die Folgen eines heutigen Atomkriegs, er wird wenig zurücklassen von der Menschheit, vom Leben auf der Erde – wobei nicht alle von uns und unseren Nachgeborenen das Glück eines raschen Todes haben werden; auf die meisten wartet ein unendlich leidvolles, hoffnungsloses Zu-TodeSiechen. Aber selbst wenn die politische Klugheit der Mächtigen einen Atomkrieg in den nächsten Jahrzehnten, gar Jahrhunderten noch zu verhindern versteht, schon allein das Fortwirken unserer wertökonomisch bestimmten industriellen Produktionsweise und ihre unaufhaltsame Expansion zerstört mit ihren Giften – schleichender zwar, aber trotzdem unaufhaltsam und unumkehrbar – die Biosphäre, also die Menschen und das irdische Leben. Seveso, Harrisburgh, Bhopal, Tschernobyl und Fukushima waren Warnungen, aber längst nicht kräftig genug, um die Menschen zur sittlichen Umkehr zu bringen. Nur noch Wahnsinnige, wahnsinnig Verzweifelte glauben an die »hoffnungsreichste« Heraufkunft des Übermenschen – technisch biogenetisch erzeugt oder durch einen Glücksfall aus der Katastrophe geboren. Einen dieser Hoffenden lässt Mircea Eliade in seinem Roman Der Hundertjährige provokativ Folgendes sagen: »Der wahre Sinn der Kernkatastrophe kann nur in der Mutation der mensch294 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Kritische Erwägungen
lichen Spezies, im Erscheinen des Übermenschen liegen. Ich weiß, die Atomkriege werden Völker und Zivilisationen zerstören und einen Teil unseres Planeten in Wüste verwandeln. Dies ist jedoch der Preis, der bezahlt werden muß, damit wir die Vergangenheit radikal liquidieren und die Mutation, das heißt das Auftauchen einer dem heutigen Menschen überlegenen Spezies erzwingen. Nur eine in wenigen Stunden oder wenigen Minuten entladene enorme Elektrizitätsmenge wird die psychische und geistige Struktur des unglücklichen homo sapiens, der bisher die Geschichte beherrschte, verändern können.« (Eliade, Der Hundertjährige, 1978) Nun darf das bisher Gesagte nicht in der Weise missverstanden werden, als solle Nietzsche für die Bestialität des 20. Jahrhunderts und für das selbstfabrizierte Ende der Menschheit unmittelbar verantwortlich gemacht werden; denn was Nietzsche mit dem Willen zur Macht und der Heraufkunft des Übermenschen intendiert, ist das genaue Gegenteil dessen, was daraus in der Nazi-Bewegung und von den Technik-Gläubigen des Kapitalismus abgeleitet wurde – dies beweist seine empathische Sicht auf Jesus von Nazareth. Zwar ist Friedrich Nietzsche ohne Zweifel ein Vordenker des Faschismus, aber keineswegs darf man ihn als Vorläufer des nationalsozialistischen Antisemitismus diffamieren. Hat er sich doch selber unzweideutig gegen die kleinbürgerlichen, verlogenen »Antisemiten« seiner Zeit ausgesprochen, »welche heute ihre Augen christlich-biedermännisch verdrehen und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels … alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen versuchen.« Ihre »Art Schwindel-Geisterei« und ihre »nationale Einklemmung und Eitelkeit« mit ihrem »Deutschland, Deutschland über alles«-Gebrüll war ihm zutiefst zuwider. (Nietzsche, Genealogie, II: 896) Noch entschiedener bekämpfte Nietzsche bereits vor über einem Jahrhundert die Strategen und Manager, Techniker und Ingenieure des industriellen Fortschritts, die glauben, den »Übermenschen« produzieren zu können und die dabei gleichzeitig die Zerstörung der Natur, die ihre eigene Lebensgrundlage ist, heraufbeschwören: »Hybris ist heute unsere ganze Stellung zur Natur, unsere NaturVergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit.« (Nietzsche, Genealogie, II: 854) Dem strikt entgegen meint ja der Wille zur Macht bei Nietzsche die Bejahung der natürlichen Lebensgesetzlichkeit und die bewusste 295 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus
Einstimmung des Menschen in dieses kraftvolle Gesetz der Lebenserhaltung. Und der Übermensch ist für Nietzsche der Gott-lose Mensch, der keinen Halt aus dem Jenseits mehr braucht, der ganz zu sich als Mensch einbezogen in die Bejahung des Lebens gefunden hat. Was aber Nietzsche nicht erkennt, ist, dass wenn man die Moralität und das Mitleid ganz und gar auszuradieren versucht, ohne eine aus der praktischen Vernunft begründete Sittlichkeit dagegen zu setzen, sich jedwede Bewegung »jenseits von Gut und Böse« sich als die Heraufkunft des Übermenschen zu erklären vermag. Was wir brauchen, ist nicht ein »Philosophieren mit dem Hammer«, die Moralität und Religion zertrümmert, sondern eine Kritik der Moralität und Religion, die uns zu einer höheren Moralität und Religiosität führt. 3
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Siehe hierzu in Fortsetzung dieser Gedanken im »Epilog«.
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10. Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus 1
Martin Heideggers Philosophie steht in ihrer Betonung der Existenz in gewisser Nachfolge von Schelling, die er allerdings – entschiedener noch gegen Hegel gewendet – von Anfang an anti–idealistisch radikalisiert. So wie Schelling in seinen frühen Anfängen das »Bin« im »Ich bin« unterstreicht, betont auch Heidegger in Sein und Zeit (1927) das »Dasein«, das wir je selber sind. Und ähnlich wie Schelling ab 1801 und noch entschiedener ab den Weltalter-Entwürfen (ab 1811) die Vorrangigkeit der Wirklichkeit ins Zentrum seines Denkens rückt, so wendet sich auch Heidegger seit der Kehre seines Denkens in der Mitte der 1930 Jahre ganz und gar dem Seyn selbst zu. Zugleich darf aber nicht der Unterschied übersehen werden, der darin liegt, dass Schelling in all seinen Phasen des Denkens an der Einheit der Doppelpoligkeit von Ich und Bin oder von Vernunft und Wirklichkeit festhält, während Heidegger im radikalen Widerspruch zu Hegels »Übergreifen« des Geistes über sich und sein Anderes, das Sein, ein ebensolches Übergreifen des Seyns über sich und die Wahrheit, den Sinn, entgegenzuhalten versucht. Während Schelling durch sein Festhalten an der Problematik der Einheit in der Differenz und der Differenz in der Einheit unaufgebbar der Gottesproblematik verbunden bleibt, wirft Heidegger in seinen Schelling-Vorlesungen 2 Schelling diese Rückbindung als Onto-Theologie vor, die es philosoMit Rückbezügen auf die Studien: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Dasein als ›je meines‹ oder Existenz als Aufgerufensein«, in: Johannes Weiß (Hg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001: 197–217, wieder aufgenommen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber, Freiburg/München 2006: 197–216; sowie Ders. »Martin Heideggers Bedenken wider den Humanismus« erschienen in: Peter Muhr / Paul Feyerabend / Cornelia Wegeler (Hg.), Philosophie, Psychoanalyse, Emigration. Festschrift für Kurt Rudolf Fischer zum 70. Geburtstag, Wien 1992: 358–376, wieder aufgenommen in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie, Würzburg 1999: 168 ff. 2 Martin Heidegger, Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Frei1
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Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
phisch zu überwinden gilt. In dieser Hinsicht ist Heideggers Denken die erklärte Vollendung von Friedrich Nietzsches Versuchs eines völlig gottfreien Denkens, das sich ganz und allein aus dem Seyn schlechthin versteht. Die beiden Etappen im Denken Heideggers sollen zunächst in zwei Skizzen (1) an seinem ersten Hauptwerk Sein und Zeit (1927) und (2) an seiner ersten öffentlichen Kundgabe seiner Philosophie nach der Kehre in dem Brief über den Humanismus (1946) umrissen werden. 3 Nach einem daran anschließenden Exkurs zu einem Spruch von Hölderlin folgen in Konfrontation zu Bloch einige kritische Einwände gegen Heideggers Nietzsche vollendende gott-lose Philosophie.
10.1 Heideggers »Sein und Zeit« Heideggers erster Grundlegungsversuch Sein und Zeit (1927) überwindet von Anbeginn an Husserls transzendental-phänomenologische Bewusstseinsanalyse auf eine existenzial-ontologische Daseinsanalyse hin, bleibt aber in ihrem Fragehorizont noch ganz in der Selbstbezogenheit der Phänomenologie befangen. Sein und Zeit ist – wie Heidegger selber betont – der Weg und die Hinführung zur Frage nach dem »Sinn von Sein«. Einmal bei dieser Frage nach dem Sein selbst angelangt, bedarf es – wie die Schriften Heideggers nach der Kehre zeigen – dieser phänomenologischen Wegbahnung nicht mehr. Die Parallele zu Hegels Phänomenologie des Geistes liegt auf der Hand, auch sie ist eine Leiter zum absoluten System philosophischen Wissens, die einmal erklommen, ihre Schuldigkeit getan hat. Nur dass Heideggers Sein und Zeit in diametralem Gegensatz zu Hegels Phänomenologie des Geistes nicht zu einem System des Geistes hinführen will und soll, sondern zur schlichten Wahrheit des Seins, die nichts anderes ist als das zeitliche Ereignen der Existenz. Der Weg zur Frage nach dem Sinn von Sein kann existenzial-phänomenologisch nur erschlossen werden durch eine Auslegung des Seienden, das wir je selber sind. Dieses »Seiende, das wir, die Fragenden, je selbst sind«, heit (1809), (1936/1941) sowie Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Schelling) (1941), GA 49. 3 Das zweite Hauptwerk von Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (ab 1936) erschien erst aus dem Nachlass GA 65 (1989).
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Heideggers »Sein und Zeit«
nennt Heidegger »Dasein«, und er expliziert weiterhin die Aufgabe des Wegs der Daseinsanalyse als das »Durchsichtigmachen eines Seienden – des fragenden – in seinem Sein«. (Heidegger, Sein und Zeit: 7) Dieses Durchsichtigmachen des Daseins, das wir je selber sind, erfolgt in zwei Schritten: 1. der vorbereitenden Analytik des Daseins in seiner Alltäglichkeit und 2. der Erschließung des Daseins in der Eigentlichkeit seiner Zeitlichkeit, von der her dann auch der Horizont der Geschichtlichkeit erhellt wird. Die Konturen dieser beiden Schritte gilt es nun in Umrissen deutlich zu machen.
10.1.1 Das Dasein in seiner Alltäglichkeit Mit Heidegger verstehen wir im Folgenden – gegen unseren eigenen Sprachgebrauch – unter »Dasein« das Seiende, das wir je selber sind. »Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines«. Darin liegt der »Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden«. (Heidegger, Sein und Zeit: 42) Dies darf nicht bloß als existenzielle Aussage gefasst werden, die jeder im »dies bin ich« zu sich selber spricht, sondern ist eine existenzial-ontologische Wesensaussage, die jedes Dasein, das sich nach seinem Sein befragt, betrifft, denn das »›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz«. (Heidegger, Sein und Zeit: 42) Nun darf diese erste existenziale Auslegung des Daseins als Jemeinigkeit nicht ausgrenzend gegen die Welt und die Anderen verstanden werden, sondern ganz im Gegenteil, sie deckt die phänomenologische Analyse das »In-der-Welt-sein als Grundverfassung des Daseins« auf, denn es kann kein Dasein allein für sich geben, vielmehr findet es sich immer schon in die Welt geworfen vor. Das In-der-Welt-sein des Daseins in seiner lebensweltlichen Alltäglichkeit kann phänomenologisch zunächst zweifach gekennzeichnet werden: Zum einen als Beziehung des Daseins zur Umwelt, die Heidegger als Besorgen umschreibt; dieses nimmt und nutzt das innerweltlich Seiende als Zuhandenes, dazu muss es jedoch jenes bereits als Vorhandenes vorfinden und erkennen. Zum anderen trifft das Dasein in seinem In-der-Welt-sein nicht nur auf innerweltlich Vorhandenes und Zuhandenes, sondern auch auf mitseiendes Dasein, und zwar nicht nur nebenher, sondern »gleich ursprünglich sind, das Mitsein und Mitdasein« (Heidegger, 299 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
Sein und Zeit: 114). Die Beziehung zum Mitdasein Anderer wird von Heidegger als Fürsorge gekennzeichnet: »Als Mitsein ›ist‹ daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer.« (Heidegger, Sein und Zeit: 123) Dies ist nicht als eine ethische Aussage zu verstehen, sondern auch hier als eine existenzial-ontologische: »Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger, irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend.« (Heidegger, Sein und Zeit: 125) Einbezogen in diese phänomenologische Auslegung des In-derWelt-seins des Daseins in seiner Alltäglichkeit können nun die Weisen des In-Seins, d. h. die Weisen der Erschlossenheit des Daseins in der Welt aufgehellt werden. Es sind dies die Befindlichkeit, das Verstehen und die Rede bzw. die Sprache. Auch hier handelt es sich nicht um Modi, die das Dasein allein auf sich selbst bezogen von der Welt lösen, sondern gerade umgekehrt, um solche, die die »Geworfenheit des Daseins in die Welt« erschließen. In jeder Befindlichkeit – wie Heidegger beispielhaft an der Stimmung der Furcht darlegt – wird die Geworfenheit des Daseins in seiner Angewiesenheit auf Welt und Mitsein »vor sich selbst gebracht« (Heidegger, Sein und Zeit: 135) und damit erschlossen. Doch gleich ursprünglich ist auch das Verstehen, was nicht ein theoretisch distanzierendes Erkennen meint, sondern wie Heidegger ausführt: »Verstehen ist das existenziale Sein des eigenen Seinkönnens des Daseins selbst«. (Heidegger, Sein und Zeit: 144) Es handelt sich also hierbei immer um ein Sich-Verstehen des Daseins als in die Welt geworfenes, dem darin die Möglichkeit entwerfenden Seinkönnens aufgeht. Der dritte Modus der Erschlossenheit des Daseins in der Welt ist der der Rede oder der Sprache. »Die Rede ist existenzial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmäßig artikuliert, die Seinsart des geworfenen, auf die ›Welt‹ angewiesenen In-derWelt-seins hat.« (Heidegger, Sein und Zeit: 161) Rede und Sprache sind auf das Mitsein der Anderen verwiesen. »Redend spricht sich Dasein aus« und es wird ihm die Mitbefindlichkeit und das Mitverstehen der Anderen hörend offenbar. »Das Mitsein wird in der Rede ›ausdrücklich‹ geteilt.« (Heidegger, Sein und Zeit: 162) Aus all diesen Weisen der Erschlossenheit des Daseins in der Welt geht nun hervor, dass das Wesen des Seins des Daseins die Sorge ist. Dies überrascht nicht, hat Heidegger doch von Anfang an das Dasein, das wir je selber sind, als das befragt und verstanden, »dem es als Inder-Welt-sein um es selbst geht«. (Heidegger, Sein und Zeit: 143) 300 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers »Sein und Zeit«
Aber die Sorge als Sein des Daseins kann sich auch grundlegend verfehlen. Gerade weil die Erschlossenheit des Daseins im letzten über die Rede und Sprache vermittelt ist, können die Weisen der Erschlossenheit im Gerede, in der Neugier und in der Zweideutigkeit des Man einer äußerlichen Öffentlichkeit verfallen, oder genauer gesagt: das Dasein steht immer schon im Verfängnis dieses Verfallenseins. So verliert sich das Dasein im Gerede an die »Herrschaft der öffentlichen Angelegenheiten« (Heidegger, Sein und Zeit: 169), überlässt sich in der Neugier an die äußerliche Vorhandenheit der Welt (Heidegger, Sein und Zeit: 172) und ersetzt das entschlossene Dasein durch ein zweideutiges »Vorweg-bereden und neugieriges Ahnen« (Heidegger, Sein und Zeit: 174) öffentlichen Dafürhaltens. So findet sich das Dasein »zuerst und zumeist« in der »Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit« (Heidegger, Sein und Zeit: 178) vor. Aus dieser Nichtigkeit heraus versucht das Dasein, verzweiflungsvoll zur Eigentlichkeit, dem Sinn, seiner eigensten Existenz vorzudringen, die ihm in der Grundbefindlichkeit der Angst begegnet. Die Angst unterscheidet sich von der Befindlichkeit der Furcht, die sich vor diesem oder jenem innerweltlichen Zu- und Vorhandenen fürchtet. Die Angst bezieht sich auf nichts Innerweltliches, sondern ängstigt sich vor und für die eigene Existenz des Daseins. Wovor die Angst sich ängstigt und warum die Angst sich ängstigt, ist dasselbe In-die-Existenz-Geworfensein des Daseins selbst. Vor dieser Angst versinkt alles innerweltliche Besorgen und alle auf Andere bezogene Fürsorge als Nichtiges, und sie lässt das Dasein in seinem vereinzelten Sein in der Welt zurück. »Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ›solus ipse‹.« (Heidegger, Sein und Zeit: 188) Hier ist der »existenziale Solipsismus« – von dem Heidegger spricht – erreicht, aus dem das Dasein zur Eigentlichkeit seiner Existenz zu finden vermag. Doch um Missverständnissen vorzubeugen, unterstreicht Heidegger ausdrücklich: »Dieser existenziale ›Solipsismus‹ versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, daß er das Dasein gerade in einem extremen Sinne vor […] sich selbst als In-der-Welt-sein bringt.« (Heidegger, Sein und Zeit: 188) Doch meint hier Welt kein bestimmtes innerweltliches Seiendes mehr, sondern das bloße In-die-Existenz-Geworfensein des Daseins selbst. Hier nun gründet die eigentliche Sorge des Daseins um sein Sein, nicht im Besorgen von diesem oder jenem Zeug, nicht in der 301 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Fürsorge für diesen oder jenen Anderen. Die eigentliche Sorge gilt dem Sein des Daseins in der Erschlossenheit seiner Wahrheit, der Wahrheit seiner Existenz.
10.1.2 Dasein und Zeitlichkeit Einmal hier angelangt, gilt es, die existenzial-ontologische Analyse nochmals zu beginnen und erneut zu durchschreiten; diesmal nicht mehr als Phänomenologie der Alltäglichkeit, sondern als Durchdringen und Aufhellen des Daseins aus der »Eigentlichkeit« seiner je eigenen Existenz. Sie wird nach Heidegger erschlossen am Sein zum Tode, am Bezeugen des Seinkönnens im Gewissen und an der Zeitlichkeit als dem Sinn der Sorge. Der Tod ist ontisch niemals an einem selbst erfahrbar, sondern immer nur an Anderen, und doch ist dem Dasein sein je eigener Tod gewiss, dies liegt in der Jemeinigkeit des Daseins begründet. »Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. […] So enthüllt sich der Tod als die eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit.« (Heidegger, Sein und Zeit: 250) Erst dort, wo das Dasein vor dieser eigensten Möglichkeit seines Todes nicht flieht in die Geschäftigkeit alltäglichen Besorgens und alltäglicher Fürsorge, sondern im Vorlaufen in diese eigenste Möglichkeit eintritt, wird es als Sein zum Tode frei zur Unüberholbarkeit seiner schlechthin vereinzelten eigensten Existenz. »Das Vorlaufen enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit […], es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen von der Illusion des Man gelösten […], ihrer selbst gewissen und sich ängstigenden Freiheit zum Tode.« (Heidegger, Sein und Zeit: 266) Im Sein zum Tode liegt der Ermöglichungsgrund des eigensten Selbstseinkönnens des Daseins, aber erst im Gewissen wird das Dasein in sein Selbstseinkönnen gerufen, und wo es auf die Stimme seines Gewissens hört, vermag es mit Entschlossenheit, selbst zu sein. Das Gewissen, so hebt Heidegger ausdrücklich hervor, ist nicht erst ein moralisches oder sittliches Phänomen, sondern es reicht tiefer, in den existentialen Kern des Daseins hinein. »Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst.« (Heidegger, Sein und Zeit: 275) Im Gewissen ruft das Dasein, das immer schon Dasein ist, dem Dasein zu, eigentliches Dasein zu sein. Das Dasein bedarf dieses Rufes, denn Im-immer302 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers »Sein und Zeit«
schon-Da-sein liegt das grundlegende Schuldigsein des Daseins begründet, das sich in die uneigentlichen Formen des Verloren- und Verfallenseins an das Man im Gerede, in der Neugier, in der Zweideutigkeit manifestiert. »Das Dasein ist als solches schuldig, wenn anders die formale existenziale Bestimmtheit der Schuld als Grundsein zurecht besteht.« (Heidegger, Sein und Zeit: 285) Die Stimme des Gewissens ruft das Dasein in die Entschlossenheit zu sich selbst. Nicht, dass es dadurch sein Schuldigsein überwinden könnte, denn es ist schuldig durch seine Geworfenheit in sein Inder-Welt-sein. Niemals kann das Dasein hinter seine Geworfenheit, die es nicht selbst veranlasst hat und die es als Schuldigsein hinnehmen muss, zurück. Die Entschlossenheit ist also das eigentliche Annehmen und Aufsichnehmen des Schuldigseins des Daseins in seinem entschiedenen Seinkönnen. »Die vorlaufende Entschlossenheit versteht erst das Schuldigseinkönnen eigentlich und ganz, das heißt ursprünglich. […] Mit dem Phänomen der Entschlossenheit wurden wir vor die ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt.« (Heidegger, Sein und Zeit: 306 f.) Die ganze Wahrheit der Existenz, des Seins des Daseins, offenbart sich in ihrer Zeitlichkeit, deren Wesen in der Einheit der drei Ekstasen – Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart – liegt. Wir dürfen hier die Zeitdimensionen Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart weder im alltagssprachlichen Sinne innerweltlich nehmen, aber noch weniger aus einzelwissenschaftlichen Zusammenhängen ableiten, sondern nur so, wie sie sich als Zeitigung des Daseins explizieren: »Das die ausgezeichnete Möglichkeit [des Seins zum Tode] aushaltende, in ihr sich auf sich Zukommen-lassen ist das ursprüngliche Phänomen der Zukunft […]. ›Zukunft‹ meint hier nicht ein Jetzt, das, noch nicht ›wirklich‹ geworden, einmal erst sein wird, sondern die Zukunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt. Das Vorlaufen macht das Dasein eigentlich zukünftig […]. Die vorlaufende Entschlossenheit versteht das Dasein in seinem wesenhaften Schuldigsein. Dieses Verstehen besagt, das Schuldigsein existierend übernehmen, als geworfener Grund der Nichtigkeit sein. Übernahme der Geworfenheit aber bedeutet, das Dasein in dem, wie es je schon war, eigentlich sein […]. Die vorlaufende Entschlossenheit erschließt die jeweilige Situation des Da so, daß die Existenz handelnd das faktisch umweltlich Zuhandene umsichtig besorgt. […] Nur als Gegenwart im Sinne des Gegenwärtigen kann die Entschlossenheit sein, was sie
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ist: das unverstellte Begegnenlassen dessen, was sie handelnd ergreift.« (Heidegger, Sein und Zeit: 325 f.) Die drei Ekstasen haben bei Heidegger keinen anderen innerweltlichen Bezug als den der Zeitigung aus dem und für das Dasein, so kann Heidegger sagen: »Nur sofern Dasein überhaupt ist als ich bin-gewesen, kann es zukünftig auf sich selbst so zukommen, daß es zurück-kommt. Eigentlich zukünftig ist das Dasein eigentlich gewesen.« (Heidegger, Sein und Zeit: 326) Mit dem Sein zum Tode, der Entschlossenheit aus dem Gewissensruf und der Zeitlichkeit als dem Sinn der Sorge des Daseins um sich selbst, haben wir das eigentliche Dasein in der Wahrheit seiner Existenz entborgen, und nun gilt es, den Weg zurück anzutreten von der Zeitigung der Zeitlichkeit zur Alltäglichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins in der Welt. Das alltägliche In-der-Welt-sein und die Eigentlichkeit der Existenz sind keineswegs getrennte Weisen des Daseins, vielmehr tritt auch das Dasein als entschlossenes Seinkönnen nicht aus dem Besorgen und der Fürsorge heraus, es gibt ihnen nur einen andern, aus der Wahrheit seiner Existenz, der Sorge des Daseins erschlossenen Sinn. »Das Dasein existiert umwillen eines Seinkönnens seiner selbst. […] Das Sein des Daseins bestimmten wir als Sorge. […] Darin liegt: auf dem Grunde der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört das Seiende, das je sein Da ist, so etwas wie erschlossene Welt. […] Die Welt ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern zeitigt sich in der Zeitlichkeit.« (Heidegger, Sein und Zeit: 364 f.) Solange das Dasein sich nur in der Verfallenheit an das Man erfährt, bleibt es verloren an die »nichtigen Möglichkeiten« des geschäftigen Besorgens und der geschäftigen Fürsorge der Alltäglichkeit. Erst, wo das Dasein sich aus der Sorge um die Wahrheit seiner Existenz, aus dem Sein zum Tode, aus dem Gewissensruf und aus der Zeitlichkeit seiner Sorge erfasst, wird es frei entschlossen, für seine Existenz einzustehen und von daher – nicht mehr nur alltäglich – das Erforderliche zu besorgen und fürsorgend zu sein für Andere. Was das Erforderliche des zu Besorgenden ist und worin die Fürsorge für den Anderen besteht, kann in keiner Weise benannt werden, das hat das Dasein je in der Situation seines In-der-Welt-seins im Augenblick der Entschlossenheit seiner Sorge zu entscheiden; aus der Wahrheit seiner Existenz wird es dann immer schon bestimmen können, was es besorgend und fürsorgend zu vollbringen hat. 304 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers »Sein und Zeit«
10.1.3 Geschichtlichkeit Damit kommen wir nun zur abschließenden Perspektive der gesamten existenzial-ontologischen Daseinsanalyse: zur Geschichtlichkeit. Zunächst unterstreicht Heidegger nochmals, dass die bisherige Daseinsanalyse weder konkrete Handlungsperspektiven aufzuzeigen beabsichtigt, sondern nur die Möglichkeit eigentlichen Seinkönnens zu erschließen vermag, denn aus dem Sein zum Tode, aus dem Ruf des Gewissens und der Zeitlichkeit der Sorge geht nur hervor, dass und inwiefern das Dasein zur Wahrheit seiner Existenz zu gelangen vermag: »Das vorlaufende Sichentwerfen auf die unüberholbare Möglichkeit der Existenz, den Tod, verbürgt nur die Ganzheit und Eigentlichkeit der Entschlossenheit. Die faktisch erschlossenen Möglichkeiten der Existenz sind aber doch nicht dem Tod zu entnehmen.« (Heidegger, Sein und Zeit: 383) Woher aber kommen dann dem Dasein, dem es um die Wahrheit seiner Existenz geht, die Konkretionen seiner Entschlossenheit? Doch nicht wieder aus der Verfallenheit an das Man, der Geschäftigkeit des Besorgens und der alltäglichen Fürsorge, aber auch nicht aus dem bloßen Einfall der Entschlossenheit im Augenblick der jeweiligen Situation. Es kommt ihr aus der Geschichte, und zwar deshalb, weil das Dasein in der Zeitigung seiner Zeitlichkeit notwendig ein geschichtliches In-der-Welt-sein ist. Nun stoßen wir auf das ganz und gar Verwunderliche der Daseinsanalyse Heideggers. Heidegger, der doch den Vorrang der Zukunft bei den Ekstasen der Zeitlichkeit unterstreicht, bestimmt die Geschichte völlig zukunftslos allein als Vergangenheit: »Geschichte ist das in der Zeit sich begebende spezifische Geschehen des existierenden Daseins, so zwar, daß das im Miteinandersein ›vergangene‹ und zugleich ›überlieferte‹ und fortwirkende Geschehen im betonten Sinne als Geschichte gilt.« (Heidegger, Sein und Zeit: 379) Nun knüpft Heidegger zwar keineswegs an dieses vulgäre Verständnis von Geschichte als Historie unmittelbar an, aber indirekt taucht dieses Verständnis dort, wo er die Grundverfassung der Geschichtlichkeit bestimmt, doch wieder auf: »Die Entschlossenheit, in der das Dasein auf sich selbst zurückkommt, erschließt die jeweiligen faktischen Möglichkeiten eigentlichen Existierens aus dem Erbe, das sie als geworfene übernimmt […]. Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen exis305 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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tiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als Geschick. Damit bezeichnen wir das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes […]. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschicks erst frei. […] Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner Generation, macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus.« (Heidegger, Sein und Zeit: 383 f.) Die Konkretionen kommen dem Dasein allein aus dem Erbe seines Volkes, weil sein In-der-Welt-sein wesenhaft geschichtliches Mitsein und faktisch gewordenes Geschick ist. Dies ist Heidegger nicht nur eine existentielle, oder wie er sagt, ontische Bestimmung, sondern eine existenzial-ontologische Wesensbestimmung des Daseins: »Nur Seiendes, das wesenhaft in seinem Sein zukünftig ist, so daß es frei für seinen Tod an ihm zerschellend auf sein faktisches Da sich zurückwerfen lassen kann, d. h. nur Seiendes, das als zukünftiges gleichursprünglich gewesend ist, kann sich selbst die ererbte Möglichkeit überliefern, die eigene Geworfenheit übernehmen und augenblicklich sein für ›seine Zeit‹. Nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, macht so etwas wie Schicksal, d. h. eigentliche Geschichtlichkeit möglich.« (Heidegger, Sein und Zeit: 385) Dass in dieser Gewinnung von existenzieller Konkretion aus der Rückbindung des Daseins an das Erbe des eigenen Volkes Heideggers Anfälligkeit für den Nationalsozialismus wurzeln, braucht hier nicht weiter breitgetreten zu werden. Wir werden abschließend nochmals auf das hier offenbar werdende Grundproblem zurückkommen müssen, dass es in Heideggers Daseinsanalyse keine andere Maßinstanz für die Entschlossenheit des Daseins gibt als die schicksalhafte Bindung an das Erbe seines Volkes. Heideggers Behauptung der Endlichkeit des Daseins und der Immanenz der Zeit ist in trotziger Entschlossenheit, die Schuld der Geworfenheit auf sich zu nehmen, dabei ist Heidegger ängstlich darum bemüht, Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum der Geworfenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Diese entschieden a-theistische Position war für viele sicherlich erleichternd und erfrischend, aber sie wird in Sein und Zeit durch die Ausgrenzung zentraler existenzphilosophischer Fragestellungen erkauft. 4 Dass unsere existentielle Geworfenheit in die Geschichte auch ganz anders akzentuiert werden kann, wird in den Kapiteln 12. »Ehrenbergs Weg vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor« und 13. »Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes« dargelegt.
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Heidegger Bedenken wider den Humanismus
10.2 Heidegger Bedenken wider den Humanismus 10.2.1Der Anlass Wir schreiben das Jahr 1946. Nach den dunklen Jahren des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust erlebt die beschädigte europäische Philosophie in Paris ihre Auferstehung. Die Suche nach neuen Orientierungen und die hitzig geführten öffentlichen Diskussionen bereiten einen fruchtbaren Boden, auf dem neue Impulse aufgehen und von dort aus nach ganz Europa auszustrahlen beginnen. Damals waren es vor allem die drei deutschen H’s: Hegel, Husserl und Heidegger – aber auch Kierkegaard, Marx und Jaspers sollten nicht vergessen werden –, die in den verschiedensten Zirkeln rezipiert, diskutiert und neu gedeutet wurden. Wobei man sich bei Husserl, Heidegger und Jaspers auf deren Arbeiten bis in die frühen 30er Jahre bezog. 1943 erschien Jean Paul Sartres Werk Das Sein und das Nichts sowie Albert Camus’ Der Mythos von Sisyphos, 1945 folgte Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung, Alexander Kojève hält seine berühmte Hegel-Vorlesung, Emmanuel Lévinas im Collège Philosophique von Jean Wahl seine Vorlesungen Die Zeit und der Andere und Henri Lefebvre entfaltet seine Kritik des Alltagslebens. Am heftigsten aber wurde sicherlich Jean Paul Sartres Existentialismus diskutiert und von marxistischer und christlicher Seite als individualistische und solipsistische Position kritisiert. Dies führte zur Selbstrechtfertigung Sartres in Ist der Existentialismus ein Humanismus?, erschienen 1946. Diese Schrift Sartres und die darin enthaltenen Berufungen auf Heidegger sind der Anlass dafür, dass Jean Beaufret bei Heidegger brieflich anfragt: »Auf welche Weise läßt sich dem Wort ›Humanismus‹ ein Sinn zurückgeben?« Heidegger ergreift die Gelegenheit in einem Brieftraktat zu antworten – seine erste öffentliche, auch über die deutschen Grenzen hinauswirkende Stellungnahme nach 1945. Bevor wir auf Heideggers Humanismus-Brief eingehen, sei in einigen Sätzen und Zitaten Sartres Position umrissen, die – wie Sartre meint – im Grunde nur eine phänomenologische Fortführung und Ausgestaltung von Heideggers Sein und Zeit darstellt: Gleich zu Beginn spricht Sartre von Existentialisten zweier Schulrichtungen: »die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel 307 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
Marcel […] einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger […] und ich selber zu stellen sind«. (Sartre, Drei Essays: 9) Und er erläutert weiter unten in Abhebung vom christlichen Existentialismus: »Der atheistische Existentialismus, für den ich stehe, ist zusammenhängender. Er erklärt, daß, wenn Gott nicht existiert, es mindestens ein Wesen gibt, bei dem die Exsistenz der Essenz vorausgeht, ein Wesen, das existiert, bevor es durch irgendeinen Begriff definiert werden kann, und daß dieses Wesen der Mensch, oder, wie Heidegger sagt, die menschliche Wirklichkeit ist.« (Sartre, Drei Essays: 11) Wenn es keinen Gott gibt – das ist die keineswegs triumphierende, sondern verzweifelte existentialistische Einsicht –, dann ist der Mensch – der Mensch schlechthin auf Erden – ganz allein auf sich gestellt, niemand hat ihn in seinem Wesen vordefiniert. Er ist zur Freiheit und Verantwortung verdammt, sich selbst erst zum Menschen zu entwerfen, sich sein Wesen zu bilden. Der Mensch ist in dieser Welt unendlich einsam und verlassen, er hat Angst vor der Gewaltigkeit seiner Verantwortung, der er nicht zu entrinnen vermag. Dies ist aber nur die kosmische Situation des Menschen: Es gibt kein Subjekt in der Welt außer dem Menschen. Aber innermenschheitlich ist der Mensch nicht allein, er lebt immer in und aus der Gemeinschaft mit anderen Menschen. Hier ist der Punkt, wo Sartre die Humanismus-Frage ansetzt. »Durch das ›Ich denke‹ kommen wir […] zu uns selber im Angesicht des anderen, und der andere ist für uns ebenso sicher wie wir selber […]. Der andere ist meiner Existenz unentbehrlich. Somit entdecken wir sofort eine Welt, die wir Intersubjektivität nennen wollen, und in dieser Welt entscheidet der Mensch, was er ist und was die anderen sind.« (Sartre, Drei Essays: 26) Der Humanismus des Existentialismus ist also doppelt bestimmt: (1) »Es gibt kein anderes All als ein menschliches All.« Der Mensch ist alles aus sich selbst, da »es außer ihm keinen anderen Gesetzgeber gibt […], daher muß er in seiner Verlassenheit über sich selbst entscheiden.« (Sartre, Drei Essays: 35) (2) Der Mensch kann sich nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen als Mensch verwirklichen. »Wir wollen die Freiheit um der Freiheit willen. […] Und indem wir die Freiheit wollen, entdecken wir, daß sie ganz und gar von der Freiheit der anderen abhängt, und daß die Freiheit der anderen von der unseren abhängt.« (Sartre, Drei Essays: 32) 308 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heidegger Bedenken wider den Humanismus
Sartres Schrift Ist der Existentialismus ein Humanismus? ist für Heidegger Anlass, erstmals seine inzwischen seit Mitte der 30er Jahre gewandelte Position nach der »Kehre« öffentlich darzulegen. Er behandelt dabei Sartre wie einen tumben Lehrbuben, der ihn, den Meister, völlig missverstanden hat, wobei er allerdings in geradezu akrobatischen Kunststücken darzulegen versucht, dass die Kehre schon in Sein und Zeit angelegt gewesen sei. »Der Hauptsatz von Sartre über den Vorrang der existentia vor der essentia rechtfertigt indessen den Namen ›Existentialismus‹ als einen dieser Philosophie gemäßen Titel. Aber der Hauptsatz des ›Existentialismus‹ hat mit jenem Satz in ›Sein und Zeit‹ nicht das geringste gemeinsam; abgesehen davon, daß in ›Sein und Zeit‹ ein Satz über das Verhältnis von essentia und existentia noch gar nicht ausgesprochen werden kann, denn es gilt dort, ein Vor-läufiges vorzubereiten.« (Heidegger, Humanismus: 18) Aller Humanismus – eine hellenistisch-römische, in der Renaissance wieder aufgegriffene Erfindung – ist metaphysisch, d. h. er versucht, das Wesen des Menschen in Abgrenzung von anderen Seienden als animal rationale zu bestimmen. Sartre dreht – in missverstehender Berufung auf Sein und Zeit – die Metaphysik einfach um, der Mensch sei primär und einzig die Existenz, die sich ihr Wesen selber schafft. »Aber die Umkehrung eines metaphysischen Satzes bleibt ein metaphysischer Satz. Als dieser Satz verharrt er mit der Metaphysik in der Vergessenheit der Wahrheit des Seins.« (Heidegger, Humanismus: 17) Überhaupt führt diese Umkehrung Sartres zu einem nur noch extremeren Humanismus, in dem der Mensch glaubt, sich selber zu schaffen, sich selber zu entwerfen, in dem der Mensch sich selbst an die Stelle Gottes setzt. »Überall kreist der Mensch, ausgestoßen aus der Wahrheit des Seins, um sich selbst als das animal rationale.« (Heidegger, Humanismus: 28) Er, Heidegger, habe einen solchen extremen Humanismus nie vertreten. Das Anliegen seines Denkens besagt entschieden das gerade Gegenteil: »Der Mensch ist vielmehr vom Sein selbst in die Wahrheit des Seins ›geworfen‹, daß er, dergestalt ek-sistierend, die Wahrheit des Seins hüte, damit im Lichte des Seins das Seiende als das Seiende, das es ist, erscheine. Ob es und wie es erscheint […], entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft des Seienden beruht im Geschick des Seins.« (Heidegger, Humanismus: 19) Was ist aber nun mit den Sätzen aus Sein und Zeit, auf die sich Sartre anscheinend mit Recht berufen kann? »Das ›Wesen‹ des 309 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
Daseins liegt in seiner Existenz.« (Heidegger, Sein und Zeit: 42; Humanismus: 15) Und noch deutlicher: »[N]ur solange Dasein ist, […] gibt es Sein.« (Heidegger, Sein und Zeit: 212; Humanismus: 24) Sartre und all die anderen, die diese Sätze von der phänomenologischen Bewusstseinsphilosophie her gelesen haben, haben ihn, Heidegger, völlig missverstanden, denn sie haben nicht begriffen, dass seine Daseinsanalyse damals schon eine Hinführung zur Frage nach der Wahrheit des Seins war. So besagt die erste Aussage nicht das, was sie auszusagen scheint: »Vielmehr sagt der Satz: der Mensch west so, daß er das ›Da‹, das heißt die Lichtung des Seins, ist. Dieses ›Sein‹ des Da, und nur dieses, hat den Grundzug der Ek-sistenz, d. h. des ekstatischen Innestehens in der Wahrheit des Seins.« (Heidegger, Humanismus: 15) Auch der zweite Satz meint das Gegenteil von dem, was er auszusprechen scheint: »Der Satz bedeutet aber nicht: das Dasein des Menschen im überlieferten Sinne von existentia […] sei dasjenige Seiende, wodurch das Sein erst geschaffen werde. Der Satz sagt nicht, das Sein sei ein Produkt des Menschen [… Sondern er] bedeutet: nur solange die Lichtung des Seins sich ereignet, übereignet sich Sein dem Menschen. Daß aber das Da, die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst, sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst. Dieses ist das Geschick der Lichtung.« (Heidegger, Humanismus: 24) Und um zu unterstreichen, wie sehr er missverstanden und missinterpretiert wurde, zitiert Heidegger sich selbst aus Sein und Zeit mit folgenden Worten: »In der Einleitung zu SuZ (S. 38) steht einfach und klar und sogar im Sperrdruck: ›Sein ist das transcendens schlechthin‹.« (Heidegger, Humanismus: 24) Schlagen wir die entsprechende Seite von Sein und Zeit nach, so finden wir den entsprechend unterstrichenen Satz – aber der Kontext, in dem er steht, zeigt, dass Heidegger sich seither selbst uminterpretiert hat, um denen, die ihn von Sein und Zeit her verstehen, ein Missverstehen vorwerfen zu können. Unmittelbar nach und als Erläuterung des Satzes fährt Heidegger in Sein und Zeit fort: »Die Transzendenz des Seins des Daseins [!] ist eine ausgezeichnete, sofern in ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit der radikalsten Individuation liegt. Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist veritas transcendentalis.« (Heidegger, Sein und Zeit: 38) 5 5
In den Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis), dem zweiten Hauptwerk aus dem
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Doch lassen wir die sich kehrenden Selbstdeutungen der Kehre durch Heidegger auf sich beruhen. Entscheidend ist die Abgrenzung von jeglichem Humanismus, am entschiedensten von dem Sartres, in dem sich der Mensch zum alleinigen Subjekt und zum All schlechthin erklärt – das ist für Heidegger pure Metaphysik in ihrer radikalsten, aber auch absurdesten Konsequenz. 6 Was Heidegger nun entschieden dagegenstellt, ist ein völlig anderes Verständnis des Menschen aus der Wahrheit des Seins. Natürlich könnte man auch dies uneigentlich und in Anführungsstrichen einen ›Humanismus‹ nennen – als Zugeständnis an seinen brieflichen Gesprächspartner Beaufret schreibt Heidegger: »Aber, so werden Sie mir schon längst entgegnen wollen, denkt solches Denken nicht gerade die Humanitas des homo humanus? […] Ist das nicht ›Humanismus‹ im äußersten Sinn? Gewiß. Es ist der Humanismus, der die Menschheit des Menschen aus der Nähe zum Sein denkt. Aber es ist zugleich der Humanismus, bei dem nicht der Mensch, sondern das geschichtliche Wesen des Menschen in seiner Herkunft aus der Wahrheit des Seins auf dem Spiel steht. […] Ek-sistenz ist im fundamentalen Unterschied zu aller existentia und ›existence‹ das ekstatische Wohnen in der Nähe des Seins. Sie ist die Wächterschaft, das heißt die Sorge für das Sein.« (Heidegger, Humanismus: 29)
10.2.2 Exkurs: Die Reinwaschung Wir schreiben das Jahr 1946. Der Sieg der Alliierten über den Faschismus liegt ein Jahr zurück. Inzwischen hat jeder von den Verbrechen erfahren, die in den KZs und Vernichtungslagern des Nazi-Regimes begangen worden sind. Heidegger, der damals bekannteste Philosoph Deutschlands, der selber unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers sich nicht nur Jahre 1936, das aber erst posthum 1989 erschien, hat Heidegger ehrlicher, wenn auch bereits Spuren verwischend von seiner Kehre gesprochen: »Das Dasein steht in ›Sein und Zeit‹ noch im Anschein des ›Anthropologischen‹ und ›Subjektivistischen‹ und ›Individualistischen‹ usf., und doch ist von allem das Gegen-teil im Blick; freilich nicht als das zuerst und nur Beabsichtigte, sondern dieses Gegenteilige überall nur als die notwendige Folge der entscheidenden Wandlung der ›Seinsfrage‹ aus der Leitfrage in die Grundfrage.« (Heidegger, Beiträge, GA 65: 295) 6 Siehe hierzu auch Heideggers Nietzsche-Vorlesungen aus den Jahren 1936–41: Martin Heidegger, Nietzsche (1961).
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öffentlich zum Nationalsozialismus bekannt hat, sondern auch als Rektor der Universität Freiburg maßgeblich an der Gleichschaltung der deutschen Universitäten beteiligt war und am liebsten der philosophische ›Führer des Führers‹ geworden wäre, Heidegger ergreift nun zum ersten Mal nach dem Krieg über die deutschen Grenzen hinaus das Wort und erläutert seine inzwischen gewandelte philosophische Position. Er tut dies in einem Brief Über den Humanismus. Wie nimmt er also Stellung zur grauenvollsten Inhumanität durch den deutschen Nazi-Faschismus, in den er ja zumindest am Anfang mit verstrickt war? Überhaupt nicht! – Doch das stimmt so auch nicht ganz, denn überall zwischen den Zeilen seines Humanismus-Briefes finden wir ihn am Werk der Reinwaschung. Doch bevor wir dazu kommen, sei auf die viel ungeheuerlichen direkten Antworten Heideggers eingegangen, auf die geradezu verzweifelt bittenden Anfragen seiner ehemaligen jüdischen Schüler um ein klärendes Wort, aus seinem, des Meisters, Munde. Aus dem Briefwechsel zwischen Herbert Marcuse und Martin Heidegger im Jahre 1947/48 seien zwei Stellen zitiert. Heidegger an Marcuse (20. 1. 1948): »Zu 1933: ich erwartete vom Nationalsozialismus eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens, eine Aussöhnung sozialer Gegensätze und eine Rettung des abendländischen Daseins vor den Gefahren des Kommunismus. Diese Gedanken wurden ausgesprochen in meiner Rektoratsrede (haben Sie diese ganz gelesen?), in einem Vortrag über ›Das Wesen der Wissenschaft‹ und in zwei Ansprachen an die Dozenten und Studenten der hiesigen Universität. Dazu kam noch ein Wahlaufruf von ca. 25/30 Zeilen, veröffentlicht in der hiesigen Studentenzeitung. Einige Sätze darin sehe ich heute als Entgleisung. Das ist alles.« (Zit. nach Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 1988: 136) Marcuse an Heidegger (13. 5. 1948): »Anders ist es nicht zu erklären, daß Sie, der wie kein anderer die abendländische Philosophie zu verstehen vermochte, im Nazismus ›eine geistige Erneuerung des ganzen Lebens‹ […] sehen konnten. Das ist kein politisches, sondern ein intellektuelles Problem – ich möchte beinahe sagen: ein Problem der Erkenntnis der Wahrheit. Sie, der Philosoph, haben die Liquidierung des abendländischen Denkens mit seiner Erneuerung verwechselt?« (Marcuse, »Briefe an Heidegger«, in: Pflasterstrand, 209, 1985: 44) Nochmals Heidegger, diesmal aus seiner Rechtfertigung: »Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken« – angeblich bereits 1945 312 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heidegger Bedenken wider den Humanismus
verfasst: »Gewiß – es ist immer vermessen, wenn Menschen den Menschen die Schuld vor- und zurechnen. Aber wenn man schon Schuldige sucht und nach der Schuld bemißt: Gibt es nicht auch eine Schuld der wesentlichen Versäumnis? Diejenigen, die damals schon so prophetisch begabt waren, daß sie alles kommen sahen, wie es kam – so weise war ich nicht –, warum haben sie fast 10 Jahre gewartet, um gegen das Unheil anzugehen? Warum haben 1933 nicht die, die es zu wissen meinten, warum haben damals nicht gerade sie sich aufgemacht, um alles und von Grund aus ins Gute zu lenken?« (Heidegger, Selbstbehauptung der deutschen Universität, 1983: 26) Hier ist der Punkt des Skandals erreicht. Dass sich Heidegger 1933/34 offen zum Nationalsozialismus bekannt hat, desavouiert seine Philosophie an sich noch nicht. Dies konnte ein politischer Fehltritt gewesen sein. Auch dass sich Heidegger nach 1945 immer noch offen zur Ideologie des Faschismus bekennt (wohlgemerkt nicht zum Nazi-Regime, sondern zur Ideologie des Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus, getragen von einer Massenbewegung des Volkes, gesichert durch eine starke staatliche Führung) und dass er die Demokratie ablehnt, macht ihn in seiner politischen Philosophie mir zwar zum Gegner, aber darin liegt noch nicht das Skandalöse. »Schamlos« (Marcuse) wird sein Verhalten und sein Denken dadurch, dass er angesichts der Gräuel des Nazi-Terrors nicht nur nicht fähig ist, seine Verstrickung in einen Schuldzusammenhang einzugestehen, sondern letztlich den Opfern noch vorwirft, es versäumt zu haben, alles ins Gute zu wenden. In solchem Denken scheint mir ein grundlegender menschlicher Mangel zu liegen. Die Humanitas dieses homo humanus scheint mir bis in sein Denken hinein defekt zu sein. Doch kehren wir nochmals zum Brief Über den Humanismus zurück: Wenn auch verschlüsselt finden wir auch in ihm den Versuch der Reinwaschung. Es gäbe eine Fülle von Zitaten, die es zu analysieren gelte; hier sei nur auf zwei Anrufungen eingegangen, über die Heidegger sich selbst ins rechte Licht zu rücken versucht. Den ersten, den er anruft, ist Hölderlin, und er meint sich dabei selbst: sowohl bezogen auf 1933 als auch auf 1945. Hölderlins Rückkehr zu den Griechen sei tiefer als aller Humanismus, denn Hölderlin erkenne die »Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen« (Heidegger, Humanismus: 25) und kehre mit seinem in den Ursprung vordringenden Denken und Dichten in die Heimat zurück; dieses sei nicht »patriotisch, nationalistisch, sondern seinsgeschichtlich« ge313 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
dacht. In seinem Gedicht »Heimkunft« fordere er »seine Landsleute« auf, »in ihr Wesen zu finden«, und auch das meint nicht einen »Egoismus seines Volkes«: »Das ›Deutsche‹ ist nicht der Welt gesagt, damit sie am deutschen Wesen genese, sondern es ist den Deutschen gesagt, damit sie aus der geschichtlichen Zugehörigkeit zu den Völkern mit diesen weltgeschichtlich werde. Die Heimat dieses geschichtlichen Wohnens ist die Nähe zum Sein. […] Das weltgeschichtliche Denken Hölderlins, das im Gedicht ›Andenken‹ zum Wort kommt, ist darum wesentlich anfänglicher und deshalb zukünftiger als das bloße Weltbürgertum Goethes. Aus demselben Grunde ist der Bezug Hölderlins zum Griechentum etwas wesentlich anderes als Humanismus. Darum haben die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.« (Heidegger, Humanismus: 26 f.) Dies ist es, was Heidegger bildhaft verkleidet 1946 von sich und den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs zu sagen hat. »Das ist alles!« Und was sagt er von sich nach 1945? Diesmal ruft er Heraklit herbei in einer Erzählung, die uns durch Aristoteles überliefert ist: Neugierig suchen Fremde Heraklit auf und finden ihn, zu ihrem Erstaunen, sich wärmend bei einem Backofen. Und er sagt ihnen »Götter wesen auch hier an«. Über Heraklit sagt Heidegger: »So verrät er an diesem ohnehin alltäglichen Ort die ganze Dürftigkeit seines Lebens. Der Anblick eines frierenden Denkers bietet wenig des Interessanten.« (Heidegger, Humanismus: 40) Hier nun verrät Heidegger eine kleine menschliche Regung – wenn wir die Geschichte auf ihn in Todtnauberg nach 1945 übertragen –, nämlich die Regung des Selbstmitleids, die aber gleich wieder in Selbstüberheblichkeit umschlägt: Denn »Götter wesen auch hier an«. Und was besagt das göttlich durchdrungene Denken? – nun ganz auf Heidegger selbst bezogen –; es wagt, sich »gegen allen bisherigen Humanismus« zu stellen, dabei »gleichwohl sich ganz und gar nicht zum Fürsprecher des Inhumanen« machend. (Heidegger, Humanismus: 32) Und in rhetorischen Fragen schreibt Heidegger weiter an Beaufret: »Oder soll das Denken versuchen, durch einen offenen Widerstand gegen den ›Humanismus‹ einen Anstoß zu wagen, der veranlassen könnte, erst einmal über die Humanitas des homo humanus und 314 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Ek-sistieren in der Lichtung des Seins
ihre Begründung stutzig zu werden? So könnte doch, wenn nicht der weltgeschichtliche Augenblick schon selbst dahin drängt, eine Besinnung erwachen, die […] auf die Dimension denkt, in der das Wesen des Menschen, vom Sein selbst her bestimmt, heimisch ist. Sollten wir nicht eher für einige Zeit noch die unumgänglichen Mißdeutungen ertragen [!] und sie sich langsam abnutzen lassen, denen der Weg des Denkens im Element von Sein und Zeit bisher ausgesetzt ist?« (Heidegger, Humanismus: 32)
10.3 Ek-sistieren in der Lichtung des Seins Ohne Zweifel ist Heidegger – zwar nicht der bedeutendste, aber doch – einer der bedeutendsten, weil scharfsinnigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Schon seine Daseinsanalytik in Sein und Zeit war gegenüber der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse Husserls ein philosophischer Durchbruch. Philosophisch noch gewichtiger ist jedoch die »Kehre« seines Denkens, die sich Mitte der 30er Jahre vollzieht, und die – entgegen Heideggers eigener vertuschenden Selbstdeutung – als eine geradezu selbstkritische Abkehr von seinem vorhergehenden auf das jemeinige Dasein bezogenen Ansatz anzusehen ist. Sie kann mit der Wende vom subjektiven Idealismus Kants und Fichtes zum objektiven Idealismus Schellings und Hegels verglichen werden – allerdings bei Heidegger nicht auf die Vernunft bezogen, sondern auf das Sein als Schickung fokussiert. Fragt Heidegger in Sein und Zeit nach dem Sinn des Seins des (menschlichen) Daseins und geht dabei von dem Dasein aus, das wir je selber sind, so denkt er nun nach der Kehre von der Wahrheit des Seins her, der wir zugehören: »Das Denken dagegen läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen. […] Das Denken, schlicht gesagt, ist das Denken des Seins. Der Genitiv sagt ein Zwiefaches. Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört.« (Heidegger, Humanismus: 5/7) Diese stark an bestimmte Momente der Spätphilosophie Schellings erinnernde Ekstasis (Schelling IX: 209 ff.) – wir kommen darauf noch zurück – verwandelt nicht nur die Begrifflichkeit, sondern auch den Bezugspunkt der Spätphilosophie Heideggers. Er liegt nicht mehr der Je-Meinigkeit des Daseins, das in der Entschlossenheit des Vorlaufs auf den eigenen Tod zur Eigentlichkeit seiner Existenz findet, 315 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
sondern jetzt wird von dem in die Seinsgeschichte gestellten Da-sein gesprochen, dem sich im »Ereignis« des Seyns sein Da-sein erschließt: »Nur der Anfall des Seyns als Ereignung des Da bringt das Da-sein zu ihm selbst und so zum Vollzug (Bergung) der inständlich gegründeten Wahrheit in das Seiende, das in der gelichteten Verbergung des Da seine Stätte findet.« (Heidegger, Beiträge, GA 65: 407) Der neue Begriff des menschlichen Da-seins ist der der Ek-sistenz. Dies meint nicht (mehr) je mein existierendes Dasein, sondern das ek-statische Hinausstehen des Menschen in die Wahrheit des Seins, die ihm seinsgeschichtlich zukommt. »Gesetzt, daß der Mensch inskünftig die Wahrheit des Seins zu denken vermag, dann denkt er aus der Ek-sistenz. Ek-sistierend steht er im Geschick des Seins. Die Ek-sistenz des Menschen ist als Ek-sistenz geschichtlich, nicht aber erst deshalb, oder gar nur deshalb, weil mit dem Menschen und den menschlichen Dingen mancherlei im Verlauf der Zeit geschieht. […] Sein lichtet sich dem Menschen im ekstatischen Entwurf. […] Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Da-seins als sein Wesen schickt.« (Heidegger, Humanismus: 24 f.) Es ist klar, dass ein solches Denken, das den Menschen vom Sein her denkt, sich entschieden gegen allen Humanismus wenden muss, der den Menschen allein und absolut ins Zentrum seiner Weltdeutung zu setzen versucht. Heideggers Kritik an der humanistischen Absolutsetzung des Menschen impliziert also keineswegs ein Votum für das Inhumane – wie Heidegger zu recht unterstreicht –, sondern stellt das Sich-selbst-Bedenken des Menschen in einen größeren Bestimmungshorizont: »Weil gegen den ›Humanismus‹ gesprochen wird, befürchtet man eine Verteidigung des In-humanen und eine Verherrlichung der barbarischen Brutalität. Denn was ist ›logischer‹ als dies, daß dem, der den Humanismus verneint, nur die Bejahung der Unmenschlichkeit bleibt? […] Der Mensch ist nie zunächst diesseits der Welt Mensch als ein ›Subjekt‹, sei dies als ›Ich‹ oder als ›Wir‹ gemeint […]. Der Mensch ist und ist Mensch, insofern er der Eksistierende ist. Er steht in die Offenheit des Seins hinaus, als welche das Sein selber ist, das als der Wurf sich das Wesen des Menschen in ›die Sorge‹ erworfen hat. Dergestalt geworfen steht der Mensch ›in‹ der Offenheit des Seins.« (Heidegger, Humanismus: 32/35) Was ist nun aber das Sein, von dem her der Mensch, es denkend, sich in seinem Wesen erst zu erfassen vermag? Die Antwort, die Heidegger auf diese Frage gibt, wird keinen befriedigen, der – wie Hei316 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Ek-sistieren in der Lichtung des Seins
degger sagt – von der Metaphysik und den Wissenschaften her argumentiert, denn im letzten kann Heidegger nur immer wieder abgewandelt wiederholen: ›Das Sein ist das Sein‹, und es steht im Vorrang zu allem Denken, das selber von ihm her ist, daher vermag das Denken das Sein niemals auszuloten und zu umfassen. In Heideggers eigenen Worten: »Es ist Es selbst. […] Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende. […] Wie verhält sich jedoch […], das Sein zur Ek-sistenz? Das Sein selber ist das Verhältnis, insofern Es die Ek-sistenz in ihrem existentialen, d. h. ekstatischen Wesen an sich hält, und zu sich versammelt als die Ortschaft der Wahrheit des Seins inmitten des Seienden.« (Heidegger, Humanismus: 19 f.) Man sollte die Hilflosigkeit in der Benennung und Umschreibung dessen, was denn das Sein sei, nicht vorschnell Heidegger zum Vorwurf machen, denn es ist eine bewusst in Kauf genommene Hilflosigkeit des Denkens, um der Bodenlosigkeit der metaphysischen und wissenschaftlichen Rationalität zu entkommen. Alle bisherige Metaphysik und Wissenschaft denkt vom Vorrang der angeblich in sich selbst begründeten Vernunft her. Dadurch wird – wie bereits Schelling in seiner Erlanger Vorlesung von 1821 betonte – das Sein zum bloßen Objekt des Denkens entwirklicht. Will man das Sein als tätige Wirklichkeit erfassen, so muss das Denken »ekstatisch« (Schelling) aus dem Vorrang des Alles-aus-sich-Begreifen-Wollens der Vernunft heraustreten, um sich stattdessen aus dem »Unvordenklichen des Existierens« (Schelling) zu erfassen. 7 Genau um diese durch das Denken an und für sich selbst vollzogene Umkehr geht es auch dem späten Heidegger. Ein solches aus dem unbefragten Selbstverständnis metaphysischer Logik – von Aristoteles bis Hegel – aussteigendes Denken ist keineswegs unlogisch, sondern versucht, sich nur neu aus dem Vorrang des Seins zu verstehen: »Weil gegen die ›Logik‹ gesprochen wird, meint man […], daß der Strenge des Denkens abgesagt […] und so der ›Irrationalismus‹ als das Wahre ausgerufen werde. […] Die ›Logik‹ versteht das Denken als das Vorstellen von Seiendem in seinem Sein, das sich das Vorstellen im Generellen des Begriffs zustellt. […] Gegen ›die Logik‹ denken, das bedeutet nicht, für das Unlogische eine Lanze brechen, Siehe hierzu das Kapitel 6: »Schelling – Vom ›notwendig Gott-setzenden Bewusstsein‹«.
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Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
sondern heißt nur: dem logos und seinem in der Frühzeit des Denkens erschienenen Wesen nachdenken, heißt: sich einmal um die Vorbereitung eines solchen Nachdenkens bemühen. Was sollen uns alle noch so weitläufigen Systeme der Logik, wenn sie sich und sogar ohne zu wissen, was sie tun, zuvor der Aufgabe entschlagen, nach dem Wesen des logos auch nur erst zu fragen?« (Heidegger, Humanismus: 32 ff.) Das ganze Spätwerk Heideggers von Mitte der 30er Jahre an dient nur noch dieser einen Aufgabe, den Menschen, die Geschichte, die Sprache, die Technik, schließlich das Denken selbst neu vom Sein her zu denken und diese Kehre des Denkens – und hiermit ist mehr gemeint als die Kehre in Heideggers eigenem Denken – in Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition zu explizieren. (Heidegger, Beiträge, GA 65: passim) Beispielhaft sei dies hier an der Sprache verdeutlicht – auf die Geschichte und Technik kommen wir weiter unten noch zu sprechen. Die Sprache ist der Ort, in dem allein die Wahrheit des Seins zum Ausdruck gebracht werden kann; nicht nur das Denken, sondern auch die Dichtung lebt aus und wohnt in der Sprache. Aber die Sprache ist dabei nicht ein Instrument oder ein Gemächte des Menschen, mit dem er sich das Sein verfügbar machen kann. Eine solche Interpretation der Sprache steht in der »Seinsvergessenheit« der metaphysischen, humanistischen, wissenschaftlichen Rationalität. Vielmehr ist es gerade umgekehrt: der Mensch findet sich seinsgeschichtlich in die Sprache gestellt vor, die Sprache ist ihm die Lichtung, wo ihm die Wahrheit des Seins im Denken und Dichten offenbar wird. »Diesem [dem seinsgeschichtlichen Wesen] gemäß ist die Sprache das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins. […] Der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen, das neben anderen Fähigkeiten auch die Sprache besitzt. Vielmehr ist die Sprache das Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört.« (Heidegger, Humanismus: 21 f.) Wir können also, auf unser Hauptthema, den Humanismus, bezogen, zusammenfassend sagen: Der Humanismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt seiner Weltdeutung, er versteht die Sprache, die Technik und die Geschichte als Instrumente, Gemächte und Gebilde des Menschen, verbaut sich aber dadurch die Möglichkeit, sich aus dem Wesen seiner Ek-sistenz, d. h. aus der Wahrheit des Seins, zu erfassen. Erst die radikale Kehre aus dem seinsvergessenen Humanismus heraus zur Wahrheit des Seins hin eröffnet dem Men318 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der abgründige Mangel an Ethik
schen seine wesenhafte Ek-sistenz: »Die Wahrheit des Seins denken, heißt zugleich: die humanitas des homo humanus denken. Es gilt die Humanitas, zu diensten der Wahrheit des Seins, aber ohne Humanismus im metaphysischen Sinne.« (Heidegger, Humanismus: 37 f.) Wird nun dadurch der Mensch, wenn er sich nicht mehr metaphysisch, humanistisch, wissenschaftlich, technisch ins Zentrum rückt, sondern vom Sein her denkt, auch in eine gegenüber dem Humanismus höhere sittliche Verantwortung gestellt? Diese Frage gilt es im nächsten Abschnitt abschließend zu klären, denn daran muss sich zeigen, ob das neue Verständnis des menschlichen Daseins vom Sein her auch zu einem neuen sittlich-praktischen Verhältnis des Menschen zum Mitmenschen und zur Mitwelt führt; wie ja auch der Humanismus nicht nur ein bestimmtes Menschenbild theoretisch darstellt, sondern entschiedener noch eine sittliche Haltung ausdrückt. Es gilt zu zeigen, dass und weshalb Heidegger eine solche Anmutung sittlich-praktischer Konsequenzen für sein Denken aus dem Sein entschieden zurückweist.
10.4 Der abgründige Mangel an Ethik Es ist bekannt, dass die Auseinandersetzung Heideggers mit dem späten Schelling Mitte der 30er Jahre der Kehre in Heideggers Denken entscheidende Impulse gegeben hat – wir wiesen darauf schon mehrfach hin. Nun sollen im letzten Abschnitt aus der Konfrontation mit der verwandten und doch ganz anderen Position von Schelling einige kritische Einwände gegen Heidegger vorgebracht werden. Schelling war, je weiter das System des absoluten Idealismus, das er selbst einst mitbegründet hatte, durch Hegel vervollständigt wurde, immer entschiedener deutlich geworden, dass dieses System des Denkens, das alles denkend im Begriff einzuholen trachtet, doch niemals uns in unserem existentiellen Gefordertsein und so auch nicht alles andere Seiende in der Ereignishaftigkeit seines Existierens zu erreichen vermag. Ja mehr noch, dass das Denken, solange es sich als alleiniges und absolutes Subjekt des Begreifens geriert, alles, was es bedenkt, notwendig zum Objekt seines Denkens machen muss und dass es dadurch allem die je eigene Subjekthaftigkeit seines Existierens raubt. Wollen wir diesem Absolutheitsanspruch idealistischen Denkens entgehen, so gibt es nur die Möglichkeit einer Ekstasis, des Heraus319 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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tretens des Denkens aus seiner behaupteten Priorität, um uns denkend aus der Unvordenklichkeit des Seins zu erfahren. So geben wir dem unvordenklich vorausseienden Existieren seine wirkliche, wirkende Subjekthaftigkeit zurück. Aber – und das ist für Schelling wichtig – das Denken gibt sich dabei nicht auf, gibt sich nicht der blinden Existenz hin, sondern erhebt sich nun gleich wieder, um zu fragen, ob die unvordenkliche Existenz, aus der es selber ist, sich ihm als Gott, d. h. als orientierende Sinnstiftung des geschichtlichen Weltzusammenhangs erweise. Für Schelling ist also nicht schon von vornherein erwiesen, dass das unvordenkliche Existieren einen Sinnzusammenhang erschließt, also so etwas wie »Gott« sei. Dies zu ermitteln ist vielmehr die Aufgabe der positiven Philosophie, die eine geschichtliche Philosophie ist, insofern sie aus der Geschichte zu ermitteln sucht, ob das ereignishafte Existieren sich als Sinnstiftung erweisen lasse. »Geschichte« aber bedeutet für Schelling nicht nur die gewesene Vergangenheit, sondern auch die noch ausstehende Zukunft, die sich erst durch unsere Mitwirkung hindurch erfüllen kann. Insofern geht – sehr protestantisch gedacht – der Erweis des Wirkens Gottes in der Welt immer durch unser Streben und Handeln hindurch. Erst durch unser eigenes Wirken in die künftige Geschichte voraus, kann sich für uns erweisen, ob Gott ist, als der er sich mosaisch ankündigte: »Ich werde sein, der ich sein werde.« Vor diesem Hintergrund, der knapp angedeuteten praxisphilosophischen Implikationen der Spätphilosophie Schellings, seien hier zwei kritische Einwände gegen die Spätphilosophie Heideggers vorgebracht, dargelegt an Letztaussagen im Brief Über den Humanismus.
10.4.1 Die Umdeutung Platons Unerhört ist bereits Heideggers Zurechtstutzung Platons, und zwar speziell des Primats der Praxis, in den Platon die Philosophie stellt, um dadurch – Platon verkehrend – das sittliche Handeln, dem technischen gleichgestellt, zu entwerten. »Damit wir erst lernen, das genannte Wesen des Denkens rein zu erfahren und d. h. zugleich zu vollziehen, müssen wir uns frei machen von der technischen Interpretation des Denkens. Deren Anfänge reichen bis zu Plato und Aristoteles zurück. Das Denken selbst gilt dort als reine τέχνη, das Ver-
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Der abgründige Mangel an Ethik
fahren des Überlegens aber wird hier schon aus dem Hinblick auf praxis und poiesis gesehen.« (Heidegger, Humanismus: 6) Hier geschieht in der Verdrehung wirklich Ungeheuerliches. Gegen die ausdrückliche Differenzierung von praxis und poiesis bei Platon im Charmides bringt Heidegger die mitmenschliche Praxis und die herstellende Poiesis auf einen Nenner, genauer: erklärt »Tun und Machen« als im Wesen gleiche Formen menschlicher Zwecksetzungen, denen Platon das Denken einfüge. Das genaue Gegenteil wird von Platon intendiert. Für Platon hat sich das menschliche Herstellen und das menschliche Denken dem Primat der sittlichen Praxis zu unterstellen. Die sittliche Praxis aber ist keine willkürliche Zwecksetzung des Menschen, sondern erfährt ihre Bestimmung aus der Idee des Guten. Alles philosophische Denken und alles gestaltende Hervorbringen des Menschen hat im Letzten der sittlich-praktischen Bewährung des Menschen in der Welt, seiner Erfüllung der Idee des Guten, zu dienen. Dadurch, dass Heidegger Platons Primat der Praxis in eine ›humanistische‹ Vorrangigkeit des menschlichen »Tuns und Machens« umbiegt, stellt sich für ihn die gegen Platon erhobene Forderung, das Denken aus der Indienstnahme, nicht nur des technischen Hervorbringens, sondern auch der sittlichen Ansprüche, zu befreien, damit es sich der Wahrheit des Seins zu öffnen vermag, die jenseits menschlicher Interessen und menschlicher Sittlichkeit waltet. Dass diese missdeutende Uminterpretation Platons keine beiläufige Entgleisung Heideggers ist, sondern grundsätzlich seinem eigenen Selbstverständnis der Ethik als ein der Technik gleichgeordnetes bzw. ihr sogar eingefügtes zwecksetzendes Tun des Menschen geschuldet ist, möchten wir in einem großen Sprung an einem Zitat aus einem Vortrag Heideggers aus dem Jahre 1949 verdeutlichen – einer der wenigen Stellen, in der sich Heidegger, wenn auch eigentümlich verklausuliert, in selbst barbarischer Verdrehtheit von der Barbarei von Auschwitz distanziert: »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« (Heidegger, Das Ge-stell, GA 79: 27) Mehr als fragwürdig ist bereits die Gleichordnung von Auschwitz mit der englischen Blockade Deutschlands, denn allenfalls lassen sich Kriegsterror gegen Kriegsterror aufrechnen, aber die Judenverfolgung durch das Nazi-Regime, für die der Name Auschwitz steht, 321 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
war keine Kriegsmaßnahme, sondern die rassistische Selektion und Ausrottung einer Menschengruppe innerhalb der europäischen Völkergemeinschaft. Doch abgesehen von dieser verharmlosenden Verrechnung von Auschwitz gegen den Kriegsterror anderer Nationen ist das eigentlich Erschreckende dieser Aufzählung die Behauptung, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Wesen das Selbe sei wie die mannigfaltigen Gefährdungen der Welt, die von der fortschreitenden wissenschaftlich-technischen Industrialisierung ausgehen. Nicht, dass hier willkürlich Mitbürger entmenschlicht und gemordet wurden, wird in dieser Aufzählung angeprangert, sondern, dass sich in ihrer Massenhaftigkeit der gleiche technische Machbarkeitswahn zeigt wie bei der »motorisierten Ernährungsindustrie«. Heidegger kann nur deshalb diese ungeheuerliche Gleichstellung vornehmen, weil ihm grundsätzlich menschliches Tun und technisches Machen im Wesen dasselbe zweckgerichtete Handeln des Menschen sind – all diese hybrid übersteigerten Fehlformen sind im letzten der humanistischen Absolutsetzung des Menschen und seiner Gemächte und Zwecksetzungen geschuldet. Daher sieht Heidegger die Aufgabe des seinsgeschichtlichen Denkens darin, dass es sich von jeglicher Bindung und Indienstnahme durch Technik und Sittlichkeit löse, um sich und den Menschen in seinem Wesen aus der Wahrheit des Seins zu erfassen. Deshalb grenzt Heidegger das seinsgeschichtliche Denken – hierin Nietzsche folgend – nicht nur von der wissenschaftlichen Rationalität und Logik, sondern ausdrücklich auch von allen sittlich-praktischen Ansprüchen ab: »Wenn das Denken, die Wahrheit des Seins bedenkend, das Wesen der Humanitas als Ek-sistenz aus deren Zugehörigkeit zum Sein bestimmt, bleibt dann dieses Denken nur ein theoretisches Vorstellen vom Sein und vom Menschen, oder lassen sich aus solcher Erkenntnis zugleich Anweisungen für das tätige Leben entnehmen und dienend an die Hand geben? Die Antwort lautet: dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch. Es ereignet sich vor dieser Unterscheidung. Dieses Denken ist insofern es ist, das Andenken an das Sein und nichts außerdem. Zum Sein gehörig, weil vom Sein in die Wahrnis seiner Wahrheit geworfen und für sie in Anspruch genommen, denkt es das Sein. Solches Denken hat kein Ergebnis. Es hat keine Wirkung. Es genügt seinem Wesen, in dem es ist. Aber es ist, indem es seine Sache sagt. Der Sache des Denkens gehört je geschichtlich nur eine, die ihrer Sachheit gemäße Sage. Deren sachhaltige Verbindlichkeit ist wesentlich höher als die Gültigkeit der 322 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der abgründige Mangel an Ethik
Wissenschaften, weil sie freier ist. Denn sie läßt das Sein – sein.« (Heidegger, Humanismus: 42) Es ist klar, dass ein solches Denken nicht nur nicht auf keine Ethik zudenken kann, sondern alle Ethik seit Platon und Aristoteles als in der Metaphysik verfangenes Gemächte des Menschen abweisen muss. Die heutige Ökologie-Bewegung sitzt daher einem grundsätzlichen Missverständnis auf, wenn sie meint, aus Heideggers TechnikKritik Handreichungen für ihren ethischen, gar politischen Widerstand gewinnen zu können. Heidegger erteilt einem solchen Ansinnen eine prinzipielle Absage, denn nur das Denken und Dichten als Verweigerung alles ethisch-politischen Tuns und alles technisch-ökonomischen Machens lässt uns das Rettende erwarten, das geschicklich vom Sein kommt. »Wo das Wesen des Menschen so wesentlich, nämlich einzig aus der Frage nach der Wahrheit des Seins gedacht wird, wobei aber der Mensch dennoch nicht zum Zentrum des Seienden erhoben ist, muß das Verlangen nach einer verbindlichen Anweisung erwachen und nach Regeln, die sagen, wie der aus der Ek-sistenz zum Sein erfahrene Mensch geschichtlich leben soll. Der Wunsch nach einer Ethik drängt umso eifriger nach Erfüllung, als die offenkundige Ratlosigkeit des Menschen nicht weniger als die verhehlte sich ins Unmeßbare steigert. Der Bindung durch die Ethik muß alle Sorge gewidmet sein, wo der in das Massenwesen ausgelieferte Mensch der Technik nur durch eine der Technik entsprechende Sammlung und Ordnung seines Planens und Handelns im ganzen noch zu einer verläßlicheren Beständigkeit gebracht werden kann. Wer dürfte diese Notlage übersehen? […] Aber entbindet diese Not je das Denken davon, daß es dessen gedenkt, was zumal das Zu-denkende bleibt und als das Sein allem Seienden zuvor die Gewähr und die Wahrheit? Kann sich das Denken noch fernerhin dessen entschlagen, das Sein zu denken, nachdem dies in langer Vergessenheit verborgen gelegen und zugleich im jetzigen Weltaugenblick sich durch die Erschütterung alles Seienden ankündigt?« (Heidegger, Humanismus: 38) Statt dem allzumenschlichen Drängen nach einer neuen Ethik nachzugeben, verweist Heidegger im Rückgang auf die Vorsokratik auf den Ethos, der aber ausdrücklich keine sittliche Praxis meint, sondern den denkenden und dichtenden »Aufenthalt in der Nähe des Seins«; oder in Heideggers Übersetzung eines Spruchs des Heraklit ausdrückt: »Der (geheure) Aufenthalt ist dem Menschen das Offene für die Anwesung des Gottes (des Un-geheuren)«. (Heidegger, Humanismus: 41) 323 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
An dieser Stelle scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass Heidegger mit »Gott«, »Gottheit« oder gar mit der Rede vom »letzten Gott« etwas ganz anderes »gegen die Gewesenen, zumal gegen den christlichen« Gott meint. (Heidegger, Beiträge, GA 65: 403) Sein Denken des Seyns »steht außerhalb jeder Theologie und kennt aber auch keinen Atheismus im Sinne einer ›Weltanschauung‹ oder einer sonst wie gearteten Lehre.« (Heidegger, Beiträge, GA 65: 439), denn »mit dem Tod dieses Gottes [»der jüdisch-christlichen ›Apologetik‹«] fallen alle Theismen dahin.« (Heidegger, Beiträge, GA 65: 411)
10.4.2 Geschichte als Seinsgeschick Nachdem wir mit dem vorigen Einwand gezeigt haben, dass Heideggers Denken im Gegensatz zu dem Schellings keine sittlich-praktische Mitverantwortung für die Geschichte kennt, müssen wir uns abschließend noch der anderen Seite, der Wahrheit des Seins, zuwenden – dem Sein, das in dem Verhältnis zum Denken einzig und allein das aktive, das schickende ist. Geschichte, Seinsgeschichte wird von Heidegger allein als Geschick und Schickung gedacht, niemals als Auftrag oder Anspruch an unser Handeln. Nur uns Menschen humanistisch missverstehend – so Heidegger – glauben wir, tuend und machend dem Seinsgeschick zuarbeiten oder uns ihm widersetzen zu können, dabei erweist sich dieser Glaube selbst als Seinsgeschick unseres Missverstandes. Demgegenüber ist die einzig angemessene Weise unseres Denkens die andenkende, erwartende Hinnahme des Seinsgeschicks: »Dieses ›es gibt‹ [der Geschichte] waltet als das Geschick des Seins. […] Es gibt, anfänglicher [als bei Hegel] gedacht, die Geschichte des Seins, in die das Denken als Andenken dieser Geschichte, von ihr selbst ereignet, gehört. […] Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht Vergehen. Das Geschehen der Geschichte weist als das Geschick der Wahrheit des Seins aus diesem […]. Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal.« (Heidegger, Humanismus: 23) Im Gegensatz zu Schelling, für den das unvordenkliche Existieren sich erst in seinem Sinn und damit als Gott erweisen muss, zu dem wir Menschen aber sittlich handelnd beizutragen haben, ist für Heidegger das Sein unmittelbar schon die »Wahrheit des Seins«. Diese ist ihm – wie bereits zitiert – weder Gott noch Urgrund der Welt. 324 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der abgründige Mangel an Ethik
Schon Heraklit spricht, wenn er Gott sagt – wie Heidegger ausführt –, die Wahrheit des Seins als das »Un-geheure« an. Ungeheuerlich ist auch tatsächlich das, was Heidegger als die Wahrheit des Seins anruft. Es ist Friedrich Nietzsches »Wille zur Macht«, vom Willen gereinigt als reine Macht des Seinsgeschicks, die wir andenkend hinzunehmen haben, in dem, was es in seiner Macht, die jenseits von Gut und Böse ist, uns an Gutem und Bösem schickt. Um dem Vorwurf zu entgehen, in Heidegger etwas hineinzulegen, was er so weder sagt noch meint, möchten wir ihn in einem längeren Zitat aus dem Brief Über den Humanismus selber zu Wort kommen lassen und uns danach nur noch eine Abschlussbemerkung erlauben: »Gleichwohl schafft das Denken nie das Haus des Seins. Das Denken geleitet die geschichtliche Eksistenz, das heißt die humanitas des homo humanus, in den Bereich des Aufgangs des Heilen. Mit dem Heilen zumal erscheint in der Lichtung des Seins das Böse. Dessen Wesen besteht nicht in der bloßen Schlechtigkeit des menschlichen Handelns, sondern es beruht im Bösartigen des Grimmes. Beide, das Heile und das Grimmige können jedoch im Sein nur wesen, insofern das Sein selber das Strittige ist. In ihm verbirgt sich die Wesensherkunft des Nichtens. Was nichtet, lichtet sich als das Nichthafte. […] Weil das Nichten im Sein selbst west, deshalb können wir es nie als etwas Seiendes am Seienden gewahren. […] Das Nichten west im Sein selbst und keineswegs im Dasein des Menschen. […] Das Dasein nichtet keineswegs, insofern der Mensch als Subjekt die Nichtung im Sinne der Abweisung vollzieht, sondern das Da-sein nichtet, insofern es als das Wesen, worin der Mensch ek-sistiert, selbst zum Wesen des Seins gehört. Das Sein nichtet – als das Sein. […] Das Nichtende im Sein ist das Wesen dessen, was ich das Nichts nenne. Darum, weil es das Sein denkt, denkt das Denken das Nichts. Das Sein erst gewährt dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang zu Unheil und Grimm. Nur sofern der Mensch, in die Wahrheit des Seins ek-sistierend, diesem gehört, kann aus dem Sein selbst die Zuweisung derjenigen Weisungen kommen, die für den Menschen Gesetz und Regel werden müssen. […] Der nomos ist nicht nur Gesetz, sondern ursprünglicher die in die Schickung des Seins geborgene Zuweisung. […] Nur solche Fügung vermag zu tragen und zu binden. Anders bleibt alles Gesetz nur das Gemächte menschlicher Vernunft.« (Heidegger, Humanismus: 43 ff.) Das Ungeheure und Ungeheuerliche, das Heidegger hier anspricht, liegt darin, dass das Gute und das Böse, das Heil und das 325 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus
Unheil, in gleicher Weise als Schickungen des Seins hingenommen werden müssen. Damit aber werden alle niederträchtigen Barbareien und Menschheitsverbrechen – und so auch Auschwitz – nicht zwar moralisch, denn solcher Rede enthält sich Heidegger, wohl aber seinsgeschichtlich gerechtfertigt – sie sind seinsgeschichtlich hinzunehmen – niemand kann etwas dafür! Dies Ungeheuerliche – »Das ist alles!« (Heidegger an Marcuse [20. 1. 1948] s. o.)
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Erneute Annäherungen an die Gottesproblematik
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11. Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens 1
Die letzte große Arbeit, die Richard Hönigswald in den 1940er Jahren im amerikanischen Exil für eine spätere Veröffentlichung in Deutschland vorbereitete, trägt den Titel Die Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt. Dieses zweibändige, 643 Seiten umfassende Werk erschien 30 Jahre nach Hönigswalds Tod 1947 in den letzten beiden Bänden der – von Hans Wagner und Mitarbeitern betreuten – zehnbändigen Edition seiner Schriften aus dem Nachlass. 2 Im Vorwort seiner Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt (1976/77) schreibt Hönigswald, dass es ihm mit seiner Problemanalyse um »eine kritische Revision [seiner] gesamten Lebensarbeit« gehe, und dass er mit dieser »kritischen Rückschau auf den Zusammenhang der sachlichen Motive […] der eigenen Forschungsarbeit« die Hoffnung verbinde, »auch zum Ausblick in die Zukunft philosophischer Fragestellung« beitragen zu können. (Hönigswald, Systematik der Philosophie, I: 18) Wer Hönigswalds »Systematische Selbstdarstellung« von 1931 3 kennt, wird nicht überrascht sein, dass auch in seinem letzten Werk keinerlei biographische oder werkgeschichtliche Darstellungen zu Erweiterter Vortrag gehalten auf dem Richard-Hönigswald-Symposion »Heimkehr des Logos« 2017 an der Universität Wien, erschienen unter dem Titel: »Hönigswalds Systematik der Philosophie in individueller Problemgestaltung«, in: Christian Swertz / Reinhold Breil / Norbert Meder / Stephan Nachtsheim / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Kurt Walter Zeidler (Hg.), Heimkehr des Logos. Beiträge anlässlich der 70. Wiederkehr des Todestages von Richard Hönigswald am 11. Juni 1947 (2019): 267–285. Vgl. auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Einleitung« zu: Richard Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie, Hamburg 1997: VIi-LVI. 2 Richard Hönigswald, Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt, 2 Bde. (1976/77). 3 Richard Hönigswald, »Systematische Selbstdarstellung«, in: Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern (1931); In diesem Kapitel zitiert nach: Richard Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie, hg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, (Philosophische Bibliothek 510), (1997): 205 ff. 1
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Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens
finden sind, sondern allein systematische Fragen behandelt werden. Allenfalls in der Abfolge der ersten Kapitel, die mit erkenntnistheoretischen Problemstellungen der Medizin als Wissenschaft beginnen und sodann über die philosophische Psychologie zu Kants transzendentaler Fragestellung fortschreiten, kann man indirekt so etwas wie Hönigswalds Studiengeschichte von der Medizin in Wien über die Gegenstandstheorie von Alexius von Meinong in Graz bis zu seiner zweiten Promotion in Philosophie beim Kantianer Alois Riehl in Halle (1904) ablesen. 4 Es hier nicht der Ort, auf Hönigswalds letzte Rückschau auf sein Lebenswerk umfassend einzugehen, sondern wir können unsererseits nur in individueller Problemgestaltung die große Linie seiner Systematik der Philosophie skizzieren, um von daher Hönigswalds transzendentalanalytische Darlegung des »philosophischen Problems des religiösen Glaubens« zu erörtern.
11.1 Hönigswalds Korrelation von Erkenntnis und Monas Philosophie ist für Hönigswald Erkenntnistheorie, transzendentale Rechtfertigung und Letztbegründung all unserer Wirklichkeitserkenntnis, wobei allerdings »Erkenntnis« von ihm sehr weit gefasst wird, so dass darunter nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch die sittliche Einsicht, das ästhetische Urteil und der religiöse Glaube fallen. Aber auch umgekehrt gilt, dass für Hönigswald Erkenntnistheorie die Philosophie selbst in ihren letztbegründenden Klärungen darstellt und nicht etwa nur eine Vorklärung des Denkwerkzeugs – wie Hegel gegen Kants Transzendentalphilosophie polemisierte. Gerade, um den Vorwürfen Hegels gegen die transzendentale Fragestellung Kants zu begegnen, muss diese selbst zur absoluten Selbstbegründung der Philosophie erweitert werden. Mehr als bei irgendeinem anderen Denker seiner Zeit ist bei Hönigswald die Rückbesinnung auf den transzendentalen Ansatz Kants als Antwort auf die Herausforderung der absoluten Philosophie Hegels zu verstehen, wie dies Hönigswald in den Abhandlungen »Gedanken zur Philosophie Hegels« (1931) sowie »Hegel und die Grundlagen der DenkZu Leben und Werk von Richard Hönigswald siehe: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen, Monas, Sprache (1997): 463 ff.
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psychologie« (1939) herausgestellt hat. In aller Erkenntnis geht es um eine Erkenntnis von Etwas, um Gegenstandserkenntnis, Wirklichkeitserkenntnis, und in allen Geltungsforderungen (Sittlichkeit, Recht, Kunst, Glaube) geht es um Ansprüche, die an uns ergehen, insofern wir in einen natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeitszusammenhang gestellt sind. Kant hat mit seiner transzendentalen Rückwendung auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis – die reinen Anschauungsformen, die Verstandeskategorien und die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption –, die sich dabei zugleich als Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erkenntnis erweisen, einen genialen Neuanfang des Philosophierens eröffnet. Aber mit der dabei aufgewiesenen ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption vermag Kant nur das allgemeine Erkenntnissubjekt des theoretischen Verstandes zu erreichen, dem ein Subjekt der praktischen Vernunft und ein Subjekt der reflektierenden Urteilskraft zur Seite stehen, die alle zusammen von einem anonym bleibenden philosophierenden Subjekt der Kritik der reinen Vernunft bedacht werden. Aber die Einheit dieser Subjekte und ihre Eingebundenheit in die Wirklichkeit bleiben dabei unbeachtet. Auf die Lösung dieses Problems konzentriert sich die nach-kantische Philosophie, wie Hönigswald in seiner Geschichte der Erkenntnistheorie (1933/1965: 150 ff.) ausführt: Fichte setzt in seinen Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95) ein mit dem sich selbst wissenden absoluten »Ich bin Ich« und leitet von daher die Aufgaben des theoretischen und des praktischen Ich ab. Schelling versucht in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800), aus den beiden Momenten existentieller Anschauung und begrifflicher Reflexion die transzendentale Geschichte der Selbstbewusstwerdung des Subjekts in all ihren Formen des Erfahrens, des Wollens und der ästhetischen Anschauung zu rekonstruieren. Und daran anknüpfend versucht Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807), Kants Projekt einer transzendentalen Grundlegung in der Weise zu Ende zu bringen, dass er die »ursprünglich-synthetische Einheit des Bewusstseins« als einen dialektischen Prozess des Zu-sich-selber-Kommens des philosophischen Geistes durch alle seine konstituierenden Momente der Gegenstandserkenntnis und der Selbstbewusstwerdung hindurch verfolgt – beginnend bei der »sinnlichen Gewissheit« und beim »Selbstbewusstsein« des Subjekts über deren Vermittlung in der erkennenden »Vernunft« und im geschichtlich-tätigen »Geist« 331 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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bis hin zur Anschauung des Absoluten in der »Religion« und dem »absoluten Wissen« der Philosophie. Für Hegel wird dadurch die Dialektik der Philosophie zum Vollzug der ursprünglich-synthetischen Einheit selbst. Alle Momente möglicher Gegenstandserkenntnis und möglichen Selbstbewusstseins werden durch diesen Durchgang in die Subjektivität des absoluten Geistes aufgelöst. Das Missliche dieser sich selbst vollbringenden Dialektik ist nur – wie Hönigswald herausstellt (Hönigswald, Zur Philosophie Hegels: 148 ff.) –, dass dadurch letztlich alle Stufen der Wirklichkeitserkenntnis und der Selbstbewusstwerdung zu bloßen Momenten des absoluten Wissens gemacht werden, d. h. ihre Eigenständigkeit als Gegebenheiten und des Erlebens eines konkreten Subjekts verlieren, indem sie ins absolute philosophische Wissen aufgehoben werden. »Hegels Begriff der Dialektik hat das Motiv der ›Gegebenheit‹, das für Kant mit gewissen Einschränkungen noch unantastbar war, gleichsam aufgesaugt. […] Nie kann daher bei ihm das Problem der Psychologie zu voller systematischer Ausprägung gelangen. Das wechselbezogene Auseinander von Erlebnis und Gegenstand, das in dem kritischen Begriff der ›Gegebenheit‹ vorliegt, kann Hegel immer nur als eine vorübergehende, in der Vollendung seines Systems ›aufzuhebende‹ Phase erscheinen.« (Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie: 167 f.) Gegen diese unbefriedigende Lösung bei Hegel beschreitet Hönigswald – in stärkerer Rückkehr zu Kants transzendentaler Analytik – einen geradezu umgekehrten Weg, der am ehestens noch mit dem System des transzendentalen Idealismus des jungen Schelling vergleichbar ist. 5 Mit all unserer Wirklichkeits- und Selbsterkenntnis stehen wir immer schon in der »ursprünglich-synthetischen Einheit« unserer Wirklichkeitserfahrung, sie ist für uns immer schon da, und wir leben und denken in ihr. Die Philosophie hat sie daher nicht erst in dialektischer Synthesis zu vollbringen, sondern ihre Aufgabe ist es, in transzendentaler Analysis die Bedingungen unserer Wirklichkeitsund Selbsterkenntnis in all ihren Verästelungen aufzudecken. Die Philosophie ist somit nicht Erzeugung, sondern Rechtfertigung der
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »System und Monade«, in: Rudolf Langthaler / Michael Hofer (Hg.), Monade und System (Wiener Jahrbuch für Philosophie XLII (2010): 91 ff. Siehe auch Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1995), darin: »Synthesis und Analysis. Eine Auseinandersetzung mit Hönigswalds Hegel-Kritik« (1969): 171 ff.
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Möglichkeit der Erkenntnis und der Geltungsanforderungen. Sie kann dies sein, da sie selbst nichts anderes ist als die »sich selbst begründende Idee« der Rechtfertigung. (Hönigswald, Systematische Selbstdarstellung, I: 206) Hiermit erweitert Hönigswald das kantische Projekt einer transzendentalen Analysis um einen ganz entscheidenden Punkt, denn Kant fragt nur nach den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis, dringt aber nicht zur Monas, zum erlebenden Subjekt vor, das wir gleichwohl immer schon sind, um erkennen zu können. Dagegen tritt für Hönigswald neben die Wirklichkeitserkenntnis durch das System der Wissenschaften – aber mit diesem untrennbar korrelativ verbunden – die »kritische Denkpsychologie«, die die Selbstpräsenz der Monas mit all ihren Dimensionen des Erlebens, der Verständigung und mit all ihren Bezügen zur Kultur und Sittlichkeit erschließt. (Hönigswald, Denkpsychologie, 1921/1925) Nach Hönigswald können wir daher die »ursprünglich-synthetische Einheit« der »Gegenständlichkeit« – oder wie wir im Folgenden sagen werden: der begriffenen »Wirklichkeit« – nur durch zwei aufeinander bezogene elliptische Pole transzendentalanalytisch in ihrem ganzen Geflecht konstituierender Momente aufklären: die Ist-Bestimmtheit, die Bestimmtheit unserer Wirklichkeitserkenntnis, und der Ich-Gewissheit 6, durch die wir uns konkret in die Wirklichkeit einbezogen erleben. »Jede der philosophischen Einzeldisziplinen ist nur vermöge dieses Wechselbezugs möglich, dessen Gesetz die Erkenntniswissenschaft aufsucht. Diese aber entfaltet sich immer auch als Theorie der Psychologie, d. h. an der Frage nach dem Anteil, den der Begriff des Erlebens am Problem des Gegenstandes beansprucht.« (Hönigswald, Systematik der Philosophie, II: 641) Der Weg, den die transzendentale Analysis somit zu durchschreiten hat, stellt keine dialektisch aufsteigende Abfolge dar – wie bei Hegel –, denn die beiden sich korrelativ bedingenden und bestimmenden Pole mit all ihren Untergliederungen bilden ein gleichrangiges Gefüge, das erst gemeinsam den ganzen Begriff der Gegenständlichkeit (Wirklichkeit) erschließt. (Hönigswald, Systematik der Philosophie, II: 642) Der von Hönigswald hierbei verwendete »Begriff der Gegenständlichkeit« umschließt immer beides in doppeltem Hönigswald spricht meist von der »Ich-Bestimmtheit«, was aber leicht zu Missverständnissen führen kann, denn es handelt sich nicht um eine prädikative Bestimmtheit, sondern um ein unmittelbares Präsenzerleben.
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Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens
wechselseitigem Bezug: die Wirklichkeit und uns, die wir diese Wirklichkeit zu erkennen versuchen und die von uns etwas fordert. »›Subjekt‹ und ›Objekt‹ erweisen sich ›transzendental‹, d. h. im Motiv der Gegenständlichkeit aufeinanderbezogen; sie treten in diesem ihrem Bezug korrelativ auseinander. In solcher Korrelation allein bestimmt sich die ›Unabhängigkeit‹ des Gegenstandes von mir, sein ›Sein‹. Und dieses wieder umspannt die ganze Fülle seiner Bestimmtheit. Bestimmtheit des Gegenstandes bedeutet mithin Unabhängigkeit ›von mir‹ durch Bezogenheit ›auf mich‹. Das Gesetz dieses Zusammenhangs aber heißt ›Gegenständlichkeit‹.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 70) Dabei gibt es ganz verschiedene Wege, diese transzendentalphilosophische Analyse von dem einen oder dem anderen Pol her durchzuführen. Entscheidend ist nur, jeweils ihr »korrelatives Auseinandertreten« und ihr aufeinander Verwiesensein deutlich zu machen. 7 Hiermit wird in dem für Hönigswald typischen Stil das Programm einer kritischen Erkenntnistheorie umrissen, die in ihrer Selbstaufklärung zugleich letztbegründende Wirklichkeitserkenntnis ist. Die Wirklichkeitserkenntnis, deren Ermöglichungsbedingung und Letztbegründung Hönigswald »Gegenständlichkeit« nennt, ist nicht trennbar in eine Wirklichkeit an sich und eine Erkenntnis für mich, sondern beide sind sie nur korrelativ auseinander und aufeinander letztbestimmbar. Es handelt sich dabei um zwei unterscheidbare und doch im letzten aufeinander angewiesene Teilprobleme unserer Wirklichkeitserkenntnis und unseres Wirklichkeitserlebens: Zum einen geht es um die Kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse, die im letzten gebunden ist an »das: Ich denke«, das all unsere Erkenntnisse begleiten können muss. Zum anderen sind wir vor das fundamentale Problem der Denkpsychologie, der Selbstpräsenz der »Monas« gestellt. Nun ist aber kein Selbsterleben der Monas möglich, wo nicht korrelativ ein Erleben von Gegebenem vorliegt. Erleben von Gegebenem steht immer in der Gegebenheit als Ganzheit, oder anders gesagt, der Selbstbezug der sich unmittelbar gegenwärtigen Monas ist nur korrelativ zum Wirklichkeitsbezug des in ihrem Erleben Gegebenen erfahrbar und denkbar. Insofern ist mit der Gegebenheit nichts anderes Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Annäherungen an Hönigswalds transzendentalanaytische Systematik der Philosophie«, in: Ders., (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 17 ff.
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als die Ganzheit der Wirklichkeit als Idee angesprochen, auf die das Erleben der Monas bezogen ist. Somit erweist sich die Gegebenheit als eine andere Sichtweise der Gegenständlichkeit, jedoch nun nicht von der Bestimmtheit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern vom konkreten Erleben der Monas her betrachtet. (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 62) Hönigswalds kritische Erkenntnistheorie erweitert also den kantischen Grundgedanken der »ursprünglich-synthetischen Einheit« zu einer umfassenden Aufgabe transzendentalanalytischer Selbstklärung und Letztbegründung von Gegenstandserkenntnis und Wirklichkeitserleben im ganzen Geflecht ihres wechselseitigen Bedingens und Bestimmens, oder anders gesagt, Philosophie ist die beständige korrelative Differenzierung und Inbezugsetzung beider. Um die »ursprünglich-synthetische Einheit« der Gegenständlichkeit im ganzen Gefüge der sie konstituierenden Momente aufzuklären, hat die transzendentale Analysis einen Spannungsbogen von der Ist-Bestimmtheit, der Bestimmtheit unserer Wirklichkeitserkenntnis, bis zur IchBestimmtheit, die als Auftrag an uns als Handelnde ergeht, aufzuklären. Der Weg, den die transzendentale Analysis dabei durchschreitet, stellt keine dialektische Folge dar, denn die beiden sie korrelativ bedingenden und bestimmenden Pole – Gegenstand und Monas – mit all ihren selbst wiederum korrelativen Untergliederungen bilden ein simultanes Gefüge, das erst gemeinsam den ganzen Begriff der Gegenständlichkeit erschließt. Zu Recht wurde Hönigswalds transzendentalanalytische Systematik mit einer Ellipse mit zwei Brennpunkten verglichen, von jedem der beiden unterscheidbaren Pole her kann der jeweils andere und das Ganze in den Blick genommen werden, aber die Perspektive ist eine je unterschiedliche und erst, wo beide Perspektiven eingenommen werden, wird die Einheit dieser doppelpoligen Ellipse erfasst. 8 Beginnen wir bei der Ist-Bestimmtheit der Wirklichkeitserkenntnis, wie sie von Kant intendiert, aber nicht zu Ende gebracht wurde, so wird diese selbst wiederum durch ein korrelatives Auseinandertreten zweier Momente begründet und gerechtfertigt. Zum einen ist jeder Gegenstand der Erkenntnis bestimmt durch den 8 Vgl. Kurt Walter Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigswalds, W. Carmers, B. Brauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels (1995): 98 ff.
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Begriff, durch das prädizierende »ist« des Urteils, durch die Methoden wissenschaftlichen Erkennens. Es ist keine andere Wirklichkeitserkenntnis denkbar als eine die Wirklichkeit begreifende. In diesem Sinne formuliert Hönigswald: »Der Begriff […] ›ist‹ nur, sofern er die Wirklichkeit bestimmt; und nur eine bestimmte und zu bestimmende Wirklichkeit ›ist‹. So verbürgt der Begriff dem Wirklichen, wo es sich auch finden und wie immer es sich auch kennzeichnen mag, seine Unantastbarkeit und Fülle, d. h. seine durch nichts geschmälerte Gegenständlichkeit.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik (1927): 15) 9 Zum anderen liegt aber in der Ist-Bestimmtheit noch ein weiteres – mit dem ersten korrelativ verknüpftes – Moment. Wir sagen von etwas: »es ist«, wenn es uns in der Erfahrung, im Erleben gegeben ist, wenn wir auf es stoßen, wenn wir es als daseiend vorfinden. Erst durch dieses »ist« erkennen wir die Unabhängigkeit eines Gegenstandes gegenüber unserem Erkennen an, wird die Erkenntnis zur Wirklichkeitserkenntnis. »Denn eben, daß sie [die Sache] von ›mir‹ unabhängig ist, macht sie zur ›Sache‹. Und bestimmbar wird die Sache lediglich im Hinblick auf diese ihre Unabhängigkeit von ›mir‹. Freilich, auch Unabhängigkeit von ›mir‹ schließt eine Beziehung auf ›mich‹ ein. Allein, das beeinträchtigt jene Unabhängigkeit nicht nur nicht, das allein sichert ihr erst Sinn und Bestand. In der Unabhängigkeit der Sache von ›mir‹, d. h. in dem Problem des Gegenstandes, erscheint eben auch das des ›Ich‹ notwendig gesetzt.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 222) Vom Blickpunkt der »kritischen Denkpsychologie«, den Hönigswald in die Diskussion neu einbringt, tritt die Ich-Gewissheit bzw. die Monade in den Focus der Analyse und die Perspektive verändert sich nun grundlegend. Auch von der Seite der Ich-Gewissheit her haben wir zwei korrelative Momente zu bedenken. Alles Erkennen kann nur vollzogen werden von einem sich selbst gegebenen und sich selbst präsenten Subjekt. Die Monas, die wir hier bedenken, ist weder ein objektiver Erkenntnisgegenstand noch das allgemeine Erkenntnissubjekt, das Kant meint, wenn er vom »Ich denke« spricht, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muss (Kant, KrV B, II: 131), sondern es ist das sich präsente und sich erlebende Subjekt, das wir je selber sind. »Diese Bedingung nun ist der Bezug auf sich selbst […]. Vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion (1959), Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1995): 50 ff.
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Hönigswalds Korrelation von Erkenntnis und Monas
›Präsenz‹ bedeutet eben […] die Reflexionsrelationen ›ich – mich‹, ›ich – mir‹. Denn nur wofern diese Relationen möglich sind, ›bin‹ ›ich‹. ›Ich‹ ›bin‹ geradezu die Möglichkeit jener Reflexion; durch sie bestimmt sich die μονάς, d. h. der ›Vollzug‹ ; jene Reflexion ist das Korrelat der Bestimmtheit des Gegenstandes.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 103) Dies ist die eine korrelative Seite des Wirklichkeitserlebens, die zweite gründet darin, dass es kein Sich-Erleben und Sich-Gegenwärtigsein einer Monas geben kann, wenn nicht zugleich etwas erlebt wird, wenn der Monas nicht zugleich etwas gegeben ist. Dabei kommt es hier nicht auf das Gegebensein bestimmter Gegenstände – wie in der Ist-Bestimmtheit – an, sondern auf das Moment der Gegebenheit schlechthin, das das Sich-selbst-Gegebensein der Monas mit umschließt. Was hier aufscheint, ist die Ganzheit des Wirklichkeitserlebens, in das sich die sich selbst erlebende Monas miteinbezogen und in ihrem Wirklichsein gründend weiß. »Deshalb mündet denn auch jede Erörterung des Problems der ›Gegebenheit‹ in eine Theorie der Ganzheit. […] Das ›Ganze‹ also ist ein zeitliches Gefüge, gebunden an die Unterscheidung zwischen ›früher‹ und ›später‹ […]. Alle Ganzheit bedeutet anders ausgedrückt, Zeitgestaltung und ›Gefüge‹. Sie hat ›Struktur‹ und wird ›verstanden‹. […] In jeglicher Ganzheit offenbart sich die Norm des Erlebens. Sie unterliegt den Bedingungen der Präsenz.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 90 f.) Wenn oben von »Gegebenheit von etwas« die Rede war, auf das sich die Ist-Bestimmtheit bezieht, so können wir jetzt vom anderen Brennpunkt der Monas her hinzufügen, dass Gegebenes immer nur im Erleben eines erlebenden Subjekts erfahrbar wird, das sich selbst als daseiend erlebt und zugleich sich selbst weiß und reflektiert. 10 Dies alles müssen wir mitdenken, wenn wir mit Hönigswald von Monas sprechen, von der Einzigartigkeit unserer Selbstpräsens. »Nicht ›das‹ ist, sondern ›ich bin‹ im Wissen und am Gewußten […]. Denn nur im ›Ergreifen‹ meiner selbst ›bin‹, bestehe ich, d. h. nur in der Reflexiv-Beziehung ›ich-mir‹.« (Hönigswald, Systematik der Philosophie II: 350) Wir haben also hier die eigentümliche Korrelation vor uns, dass die Monas in ihrer Selbstpräsenz als je einzigartiger Erlebnismittelpunkt zugleich der Möglichkeit nach auf alles Ge-
Vgl. Wolfgang Cramer, Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung (1957).
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gebene in seiner Sein-umspannenden Ganzheit bezogen ist, die die Monas selbst mit umgreift. Hier schließt sich die elliptische Bahn unserer Nachzeichnung von Hönigswalds transzendentaler Analysis in einem ersten Durchgang. Sie begann mit der Ist-Bestimmtheit der Wirklichkeitserkenntnis und sie kehrt schließlich über die Analyse der konstituierenden Momente der Ich-Gewissheit in ihre – uns mit umfassende – wirkliche Ganzheit zurück. 11 Dabei sind die Perspektiven von den beiden Brennpunkten auf das Gesamtgefüge grundverschieden. Geht es vom ersten Pol her – im Sinne Kants – um die konstitutiven Urteile der einzelnen Gegenstandserkenntnisse, so stehen vom zweiten Pol her die reflektierenden Urteile auf das Ganze bezogen zur Debatte – wie Kant sie im teleologischen Teil seiner Kritik der Urteilskraft formuliert. Beides gehört aber für Hönigswald unlösbar korrelativ zusammen, wie auch die Monas in ihrer erlebten Selbstpräsenz und als sich wissendes Subjekt untrennbar nur eine ist. Der hier umschriebene »Sachverhalt« »›ist‹ nur als System, d. h. als Erfüllung der wechselbezogenen Forderungen regulativer und konstitutiver Gesichtspunkte zugleich; er ›ist‹ nur als Erfüllung der Bedingungen des Urteils, soweit dieses auch die Idee des Gefüges repräsentiert. […] [Er] ›ist‹ Synthesis, im Hinblick auf die in ihm erhobene Forderung, erlebt werden zu können, also die Norm seiner möglichen Erlebbarkeit darzustellen.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 92 f.) 12
11.2 Probleme der Naturerkenntnis Immer wieder thematisiert Hönigswald zwei grundlegende Problemkomplexe der Naturerkenntnis: Probleme der modernen Physik, diskutiert an der Relativitätstheorie und der Quantentheorie, sowie das Organismusproblem. 13 Beginnen wir mit dem letzteren, da an ihm zunächst das Gesamtproblem klarer herausgestellt werden kann. Wie gerade in den letzten Abschnitten der Positionsbestimmung der Korrelationsdialektik angedeutet wurde, kann auch die NaturVgl. Gerd Wohlandt, Letztbegründung und Tatsachenbezug (1983). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Einleitung« zu: Richard Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie (1931), 1997: VIIff. 13 Richard Hönigswald, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik (1912); Grundprobleme der Wissenschaftslehre (1965); Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre, 2 Bde. (1969/70). 11 12
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Probleme der Naturerkenntnis
erkenntnis insgesamt nur von einer doppelten Problemstellung erschlossen werden. Zum einen werden Naturphänomene, Prozesse und Strukturen von naturwissenschaftlichen Methoden her als Erkenntnisgegenstände in gesetzlichen Zusammenhängen bestimmt. Diesem objektiven Gesetzeszusammenhängen steht zwar grundsätzlich transzendentalanalytisch aufweisbar das Erkenntnissubjekt gegenüber und ohne diese Korrelation wäre schlechthin keine Erkenntnis möglich. Aber niemals kann – aus methodologischen Gründen – das Erkenntnissubjekt und der objektive Gesetzeszusammenhang selber wiederum in einem Gesamtzusammenhang gebracht werden. Ganz anders verhält es sich dort, wo wir den Gesamtzusammenhang der Natur reflektieren, denn hier schließt dieser uns als Reflektierende grundsätzlich mit ein. Dieser uns bereits von Kant her aus der doppelten Thematisierung der Natur in der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der (teleologischen) Urteilskraft vertraute Problembestand wird von Hönigswald am Organismusproblem und dem Problem der Erfahrung von Gegebenem konkretisiert. (Systematik der Philosophie, II: 349 ff.) 14 Beginnen wir hier mit der Selbstpräsenz der Monas, »der Reflexiv-Beziehung ›ich-mir‹«, die wir je selbst sind, also dem je gegenwärtigen Selbstbezug in all unserem Erleben, in dem wir uns aber zugleich in die zeitliche Ganzheit der Gegebenheit einbezogen erfahren. Diese Selbstpräsenz der Monas als Erlebnismittelpunkt ist kein freischwebendes Bewusstseinsphänomen, sondern unlösbar verknüpft mit seinem Organismus als lebendigem Träger der sich selbstpräsenten Monas, oder genauer, beides, Leben und Erleben, gehören untrennbar zusammen. »Unbeschadet ihrer Funktionen als Prinzip fordert [die Reflexiv-Beziehung] somit ihren Zeitort im Kontext der Erfahrung. […] Denn nun gewinnt der Organismus selbst die Züge jener Einheit von Prinzip und Tatsache. Er muß, weil er Erleben bedeutet, in einem einzigartigen Sinn des Wortes zu ›mir‹ gehören. Er muß als Naturobjekt die Reflexiv-Beziehung ›ich-mir‹ ausprägen, die ›ich‹ bin. Er ist ›mein‹, nicht anders als das, was ich erlebend ›habe‹. So aber ergibt sich ein einzigartiges Besitzverhältnis. Mein Körper ist ›mein‹, nicht anders als ich es selber bin; er ist geradezu, wenn man die sonderbar klingende Formel gestattet – ›ich‹.« (Hönigswald,
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Vgl. Reinhold Breil, Grundzüge einer Philosophie der Natur (1993).
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Systematik der Philosophie, I: 259 sowie Hönigswald, Grundlagen der Denkpsychologie, 1925) 15 Hönigswald zeigt also – über Kant hinausgehend – auf, dass das Verhältnis der Monas zur Natur nicht nur eine »regulative Idee der reflektierenden Urteilskraft« ist, sondern ein Gegebenheitszusammenhang, der sich von der Selbstpräsenz der Monas zu allen Gegebenheiten der Natur spannt. Denn über unsere Leiblichkeit, ohne die es kein Erleben und kein Sich-selbst-Erleben gäbe, sind wir als die den Gesamtzusammenhang der Natur Reflektierende selber zugleich in die wirkliche Gegebenheit der Natur einbezogen. Aber mehr noch: allem Erleben von Gegebenem liegen letztlich Reize und Empfindungen zugrunde, über die die Monas in ihrer Leiblichkeit mit der gesamten Natur verbunden ist bzw. sein kann. Ohne diesen Zusammenhang wäre das, was man gemeinhin Erfahrung nennt, nicht möglich. Alles, was uns als gegeben erfahrbar ist – von den Millionen von Lichtjahren entfernten Galaxien bis zu den flüchtigen Signalen kleinster experimentell erzeugter Atomreaktionen –, kann uns immer nur als Reiz und Empfindung über unseren eigenen Organismus erreichen, oder anders: Die Monas steht über ihren Organismus mit der gesamten Natur in einem möglichen Gegebenheitszusammenhang. »Jenes Erleben heißt ›Empfindung‹, die Organe sind ›Sinnesorgane‹, die Naturereignisse ›Reize‹. Unter Reizen hat man also nicht Naturereignisse besonderer Art zu verstehen […], sondern Glieder in der unzerreißbaren Kette der Naturbegebenheiten, die unter bestimmten, definierten Umständen im Hinblick auf den Begriff des Sinnesorgans die eindeutige Bestimmtheit von Erlebnissen ausdrücken.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 106) 16 Wieder hat sich uns der Bogen von einem der entgegengesetzten Pole zum anderen gespannt. Diesmal von der Monas und ihrem Bezug zum je eigenen Organismus ausgehend, sind wir nun bei dem angekommen, was uns gegeben ist und auf das sich alle wissenschaftliche Naturerkenntnisse letztlich beziehen müssen; andernfalls wären ihre theoretischen Modelle von der Physik bis zur Biologie reine Spekulationen im schlechten Wortsinn. »Das Problem der Physik entfal-
Vgl. Ernst Wolfgang Orth, »Psyche und Organismus bei Richard Hönigswald«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 225 ff. 16 Siehe auch Richard Hönigswald, Analysen und Probleme. Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte (1959): 179 ff., und Grundprobleme der Wissenschaftslehre (1965): 82 ff. 15
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tet sich uns an den Beziehungen, die dem Begriff ›meines Körpers‹ als Funktion des Gegenstandsgedankens zugrunde liegen; an den Motiven der Empfindung der Wahrnehmungsgegebenheit; an der Form dieser Gegebenheit, dem ›ist‹, zugleich als der sachlichen Quelle und dem logischen Äquivalent der im mannigfachen Belang anschauungsbezogenen Theorie. […] Physik tritt in diesem Belang in ein eindeutiges Verhältnis zu jeder monadischen Betrachtung von Naturvorgängen; in ein eindeutiges Verhältnis zu allen, durch solche Monadizität geforderten Instanzen. […] Monadische Gesetzlichkeit aber bedeutet immer auch intermonadischen Verständigungsbezug.« (Systematik der Philosophie, II: 397 ff.) Von dieser Doppelproblematik in der Naturerkenntnis her tritt Hönigswald immer wieder in eine kritische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften selbst ein. So hat er schon sehr früh in die Diskussion um die philosophische Deutung der Relativitätstheorie eingegriffen (Hönigswald, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik (1912) 17 – eine Thematik, die Hönigswald in den Grundfragen der Erkenntnistheorie wieder aufnimmt und paradigmatisch bespricht. (Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie, 1997: 84 ff.) In keiner Weise möchte Hönigswald die Relevanz der Relativitätstheorie für die Wissenschaft der Physik in Frage stellen, aber er wendet sich dagegen, dass die Einbeziehung der Zeit in eine vierdimensionale Welt des Raumes vorschnell verabsolutiert und zu einer erkenntnistheoretischen bzw. naturphilosophischen Aussage hochstilisiert wird. In der Relativitätstheorie handelt es sich um die Relativierung der »Zeitmessung«, um die mathematisierende Verknüpfung von Raum und Zeit. Wenn also von der vierdimensionalen Welt als einer absoluten gesprochen wird, so handelt es sich um die »absolute Welt der Rechnung« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 110), aber dieser kommt keine unsere Wirklichkeitserkenntnis begründende Valenz zu. Denn in zweifacher Hinsicht liegt ihr die philosophische Zeitbestimmung voraus, und dies Verhältnis ist ein konstitutives, das nicht umgekehrt werden kann. »Ob aber ein erkenntnistheoretischer Begriff für definiert gelten darf, entscheidet sich nicht in der Phy-
Vgl. Massimo Ferrari, »Eine Diskussion über die Relativitätstheorie. Richard Hönigswald und Moritz Schlick«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 183 ff.
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sik […]. Weder ist also aus der physikalischen Relativierung der Zeit eine Philosophie zu machen, noch auch bedeutet sie […] ›Relativierung‹ der Erkenntnis.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 115 f.) Zum einen ist auch die Relativitätstheorie als wissenschaftliche Bestimmung der physikalischen Welt an die Erfahrung von Gegebenem rückgebunden. Eine »Theorie der Erfahrung« bringt aber unweigerlich einerseits das je gegenwärtige Jetzt der Selbstpräsenz der erfahrenden Monas ins Spiel und andererseits den Horizont der zeitlichen und räumlichen Ordnung der Gegebenheit als Ganzheit, in die auch die Monas im Zeitort ihrer Leiblichkeit miteinbezogen ist, andernfalls könnte in der Erfahrung kein gegebenes Ereignis abgegrenzt von anderen im Erleben einer Monas identifiziert werden. »Der Erkenntnistheoretiker wird sich sogar die Frage vorzulegen haben, ob nicht jegliche Ganzheit jenseits der Grenzen zu liegen kommt, die dem Geltungsbereich der Relativitätstheorie gezogen sind. Ja schon der elementarste Versuch, ein Ereignis gegen andere abzugrenzen, operiert mit dem Begriff der gestalteten Zeit, d. h. mit einem als streckenhaft gewerteten ›jetzt‹, das ein ›früher‹ oder ›später‹ in erlebensmäßiger Einheit umspannt. […] Das alles freilich bedeutet nur, daß die Relativitätstheorie nicht an die Stelle einer Theorie der Erfahrung treten kann, weil sie recht eigentlich deren Begriff voraussetzt. […] Das Naturobjekt, den ›Kontext‹ der Natur, betrifft sie nur, soweit jenes und dieser Maßwerten unterliegen.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 112) Zum anderen setzt auch die physikalische Theorie der relativen Verrechnung von Zeit und Raum selbst schon die transzendentale Bestimmtheit von Zeit und Raum voraus. »Ein Problem ›Kant oder Einstein‹ gibt es in dieser Form nicht« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 114); wer – gleich von welcher Seite – doch davon spricht, bringt eine Aussage der theoretischen Physik mit der erkenntnistheoretischen Aufgabe der Bestimmung des Begriffs der Physik durcheinander. Kant hatte mit der transzendentalphilosophischen Bestimmung der Begriffe Raum und Zeit keine physikalische Theorie aufgestellt, sondern Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandskonstitution schlechthin aufgedeckt. »Es wäre angemessen, endlich zu begreifen, daß ›reiner‹ Raum und ›reine‹ Zeit eine physikalische Valenz weder haben, noch beanspruchen. Sie sind die Möglichkeitsbedingungen physikalisch valenter Begriffe, unter denen die ›Union‹ ihre Stelle haben mag. Die Relativitätstheorie habe, so sagt man, das herkömmliche Vorurteil einer für alle Systeme gültigen Zeit überwunden. […] 342 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Daß es aber eine Ordnung der Zeit ist, der zufolge man die Gemeinsamkeit eines zeitlichen Maßwertes für alle Systeme ablehnt, bleibt so gewiß unüberwunden, als es zur Überwindung jenes Vorurteils unerläßlich bleibt zu wissen, was ›Zeit‹ bedeutet.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 118) Nochmals gilt es hervorzuheben, dass Hönigswald keineswegs die Relativitätstheorie als physikalische Theorie in Frage stellt, sondern einzig und allein sich dagegen verwahrt, dass aus ihr vorschnell erkenntnistheoretische oder naturphilosophische Schlüsse gezogen werden. Die Relativitätstheorie oder die Quantentheorie sind keine Weltdeutungen, sondern sie sind und bleiben physikalische Bestimmungen der in ihren methodischen Erkenntnishorizont fallenden Gegenstände. Niemals aber können sie die transzendentalphilosophische Problemstellung der Begründung und Rechtfertigung von Wirklichkeitserkenntnissen in ihrer Ist- und Ich-Bestimmtheit ersetzen. Die erkenntnistheoretische Bedeutung dieser transzendentalphilosophischen Analyse für unsere gegenwärtige Diskussion um die Bewältigung der ökologischen Krise ist enorm. Zum einen kann von dem doppelten Zugriff sowohl unser erlebtes Einbezogenseins in den lebendigen Naturzusammenhang gestärkt als auch der angemaßten Ontologisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse entgegengewirkt werden. Hierauf ist nochmals zurückzukommen.
11.3 Probleme der Verständigung und Sittlichkeit Die Monas, die wir je selber sind, ist im Sich-selbst-Wissen Mittelpunkt all ihrer Erlebnisse und jeweils Mittelpunkt des Jetzt der Zeit; sie ist sich präsent im Erleben von Wirklichkeit, da sie im Erleben bezogen ist auf die zeitstrukturierte Gegebenheit in ihrer Ganzheit, durch die sie sich selbst als gegebene bestimmt erfährt. Die Bezogenheit der Monas auf die Gegebenheit als Ganzes ist vermittelt durch ihre eigene Leiblichkeit, den eigenen Organismus, über den allein ein Erleben von Gegebenem möglich ist und der zugleich Organ ist, das über Reiz und Empfindung der Möglichkeit nach mit allem Gegebenen der Natur in ihrer Ganzheit verbunden ist. Soweit haben wir bisher die Monas als konstitutives Moment aller Erkenntnis behandelt, aber wir haben damit bei weitem noch nicht die Gesamtproblematik der Mitwirkung der Monas an der Wirklichkeitserkenntnis abgesteckt. (Hönigswald, Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre 1969/1970) 343 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Dem einzigartigen Erlebnismittelpunkt, den jede Monas darstellt, stehen unendlich viele Monaden, die selbst wiederum einzigartige Erlebnismittelpunkte sind, gegenüber. Zwar sind sie untereinander über Reiz und Empfindung ihrer Organismen naturhaft miteinander verbunden, aber gerade nicht in ihrer Einzigartigkeit als Monaden. Hier nun ist das Problem der Verständigung situiert, die Monas als einzelne kann sich gar nicht als Monas realisieren, nur in der Verständigung mit anderen Monaden kann sie der Einzigkeit ihres Erlebens und zugleich der Gemeinsamkeit ihres Verstehens mit den anderen gewahr werden. Diesem in Bezug auf die Selbstgewissheit der Monas formulierten Problem entspricht korrelativ ein Erkenntnisproblem. Für eine einzelne Monas kann es keine Wirklichkeitserkenntnis geben. Die Korrelation von Ist- und Ich-Bestimmtheit, die wir oben explizierten, konnte nur unter der stillschweigenden Voraussetzung sprachlicher Verständigung erfolgen (Hönigswald, Philosophie und Sprache, 1937: 67 ff.), denn die Verknüpfung von je eigenem Erleben von Gegebenem und allgemeiner Gegenstandsbestimmung kann – obwohl sie von jeder Monas selber vollzogen werden muss – niemals von einer Monas allein geleistet werden. Dabei ist »die Tatsächlichkeit der Sprache […] schlechthin einzig; sie stellt sich vermöge ihrer intermonadischen Funktionen, nicht als Naturobjekt dar, aber mit jenem wiederum einzigartigen Naturobjekt, das ›jemandes‹ Organismus heißt, in unauflöslicher funktioneller Gemeinschaft. [… S]ie besteht nur als wechselseitige Differenzierung besonderer Sprachsysteme und deren gerade in solcher Differenzierung ausgeprägten wechselweisen Beziehungen. D. h., sie offenbart sich nur in Akten des Sprechens und Verstehens, innerhalb geschichtlich gegebener und begrenzbarer Gemeinschaften.« (Hönigswald, Systematik der Philosophie, II: 422) Nur über die Sprache in einer Verständigungsgemeinschaft kann die Monas einerseits das je Eigene ihres Erlebens anderen mitzuteilen versuchen und kann der Monas andererseits das Allgemeine gemeinsamer Erkenntnis als Anspruch vermittelt werden. Ohne dies hier ausdrücklich zu erwähnen, knüpft Hönigswald mit dem Problem der sprachlichen Verständigung an alte Einsichten Platons im Kratylos an, die Friedrich Schleiermacher in seiner Dialektik weiter differenziert hat: Wirklichkeitserkenntnis ist nur im Verständigungszusammenhang mehrerer Subjekte, bezogen auf eine gegebene Wirklichkeit
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möglich. 18 Durchaus Schleiermacher fortführend, versteht Hönigswald dies als einen »dialektisch-geschichtlichen« Progress, in dem sich die Selbstwerdung der Monas, die Kulturwerdung der Gemeinschaft und die Differenzierung der Wirklichkeitserkenntnis miteinander verschränken. (Hönigswald, Philosophie und Sprache, 1937/1970: 211 ff.) 19 Reflektieren wir nun auf die Sprache als das vermittelnde Medium zwischen den sich verständigenden Monaden bezogen auf die gemeinsame Wirklichkeitserkenntnis, so erscheint die Sprache selbst unter einer doppelten Perspektive als ergon und energeia, wie Hönigswald in Anspielung auf Wilhelm von Humboldt sagt. 20 Über die Sprache werden der Monas nicht nur kulturelle Geltungsansprüche vermittelt, sondern die Sprache selbst stellt einen solchen Geltungsanspruch dar, sie repräsentiert das Allgemeine des menschlichen Geistes – in diesem Sinne kennzeichnet Hönigswald die Sprache durchaus so wie sein kantianischer Mitstreiter und Freund Ernst Cassirer. 21 Aber zugleich ist die Sprache in ihrem intermonadischen Vollzug des Gesprächs und in der Spontaneität monadischer Ausdrucksfindung das Individuellste des menschlichen Geistes – und hierin setzt sich Hönigswald kritisch von Ernst Cassirer ab: »Wem die Sprache Problem wird, dem stellt sie sich unter ganz bestimmten Gesichtspunkten immer auch als Gegenstand psychologischer Fragestellung dar. […] Die Sprache verkörpert Erlebnis und Natur in ihrer Wechselbezogenheit, und zwar selbst wieder im Medium des Erlebens. Insoweit erscheint die Sprache als ein Phänomen sui generis. Dieses ihr Eigenleben aber bewährt sich auch noch nach anderen Richtungen hin. Die Sprache hat als Medium und Substrat aller ›Dialektik‹ teil an dem Aufbau der Erkenntnis. Und darum muß sich das Gefüge dieses Aufbaus nicht allein in der Struktur der Sprache, sondern auch in der Wissenschaft von dieser Struktur verraten. Die Sprache ist als Gegenstand dieser Wissenschaft immer fertig und Friedrich Schleiermacher, Dialektik, 2 Bde. (2001), II: 1 ff. Vgl. Josef Derbolav, Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften (1972). 19 Vgl. Holger Burckhart, Sprachreflexion und Transzendentalphilosophie (1991) sowie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik (2008): 32 ff. 20 Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bdn., III: Schriften zur Sprachphilosophie (1963). 21 Siehe Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. I: Die Sprache (1923/1956). 18
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strebt immer auch über sich selbst hinaus; sie ist ἔργον und ἐνέργεια zugleich, genauer der Ausdruck für die Möglichkeit dieses Zugleichseins. Nie wird die Wissenschaft von der Sprache aufhören Grammatik zu sein, aber auch die Absolutheit grammatischer Werte zu bezweifeln […]. Individuell und interindividuell zugleich, verkörpert die Sprache die Gemeinschaft an der μονάς, die μονάς an der Gemeinschaft. Oder genauer: sie verkörpert beides.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 150 f.) Diese wenigen Skizzierungen mögen genügen, um die fundamentale Bedeutung zu unterstreichen, die der Sprache, der sprachlichen Verständigung im weitesten Sinne für die ganze menschliche Kultur und Geschichte und damit auch für die Wirklichkeitserkenntnis in ihrer Kulturgeprägtheit und Geschichtlichkeit zukommt. Um dieses Problemfeld abzurunden, seien hier noch einige hinweisende Bemerkungen zum Geltungswert der Sittlichkeit, auch als Grundlage für Pädagogik und Politik (Recht und Staat) angefügt. 22 Zunächst unterstreicht Hönigswald, dass alle Geltungswerte – die Wissenschaften, die Sittlichkeit, das Recht, die Kunst, der religiöse Glaube – Gestaltungen geistiger Allgemeinheit sind, die nicht deshalb gelten, weil die Mehrheit einer kulturellen Gemeinschaft sie zu ihren Normen erhoben habe, sondern deren Begründungsstruktur sich grundsätzlich umgekehrt darstellt: Weil etwas wahr, sittlich, rechtlich ist, gelten sie für alle, wird ihre Anerkennung von allen gefordert. »Werte sind Geltungsbestimmtheiten […]. Eben deshalb aber und nur deshalb sind sie objektiv […]. Das Objektive […] ist in dessen Abhängigkeit von dem Gedanken der Geltung beschlossen […]. Gelten und Geltungswert haben heißt nicht von irgend jemand als geltend anerkannt sein, oder gar von irgend jemandes Anerkennung und Zustimmung abhängen. Es heißt im Gegenteil von jeglicher Anerkennung und Verwerfung unabhängig sein oder doch unabhängig sein sollen. […] Das ›Wahre‹ verlangt Zustimmung; es ›soll‹ ihm zugestimmt werden. […] Die Wahrheit ›ist‹ nicht, weil man ihr zustimmt; sondern man soll ihr zustimmen, weil sie ›ist‹. Ihr Sein aber ist allemal Geltung.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 31 ff.) Auf die Sittlichkeit bezogen liegt in dieser grundsätzlichen Struktur der »kategorische Imperativ« – wie Kant dies nannte – beAuf diese Probleme geht Richard Hönigswald vor allem in der zweiten, um das Doppelte erweiterten Auflage seines Werkes Über die Grundlagen der Pädagogik (1918), 1927 ausführlich ein.
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Probleme der Verständigung und Sittlichkeit
gründet. Trotzdem ist damit das Problem der Geltungswerte nur von einem Brennpunkte her beleuchtet, denn erfüllen kann sich Sittlichkeit – wie jede andere Art von Geltung auch – nur im Vollzug ihrer Anerkennung und ihrer erstrebten Verwirklichung durch die sittlich handelnden Subjekte in einer gelebten sittlichen Gemeinschaft. »Geltung erhebt, wie sie Geltung unabhängig ›von allen‹ bedeutet, den Anspruch darauf Geltung ›für alle‹ zu sein. Sie fordert die Gemeinschaft der diesen Anspruch Anerkennenden und Erfüllenden. […] Es sind die Bedingungen des Vollzugs der Anerkennung und sie schließen den Gedanken an ›jemanden‹, als an das Subjekt dieses Vollzuges, ein. […] Ebendarum aber ist das ›Ich‹ auch nicht ein Geist neben meinem, neben ›jemandes‹ Ich; nicht ein Gespenst neben, in oder über der Natur […]. Das ›Ich‹ bedeutet den Gegenstand gemäß der Bedingung der Gemeinschaft, d. h. in der Form der Verständigung. Es repräsentiert den Gegenstand als Aufgabe«. (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 61; 71) Alle Kulturwerte, auch die der Kunst und des Glaubens, gelten zwar schlechthin und beanspruchen daher objektive Geltung, aber sie sind nichts außerhalb der konkreten Subjekte, die sie in intermonadischer Gemeinschaft anerkennen, vollziehen und erfüllen. Unter allen Geltungswerten kommt dabei dem Wert der Sittlichkeit eine ganz besondere Rolle zu, denn hier bezieht sich der Wert auf das Handeln der Monas im mitmenschlichen Zusammenhang selbst. Der Wert liegt nicht in einer Sache, sondern in der Bestimmtheit, aus der die Monas sich zu einer Handlung, bezogen auf andere Monaden, entschließt. Hier erst erfüllt sich der Begriff der Ich-Bestimmtheit ganz. In der Erfüllung sittlicher Ansprüche wird das Ich zur Persönlichkeit. »Und gerade […] damit […] rückt sie [die Philosophie] auch das ›Erleben‹ als den systematischen Gegenspieler jener Gemeinschaft [von Geltungen], und damit den kritischen, von allen undefinierten Voraussetzungen befreiten Begriffs des Wertes, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie ergreift mit dem Problem der systematischen Einheit möglicher Werte deren unerläßlichen Bezugspunkt, das ›Ich‹, in der ungeschmälerten Fülle seiner Einmaligkeit, mit seinem Ringen um sittliche und religiöse Entscheidung, als Quellpunkt der künstlerischen Tat […] und Bindungen in sozialer und rechtlicher Hinsicht.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 22) Gerade aber in dieser Konzentration auf die Aufgabe sittlichen Handelns, das jede Monas nur je für sich »erstreben« kann, liegt zugleich die Perspektive auf die Gemeinschaft, denn nur innerhalb einer 347 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Gemeinschaft lässt sich sittliches Handeln und Zusammenleben vollziehen. Von hier her wird klar, warum Hönigswald dem Problem der Pädagogik als Aufgabenstellung der Überlieferung und der konkreten Vermittlung von Geltungen und Werten in den gelebten Vollzug der heranwachsenden Subjekte einen so großen Stellenwert in seiner Philosophie beimisst. (Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik, 1918/1927: 25 ff.) Dass dazu korrespondierend Recht und Staat unter der sittlichpolitischen Aufgabe der Erhaltung der kulturellen Gemeinschaft stehen, entwickelt Hönigswald im neunten Kapitel der Grundfragen der Erkenntnistheorie. 23 Wo aber der Vollzug bedacht wird, der immer nur von konkreten Subjekten geleistet werden kann, da wird die sittliche Gemeinschaft und die Menschheitsgeschichte zur Aufgabe. Somit ist die Sittlichkeit in ganz besonderer Weise auf die Aufgabe gelebter Verwirklichung in der kulturellen Gemeinschaft und in der Menschheitsgeschichte angewiesen. »Es ist kein Zufall, daß sich hier ebenso unvermittelt wie unausweichlich die Wendung von der ›menschlichen‹, besser der ›menschheitlichen‹, Gemeinschaft aufdrängt […]. Denn der sittlich-pädagogische, der Kulturbegriff der ›Menschheit‹ ist es, zu dessen Träger jetzt der Begriff der Generation wird […]. Der Begriff der Menschheit selbst ist der Begriff eines Wertes. [… Er] bedeutet, daß die ›Menschheit‹ sich als ›Idee‹ bestimme. […] Die Menschheit ist mit anderen Worten überhaupt nur als der Sinn ihrer eigenen Entfaltung gemäß dem Gedanken ideeller Vollkommenheit. […] Der ›Mensch‹ allein entfaltet sich, vermöge der Abfolge seiner Generationen und der kulturellen Kontinuität dieser Abfolge, in seiner Geschichte. […] Oder etwas zugespitzter […] formuliert: die ›Menschheit‹ als Kultursubjekt ›hat‹ nicht nur ›Geschichte‹, sie ›ist‹ es auch.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 110, 121) Von Menschheitsgedenken an sind alle Erkenntnisse Produkte kommunikativer Prozesse, Ergebnisse gemeinsamer Systematisierung individuellen Erlebens, und zwar in doppelter zeitlicher Strukturierung, sowohl in der Gleichzeitigkeit gemeinsamen Wissens in einer Sprachgemeinschaft als auch im Hinblick auf die geschichtliche Überlieferung dieser Einsichten von einer Generation an die nächste. In seiner Systematik der Philosophie aus individueller ProblemVgl. Wolfgang K. Schulz, »Zur Staatsphilosophie von Richard Hönigswald«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 347 ff.
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Probleme der Verständigung und Sittlichkeit
gestaltung entwickelt schreibt Hönigswald hierzu: »Wir stehen, wie man bemerkt, zunächst vor den Problemen der Geschichte und der Sprache, weiterhin der Wertbezogenheit aller Überlieferung, also ihrer pädagogischen Relevanz im weitesten Sinne dieses Wortes.« (Systematik der Philosophie, II: 421) Die hier angesprochene »pädagogische Relevanz« manifestiert sich in zwei Problemfeldern, die die Aufgabe der Pädagogik strukturieren, wie dies schon Schleiermacher betont: die Überlieferung von Geltungswerten oder Sinngehalten von einer Generation an die nächste, um so die kulturelle Gemeinschaft zu erhalten, sowie die Bildung von selbständigen Persönlichkeiten als aktiven Trägern der kulturellen Gemeinschaft. 24 Der »eigentliche Sinn des pädagogischen Verhaltens überhaupt […] ist beschlossen in dem Sachverhalt der Überlieferung eines bestimmten Wahrheits- beziehungsweise Geltungsbestandes von einer Generation an die nachfolgenden durch die Vermittlung zeitlich nächsten.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 25) Auch diese beiden wechselweise aufeinander bezogenen Problemlinien, wie sie von Hönigswald ausführlich in Über die Grundlagen der Pädagogik grundgelegt und bis in die Fundierung der didaktischen Systematik und Methodik hinein erörtert wird, können wir hier nicht weiter verfolgen 25, sondern wollen hier nur auf die alles begründende »Idee der Menschheit« eingehen, die nicht nur zielorientierend für die Pädagogik, sondern über sie auch für die ganze Menschheitsgeschichte sinnbestimmend ist. Bereits als Tatsache ist die Menschheit mehr als nur ein »größenbestimmtes Ereignis«, mehr als »der Inbegriff menschlich-psychischen Geschehens«, denn »die ›Tatsachen sowohl‹ der Menschheit, als auch des einzelnen Menschen unterliegen den Bedingungen der Verständigung« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 111), und das bedeutet die kommunikative Erneuerung einer Gemeinschaft von Subjekten im Medium kultureller Sinnhorizonte.
Siehe hierzu die Ausarbeitung der Hönigswald-Schüler: Moritz Löwi, Grundbegriffe der Pädagogik (1934), sowie Alfred Petzelt, Grundzüge systematischer Pädagogik (1946/1954). 25 Vgl. Norbert Meder, Prinzip und Faktum. Transzendentalphilosophische Untersuchungen zu Zeit und Gegenständlichkeit im Anschluß an Richard Hönigswald (1975); Erwin Hufnagel, Richard Hönigswalds Pädagogikbegriff. Zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Pädagogik (1979); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1969/1995). 24
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Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens
Aber »Menschheit« ist nicht nur Tatsache, sondern auch Prinzip, Prinzip der Gestaltung der Menschwerdung durch die Menschen in der Geschichte. In diesem Belang kann man von der »›Menschheit‹ als Kultursubjekt« sagen, sie ist selbst die Gestalterin ihres eigenen Entfaltungsprozesses, indem sie versucht, sich aus den Ansprüchen von Geltungswerten und durch sie zu bestimmen. Als Prinzip ist die Menschheit ursprünglich an die Idee ihrer Höherbildung geknüpft. »Der Begriff der Menschheit selbst ist der Begriff eines Wertes. [… Dies] bedeutet, daß die ›Menschheit‹ sich als ›Idee‹ bestimme; […] daß sie sich letzten Endes als Prinzip objektiv geforderter Akte des Gedankenvollzugs als höchstes Prinzip der Bestimmtheit aller Formen der Gemeinschaft, damit als Richtmaß jeglichen Handelns, d. h. als ein System immerwährender und doch auch wieder stets erfüllter Aufgaben rechtfertige. Gerade als solches aber bedeutet ›Menschheit‹ den Prozeß fortgesetzter Höherbildung der Gemeinschaft im Sinne der Verwirklichung ideeller Forderungen. Die Menschheit ist […] überhaupt nur als der Sinn ihrer eigenen Entfaltung gemäß dem Gedanken ideeller Vollkommenheit.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 110) Die Geschichte, in der die Idee der Menschheit sich verwirklicht, ist »ein beständiges ›Werden‹ in den ›Werken‹ sowohl wie im ›Erleben‹«, ein Prozess, in welchem sich die Werte »zu der nie erreichten Höhe ihrer ideellen Eindeutigkeit emporbilden« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 103) und in dem sich die Menschen als Persönlichkeiten und als kulturelle Gemeinschaft an den Werten auf Vervollkommnung hin zu bewähren haben. Die Geschichte der Menschheit ist für Hönigswald daher vor allem ein pädagogisches Problem, sie ist ihm der dialektische Prozess der zeitlichen und sinnbestimmten Fortschritte auf die Erfüllung und Vervollkommnung der Menschheit hin. »Die Idee der Höherbildung also ist es, der gemäß jeder pädagogische Einfluß auf die ›Zukunft‹ verweist; dieselbe Idee aber auch, die den Prozeß jeder Höherbildung und damit die pädagogische ›Zukunft‹ selbst dialektisch gliedert.« (Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik: 104) Die Möglichkeit der Höherbildung der Menschheit im Medium von Sinn ist notwendig an die Verwirklichung von Geltungswerten in der Zeit gebunden, aber diese kann wiederum nur durch ihren Vollzug in intermonadischen Prozessen in der Geschichte ermöglicht werden. Die Idee ist die Möglichkeit und zugleich die Wirklichkeit sowohl der prinzipiellen Bildungsforderungen in ihrer zeitlosen 350 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der religiöse Glaube und die Philosophie
Geltung in der Zeit als auch der tatsächlichen edukativen Vollzüge in ihrer Bedeutungsgerichtetheit auf die Zukunft. Die Idee ist somit nicht nur die Möglichkeitsbedingung ihrer wechselseitigen Beziehbarkeit, sondern auch das Prinzip der Verwirklichung beider Beziehungen auf ihre wirkliche Erfüllung hin. Doch kann die »Idee der Menschheit« grundsätzlich nicht der Abschluss systematisch philosophischer Letztbegründung sein, zum einen, da sich in ihr selbst »die grundsätzliche Unabgeschlossenheit« (Grundlagen der Pädagogik: 110), ja grundsätzliche Unabschließbarkeit der Menschwerdung ausdrückt und zum andern, da die Menschheitsgeschichte selbst eingebettet bleibt in die sie mitumspannende unabgeschlossene Naturgeschichte. Der letzte Sinnhorizont kann also nur in einer beide Problemstellungen umfassenden Sinnfrage der Existenz überhaupt liegen.
11.4 Der religiöse Glaube und die Philosophie Eingebettet in diese transzendentalphilosophische Grundlegung wendet sich Richard Hönigswald schließlich dem Problem des Glaubens zu, der in der existentiellen Bejahung der Wirklichkeit als einer von der Gemeinschaft der Glaubenden erlebten Sinnstiftung gründet, von der sie sich immer schon als existentiell getragen und gefordert erleben. 26 Dies wird von Hönigswald jedoch nicht – wie bei Hegel – als eine Begrenztheit des Glaubens gegenüber der Philosophie verstanden, sondern macht für ihn gerade die höchste Gestalt transzendentalen Selbst- und Wirklichkeitsbegreifens aus – hierin eher an Friedrich Schleiermacher und Hermann Cohen erinnernd. 27 »Gott ist nicht, weil ich an ihn glaube, sondern ich glaube an ihn, weil er ist. Aber in diesem seinem ›Sein‹ spiegelt sich der Sinngehalt des Glaubens. […] Als Erfüllung dieser Voraussetzungen erscheint das göttRichard Hönigswald, »Vom philosophischen Problem des religiösen Glaubens«, in: Zeitschrift für Religionsphilosophie, 5 (1932): 49 ff., sowie Erkenntnistheoretisches zur Schöpfungsgeschichte der Genesis (1932) und Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen (1957). Vgl. Irene Kajon, »Die biblische Schöpfungserzählung bei Richard Hönigswald, Hermann Cohen und Ernst Cassirer«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 387 ff. 27 Vgl. Almut Sh. Bruckstein, »Richard Hönigswald im Kontext des jüdischen Neukantianismus«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen – Monas – Sprache (1997): 399 ff. 26
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Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens
liche Sein unbedingt. Gottes Unbedingtheit offenbart den glaubensmäßigen Sinn alles Bedingten und Bedingenden. Ich denke Gott im Sinne des Glaubens, indem ich mich selbst durch Gott ›gesetzt‹ weiß.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 189) Im Glauben wird die Gegebenheit der Wirklichkeit, in die die Monas sich gestellt erfährt, als ein gestiftetes Sinnganzes bejaht. Aber mehr noch ist die Sinnstiftung Ermöglichung unseres sprachlichen und sittlichen Sinnverstehens und Sinnerstrebens. Hierin wurzelt der Begriff der »Offenbarung«, wie Hönigswald ausführt – fast schon an parallele Ausführungen Franz Rosenzweigs erinnernd 28 –, denn in der Gegebenheit der Sprache und der Sinnansprüche liegt der ermöglichende Grund von Sinnverständigung und sittlicher Bewährung erschlossen, der sich ihr als im Voraus gestifteter Sinnanspruch offenbart. »Seine [Gottes] ›Absolutheit‹ bedeutet, daß jede μονάς in ihrem notwendigen Kulturbezug als Wert allezeit fähig erscheint, um ihre Abhängigkeit von Gott zu wissen. Und ›Abhängigkeit‹ wieder besagt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Verständigung mit einem einziggearteten ›Du‹, also eine im Hinblick darauf selbst wieder einziggeartete Form der Verständigung. […] Die Monaden sprechen, Gott aber ist ein ›Du‹, das sich mir offenbart. […] So umspannt der Begriff der Offenbarung meine verständigungsmäßig kulturellen Beziehungen zum ›anderen‹. So steht ›Offenbarung‹ grundsätzlich jenseits aller Sprachen. Sie ist übersprachlich und setzt doch Sprache und Sprachgemeinschaften, d. h. eben den Menschen notwendig voraus.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 190 f.) Gemäß der gesamten Anlage seiner transzendentalanalytischen Korrelations-Dialektik arbeitet Hönigswald das Bedingungsgefüge der jüdischen und christlichen Glaubenstradition heraus. In ihr gipfelt die menschheitliche Glaubenstradition, die den von Gott her gestifteten dialogischen Sinnbezug als Aufgegebenheit gemeinsamen Menschseins zu bewähren versucht – Hönigswald spricht in diesem Zusammenhang ganz im Sinne Kants von der »Gleichnisrede von der Menschheit als dem ›eingeborenen Sohn Gottes‹« (Systematik der Philosophie, II: 510). So erreicht erst im Problem des Glaubens Hönigswalds Transzendentalanalyse im Horizont »kritischer Metaphysik« die letzte Tiefe existentieller und verständigungsbezogener Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991): 62 ff.
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Der religiöse Glaube und die Philosophie
Sinnfindung im Gedanken einer Wirklichkeitsbejahung (Systematik der Philosophie, II: 574 ff.) – was keineswegs die Möglichkeit eines Haderns mit Gott ausschließt. Hier ist nun der Ort, um an Hönigswalds scharfe Polemik gegen Heideggers Anrufung des »Nichts« in seiner Schrift »Was ist Metaphysik?« (1929) 29 zu erinnern. »Im Zusammenhang desselben Problemkreises [… der unaufhebbaren Verwiesenheit der Monas an die Gegenständlichkeit] entgeht man der fatalen Berührung mit dem Begriffsbereich der Methode freilich dadurch, daß man sich entschlossen in die sichere Obhut des Nichts begibt. Unvergleichlich, wie es seinem Wesen nach nun einmal ist, brütet das ›Nichts‹ tröstliche Angst verbreitend, indem es, so lautet der naheliegende und gerade darum überraschende Ausdruck, ›nichtet‹. […] Indessen, solche Einsichten entziehen sich […] jedem Bedenken. […] Denn Bedenken bedeutet immer Fragen; wieweit nun Fragen bis in die unheimlichen Tiefen des ›Nichts‹ überhaupt herabreichen, läßt sich grundsätzlich nicht ausmachen. So ist denn der Rest auch hier Schweigen. […] Gegenständlichkeit kann nicht verneint werden, so gewiß Verneinung selbst bejaht, d. h. unter die Bedingung gegenständlicher Geltung gestellt sein muß. So empfängt die Verneinung von der Gegenständlichkeit allein Sinn und Funktion.« (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 62 f.) Hönigswald sieht in Heideggers Explikation der Frage »Was ist Metaphysik?« nicht nur die Fundamente jeglicher Philosophie, sondern auch jeglichen religiösen Glaubens in Frage gestellt. Denn der religiöse Glaube ist letztlich nichts anderes als die Bejahung der Aufgegebenheit der Existenz aus der glaubenden Erfahrung des Bejahtseins durch den sinnstiftenen Existenzzusammenhang, der Gott genannt wird. »Gottes Sein und meine Gemeinschaft mit diesem mich setzenden Sein sind eins. In solchem Sinn aber weiß ich auch alles, was zu ›mir‹ gehört, durch Gott gesetzt. Er ist der Sinn dieses meines ›Wissens‹ ; innerhalb dieses Sinnes aber ist, gleich mir selbst, die Natur Geschöpf Gottes. Gemäß diesem Sinn nenne ich Gott […] ›Du‹. Er muß mich, wie immer ich auch zu ihm rede, verstehen, und ich verstehe ihn, indem ich, von ihm bedingungslos abhängig, zu ihm rede. Ich werde im Glauben ›seiner gewiß‹. Ich ›vertraue‹ ihm in der Bedingungslosigkeit gläubiger Abhängigkeit, er ›erhört‹ mich, ich bin ›sei-
Martin Heidegger, »Was ist Metaphysik?« (1929), in: Wegmarken (1967), GA 49: 103 ff.
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Hönigswald – Erkennen, Selbstpräsenz und das Problem des Glaubens
ner Gnade teilhaftig‹, ich ›bete‹ zu ihm«. (Hönigswald, Erkenntnistheorie: 195) Aber die transzendentale Analyse der Möglichkeit des Glaubens kann nicht das letzte Wort der Philosophie sein; die Philosophie muss mit der transzendentalanalytischen Explikation der Idee der Wirklichkeit (Gegenständlichkeit) enden. Dies bedeutet aber nicht, dass die Philosophie sich höher dünken könne als der Glaube, sondern nur dass sie auf ihre Weise den Gedanken der Wirklichkeit (Gegenständlichkeit) als sich selbst rechtfertigende Letztbegründung zu Ende zu führen hat. Gerade auch am Verhältnis von Philosophie und Glaube wird nochmals – im Gegensatz zu Hegel – das gleichwertige Nebeneinander der Geltungssphären deutlich. Die Philosophie als aufklärende Analysis der korrelativ auseinandertretenden Momente weiß sich unaufgebbar einbezogen in die Wirklichkeit (Gegenständlichkeit) als letzte und höchste Idee – im Sinne Platons und Kants. Diese Idee als Letzthorizont, von der her und auf die hin alles Denken als letztbegründende und rechtfertigende Analysis sich immer schon ereignet, sei abschließend mit Hönigswalds eigenen Worten aus der Studie »Vom Problem der Idee« (1926) ausgesprochen, da in ihnen Hönigswalds Motiv nochmals prägnant zum Ausdruck kommt, Hegels System der Synthesis – an dem er sich letztlich immer wieder misst – eine ebenso in sich geschlossene Systematik der Analysis entgegenzusetzen: »Sie [die Idee] bedeutet als ἀνυπόϑετον Inbegriff und Prozeß, Letztheit und Anfang, Gehalt und Norm, Gegebenheit und Aufgabe auf einmal. […] Sie steht nicht in der Zeit; aber auch nicht außerhalb dieser. Denn sie ist ja die Zeit, […] die Zeit als Ganzheit, d. h. als Ewigkeit. In diesem, und nur in diesem Verstande bedeutet die Idee das Sein selbst; das Sein […] als der sich ewig erneuernde und gestaltende, gerade damit aber die höchsten Bedingungen des Gegenstandsgedankens fordernde und zugleich erfüllende, in sich selbst gründende Sinn. Der Sinn war ›im Anfang‹ ; und er steht am Ende. Im Sinn sind Anfang und Ende eins. Denn der Sinn ist das Ganze.« (Hönigswald, Vom Problem der Idee: 301) 30
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Synthesis und Analysis« (1969), in: Ders., Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1995): 171 ff.
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12. Hans Ehrenbergs Weg vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor 1
Wie ein Komet taucht Hans Ehrenberg (1883–1958) am Himmel der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer brillanten Streitschrift Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer (1911) auf, um sich rund 15 Jahre später mit einer dreibändigen Disputation. Drei Bücher vom deutschen Idealismus (1923– 25) wieder von der Philosophie zu verabschieden. Es waren – wie er betont – religiöse Fragen, die ihn zur Philosophie führten, und es sind die Grenzen philosophischer Antworten, die ihn von der Philosophie wieder Abschied nehmen lassen. Zunächst studiert Hans Ehrenberg ab 1902 in Göttingen, Berlin und München Staats- und Rechtswissenschaften, ein Studium, das er 1906 in München mit einer Dissertation Die Eisenhüttentechnik und der deutsche Hüttenarbeiter (1906) abschließt. Nach einem einjährigen Militärdienst in Kassel nimmt Hans Ehrenberg zum Wintersemester 1907/8 ein Zweitstudium der Philosophie zunächst in Berlin auf, das er – wie schon die letzten beiden in München – in intensiver Diskussion mit seinem drei Jahre jüngeren Vetter Franz Rosenzweig verbringt. 2 Danach setzt Ehrenberg sein Philosophiestudium in Heidelberg beim Neukantianer Wilhelm Windelband fort, dass er bereits drei Semester später 1909 mit der Dissertation Kants mathematische Grundsätze der reinen Naturwissenschaft (1910) abschließt. Am 3. November 1909 konvertiert Ehrenberg zum Christentum, eine Vo-
Gekürzte und überarbeitete Fassung der Hans Ehrenberg Lectures an der Evang.Theologischen Fakultät der Universität Bochum vom 13./14. Juli 2017; erschienen in: Traugott Jähnichen / Andreas Losch (Hg.), Hans Ehrenberg als Grenzgänger zwischen Theologie und Philosophie (Hans Ehrenberg-Studien 1), 2017: 1–42. 2 Dieses und das folgende Kapitel 13: »Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes« gehören eng zusammen, wobei das Ehrenberg-Kapitel mehr die philosophische Grundlegung und das Rosenzweig-Kapitel mehr die theologischen Fragestellungen nachzeichnet, schließlich mündet beides in der Nachzeichnung des bedeutendsten jüdisch-christlichen Dialogs in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. 1
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Hans Ehrenberg: Vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor
raussetzung, um sich auch habilitieren zu können. 3 Noch 1910 baut er seine Dissertation zu einer Habilitationsschrift aus, die er unter dem Titel Kritik der Psychologie als Wissenschaft (1910) einreicht. In dieser Zeit verkehrt er häufig zusammen mit Ernst Bloch und Georg Lukács sowohl im Kreis um Max und Marianne Weber als auch in der »russischen Kolonie« in Heidelberg und diskutiert religionsphilosophische und metaphysische Fragen. Im ersten Jahr seiner Privatdozentenzeit erscheinen kurz hintereinander die Broschüre Die Geschichte des Menschen unserer Zeit (1911) und seine philosophische Grundlegung: Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer (1911), die den 28–jährigen Privatdozenten Hans Ehrenberg als einen der profiliertesten Philosophen seiner Zeit ausweisen, der einerseits zu der Avantgarde jener jungen Denker gehört, die über den damals vorherrschenden Kantianismus hinaus zu Hegels Systemphilosophie vordringen, und der andererseits erstmals wieder in der Nachfolge Schellings und unter Bezugnahme auf Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche die ganze idealistische Philosophie in Frage zu stellen beginnt.
12.1 Das Motiv zum Einstieg in die Philosophie Das Motiv zu seinem Eintritt in sein eigenes Philosophieren legt Hans Ehrenberg in der Abhandlung Die Geschichte des Menschen unserer Zeit (1911) dar, an der er – wie er selber angibt (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 50) – im Jahr seiner Konversion 1909 zu schreiben begonnen hat. Aufgerüttelt wird er dazu durch die Schriften von Friedrich Nietzsche, die ihn in der existentiellen Wucht ihre Zeitdiagnostik fasziniert, deren antizipierte Perspektive ihn aber keineswegs befriedigt. Hier ist es wohl der sittlich-religiöse Anspruch, wie er in den Schriften von Fjodor Dostojewski zum Ausdruck kommt, der ihn davor bewahrt, der Suggestionskraft Nietzsches zu erliegen. Ein Jahrhundert zuvor hat Johann Gottlieb Fichte das gegenwärtige Zeitalter als das Zeitalter der »vollendeten Sündhaftigkeit« cha-
Vgl. Günter Brakelmann, Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland (1997), I: 22 f., sowie auch Hans Ehrenberg, Autobiographie eines deutschen Pfarrers (1999): 111.
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Das Motiv zum Einstieg in die Philosophie
rakterisiert 4, da es den Menschen in seiner vernunftlosen Empirie und seinem maßlosen Egoismus auf den Thron setzt. Nun diagnostiziert auch Nietzsche in ganz ähnlicher Weise die Absolutsetzung des Menschen, nur dass er dies nicht negativ als »vollendete Sündhaftigkeit«, sondern positiv als die bewusst zu übernehmende Herausforderung postuliert, der sich die Menschen seiner Zeit nicht mehr entziehen können; nachdem sie durch ihre Wissenschaften, ihre Technik, ihre Ökonomie faktisch Gott abgesetzt haben, müssen sie sich nun auch getrauen, seine Stelle einzunehmen. Der diese Herausforderung übernehmende »kommende Mensch« wird bereits in einer Doppelgestalt antizipierbar: als »Übermensch« jenseits von Gut und Böse sowie als »blonde Bestie« mit ihrem unbedingten »Willen zur Macht«. 5 »Der Mensch sah sich an das Nichts als an seinen Gott verraten, und die Flügel des Welttores schlugen hinter ihm zu. […] Das Nichts sein Gott, also Gott ihm ein Nichts, die Welt verschlossen, also er selber verbannt aus der Fülle […]. So fand das Ich an sich selber einzigen Genossen und einzigen Widerpart«. (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 5) Keineswegs stellt Ehrenberg die diagnostische Treffsicherheit von Nietzsches Analyse in Abrede, sie charakterisiert unsere Zeit durchaus zutreffend: »So ist bei Nietzsche alles in Menschliches, Allzumenschliches verwandelt. Die Wirklichkeit der Welt ist nichts als das Ich, der Mensch […] ist dadurch sein eigenes Absolutes.« (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 10) Vielmehr will Ehrenberg zeigen, dass die beiden Perspektiven, die Nietzsche dem Menschen aufzeigt – der »Übermensch« und die »blonde Bestie« –, sich nicht nur gegenseitig widersprechen, sondern auch je immanent widersprüchlich sind, so dass von ihnen her keine Geschichte der Menschen mehr zu antizipieren ist. Obwohl von Nietzsche als Einheit verstanden, enthebt einerseits der »Übermensch« den Menschen der Welt und verwirklicht so den Idealismus pur – hier scheint deutlich eine säkularisierte Vision von Hegels absolutem Geist auf. »Aber niemand ist da, der dem höheren Menschen in seiner Einsamkeit zuhört«. (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 12 f.) Entgegengesetzt stellt sich andererseits die Perspektive der »blonde Bestie« dar, der alltägliche Materialismus unserer Zeit, »für welche die Welt nur Material des Ichs, Johann Gottlieb Fichte, Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1805), VII: 11 ff. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, II: 287; Zur Genealogie der Moral, II: 787; Jenseits von Gut und Böse, II: 729. 4 5
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Hans Ehrenberg: Vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor
nur Objekt des Willens zur Macht« ist. (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 24) Beide Perspektiven rücken in unterschiedlicher Weise das Ich ins Zentrum und glauben somit, ohne das Du des anderen Menschen auskommen zu können. Entweder vereinnahmen sie den Anderen in die Allgemeinheit eines majestätischen Wir des übermenschlichen Geistes oder sie machen die Anderen zu bloßen Objekten ihres Willens zur Macht. Gerade an diesem Mangel ihrer Bezogenheit auf den anderen Menschen als Du suchen beide Perspektiven einander und zerreiben sich gegenseitig, ohne aus ihrem Dilemma herausfinden zu können. (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 35) Wiederum ist es so, dass Ehrenberg nicht Nietzsche diese Widersprüche vorwirft, sondern ihn als scharfsinnigen Analytiker unserer Zeit ausmacht, der allerdings nicht aus diesen Widersprüchen hinausfindet, sondern ihnen selbst verfällt. Den »Übergang vom alten zum neuen Zeitgeist zeigt uns derjenige Zeitpunkt, dessen Vertreter Nietzsche gewesen ist. Denn er war der Richter, der dem Widerstreit, welcher vor ihm die Menschen trennte, ein Ende machte, und allerdings dadurch auch das Opfer [wurde], das diesem Widerspruch [ver]fiel, – dem Widerspruch des historistischen Relativismus und des pessimistischen Nihilismus.« (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 49) Daher ist es an der jungen Generation, der Ehrenberg selber mit angehört, Wege der Überwindung dieser Zerrissenheit zu finden: »Für uns kommt daher die Erfüllung erst in dem Augenblick, in welchem wir uns der Gegenwart und damit unser selbst als eines Ergebnisses unserer Weltarbeit vergewissern«. (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 46) Die Gewinnung der eigenen Gegenwart bedeutet für die Generation am Anfang des 20. Jahrhunderts: Erstens das Ernstnehmen des Anderen als Du und das bewusste Wir mitmenschlichen Zusammenlebens, damit öffnet sich darüber hinaus auch ein erneutes Verstehen unseres Eingebettetseins in die lebendige Natur, die weder nur belangloses Nichtsein für den Übermenschen noch bloßes Objekt unserer Beherrschung ist. Zweitens offenbart sich dem Menschen aber auch ein neuer Zugang zur Sinnbestimmtheit des absoluten Seins, die er nicht anders als ein Geschenk Gottes zu erfahren vermag. »Der Mensch gelangt hier ohne Arbeit und Mühe zum Bewußtsein und Genusse seiner Göttlichkeit; die höheren Menschen, für die Gott gestorben und die für Gott erstorben waren, fühlen jetzt auf ureigenem Boden das Göttliche sprossen und reifen. […] In […] der jung erwachten Gottesliebe ist der Trotz und die unbeugsame Eigenheit des 358 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Parteiung der Philosophie
Einzelnen endgültig gebrochen; zu höherem Dienste ist er sich berufen, in höherer Tätigkeit erwächst ihm sein lebensvolles Dasein. Und keineswegs verneint er darin sich selbst; es ist ihm kein Riß zwischen sich und Gott; Gott ist ihm die höchste Positivität, und alles SittlichUnsittliche ist dem Menschen aus seinem Gotte verbannt; es ist nicht mehr der Mensch, sondern sein Gott, der jenseits von Gut und Böse steht.« (Ehrenberg, Geschichte des Menschen: 44 f.)
12.2 Die Parteiung der Philosophie Die Geschichte des Menschen unserer Zeit (1911) ist eines der ersten Zeugnisse frühexistentialistischer Kritik an der idealistischen Philosophie und am Materialismus der Wissenschaften, wie sie aufgerüttelt durch Kierkegaard und Nietzsche zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbricht. Diese Broschüre spricht in ›expressionistischer‹ Weise das Motiv aus, das Ehrenberg umtreibt, sich ganz der Philosophie zu verschreiben. In ihrem Ausdruck ist es am ehesten vergleichbar mit den zur gleichen Zeit entstandenen Essays Die Seele und die Formen (1911) von Georg Lukács oder dem einige Jahre später konzipierten Werk Geist der Utopie von Ernst Bloch, das kriegsbedingt erst 1918 erscheint. Aber schon im selben Jahr legt Hans Ehrenberg auch seine philosophische Grundlegung vor: Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer (1911). Mit diesem Buch schreibt sich Hans Ehrenberg an die Front der damaligen vom Neukantianismus beherrschten philosophischen Diskussion 6, deren führender Kopf der neuen Generation in Heidelberg Emil Lask ist, der sich bereits in Dissertation und Habilitation für einen erweiterten Kantianismus mit Öffnung zum Idealismus von Fichte und Hegel einsetzt. 7 Lasks eigene Grundlegung Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre erscheinen 1911, auf sie bezieht sich Ehrenberg in seiner Parteiung
Im selben Jahr erschien auch Edmund Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft (1911), mit der die neue Schulrichtung der Phänomenologie begründet wurde. 7 Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte (1902). Auch Emil Lask verkehrte – wie Bloch und Ehrenberg – im Kreis um Max und Marianne Weber in Heidelberg und war besonders mit dem um zehn Jahre jüngeren Georg Lukács befreundet. Tragischerweise fiel Emil Lask bereits im ersten Weltkriegsjahr im Mai 1915 an der Ostfront. 6
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Hans Ehrenberg: Vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor
der Philosophie anerkennend und kritisch zugleich. (Ehrenberg, Parteiung: 7) Während sich gerade erst eine junge Generation von Philosophen aus dem Neukantianismus zum absoluten Idealismus Hegels vorkämpft wie Julius Ebbinghaus mit seiner Heidelberger Promotion Relativer und absoluter Idealismus (1910) und Richard Kroner, dessen zweibändiges Werk Von Kant bis Hegel (1921/1924) erst nach dem Ersten Weltkrieg fertig ausgearbeitet und herausgegeben werden kann, legt Hans Ehrenberg mit seiner Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und den Kantianismus bereits eine grundlegende – von Schelling angeregte – Kritik dieser beiden Schulrichtungen des Idealismus vor, die einander gegenübergestellt ihre jeweiligen Blößen, aber auch Stärken erkennen lassen. Gleichwohl ist das Ernstnehmen der Philosophie Hegels in jener Zeit noch etwas völlig Neues, was Ehrenberg sicherlich seinem philosophischen Neuansatz dem polemischen Vorwurf aussetzt, selbst ein Neu-Hegelianer zu sein. (Ehrenberg, Parteiung: 7) Der rote Faden, der die ganze Untersuchung durchzieht, ist die Frage, wie das Denken die Wirklichkeit zu begreifen vermag. Diese Frage ist jedoch zugleich nicht anders denkbar als Selbstklärung der Wissenschaftlichkeit der Philosophie, wie dies zwar schon seit der griechischen Antike, sicherlich aber seit Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) als einer Kritik an der Vernunft durch die Vernunft zum Prinzip der Philosophie erhoben ist. Aber Kant kann sein eigenes Programm nicht wahrhaft zu Ende führen, denn es gelingt ihm letztlich nicht, die die Wirklichkeit begreifende Vernunft und die sich selbst begreifende Vernunft zur Einheit zusammenzuführen. Der Lösung dieser offenen Aufgabe stellen sich die Denker des Deutschen Idealismus, wobei Ehrenberg in der Parteiung der Philosophie die Problemstellung nur von Hegel her aufnimmt, dem er die beiden Hauptrichtungen des Neukantianismus entgegenstellt. Dies geschieht in mehreren Durchgängen, denen Ehrenberg dann jeweils seine sie beide überbietende Position folgen lässt 8 – wir beschränken uns an dieser Stelle auf einen zusammenfassenden Durchgang seiner Darlegungen:
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991), darin das Kapitel: »Zur früh-existentialistischen Idealismuskritik der Vettern Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig«: 91 ff.
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Die Parteiung der Philosophie
12.2.1 Kritik an Hegel Hegel wirft bekanntlich Kants Rückfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis polemisch vor, jemandem zu gleichen, der das Schwimmen erlernen will, ohne ins Wasser zu steigen. In der Phänomenologie des Geistes (1807) versucht er dagegen zu zeigen, wie das Bewusstsein über die bewusste Aneignung seines Gegenstandes und seines begreifenden Selbstbewusstseins stufenweise zur Einheit des »absoluten Wissens« des Geistes – hierbei sich selbst als subjektives Bewusstsein aufopfernd – zu gelangen vermag. So erfüllt die Phänomenologie des Geistes die Aufgabe, der hinführende Weg zur Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) zu sein, in der die Philosophie, beginnend mit der »Logik« über die »Philosophie der Natur« bis zur »Philosophie des Geistes«, zum Begreifen der materialen Wirklichkeit aus dem Geist an und für sich selbst wird. Worauf Hegel beim Übersprung von der Phänomenologie zur Logik nicht achtet, ist der Wechsel des Subjekts des Selbstbewusstseins, da er ihn für einen möglichen Überstieg ausgibt: Ist es in der Phänomenologie das subjektive Bewusstsein, das schrittweise sich und seinen Gegenstand in das sich selbst wissende Selbstbewusstsein aufhebt, so ist es in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften das Selbstbewusstsein des absoluten Geistes, das sich in der Identität mit dem Wirklichen weiß und zum sich selbst wissenden Geist an und für sich selbst erhebt. »Das Selbstbewußtsein bedeutet also einmal die Wissensabsolutheit, die wir im Akt der Selbstbewußtwerdung erwerben, – das andere Mal das sich zum Inhalt Werden des Denkens, einmal den Gültigkeits-, dann den Objektbegriff der Wissenschaft. […] Eine so prävalierende Stellung nahm der Standpunkt des absoluten Wissens, die Unbedingtheitsqualität des Erkennens, bei Hegel ein, daß er den Paralogismus begehen konnte, die Allgemeinheit der Wissensgeltung auf den Wissensgegenstand unmittelbar zu übertragen.« (Ehrenberg, Parteiung: 14) Dies hat zur Konsequenz, dass das ganze System der Philosophie Hegels nicht nur zu einem einzigen ontologischen Gottesbeweis wird, sondern der ganze Durchgang der Wirklichkeitserkenntnis zur Selbsterkenntnis des absoluten Geistes Gottes selbst wird. Der durch alle Gestalten der Wirklichkeit führende Weg der Erkenntnis des absoluten Geistes, den die Philosophie beschreitet, ist zugleich der Weg der Selbsterkenntnis Gottes, der genitivus subiectivus fällt mit den genitivus obiectivus zusammen. »Vernunft und Wirklichkeit decken 361 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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sich in ihrem Umfang, wobei die Vernunft die Einheitskraft ist, welche den Umkreis zieht. [… D]ie Vernunftimmanenz des Wirklichen ist […] das Ein und Alles der Hegelschen Philosophie: alles Wirkliche ist Geist!« (Ehrenberg, Parteiung: 46)
12.2.2 Die Kantianer Um dieser Hypostasierung des Begriffs der Wirklichkeit zur Wirklichkeit an sich bei Hegel zu entgehen, versucht der Neukantianismus zunächst die Kantische Fragestellung allein auf die wissenschaftliche Erkenntnis zu reduzieren. Also gar nicht erst nach den Bedingungen der Möglichkeit der Wirklichkeitserkenntnis zu fragen, sondern – wie dies insbesondere Hermann Cohen in der Logik der reinen Erkenntnis (1902) unternimmt – allein auf die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu beschränken. »Logik der Philosophie heißt jetzt Logik der Form der Philosophie – nicht mehr Logik des Gegenstands Philosophie; die transzendentale Selbstbesinnung ist nicht mehr materialiter orientiert, sondern ergreift jetzt als Gegenstand des Besinnens die transzendentale Selbstbesinnung, die Methode des Philosophierens selbst […]: die Möglichkeit der philosophischen Erkenntnis.« (Ehrenberg, Parteiung: 29) Aber gerade eine solche Reduktion allein auf das Wissensproblem ist nicht durchzuhalten, denn es »schlägt wieder in das Seinsproblem um« (Ehrenberg, Parteiung der Philosophie: 22), insofern die Wissenschaften unterstellen, die einzig wahren Erkenntnisse der Wirklichkeit erbringen zu können. Allerdings entzündet sich daran sogleich ein Streit innerhalb des Neukantianismus, denn die wissenschaftliche Erkenntnis schöpft die Erfahrungssphäre nicht aus, es gibt gleichsam noch »meta-logische Gegenstände« wie die ethisch-rechtlichen Wertsetzungen und die ästhetischen Anschauungen, die, wie Heinrich Rickert betont, je eigene »Logiken« ihrer Urteilsbildungen einfordern. 9 Nun erhebt sich die Frage, ob der Erkenntnislogik der Primat über die anderen Erfahrungssphären zugesprochen werden kann oder ob jene selbst nur eine unter vielen Formen der »Wertwissenschaften« (Rickert) darstellt. 9 Vgl. Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis: ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transcendenz (1892); Wilhelm Windelband, Über die Gewissheit der Erkenntnis. Eine psychologisch-erkenntnistheoretische Studie (1873).
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Um diese Problematik diskutieren zu können, führt Emil Lask die Logik der Philosophie (1911) ein, die nach dem materialen Sinngehalt der verschiedenen Wirklichkeitsbereiche fragt. So übergreift die Logik der Philosophie materialiter die ihr vorausliegenden Logiken des Erkennens, Wertens und ästhetischen Anschauens und macht so sichtbar, dass ihre Thematisierungen der Wirklichkeit auch die Erkenntnis übergreift. Wir haben also hier – so betont Lask – zwei Problemstellungen, die sich gegenseitig übergreifen: von Seiten der Erkenntnislogik erscheint die Wirklichkeit in der Immanenz der Vernunft und von Seiten der philosophischen Thematisierung der Wirklichkeitsbereiche erscheint die Vernunfterkenntnis einbezogen in der Immanenz der Wirklichkeit. Gerade aber das von Emil Lask in der Logik der Philosophie betonte gegenseitige Übergreifen von Vernunft und Wirklichkeit erneuert zugleich den »Identitätsstandpunkt des Idealismus«, denn »der Gegensatz von Vernunft und Wirklichkeit [wird nur] innerhalb der Vernunft aufgelöst« (Ehrenberg, Parteiung: 61), wobei von Lask nicht mitbedacht wird, dass die »wirkliche Vernunft« sich selbst als Teil der sie und alles andere Wirkliche übergreifenden Wirklichkeit thematisieren muss, also nicht identisch sein kann mit der alle Wirklichkeit übergreifenden erkennenden Vernunft.
12.2.3 Ehrenbergs eigene Grundlegung Von hier her haben wir – so betont Ehrenberg – über den Kantianismus und Hegelianismus hinaus »den Begriff der Logik der Philosophie […] von Grund aus neu zu formen«. (Ehrenberg, Parteiung: 29) Wo immer sich das Denken, das ein Denken des Seins ist, sich auf sich selbst zurückwendet, also zum Denken des Denkens wird, muss es sich bewusst bleiben, dass es sich nun ausschließlich auf sich selbst bezieht. Nur bezogen auf die »innerlogische Gegenständlichkeit« der Kategorien hat Hegel durchaus Recht, die Einheit von Gewissheit seiner selbst und Gegenstand, die Identität von Subjekt und Objekt zu betonen – alles darüber hinaus ist eine Hypostasierung der Logik. Bedenkt die Philosophie dagegen das Ganze der Wirklichkeit in ihrem Sinnzusammenhang, so findet sie sich selbst als einen wirklichen Gegenstand in der Mannigfaltigkeit und der Systematik des Wirklichen vor und begreift sich als jenes Teilmoment, das das Ganze und sich selbst in ihm begreifend umfasst. »Das Reich des Wirklichen ist grö363 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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ßer als das des Möglichen. Wenn so die Wirklichkeitsimmanenz der Vernunft gleichsam über die Vernunftimmanenz der Wirklichkeit den Sieg davonträgt, […] so sehen wir überhaupt, wie die Philosophie dazu berufen ist, mit dem, was sie selber als Wirklichkeit ist, sich selber, dem Ganzen des Wissens und der Wirklichkeit, den Abschluß zu geben.« (Ehrenberg, Parteiung: 63) Die den Sinnzusammenhang der Wirklichkeit tragende Einheit von Sinn und Wirklichkeit vermag die Philosophie nur in dem alles und auch sie selbst übergreifenden Absoluten zu thematisieren. Dabei ist diese alles übergreifende absolute Wirklichkeit nicht identisch mit der von der Vernunft gebildeten Idee des Absoluten, denn diese ist eine innerlogische Idee, während die Vernunft jene als sie selbst noch als metalogisch übergreifend erfährt. »Die Philosophie […] bestimmt so das Wesen des absoluten Seins durch die Spannung zwischen dem absoluten Sein an sich und dem Sein des absoluten Wissens, die durch Eintreten des Wissens in die Wirklichkeit entsteht. Nennen wir den Gegensatz des Reiches Gottes und des Reichs der Philosophie, so haben wir das Problem des absoluten Seins – das Problem Gottes ausgesprochen.« (Ehrenberg, Parteiung: 77) In Hegels System kommt es zu einer idealistischen Ineinssetzung von Philosophie und Gott, insofern in seinem System der genitivus subiectivus und der genitivus obiectivus der Erkenntnis Gottes zusammenfallen. Die Kantianer haben – so betont Ehrenberg – die Arbeit der Überwindung dieser Hybris vollbracht, denn ebenso wenig wie »das Bewußtsein, das ›da ist‹« mit »dem wissenden Subjekt« identisch gesetzt werden kann, darf der begreifende Geist mit der Selbsterkenntnis Gottes gleichgesetzt werden. Demgegenüber gilt es, darauf zu bestehen, dass nur das sich logisch auf sich selbst beziehende Denken Subjekt und Objekt seiner selbst ist, wo sich aber das Denken aus dem Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit bedenkt, kann es sich nur aus einem metalogischen Sinnzusammenhang des Wirklichen erfassen, das nicht aus ihm, sondern aus Anderem konstituiert ist. »Und wir verstehen jetzt die Logodicee als die ›letzte Philosophie‹, d. h. als diejenige philosophische Disziplin, welche dadurch, daß sie das Absolutheitsproblem zum Gegenstand hat, dazu berufen ist, das System des Wissens in sich selber abzuschließen. Die Selbstbeendung der Philosophie wird dann nicht daran leiden, daß die Philosophie, indem sie sich zur Totalität abrundet, sich selbst zum einzig wahrhaften Gegenstand mache. Sie vermeidet das (hegelianische) Verschwinden Gottes in der Wissenschaft und setzt im metalogischen 364 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Selbstbeschluß nicht sich, sondern eins, das außer ihr ist, – Gott – als das Letzte.« (Ehrenberg, Parteiung: 78) Auf der Grundlage dieser doppelten kritischen Abgrenzung von Hegel und den Kantianern kommt Hans Ehrenberg nun zu einer abschließenden »Neuschöpfung des dialektischen Prinzips«. (Ehrenberg, Parteiung: 102) Das Denken denkt Seiendes und geht dabei im Vollzug ihrer Dialektik in doppelter Weise unter: In seinem Begreifen der Wirklichkeit vergisst es sich selbst und geht in seinem Erkenntnisgegenstand auf, sie ist so eine nie endende, sich selbst negierende Dialektik. »Es ist dem Denken Natur, sich selbst in den Gegenständen zu verneinen und seine Existenz gerade dadurch zu annullieren, daß es dieselbe im Erkennen des Gegenständlichen sich ihrer Bestimmung gemäß wirklich auswirken läßt. Das Denken an sich selbst ist so nur Forschen, das erst in seinem Resultat über den Status des Denkens hinausgeht, das Denken sich selbst transzendent werden läßt und so durch die absolute Immanenz zwar hindurchgeht, dabei aber die Immanenz als sich selbst zur Transzendenz umsetzend erfährt.« (Ehrenberg, Parteiung: 102) Die positive Leistung dieses forschenden Denkens liegt in der »systematischen Einordnung«, »die Systematik ist das Einzige aus der Sphäre des Denkens, welches in die Sphäre der Erkenntnisse übergeht.« (Ehrenberg, Parteiung: 103) Aber die systematische Einordung ist nicht Sinnstiftung der Wirklichkeit, sondern diese ist das, was allem Wirklichen und auch dem Denken selbst immer schon voraus ist, es holt durch sein Forschen nur systematisch in seinen Wissenszusammenhang das ein, was es vom wirklichen Zusammenhang begreift. Von Aristoteles bis zu Hegel ist die »erste Philosophie« immer primär darum bemüht, das Wissen vom Wirklichen in ihren erkenntnislogischen Zusammenhang zu begründen und abzusichern. Dies ist aber eine einseitige Verkürzung des Verhältnisses des Denkens zum Sein, in dem das Sein nur als Gegenstand des Denkens bedacht wird. Wo aber der Sinnzusammenhang der Wirklichkeit gefragt ist, in den das Denken selbst miteinbezogen ist, geht es nicht mehr um die »erste Philosophie«, sondern um die »letzte Philosophie« (Ehrenberg, Parteiung, 78). 10 So gilt für die »Neuschöpfung des dialektischen Prinzips« die bewusste negative Selbstbegrenzung Motiv und Begriff – wenn auch mit anderem Akzent – nimmt Theodor W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie (1972): 47 auf: »Nicht die Erste Philosophie ist an der Zeit sondern eine letzte.«
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des Denkens gegenüber dem es selbst übergreifenden Sein: »Das inGott-Sein geht erst daraus hervor, daß alles außerhalb Gott erzeugt wird; der endlose Gang der Weltschöpfung, so ewig als die Zeit, ist in seinem einheitlichen Sinne die Erschaffung des In-Gott-Seins. Je tiefer das Licht der Wissenschaft dringt, um so weiter greift die Einheit des Seienden, um so stärker wachsen die Dinge in Gott hinein. Um so mehr gilt, daß die Welt ›nicht von dieser Welt‹ ist. (Ehrenberg, Parteiung: 103)
12.3 Die Trilogie des Abschieds von der Philosophie In seinen systematischen Heidelberger Vorlesungen von 1910 bis 1914 baut Hans Ehrenberg seine eigene Position weiter aus, doch erst nach seinem Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg vermag er – bereits unter anderen Vorzeichen –, diese Abrechnung mit dem Deutschen Idealismus als Abschiedsgeschenk in drei Bänden vorzulegen: Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus, I Fichte (1923), II Schelling (1924), III Hegel (1925). Ausdrücklich knüpft Ehrenberg an seine Vorlesungen von 1912/13 an, aber er tut es nicht ungebrochen. Dazwischen liegen die Kriegsjahre mit traumatischen Fronterfahrungen und eigenen Zusammenbrüchen, mit einer politischen Hinwendung zur sozialen Frage und einem Übertritt von der Religionsphilosophie zur Pastoraltheologie. Da die Trilogie seinen Abschied von der Philosophie plausibel darzustellen versucht, gibt er ihr die Form eines Dialogs oder, wie er selbst sagt: einer Disputation. Er knüpft damit zum einen an eine philosophische Tradition an, die mit Platon beginnt und über Cicero und Giordano Bruno bis zu Schellings Bruno (1802) läuft, versucht aber zum anderen, damit seiner Abwendung von der Philosophie eine Ausdrucksform zu geben, die den logischen Beweiszwang philosophischer Begründung aus existentieller Betroffenheit durchbricht und überhöht. Obwohl es sich bei den Drei Bücher vom Deutschen Idealismus durchwegs um Gespräche zweier Freunde an drei folgenden Tagen handelt, zu denen kurzfristig noch ein Hegelianer als dritter Gesprächspartner hinzufindet, sind die drei Bücher selbst sehr unterschiedlich konzipiert, worauf Ehrenberg am Schluss des dritten Buches selbst zu sprechen kommt. (Ehrenberg, Dissertation, III: 169 f.) Trotz allem vollzieht sich durch die Trilogie eine gemeinsame Gedankenbewegung zweier Freunde, die sich nach längerer Zeit wieder be366 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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gegnen, die zunächst an frühere Diskussionen anknüpfen, sich kurzfristig durch das Hinzutreten eines dritten Gesprächspartners gedanklich entfremden und schließlich wieder zusammenfinden. Der eigentliche Wortführer ist »Johannes«, in ihm stilisiert Ehrenberg seine eigene Position, wobei er allerdings nicht die Ich-Form wählt, so kann er sich als Johannes mehrfach auf seinen ehemaligen Heidelberger Kollegen »Ehrenberg« und dessen Schriften beziehen. Johannes wird auch als der etwas ältere freundschaftliche Lehrer des zweiten Gesprächspartners »Friedrich« eingeführt. Man hat sich gefragt, ob in »Friedrich«, möglicherweise der drei Jahre jüngere Vetter Franz Rosenzweig angesprochen wird. Einiges spricht dagegen, so beispielsweise, dass mit keinem Wort auf konfessionelle Differenzen beider Gesprächspartner eingegangen wird, was aber auch bedeuten kann, dass diese damals (1912/13) zwischen ihnen keine Rolle spielten. Auch siezen sich die beiden Freunde in der Disputation bis kurz vor dem Ende des Gesprächs, doch könnte dies auch als ein verfremdendes literarisches Stilmittel verstanden werden. Ebenso stört die betonte schülerhafte Abhängigkeit Friedrichs von Johannes. Aber – so ist zu fragen – war nicht Franz Rosenzweig von 1906 bis 1912/13, als er noch an Ehrenbergs Vorlesung »Fichte, Schelling, Hegel« in Heidelberg teilnimmt, dessen philosophischer Schüler? 11 Dieses Schülerhafte trifft auf die Jahre des Erscheinens der Drei Bücher vom Deutschen Idealismus (1923–25) natürlich nicht mehr zu, denn inzwischen war – selbst mit einer zweijährigen nachkriegsbedingten Verzögerung – Rosenzweigs religionsphilosophisches Hauptwerk Der Stern der Erlösung (1921) erschienen, das nicht nur Rosenzweigs souveräne Eigenständigkeit dokumentiert, sondern nachweislich auch auf Hans Ehrenberg einen großen Einfluss ausübt. Von diesem späteren Rosenzweig ist im Gesprächspartner Friedrich der Disputation kaum etwas zu erahnen. Trotzdem trifft die Stilisierung von Friedrich als einen noch zwischen Hegel und der HegelKritik schwankenden Denker auf Rosenzweig um 1912 zu, als er gerade mit dem ersten Teil seines späteren Doppelbandes Hegel und der Staat (1920/2010) in Freiburg zum Dr. phil. promoviert wurde. Dieses Schwanken wird durch die Einführung des dritten GesprächspartSiehe hierzu Franz Rosenzweig (Rosenzweig, GSI, 809): »Meine eigentlichen Lehrer aber waren in Philosophie Hans Ehrenberg, in Geschichte Wölfflin.« Vgl. Wolfgang D. Herzfeld (Hg.), Franz Rosenzweigs Jugendschriften (1907–1914), 2 Bde. (2015), I: 34. 11
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ners, einem eingefleischten Hegelianer 12, am Ende des zweiten und dann vor allem zu Anfang des dritten Buches literarisch so gestaltet, dass es ihm gelingt, Friedrich ganz ins Lager der Hegelianer hinüberzuziehen. Erst durch und nach dem folgenden Streitgespräch zwischen Johannes und dem Hegelianer vermag Johannes Friedrich erneut ganz für sich zu gewinnen. 13 Wir können hier die Drei Bücher vom Idealismus nicht im Detail, sondern nur in groben Zügen bezüglich des von Hans Ehrenberg intendierten Hauptanliegens der Überwindung des Idealismus skizzieren. Ein Anliegen, das Ehrenberg schon seit seiner Parteiung der Philosophie (1911) verfolgte, jetzt aber zugleich für sein Abschiednehmen von der Philosophie und seinen Übertritt in die Pastoraltheologie in Anspruch nimmt.
12.3.1 »Fichte« Das Gespräch beginnt abrupt mit der unerwarteten Wiederbegegnung zweier Studien- und Promotionskollegen – Johannes und Friedrich – in einer Universitätsbibliothek, an der Friedrich inzwischen seit zwei Jahren als Oberbibliothekar arbeitet. Johannes, der Ältere von beiden, war in der Zwischenzeit Professor der Philosophie geworden, hat aber vor kurzem seine Universitätskarriere aufgegeben, was im Laufe und am Ende des Gesprächs noch näher zur Sprache kommen wird. Die beiden Freunde erinnern sich zunächst an ihre gemeinsamen intensiven Studien des nachkantischen Idealismus, wobei von Anfang an deutlich wird, dass Johannes inzwischen den Deutschen Idealismus hinter sich gelassen und einen neuen Weg eingeschlagen Es ist nicht ganz entscheidbar, ob Ehrenberg mehr Julis Ebbinghaus, mit dem er im selben Jahr 1909 in Heidelberg promoviert wurde, oder Richard Kroner nachzeichnet, mit dem Ehrenberg und Rosenzweig 1910 den Baden-Badener-Kreis begründeten. Eventuell stellt der namenlose Hegelianer auch bewusst beide bzw. den ganzen gerade erst entstehenden Neuhegelianismus dar. Siehe dazu Ehrenberg, Disputation, III, 169: Friedrich zu Johannes: »Denk doch nur daran, daß man vor zehn Jahren nicht Hegelianer sein durfte; war man es, so kam man in Boykott und wurde totgeschwiegen. […] Und jetzt darf man zwar Hegelianer sein, das ist sogar modern, aber man darf noch nicht dem alten Schelling folgen, dann ist man eben unwissenschaftlich. Du aber bist doch längst über den alten Schelling viel weiter hinausgegangen, als dieser jenseits von Hegel liegt.« 13 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 61 ff. 12
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hat, während Friedrich – in seinem Bibliothekarszimmer mitten unter den Werken von Fichte, Schelling und Hegel sitzend – weiterhin an dieser klassischen Epoche der Philosophie festhält. Um ihre Standorte gegenseitig verständlich zu machen, vereinbaren sie eine Disputation über den Idealismus, die mit einer Vergegenwärtigung von Fichte, dem »Begründer« und »Schöpfer des Idealismus« (Ehrenberg, Disputation, I: 11, 26) beginnt. Trotz aller subtilen Bezugnahmen auf erkenntnistheoretische oder staats- und geschichtsphilosophische Probleme sind sie beide vor allem an religionsphilosophischen Fragen interessiert, daher bemerkt Friedrich gleich zu Anfang, dass Fichtes Einstieg in die Philosophie in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) sich an einem theologischen Problem entzündete und Johannes unterstreicht etwas später kritisch, dass der Idealismus Fichtes »der erste Versuch« sei, »Theologie und Philosophie vollständig zu einen« (Ehrenberg, Disputation, I: 61), ein Versuch, der später in Hegels absolutem Idealismus seine Vollendung findet, dadurch aber auch sein Scheitern offenbart. Mit Recht betont Ehrenberg, dass das erste Buch Fichte noch ganz und gar eine philosophische Forschungsarbeit der Rekonstruktion des Denkwegs Fichtes darstellt. Denn Ehrenberg reklamiert für sich die Entdeckung der wahren Bedeutung der zweiten und dritten Epoche im Denken Fichtes, die er in einer Seminarübung von 1913 vorgetragen und in einer »Abhandlung über Fichtes dritte Epoche« niedergelegt hat, die Johannes dann auch Friedrich zur Lektüre vorlegt. Meist wird Fichte nur von seiner ersten Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95, I: 85 ff.) her rezipiert und seine späteren Schriften werden darauf rückbezogen, wobei übersehen wird, dass bereits die Wissenschaftslehre von 1804 eine grundlegende Wendung zum Begriff des Lebens hin vollzieht und seine Spätphilosophie ab 1810 geradezu als ein radikaler Versuch der Überwindung des Idealismus anzusehen ist. Der Weg, den Fichte zu seiner Spätphilosophie hin beschreitet, den weder Emil Lask noch Richard Kroner (Ehrenberg, Disputation, I: 108, 193) richtig zu fassen vermochten, habe er, Ehrenberg, erstmals zu würdigen gewusst. Während Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 mit dem »Ich bin Ich« des absoluten Selbstbewusstsein beginnt, so ist er in seiner mittleren Periode – wie Ehrenberg im ersten Buch Fichte Johannes ausführen lässt – um eine negative Selbstbegrenzung des Ich bemüht. »Selbsterkenntnis gilt nur noch als ›Selbstbegrenzung‹, und so wird die neue Wissenschafts369 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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lehre eine negative Bewußtseinslehre. Nicht vom Ich aus, sondern vom Ich fort geht die neue Richtung.« (Ehrenberg, Disputation, I: 118) Was Fichte jetzt 1806 in Über das Wesen des Gelehrten an den Anfang setzt, ist nicht mehr das Denken, sondern das Leben: »Das Sein, durchaus und schlechthin als Sein, ist lebendig […]. Das einzige Leben, durchaus von sich, aus sich, durch sich, ist das Leben Gottes oder des Absoluten« (Fichte, V, I: 361), an dem das bewusste Leben der Menschen nur teilhat. Aber auch hier bleibt Fichte nicht stehen, sondern er geht in seinen Spätschriften noch einen Schritt weiter. 1812 schreibt Fichte in Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder transzendentalen Logik – wie Ehrenberg ihn in seiner »Abhandlung über Fichtes dritte Epoche« zitiert: »›Nur Gott ist, außer ihm nur seine Erscheinung‹«, und er fährt an späterer Stelle – seine philosophischen Anfänge korrigierend – fort: »›Das Ich setzt sich selbst, ist nicht wahr. Wahr ist: es ist Bild eines Sichsetzens.‹ (Fichte, IX, 217)« 14 (Ehrenberg, Disputation, I: 197 f.). Und Ehrenberg erläutert das Anliegen des späten Fichte – erneut ein Zitat von Fichte aufnehmend: »›Was du siehst, bist immer du selbst‹. (Fichte, IX, 77) Aber daß du siehst, liegt nicht in dir, sondern in dem absoluten Erscheinen, das sich äußert.« (Ehrenberg, Disputation, I: 201) »›Was ist, ist Gott in ihm selber, und seine Offenbarung‹. […] Es besagt nichts anderes, als daß die Erkenntnis, die Philosophie, als Offenbarung ausgelegt wird.« (Ehrenberg, Disputation, I: 132) »Offenbarung Gottes, das ist – Unsere Erkenntnis!« (Ehrenberg, Disputation, I: 205) Fichtes Entdeckung des Dass-Seins Gottes kann sicherlich als ein Ausbruchsversuch aus der Selbstverfangenheit des idealistischen Ichs verstanden werden, aber es gelingt Fichte, wie Johannes betont, noch kein wirklicher Durchbruch, da ihm das Dass-Sein Gottes gleichsam nur als Horizont der Immanenz des Selbstbewusstseins aufscheint. »Wo die Entzweiung zwischen uns und Gott fehlt, gibt es nur eine in uns selber […]. Und wo auch der Idealist an Gott herankommt, […] stets bleibt das religiöse Denken in Grenzbegriffen hängen […]. Gott ist [zwar] gerettet, aber es ist ein magerer, ein bloß grenzbegrifflicher Gott, zu dem der Idealist durchdrang, weil er seinen Gott nur immanent aufsucht, […] dieses […] Bewußtsein von Gott bleibt stumm und bekommt keine Sprache und Worte.« (Ehrenberg, Disputation, I: 138) Ein Grund, weshalb Fichte nicht aus der Ich-Zentriertheit seines subjektiven Idealismus herausfindet, ist, dass er, der doch im Rahmen 14
Ehrenberg zitiert Fichte nach der Ausgabe: Sämtliche Werke in 11 Bdn. (1834 ff.).
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seiner praktischen Philosophie vom Du und vom Wir der Menschheit spricht, diese doch nicht als wirkliche Andere aufzufassen vermag. Daher beschließt Ehrenberg sein Fichte-Buch mit einem Disput über Ludwig Feuerbach und nennt über ihn hinaus auch Karl Marx (Ehrenberg, Disputation, I: 169), denn sie haben den Idealismus wirklich durchbrochen. »Feuerbach konnte den Idealismus nur überwinden, wenn er zugleich der Theologie abschwor. Gewiß ist das merkwürdig, aber doch begreiflich. Feuerbachs Atheismus beruht überhaupt auf einer durchaus religiösen, ja christlichen Denkentdeckung. Ich und Du als Träger des wahren Lebens; seine Logik ist eine Logik des Nächsten, Logik des Du, anstatt Logik des Ichs, und seine Metaphysik ruht und mündet in der Liebe, auch in Ich und Du. ›Die Einheit von Ich und Du – ist Gott‹. So kommt Feuerbach zum Bewußtsein einer neuen Philosophie, während er eine neue Religion nicht bringen will«. (Ehrenberg, Disputation, I: 167)
12.3.2 »Schelling« Schelling, dem sich Ehrenberg im zweiten Buch der Disputation zuwendet, hat sich nie so total in die Immanenz des Sich-selbst-Setzens des Denkens begeben. War ihm doch schon im ›Ich bin‹ eine Einheit von Verschiedenem, von Existenz-Anschauung und Selbst-Reflexion. Daher ist und bleibt Schelling ein »nicht gelöstes« »Rätsel des Idealismus« und sein wendenreicher Denkweg führt in seiner Spätphilosophie tatsächlich über den Idealismus hinaus. Doch auch ihm gelingt der Durchbruch nicht vollständig, da ohne existentiell-praktische Verankerung des Denkens in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens sein existentielles Gottesverständnis zur Gnostik gerinnt. Daher ruft Johannes gleich zu Anfang des Buches Schelling emphatisch und zugleich resignierend aus: »Schelling! Dein Name erweckt Erinnerungen in mir. Einstens da nannte ich dich, in Deinen späteren Jahren, meinen Lehrer. […] Auch das war eine Täuschung; wir haben keinen Lehrer unter den Menschen […]. Damals verlangte es mich nach einem Meister für mein eigenes Denken, und wenn es einer sein sollte, dann konnte es nur Schelling sein. Heute verlangt mich nach keinem solchen Meister mehr.« (Ehrenberg, Disputation, II: 7) 15 Die Parallele zu Sören Kierkegaard liegt auf der Hand. So schreibt Kierkegaard über Schellings zweite Vorlesungsstunde vom 22. 11. 1841 in Berlin: »Ich bin so froh,
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Es ist schade, dass der Disput im Buch Schelling nur sehr punktuell die Gründe für den Enthusiasmus und für die Enttäuschung darlegt. Dieser zweite »Tag [ist] der harmlose Tag«, so umschreibt Friedrich rückblickend den Schelling gewidmeten Disput und äußert weiterhin die Vermutung, dass »unserem Leser der zweite Tag immerhin noch am besten gefallen« wird. (Ehrenberg, Disputation, III, 169) Dies trifft jedoch leider überhaupt nicht zu, denn es wird darin viel zu viel über Schelling und über vieles andere geredet, aber nur wenig wirklich auf Schelling bezogen argumentiert. 16 Dabei beginnt das zweite Buch ebenfalls mit der Intention, den Denkweg Schellings in drei Stationen nachzuzeichnen, aber der Disput verliert dieses Ziel rasch wieder aus den Augen. Friedrich unterstreicht zwar, dass Schelling »seinen Anfang in sich selbst« habe, aber die Differenz zwischen Fichte und Schelling wird nur durch ein Zitat von Schelling aus dem Jahre 1801 umschrieben: »für Fichte sei das Ich Alles gewesen, für ihn selbst dagegen das Alles Ich«. (Ehrenberg, Disputation, II: 9; vgl. Schelling, IV: 109) Noch enttäuschender fallen die verstreuten Bemerkungen über Schellings Naturphilosophie aus, denn Johannes hebt zwar lobend hervor, dass Schelling »ein gut Teil alles dessen prophezeit [habe], was die Naturwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts gefunden hat« (Ehrenberg, Disputation, II: 34), aber er selbst stehe im »Banne Einsteins« (Ehrenberg, Disputation, II: 25) und könne daher in der durchgeführten Naturphilosophie Schellings nur »ein entzückendes Gemisch aus Erfahrung und Spekulation« (Ehrenberg, Disputation, II: 35) erkennen. Etwas ausführlicher wird sodann Schellings zweite Periode, »seine große Entdeckung […] der absoluten Identität von Subjekt und Objekt« (Ehrenberg, Disputation, II: 56), besprochen, der sich Hegel anschließt, als er 1801 nach Jena kommt. »Schelling sucht Objektivität und findet sie als Vernunft. […] Vor dem Forum des AbsoSchellings zweite Stunde gehört zu haben – unbeschreiblich […]; als er das Wort ›Wirklichkeit‹ nannte, vom Verhältnis der Philosophie zur Wirklichkeit, da hüpfte die Frucht des Gedankens in mir vor Freude wie in Elisabeth [der Mutter von Johannes dem Täufer].« Doch schon Ende Februar 1842 ist Kierkegaard von Schellings weiteren Ausführungen maßlos enttäuscht: »Schelling salbadert ganz unerträglich. […] Ich bin zu alt, um Vorlesungen zu hören, ebenso wie Schelling zu alt ist, um sie zu halten. Seine ganze Potenzlehre bekundet die höchste Impotenz.« Siehe Manfred Frank (Hg.), Schelling. Philosophie der Offenbarung 1842/42 (1977): 452 ff. 16 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015).
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luten, das heißt der Vernunft, gibt es kein Ding an sich, kein Sein außerhalb eines Erkennens; in der Vernunft ist alles an sich seiende Sein aufgelöst – weil die Vernunft selbst an sich, das Absolute ist.« (Ehrenberg, Disputation, II: 59) Aber auch hier versäumt es Ehrenberg, in Gestalt von Johannes die von Anfang an bestehende Differenz im gemeinsamen Anliegen von Schelling und Hegel eigens herauszuarbeiten. Schelling und Hegel streben zwar dasselbe Ziel des Begreifens der Wirklichkeit durch die Vernunft an, verfolgen aber dabei völlig unterschiedliche Strategien, denn bei Hegel wird die Wirklichkeit in das Begreifen aufgelöst, während bei Schelling selbst im Begreifen Vernunft und Wirklichkeit unterschiedene Momente einer Einheit bleiben. 17 Obwohl Johannes diese Differenzen durchaus erkennt und gelegentlich auch durchblicken lässt, begnügt er sich im Schelling-Buch mit Andeutungen, die nur schwer ausdeutbar sind. »Nur drei Jahre ungefähr dauert Schellings absoluter Idealismus an. […] Fichte wird jetzt gleichsam verschwinden, Hegel übernimmt seine Rolle, und in ihm wird Schelling sich selber als verfichtet entgegentreten. Das muß ihn weitertreiben.« (Ehrenberg, Disputation, II: 74 f.) Schließlich tritt Schelling – nach der Abgrenzung Hegels ihm gegenüber – in eine dritte Periode ein, deren Höhepunkt Ehrenberg in dem erhalten gebliebenen Weltalter-Fragment erblickt. (Ehrenberg, Disputation, II: 123) 18 Erstaunlicherweise lässt Ehrenberg Johannes sagen: »Von den Weltaltern bis zum Lebensende ereignet sich dann, trotzdem es noch über vierzig Jahre waren, nichts Neues mehr: nur noch Variationen desselben Themas« (Ehrenberg, Disputation, II: 96), so als habe er Schellings Vorlesungen von Erlangen (1821), München (1827) und Berlin (1841) sowie die Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung, die alle aus dem Nachlass herausgegeben vorlagen, nie richtig zur Kenntnis genommen. 19 Verständlich wird dieses Urteil Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 5 ff. 18 Ein fast gleichlautendes Lob findet sich auch bei Franz Rosenzweig, Stern der Erlösung, GSII: 19 f. 19 Dass Hans Ehrenberg und ebenso auch Franz Rosenzweig zumindest auch Schellings Philosophie der Offenbarung (1841/42) kannten, lässt sich an ihrer beiden Bezugnahmen auf Schellings Gedanken der petrinischen, paulinischen und johanneischen Kirchenabfolge ersehen, auf die sowohl Ehrenberg in der Heimkehr des Ketzers (1920) als auch Rosenzweig im Stern der Erlösung (1921) intensiv eingehen. Siehe hierzu den Schlussabschnitt des folgenden Kapitels: 13. »Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes.« 17
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nur daraus, dass Ehrenberg einen ganz bestimmten Gesichtspunkt aus Die Weltalter als den eigentlichen Ausbruch Schellings aus dem Idealismus auslegt, den die späteren Arbeiten Schellings eher wieder verwischen. Auch in diesen Partien des zweiten Buches geht es in der Disputation zwischen Johannes und Friedrich nicht mehr um eine Rekonstruktion der Philosophie Schellings, sondern um den Aufweis von Gedankenlinien, die von Schelling zu Ehrenberg – vertreten durch Johannes – führen. Hegel hatte in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (3: 15) Schelling öffentlich vorgeworfen, dass er in der Anschauung des Absoluten stecken bleibe, wo es doch in der Philosophie darauf ankomme, das Absolute oder Gott begreifend einzuholen. Aber gerade durch diese Einholung in den Begriff verliert Hegels Gott die Eigenständigkeit seines Seins, und der Prozess der Erkenntnis Gottes fällt mit dem Werden Gottes zusammen. Während also für Hegel der begreifende Geist das Übergreifende über sich und sein Anderes, das Sein ist, betont Schelling dementgegen den seienden Gott als das Übergreifende über sich und sein Anderes, das verstehende Denken. »Die Allheit des Geistes triumphiert in der Weise über die dualistischen Spaltungen von empirisch und intelligibel, daß das Empirische selbst zu einer der zwei Seiten – denn alles erhält in Schellings Denken eine Polarität – erhoben wird. Nun bricht der Konflikt des Idealismus mit seinen eigenen Grundlagen aus: ›Wir erkennen nichts, als was in der Erfahrung ist, sagt Kant. Ganz richtig; aber das in der Erfahrung allein Seiende ist eben das Lebendige, Ewige, Gott. Gottes Dasein ist eine empirische Wahrheit, ja der Grund aller Erfahrung.‹« (Ehrenberg, Disputation, II: 123) Darin liegt ohne Zweifel die entscheidende Wendung aus dem Idealismus heraus, da dem Sein, der Wirklichkeit bei Hegel kein Eigenrecht zuerkannt wird, sondern immer nur eingesperrt in der Immanenz seines Begriffenseins erscheint. »Das unendlich Bedeutsame ist, daß an Stelle eines systematischen Bedürfnisses ein episches tritt, an die Stelle der Dialektik die Erzählung. Schelling konnte sich von da an mit Fug und Recht einen Empiristen nennen. Während gleichzeitig der Philosophismus sich in Hegel noch einmal selber überbietet, löst er sich in Schelling auf.« (Ehrenberg, Disputation, II: 131) Aber im Grund kann Schelling nur den Weg des Ausbruchs weisen, ohne ihn selbst schon gehen zu können, denn Schelling selbst bleibt – so der Vorwurf von Johannes – noch zu sehr der Spekulation seiner idealistischen Herkunft verhaftet. Auch in den Weltaltern – und in diesem 374 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Sinne auch in seinen späteren Vorlesungen – philosophiert Schelling »von Gott aus, anstatt vom Menschen aus«. (Ehrenberg, Disputation, II: 138) In seiner Erzählung »läßt [er] Gott sich machen, anstatt von sich zu zeugen; ihm ist die Schöpfung zugleich eine Selbstschöpfung Gottes, weil er die Vergangenheit nur als ein Sein, nicht als ein geistiges Faktum sieht.« (Ehrenberg, Disputation, II: 137) Dieses Schweben »zwischen Idealismus und Gnosis« (Ehrenberg, Disputation, II: 98), das die ganze Spätphilosophie Schellings prägt, ist der Grund, weshalb Ehrenberg als Johannes auch in diesem Teil des zweiten Buches der Disputation Schelling nicht argumentierend selbst zu Wort kommen lässt, sondern nur in einzelnen Zitaten aufgreift, die auf jenes »neue Philosophieren« vorausweisen, welches er selbst vertritt. »Es ist das alles, in den Begriffen und Worten der Idealisten gesagt, unsagbar schwer; nur mit größten Anstrengungen kann ich selber es leisten. Einfach ist es jedoch, sobald wir es in unserer wirklichen Sprache ausdrücken. Es handelt sich um nichts anderes als um die Wiederentdeckung der wirklichen Wirklichkeit.« (Ehrenberg, Disputation, II: 93) Wiederum verweist Johannes – wie schon zu Ende des Buches Fichte – auf die Wirklichkeit des Du – und weiter noch das Wir –, durch das das Ich zu sich selber zu kommen vermag. »Was Schelling fehlte? das war das Du, der Nächste. Das, was Feuerbach gefunden hat.« (Ehrenberg, Disputation, II: 127) Nicht aus dem Selbstbewusstsein und seinem Welthaben sind wir, sondern wir werden erst aus der Ansprache von Anderen her, und dies gilt auch in einem umfassenderen Sinne in unserem Menschsein: Wir sind in den Sinn einer Wirklichkeit berufen, der wir uns offenbar werden müssen und die wir zu bewähren haben. Daher ist für Johannes der Dialog Clara auch die wunderbarste Schrift Schellings (IX: 1 ff.), denn in ihr wird keine Gotteslehre abgeleitet, sondern hier ringen drei Menschen in einem wirklichen Gespräch um den Sinn des Lebens angesichts des Todes. »Schelling nun, der an Gott in das gnostische Denken zurückfiel, drang in bezug auf den Menschen zu der letzten aller Klärungen tatsächlich hindurch: in seinem Dialog Clara, in dem er unbeschadet der auch dort vorhandenen gnostischen Irrlehren die Wahrheit erreichte. […] Nur noch Zeugnis will er ablegen von dem, was in Gott ruht und aus Gott herrührt – nicht aber mehr demonstrieren oder offenbaren, was von Gott selber bereits offenbart ist, vom Menschen aber nur ergriffen werden kann, wenn seine Seele an Gott glaubend, auch des Menschen Geist hineinzieht in eben den Glauben an die Offenbarung.« (Ehrenberg, Disputation, II: 147) 375 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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12.3.3 »Hegel« Das zweite Buch Schelling endet in einem Gespräch über die deutsche Geistesgeschichte, im dem zum Ausdruck kommt, dass nicht nur Fichte, Schelling und Hegel die Epoche der deutschen Klassik prägten, sondern ebenso sehr Dichter und Denker wie Lessing, Herder und Goethe bis hin zu Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche. An diesem Gespräch nimmt auch schon ein neu hinzugekommener Hegelianer teil. Am nächsten Tag, der im dritten Buch der Disputation festgehalten wird, treffen zunächst nur Friedrich und der Hegelianer aufeinander und es gelingt dem Hegelianer Friedrich, der über Schelling schon für die neue Art des Philosophierens eingenommen war, ganz und gar wieder für Hegels Idealismus zurückzugewinnen. Als Johannes erneut hinzutritt, kommt es dann zu dem schon vorher vereinbarten Streitgespräch zwischen Johannes und dem Hegelianer, das Johannes nach mehreren Durchgängen schließlich erfolgreich für sich bestreiten kann. Als dann der Hegelianer die Runde wieder verlässt, bekommt Johannes Gelegenheit, in Konturen sein eigenes neues Philosophieren darzulegen, an dem zugleich die »Lebensanschauung« seines christlichen Glaubens erkennbar wird, der sich Friedrich nun gänzlich anzuschließen vermag. 20 Nachdem Friedrich dem Hegelianer zunächst versichert, dass Johannes und er einst begeistert die Phänomenologie des Geistes als »idealistische Bibel« (Ehrenberg, Disputation, III: 17) verschlungen haben, bekennt er, dass sein eigentlicher Vorbehalt gegen den Idealismus des absoluten Geistes Hegels »in erster Linie religionsphilosophisch« (Ehrenberg, Disputation, III: 17) motiviert sei. Ein absolutes System, dessen Durchgang mit der Selbsterkenntnis Gottes zusammenfällt, vermag nur das allgemeine Wesen der Welt in ihren Gestaltungen zu begreifen, erreicht aber niemals das wirkliche Ringen der Menschen mit ihrem wirklichen Gott. Hier nun setzt der Hegelianer mit seiner Gegenrede an: Ist es nicht Hegel, der mit Schelling zusammen die Enge des subjektiven Idealismus aufgebrochen hat und dann noch über das abstrakt Absolute Schellings, der »Nacht, in der alle
In dieser betont christlichen Ausrichtung des Denkens von Friedrich liegt sicherlich einer der gewichtigsten Gründe, ihn nicht mit Franz Rosenzweig gleichzusetzen. Versteht man die Ausführungen aber allgemeiner auf eine religiöse Orientierung bezogen, so könnte sich Ehrenberg durchaus der Zustimmung des jungen Rosenzweig um 1912 gewiss sein.
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Kühe schwarz sind« (Hegel, 3: 22), zu einer Dialektik des »konkreten Begriffs« (Ehrenberg, Disputation, III: 14, 12) gefunden hat, der zugleich immer auch unser daseiendes Begreifen ist? Hegels Philosophie ist kein abgeschlossenes System, sondern ist die dialektische Methode, durch die wir einerseits wie in der Phänomenologie zu unserem je eigenen Selbstbewusstsein im Horizont des absoluten Geistes finden und andererseits uns einbezogen in das nie endende weltgeschichtliche Werden des Geistes begreifen. »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, aber die Krone der Weltgeschichte ist die Philosophie; sie daher das Weltgericht. Hegels System ist das Weltgericht des Geistes. […] Und dieser Eine Geist ist der wirkliche, wirksame und lebendige Kosmos; das Geisterreich, in dessen Kelch ihm seine Unendlichkeit schäumt.« (Ehrenberg, Disputation, III: 21) Und hier nun – so fährt der Hegelianer fort – ist das Christliche der Philosophie Hegels geradezu mit Händen zu greifen: »Wir verdanken es Hegel, wenn wir endlich den Mut haben, das Christentum mit der menschlichen Geschichte zu konfrontieren und ihm seine Natürlichkeit wiederzugeben, und doch nicht auf Kosten des Dogmas oder der Glaubenskraft. Im Gegenteil, das ist nun das außerordentliche, daß Hegels Geschichtsphilosophie das Christentum zum notwendigen Ergebnis und Zentrum der gesamten Geschichte erhebt. […] Seit Christus herrscht das Ende. Wir leben in der Zwischenzeit, wir dürfen in die Versöhnung des Geistes eintreten.« (Ehrenberg, Disputation, III: 25 ff.) Hier äußert Friedrich seine Zweifel, ob der Hegelianer mit seiner Interpretation Hegel nicht überdehne: »Ich vermisse jedoch bei Hegel solche Gedanken.« (Ehrenberg, Disputation, III: 27) Der Hegelianer stimmt zu, dass es bei Hegel viele Unklarheiten und Ungereimtheiten gäbe und gesteht ein, dass auch er sieht, wie Hegel oftmals hinter Hegel zurückfällt. Das Entscheidende sei daher, Hegels Dialektik des konkreten Begriffs über Hegel hinaus offenzuhalten, dann würde Hegels Philosophie zu einer auch die christliche Theologie mitumfassenden Vollendung gelangen. »Nur dem Christen konnte gelingen, das Werk des Logos fortzusetzen. Das ist die Aufgabe des Christentums, auch in den Geist die Fackel zu entsenden. […] Denn die Logik ist die Wissenschaft vom Logos. […] Die Versöhnung in Christus führt die dialektische Aufhebung des höchsten Gegensatzes, der von Gott und Mensch, herbei, und diese Aufhebung ist dann ihre eigene Wahrheit, ist ›die‹ Wahrheit. Das Dialektische ist spekulativ«. (Ehrenberg, Disputation, III: 44) 377 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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In diesem Moment, da Friedrich von der Überzeugungskraft der über Hegel hinausgeführten Argumentation des Hegelianers eingefangen wird, tritt erneut Johannes zum Disput hinzu und stellt sich dem vereinbarten Rededuell mit dem Hegelianer. Gewiss – so stimmt Johannes zu – »Hegel hat die Philosophie vollendet«, aber auch »dadurch beendet.« (Ehrenberg, Disputation, III: 49) Er hat zu Ende geführt, was Parmenides mit dem Gedanken, dass Denken und Sein eins seien, begonnen hat. Aber dieses Sein, dass das Denken in eine Einheit des Begriffs einholt, ist nicht die wirkliche Existenz, aus der wir selber sind und in der auch das Denken existierend sich ereignet, sondern nur der Begriff des Seins. Weder hebt sich unser je individuelles Leben in unsere geistige Selbstbestimmung auf, noch kann der absolute Geist die Weltgeschichte »versöhnen und entsühnen«. (Ehrenberg, Disputation, III: 51) Gegen die Berufung des Hegelianers auf Hegels Satz – ›die Weltgeschichte ist das Weltgericht‹ (Hegel, Rechtsphilosophie, 7: 503 f.) – wendet Johannes ein: »Ich sehe, es kommt darauf an, die Existenz eines selbstbewußten Geistes überhaupt anzugreifen. Denn ich leugne allerdings, daß Hegels Begriff vom Weltgericht ein wirkliches Weltgericht bedeutet.« (Ehrenberg, Disputation, III: 55) Nicht mit dem, was die Menschen geistig geschaffen haben, stehen sie vor Gericht, sondern mit der Bewährung ihres ganzen Lebensschicksals. »Mein Leben führe ich selbst; für meine Gedanken stehe ich nur sehr teilweise ein. Gedanken kann ich wechseln, das tut mir nichts. Meine Haut kann ich nicht ablegen. […] Das Gute, das Böse, das ich getan, es wird durch keine Reue, durch keinen Rückfall ungeschehen gemacht. […] Hegel will die Subjektivität entwerten, ich will sie wiederherstellen.« (Ehrenberg, Disputation, III: 61 f.) Immer wieder versucht der Hegelianer, Johannes als einen Nachfolger von Kierkegaard abzutun, der kein ernstzunehmender Philosoph, sondern ein »Unmittelbarkeitsfanatiker, und zwar […] in der Form des religiösen Menschen« gewesen sei, demgegenüber habe Hegel das Verdienst, das Christentum als »absolute Religion« begriffen zu haben. (Ehrenberg, Disputation, III: 80 f.) Johannes bestreitet die Zuordnung zu Kierkegaard nicht vollkommen, denn ohne Zweifel hat Kierkegaard »den Denkort der Wirklichkeit« entdeckt. (Ehrenberg, Disputation, III: 109) Weiterhin ruft er sogar noch Nietzsche als weiteren Zeugen für seine Position auf, denn Nietzsche hat den Betrug des Idealismus entlarvt (Ehrenberg, Disputation, III: 111), auch wenn er selbst noch dem Betrug verfallen sei. Entschieden betont Johannes, kein Monologist zu sein, denn für ihn kann das Subjekt niemals nur 378 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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immanent, sondern nur »durch das Nächste, durch Du und Es« gerettet werden« (Ehrenberg, Disputation, III: 83), wie dies Feuerbach klargestellt habe, »denn es gibt ein Erkennen erst nach der Erschaffung der Sprache, die ihrerseits in der Duhaftigkeit des Ichs einsetzt« und ein wahres Wirverhältnis konstituiert. (Ehrenberg, Disputation, III: 106 f.) Entscheidend ist, dass nicht – wie der Hegelianer im Sinne Hegels betont – das Denken die »Wirklichkeit übergreift«, sondern, dass sich das Denken von der Wirklichkeit übergriffen erfährt und versucht, sich in diese Wirklichkeit hinein einzubringen. Der idealistische Philosoph, für den das Denken die Wirklichkeit übergreift, »hat einen anderen Wirklichkeitsbegriff als der Denker, der sich aus und in der Wirklichkeit begreift. Jener nämlich ›sucht‹ eine Wirklichkeit, dieser ›besitzt‹ eine. […] Die Wirklichkeit ist ihm also vor seinem Denken und ohne dasselbe gegeben. […] Nie aber ist der Geist mehr als wirklich. Nie ist er jenseits der Erde. Nie verfügt er über die Kräfte des Gerichts. […] Zwar sind die Worte wie gut und böse […] Worte des Denkens […]. Mit ihnen wird gerichtet, sie richten nicht selber. So allerdings vermittelt der Geist, das Denken, zwischen der Wirklichkeit der letzten Entscheidungen, aber er ist Diener, nicht Herr in diesem Vermitteln, und fällt so selber durchaus in das Bereich der Wirklichkeit, das ihm nur das Eine zu verdanken hat, die Probe der Wirklichkeit.« (Ehrenberg, Disputation, III: 78 f.) In einem letzten Versuch versteigt sich der Hegelianer vor seinem Abgang zu der Behauptung, dass es nur Hegel gelungen sei, das Christentum als absolute Religion zu erweisen: »Seine ganze Philosophie war für Hegel Gebet, Gottesdienst.« (Ehrenberg, Disputation, III: 100) Das erbost Johannes ganz und gar: »Hegel ist Gnostiker, Häretiker schlimmster Art. Anathema gegen Ihn!!!« (Ehrenberg, Disputation, III: 99 f.) Denn Gott kann durch keinen Begriff erreicht werden, sondern nur in der Zwiesprache mit ihm. »Zwischen Gott und uns gibt es nur das einfache Wort. Gott spricht, das ist die Offenbarung; wir sprechen, das ist das Gebet. So stehen wir im Gespräch miteinander. Die Philosophie kann nie und nimmer an die Stelle des Gesprächs treten«. (Ehrenberg, Disputation, III: 100) Am Abend des dritten Tages treffen Johannes und Friedrich sich nochmals allein, diesmal in der Studierstube von Johannes, und hier bedrängt Friedrich seinen Freund Johannes, ihm seine »neue Philosophie« zu offenbaren, damit er sich ihr voll anschließen könne. Johannes beklagt zunächst, dass es ihm nicht gelungen sei, etwas im Sinne 379 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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von Schellings positiver Philosophie auszuarbeiten, doch dann fällt ihm der Aufsatz »Das Erwachen des Geistes« (Ehrenberg, Disputation, III: 120 ff.) ein, der seine diesbezüglichen Gedanken skizziert. Die Druckfahnen dieses Aufsatzes übergibt er Friedrich zum Vorlesen. Was Johannes in dieser Skizze vorschwebt, ist in Gegnerschaft zu Hegels Phänomenologie des Geistes eine phänomenologische Bildungsgeschichte des menschlichen Geistes. Sie kann auch als »Lebenslehre des Denkens« (Ehrenberg, Disputation, III: 131) umschrieben werden, um zu unterstreichen, dass eine Selbstbewusstwerdung des Geistes nur eingebettet in den Lebensprozess der Menschwerdung erfolgen kann. »Der Idealismus wollte das Denken veranlassen, sich selber mitzudenken, im Akte der Selbstbewußtwerdung;« Johannes dagegen geht es darum, »das Leben, die Lebenslinie, die Reihe der Lebensstationen mitzudenken.« (Ehrenberg, Disputation, III: 134) Das Erwachen des menschlichen Geistes führt daher weder – wie das System des transzendentalen Idealismus des jungen Schelling – zur ästhetischen Anschauung der Kunst, der »Religion des Idealismus« (Ehrenberg, Disputation, II: 205) noch – wie Hegels Phänomenologie – zu dem auch noch Gott umfassenden absoluten Geist, sondern versucht aufzuzeigen, dass der menschliche Geist sich seiner selbst nur einbezogen in den Sinn der Wirklichkeit bewusst zu werden vermag, und diesen Sinn der Wirklichkeit vermag er nur aus Gott zu erfahren. Ganz bewusst jegliche dialektische Ableitung vermeidend, bemüht sich Johannes, dem »alten Schelling folgend« (Ehrenberg, Disputation, III: 169), um eine »erzählende«, eine »geschichtliche Philosophie«. In einigen wenigen Strichen sei hier der Gang des Erwachsens skizziert: »Das Leben beginnt in der Nacht. […] Unser Bewußtsein findet sich immer so vor, daß es eine Strecke hinter sich liegen sieht, deren Anfang in jene Nacht zurückreicht, in der unser Leben begann«. (Ehrenberg, Disputation, III: 120) Das ursprüngliche Du ansprechend, fährt der Text fort: »Das Leben erhält zuerst im Mutterschoß, sodann im Dasein der ersten Jahre seine Prägungen, und das Bewußtsein, wenn es erwacht, wenn das Sprachvermögen sich bildet und schließlich das Wörtchen ›Ich‹ die Schule des Sprechens abschließt, kommt zu spät, kann nur noch feststellen und beobachten«. (Ehrenberg, Disputation, III: 120 f.) Doch »[e]ines Tages fragen wir uns, ob wir mit unserem Geiste in gleicher Höhe mit unserem Leben marschieren oder nicht. Und dann sind wir wirklich erwacht, wirklich erwachsen.« »Die Erweckung des Geistes aber stammt aus dem Verhältnis zur Welt« so380 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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wie – damit verbunden – aus einem neuen Bezug zum Du. »Diesmal ist es das Wort ›Du‹« – verbunden mit einem Verantwortungsgefühl – »Gewissen und Erlebnis sind die beiden Pole, um die sich das Dasein des Erwachsenen im Unterschied vom Kinde bewegt.« »Der bewußte Mensch, der im Geist Erwachte nimmt das Stichwort der Freiheit auf und vollendet damit den Werdegang des Ich.« (Ehrenberg, Disputation, III: 122 ff.) Hieraus erwachsen wichtige Aufgaben der Sinngebung des eigenen Wirkens im Kontext familiärer, beruflicher, gesellschaftlicher, geschichtlicher Lebenshorizonte, aber irgendwann werden wir im Angesicht des Todes vor die Frage nach dem Sinn der Wirklichkeit im Ganzen gestellt. »Der Tod, und ist er noch so fern, aber doch immerhin so nah, daß er überhaupt gesichtet wird, ist die Station, die alle anderen Stationen sinnlos macht und dadurch aufhebt.« (Ehrenberg, Disputation, III: 138) Die Antwort auf diese letzte verzweiflungsvolle Frage nach dem Sinn der Wirklichkeit, in die wir gestellt sind – Schellings Frage: »warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIII: 7) – vermag die Philosophie nicht von sich aus zu geben, sie muss ihr offenbar werden. »Denn hier hört die Philosophie auf, und die Theologie beginnt. Und diese ist eben nicht eine Sache von Selbstdenkern, sondern eine Sache« einer religiösen Gemeinschaft. (Ehrenberg, Disputation, III: 167 f.) Aber Johannes geht noch einen Schritt weiter, indem er sich nicht nur mit dieser Letztaussage einer positiven Philosophie im Sinne Schelling begnügt, sondern hinüberwechselt zum Bekenntnis des christlichen Glaubens: »Meiner Meinung nach bietet jede Lebensanschauung die Möglichkeit zu einer Philosophie neuer Art, aber von ihnen allen wird sich nur die christliche behaupten können.« (Ehrenberg, Disputation, III: 136) Denn die »Christlichkeit einer ihrer Behauptung oder ihrem Wollen nach biblischen Philosophie läßt sich durch den inneren Geist, durch die lebendige Frucht, durch die Bewährung im Leben erweisen. Auch das Gericht der Wahrheit ist ein Gericht des Lebens.« (Ehrenberg, Disputation, III: 136) »Gott baut sein Reich, in Uns darf es wachsen« und »Christus [… ist] der Mittler im wachsenden Reiche. […] Die Heiligung […] des menschlichen Geisteslebens ist seine Aufgabe, sein Werk und seine Verwirklichung.« (Ehrenberg, Disputation, III: 165) »Das Geistganze ist christlich. Der Logos Christi eint den Geist, den getrennten.« (Ehrenberg, Disputation, III: 154) 381 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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12.4 Ehrenbergs Weg zum Pastor Nach den Aufführungen über »Das Erwachen des Geistes« von Johannes kann Friedrich zustimmend feststellen: »Ja, damit sind wir nun wirklich positiv, nicht mehr nur negativ über den Idealismus hinaus.« (Ehrenberg, Disputation, III: 164) Ja, – so können wir hinzufügen – wir sind wirklich positiv über den Idealismus hinaus, aber wir sind dabei auch aus der Philosophie ausgetreten und in die Theologie, genauer in das Bekennen des christlichen Glaubens übergetreten. Hans Ehrenberg weiß darum, aber es stört ihn nicht mehr, denn inzwischen hat er die Philosophie hinter sich gelassen, er hat seine Philosophieprofessur aufgegeben und sich als evangelischer Pfarrer ganz den Aufgaben der praktischen Seelsorge verschrieben. Er beschreitet dabei einen ähnlichen Weg wie sein Vetter Franz Rosenzweig, der ihn sicherlich sogar dazu anregte, als dieser selbst 1920 eine universitäre Laufbahn ausschlägt, um sich ganz der jüdischen Erwachsenenbildung zu verschreiben. Ein Grund für die Abkehr von der Philosophie liegt sicherlich, wie Ehrenberg mehrfach in der Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus darlegt, am Zustand der Philosophie in den Universitäten des Nachkriegsdeutschlands, oder genauer, an der Ausgrenzung, die er selbst als bekennender religiöser Sozialist und Verfechter einer christlichen Ökumene durch seine Kollegen an der Universität erfahren hat. So fragt Friedrich: »So sagt aber, was soll die Universität tun? Ihr wart einmal Professor! Warum seid Ihr herausgegangen? Warum versucht Ihr die Erneuerung nicht drinnen in der Universität zu erzielen?« (Ehrenberg, Disputation, III, 115 f.) Darauf antwortet Johannes, dass die Universität wie ein Kloster sei, deren Gelübde in einem Bekenntnis zur rein wissenschaftlichen Weltanschauung bestehe. Für Kritiker der wissenschaftlichen Weltanschauung und deren atheistischen Implikation ist in der Universität kein Platz. »Die Universität versteht so gut wie die Kirche aller Zeiten, wie man seine Gegner behandeln muß. Der Bann der Universität ist das Totschweigen und die Legende, und dieser gesetzlose Bann ist furchtbarer als der nach Regeln ausgesprochene Bann der Kirche.« (Ehrenberg, Disputation, III, 116) Aber hierin liegt für Ehrenberg nur der äußere Anlass für seine Abwendung von der Universität. Tieferliegend für die Abkehr von der Philosophie ist die innere Wandlung seiner eigenen Position, denn in der Parteiung der Philosophie (1911) ging es ihm noch da382 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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rum, durch eine negative Selbstbegrenzung der Philosophie das Tor zur metalogischen Wirklichkeit – zu Gott – zu finden. Inzwischen hat er nicht nur eine eigene theologische Grundlegung in der Heimkehr des Ketzers (1920) vorgelegt, sondern auch praktisch den Übertritt von der Philosophie zur praktischen Theologie vollzogen, so dass für ihn die »neue Art der Philosophie« inzwischen bruchlos in der christlichen Seelsorge aufgeht. 21 Daher ist für ihn und für aller ihm Gleichgesinnten der Weg der Philosophie zur Theologie nicht mehr erforderlich. Auf die im ersten Buch gestellte Frage Friedrichs: »Wozu noch all das Denken und Philosophieren?« (Ehrenberg, Disputation, I, 188), antwortet Johannes: »[W]ir beide brauchen das Philosophieren nicht unbedingt; wir könnten es auch sein lassen. […] Aber nun denkt Euch die fragenden Gesichter der Jugend! Da liegt unsere Denk- und Philosophiepflicht! […] Die Lehre ist das echte Zeugungsinstrument des Geisteslebens. Und die Jungen dürfen erneuern, was die Alten ihnen vermachten. Wichtiger als ein angeblicher Fortschritt ist der ewige Kreislauf des Sterbens und des Widererneuerns, obschon auch er nicht auf bloßer Wiederholung beruht, sondern in jeder Erneuerung ein Teil von jenem Fortsetzen der Schöpfung gelistet wird, das wir als Stückwerk aus dem Gange der Erlösung bezeichnen.« (Ehrenberg, Disputation, I, 189 f.) Doch diese »Denk- und Philosophiepflicht« spricht im Grunde die Lehraufgaben der christlichen Theologie an, denn die letzten Fragen nach dem Sinn der Wirklichkeit werden nicht von der herkömmlichen Philosophie, sondern von der christlichen Theologie geklärt. »Ich glaube, daß die Geisteskämpfe der kommenden Zeiten kirchlicher und religiöser Art sein werden; die bloß philosophischen Gegensätze schleifen sich ab.« (Ehrenberg, Disputation, I, 163) Und die hierfür erforderliche Lehre wird nicht von der traditionellen Philosophie zu erbringen sein, denn in ihr geht es darum, wie Friedrich gegenüber Johannes unterstreicht, die Jugend »zurück zum Wort der Liebe [zu] führen, auf daß die Praxis hoffen und die Theorie glauben könne. […] Werdet ihr Helfer, Mitarbeiter, Mitwanderer erhalten?« (Ehrenberg, Disputation, I, 188)
Auf Hans Ehrenbergs glaubensphilosophische Grundlegung wollen wir erst am Ende des nächsten Kapitels 13: »Rosenzweig -Neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes« eingehen, da sie aus dem interkonfessionellen Glaubensgespräch der beiden Vettern erwachsen ist und daher auch die Kenntnis der Position Rosenzweigs voraussetzt.
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Hans Ehrenberg: Vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor
Nun geht Ehrenberg in der Darstellung des Schlussgesprächs von Johannes und Friedrich keineswegs so weit, die Philosophie gänzlich in die Theologie aufheben zu wollen oder sie für völlig überflüssig zu erklären, aber sie wird nur noch eingeschränkte Aufgaben zu erfüllen haben, denn alle sinneröffnenden Aufgaben fallen nun nicht mehr der Philosophie, sondern der christlichen Lehre zu. »Die Lebensdynamik bedarf unmittelbar gar keiner Philosophie, vielmehr einer Belehrung, wie sie von allen großen Volkslehrern versucht wurde, bis sie im Buche der Bücher erfüllt ward.« (Ehrenberg, Disputation, III, 141) Natürlich wird es weiterhin Philosophie geben, sie »entzündet sich stets an der Weltfrage – an den ›Welträtseln‹ !« (Ehrenberg, Disputation, III, 141) Aber diese Philosophie bleibt bezogen auf Fragen der wissenschaftlichen Erkenntnis und Fragen der Regelung gesellschaftlicher Praxis. »Philosophie tut not, aber sie muß sich beugen und ihre dienende Rolle verstehen lernen. Dann werden wir sie nicht antasten. Denn wir wollen keine Rückkehr der Priesterherrschaft, die ohne Philosophen sicher käme.« (Ehrenberg, Disputation, III, 141) Schon mit seiner theologischen Grundlegung Die Heimkehr des Ketzers. Eine Wegweisung (1920) hat Hans Ehrenberg ein beeindruckendes Zeugnis seiner christlich-ökumenischen Glaubensüberzeugung gegeben, dass er durch seine Aufnahme des Pfarrberufs auch praktisch zu seiner Lebensaufgabe erhoben hat. Die Disputation. Drei Bücher vom Deutschen Idealismus bewegen sich an der Grenze zwischen Philosophie und Theologie, aber sie stehen im letzten auf dem Grund der praktischen Theologie, ein der Philosophie überreichtes Abschiedsgeschenk, das aber zugleich eine Absage an sie bedeutet. 22 Weder Hans Ehrenberg noch Franz Rosenzweig kann man Vorwürfe machen für ihren aus persönlichen Entscheidungen getroffenen Sprung in die praktische Arbeit ihrer Glaubensgemeinschaften – der christlichen bei Ehrenberg und der jüdischen bei Rosenzweig – sie mussten von ihren jeweiligen Glaubensüberzeugungen diesen Weg gehen und haben ihn je bewundernswert gegen alle Anfechtungen hindurch bewährt. Das eigentliche Problem liegt also nicht in diesem
Einen ganz ähnlichen Sprung über die »Schwelle« beschritt auch Ehrenbergs Vetter Franz Rosenzweig im Übergang vom zweiten zum dritten Teil seines Stern der Erlösung und durch seinen Weg »ins Leben«, in die Bewährung des Alltags. Siehe das nächste Kapitel 13: »Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes«.
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Ehrenbergs Weg zum Pastor
letzten Schritt »ins Leben«, in die praktische Arbeit in der je eigenen Glaubensgemeinschaft, sondern im Übertritt von der Philosophie in die Theologie einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Es gibt keinen Weg von der Philosophie ins Christentum oder ins Judentum oder in sonst eine religiöse Gemeinschaft. Die Philosophie kann nur negativ selbstkritisch an die Grenze führen, so dass das »metalogische Land« der Wirklichkeit erahnbar wird, ja, sie kann vielleicht auch noch die Konturen dieser Wirklichkeit umreißen, wie dies Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung und Rosenzweig im zweiten Teil seines Stern der Erlösung versucht haben. Aber darüber hinaus in ein Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einzutreten, ist der Philosophie von ihren eigenen Prinzipien her grundsätzlich verwehrt – sie kann diesen Sprung über die Grenze nicht nur nicht leisten, sondern sie darf es nicht einmal wollen, wenn sie sich nicht selbst verraten will. Für die Philosophie ist der Abschied Ehrenbergs von der Philosophie bedauerlich, denn Hans Ehrenberg ist mit seiner »Neuschöpfung des dialektischen Prinzips« am Ende der Parteiung der Philosophie und in seiner Spurensuche nach Ansätzen der Überwindung des Idealismus bei Fichte und vor allem bei Schelling sowie mit seinen eigenen Skizzen im dritten Buch der Disputation philosophisch sehr weit vorgedrungen. Sicherlich gehört Ehrenberg – hier auch gemeinsam mit Rosenzweigs erstem Teil des Stern der Erlösung – zu den profundesten Kritikern des Idealismus des frühen 20. Jahrhunderts. Der weiteren Entwicklung der Philosophie hätte es gut getan, wenn sie diese Lehrer behalten hätte, die diese Richtung an der Universität hätten weitertradieren können. Trotz ihres Abschieds von der Philosophie müssen wir ihre philosophischen Werke für die weitere philosophische Diskussion wiederentdecken und weiterführen. Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig mussten von ihren Glaubensentscheidungen her andere Wege gehen. Franz Rosenzweig hat inzwischen in der jüdischen Glaubensgemeinschaft weltweit die ihm gebührende Anerkennung gefunden. Den christlichen Kirchen wäre ins 21. Jahrhundert hinein zu wünschen, dass sie endlich auch Hans Ehrenbergs große theologische Vision einer christlichen Ökumene wiederentdecken würden.
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13. Franz Rosenzweig – Neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes 1
Existenzphilosophische Ansätze hat es im Laufe der Philosophiegeschichte immer wieder gegeben, die Confessiones des Augustinus (354–430) gehören dazu und mehr noch die deutschen Predigten von Meister Eckhart sowie die Pensées sur la religion von Blaise Pascal. 2 Immer wieder geht es dabei darum, eine Sinnorientierung für das eigene Dasein in der Welt zu finden, an die das Allgemeine der Vernunfterkenntnis nicht heranzureichen vermag. Aber erst nachdem Hegel mit dem philosophischen Anspruch angetreten ist, in einem absolut idealistischen System buchstäblich alles der Vernunfterkenntnis einzuverleiben und nichts außer ihr gelten zu lassen, konnte die Existenzphilosophie entschieden die Grenzen einer solchen Philosophie absoluter Vernunfterkenntnis aufdecken und sich begründet gegen sie positionieren. Der Erste, der einen Ausbruch aus dem absoluten Idealismus, den er einst selbst mitbegründet hatte, in mehreren Anläufen auf eine Existenzphilosophie hin unternimmt, ist Schelling mit seinen Weltalter-Entwürfen ab 1811 und seiner Philosophie der Offenbarung ab 1832. Damit tritt Schelling der idealistischen Grundthese von der vollständigen Identität von Denken und Sein entschieden entgegen, die in Hegels System der Philosophie ihre absolute Erfüllung erreicht
Mit Bezugnahmen auf meine Abhandlungen: »Franz Rosenzweigs neues, existentielles Denken«, in: Rudolf Langthaler / Michael Hofer (Hg.), Existenzphilosophie. Anspruch und Kritik einer Denkform (Wiener Jahrbuch für Philosophie) XLV (2013): 30–46 sowie Ders. »Bejahung und Verneinung. Rosenzweigs dreidimensionale Dialektik«, in: Matthew Handelman / Ephraim Meir / Christian Wiese (Hg.), Das »Und« im Werk Franz Rosenzweigs / The »And« in Franz Rosenzweig’s Work (Rosenzweig Jahrbuch / Rosenzweig Yearbook 11), 2018: 51–67. Siehe ergänzend Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991) sowie Ders. Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006). 2 Augustinus, Confessiones – Bekenntnisse (398), (1960); Meister Eckhart, Mystische Schriften (1324), (1978); Blais Pascal, Gedanken (1669). 1
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zu haben behauptet (Hegel, Enzyklopädie I, 8: 41 ff.) 3, indem er herausstellt, dass die Philosophie als Vernunftwissenschaft niemals das Existieren zu erreichen vermag, allein schon deshalb nicht, da das Denken selber bereits »unvordenklich« existierend ist. Schelling geht aber nicht soweit, die idealistische, rein rationale Philosophie gänzlich zu negieren, sondern fordert nur – hierin Kant folgend –, dass sie sich selbst als »negative Philosophie« allein auf die Vernunfterkenntnis begrenze, um so Raum zu schaffen für eine sich aus der geschichtlichen Existenz erfahrenden »positiven Philosophie« – wie Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung (1842) ausführt. (Schelling, XIII: 163 ff.) 4 Aber ohne Zweifel gelingt es Schelling mit seiner positiven Philosophie noch nicht, zu einer Sprache existentiellen Philosophierens vorzudringen. So wird Sören Kierkegaard zu Recht als eigentlicher Ahnvater der gegenwärtigen Existenzphilosophie genannt. Wie sehr Kierkegaard selbst von Schelling inspiriert war und zugleich dessen Grenzen erkennt, hat er nach dem Besuch von Schellings Vorlesung 1841/42 in Berlin in seinem Tagebuch und in Briefen festgehalten. Mit Recht hat Karl Jaspers in Bezug auf Kierkegaards eigenes Philosophieren von einer »existentiellen Dialektik« gesprochen, denn Kierkegaard findet in seinen Büchern Furcht und Zittern (1843), Entweder – Oder« (1943), Der Begriff der Angst (1844) oder Die Krankheit zum Tode (1849) zu einer eigenen Sprache, um die existentielle Verzweiflung des Menschen auszudrücken, er »selbst sein zu wollen« und »nicht [er] selbst sein zu wollen«, die nur in einem entschiedenen Selbstsein aus Gott aufgehoben zu werden vermag. »Indem es [das Selbst] sich zu sich selbstverhält und indem es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.« 5 Doch erst durch die Rezeption des atheistischen Gegenentwurfs von Friedrich Nietzsche setzt Anfang des 20. Jahrhundert in Deutschland eine breite existentialistische Grundsatzdiskussion ein. Auch Nietzsche findet zu einer ganz anderen Sprache des Philosophierens Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur Hegel-Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis (1974): 119 ff. 4 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016): 144 ff. 5 Sören Kierkegaard, »Aus den Tagebüchern und Briefen«, in: Manfred Frank (Hg.), Schelling Philosophie der Offenbarung (1977): 452 ff. sowie Die Krankheit zum Tode (1849), 1962: 13 f. Vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 1962: 153 ff. 3
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jenseits aller Vernunftphilosophie und aller überkommenen Werte, es ist eine Sprache, die »mit dem Hammer philosophiert« (Nietzsche, Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem Hammer philosophiert (1889), II: 939 ff.), um dem Menschen Mut zu machen zum »Willen zur Macht«, zur Selbstbestimmung seines Lebens ohne transzendenten Halt, denn die existentielle Situation des Menschen in der Moderne ist diese, wie Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883 ff.) formuliert: »Gott starb: nun wollen wir – daß der Übermensch lebe.« (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, II: 523) Vor allem die späten Schriften Nietzsches – Jenseits von Gut und Böse (1886), Der Antichrist (1888), Ecce Homo (1890) – haben die Jugend zu Beginn des 20. Jahrhundert aufgerüttelt, auch wenn sie selbst Wege einschlugen, die weder Nietzsche noch Kierkegaard ganz folgten. Die Philosophen unter ihnen entdeckten jedoch hinter beiden die Spätphilosophie Schellings, denn ohne kritische Durchdringung und Überwindung des Idealismus zerrinnt alles existentielle Denken zu bloßer Standpunktbehauptung. * * * Franz Rosenzweig gehört mit seinem christlichen Vetter Hans Ehrenberg 6 zu den Allerersten jener frühexistentialistischen Denkbewegung des 20. Jahrhunderts, die geschult an Hegels Logik und inspiriert von Schellings Hegel-Kritik die idealistische Philosophie immanent auf ein neues, existentielles Denken hin zu durchbrechen versuchen. 7 Im Gegensatz zu späteren Ansätzen der Existenzphilosophie, die betont die Jemeinigkeit des Daseins (Heidegger) 8 herausstellen, versteht sich das »neue Denken« Rosenzweigs und Ehrenbergs – sowie Eugen Rosenstocks und Martin Bubers – als dialogisches Sprachdenken. 9 Siehe hierzu das vorhergehende Kapitel 12: »Ehrenbergs Weg vom religiösen Philosophen zum philosophierenden Pastor«. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991) und Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006). 7 Parallel zu ihnen ist aus dieser Anfangszeit der Existenzphilosophie auch das Freundespaar Ernst Bloch und Georg Lukács zu nennen: Georg Lukács, Die Seele und die Formen. Essays (1911/1971); Ernst Bloch, Geist der Utopie (1918/1923), 1971. 8 Heidegger, Sein und Zeit (1927/1963): 42. Vgl. das Kapitel 10: »Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus«. 9 Eugen Rosenstock, Angewandte Seelenkunde (1924); Martin Buber, Ich und Du 6
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Sein Hauptwerk Der Stern der Erlösung schrieb Rosenzweig von August 1918 bis Februar 1919 fast wie in Trance als Soldat an der Balkanfront, auf dem Rückmarsch durch Serbien und im Lazarett in Belgrad sowie in den Wirrnissen der Ausmusterung in den ersten Nachkriegsmonaten in Freiburg, Kassel und zu Besuch in der Schweiz. Nachkriegsbedingt erschien der Stern jedoch erst 1921, wurde aber außerhalb der jüdischen Gemeinschaft kaum wahrgenommen. Dies lag zum einen daran, dass Rosenzweig – gemäß des Schlussworts aus dem Stern der Erlösung: »Ins Leben« – der ursprünglich angestrebten Universitätslaufbahn den Rücken zukehrte. Das Angebot seines Doktorvaters Friedrich Meinecke, sich mit seinem Werk Hegel und der Staat (1920/2010) in Geschichtswissenschaft zu habilitieren, was nach dem Krieg in der Weimarer Republik auch für Juden möglich geworden war, schlug Rosenzweig aus, um sich mit Gründung und Leitung des Freien jüdischen Lehrhauses in Frankfurt am Main 1920 ganz der jüdischen Erwachsenenbildung widmen zu können. Aber diese Tätigkeit konnte Rosenzweig gerade nur zwei Jahre lang aktiv ausüben – und darin liegt ein weiterer Grund, dass sein Werk nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen wurde. Denn Anfang 1922 wurde bei ihm amyotrophe Lateralsklerose diagnostiziert, eine schnell fortschreitende und todbringende Totallähmung, die ihn ab Ende 1922 ans Krankenlager fesselte und ab Ende 1923 sprechunfähig machte, schließlich konnte er ab 1924 nur noch mit den Augen Briefe und Texte diktieren. Kurz vor seinem 43. Geburtstag verstarb Franz Rosenzweig am 10. Dezember 1929 in Frankfurt am Main. 10 Hinzukommt, dass seit 1933 sein Werk – wie alles Jüdische bzw. Juden Zugeschriebene – aus der deutschen Kultur und Geschichte ausradiert werden sollte. So wurde Rosenzweig in Deutschland erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst seit den späten 60er Jahren von den christlichen Theologien und dann langsam auch in der Philosophie (wieder)entdeckt. 11 (1923). Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1965/1977): 243 ff. 10 Vgl. Eva Schulz-Jander / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweig. Religionsphilosoph aus Kassel (2011). 11 Bernhard Casper, Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber (1967/2002); Reinhold Mayer, Franz Rosenzweig. Eine Philosophie der dialogischen Erfahrung (1973); Stéphane Mosès, System und Offenbarung. Die
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Rosenzweig war sich der Bedeutung seines neuen, existentiellen Denkens bewusst, so schrieb er, als er wegen seiner fortschreitenden Lähmungserkrankung Ende 1922 die Leitung des Freien Jüdischen Lehrhauses abgeben musste, an seinen Nachfolger Rudolf Hallo in mehrfacher Hinsicht hellsichtig und vorahnungsvoll: »Und der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden. […] Unsere Arbeit wird uns von Deutschland höchstens posthum honoriert, aber darum tun wir sie doch, solange wir sie in Deutschland tun, für Deutschland.« (Rosenzweig, Briefe, GS I: 887) Doch war er auch enttäuscht, dass sein Werk innerhalb der philosophischen und theologischen Diskussion zunächst überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde. So diktierte er 1925 – bereits in der Zeit seiner Totallähmung – seine Abhandlung »Das neue Denken. Einige nachträgliche Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«, in der er gleich zu Anfang ausdrücklich unterstreicht, dass der Stern »überhaupt kein ›jüdisches‹ Buch« sei, sondern ein »System der Philosophie«, das auf die »vollkommene Erneuerung« des philosophischen und theologischen Denkens abziele. (Rosenzweig, Neues Denken; GS III: 140) Gemäß der von Jean-Paul Sartre 1946 geäußerten Unterscheidung, »dass es zwei Arten von Existentialisten gibt: die ersten, welche Christen sind, unter die ich Jaspers und Gabriel Marcel […] einreihen würde; und auf der anderen Seite die atheistischen Existentialisten, zu denen Heidegger und auch […] ich selbst zu stellen sind« (Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, 1946: 9) 12, müssten wir Franz Rosenzweig einem weiter gefassten religiösen Existentialismus und Ernst Bloch, um einen Zeitgenossen zu nennen, einem atheistischen Existentialismus zuordnen. Aber eine solche Einteilung bleibt oberflächlich und reicht nicht in die Tiefen der unterschiedlichen existenzphilosophischen Klärung unseres Daseins in der Welt heran.
Philosophie Franz Rosenzweigs (1982/1985). Den großen Durchbruch brachte dann der Internationale Rosenzweig-Kongress zum 100. Geburtstag von Rosenzweig 1986 in Kassel: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929), 2 Bde. (1988). 12 Siehe hierzu das Kapitel 10: »Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus«.
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Sehen wir von Else Freunds Dissertation Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs (1933) 13 ab, die gleich nach ihrem Erscheinen eingezogen wurde, so hat Karl Löwith, der nach Nordamerika emigrierte Schüler Heideggers, den Heidegger nach dem Krieg mehrfach verleugnete, in einem zunächst in den USA erschienenen Artikel »Martin Heidegger and Franz Rosenzweig« (1942) die Bedeutung des existenzphilosophischen Ansatzes Rosenzweigs im Vergleich zu dem von Heidegger herausgearbeitet: »Wenn Heidegger je einen Zeitgenossen gehabt hat, der diese Bezeichnung nicht nur im chronologischen Sinne verdient, dann war es dieser deutsche Jude [Franz Rosenzweig], dessen Hauptwerk [Der Stern der Erlösung] sechs Jahre vor Sein und Zeit erschien.« 14 So sehr eine solche Konfrontation Rosenzweigs mit Heidegger auch heute noch lohnend erscheint, vor allem wenn wir uns nicht nur auf Sein und Zeit (1927) beziehen, sondern auch das Werk Heideggers nach der Kehre heranziehen, das sich viel stärker auf Rosenzweig zubewegt, oder historisch korrekter gesagt, auf Schelling zurückgeht, 15 um so interessanter erweist sich jedoch ein Vergleich von Rosenzweigs Stern der Erlösung mit Karl Jaspers’ dreibändiger Philosophie (1932) 16, durch den eine Reihe von Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden könnte. Hier soll keiner dieser Wege beschritten werden, sondern wir wollen Rosenzweigs Existenzphilosophie aus sich selbst sprechen lassen.
Else Freund, Die Existenzphilosophie Franz Rosenzweigs. Ein Beitrag zur Analyse seines Werkes »Der Stern der Erlösung« (1933/1959). 14 Karl Löwith, »Martin Heidegger und Franz Rosenzweig. Ein Nachtrag zu ›Sein und Zeit‹« (1942/1954), in: Karl Löwith, Gesammelte Abhandlungen (1960): 68 ff. 15 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65 (1989); siehe auch Die Metaphysik des deutschen Idealismus (Schelling), GA 49 (1991). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006), darin das Kapitel: »Dasein als ›je meines‹ oder Existenz als Aufgerufensein – Heidegger und Rosenzweig« (2006): 197 ff. 16 Karl Jaspers, Philosophie, I: Philosophische Weltorientierung, II: Existenzerhellung, III: Metaphysik (1932/1973). Siehe das Kapitel 16: »Philosophie der Offenbarung – Zu Schelling, Jaspers und Rosenzweig«. 13
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13.1 Die Grundlagen der Philosophie Ausdrücklich betont Rosenzweig, dass der Stern der Erlösung aus drei Teilen besteht, die seinem Selbstverständnis nach als drei getrennte Bände verstanden werden müssen, da sie methodisch von unterschiedlichen Problemstellungen ausgehen, wobei der erste Band die Grenzen der alten, idealistischen Philosophie aufzeigt, um den »Übergang« zum eigentlichen Neubeginn eines neuen, existentiellen Denkens im zweiten Band zu eröffnen, an den anschließend der dritte Band die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu skizzieren versucht. Trotz der klaren Trennbarkeit der drei Bände, die sich selbst wiederum je in drei Bücher gliedern, bildet der Stern eine Einheit, deren durch und durch philosophische Argumentationsbewegung ihre Begründung jedoch nicht aus dem Vorausgehenden bezieht, sondern aus dem Nachfolgenden erhält, so dass der Stern »seinen letzten Sinn sogar erst im Schlußbuch des Ganzen« erfährt. (Rosenzweig, Neues Denken, GS III: 141 f.)
13.1.1 Die Idealismuskritik Der erste Band Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt stellt eine philosophische Vorklärung dar, die zugleich, wie schon der Titel der Einleitung »Über die Möglichkeit, das All zu erkennen – in philosophos!« ankündigt, sich wider das absolutsetzende Denken der idealistischen Philosophie von »Parmenides bis Hegel« (Rosenzweig, Stern, GS II: 13 f.) richtet. Damit stellt sich Rosenzweig – über Hans Ehrenberg, dem er diese Einleitung widmet – ganz in der Tradition der Spätphilosophie Schellings, die zu zeigen versucht, dass wir erst dort zu einem existentiellen Selbstverständnis unseres Denkens zu kommen vermögen, wo wir in einer »Ekstasis« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 230) 17 aus dem idealistischen Selbstbegründungsanspruch unseres Denkens auszubrechen vermögen. Mit seiner Parteiung der Philosophie. Wider Hegel und die Kantianer (1911) setzt Hans Ehrenberg Schellings Hegel-Kritik erweitert fort: In gegenseitiger Konfrontation der idealistischen Ansätze He-
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 247 ff.
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gels und der Kantianer der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts führt Hans Ehrenberg eine immanente Kritik des Idealismus durch, um so zu zeigen, dass das idealistische Denken zwar über die begriffliche Bestimmtheit allen Denkens des Seienden verfügen kann, jedoch niemals bis zur existierenden Wirklichkeit, auf die sich das Denken bezieht und in der es selber gründet, heranzureichen vermag. Diesen Blick über die eigene Grenze begrifflicher Selbstbestimmung des Denkens hinaus nennt Ehrenberg: Metalogik. (Ehrenberg, Parteiung: 63 f.) Rosenzweig stellt sich bewusst in diese Tradition, wenn er in »Das neue Denken« das Anliegen des ersten Bandes »als eine zugleich Adabsurdumführung und Rettung der alten Philosophie« (Rosenzweig, Neues Denken, GS III: 141 f.) umschreibt. Dabei geht es ihm nicht um eine bloße Absage an die idealistische Philosophie schlechthin, sondern Rosenzweig versucht, immanent zu zeigen, dass das begreifenwollende Denken sich selbst bescheiden muss, um sich aus der Wirklichkeit erfahren zu können, in der es selbst gründet. Das Denken wird von etwas getragen, was ihm einerseits begrifflich uneinholbar bleibt und in dem es andererseits doch selbst unaufgebbar wurzelt. Schon Ende 1917 hat Rosenzweig in einem Brief – der später als die »Urzelle« zum Stern der Erlösung bezeichnet wurde – an seinen Vetter Rudolf Ehrenberg die Konturen seines eigenen Ausbruchversuchs aus dem idealistischen Denken zu einem erfahrenden Philosophieren hin skizziert. Im Zentrum dieses Ausbruchs steht das existierende Ich, das wir je selber sind: »Nachdem sie [die idealistische Philosophie] also alles in sich aufgenommen und ihre Alleinexistenz proklamiert hat, entdeckt plötzlich der Mensch, daß er, der doch längst philosophisch verdaute, noch da ist.« (Rosenzweig, Urzelle, GS III: 127) Für Rosenzweig ist dieser Ausbruch aus dem Idealismus, den er im Stern der Erlösung den »metaethischen« nennt, zwar der erste, aber nicht der einzige. Ihm zur Seite stellt Rosenzweig sodann den »metalogischen« Ausbruch aus der bloß begreifenden Erkenntnis der Welt, wie ihn Hans Ehrenberg entworfen hat, und den »metaphysischen« Ausbruch im Sinne Schellings, der zum Sein Gottes über alle Physis hinaus führt. Dreifach also durchbricht das Denken die ihm vom Idealismus gezogenen Grenzen auf Tatsächlichkeiten hin, denen es sich zu stellen hat: dem Selbst des Menschen, dem Sinn der Welt und dem Sein Gottes. 393 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Dabei setzt sich Rosenzweig zweifach entschieden von Hegel ab: Erstens versucht er methodisch das »eindimensionale idealistische System« Hegels in drei Bewegungsmomente aufzulösen, die nur zusammenwirkend die »vieldimensionale« Dialektik des Denkens des Seins erfüllen. (Rosenzweig, Stern, GS II: 57) Es gibt nicht nur das Moment der »Verneinung des Nichts« – wie bei Hegel oder Cohen (Rosenzweig, Stern, GS II: 23 f.) –, sondern im Denken selbst liegt zunächst ein vorausgehendes Moment der »Bejahung des Nichtnichts« und schließlich ein die beiden vorausgenannten Momente verknüpfendes »Und«. Erst alle drei Momente zusammen konstituieren nach Rosenzweig – ähnlich wie bei Schelling (Verhältnis des Realen und Idealen, II: 361) – das Denken des Seins. Zweitens versucht Rosenzweig inhaltlich, Hegels »System der Erkenntnis des All« ebenfalls dreifach aufzusprengen, um sichtbar zu machen, dass es drei ganz unterschiedliche Tatsächlichkeitshorizonte sind – Welt, Mensch und Gott –, die die »vielheitliche Erscheinung des Seins« ausmachen (Rosenzweig, Stern, GS II: 116), um dann im Übergang zum zweiten Teil zu zeigen, dass diese Tatsächlichkeitshorizonte nicht erst durch den Erkenntnisprozess in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden, sondern immer schon vor aller Erkenntnis in einem geschichtlichen Wirklichkeitszusammenhang gestellt sind, den wir uns sinnverstehend in seinen Dimensionen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zu erschließen und in dem wir uns zu bewähren haben.
13.1.2 Die dreidimensionale Dialektik Der erste Teil des Stern der Erlösung unter dem Titel »Die Elemente oder die immerwährende Vorwelt« ist deshalb so schwer zugänglich, da Rosenzweig in ihm zwar die philosophiegeschichtlichen Bezüge andeutet, auf die er zurückgreift, ohne sie jedoch ausführlich genug zu explizieren. 18 Namentlich werden von den Philosophen außer den griechischen und deutschen Klassikern fast nur noch Kierkegaard, Nietzsche, Cohen und Ehrenberg erwähnt. Beginnen wir mit einem Rückbezug auf Kant. Bereits in der vorVgl. Leonard H. Ehrlich, »Neues Denken und Erneuerung der Fundamentalphilosophie«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs ›neues Denken‹, 2 Bde. (2006), I: 66 ff.
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kritischen Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) hat Kant gegen den ontologischen Gottesbeweis herausgearbeitet, dass die Existenzaussage – »irgendetwas ist, existiert« – »gar kein Prädikat«, keine Bestimmung von etwas ist und sein kann, sondern – so führt Kant aus – das »Dasein ist die absolute Position eines Dinges und unterscheidet sich dadurch auch von jeglichem Prädikate, welches als ein solches jederzeit bloss beziehungsweise auf ein ander Ding gesetzt wird. […] Der Begriff der Position oder Setzung ist völlig einfach, und mit dem vom Sein überhaupt einerlei.« (Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund, I: 630 ff.) Dieser Unterscheidung zwischen der Existenz als absoluter Position und den sich auf Existierendes beziehenden Prädikationen ist bekanntlich Hegel entgegengetreten. (Hegel, Enzyklopädie I, 8: 135 ff.) Für ihn ist das Sein die unmittelbarste, aber auch bestimmungsloseste Prädikation, aus diesem inneren Widerspruch entfaltet die aktive Negation des Denkens die Bestimmungen des Seins, die somit ein und demselben Prozess des Werdens des Seins und seines Begreifens darstellt, dessen glorreiche Vollendung nur in der Selbsterkenntnis des absoluten Geistes in seinem Sein zu sein vermag. (Hegel, Logik II, 6: 548 ff.) Hegels System der Philosophie wird dadurch zu einem einzigen ontologischen Gottesbeweis, ja genauer noch zum ontologischen Selbsterweis Gottes. (Hegel, Religion, 17: 347 ff.) Gegen diese Vollendung des absoluten Idealismus hat sich Schelling – in radikalisierter Erneuerung der Argumente Kants (Schelling, Geschichte der neueren Philosophie, X: 15 ff.) 19 – in seinem Spätwerk gewandt, und hier nimmt Rosenzweig den Faden seiner IdealismusKritik auf: Die absolute Position, auf die sich das Denken »unvordenklich« bezieht, ist keine Prädikation, keine Verneinung des Nichts, sondern sie ist die Grundgerichtetheit des Denkens als ein Meinen des Seins, die von der Verneinung des Nichts unabhängig ist, ja dieser in gewisser Weise voraus ist. Was Kant mit der »absoluten Position« des Seins und Schelling mit dem »unvordenklichen Existieren« (Schelling, Offenbarung, XIV: 345) auszudrücken versuchen, ist die dem Denken unabdingbar innewohnende Bejahung des Nichtnichts, das im Meinen des ihm Anderen des Seins allem Bestimmen zugrunde liegt. 20 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 305 ff. 20 Zum »Nichts« siehe Norbert M. Samuelson, »The Concept of ›Nichts‹ in Rosen19
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Mit dieser Umschreibung macht Rosenzweig zum einen deutlich, dass im Denken des Seins neben und unabhängig von der bestimmenden Verneinung des Nichts – die Hegels Dialektik allein kennt – noch ein weiteres, ja vorgängigeres Bewegungsmoment angelegt ist, nämlich die meinende Bezogenheit des Denkens auf die Existenz, der das Denken als Existierendes selbst mit zugehört. Insofern ist das Denken immer schon Bejahung jenes Grundes aus dem auch es selber existiert und den es daher immer schon in sich trägt. Gleichzeitig wird mit der Bejahung des Nichtnichts ausdrücklich abgewehrt, dass es sich bei der Existenzaussage um eine Prädikation handelt – auch nicht einmal die unbestimmteste –, sondern sie ist ursprünglich und beständig Bejahung des Nichtnichts als eines Positiven, in das wir denkend mitinbegriffen sind. »Zwei Wege erschließt es so vom Nichts zum Etwas, den Weg der Bejahung dessen, was nicht Nichts ist, und den Weg der Verneinung des Nichts.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 23) Erst vom zweiten Moment, der Verneinung des Nichts, wird dem Denken ansichtig, dass mit der vom Denken gemeinten Existenz – nun von der Prädikation her gesehen – noch Nichts ausgesagt ist. Es ist der Mangel an Bestimmtheit, der das logische Denken in seiner Tätigkeit des Bestimmens vorantreibt und somit eine fortschreitende Verneinung des Nichts motiviert – »omnes determinatio est negatio«, so betont Spinoza. Dabei ist es aber nicht so – wie Hegel wähnt – dass das gemeinte und damit bejahte Nichtnichts je in den Bestimmungen »aufgehoben« werden könnte (Hegel, Logik I, 5: 83 f.), sondern es ist geradezu umgekehrt, das gemeinte und bejahte Nichtnichts liegt nicht nur dem Anfang, sondern auch jeder weiteren Bestimmung unvordenklich voraus. Oder anders gesagt, das existierende Seiende – das existierende Lebewesen, der existierende Mensch, die existierende Gesellschaft, der existierende Gott – werden niemals je in der Bestimmung ihres Begriffs »erzeugt« und »aufgehoben«, sondern das Denken bejaht sie immer schon voraus im Meinen ihrer Existenz. Selbst das existierende Denken geht niemals in den Bestimmungen des Denkens über sich auf, sondern liegt diesen als immer schon Bejahtes unvordenklich zu Grunde. 21
zweig’s ›Star of Redemption‹«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929), (1988), II: 643 ff. 21 Vgl. hierzu Franz Fischer, Systematische Untersuchung zum Affinitätsproblem
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Die Grundlagen der Philosophie
Aber beide Bewegungsmomente des Denkens können sich gegenseitig nicht gewahr werden und sind daher auf ein sie beide verknüpfendes drittes Bewegungsmoment angewiesen, das Rosenzweig »Und« nennt, um es gegenüber Hegels Synthesis abzugrenzen, denn die Synthesis ist bei Hegel ja gerade als »Negation der Negation« die »bestimmte« Rückkehr in den eigenen Anfang, das Zusammenschließen aller logischen Bestimmungen des Denkens in ihre eigene eindimensionale Selbstbestimmung. (Hegel, Logik II, 6: 251 f.) »Damit haben wir das dritte jener Urworte, das an Ursprünglichkeit den beiden andern nicht gleich, sondern sie beide voraussetzend, dennoch erst beiden zu lebendiger Wirklichkeit hilft: das Wort ›und‹.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 35 f.) Erst durch das »Und« werden die Bejahung des Nichtnichts und die Verneinung des Nichts im Denken stetig und tätig aufeinander bezogen und verknüpft. Auch hierin greift Rosenzweig auf Schelling zurück, der dieses Dritte die Copula oder das »Band« nennt. In seiner Abhandlung »Über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur«, die 1806 noch vor seinem Bruch mit Hegel erschien, schreibt Schelling: »Es ist absolut nur als absolute Verneinung des Nichts, als absolutes Bejahen seiner selbst in allen Formen, somit nur als das, was wir die unendliche Copula genannt haben.« (Schelling, Verhältnis des Realen und Idealen, II: 361) Nun darf man nicht glauben, dass diese drei Bewegungsmomente des Denkens je für sich existieren könnten, nur zusammen erfüllen sie die Aufgabe des Denkens des Seins. Doch ist dies auch nicht als eine Addition selbständiger Elemente zu verstehen, sondern in allem Denken von Sein vollzieht sich ihr Zusammenwirken schon immer. Das Denken kann nur Sein denken, aber wo es Sein denkt, denkt es das Sein mit diesen drei Bezugsmomenten der Bejahung, der Verneinung sowie des Und. Dies ist die dreidimensionale Dialektik, die Rosenzweig – in bewusster Weiterführung der ihm von Hans Ehrenbergs Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und die Kantianer (1911) übermittelten Anregungen 22 – im ersten Teil des Stern der Erlösung darlegt.
(1956/2009): 68. Siehe auch das folgende Kapitel 14: »Fischer – Sinn und Wirklichkeit sowie die Gottesfrage«. 22 Rosenzweig widmete den ersten Teil des Stern ausdrücklich seinem Vetter, Freund und Lehrer Hans Ehrenberg. So schreibt er an Ehrenberg am 24. 6. 1919: »Im übrigen ists wie du sagst: ich hatte nur den ersten Teil für dich geschrieben (deshalb dir die Einleitung I ja auch ›gewidmet‹). Inzwischen hast du nun die andern auch okkupiert
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13.1.3 Welt – Mensch – Gott Hegel kennt in seiner Logik nur eine einzige Bewegungsform des Denkens, nämlich die der Bestimmung des Seins als fortschreitender Verneinung des Nichts, hierbei tritt das Sein nirgends als selbstständiges Subjekt auf, sondern nur als unmittelbarste Prädikation des Denkens, die durch die folgenden Prädikationen immer reicher bestimmt wird. (Hegel, Logik I, 5: 35 ff.) Dadurch wird das sich selbst bedenkende Denken der Logik zum alleinigen Subjekt des gesamten dialektischen Prozesses erhoben, dem gegenüber alle Gestalten des Wirklichen zu bloßen Erkenntnisgegenständen, zu gleichförmigen Objekten des Denkens degradiert werden. »Die idealistischen Systeme von 1800 zeigen durchweg, am deutlichsten das Hegelsche […] einen Zug, den wir als Eindimensionalität bezeichnen müßten. Das Einzelne wird nicht unmittelbar aus dem Ganzen abgeleitet, sondern wird in seiner Stellung zwischen dem Nächsthöheren und dem Nächstniederen im System entwickelt […]; der Kraftstrom des Systemganzen fließt als ein einer und allgemeiner durch alle Einzelgestalten hindurch.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 56) Insofern, dass Rosenzweig die Dreidimensionalität des Denkens des Seins aufdeckt, zerbricht nun auch das »System der Erkenntnis des All« in seiner inhaltlichen Eindimensionalität, denn jedes einzelne Ding, jedes einzelne Selbst und auch Gott tritt unserem Denken zunächst als je gemeintes und bejahtes Nichtnichts entgegen, also keineswegs allein bestimmt aus seiner Stellung im Fortgang des dialektischen Erkenntnisprozesses. Das System des Wirklichen entsteht nicht im Prozess seiner Bestimmung, sondern er liegt ihm bereits zugrunde, wie dies schon Schelling in seiner Stuttgarter Privatvorlesung (1810) unterstrichen hat: »[E]s hat lange schon ein System gegeben, ehe der Mensch darauf gedacht hat, eines zu machen – das System der Welt. Dieß also zu finden, ist die eigentliche Aufgabe. Das wahre System kann nicht erfunden, es kann nur als ein an sich, namentlich im göttlichen Verstande, bereits vorhandenes gefunden werden.« (Schelling, Stuttgarter Privatvorlesung, VII: 421) Jedes Existierende hat nicht nur sein je eigenes Sein, sondern es ist auch mannigfaltig verknüpft mit mannigfaltigen anderen Existierenden, und diese wirkliche Vernetzung kann nicht durch ein einund ich – ›weiche der Gewalt‹, und ohne Protest, im Gegenteil!« (Briefe und Tagebücher, GS, I: 634)
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dimensionales Fortschreiten der Erkenntnis abgebildet werden. Durch den dreidimensionalen Bezug des Denkens auf das Sein wird das »eindimensional idealistische System der Erkenntnis des All« aufgebrochen und zersplittert in die unendliche Vielfalt des Existierenden, des Tatsächlichen. Das »Weltsystem […] ist grundsätzlich vieldimensional; von jedem einzelnen Punkt her laufen Fäden und Beziehungen zu jedem andern und zum Ganzen, und die Einheit dieser zahllosen Beziehungen, der relative Abschluß, ist die persönliche, erlebte und verphilosophierte Standpunkteinheit des Philosophen.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 57) Rosenzweig benennt nun drei Tatsächlichkeitsbereiche – Mensch, Welt, Gott –, an denen er zu zeigen versucht, wie ein und dieselbe dreidimensionale Bestimmungsmethode – der Bejahung, der Verneinung und des »Und« – zu völlig unterschiedlichen Erkenntnishorizonten der Wirklichkeit gelangt, die sich nicht in ein eindimensionales System einfügen lassen, wie es Hegel »voraussetzungslos« aus dem Denken des Denkens hervorgehend vorschwebte. »Indem wir das Voraussetzungsvolle des Gedankens, das Denken habe das All zu denken, erkannten, zersplitterte uns unversehens der bisher grundsätzlich einfache Inhalt der Philosophie, das All des Denkens und Seins, in drei getrennte, sich gegenseitig in verschiedener, noch nicht näher faßbarer Weise abstoßende Stücke.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 21) Dass es gerade diese drei Tatsächlichkeitsbereiche sind, wird von Rosenzweig nicht abgeleitet, sondern aus der philosophischen Tradition – bzw. im Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand (1922/1964) aus dem common sense – aufgegriffen. Sie mögen unterschiedlich benannt worden sein – beispielsweise als Natur, Geist und Absolutes – und sie mögen unterschiedlich in den Vorrang gestellt worden sein – beispielsweise in der Antike, im Mittelalter oder in der Neuzeit –, aber immer sind es diese drei Tatsächlichkeitsbereiche, um deren inhaltliche Bestimmung es geht. Erst in Hegels eindimensionalem Idealismus, der diese drei Realbereiche natürlich auch kennt, werden sie alle drei in ein durch sie hindurch schreitendes System der Allerkenntnis zusammengezogen, insofern sowohl die Logik als auch die Natur und die Formen des Geistes im an und für sich seienden, sich selbst begreifenden absoluten Geist aufgehen. Dreifach durchbricht Rosenzweig das idealistische System Hegels, indem er erstens bereits am Anfang des Stern eindrucksvoll an der Furcht eines jeden von uns vor dem Tod deutlich macht, dass wir – 399 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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wie es Kierkegaard und Nietzsche in je unterschiedlicher Weise gezeigt haben – metaethisch unaufgebbar Selbst sind und niemals in den bloßen Bestimmungen unseres Menschseins aufgehen. Keine noch so raffinierte philosophische Bestimmung des Todes kann uns diese Furcht abnehmen, denn sie betrifft unser je eigenes Nichtnichts-Sein. »Und es ist der letzte Schluß dieser [idealistischen] Weisheit: der Tod sei – Nichts. Aber in Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondern ein erster Anfang, und der Tod ist wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern ein unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 4 f.) Zweitens zeigt Rosenzweig, dass alles Dasein in seiner Vielfalt und Kontingenz über alle logische Erkenntnisbestimmungen in einem metalogischen Sinnzusammenhang steht, der nicht deckungsgleich ist mit dem logischen Erkenntnissystem. Das Dasein in seiner unendlichen kreatürlichen Vernetzung ist aus sich heraus Nichtnichts, an das das erkennende Verneinen des Nichts zwar heranzukommen versucht, aber das es doch nie in sich aufzuheben vermag. »So ist die Welt dem eigentlich Logischen, der Einheit, gegenüber ein Jenseits. Die Welt ist […] nicht alogisch, aber – mit dem von Ehrenberg aufgebrachten Wort – metalogisch.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 10) 23 Schließlich versucht Rosenzweig drittens herauszuarbeiten, dass Gott immer als ein metaphysisches Nichtnichts gemeint ist, das niemals auf ein bloß physisches Sein reduziert werden kann. »So wie das Metaethische des Menschen ihn zum freien Herrn seines Ethos macht, auf daß er es hat, nicht es ihn; und so wie das Metalogische der Welt den Logos zu einem ganz in die Welt ausgegossenen ›Bestandteil‹ der Welt macht, daß sie ihn haben und nicht er sie; so macht das Metaphysische Gottes die Physis zu einem ›Bestandteil‹ Gottes. Gott hat eine Natur, seine eigene, ganz abgesehen von dem Verhältnis, in das er etwa zu dem Physischen außer ihm, zur ›Welt‹, tritt. […] Das ist so wenig eine Selbstverständlichkeit, daß vielmehr die Philosophie ihm bis zu Hegel hin diese Eigenexistenz stets bestritten hat. Die sublimste Form dieser Bestreitung, nichts anderes, ist der ontologische Gottesbeweis«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 19) Diese drei, nicht aufeinander rückführbare Wirklichkeitshorizonte, die Rosenzweig im ersten Teil des Stern der Erlösung je in Siehe Hans Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie. Wieder Hegel und die Kantianer (1911/1998): 64; 77 f.
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einem eigenen Kapitel darlegt, formen – obwohl mit derselben dreidimensionalen Dialektik befragt – jeweils einen je besonderen Bestimmungszusammenhang aus, denn nur vom idealistischen Erkenntnissubjekt her gesehen erscheinen Gott, Welt und Mensch als gleichförmige Erkenntnisobjekte, aber in der Tatsächlichkeit unseres wirklichen Erlebens sind sie es keineswegs. So ist schon das gemeinte Nichtnichts von Gott, Welt und Mensch schon von Anbeginn an unterschieden – dies symbolisiert Rosenzweig als das nach oben ragende Dreieck im sechsstrahligen Davidstern. »Das Nichts unsres Wissens ist kein einfaches Nichts, sondern ein dreifaches. Damit enthält es in sich die Verheißung der Bestimmbarkeit. Und deshalb dürfen wir so gut wie Faust hoffen, in diesem Nichts, diesem dreifachen Nichts des Wissens, das All, das wir zerstückeln mußten, wiederzufinden« (Rosenzweig, Stern, GS II: 24), und zwar nicht mehr als idealistischen Begriffszusammenhang, sondern in unserem geschichtlich gelebten Wirklichkeitszusammenhang. Wo beide Denkbewegungen, die der Bejahung und die der Verneinung, beachtet und im aktiven »Und« unseres Denkens verknüpft werden, da kommt die Philosophie zu niemals abgeschlossenen, aber doch tragenden Einsichten von Gott, den Menschen und der Welt. Doch zugleich wird hierbei auch die Begrenztheit aller »bloßen« Philosophie offenkundig, denn sie vermag die drei Tatsächlichkeiten – Gott, Welt, Mensch – nicht in ein lebendiges Miteinander zu bringen. So bleiben dem philosophischen Denken die erkannten Bezugspunkte eigentümlich isoliert und beziehungslos zueinander. Ganz gleich, ob es dabei beim Logos der Welt, beim Selbst des Menschen oder beim Sein Gottes ansetzt; jeder dieser Begründungsversuche der philosophischen Allerkenntnis kann nicht einmal die je anderen Ansatzpunkte in ihr System einbeziehen, geschweige denn unsere existentiell-geschichtliche Vermitteltheit in ihnen erfassen. Wo das philosophische Denken dies negativ an sich selbst einsieht, eröffnet sich für das Denken die Möglichkeit einer »Umkehr« (Rosenzweig, Stern, GS II: 97) für ein sich in und aus der geschichtlichen Existenz begreifendes Denken – einer Umkehr vom ableitenden Wissen zum vertrauenden Glauben. Wobei es Rosenzweig hier ausdrücklich noch nicht um einen konfessionellen Glauben geht, sondern um ein Sich-Öffnen für den Sinnzusammenhang, wie dieser sich geschichtlich ereignet.
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13.2 Das erfahrende, offenwahrwerdende, geschichtliche Denken Der zweite Band Die Bahn oder die allzeiterneuerte Welt stellt allererst den Einstieg in das neue, existentielle Denken dar. Rosenzweig beginnt mit der einleitenden Frage »Über die Möglichkeit, das Wunder zu erleben – in theologos!« Wobei unter Wunder kein unerklärliches Ereignis verstanden wird, sondern das Ereignen sinnhafter Wirklichkeit selbst. Schellings berühmte, auf Leibniz bezugnehmende Frage – »Warum ist überhaupt etwas? warum ist nicht nichts?« (Schelling, Offenbarung, XIII: 7) – bleibt der rein rationalen, »negativen Philosophie« ein unbeantwortbares Rätsel, erst der »positiven Philosophie«, die vom »unvordenklichen Existieren« anhebt, wird das Wunder der Existenz in ihrem Sinn erfahrbar und auslegbar. Ähnlich wie die Tatsächlichkeiten im ersten Band sich in drei – Mensch, Welt, Gott – aufgliedern, entfaltet sich für Rosenzweig auch das Wunder der Existenz dreifach: in das Wunder kreatürlichen Daseins (Schöpfung), das Wunder sprachlicher Sinnverständigung (Offenbarung) und das Wunder aufgegebener Nächstenliebe (Erlösung). Seit je her – so unterstreicht Rosenzweig – wurde das bloße Immer-schon-Dasein in seinem kreatürlichen Sinnzusammenhang als das Wunder der »Schöpfung« erfahren (Rosenzweig, Stern, GS II: 114). Dem schlichten Ereignen sinnhaften Da-seins, dem wir existierend angehören, das kein bestimmendes Denken je begreifen kann, vermag sich unsere Erfahrung gar nicht zu entziehen. Dieser Sinnzusammenhang der Schöpfung ereignet sich immer schon durch alles kreatürliche Da-sein und so auch durch uns selbst hindurch, lange bevor wir in der sprachlichen Sinnsphäre uns selber bewusst werden. Daher liegt in dieser Dimension der Schöpfung zugleich das zeitliche Moment der Vergangenheit, nicht im Sinne von Gewesenem, sondern im Sinne von immerwährendem Vorausliegen. (Rosenzweig, Stern, GS II: 147) Zu ihr gehört aber auch die Erfahrung der Vergänglichkeit allen kreatürlichen Daseins (Rosenzweig, Stern, GS II: 173), daher ist der Tod stärker als alles Lebendige, keine Kreatur kann dem Tod entgehen. Wo wir uns des kreatürlichen Daseins bewusst werden, dort haben wir auch für es – soweit es in unserer Macht steht – Verantwortung zu tragen. – Ein Gedanke, durch den Rosenzweig Hans Jonas’ Gedanken unserer Mitverantwortung für die uns selbst tragende und durchziehende Evolution vorwegnimmt. 24 Und doch liegt in der Erfahrung des kreatürlichen Daseins nur 402 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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eine erste Dimension; das Zentrum existentieller Sinnerfahrung bildet die Offenbarung, die sich in jedem sprachlichen Sinnverstehen und in allem Sinnverständigen ereignet. (Rosenzweig, Stern, GS II: 122) Unter Offenbarung haben wir das Wunder unserer Sinnerschlossenheit in der Sprache zu verstehen. Sprache ist dabei keine Gegebenheit, sondern ein Ereignis, das sich im Sprechen der Menschen miteinander vollzieht. In der Sprache offenbart sich den Menschen aller Sinn, aber doch ist die Sprache keine abgehobene Ideenwelt, denn sie ereignet sich immer nur in der Gegenwärtigkeit des miteinander Sprechens der Menschen. In diesem Sinngeschehen finden wir existentiell zu uns selbst, also niemals nur aus unserem je eigenen Dasein allein – wie Heidegger in Sein und Zeit meint 25 –, sondern immer nur aus dem Angesprochensein durch den Anderen – diesen Gedanken hat Rosenzweig, wie er immer unterstreicht, von Eugen Rosenstock aufgenommen und er verbindet ihn auch mit Martin Buber. 26 Das Ich, das wir je selber sind, vermag sich nicht aus sich selbst zu finden, sondern nur vom Anderen her angesprochen und auf den Anderen hin antwortend. Hierin erschließt sich ihm auch die Zeitdimension der Gegenwart, denn im Ereignen von Sinnverständigung liegt »das Erlebnis einer Gegenwart«, oder wie Rosenzweig erläuternd sagt: Das neue Denken, das auch ein »grammatisches Denken« ist, zeigt sich »im Bedürfnis des andern und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit« in ihrer Gegenwärtigkeit. (Rosenzweig, Neues Denken, III: 151 f.) 27 Im Miteinander-Sprechen-Können offenbart sich in der Sinnverständigung der Menschen die Liebe Gottes und daher ist die Liebe so »stark wie der Tod«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 174) Die dritte Sinnsphäre, in die die menschliche Existenz gestellt ist, ist die Dimension aufgegebener Nächstenliebe. So beginnt das dritte Kapitel »Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs« mit den Worten: »Liebe deinen Nächsten. Das ist, so versichern Jud und Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979). Siehe dazu den »Exkurs zu Jonas und Bloch« im Kapitel 8: »Blochs aufrechter Gang wider die Barbarei und die Apokalypse«. 25 Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927): 267 ff. Siehe hierzu das Kapitel 10: »Heideggers Je-Meinigkeit und sein Bedenken wider den Humanismus«. 26 Eugen Rosenstock, Angewandte Seelenkunde (1924); Martin Buber, Ich und Du (1923/1973). 27 Vgl. Hans Martin Dober, Die Zeit ernst nehmen. Studien zu Franz Rosenzweigs »Der Stern der Erlösung« (1970). 24
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Christ, der Inbegriff der Gebote. Mit diesem Gebot verläßt die mündig gesprochene Seele das Vaterhaus der göttlichen Liebe und wandert hinaus in die Welt.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 229) Wir betreten mit dieser dritten Dimension menschlicher Existenz »die Zuversicht auf das Kommen des sittlichen Reichs der endlichen Erlösung«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 114) Mit der Sittlichkeit als »Wollen auf die Erlösung« hin tritt auch eine dritte Zeitform hinzu, die der Zukunft, die fortdauernd ausständig ist. Aber das Reich kommt nicht von sich aus, vielmehr muss es durch die sittliche Tat der Nächstenliebe erstrebt und erwirkt werden. (Rosenzweig, Stern, GS II: 250) Zukunft bekommt überhaupt erst von diesem sittlichen Anspruch her einen Sinn; wenn wir diesen Gedanken aufgeben, den Platon erstmals in ganzer Unerbittlichkeit im zweiten Buch der Politeia ausgesprochen hat, so geben wir nicht nur alle Philosophie, sondern auch alle Humanität auf. Natürlich können wir geschichtliche Zukunft nicht einfach errichten und erzwingen, wie auch Rosenzweig unterstreicht, aber wir können uns ihr existentiell nur dort als dem Kommenden stellen, wenn wir nicht nur mitbedenken, dass schon das kreatürliche Da-sein ein in die Zukunft noch offener und wachsender Prozess ist, sondern dass wir vor allem von unserem sittlichen Sinnanspruch her immer wieder neu das Kommen des Reichs zu erstreben haben. Die menschliche Existenz ist nicht nur Existenz, sondern als menschliche steht sie zugleich in einem ihr aufgegebenen Sinnanspruch. Das Kommende ist gerade nicht als »Geschick« (Heidegger) hinzunehmen, sondern es gilt, gegen das bloß Geschickte in seiner Blindheit und Barbarei anzukämpfen, damit sich Geschichte als sittliche erfüllen möge – das ist auch das Anliegen von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. 28 Alle drei Dimensionen zusammen machen die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz aus, denn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen nicht auseinander hervor oder ineinander über, sondern alles Dasein liegt grundsätzlich als immerwährende Vergangenheit vor, alles Sinnverstehen und alle Sinnverständigung ist allzeiterneuerte Gegenwart, und aller sittlicher Anspruch richtet sich auf eine fortdauernde ausständige Zukunft. Nur gemeinsam bilden sie 28 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967). Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969/1981) und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 210 ff.
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die Grundlage menschlicher Geschichte. Geschichte darf nicht verwechselt werden mit Historie, vielmehr ist Geschichte ein allzeiterneuertes Werden, ein uns mitaufgegebenes Kommen des Reichs. Schon das kreatürliche Da-sein ist trotz des Todes für die einzelne Kreatur ein unablässig sich erneuernder Prozess des »Wachsens«. Das vom Anspruch der Nächstenliebe bestimmte menschliche Handeln ist unablässig auf das Kommen des Reichs gerichtetes »Wirken«. Schöpfung und Geschichte, Wachsen und Wirken, sie »können sich selber nicht voneinander lösen, sie können nur miteinander – er-löst werden, erlöst von einem dritten, der eines am andern, eines durch das andere erlöst […], nur Einer kann ihnen Erlöser werden.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 255) Durch eine »Umkehr« zu einem »neuen Denken«, das nicht mehr alles denkend abzuleiten versucht, sondern sich in den daseienden, sprachlichen, sittlichen Sinnzusammenhang einbegriffen erfährt, erschließen sich uns die Wunder von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, in die wir einbezogen sind. Diese drei Ereignismomente – Schöpfung, Offenbarung, Erlösung –, die die ersten drei Elemente der immerwährenden Vorwelt in eine zeitlich-geschichtliche Bahn allzeiterneuerter Wirklichkeit bringen, werden von Rosenzweig mit dem nach unten gerichteten Dreieck des Davidsterns symbolisiert. Mit dieser Einsicht in die Dimensionen unserer geschichtlichen Existenz werden wir allerdings nur an die »Schwelle« geführt, denn die Begründung des Sinns der Geschichte kann nicht in ihr selbst liegen, sondern nur aus der Erlösung kommen. Die Erlösung selbst kann nicht erwirkt und erstritten werden, sondern sie ist ein Ereignis, das grundsätzlich messianisch jeden Augenblick von außen in Schöpfung und Geschichte einbrechen kann – im Tod eines jeden einzelnen Menschen, genauso wie im Ende des irdischen Lebens insgesamt. Erlösung ist Heimholung von Schöpfung und Geschichte in die Ewigkeit Gottes. Darin erweist sich die Erlösung nicht nur als so stark wie der Tod, sondern als stärker als er. Die Ewigkeit der Erlösung ist kein zeitlicher Zustand nach der Zeit, sondern schlechthin außer der Zeit. In ihr ist alle Zeit selbst aufgehoben. (Rosenzweig, Stern, GS II: 269)
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13.3 Die Bewährung der Wahrheit Bereits der Titel des dritten Teils Die Gestalt oder die ewige Überwelt spricht aus, dass es jetzt nicht mehr um die zeitlich-geschichtliche Erfahrung, sondern um das Überzeitliche, das Ewige geht, und zwar nicht das Ewige an sich, sondern insofern wir zu ihm in Beziehung treten. So handelt der ganze dritte Teil von der Ewigkeit, die im Geschehen von Liturgie und Kultus einer Glaubensgemeinschaft anwesend ist. Schon in der Einleitung »Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten – in tyrannos!« deutet Rosenzweig an, dass die Nächstenliebe in der konkreten Lebenssituation völlig blind bleibt, wenn sie nicht durch das Gebet, dieser Zwiesprache mit Gott, Erleuchtung erfährt. Der Mensch sieht nicht, wer der Nächste ist und was er als Nächstes zu tun hat; oft erkennt er erst aus den nicht gewollten Folgen, was er hätte wahrhaft tun oder lassen sollen, oder er erkennt aus Fügungen, dass er zu früh verzagte. In der Bitte um Eingebung, um GewissensGewissheit liegt der Sinn der Zwiesprache des Gebets. Niemals kann das Gebet jedoch diese Entscheidungskonkretion herbeizwingen. (Rosenzweig, Stern, GS II: 296 f.) Aus der Zwiesprache des Gebets kann dem Menschen die Erleuchtung erwachsen, was ihm im Hinblick auf das Gebot der Nächstenliebe zu tun oder zu lassen obliegt. Das Gebet soll aber nicht nur sporadisch und in Situationen der Anfechtung erfolgen, sondern das ganze Leben durchdringen und leiten, es soll den »Dienst der Erde, die Arbeit der ›Kultur‹ […] rhythmisch regeln« (Rosenzweig, Stern, GS II: 324), und dies kann es nur dort, wo es das Leben einer ganzen Glaubensgemeinschaft bestimmend durchdringt. Davon nun, wie das Gebet, der Kultus und die Liturgie in unterschiedlicher Weise die jüdische und die christliche Glaubensgemeinschaft durch die heiligen Jahresfeste leitet, handelt der dritte Band, der – durch die beiden vorhergehenden Dreiecke zusammengefügt – im Sechsstern symbolisiert wird. 29 Im ersten Kapitel dieses dritten Bandes »Das Feuer oder das ewige Leben« – dem Innenbereich des Davidsterns – geht Rosenzweig auf das durch die Zwiesprache mit Gott bestimmte Leben der Juden ein. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart, dass es ewig Sein Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991): 56 ff.
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Volk ist. Und daraufhin ist auch der Kreislauf der Feste und Gebete bestimmt, durchdrungen von der Verheißung, das eine, das ewige Volk zu sein. (Rosenzweig, Stern, GS II: 331 ff.) Aber das jüdische Volk muss für seine Treue zum Bund mit Gott, durch den es ewiges Leben erlangt, seit fast zwei Jahrtausenden schon mit dem Ausschluss aus der Weltgeschichte bezahlen. 30 Dieses Volk besitzt als Volk kein eigenes Land, keine eigene Sprache, kein eigenes Gesetz mehr. Die Juden wohnen verstreut unter den Völkern in fremden Ländern, nur in ihrem Herzen brennt die Sehnsucht nach ihrem »heiligen Land«, sie sprechen die Sprachen fremder Völker, nur in der Thora und ihrer Auslegung lebt ihre »heilige Sprache« fort, sie fügen sich den Gesetzen fremder Staaten, nur in ihren intimsten Lebensbereichen halten sie an ihrer »heiligen Gesetzeslehre« fest. (Rosenzweig Stern, GS II: 334 ff.) Dieses Herausgehobensein aus dem geschichtlichen Weltlauf drückt sich in der Liturgie der jüdischen Jahresfeste aus, die im Jom Kippur, dem Fest des Erlösungstages gipfeln. Sie alle verweisen auf Offenbarungsereignisse des Volkes Israel, die in ihrer Folge den Bund Gottes mit seinem Volk bezeugen, beschwören und damit als ewigen Bund immer wieder neu besiegeln. Ganz anders ist das Leben der christlichen Völker bestimmt, das Rosenzweig im zweiten Kapitel »Die Strahlen oder der ewige Weg« behandelt – die äußeren Strahlen des Davidsterns, die in das Dunkel der heidnischen Welt hinausweisen. (Rosenzweig, Stern, GS II: 374 ff.) Das Christentum ist eine über alle Völker ausgreifende Gemeinschaft der Glaubenden, derer, die an Christus glauben und ihm nachfolgen. Daher wendet sich das Christentum an jeden als Glaubenden, und es kann sich nur durch den Glauben jedes einzelnen und seine zeugnisgebende Weitergabe hindurch fortpflanzen. Über alle »Unterschiede der Geschlechter, Alter, Klassen, Rassen hinweg« ist das Christentum »das Band der Brüderlichkeit«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 382) Das Band ihrer Brüderlichkeit ist der gemeinsame Glaube an Christus den Gekreuzigten, ihren Heiland. Auf seinen Erdenwandel bezieht sich die Liturgie aller christlichen Jahresfeste. Sie verweisen auf Christus als den Vermittler des neuen Bundes der Glaubenden mit Gott. Aus dieser Mittlerrolle erwächst den Christen jedoch eine eigentümliche – den Juden unfassbare – Gespaltenheit der christli30
Man beachte, dass Rosenzweig dies nach dem Ersten Weltkrieg schreibt.
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chen Wegorientierungen, die sich bezogen auf Gott, Mensch und Welt in der Trennung von »Vater und Sohn«, »Priester und Heiliger« sowie »Staat und Kirche« niederschlägt. (Rosenzweig, Stern, GS II: 388 f.) Nach dieser Kennzeichnung der Gegensätze zwischen Juden und Christen in den ersten beiden Büchern kommt jedoch erst das Entscheidende: das Angebot einer jüdisch-christlichen Partnerschaft über das unaufhebbar Trennende hinweg. Weder im jüdischen noch im christlichen Glauben liegt bereits die ganze Wahrheit – dies ist das Fazit des dritten Kapitels »Der Stern oder die ewige Wahrheit«. Nur »Gott ist die Wahrheit«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 423) Beide – der Jude und der Christ – können aneinander ihre Grenze und ihren Halt erfahren: Auch nach jüdischer Lehre kann das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle Völker zurückgekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche Lehre bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. So sind beide getrennt in der Erfüllung ihres Auftrags doch gegenseitig aufeinander angewiesen. Nur wechselweise sind sie Garanten ihrer Verheißungen – nur gemeinsam sind sie der von Gott entzündete, feurig-strahlende Stern der Erlösung. »Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden. […] Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns. […] Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil. […] So sind wir beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe gerade um dessentwillen, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen. […] Aber Gott […] ist jenseits von allem, was Teil werden mag, er ist noch über dem Ganzen, das bei ihm ja auch nur Teil ist; noch über dem Ganzen ist er der Eine.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 462 f.) Gott ist die Erlösung, in ihn gehen Welt und Mensch am Ende der Zeiten auf, so dass Er zum All-Einen wird. Gerade hierin erweist sich Gott als die Wahrheit, er ist die Wahrheit, ihr Ursprung und ihr Zielpunkt. »Gott ist die Wahrheit – dieser Satz, mit dem wir ein Äußerstes des Wissens zu erschwingen meinten – sehen wir näher zu, was denn Wahrheit sei, so finden wir, daß jener Satz nur das innigst Vertraute unserer Erfahrung uns mit andrem Wort wiederbringt […]. Daß er Wahrheit ist, sagt uns zuletzt doch nichts anderes, als daß er – liebt.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 432) Wahrheit ist nicht etwas, was wir je erkennen können, sondern es ist etwas, was erfahren 408 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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werden muss. Die Wahrheit Gottes ist das Vertrauen in das sinnhaft Tragende unserer Existenz, das wir auch nur durch unsere Lebensführung bewährend beantworten können. In seinem bereits in der Zeit der Lähmungserkrankung geschriebenen Abhandlung »Das neue Denken« (1925) erläutert Rosenzweig die Absicht des Schlusskapitels nochmals ausdrücklich: »Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr – bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie«. (Rosenzweig, Neues Denken, GS, III: 159 f.) 31 Hier am Schluss kehrt der Gedankengang Rosenzweigs in sein Innerstes, die Offenbarung zurück und begründet auch den Anfang, dass das Denken immer auch »Bejahung des Nicht-Nichts« sei und zu sein habe. Aber mit dieser Aussage endet noch nicht der Stern der Erlösung, er schreitet noch bis zum »Tor« fort. Dieses Tor führt nicht ins ewige Leben, denn dann wäre dies der Eintritt in die Erlösung und in das Wissen Gottes von sich selbst – wie bei Hegel (Phänomenologie, 3: 554) –, sondern es führt aus dem Buch heraus: in die existentielle Bewährung. »Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 472) Da der Stern der Erlösung und ganz besonders auch sein Schlusswort bei vielen Lesern – auch unter seinen Freunden – auf Unverständnis stieß, hat Rosenzweig in seinen »nachträglichen Bemerkungen zum ›Stern der Erlösung‹«, die er unter dem Titel Das neue Denken bereits in der Zeit seiner Lähmungserkrankung schreibt und 1925 veröffentlicht, nochmals ausführlichere Erläuterungen gerade auch zu diesen Schlusssätzen nachgereicht. Er erläutert darin, dass der Stern der Erlösung bis in die Schau – theoria – der Wahrheit Gottes im dritten Teil vordringe, aber dann zu einem Tor führe, über dem steht: »Einfältig wandele mit deinem Gott« (Rosenzweig, Stern, GS II: 472). »Hier schließt das Buch. Denn, was nun kommt, ist schon jenseits des Buchs, ›Tor‹ aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch. […] Nichtmehrbuch ist auch das Innewerden, daß dieser Schritt des Buches an die Grenze nur gesühnt werden kann durch – Aufhören des Buches. Ein Aufhören, das zugleich ein Anfang ist und eine Mitte: In diesem Gedanken liegt sicherlich die stärkste vorwegnehmende Antwort auf Albert Camus’ Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1942/1959): 98 ff. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999): 233 ff.
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Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens. […] Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selbst verantwortet werden. […] Diese Verantwortung geschieht am Alltag des Lebens.« (Rosenzweig, Neues Denken, GS III: 160 f.)
13.4 Zum jüdisch-christlichen Disput zwischen Rosenzweig und Ehrenberg Hier soll nicht das philosophische Gespräch der Vettern und Freunde Hans Ehrenberg und Franz Rosenzweig im Mittelpunkt stehen, sondern der jüdisch-christliche Dialog, der hinter dem dramatischen Briefdisput Rosenzweigs mit Eugen Rosenstock bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist. 32 Hans Ehrenberg ist der einzige der Freunde, der mit seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers, das parallel zum Stern der Erlösung entstanden ist, auf Rosenzweigs jüdische Herausforderung eine christliche Antwort zu geben versucht. 33 Jetzt ist es nicht mehr – wie in den vorausgegangenen Jahren – der Philosoph Hans Ehrenberg, auf den sich Franz Rosenzweig bezieht, sondern der Christ Hans Ehrenberg, der durch Rosenzweig zu einem jüdisch-christlichen Dialog herausgefordert wird. Seit Rosenzweigs existentialistisch-konfessioneller Wende von 1913 – »Ich bleibe also Jude« (Rosenzweig, Briefe, GS, I: 132 f.) 34 – erscheint ihm rückblickend Hans Ehrenbergs Verständnis des Christentums als »philosophisch konstruiert«. Je mehr Rosenzweig aber ab Mitte 1917 das gelebte Christsein von Hans Ehrenberg entdeckt, umso mehr vermag er die seit 1913 empfundene »Entfremdung« abzubauen und sich Hans Ehrenberg wieder ganz als Freund zuzuwenden. 32 Eugen Rosenstock-Huessy, Judaism Despite Christianity (1969). Zu den Disputen mit Eugen Rosenstock und Hans Ehrenberg vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewähreung (1991): 91 ff. 33 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 61 ff., siehe auch Francesco Barba, Das Denken Rosenzweigs zwischen Theologie und Philosophie. Eine Herausforderung für das Christentum (2013): 265 ff. sowie Heinz-Jürgen Görtz, »›Heimkehr und Umkehr‹. Franz Rosenzweigs und Hans Ehrenbergs Wege in ein ›neues Denken‹«, in: Traugott Jähnichen / Andreas Losch (Hg.): Hans Ehrenberg als Grenzgänger zwischen Theologie und Philosophie (2017): 43 ff. 34 Vgl. Dietmar Kamper, »Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913. Eugen RosenstockHuessy und Franz Rosenzweig«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1988), I: 97 ff.
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Zum jüdisch-christlichen Disput zwischen Rosenzweig und Ehrenberg
Die anderen Freunde haben sich zwar auch mit dem Judesein Rosenzweigs auseinandergesetzt, aber nicht so sehr auf Rosenzweigs Argumentation eingehend, sondern wie Eugen Rosenstock ganz besonders christlich missionarisch. Hans Ehrenberg dagegen ringt um einen philosophischen Begriff des Christentums, den er zunächst »Judenchristentum« und dann – auf Grund von kritischen Einsprüchen Rosenzweigs – »Ketzerchristentum« nennt (Rosenzweig, Briefe, GS I: 638), das eine christliche Antwort auf Rosenzweigs Bestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum zu geben versucht. Ehrenberg arbeitete an der Heimkehr des Ketzers von Frühjahr 1918 bis Herbst 1919 unmittelbar parallel zu Rosenzweigs Arbeit am Stern der Erlösung von Ende August 1918 bis Mitte Februar 1919 (überarbeitet und erweitert bis Ende August 1919). Der Abfassung des Stern der Erlösung geht die intensive jüdisch-christliche Briefdiskussion zwischen Ehrenberg und Rosenzweig seit Mai 1918 unmittelbar voraus. Seit Herbst 1918 wissen die beiden Freunde von ihren Arbeiten, schicken sich Teilstücke zu, lesen sich bei ihren Treffen in Kassel im Winter 1918 und in Heidelberg im Frühjahr 1919 gegenseitig Kapitel aus ihren Arbeiten vor, entdecken überrascht das Gemeinsame ihrer Gedanken, geben einander Anregungen und arbeiten diese auch in die jeweiligen Endfassungen ein. (Rosenzweig, GritliBriefe: 205) Auch dieser Gedankenverbundenheit liegt zugleich eine gemeinsame Anknüpfung an Schelling zugrunde, und zwar diesmal eine religionsphilosophische Bezugnahme auf Schellings Ausführungen zur Geschichte des Christentums, der zufolge nach der Epoche der petrinischen Kirche des Katholizismus und der paulinischen Kirche des Protestantismus die noch ausständige johanneische Kirche der Versöhnung kommen werde. Die Diskussionen der Freunde und Vettern, Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg, darüber muss bis in ihre gemeinsame Münchner Studienzeit von 1906 zurückreichen, denn wo immer sie in Briefen darauf zu sprechen kommen, beziehen sie sich auf diese vorausgehenden Gespräche zurück. (Rosenzweig, Gritli-Briefe: 354) 35 In der Einleitung zum dritten Teil des Stern der Erlösung, die insgesamt Rudolf Ehrenberg gewidmet ist (Rosenzweig, Gritli-Briefe: 179), kommt Rosenzweig in einem Einschub auf den Gedanken Franz Rosenzweig, Die ›Gritli‹-Briefe. Briefe an Margit Rosenstock-Huessy, hg. v. Inken Rühle / Reinhold Mayer (2002).
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der johanneischen Kirche zu sprechen. Ausgangspunkt seiner Gedankenführung ist Goethes »heidnisches« Gebet an das eigene Schicksal: »Schaff’, das Tagwerk meiner Hände, hohes Glück, daß ich’s vollende.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 306) Zugleich aber erinnert Rosenzweig daran, dass Goethe von sich behauptet habe, er »sei vielleicht in seiner Zeit noch der einzige Christ, so wie ihn Christus gewollt habe«. (Rosenzweig, Stern, GS II: 308) Beides ist durchaus ernstzunehmen: »Goethe ist wirklich in einem zugleich der große Heide und der große Christ. Er ist das eine, indem er das andre ist.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 315) Insofern sei Goethe dadurch einer »der ersten […] Väter« der »Johanneskirche« (Rosenzweig, Stern, GS I: 318), die mit 1789, dem Datum der Französischen Revolution, im Kommen begriffen ist. Um diese – zumal an dieser Stelle – etwas überraschenden Gedanken zu erläutern, skizziert Rosenzweig in wenigen Strichen den Schellingschen Gedanken der kirchengeschichtlichen Abfolge, der petrinischen, paulinischen und johanneischen Epoche, worauf wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen können. In der Johanneskirche steht nicht mehr die Liebe (Augustinus) oder der Glaube (Luther), sondern die Hoffnung im Zentrum: »Und damit hat eine neue, die voll-endete Zeit des Christentums begonnen.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 315) Nun betont Rosenzweig, dass die Johanneskirche keine eigene Gestalt mehr annehmen wird, sondern in der Gestalt der bestehenden Kirchen verbleibt, einschließlich – und hierin wird die Auseinandersetzung mit Hans Ehrenberg greifbar – der russisch-orthodoxen, durch die ein besonderes Moment der Gläubigkeit in die Kirchen zurückkehrt: »Die johanneische Vollendung hat keine eigene Form; sie ist eben selber kein Stück mehr, sondern nur noch Vollendung des bisher Stückwerklichen. So wird sie in den alten Gestalten leben müssen.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 316 f.) 36 Für Rosenzweig ist aber ein entscheidender Zusatz wichtig, dass in dieses aufgeklärte, aber zugleich gläubige Grundverständnis eines johanneischen Christentums in den modernen christlichen Staaten auch die Juden als Juden angenommen und aufgenommen werden: »Und auch das andre große kirchengeschichtliche Ereignis neben der Einreihung der Russen in den christlichen Kreis, die Befreiung und Seit seiner Studienzeit in Heidelberg stand Hans Ehrenberg mit der dortigen »russischen Kolonie« in enger Verbindung. Zusammen mit Nikolai von Bubnoff gibt Hans Ehrenberg hierzu zwei Bände heraus: Östliches Christentum. Dokumente. I: Politik, II: Philosophie, 1923 und 1925.
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Aufnahme der Juden in die christliche Welt, wirkt sich gleichfalls nicht in einer neuen kirchlichen Bildung aus, sondern wieder nur in einer Neubelebung der alten Kirchen, und hier allerdings, aus dem ewigen, von Haus aus gotteskindlichen Volk der Hoffnung, strömt unmittelbar die Grundkraft der neuen vollendeten Welt […], so ist es in dieser beginnenden Erfüllung der Zeiten wohl der in die christliche Welt aufgenommene Jude, der den Heiden im Christen bekehren muß.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 317) Gerade dieser letzte Gedanke ist die Grundlage für Rosenzweigs Entgegensetzung von Judentum und Christentum, bei gleichzeitiger Angewiesenheit beider aufeinander: »Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden. Uns gab er ewiges Leben, indem er uns das Feuer des Sterns seiner Wahrheit in unserem Herzen entzündete. Jene stellte er auf den ewigen Weg, indem er sie den Strahlen jenes Sterns seiner Wahrheit nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende. […] Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns. […] Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 462) Aus vielen Briefen wissen wir, wie schwer sich Rosenzweigs christliche Freunde – vor allem Eugen Rosenstock – taten, diese religionsphilosophische Abwandlung des Grundgedankens der Lessingschen Ring-Parabel und insbesondere die darin vorgenommene Stilisierung des Christentums zu akzeptieren. Dies ist auch verständlich, da Rosenzweig auf Jesus als Christus nicht eingehen konnte und wollte. (Rosenzweig, Briefe, GS I, 252 f.) Für ihn ist Jesus der Jude, den die nicht-jüdischen Völker als Christus glauben müssen, damit sie zu Gott geführt werden können, den die Juden aber immer als Abtrünnigen ansehen werden und den sie auch heute noch kreuzigen würden. 37 So wie Rosenstock – wie er später schrieb – rasend wurde
An Eugen Rosenstock schreibt Franz Rosenzweig im Oktober 1916: »Dies praktische Ernstnehmen, worin sich das Theologumen von der jüdischen Verstocktheit auswirkt, ist der Judenhaß. Sie wissen so gut wie ich, daß alle seine realistischen Begründungen nur modische Mäntelchen sind, um den einzig wahren metaphysischen Grund zu verhüllen, der metaphysisch formuliert lautet: daß wir die weltüberwindende Fiktion des christlichen Dogmas nicht mitmachen, weil sie (obzwar Wirklichkeit) eine Fiktion ist […] und ungebildet formuliert: dass wir Christus gekreuzigt haben
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durch diese ihn tief verletzenden Äußerungen, so konnte er seinerseits nicht davon lassen, Rosenzweig auch noch im Sommer 1919 – also noch nachdem er den ganzen Stern der Erlösung kannte – erneut zur Taufe überreden zu wollen. 38 Hier stehen plötzlich doch wieder »Wahrheit« gegen »Wahrheit« und schließen sich gegenseitig aus. Und damit sind wir nun an dem Punkt angelangt, wo wir zu Hans Ehrenberg übergehen können. * * * Hans Ehrenbergs Die Heimkehr des Ketzers ist in erster Linie ein christlich-philosophisches Buch, das sich aus der Tradition des späten Schellings um die noch ausstehende Einheit der Christenheit über die drei großen christlichen Kirchen – die orthodoxe, die katholische und die evangelische – hinaus bemüht. Dies ist wohl ein Grund, warum bisher keine der christlichen Kirchen sich an den großen Philosophen, Theologen und späteren Pastor Hans Ehrenberg heranwagt. Das Ketzerchristentum der Moderne, dessen Kommen – nach dem vorausgehenden Apostelchristentum und Kirchenchristentum – Ehrenberg fordert, ist die johanneische Gemeinde, von der bereits Schelling sprach. Es wird ein philosophisch bewusstes Christsein ermöglichen, das – ungenannt anknüpfend an und rückverweisend auf Arius von Alexandria – alle Kirchen in gegenseitiger Anerkennung wieder zusammenbringen wird, ohne deshalb in eine a-christliche Aufklärung abzugleiten. Darüber hinaus wird von Hans Ehrenberg die Juden-Frage für die Christen aufgeworfen. Ganz im Sinne Rosenzweigs, dass Juden und Christen zwei verschiedene Aufgaben vor Gott haben und sich daher nebeneinander anerkennen müssen, geht Ehrenberg von christlicher Seite auf diese Anerkennungsfrage ein: »Auf einem
und es, glauben Sie mir, jederzeit wieder tun würden, wir allein auf der weiten Welt«. (Rosenzweig, Briefe, GS I: 252 f.) 38 Ein Ansinnen, woran fast ihre Freundschaft zerbrach und das Rosenzweig in eine tiefe Depression stürzte. In geradezu flehenden Briefen bat Rosenzweig Margrit Rosenstock-Huessy zu vermitteln und Eugen Rosenstock zu bewegen, doch wieder die Voraussetzungen ihrer Freundschaft herzustellen, die in der bedingungslosen Anerkennung seines Judeseins bestehen müsse, so wie er Rosenstocks Christsein anerkenne. (Rosenzweig, Gritli-Briefe: 372) Dieser Schritt fällt Rosenstock, der als 18jähriger aus Überzeugung Christ geworden war, überaus schwer.
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gleichlaufenden Nebenweg begleitet uns der ewige Jude. Auch die Synagoge hat dauernden Bestand. Eines Tages stößt der Christ an den Juden […]. Sie harren beide, Christ und Jude; sie hoffen beide auf die ewige Stätte […]. Judentum ist nicht nur neben uns, sondern auch in uns; und die jüdische Frage ist die ›letzte‹ Frage der Christenheit. Die Offenbarung Gottes an die Menschen ist geteilt. Altes und Neues Testament, in Kirche und Synagoge, bringen diese zum Ausdruck, und in der Christlichen Kirche selbst herrscht die Zweiheit der Testamente.« (Ehrenberg, Heimkehr: 97 f.) »Die Juden haben noch eine Aufgabe, und sie ist uns nunmehr nicht mehr fremd: der Alte Bund im Neuen muß gerettet werden, auf daß nicht die Kraft, aus der die Erlösung stammt, in der Frucht, die von ihr gezeugt wird, verzehrt werde«. (Ehrenberg, Heimkehr: 102) Natürlich bleibt in der wechselweisen Darstellung des Nebeneinanders eine Differenz. Während Rosenzweig für die Juden betont, dass ihnen das Christentum in ihrem Verhältnis zu Gott gleichgültig sei und nur sekundär für die weltgeschichtliche Aufgabe der Hinführung der Völker zu Gott eine auch von den Juden anerkannte Aufgabe zufalle, so unterstreicht Ehrenberg für die Christen, dass sie zwar die Juden als bleibende Zeugen für den Bund ihrer Herkunft brauchen, aber doch auch in ihrem neuen Bund den alten aufgehoben haben und daher auf die Juden nur indirekt angewiesen sind. »Das Judentum kann das Christentum neben sich sehen als notwendig, wie es seit langem getan hat; aber das Christentum kann das Judentum in sich sehen, was bis jetzt nur unbewußt geschah […]. Nur also im Sinne solcher ewigen Selbsterneuerung darf von einer judenchristlichen Richtung des Christentums gesprochen werden«. (Ehrenberg, Heimkehr: 105) Hiermit kommen wir zu der alles entscheidenden, alles tragenden Frage des Christentums, die Ehrenberg im Kapitel »Jesus der Christus« aufwirft. Ehrenberg ist, so können wir von heute aus formulieren, ein Vorläufer des jesuanischen Christus-Verständnisses. Ehrenberg setzt sich hier sowohl von Augustinus’ trinitarischer Vergöttlichung von Christus als auch von Hegels Dialektik der Menschwerdung Gottes in Christus ab und betont wie Schelling in seiner Spätphilosophie den Gedanken der Sohnschaft von Jesus. Bestärkt wird er in diesem Christus-Verständnis durch seine Begegnung mit der Gedankenwelt der russisch-orthodoxen Religionsphilosophie. Im weiteren Bemühen um das einende Grundverständnis der christlichen Kirchen dringt Ehrenberg dann tiefer zurück zu Arius und dem 415 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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jesuanischen Christus – dies alles schwingt in dem von ihm geprägten Begriff des Ketzerchristentums mit. 39 Hans Ehrenberg wagt sich hier religionsphilosophisch im Sinne eines jesuanischen Christentums an eine in den Kirchen tabuisierte christliche Glaubensfrage von äußerster Brisanz heran, und er wurde deshalb von seinen engsten christlichen Freunden belächelt oder kritisiert, von dogmatischen Kirchenvertretern jedoch geschnitten und ausgegrenzt. 40 Es hat immer wieder Stimmen gegeben, die im Geiste des Arius die Konsequenzen der kirchengeschichtlichen Durchsetzung der von Athanasius vertretenen Gottgleichheit Christi und die darauf aufbauende Trinitätstheologie des Augustinus für die christliche Abweichung vom reinen Monotheismus verantwortlich machten, die nicht nur die Entstehung des Islam geradezu heraufbeschwören mussten, sondern auch die Kluft zwischen Christen und Juden unüberbrückbar werden ließen. Der christliche Philosoph und Theologe Hans Ehrenberg bringt in der Heimkehr des Ketzers den Mut auf, dieses Tabu der Kirchen zu durchbrechen und die christlich-philosophische Frage zu stellen, was Jesus als Christus für die Christen eigentlich bedeute. Jesus ist nicht substantiell immer schon Gottes Sohn, sondern er wird es durch sein Wort und sein Leben bis in den Tod: »Jesus ist nicht Sohn Gottes, nein, er wird es. Und weil er Erfüllung, weil er Sohn wird, so ist er es schon immer: Erfüllung und Sohn! […] Von der Stimme Gottes am Jordan und der Taube des göttlichen Geistes geht die Linie dieses Lebens bis zu dem Kreuz auf Golgatha und bis zum Worte: es ist vollbracht! […] Jesus ist Mensch und Geschöpf wie wir, aber Auserwählter und Messias nach Gottes Liebeswillen; die irdische und die göttliche Wurzel seines Lebens treffen sich erst im letzten Wort des Gekreuzigten und sind erst nach seinem Tode – im Auferstandenen –
Siehe hierzu auch den tief in die Diskussionsgeschichte zurückreichenden Brief von Rosenzweig an Hans Ehrenberg 11. 12. 1913: »Die Trennung von Kirche und Wissenschaft, von der du in deinem Brief sprichst, seit den Reformationen des 16. scl. bedeutet, daß die Kirche mit dieser Aneignung fertig geworden ist […]; Descartes, Spinoza, Leibniz wissen sich nicht mehr als Heiden außerhalb der Kirche […], sondern als lebendige, mehr oder weniger laute, Ketzer in ihr. Das weitere ist dann, daß diese Ketzer in den Schoß der Kirche zurückkehren: Kant, Fichte, Schelling, Hegel.« (Rosenzweig, Briefe, GS I: 146) 40 Rosenzweig an Eugen Rosenstock 13. 8. 1919: »Mir hat er [Weizsäcker] im Frühjahr auseinanderzusetzen gesucht, Hansens volkkirchliche Betätigung sei taktlos, weil er noch nicht lang genug getauft sei!« (In Gritli-Briefe nicht enthalten.) 39
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unlösbar vereinigt. Wenn wir das Leben Jesu so erleben, dann kränken wir nicht seinen eigenen Glauben und seine Herkunft aus dem alten Bund und gewinnen doch im Gekreuzigten und Auferstandenen den reinen Christus unserer Hoffnung.« (Ehrenberg, Heimkehr: 33 f.) Jesus ist und bleibt ganz Mensch. Er wird erst zu Christus durch das Wort der Liebe, das er verkündet und durch den Tod, den er dafür auf sich nimmt. »Daher hat Jesus keine neuen Lehren gebracht […]. Die ›Tatsache‹ der Erfüllung ist die Lehre! Ein erstes Geschöpf wird Gott ähnlich, kehrt zurück zu unserem Schöpfer, erfüllt das Gebot und überwindet den Fluch der Sünde und des Todes; einem ersten Geschöpf widerfährt das Gericht des Endes. […] Und Gott erwählt sich einen zum Sohn, da er einem Einzigen es gab, Seine Worte zu sprechen […]. Im Judentum ist der Erwählte nur der Empfänger der göttlichen Botschaft […]. Aber Jesus kündet in der Liebe, denn sein Künden fließt aus ihm selbst; in ihm selbst ist die Stimme Gottes. […] Jesus ist unser Christus, weil er uns den Anfang der Erlösung vermittelt.« (Ehrenberg, Heimkehr: 29) In all dem liegt eine Antwort Ehrenbergs an Rosenzweig, die nicht nur in ihren Schriften aufgezeichnet ist, sondern die vorher schon in ihren Gesprächen ausgefochten wurde. Etwas davon wird aus einem Brief vom 31. 3. 1919 an Margrit Rosenstock-Huessy greifbar, der sich auf einen Artikel von Ehrenberg von 1919 bezieht: »Wie hansisch ist der Schluß des zweitletzen Absatzes […]. Das dogmatische Hauptstück von der Nurmenschlichkeit Christi gehört auch zu dem, was er jetzt Gott sei Dank nicht mehr Judenchristentum, sondern Ketzerchristentum nennt. Von den 4 Glaubensartikeln des Credo oder vielmehr der Confessio Heidelbergana führt er nur den von der Wiederkehr näher aus, das ist auch bezeichnend – die Zukunft! Daß er in diesem Dogma weniger ›Heide‹ zu sein meint als die Verfasser des Apostolicums, darüber schlage ich natürlich meine jüdischen Hände über meinem jüdischen Kopf zusammen; ich sehe den Unterschied nicht. Ob man einen Menschen ruhig Gott nennt oder ob man ihm das Einzige zuspricht, wodurch sich Gott von allen Geschaffenen unterscheidet, nämlich die Einzigkeit (Einzigartigkeit, Unvergleichlichkeit), das kommt mir ganz auf eins heraus.« (Rosenzweig, Gritli-Briefe: 269 f.) Von diesem Vorbehalt her spricht Rosenzweig in vielen Briefen freundschaftlich-spöttisch und bewundernd zugleich von Hans Ehrenberg als dem »Ketzerchristen in Heidelberg«, dem »ersten Verkünder und Papst Hans I.« (Rosenzweig, Gritli-Briefe: 246; 99) 417 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Was Rosenzweig vielleicht hier übersieht, ist die Differenz im Erlösungsgedanken. Bei Rosenzweig folgt auf das zentrale zweite Buch des zweiten Teils Offenbarung oder die allzeiterneuerte Geburt der Seele fast bruchlos das dritte Buch Erlösung oder die ewige Zukunft des Reichs, dessen erster Satz die Nächstenliebe beruft, die die gemeinsame Grundlage des Glaubens der Juden und Christen ist: »Liebe deinen Nächsten. Das ist, so versichern Jud und Christ, der Inbegriff aller Gebote.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 229) Die bewährende Beantwortung der Gottesliebe in der Nächstenliebe wird von Rosenzweig fast nur beiläufig erwähnt. Hierauf versucht nun Ehrenberg den Akzent seines Christusverständnisses zu legen, insofern durch Jesus als Christus eine in der Nächstenliebe aus der Nachfolge Christi erfüllbare Erlösungshoffnung für die Christen Gewissheit werden kann, die aus dem von Rosenzweig aus jüdischer Sicht dargelegten Zusammenhang von Offenbarung und Erlösung nicht sichtbar wird: »Zu Gott, dem Offenbarer, kommen wir ohne Christus, denn die Geschöpfe des Alten Bundes hatten und haben ihn wahrhaftig nicht minder als die des Neuen, aber zu Gott dem Erlöser kommen wir nur über Christus, und nur in diesem Sinne dürfen Christi Worte, daß wir zum Vater nur durch den Sohn kommen, aufgenommen werden, sonst wären es Gotteslästerungen. ›Zum Vater kommen‹, das heißt: zum Vater heimkehren, erlöst werden; noch hat kein Jude die Erlösung vorgeschmeckt außer ihm, dem letzten Juden, Jesus von Nazareth. [… E]ben damit wird die Offenbarung abgeschlossen; nun ist offenbar, dass Gott sich offenbart, aus Liebe zu seinen Geschöpfen, um seiner Schöpfung willen, auf daß die Geschöpfe den Heimweg zu Ihm finden können, also um der Erlösung willen […]; in Jesu Christo ist uns, den Kindern Gottes, ewiges Erlebnis Gottes des Erlösers geworden.« (Ehrenberg, Heimkehr: 31 f.) Aber noch eine direkte Antwort auf Rosenzweig finden wir bei Ehrenberg. Mit Recht betont Rosenzweig, dass die Juden, das Volk Israel, sich bereits als Kinder Gottes verstehen und daher keines Vermittlers bedürfen, der ihnen den Weg zum Vater zeigen müsse. 41 Aber das ist es auch nicht, weshlab die Christen und die ganze
Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg am 1. 11. 1913: »Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeutet, darüber sind wir einige: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn [Johannes 14/6]. Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel«. (Rosenzweig, Briefe, I: 134 f.) 41
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Menschheit – also auch die Juden – Christus benötigen, so legt Ehrenberg dar, und gerade in diesen Gedanken Ehrenbergs sind die Bezüge zu Schelling besonders präsent, für den Christus die in Freiheit angenommene Sohnschaft ist: »Was ist es, das der Sohn mehr ist als das Kind? Das Kind empfängt nur, der Sohn aber führt auch aus. Dieser erbt selbst, für jenes wird geerbt. Und allein und in nichts anderem ist das christliche Mysterium beschlossen als darin, daß das eine Kind, das über die Kindschaft hinausgelangt ist, damit allen Kindern den Weg zur Sohnschaft eröffnet hat. Wir alle nennen Gott unseren Vater, das haben wir mit Christus gemein; aber nur Einen hat Gott bis jetzt als Sohn gerufen. Jesus ist der einzige, den Gott mündig werden ließ, und Jesus bewies es am – Kreuz! Denn er starb an ihm für die Sohnschaft. So gab er den menschlichen Geist auf um des göttlichen Geistes willen.« (Ehrenberg, Heimkehr: 36 f.) Dieser Jesus als Christus ist nicht gekommen, das Gesetz der Väter umzustürzen, sondern dessen Erfüllung aus Liebe zu predigen. Er verkündigt nicht: ›ich bin der Messias‹ oder gar ›ich bin Gott‹, im Gegenteil, er betont ›wartet nicht auf den Messias, denn er ist mitten unter euch‹, sofern ihr die Liebesbotschaft versteht und aus Liebe zu handeln beginnt. Jesus als Christus erhebt sich gerade nicht zu Gott, sondern bekennt seine Sohnschaft gegenüber dem Vater, d. h. stellt sich selbst unter das Gebot der Liebe. Die philosophische Brisanz dieser Aussagen kommen nur dann ganz zum Vorschein, wenn man die darin enthaltenen kritischen Anspielungen auf Nietzsches Jesus-Verständnis mitbedenkt, mit dem sich Hans Ehrenberg ja in jungen Jahren intensiv befasst hat. Nietzsches radikale Abrechnung mit der christlichen und jüdischen Religion und Moral im Spätwerk Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (1888) gipfelt in einem »psychologischen« Hymnus auf Jesus von Nazareth. 42 In seiner Leugnung des jüdisch-christlichen Liebesgebots gerät Nietzsche in eine ›Verübermenschlichung‹ des Jesus von Nazareth. Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum: »In der ganzen Psychologie des ›Evangeliums‹ fehlt der Begriff Schuld und Strafe […]. Die ›Sünde‹, jedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft – eben das ist die ›frohe Botschaft‹. […] Er hat keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nötig – nicht einmal das Gebet. […] Nicht ›Buße‹, nicht ›Gebet um Vergebung‹ sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist ›Gott‹ ! […] ›Das Reich Gottes ist in euch‹ …« (Nietzsche, Antichrist, II, 1195 und 1191) Siehe Kapitel 9: »Nietzsches Anathema wider das Christentum und sein Hymnus auf Jesus«.
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Franz Rosenzweig – Neues, existentielles Denken
Vor diesem Hintergrund ist Ehrenbergs christlich-philosophische Antwort an Rosenzweig, die zugleich eine an Nietzsche darstellt, zu verstehen: Jesus als Christus ist nicht Gott, er ist ein Jude, der das jüdische Liebesgebot radikal verwirklicht hat und daher keineswegs – wie Nietzsche meint – sein Leben selbst zu Gott erhöht, sondern in der bewussten Erfüllung des Liebesgebots den Weg zu Gott weist und geht. Diesem Jesus als Christus könnten – so meint Hans Ehrenberg – Juden wie Christen folgen. »Nicht also im Sinne des Glaubens, sondern im Sinne der Liebe heißt es, daß niemand zum Vater komme denn durch den Sohn. Die Christenheit ist wahrhaft Erbin des Judentums, der Same der Offenbarung geht in Christus zum Baume der Erlösung auf. […] Darum müssen wir sein Kreuz auf uns nehmen und gelangen ohne dieses nicht zum Vater. […] Zwei Jahrtausende war das Kreuz das Siegel des Glaubens, von nun an wird es das Szepter der Liebe sein!« (Ehrenberg, Heimkehr: 38 f.) »Ohne Christus blieben Wort und Liebe bei Gott«. (Ehrenberg, Heimkehr: 36 f.) Was Ehrenberg hier anspricht, ist ein Ketzerchristentum, das zwar in einzelnen Gestalten und protestantischen Bewegungen immer wieder zum Vorschein gekommen ist, das aber in bewusster Praxis erst erstritten werden muss. Hans Ehrenberg hat die Vision eines solchen beim jüdischen Jesus als Christus ansetzenden Ketzerchristentums nicht nur entworfen, sondern hat auch versucht, seine spätere Praxis als Pastor einer Arbeitergemeinde im Ruhrgebiet und als Mitglied der Bekennenden Kirche bis in die Nazi-Zeit hinein daran auszurichten. 1939 konnte er gerade noch rechtzeitig nach England emigrieren. Bereits 1947 kehrte er nach Deutschland und in die Kirchenarbeit zurück, aber die protestantische Kirche hat ihn und seine Schriften bis heute nicht als den herausragenden evangelischen Denker für die gegenwärtige Zeit entdeckt und gewürdigt.
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14. Franz Fischer – Die Affinität von Wirklichkeit und Sinn sowie die Gottesfrage 1
Hinter dem Problem der Affinität von Wirklichkeit und Sinn verbirgt sich die grundlegendste aller Fragen, die die Philosophie seit jeher umgetrieben hat. Schon im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung fragt Heraklit nach dem Bezug zwischen Kosmos und Logos und Parmenides betont, dass Denken und Sein nur auseinander und aufeinander bezogen begreifbar sind. Platon diskutiert die hier aufgebrochene Fragestellung im Sophistes als Gigantomachie der Seinsanbeter und der Ideenfreunde und Aristoteles thematisiert die Problematik in seiner Metaphysik am Begriff des to ti en einai, dem Wesen, das da anwesend und doch nicht aussagbar ist. Und so zieht sich die Frage nach der Affinität von Denken und Sein, Sinn und Existenz, Bewusstsein und Gegebenheit, Vernunft und Wirklichkeit und ihre unterschiedlichen Beantwortungsversuche durch die ganze abendländische Philosophiegeschichte und doch ist sie bis heute das Geheimnisvollste und Strittigste geblieben, was die großen Denker zu immer differenzierteren Letztbegründungen herausfordert. Durch Kants transzendentale Wende in der Philosophie und die daran anschließenden Systematisierungen von Fichte, Schelling und Hegel wird die Affinitätsproblematik auf eine neue Reflexionsebene gehoben, denn nach der Affinität von Denken und Sein kann selbst nur innerhalb des sich selbst reflexiv klärenden Geistes gefragt werden, in dem sie aufbricht und nach Klärung verlangt. Wir können uns dieser Frage nicht entziehen, tragen wir sie doch in uns selbst: Wir selbst sind – wie der 22jährige Schelling sagt – das »sichtbare, herumMit Anlehnungen an meine Abhandlungen: »Sinnreflexion – Gewissen – Bildungssinn – Gegenseitigkeit. Zum Denkweg von Franz Fischer«, in: Franz Fischer, Die Erziehung des Gewissens. Schriften und Entwürfe zur Ethik, Pädagogik, Politik und Hermeneutik (1979), 2. Auflage, Norderstedt 1999: 194 ff.; sowie Ders. »Die Affinität von Wirklichkeit und Sinn«, in: Bildung und Menschlichkeit II. Die Bildung von Gewissen und Verantwortung. Zur Philosophie und Pädagogik Franz Fischers, hg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Detlef Zöllner, Norderstedt/Leipzig (Franz Fischer Jahrbuch für Philosophie und Pädagogik 15), Norderstedt/Leipzig 2010: 1 ff.
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Franz Fischer – Die Affinität von Wirklichkeit und Sinn sowie die Gottesfrage
wandernde Problem aller Philosophie« (Schelling, Idee, II: 54), insofern in uns Selbstgewissheit und Existenzgewissheit untrennbar zusammenfallen und doch zugleich auch als Denken und Sein auseinandertreten. Den radikalsten Versuch einer dialektischen Selbstaufklärung dieses Problems hat wohl Hegel in der Wissenschaft der Logik herausgearbeitet, allerdings hat er dabei die Bewegung der Selbstaufklärung zur Selbstschöpfung des Geistes hypostasiert und kommt dadurch zu dem hybriden Ergebnis eines absoluten Idealismus, in dem der Gedankenweg der Philosophie mit dem Sich-selbst-Bewusstwerden Gottes zusammenfällt. Aus der transzendental-idealistischen Schulrichtung an der Wiener Universität kommend (Robert Reininger, Erich Heintel) 2 legt der noch 24jährige Franz Fischer Anfang 1954 in einer Seminararbeit mit dem Titel »Sinn und Wirklichkeit« das Konzept eines aufregenden philosophischen Neudurchdenkens dieses Problems vor, das er ein Jahr später als Philosophie des Sinnes von Sinn (1955) systematisch ausführt. 3 Rund zehn Jahre später unternimmt Jacques Derrida, aus der Schulrichtung der Phänomenologie kommend (Edmund Husserl, Martin Heidegger) 4, ebenfalls einen Neuansatz dieses Problems, der sich an den Titeln »La différance« und »Ousia et gramme« (1968) festmachen lässt. 5 Beide gehen völlig unabhängig voneinander doch ähnliche Wege. Während aber inzwischen die Bücher von Jacques Derrida – in alle wichtigen Weltsprachen übersetzt – eifrig studiert und diskutiert werden 6, ist der Ansatz von Franz Fischer noch nicht über einen kleinen Rezeptionskreis hinaus bekannt geworden. 2 Robert Reininger, Metaphysik der Wirklichkeit (1931), 1970; Erich Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie (1968). 3 Franz Fischer, Philosophie des Sinnes von Sinn (1980). Siehe zu den lebensgeschichtlichen Stationen im Schaffen von Fischer: Anne Fischer-Buck, Franz Fischer 1929–1970. Ein Leben für die Philosophie (1987). 4 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913); Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1927), GA 24. 5 Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie (1968). Vgl. Anton Fischer, »Von der Einseitigkeit zur Wechselseitigkeit – Franz Fischers Beziehung zu Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida und das Verhältnis von Philosophie und Dichtung«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Detlef Zöllner (Hg.), Bildung und Menschlichkeit II. Die Bildung von Gewissen und Verantwortung. Zur Philosophie und Pädagogik Franz Fischers (2010): 202 ff. 6 Peter Engelmann, Dekonstruktion. Jacques Derridas semiotische Wende der Philosophie (2013).
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Die Grundproblematik der Philosophie des Sinnes von Sinn
14.1 Die Grundproblematik der Philosophie des Sinnes von Sinn In seiner Anfang 1956 in Wien vorgelegten Dissertation Systematische Untersuchungen zum Affinitätsproblem 7 weist Fischer Hegels absoluten Idealismus entschieden zurück, indem er in einer immanenten Kritik die unausgesprochenen Voraussetzungen Hegels aufdeckt. Fischer greift dabei auf Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) zurück, in der Hegel eine systematische Bildungsgeschichte des menschlichen Bewusstseins darlegt, die schrittweise in immer differenziertere geistige Erkenntnishorizonte aufsteigt. Worunter zwar durchaus sowohl individuelle als auch menschheitliche Stufen von Bewusstseinshorizonten zu verstehen sind, jedoch nicht als Nachzeichnung realer biographischer oder menschheitsgeschichtlicher Entwicklungsprozesse, sondern als transzendental-dialektische Stufen prinzipieller Begreifenshorizonte des Geistes. Hegel entfaltet hier eine Dialektik des Meinens und Sagens, die beginnend bei der unmittelbarsten sinnlichen Gewissheit über die Stufen und deren Untergliederung des Bewusstseins (sinnliche Gewissheit – Wahrnehmung – Verstand), des Selbstbewusstseins (Selbsterleben – Kampf um Anerkennung – Freiheit des Selbstbewusstseins), der Vernunft (beobachtende – verwirklichende – gesetzgebende Vernunft), dem Geist (Sittlichkeit – Bildung – Moralität) und der Religion (natürliche Rel. – Kunstreligion – offenbare Religion) bis hin zum absoluten Wissen als der höchsten philosophischen Erkenntnis des Geistes an und für sich selbst voranschreitet. Hegel fasst dabei die Dialektik des Meinens und Sagens als ein Aufheben des jeweils auf einer Stufe unmittelbar Gemeinten in das Allgemeine des Sagens der nächsten Stufe. So wird die sinnliche Gewissheit, welche das Bewusstsein zunächst für die unmittelbarste Gewissheit hält, aufgrund ihrer Bestimmungslosigkeit aufgehoben – in dreifachem Sinne: höhergehoben, überwunden und aufbewahrt – durch die differenziertere Wahrnehmung und diese wird wiederum aufgehoben durch die Bestimmungsbezüge des Verstandes. Ähnlich wird das unmittelbare Selbererleben aufgehoben durch die Anerkennung seines Selbst durch ein anderes Selbst und dieses wiederum durch die Freiheit des Selbstbewusstseins gegen alle äußeren Zwänge. Die Stufen des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins werden wie7
Franz Fischer, Systematische Untersuchungen zum Affinitätsproblem (1956/2009).
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derum aufgehoben in die Allgemeinheit der Vernunft und diese in die konkrete Einheit des Geistes gemeinsamer Sitte, Bildung und Moralität. Diese wird weiterhin aufgehoben in den noch umfassenderen Horizont der Religion, in dem alles, auch die ganze Bewusstseinsgeschichte als vom Geist Gottes her umfasst erscheint. Doch den letzten Abschluss findet die gesamte Bildungsgeschichte erst im absoluten Sich-Wissen des Geistes, in dem sich das menschliche Bewusstsein und all seine Gegenstandsbestimmungen aufgehoben wissen in das absolute Wissen des Geistes an und für sich selbst. So erweist sich die ganze Bildungsgeschichte als ein Prozess des Aufhebens, oder wie Hegel auch sagt: als ein Sich-Aufopfern des Bewusstseins in das Wissen des absoluten Geistes. (Hegel, Phänomenologie, 3: 590) Im absoluten Wissen stehen sich Bewusstsein und Gegenstand nicht mehr für sich getrennt gegenüber, sondern in ihm fallen Begreifen und Begriffenes in Eins zusammen. Hier treten auch menschlicher und göttlicher Geist nicht mehr gegeneinander auf, sondern begreifen sich aus der Selbigkeit des Geistes. Denn der absolute Geist ist die sich und sein Anderes umgreifende Einheit und ist darin Erkenntnis Gottes als Selbsterkenntnis Gottes: »Gott ist also hier offenbar, wie er ist; er ist so da, wie er an sich ist; er ist da, als Geist. Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar, und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist; und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion.« (Hegel, Phänomenologie, 3: 354) Bereits Hegels Jugendfreund Schelling, von dem sich Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes (1807) erstmals öffentlich abgrenzt, hat in seiner späteren Hegel-Kritik seit den Erlanger Vorlesungen von 1821 (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 209 ff.) darauf aufmerksam gemacht, dass Hegels Aufhebungsdialektik nicht die gemeinte Wirklichkeit, sondern nur die jeweils begriffene Wirklichkeit ins Sagen der nächsten Stufe aufzuheben vermag, so dass die ganze Bewegung zwar vorgibt, das Andere des Seins in den Geist aufgehoben zu haben, aber gerade dadurch die Eigenständigkeit der Wirklichkeit vom ersten Schritt an bis zum absoluten Wissen gar nicht erst anerkennt. Nach Schelling sind in ähnlicher Weise auch Sören Kierkegaard und Karl Marx – wenn auch von unterschiedlichen Seiten her – Hegel entgegengetreten. 8 Die Vernunftphilosophie, die Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016), darin: »Schelling – Kierkegaard –
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die Wirklichkeit in den Begriff aufzuheben versucht, bleibt insofern immer nur »negative Philosophie« (Schelling), da sie die Wirklichkeit zwar im erkennenden Begreifen erfasst, jedoch die gemeinte Wirklichkeit, zu der wir ja selber mitzugehören, zugleich in ihrem Existieren außer sich hat. Demgegenüber bemüht sich Schelling darüber hinaus um eine der negativen Philosophie zur Seite zu stellende »positive Philosophie«, die der Eigenständigkeit der Wirklichkeit als Wirklichkeit dadurch gerecht zu werden versucht, dass sich in ihr das Denken als bloß Wissen-Wollendes zurücknimmt und sich aus der ihr unvordenklich vorausseienden Wirklichkeit zu verstehen beginnt. »Aber [die positive] Philosophie ist nicht demonstrative Wissenschaft, Philosophie ist, um es mit Einem Wort auszusprechen, freie Geistesthat; ihr erster Schritt ist nicht ein Wissen, sondern vielmehr ausdrücklich ein Nichtwissen, ein Aufgeben alles Wissens für den Menschen. So lang Er noch wissen will, wird ihm jenes absolute Subjekt [der Wirklichkeit] zum Objekt werden, und er wird es eben darum nicht an sich erkennen. […] In diesem Akt, da er sich selbst bescheidet, nicht zu wissen, setzt er eben das absolute Subjekt als das Wissen ein.« (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 228 f.) Doch in dieser Gegenüberstellung geht wiederum etwas von der von Hegel erarbeiteten Dialektik verloren. Hier nun setzt Franz Fischer mit seiner Dialektik der Vermittlungsstufen des Sinnes von Sinn an. Im Gegensatz zur Hegelschen Dialektik in der Phänomenologie zeigt Fischer auf, dass all unser »Fragen« sich auf eine »gemeinte« Wirklichkeit bezieht, die uns als »unmittelbarer Sinn vorgegeben« ist. (Fischer, Sinnes von Sinn: 94) 9 In seiner philosophischen Reflexion wendet sich das Bewusstsein transzendental-dialektisch auf die Sinnhorizonte seiner Wirklichkeitserschließung zurück und versucht dadurch, den Anspruch der Wirklichkeit immer differenzierter zu erschließen. Doch jede weitere Frage fragt erneut nach dem Sinn der Wirklichkeit, den sie zu begreifen versucht und den sie doch in ihrem Fragen als gemeinte Wirklichkeit immer schon vorausgesetzt weiß. »Dabei wird der unmittelbare Sinn von Stufe zu Stufe konkreter in seiner Unmittelbarkeit erkannt und zugleich die relative Allgemeinheit – fortschreitend von der reinen Allgemeinheit des Zeichens bis Marx« (1965): 175 ff. sowie Ders., Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014). 9 Siehe Reinhard Aulke, Sinn, Bildung und Gewissen. Franz Fischers Philosophie und Pädagogik der kategorialen Bildung (2009).
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zur konkreten Allgemeinheit der Kommunikation des Bildes – zum vorgegebenen Sinn begrenzt. Der ›Fortschritt‹ ist dabei als jeder neue Vermittlungsschritt zu verstehen, mit dem die Grundlagenreflexion sich in ihrem jeweiligen Resultat zur Voraussetzung dieses Resultates selber begrenzt und dadurch eine neue Struktur des Sinnes von Sinn erhellt.« (Fischer, Bildungskategorien: 37) Es gilt also, zu zeigen, wie in ein und derselben dialektischen Bewegung das Meinen der Wirklichkeit in immer vermittelteren Weisen des begreifenden Sagens gehoben wird, wobei aber gleichzeitig das Gemeinte der Wirklichkeit nicht im Gesagten des Begriffs verschwindet, denn jedes neue und erweiterte begriffliche Sagen bezieht sich selbst wiederum meinend auf die Wirklichkeit, so dass die Dialektik von Meinen und Sagen unaufgebbar in dieser doppelten Blickwendung verbleibt. In dieser dialektischen Selbstaufklärung erfüllt die Philosophie ihre Aufgabe der Explikation des Sinnes von Sinn, dem sie selber verpflichtet ist. (Fischer, Sinnes von Sinn: 46 ff.) Mit anderen Worten, die Dialektik der Sinnstufen erschließt uns die Wirklichkeit in immer differenzierteren Sinnexplikationen – dies ist gleichsam der Aspekt, den Hegel als alleinigen verabsolutiert –, zugleich aber, wenn auch in anderer Blickrichtung, erschließt sich uns dadurch die Wirklichkeit immer grundlegender in ihrem Sinnanspruch als Wirklichkeit – gemäß dem Anliegen der positiven Philosophie Schellings und der Metalogik im Sinne von Hans Ehrenberg. Fragen wir schließlich – so Fischer – nach dem Sinn dieser ganzen Vermittlungsbewegung des »Sinnes von Sinn«, so stoßen wir auf eine »absolute Grenze« theoretischer Vermittlung und erfahren uns praktisch aus dem »Sinn aus sich selber« bestimmt, freilich gerade »nicht in der [Hegelschen] ›dialektischen‹ Bedeutung, daß wir seinen Inhalt ›aus sich selbst‹ zu entwickeln vermöchten. Indem die Vermittlung ihre eigene Grenze und damit auch die relative Allgemeinheit der durch sie abgeleiteten Sinnverhalte durchschaut, wird ihr zugleich der Sinn des unmittelbaren Sinnes offenbar, sie vermittelt sich m. a. W. mit der Unmittelbarkeit ihrer selbst. […] Insofern ist also der konkrete Bezug und die Vermittlung der Unmittelbarkeit selbst nicht wiederum ein Thema weiterer theoretischer Auslegungen, sondern ihre theoretische Bestimmung gewinnt als Selbsterkenntnis der Möglichkeit und der Grenze theoretischen Verhaltens überhaupt einen praktischen Sinn.« (Fischer, Bildungskategorien: 26) Die unmittelbar vorausgesetzte Wirklichkeit wird zum Anspruch der Wirklichkeit, der an unser »Gewissen« ergeht, uns prak426 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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tisch aus ihm zu bestimmen. Im Ergebnis führt diese Philosophie des Sinnes von Sinn nicht wie bei Hegel zu einem absoluten Wissen, das zugleich Selbsterkenntnis Gottes ist, sondern – eher Schelling vergleichbar – zu einer Erschließung von Sinnhorizonten, in deren Anspruch wir als Fragende und Begreifende gestellt sind. (Fischer, Sinnes von Sinn: 198 ff.) Dabei geht es nicht etwa um die Auslegung eines ontologisch vorausliegenden Seins, sondern um die Erschließung eines unserem existentiell-praktischen Menschseins aufgegebenen Sinnes, getragen im letzten vom absoluten Sinn des sich aus sich selbst offenbarenden Logos. »Solche Sinngebungen wird in den Aussagen der Theologie mittelbar, welche die Gegebenheiten von Sinn und damit die Positivität des Wortes zum Inhalt ihrer Sätze haben. Diese sind nun ihrerseits zu dem in ihnen Gemeinten begrenzt, das in ihnen als der Sich-gebende-Sinn, also als der sich aus sich selber vermittelnde Sinn, vorausgesetzt ist. In diesem sich-aus-sich-selber vermittelnden Sinn findet die Bewegung des Sinnes von Sinn die Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit und damit ein Sich-Schließen zur Offenheit ihres eigenen Beginnens.« (Fischer, Bildungskategorien: 88) 10
14.2 Die Bildungskategorien im System der Wissenschaften Gleich nach dem Wechsel von der Universität Wien zur Bildungsphilosophie an der Universität Bonn greift Franz Fischer von seiner Philosophie des Sinnes von Sinn her mit zwei grundlegenden Arbeiten in die Bildungsdiskussion der damaligen Zeit ein: Die Erziehung des Gewissens (1955) und Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften (1956–59). Auf beide Problemstellungen soll im Folgenden in umgekehrter Reihenfolge eingegangen werden, da sie uns von zwei Seiten her Fischers Dialektik des Sinnes von Sinn explizieren und durch eine Reihe von konkreten Vermittlungsschritten hindurch zur Gottesproblematik führen. Die Frage nach der Bildung der heranwachsenden Menschen hat immer die verantwortliche Bewältigung ihrer Lebenspraxis zum Ziel, dies aber kann nur erreicht werden, wenn ihnen die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen und Ansprüchen zur rechten Zeit ihrer EntVgl. Erich Heintel, »Einleitung«, in: Fischer, Philosophie des Sinnes von Sinn: VII ff.
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wicklung und in der rechten Weise ihres Verstehenshorizonts eröffnet werden. Insofern geht es bei der Bildung einerseits immer um die die Wirklichkeit erschließenden Bildungsinhalte und andererseits um die Stimulierung der Verantwortungshorizonte der Heranwachsenden durch die Erzieher bzw. Lehrer. Eines der grundlegendsten Bildungsprobleme in unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter ist die Frage nach dem Zweck und der Weise der Wissenschaftsvermittlung, denn immer drastischer erfahren wir, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt nicht nur das Leben der Menschen bereichert, sondern es in seiner wertökonomischen Expansion auch die Lebensgrundlagen des Menschseins zu bedrohen beginnt. Daraus folgt keine Wissenschaftsstürmerei, sondern diese Einsicht verlangt von uns Menschen, dass wir lernen, uns nicht der wissenschaftlich-technischen Entwicklung einzufügen, sondern umgekehrt, diese den Aufgegebenheiten unseres Menschseins unterzuordnen. Die Frage nach dem Bildungssinn und damit nach den Vermittlungszielen der Wissenschaften war bereits ein Hauptanliegen der von Theodor Litt begründeten und von Josef Derbolav fortgeführten Bildungsphilosophie an der Bonner Universität. Dabei orientieren sie sich – von Akzentverschiebungen abgesehen – an Hegels Phänomenologie des Geistes, indem sie den darin entfalteten Bildungsprozess des Bewusstseins ins Pädagogische übersetzen, dabei jedoch aus philosophisch gut argumentierten Gründen das Hegelsche Endziel des absoluten Wissens aufgeben. 11 Denn im pädagogisch verstandenen Bildungsprozess geht es ja – völlig anders als bei Hegel – um die Selbstbewusstwerdung des je konkreten Subjekts des Heranwachsenden und nicht um die Selbstaufopferung des Bewusstseins ins absolute Wissen. So bleiben durch Zusammenfassung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein im Wesentlichen drei Bildungsstufen übrig, die auf den lebensgeschichtlichen Bildungsprozess der Heranwachsenden ausgelegt werden 12: der lebensweltliche Umgang in Natur und Gesellschaft (Bewusstsein/Selbstbewusstsein), die versachlichende wisVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Die dialektische Struktur der Bildung. Überlegungen zu Josef Derbolavs Grundlegung der Pädagogik«, in: Pädagogische Rundschau 26, 3 (1972) sowie »Die dialektische Bildungsphilosophie von Theodor Litt. Eine Erinnerung«, in: Erna Nairz-Wirth (Hg.), Aus der Bildungsgeschichte lernen. Horst Pfeiffle zum 70. Geburtstag (2010). 12 Vgl. Theodor Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes (1948); Josef Derbolav, Systematische Perspektiven der Pädagogik (1971). 11
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senschaftliche Erkenntnis der Welt (allgemeine Vernunfterkenntnis) und die philosophische Selbererkenntnis/das verantwortliche Gewissen (sittlich-sozialverantwortlicher Geist). Das an Hegel orientierte bildungsphilosophische Reflexionsstufenmodell von Litt und Derbolav formt Franz Fischer, als er nach Bonn kommt, gemäß seiner Philosophie des Sinnes von Sinn um und entwickelt von daher sein Projekt der Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften (1956–59). 13 Denn die an Hegel orientierten Reflexionsstufen bleiben trotz aller pädagogischen Umwandlungen noch zu sehr als Aufhebungsstufen des Geistes konzipiert, während Fischer den Bildungssinn der Reflexionsstufen in den Eröffnungen von Anspruchshorizonten der Wirklichkeit erfüllt sieht. Wenn es aber um den Bildungssinn des Unterrichts, die Lehrinhalte und ihre Vermittlung geht, kommt es letztlich nicht darauf an, dass die Heranwachsenden bestimmtes Wissen anhäufen, sondern dass ihnen über bestimmte Einsichten die gemeinte Wirklichkeit und deren Anspruch erschlossen wird. Von den prinzipiellen Erwägungen Fischers her, die eine Umwendung von Intention und Resultat der Phänomenologie des Geistes bedeuten, ergibt sich erstens, dass Bildung nicht – wie bei Litt und Derbolav – gleichgesetzt werden kann mit dem Zu-sich-selber-Kommen des Geistes oder Selbst durch geistige Aneignung des Anderen der Welt, sondern die pädagogische Vermittlungsbewegung intendiert, den Heranwachsenden dahin zu führen, sich praktisch aus dem »Sinn aus sich selber« des ihm vorausgesetzten Anspruchs der Wirklichkeit zu erfahren und zu bestimmen. Zweitens macht er klar, dass es sich bei diesen Reflexionsstufen nicht um eine Abfolge von zeitlich aufeinander folgenden Bildungsschritten handelt, die der Heranwachsende nacheinander zu durchlaufen hat, sondern um Fragehorizonte, denen sich der Pädagoge bezogen auf das Bildungsgeschehen im strukturellen Zusammenspiel einer pädagogischen Situation zu vergegenwärtigen hat. Weiterhin – und dies ist wohl das grundlegende Anliegen von Fischers Bildungskategorien – geht es im Bildungsprozess nicht um die in den Reflexionsstufen genannten Inhaltsdimensionen selbst, Franz Fischer, Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften (1975), siehe darin die beiden Nachworte der Herausgeber Dietrich Benner »Bildungstheorie und Curriculum«: 189 ff. und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik »Fischers Konzeption der Bildungskategorien«: 163 ff.
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sondern um die jeweils über diese dem Heranwachsenden zu vermittelnden Ansprüche der Wirklichkeit. 14 »Die Theorie des Sinnes von Sinn versteht die Vermittlung zwischen dem Erziehungsobjekt [Wirklichkeit] und dem Erziehungssubjekt [Selbst] als eine Vermittlung des in jeder Frage unvermittelten, vorausgesetzten Sinnes, der als Bedingung der Möglichkeit des Sinnvollseins dieser Frage eine Bewegung des Sinnvermittelns der Wirklichkeit in einem System von Stufen hervorruft. Diese schreiten nach dem Prinzip einer Dialektik zwischen einem je Gesagten und je Gemeinten fort.« (Fischer, Darstellung der Bildungskategorien: 80) Daraus ergibt sich ein Reflexionskreis von horizontalen Bildungskategorien, von Fragestellungen, denen sich der Pädagoge prinzipiell zu stellen hat. Diese stellen keine zeitliche Abfolge dar, sondern gehen, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, in jedes pädagogische Geschehen ein. Nur zu ihrer transzendentalen Aufklärung sind sie als ein in sich zurückkehrender Kreis von Reflexionsstufen darstellbar: 1a. Die vorausgesetzte unvermittelte Wirklichkeit Allem Fragen nach dem Sinn der Wirklichkeit ist eben dieser Sinn der Wirklichkeit unvermittelt vorausgesetzt, sonst wäre eine Frage nach dem Sinn dieser Wirklichkeit nicht möglich. »Sie [die Wirklichkeit] ist als solche gemeint aber nicht gesagt und geht als Sinn von Sinn jeder Aussage oder Denkbewegung vorher.« (Fischer, Bildungskategorien: 81) Ganz allgemein gesprochen, können wir sagen: Wir finden uns wirklich in einer Wirklichkeit vor, beides ist uns unvordenklich voraus und untrennbar miteinander verbunden. Bereits der junge Schelling sprach davon: »Alles Denken und Schließen aber setzt bereits eine Wirklichkeit voraus, die wir nicht erdacht noch erschlossen haben. Im Anerkennen dieser Wirklichkeit sind wir uns keiner Freiheit bewußt; wir sind genöthigt sie anzuerkennen, so gewiß, als wir uns selbst anerkennen. Man kann uns diese Wirklichkeit nicht entreißen, ohne uns uns selbst zu entreißen.« (Schelling, Erläuterung des Idealismus, I: 375 f.)
Vgl. Thomas Altfelix, Das Pädagogische Jenseits von Erfahrung und Denken. Ein erkenntnisethischer Begründungsversuch im Sinne Franz Fishers (2009) sowie Detlef Zöllner, Lernen und Leistung. Zur Intentionalitätsstruktur von Schule und Unterricht (2006).
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2a. Das Unmittelbar-Allgemeine Der erste pädagogische Vermittlungsschritt beginnt mit der sprachlichen Erschließung der uns lebensweltlich erscheinenden Welt – Fischer nennt diese erste Sinnerschließung das Unmittelbar-Allgemeine, was ja etwas Widersprüchliches besagt. »Die primären Aussagen der Gewissheit des Gegebenen, die unmittelbar sind in ihrem Gemeinten (der vorausgesetzten Wirklichkeit) aber allgemein sind in ihren Prädikaten, in denen sie dieses Gemeinte aussagen, bilden die Stufe des Unmittelbar-Allgemeinen.« (Fischer, Bildungskategorien: 81) Die Bildungsbewegung beginnt zwar mit dem Unmittelbar-Allgemeinen der sprachlichen Verfügbarkeit der lebensweltlichen Phänomene, aber weder liegt in der unmittelbar-allgemeinen Verknüpfung schon der Sinn der Bildung noch das Ziel der Bildungsbewegung. Grundsätzlich ist es so, dass die sprachliche Verfügbarkeit der Lebenswelt zwar die Wirklichkeit meint, in die wir gestellt sind, aber doch immer nur die phänomenale Welt benennt, wie sie uns erscheint. Wir dürfen die lebensweltliche Erfahrung und den lebensweltlichen Umgang nicht mit der gemeinten Wirklichkeit selbst verwechseln, sondern ihre sprachliche Benennbarkeit stellt ein erstes unmittelbar-allgemeines Sagen der gemeinten Wirklichkeit dar. Niemals können die lebensweltlichen Erfahrungen und der lebensweltliche Umgang die Wirklichkeit, die sie meinen, gänzlich in ihrem Sagen aufheben, sondern diese Wirklichkeit bleibt ihr als das je Gemeinte unvermittelbar vorausgesetzt. Was also der Pädagoge auf der ersten Stufe des Unmittelbar-Allgemeinen dem Kinde über die lebensweltlichen Erfahrungen und Verhaltensweisen als Bildungssinn zu erschließen hat, kann nur ein erstes Benennen des unmittelbar-allgemeinen Anspruchs der Wirklichkeit sein. In der Miterfahrung dieser Grenze zur vorausgesetzten unvermittelten Wirklichkeit liegt der eigentliche Sinn des ersten Bildungshorizontes. 3a. Das Prädikativ-Allgemeine Damit kommen wir zur dritten Kategorie, dem Prädikativ-Allgemeinen, der systematischen Thematisierung der Wirklichkeit durch die Wissenschaften. »Die Auslegung der unmittelbar-allgemeinen Aussagen des Gemeinten geschieht in einer dritten Stufe, die das Wissen konstituiert. Sie stellt die Beziehungen unter den Gegebenheiten 431 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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nach dem jeweiligen Modus ihrer unmittelbaren Allgemeinheit, wie er jede Wissenschaft erst zu eben der bestimmten Wissenschaft macht, dar.« (Fischer, Bildungskategorien: 81) Hier gilt es zunächst, zu unterstreichen, dass auch die zweite Stufe des wissenschaftlichen Sagens keineswegs das lebensweltliche Meinen in sich aufhebt. Dies schon deshalb nicht, da die verschiedenen Wissenschaften mit ihrer methodologischen Gegenstandskonstitution immer nur bestimmte Aspekte der lebensweltlichen Erfahrung und des lebensweltlichen Umgangs aufgreifen – die Wissenschaft der Biologie hebt den Umgang mit der lebendigen Natur keineswegs auf, sondern bietet nur für Teilaspekte Erklärungszusammenhänge. Doch der von Franz Fischer herausgestellte entscheidende Punkt ist noch ein anderer: Die Wissenschaften selbst sind keineswegs nur reine prädikativ-allgemeine Aussagesysteme, in denen die erkannte Wirklichkeit selbst aufgehoben ist. Wer sie als solche in den Unterricht einführt, trägt selbst schon zu deren Entfremdung im Bildungsprozess bei und kann diese nachträglich nicht mehr überwinden. Vielmehr kommt es darauf an, zu zeigen, dass das wissenschaftliche Sagen selbst wiederum Wirklichkeit meint, jedoch diese von ihr gemeinte Wirklichkeit grundsätzlich niemals in ihr Aussagesystem aufzulösen vermag. »Das Prädikativ-Allgemeine […] setzt ebenso wie die primären Aussagen die Wirklichkeit voraus, versucht aber, das Unmittelbar-Gemeinte der primären Aussagen zu verstehen oder zu erklären. Das geschieht nicht dadurch, daß es etwa die Wirklichkeit als solche wiedergeben könnte, sondern dadurch, daß es nun diese Gegebenheiten nach dem in ihren unmittelbar-allgemeinen Prädikaten unvermittelt gebliebenen Gemeinten befragt und in ihrem Beziehungszusammenhang zu ihm bestimmt.« (Fischer, Bildungskategorien: 81 f.) Diese Grenze – zwischen der von ihr gemeinten Wirklichkeit und dem systematischen Wissen von ihr – wird uns dort offenbar, wo wir einzusehen beginnen, dass jede Wissenschaft die Grundbegriffe, von denen sie ausgehend einen Wirklichkeitsausschnitt meint, selbst nicht in ihrer Methodologie prädikativ-allgemein zu bestimmen vermag. »Innerhalb jeder Wissenschaft lassen sich daher Begriffe nachweisen, welche diese Wissenschaft auf die in ihnen gemeinte Wirklichkeit beziehen, ohne sie als solche auszusagen. Es sind all jene Begriffe in einem Satzsystem, von denen sich der Gegenstand des jeweiligen Theorems qualitativ definiert. […] Sie kommen als undefinierte Begriffe in den Theorien jeder Wissenschaft vor und 432 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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sind ebenso differenziert und vielgestaltig wie diese.« (Fischer, Bildungskategorien: 82) Die Biologie setzt beispielsweise das Leben als Grundbegriff voraus, mit dem sie die Wirklichkeit des Lebendigen meint, aber sie wird Leben niemals prädikativ-allgemein erklären können. Gleiches gilt für den Grundbegriff der Psyche im Hinblick auf die Psychologie oder für die Grundbegriffe der Gesellschaft oder der Geschichte im Hinblick auf die Soziologie oder Geschichtswissenschaft. 4a. Das Positiv-Allgemeine als Grenzerkenntnis An dieser Grenze des prädikativ-allgemeinen Sagens zur gemeinten Wirklichkeit tut sich ein neuer Bildungshorizont auf, den Fischer das Positiv-Allgemeine nennt und der die Einsicht unserer eigenen Einbezogenheit in die Wirklichkeit betrifft. Alle Wissenschaften müssen, um zu objektiv-allgemeingültigen Aussagen kommen zu können, von allem Subjektiven im Bereich ihrer Aussagen abstrahieren. Nur das allgemeine Erkenntnissubjekt der Wissenschaften selbst bleibt ihnen transzendental, jedoch unbedacht zurück. Nun aber an der Grenze des wissenschaftlichen Sagens gegenüber der gemeinten Wirklichkeit kommt uns zu Bewusstsein, dass wir selbst der Wirklichkeit mitangehören, die wir zu erforschen versuchen. Wir selbst in unserer ganz persönlichen Subjektivität sind nicht nur Teil dieser uns mitumfassenden Wirklichkeit, sondern wir sind durch sie gefordert, sie nimmt uns in Anspruch, und zwar nicht allein in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht auf unsere Bewährung in der Wirklichkeit hin. In der Bildungskategorie des Positiv-Allgemeinen dreht sich – in Analogie zu Kant gesprochen – die ›theoretische Bildung‹ zur ›praktischen Bildung‹ um. An der Grenze aller prädikativ-allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis zur von ihr gemeinten, aber nicht aussagbaren Wirklichkeit, wird uns die Wirklichkeit als Anspruch an uns offenbar, und diese Einsicht in den Anspruchscharakter von Wirklichkeit für uns können wir positiv-allgemein aussprechen. Die Wirklichkeit, in die wir uns existentiell-praktisch gestellt erfahren, wird uns jetzt zu einem Anspruch, dem gegenüber wir uns zu bewähren haben.
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5a. Das Unmittelbar-Konkrete Doch bleibt Fischer bei dieser höchsten Stufe positiv-allgemeiner Einsicht in den Bildungssinn nicht stehen, denn es reicht nicht aus, dass der Heranwachsende den an ihn ergehenden Anspruch der Wirklichkeit nur einsieht, sondern er muss ihn auch in Lebenssituationen hinein bewähren können, und dazu muss ihm der positiv-allgemeine Anspruch, den er als Beweggrund für sein Handeln anerkennt, zu konkreten Motiven erhoben werden, die er auch zu vollbringen vermag. Der positiv-allgemeine Sinn der Wirklichkeit ist selbst wiederum nur ein Sagen, das sich auf ein Gemeintes bezieht. Dies ist die weitere Stufe des »Unmittelbar-Konkreten« des Vollbringens dieses Sinns im Handeln des Heranwachsenden. Hierauf gründet als ein weiterer Schwerpunkt der Darstellung der Bildungskategorien das didaktisch-methodische Problem, wobei Fischer unter Methode den pädagogischen Weg, den Bildungsgang des Kindes zum Erwachsenen versteht, den er auch als »Monadologie« im Sinne einer stufenweisen Selbstwerdung darlegt. »Der positiv-allgemeine Anspruch der Wirklichkeit, der in der konkreten Situation aufgegeben ist, […] kann nur dadurch, daß er selber mittelbar wird, […] dem Sollen sein ihm affines Können eröffnen. Die Darstellung dieser Affinität bestimmt das Anliegen der Methodik.« (Fischer, Bildungskategorien: 83) 6a. Das Positiv-Konkrete Der Kreis des philosophisch-pädagogischen Bedenkens des Bildungssinns schließt sich nach Fischer jedoch erst dort in den Ausgangspunkt zurück, wo der Pädagoge im Versuch, den Heranwachsenden zu seinem unmittelbar-konkreten Vollbringen zu führen, das »Positiv-Konkrete« seines eigenen pädagogischen Auftrags erfährt, auf den hin er die Bildungskategorien als Vermittlungsbedingungen zu begreifen vermag. »Kann der Lehrer auch nicht das UnmittelbarKonkrete als solches vermitteln, er müßte denn dressieren, so kann er über die Eröffnung des Könnens hinaus zum Vollbringen des Anspruchs der Wirklichkeit insofern helfen, als er das Positiv-Allgemeine in konkreten Situationen – also positiv-konkret – bezeugt und zugleich dem Schüler den Glauben zuwendet, daß er auch in die Bewährung des Anspruches berufen sei. Hierin vollendet sich die Affinität der Bewegung der Bildungskategorien.« (Fischer, Bildungskategorien: 84) 434 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Gerade weil es sich bei der praktischen Aufgabe der Bildung der Heranwachsenden um keine bloße Wissensvermittlung oder Einübung technischer Fertigkeiten handelt, sondern um eine Erschließung von Einsichten und Ansprüchen des Selbstseins der Heranwachsenden, kann jegliche Bildung nur dort vom Pädagogen glaubhaft geleistet werden, wo er sich selber diesen Einsichten und Ansprüchen verpflichtet zeigt, die er dem Heranwachsenden zu vermitteln versucht. Auf den gesamten Reflexionsgang der Bildungskategorien bezogen, erschließt sich hier dem Pädagogen die sittlichpraktische Bedeutung seiner Praxis: Das, was das Menschliche der Menschheit ausmacht, kann nicht anders bewahrt und gestärkt werden als durch eine bekennende Weitergabe von Generation zu Generation – davon hatte bereits Platon im Symposion als der höchsten und schönsten Aufgabe gesprochen, die dem pädagogischen Eros zukommt. 0a. Der Sinn der Vermittlung des absoluten Sinns der Wirklichkeit Die Reflexionsbewegung der horizontalen Bildungskategorien erschließt dem Pädagogen die Horizonte seiner Praxis. Sie beginnt – wenn auch anfangs noch unerkannt – mit der vorausgesetzten unvermittelten Wirklichkeit und gipfelt in dem »vertrauenden Glauben«, dass die Erfüllung des Anspruchs der Wirklichkeit in der sittlichen Bewährung der eigenen pädagogischen Praxis liegt. Hier eröffnet sich – wie Fischer zeigt – die Dimension des Glaubens. Es ist dies der Glaube im philosophischen Sinne, dass sich uns der Anspruch der Wirklichkeit als »Sinn aus sich selber« offenbar werde, den wir zwar nicht sagend zu erfassen, wohl aber existentiell zu erfahren vermögen. Weiter als zu dieser grundsätzlichen Öffnung kann die philosophisch-pädagogische Reflexion nicht vordringen. Es ist ihr nicht möglich und erlaubt, einen bestimmten religiösen Glauben als das wahre Sprechen des »Sinns aus sich selbst« auszuzeichnen, denn sie würde sich sonst anmaßen, im Sinne Gottes selber sprechen zu können. »Der Sinn der Vermittlung absoluten Sinnes ist nicht die (positive) Vermittlung des absoluten Sinnes, die je konkret wirklich ist, selbst […]. Sie kann diese [absolute Grenze] nicht als die absolute Vermittlung (positiver Glaube) selbst darstellen, sondern nur als die notwendige Voraussetzung für die konkrete Freiheit, die sie selbst nicht vermitteln, nicht ›verschaffen‹ kann.« (Fischer, Sinnes von 435 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Sinn: 193) »Indem sich diese Unmittelbarkeit aber als »aus sich selbst vermittelter Sinn« bestimmt, erscheint sie als Anspruch an das Selbst durch die Voraussetzung seiner selbst in »seinem Anderen« und begreift sich als seine Verantwortung gegenüber Gott und den Mitmenschen. Der Begriff der Verantwortung beschließt die Gedankenbewegung der Bildungsreflexion.« (Fischer, Bildungskategorien: 75)
14.3 Das Gewissen Seit der Neuzeit befindet sich die praktische Philosophie in einem Dilemma, das sie immer weiter in die Bedeutungslosigkeit abdrängt. Zum einem hat Kant im kategorischen Imperativ die Bedingung der Möglichkeit freien sittlichen Handelns aufgewiesen, aber seine formale Fassung hatte bisher seine Konkretisierung in die gesellschaftliche Praxis hinein verhindert. Zum anderen werden immer wieder neue materiale Wertlehren bemüht, deren gesellschaftliche Normsetzungen jedoch einer kategorischen Fundierung nicht zu genügen vermögen. Die Getriebigkeit bei gleichzeitiger Hilflosigkeit der heutigen Ethik-Diskussion ist Ausdruck dieses Dilemmas. Die erste Arbeit, mit der der 1955 eben nach Bonn gekommene Franz Fischer hervortrat, war sein Beitrag zur Litt-Festschrift mit dem Titel Die Erziehung des Gewissens – die Skizze einer um den Gewissensbegriff zentrierten Grundlegung von Ethik, Pädagogik und Politik, die mit zu dem Bedeutendsten gehört, was zum Begriff des Gewissens im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. 15 Franz Fischer konkretisiert darin nicht nur den von Kant angesprochenen Gedanken des kategorischen Imperativs in seiner grundsätzlich mitmenschlichen Dimensioniertheit, sondern diskutiert auch die Konturen seiner pädagogischen und politischen Konsequenzen. Doch ist hier die Vermittlungsbewegung gegenüber der Erkenntnisvermittlung eine gänzlich andere, denn da aller Anspruch sittlichen Menschseins einerseits im Gewissen eines jeden selbst verankert ist, sich aber andererseits nur im kommunikativen Handeln
15 Vgl. Josef Derbolav, »Nachwort des Herausgebers« zu: Franz Fischer, Die Erziehung des Gewissens. Schriften und Entwürfe zur Ethik, Pädagogik, Politik und Hermeneutik (1979): 137 ff. Vgl. auch Karl Garnitschnig, »Die Bildung von Gewissen und Verantwortung«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Detlef Zöllner, Bildung und Menschlichkeit II (2010): 123 ff.
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mit anderen Menschen zu konkretisieren vermag, können sittliche Forderungen niemals über Erkenntnisse der Wirklichkeit vermittelt, sondern immer nur als praktische Einsichten im Gewissen selbst erweckt werden. Dies kann aber nur im sittlich-praktischen Dialog von Selbst und Anderem gelingen. Sinnkonkretion und Sinnauslegung der Anspruchshorizonte der Sittlichkeit erwachsen aus dem kommunikativen Handeln selbst, und daher kann auch die Bildung des Gewissens sich nur in einem sittlich-praktischen Dialog vollziehen, der sich selbst sittlichen Gewissensansprüchen unterstellt weiß. Anders als die empirische Gewissheit, die sich auf das uns je unmittelbar in der Erfahrung Gegebene bezieht, beurteilt das Gewissen – so führt Fischer aus – die konkreten Motive unseres Handelns an dem uns unmittelbar sittlich Aufgegebenen, auch dieses ist ein unvermittelt Vorausgesetztes, das niemals ins Allgemeine einer Aussage aufhebbar ist. »Das Gewissen hat die Struktur einer unmittelbaren Gewißheit. Das heißt also, es wird dem einzelnen unmittelbar evident, ob er ein bestimmtes Motiv verwirklichen soll oder nicht.« (Fischer, Gewissen: 71) Kant versuchte diese »praktische Evidenz« mit dem Begriff des »kategorischen Imperativs« des Sittengesetzes auszudrücken, aber es wäre ein Missverständnis, glaubte man, aus dem kategorischen Imperativ auch nur ein einziges konkretes Motiv herleiten zu können. Franz Fischers Studie über die Erziehung des Gewissens stellt den Versuch dar, Kants transzendentale Kritik der praktischen Vernunft auf eine konkrete Philosophie sittlicher Praxis hin zu konkretisieren. 16 Das Gewissen ist die absolute Instanz menschlicher Sittlichkeit in einem jedem von uns, die jedes konkrete Motiv unseres Wollens unmittelbar danach beurteilt, ob und inwiefern es der unvermitteltvorausgesetzten Aufgegebenheit unseres Menschseins genügt. Durch das Gewissen ist gleichsam eine Grenze durch uns selbst gezogen: die Gegebenheit unseres je konkreten Wollens und die Aufgegebenheit unseres Menschseins. Nur durch letzteres sind wir in unserer menschlichen Würde unmittelbar und schlechthin gemeint. Nun verläuft diese Grenzscheidung nicht so, dass wir durch sie in zwei Personen getrennt werden, sondern sie ereignet sich unmittelbar in der Ohne dies ausdrücklich zu thematisieren, unternimmt Fischer hier eine Verknüpfung der Ethiken Kants und Schleiermachers. Siehe hierzu die beiden Kapitel 1: »Kants praktisches Postulat des Dasein Gottes«, und 2: »Schleiermachers Verteidigung der Religion gegen ihre Verächter«.
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eigenen Beurteilung unserer eigenen konkreten Motive. »In der Gewißheit des unmittelbaren Sinnes eines jeden Motivs sind wir uns der Grenze in uns selbst gewiß: der Grenze unseres Meinens als Wollen zum Gemeinten als Vollbringen. Wir erfahren uns selbst in der Gewißheit dieser Transzendenz vorausgesetzt, sofern wir (›aktuell‹) sind. […] Wir sind uns selbst im Sinne des Motivs gegeben, wir sind uns ›Anderer‹ […]. Dieses Uns-Gegebensein ist Uns-Aufgegebensein, und seine Gewißheit ist Gewissen. […] Im Gewissen sind wir uns je gewiß, spüren wir je, ob im Motiv der ›Sinn des Motivsinns‹ die Voraussetzung unserer selbst im Vollbringen – bejaht oder verneint ist.« (Fischer, Gewissen: 16) Das Erfahren unseres Aufgegebenseins bedeutet aber niemals ein empirisch-erkennendes Erfahren; auch kann dieses Aufgegebensein nie von außen an uns herangetragen werden, sondern dieses Erfahren des uns Aufgegebenen ist immer ein Vernehmen der urteilenden Stimme des Gewissens in uns, und sie ist darin unmittelbar und absolut. Das Gewissen leitet die Motive unseres Wollens nicht an. »Es vermittelt uns also keine bestimmten Motive, sagt nicht, was wir tun sollen, sondern nur, wo immer Motive zur Entscheidung gestellt sind, daß sie gut oder daß sie böse sind.« (Fischer, Gewissen: 17) Entsprechen die Motive, die wir zur Entscheidung bringen, dem uns aufgegebenen Menschsein, so werden sie als gesollt und gut beurteilt, wo wir dagegen »Motive entscheiden, die den Sinn ihres Sinnes verneinen, wo wir uns in ihnen nicht als aufgegeben, sondern zum Mittel relativiert gewiß sind, sind die Motive nicht gesollt und böse.« (Fischer, Gewissen: 17) Das Gewissen ist die Gewissheit der Transzendenz unseres Aufgegebenseins für uns selbst. »Wir können ihm [dem Gewissen] folgen oder es nicht tun, wir können es aber nicht willkürlich bestimmen, sondern es bestimmt uns« – wir können es nicht loswerden. (Fischer, Gewissen: 24)
14.3.1 Ich und Du Zwar meint das Gewissen in jedem seiner Urteile die Aufgegebenheit unseres Menschseins absolut, aber in dieser unvermittelten Vorausgesetztheit als kategorischer Imperativ vermögen wir uns weder Rechenschaft zu geben über das Was, den Sinn der Aufgebenheit, noch können wir diesen anderen mitteilen, solange nicht der Sinn ihres Sinnes in mitmenschliche Forderungen hinein ausdrückbar wird. 438 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Eine solche unmittelbar-allgemeine Auslegung der Aufgegebenheit unseres Menschseins erfolgt aus und an den ursprünglichen Weisen mitmenschlicher Zuwendung, in allen ursprünglichen sozialen Bezügen, die Hegel »die natürliche Sittlichkeit der Liebe« nennt – der sittlichen Zuwendung von Mann und Frau und deren beider Zuwendung zum Kinde, in allen Formen ursprünglicher Sitte. Erst hier in der unmittelbar-allgemeinen Sinnauslegung des Gewissens wird das gegenseitige Aufgegebensein von Ich und Du konstituiert: das Aufgegebensein eines Du in Bezug auf unser Ich und das Aufgegebensein unseres Ich im Hinblick auf ein Du. Erst jetzt wird »eine Verständigung über entgegengesetzte Gewissensansprüche möglich«. (Fischer, Gewissen: 74) Erst jetzt vermag der Mensch »das eigene Entscheiden in seiner Begründung auch dem anderen zum Gewissen zu erheben; der positive Sinn kann es in ihm erwecken und zu ähnlichen Motiven bestimmen, das irrationale ›Daß‹ des Gewissens wird in seinem ›Was‹ offenbar.« (Fischer, Gewissen: 25) Das Gewissen als unmittelbarer Bezug auf die absolute Aufgegebenheit des Menschseins in uns liegt noch vor jeder Differenzierung in Mein und Dein. Es ist in seiner praktischen Evidenz nicht mein Gewissen, das sich abgrenzen ließe vom Gewissen irgendeines anderen, denn durch die unmittelbar-allgemeine Sinnauslegung des Gewissens wird allererst das gegenseitige Aufgegebensein von Ich und Du konstituiert: das Aufgegebensein eines Du in Bezug auf unser Ich und das Aufgegebensein unseres Ich im Hinblick auf ein Du. »Weiter haben wir im Gewissen ›uns‹ vor allem dort zum Gewissen, wo wir uns konkret-individuell gegeben und aufgegeben erfahren: in der Begegnung des ›Du‹. Wo immer wir unser Handeln nach dem Sinn von ›Du‹ bestimmen, bestimmen wir es nach unserer Bestimmung, wo wir Motive entscheiden, in denen ›Du‹ Mittel wofür immer ist, relativieren wir uns selbst. Wir spüren, daß es hier im ›Anderen‹ um uns selbst geht.« (Fischer, Gewissen: 16; vgl. 25) Der Andere als Du ist keine empirisch-erkennende Erfahrung; und auch nicht erst aus der Erfahrung seines Verhaltens uns gegenüber erwächst uns die Aufgegebenheit des Anderen. 17 Der Anspruch des Du gründet vielmehr in der unvermittelt-vorausgesetzten Aufgegebenheit des Menschseins, von der wir unmittelbar durch das Gewissen Kunde haben. Sie wird uns jedoch allererst greifbar in konSiehe hierzu das Kapitel 17: »Der Andere und die Wechselstiftung – Zu Lévinas und Fischer«.
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kreten Bezügen zum Anderen, der ursprünglichen Liebe und Sitte, in ihnen legt sich das Aufgegebensein des Gewissens erstmals fassbar aus. Nicht »wir« – so betont Fischer –, das »Gewissen von ›Du‹ als Gewißheit seines uns Gegebenseins bestimmt die Motive unseres [… mitmenschlichen] Handelns«. (Fischer, Gewissen: 30; 81) Wo wir das uns aufgegebene Verhältnis zum Du verfehlen, verfehlen wir auch uns selbst in unserem Aufgegebensein, und wo wir uns unserem Gewissen versperren, da versperren wir uns auch der Zuwendung zum Anderen. Dies geschieht überall dort, wo wir uns selbst oder den Anderen zum Mittel unserer Interessen machen. »Wo wir ›Du‹ relativieren, relativeren wir uns selbst, und indem wir ›Du‹ scheinbar zum Mittel für uns gewinnen und frei von dessen Forderungen werden, tritt das empirisch Gegebene von der Stelle des Mittels im Motiv an jene des Sinns und bestimmt uns – ein Anderes, das nicht wir selbst sind – als Begierde.« (Fischer, Gewissen: 37)
14.3.2 Die positiv-allgemeinen Geltungssysteme Die in den unmittelbar-allgemeinen Verhaltensformen von Mitmenschlichkeit gemeinte Aufgegebenheit des Menschseins wird in ihrem positiv-allgemeinen Sinn in den Geltungssystemen der Sittlichkeit, des Rechts, der politischen Gemeinschaft und der Religion expliziert. Sie »sind somit auf eine ihnen eigentümliche Weise kommunikativ und entscheidbar, und dieses ist die Grundlage zur Schaffung einer allgemein verbindlich erlebten Gewissensauslegung – auch für die das umfassende Schicksal der Menschheit bestimmenden Motive.« (Fischer, Gewissen: 80) Die kulturelle Prägung und das geschichtliche Bestimmtsein erweisen sich somit als Ergebnis der gemeinsamen Arbeit positiver Auslegung des unmittelbaren Gewissensanpruchs selbst. »Daß die positiven Forderungen geschichtlich vorgegeben sind, hebt ihre Verbindlichkeit nicht auf, sondern begründet sie erst, insofern sie ja – wo immer sie in die Geschichte treten – in der Entscheidung zum Sinn des Gewissens ›geschaffen‹ werden.« »Die Geschichte positiver Forderungen ist somit die Geschichte des Gewissens« im menschheitlichen Maßstab selbst. (Fischer, Gewissen: 25) Selbstverständlich sind alle Geltungssysteme – Sitte, Recht, Religion – geschichtlich geworden und kulturell geprägt. Das macht sie aber keineswegs zu willkürlichen Setzungen, und das relativiert auch 440 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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keineswegs ihre Geltung, denn ihre Verbindlichkeit gründet in dem im Gewissen verankerten Sinnanspruch des Menschseins. »Wenn wir uns nun nach dem Gewissen des Motivs – als der Gewißheit der Grenze in uns selbst, insofern wir uns aufgegeben sind – entscheiden, dann bestimmen wir uns nach unserer Bestimmung durch den aufgegebenen Sinn von ›Du‹ und sind darin positiv frei. Alle Forderungen positiven Sinnes der Sitte, des Rechts […] oder der Religion werden dann nicht als Schranken erlebt, sondern als Möglichkeiten, in denen wir in unserem Anderssein bei uns sind, im ›Für-Andere-Sein‹ unser ›Für-uns-sein‹ [Hegel] erfahren.« (Fischer, Gewissen: 37) Doch gilt es, darauf zu achten, dass die in den Geltungssystemen ausgesprochenen Forderungen sich nicht von der Unmittelbarkeit des Gewissens lösen und sich dadurch zu angeblich aus sich selbst begründeten Normensystemen verselbständigen, denn sie können immer nur auslegen, was im Gewissensanspruch unmittelbar gemeint ist, ohne das Gemeinte je in ihre Aussagesysteme aufheben zu können. Im Versuch, den Sinnanspruch des Menschseins auszulegen und auszusagen, setzen sie in ihrer bestimmten Auslegung das Aufgegebensein selbst unmittelbar voraus. Deshalb bleibt das Gewissen auch immer in der Möglichkeit, aus tiefer wurzelnden sittlichen, rechtlichen und religiösen Gewissensgründen unabhängig und auch gegen die positiv-allgemeinen Systeme der Sitte, des Rechts und der Religion entscheiden zu können. »In letzter und tiefster Bedeutung besagt das Gewissen, daß wir in unseren Motiven den ›Sinn als solchen‹ – wie wir in ihm uns aufgegeben sind – bejahen und nicht verneinen sollen und haben darin unsere Transzendenz schlechthin – Gott – in Entscheidungen, in denen es um das ›Letzte‹, um die Verabsolutierung eines Relativen oder dessen Begrenzung geht, zum Gewissen.« (Fischer, Gewissen: 16) Auch die positiv-allgemeinen Geltungssysteme setzen ein Gemeintes voraus, das sie nicht selbst zu sagen vermögen: Dies ist der Sinn der Aufgegebenheit als solcher, der der ganzen bisherigen Gedankenbewegung zugrunde liegt und daher niemals begreifend eingeholt zu werden vermag, sondern nur bejahend geglaubt werden kann. Der Begriff »Glauben« beschränkt sich in diesem Zusammenhang nicht auf den religiösen Glauben allein, sondern er benennt jegliche Weise praktischer Evidenz, die im Gewissen verankert ist, woran das theoretische Wissen niemals heranreicht. »Die positiv-allgemeinen Aussagen folgen nicht in logischer Ableitung und theoretisch entscheidbar aus dem unmittelbar-allgemeinen Sinn des Gewissens, 441 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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sondern in bejahendem Glauben zu ihm […]. Der bejahende Glaube, daß die positiv-allgemeinen Forderungen den Sinn des Gewissens und damit den Sinn schlechthin zur Erfüllung aufgeben, indem wir uns zu ihm entscheiden, ermöglicht es, daß ihr ›Geist‹ lebendig und wirksam ist, daß er das Gewissen wachruft und bestimmt.« (Fischer, Gewissen: 26) Alle sittlichen, rechtlichen und religiösen Forderungen gründen im bejahenden Glauben, dass wir in unserem Menschsein in einen Sinnanspruch gestellt sind, den nicht wir geschaffen haben, sondern der an uns aus dem Sinn aus sich selbst ergeht. Nur aus diesem bejahenden Glauben heraus vermögen wir, über die Fixiertheit auf unser je eigenes Leben gemeinsam mit anderen etwas Sittliches in die künftige Geschichte hinaus zu wagen. »Der positive Glaube ist nicht direkt intendierbar, er muß in immer neuer Entscheidung bewährt werden.« (Fischer, Gewissen: 26)
14.3.3 Erziehung des Gewissens Bevor wir abschließend auf den schon von Platon angesprochenen Bezug von Daimonion und Idee des Guten, von Gewissen und Gott, eingehen, sollten wir von den vorangehenden Erwägungen her nochmals die pädagogische Problematik einer Erziehung des Gewissens bedenken, die, da sie selbst »eine Gewissensfrage ist« (Fischer, Gewissen: 29), von nirgends anders als aus der Aufgegebenheit des Du der kommenden Generation ergründet werden kann – dies deutete schon Platon im Symposion mit seinem Hinweis auf den pädagogischen Eros an. »Insofern der zu Erziehende in den sich auf ihn richtenden Motiven erzieherischen Handelns stets im Sinn des Gewissens und nie bloß in dem der Gewißheit, also stets als Aufgegebenes und nie bloß als empirisch Gegebenes, wirklich ist, erfahren wir in ihm den Anderen, der wir selbst, nach der Grenze in uns selbst, sind. Als ›unser‹ Anderer aufgegeben, haben wir ihn als ›Du‹ nach seiner Möglichkeit, nach seiner Grenze in sich selbst, zum Gewissen. Wir sind uns in unserem Gewissen seiner nach seinem Gewissen gewiß und haben somit seine ›Aufgabe‹, sein Sichgegebensein zu unserer ›Aufgabe‹, […] als das Gewissen des Gewissens unseres Anderen, in dem wir uns vorausgesetzt erfahren.« (Fischer, Gewissen: 30) Zunächst und zuerst kann die Erziehung des Gewissens nur darin bestehen, das Gewissen des Kindes und des Heranwachsenden – 442 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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im Sinne von Fichtes »Aufforderung zur Selbsttätigkeit« 18 – in sich selbst zu festigen. »Die Erziehung des Gewissens […] sieht daher ihre Aufgabe vor allem darin, an den Zögling zu appellieren, nichts anderem als seinem Gewissen zu folgen und dieses Verhalten zur absoluten Pflicht zu erheben.« (Fischer, Gewissen: 72) Dies kann aber nur der erste Schritt der Verankerung der Gewissenserziehung im Gewissen des Heranwachsenden sein, denn von ihr muss auch erwartet werden, dass der Erzieher dem Heranwachsenden – seinem Verstehens- und Vollbringensalter gemäß – fortschreitend Gewissensansprüche erschließt: Forderungen aus seinem unmittelbar-konkreten sozialen Umgang sowie ein Vernehmen und Bejahen positiv-allgemeiner Geltungsansprüche. Dies kann aber niemals über theoretische Wissensvermittlung erfolgen, denn ein Gewissensanspruch kann nicht gewusst werden, sondern nur geglaubt. »Die Grenze des denkenden, wollenden Ich zum Sinn des Motivs als Tun des Motivs bestimmt seinen Modus in dem ›allgemeinen Glauben‹, ›daß das Motiv verwirklichbar ist‹. Dieser allgemeine Glaube ist Bedingung dafür, daß sich ›Ich‹ zum Sinn des Motivs bestimmen kann. Er ist in jedem Motiv vorausgesetzt, jeder glaubt ihm, gleichgültig, ob er sonst auch ›an nichts glaubt‹, und glaubt darin zugleich an das Absolute, an die Transzendenz von ›Ich‹ in sich selbst, auch dort, wo ihm sein Glaube nicht als solcher offenbar ist.« (Fischer, Gewissen: 26) Gerade weil es sich um keine Wissensvermittlung oder Wirklichkeitserschließung handelt, sondern um die Offenbarmachung eines Gewissensanspruchs, kann jegliche Gewissenserziehung nur dort vom Erzieher glaubhaft geleistet werden, wo er selber dem Gewissensanspruch verpflichtet ist, den er dem Heranwachsenden nahezubringen versucht. »Wir verstehen also unter Erziehung des Gewissens nicht eine besondere ›Lehre‹, ein Fach oder dergleichen, weil ja der positive Sinn nicht als Wissen, sondern als bejahender Glaube wirklich ist und ein solcher Weg der Aufgabe widersprechen würde.« (Fischer, Gewissen: 31) Auch jegliche Art moralisierender Erziehung ist völlig verfehlt, denn sie trägt ein äußerliches Regelwerk bzw. Normensystem nur von außen an den Heranwachsenden heran. Das positiv vermittelnde Vgl. Dietrich Benner, »Ansätze zu einer Erziehungsphilosophie bei den frühen Fichteaner«, in: Dietrich Benner / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Pädagogik der frühen Fichteaner und Hönigswalds (1969): 11 ff.
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Wort, durch das der Erzieher das Gewissen des Heranwachsenden zu erreichen und anzusprechen versucht, gründet in dem im Gewissen des Erziehers verankerten Glauben an das Gewissen des Heranwachsenden, und es kann nur dort das Gewissen des Heranwachsenden erreichen, wo dieser sich in seinem Gewissen durch den Erzieher bejaht zu erfahren vermag. »Darüber hinaus ist es aber das erzieherische Gewissen der konkreten Situation selbst, in dem sich das positive Wort je als gefordert erweist. […] Ohne den positiven Glauben hat das positive Wort keine ›Begründung‹ und kann so wenig wirksam sein, wie unbegründetes Wissen zum Verständnis führt.« (Fischer, Gewissen: 31) Verallgemeinernd gesagt, wird hier von Franz Fischer das doppelte Verhältnis der philosophischen Reflexion gegenüber der praktischen Aufgegebenheit sittlicher Praxis ausgesprochen, die nicht nur für die pädagogische Praxis der Erziehung des Gewissens gilt, sondern für jedwede sittliche Praxis. Einerseits hat die Philosophie in Klärung eines sittlich-praktischen Zusammenhangs ihre Grenze einzugestehen, mit ihrer theoretischen Klärung niemals die Praxis selbst ersetzen oder festlegen zu können, andererseits ist die Philosophie, selbst in der sittlichen Praxis gründend, wenigstens ihrem positiven Glauben gemäß verpflichtet, eine positiv-praktische Richtungsweisung zu geben. Platon sprach in diesem Zusammenhang von einem »Wegweiser«, der einen Weg nicht selbst gegangen sein muss, um doch aus wahrer Überzeugung (alethes doxa) dem Wegsuchenden die korrekte Richtung weisen zu können. (Platon, Menon: 97 b) »Die philosophische Bestimmung des Gewissenssinnes ist nicht selbst das Gewissen der Motive in konkreten Situationen. Die philosophische Erkenntnis des positiven Sinnes ist nicht selbst das positive Wort, das unser Gewissen zu konkreten Motiven vermittelt: Daß die Philosophie den Sinn des positiven Sinnes bestimmt, ist zugleich ihre Grenze zu ihm als solchem, wie er […] geschichtlich vorgegeben ist und als solcher in ihr unvermittelt bleibt, ja ihr Fragen nach ihm erst ermöglicht.« (Fischer, Gewissen: 38) 19 Niemals kann die im philosophischen Begriff erfasste sittliche Praxis die sittliche Praxis selbst aufheben oder ersetzen. Aber sogleich fügt Franz Fischer ergänzend hinzu, dass die Philosophie des GeVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie (1974), darin das Kapitel »Fischers Gegenkonstruktion zur absoluten Reflexion bei Hegel«: 157 ff.
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wissens in ihrer Differenz zur Praxis des Gewissens doch auch nicht außerhalb des Horizonts des Gewissens zu treten vermag, so als stünde Philosophie an einem neutralen Ort reiner Vernunft, von dem her sie das Gewissen betrachten und bestimmen kann, sondern in ihrer Explikation des Gewissens weiß sie sich diesem selbst, d. h. dem Primat sittlich-praktischer Vernunft verpflichtet: »Insofern nun aber die philosophische Erkenntnis den positiven Sinn zu ihrer eigenen Voraussetzung hat, ist sie durch ihn in ihrem ›je, hier und jetzt konkret-individuellen Philosophieren‹ bestimmt. Die unmittelbare Gewißheit im philosophischen Begreifen des Gewissenssinnes ist – in bezug auf diesen – selbst Gewissen, die philosophische Vermittlung des positiven Sinnes ist – in bezug auf diesen – selbst positiv, sie stellt die positive Forderung das Gewissen zu vermitteln, sie meint das Motiv, das Gewissen zu erziehen.« (Fischer, Gewissen: 38 f.)
14.4 Der Glaube und das positive Wort Damit sind wir erneut bis zum letzten Problem der ganzen Fragebewegung des Sinnes von Sinn vorgedrungen, die bei der »unmittelbaren Wirklichkeit« beginnt und über das »unmittelbar Allgemeine« und »prädikative Allgemeine« zum »positiv Allgemeinen«, dem Begreifen des eigenen Einbezogenseins in die »unmittelbare Wirklichkeit« fortschreitet, um von da aus über das »unmittelbar Konkrete« und »positiv Konkrete« bis zur absoluten Grenze aller Vermittelbarkeit zu gelangen, an der sie erfährt, dass der Sinn der unvermittelten Wirklichkeit, den sie von Anfang als theoretischen Fragehorizont und als praktischen Handlungsauftrag voraussetzen muss, nicht weiter explizieren kann, sondern der vorausgesetzte Sinn der unmittelbaren Wirklichkeit wird nur als »Sinn aus sich selbst« offenbar und kann von uns nur glaubend erfahren werden. »Als Bedingung der Möglichkeit alles theoretischen, ästhetischen und praktischen Sinnes ist die Wirklichkeit der positiven Vermittlung, der positive Glaube vorausgesetzt. Der Sinn ihres Sinnes ist die konkrete Freiheit des aus Gott und damit absolut bestimmten Ich im Vollbringen (Daßsein) als Verwirklichung des Gewissens.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 199) Von daher wird deutlich, dass die philosophische Vermittlungsbewegung sich dem Phänomen des religiösen Glaubens zu stellen hat, denn ein solcher liegt allen Verwirklichungsversuchen sittlichen Handeln in der Geschichte zu Grunde. »Der Glaube der Offen445 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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barungsreligion ist gegenüber sonstigen Sinngebungen dadurch charakterisiert, daß er sich, wie schon erwähnt, als Sinngebung versteht, die nicht aus Entscheidungen des Menschen hervorgegangen ist, sondern das Wort, das sich aus sich selber offenbart, zum Inhalt hat. Damit bekommt auch der Begriff des Glaubens einen anderen Sinn, nämlich den einer Wirklichkeit, die nicht vom Menschen her zu deuten ist, sondern aus der her der Mensch erst sinnvoll wird.« (Fischer, Gewissen: 79) Zu dieser Vermitteltheit aus dem positiven Glauben im Vollbringen der je eigenen Verwirklichung des Gewissens kann nur jeder Mensch selbst kommen, keine philosophische oder pädagogische Vermittlungsbewegung kann diese dem Andern abnehmen, denn jeder kann sie nur aus und vor Gott erfahren. Wohl aber kann die philosophische Vermittlung den Sinn dieses Vollbringens vor Gott als Sinn des Glaubens allgemein aussprechen. »Das Ich, insofern es philosophisch reflektiert oder Sinnreflexion ist, erfährt seine Grenze in der Reflexion auf den Sinn des absoluten Sinnes, der sich ihr begrenzt zum absoluten Sinn als solchen (Gott) erweist, ohne daß es diese Grenze reflektiv transzendieren könnte, weil es die Grenze des Ich, insofern es philosophisch reflektiert, schlechthin ist. […] Die Grenze des Ich ist die Unmittelbarkeit als solche, insofern sie der philosophischen Vermittlung vorausgesetzt ist, d. h. von dieser gemeint aber nicht vermittelt ist.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 199 f.) Die ganze zweifache Bewegung der Frage nach dem Bildungssinn und dem Gewissen muss, um zu Antworten zu kommen, einen Sinn der unvermittelten Wirklichkeit voraussetzen und ebenso eine vernehmbare Sinngebung des Gewissens, ansonsten käme die Vermittlungsbewegung des Sinnes von Sinn überhaupt nicht in Bewegung. Doch dort, wo die Vermittlungsbewegung – um viele Einsichten und Erfahrungen bereichert zwar – zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt, muss sie einerseits erfahren, dass die Grenze zur vorausgesetzten Wirklichkeit in ihrem Sinn durch den Vermittlungslauf theoretisch nicht einholbar ist, sondern ihm vorausgesetzt bleibt. Zugleich aber verstärkt sich in ihm die Erfahrung, dass jeder in seinem sinnbestimmten Handeln praktisch in einen Sinnzusammenhang einbezogen ist, der nicht von ihm erdacht und erschaffen ist, sondern der sich durch das menschliche Handeln hindurch als »Sinn aus sich selbst« erfüllt. »[W]ährend die philosophische Vermittlung allein die Aufgabe verfolgt, das System der Voraussetzungen bis zu ihrer eigenen, die Grenzen des Menschen bis zu seiner absoluten 446 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Grenze darzustellen […, ist] die positive Vermittlung als Glaube […] die Wirklichkeit des absoluten Sinnes. Dieser wird erkannt als vorausgesetzte Notwendigkeit der Bedingung der Möglichkeit des absoluten Sinnes im allgemeinen Glauben. Diese Voraussetzung selbst – das positiv in sich vermittelte ›Daßsein‹ – kann nicht philosophisch vermittelt werden.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 194) Es ist etwas völlig anderes, ob wir aus dem positiven Glauben heraus eine Tat vollbringen, oder ob wir philosophisch davon sprechen, dass wir nur aus dem Glauben heraus eine Tat zu vollbringen vermögen. Ja, man kann nicht einmal sagen, dass es die philosophische Vermittlungsbewegung sei, die zum positiven Glauben hinführen würde, da auch die philosophische Sinnvermittlung selbst immer schon im positiven Glauben gründet, indem sie diesen in seinem Sinn zu explizieren versucht. »Der Sinn der Vermittlung absoluten Sinnes ist nicht die (positive) Vermittlung des absoluten Sinnes, die je konkret wirklich ist, selbst. Der absolute Sinn vermittelt sich als solcher im positiven Glauben, was philosophisch vermittelt wird, ist nur der Sinn dieses Sinnes aus der Grenze des Sinnes allgemeinen Glaubens: Das heißt also, die philosophische Vermittlung als Vermittlung des Sinnes der absoluten Vermittlung (oder Vermittlung des absoluten Sinnes) erfährt in dieser ihre absolute Grenze. Sie kann diese nicht als die absolute Vermittlung (positiver Glaube) selbst darstellen, sondern nur als die notwendige Voraussetzung für die konkrete Freiheit, die sie selbst nicht vermitteln, nicht ›verschaffen‹ kann.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 193) Die philosophische Sinnvermittlung deckt nur die Bedingungen der Möglichkeit auf, was sich im Vollbringen positiven Glaubens ereignet, weder vollzieht sie darin das Ereignis des Vollbringens selbst, noch leitet sie dadurch ein solches Vollbringen konkret an, denn das positive Vollbringen kann nur aus dem Gewissen des je Handelnden erfolgen, das je selbst im positiven Vertrauen eines Sinns der Wirklichkeit steht. »Das ›sich Vollbringen‹ des absoluten Sinnes selbst als der Bestimmung des Menschen (Du), die als solche diesem transzendent (Gott) ist, und zu welchem Vollbringen (Sinn des Sinnes der Liebe) er sich dadurch entscheiden können kann, weil es in seiner Transzendenz, in absoluter Begrenzung des Ich nur sich vermittelt als Gnade positiven Glaubens. […] Die Wirklichkeit absoluten Sinnes ist die Wirklichkeit der absoluten Voraussetzung (Grenze) des Ich, die sich als dessen Bestimmung (Sinn) setzt, und die Unmittelbarkeit der Grenze praktischen Ichs (Gewissen) als solche in konkretem Vollbrin447 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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gen der Liebe (Daßsein des Du bestimmten Motivs als solchen) verwirklicht«. (Fischer, Sinnes von Sinn: 197 f.) All diese philosophischen Klärungen bedeuten aber nicht, dass die Philosophie je eine bestimmte Konfession in ihrer Wahrheit privilegieren kann und darf, denn jede Konfession beansprucht, der absoluten Wahrheit teilhaftig zu sein, und gerade der Erreichbarkeit einer solchen verweigert sich die Philosophie. »Die philosophische Vermittlung des Sinnes positiven Glaubens kann nicht einen konkreten bestimmten Glauben vermitteln, sondern nur den Sinn konkreten Glaubens, wie er sich als Voraussetzung menschlicher Erkenntnis in theoretischer ›Wahrheit‹ darstellt. – Welcher positive Glaube, welche Religion konkret ist oder nicht, also Wirklichkeit dieses Sinnes des Sinnes ist, ist philosophisch nicht zu entscheiden, weil er ja als positiver Glaube der philosophischen Reflexion transzendent ist. Es ist auch nicht ethisch vor dem Gewissen […] zu entscheiden, ob eine positive Religion positiver Glaube ist oder nicht, weil ja ihr Sinn die Offenbarung, die Vermittlung des Gewissens als solchen ist. […] Es lässt sich daher auch nicht theoretisch entscheiden, was und wo in bestimmter Religion konkreter Glaube ist, sondern das vermittelt sich positiv aus diesem, wo er sich setzt.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 195) Trotzdem ist es möglich und notwendig, religiöse Aussagen philosophisch in ihrem positiven Gehalt zu bedenken und zu beurteilen. So bezieht sich Franz Fischer zur Erläuterung seiner philosophischen Explikationen immer wieder auf christliche Glaubensmotive, um das Gesagte zu verdeutlichen, aber ohne diese dabei konfessionell als einzig wahren Glauben hervorheben zu wollen. »Das Schicksal als das praktisch Gegebene des Gewissens ist im positiven Glauben konkret freies Schicksal: […] In der positiven Sprache des christlichen Glaubens wird dieser Sinn in der ›Aufsichnahme des Kreuzes‹ positiv. Das Schicksal ist nicht blind, sondern sich seiner im Glauben vermittelt gewiß als Sinn des Sinnes von Vorsehung.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 198) Beispielhaft geht Fischer mit Blick auf die Eingangssätze des Johannes-Evangeliums darauf ein, dass hier im Wort von der Fleischwerdung des Logos das positive Wort der Nächstenliebe als Sinn aus sich selber offenbar wird. Der Offenbarung »ist es wesentlich […], daß jede Daseinsführung, wie immer sie sich auch versteht […], in der Bejahung ihres absoluten Anspruches Glaubenscharakter be-
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sitzt […]. Wo immer ›Du‹ ›ist‹, macht [… der Glaube] es als aufgegeben gewiß.« (Fischer, Gewissen: 79) 20 So schreibt Fischer zusammenfassend über die Grenze der Philosophie, über die sie einerseits nicht hinaus kann, die sie aber andererseits zu benennen und herauszuarbeiten hat, da sie selbst aus ihr heraus wirkt, was ihr einerseits ermöglicht, mit religiös Glaubenden jeglicher Konfession zu kommunizieren, ohne sich doch einer dieser Konfessionen unterwerfen zu müssen. »Nicht Gewissen zum Sinn von Du, wie das synthetisch-theoretisch-reflektierende Ich in seiner Begrenzung, sondern Gewissen zum unvermittelten Absoluten als Bestimmung seiner Selbst oder Gewissen zu Gott. Dieses Gewissen ist praktisch als Entscheidung zum Glauben. […] Das Gewissen als sich begrenzendes Wissen der Philosophie ist Gewissen zur Hoffnung auf diese positive Vermittlung, auf die Gnade positiven Glaubens. Die positive Vermittlung als Glaube und Wort des Glaubens erfolgt, wo sie erfolgt, durch wen und wie es Gott will, darüber ist theoretisch nichts auszumachen. Insofern er sich dem Philosophierenden vermittelt, und er im Vollbringen dieser Vermittlung steht, ist er nicht mehr Philosophierender, sondern im Worte Gottes […]. Theoretische Bedingung der Möglichkeit meiner selbst ist Hoffnung. Das Resultat der theoretisch-philosophischen Reflexion ist das theoretisch in der Gewissheit gerechtfertigte vermittelte Gewissen zur Hoffnung, daß sich ihm Gott je positiv vermittelt.« (Fischer, Sinnes von Sinn: 200)
Siehe hierzu ergänzend das Kapitel 18: »Der Andere und die Wechselstiftung – Zu Lévinas und Fischer«.
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Ergänzende Diskussionen
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15. Mit Gott im Gespräch – Zu Cohen, Buber und Rosenzweig 1
Wenn wir hier von einer Herausforderung an die Christen durch drei jüdischen Philosophen – Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig – sprechen, so müssen wir bedenken, dass der Akzent unserer Kennzeichnung auf Philosophen liegt, denn alle drei sind keineswegs religiös autorisierte Exegeten ihres jüdischen Glaubens. Analog könnten wir auch von Fichte, Hegel und Schelling als von drei christlichen Philosophen sprechen. Doch sogleich würde sich Protest von zwei Seiten her erheben: von den christlichen Kirchen her, die das Christentum keineswegs durch die religionsphilosophischen Ausführungen dieser Denker adäquat ausgelegt ansehen, und von den Vertretern der Philosophie her, die die Bezeichnung »christlich« für die großen Klassiker der deutschen Philosophie bestenfalls als eine lächerliche Überpointierung zurückweisen würden. Um auf die interreligiöse, gegenseitige Herausforderung von Christentum und Judentum eingehen zu können, müssten wir daher eher einerseits auf Adolf von Harnacks Das Wesen des Christentums (1900) und andererseits Leo Baecks Das Wesen des Judentums (1905) zurückgreifen, um sowohl die Betonung des je eigenen Glaubens, aber auch die Abgrenzungen voneinander näher in den Blick nehmen zu können. Hier haben wir es jedoch mit drei Denkern zu tun, die keineswegs exegetisch das Judentum auslegen, sondern die sich als Philosophen auf ihr Judesein besinnen, ja mehr noch, durch ihr Philosophieren zur Erneuerung bewussten jüdischen Denkens und Lebens beizutragen versuchen. Dabei dürfen wir nicht übersehen, dass von Anfang an – man denke an Philon, Maimonides, Spinoza, Mendels-
Gleichnamiger Vortrag gehalten im Rahmen der Ringvorlesung »Juden und Christen im Dialog« am 22. Juni 2009 im Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg, erschienen in: Siegfried von Kortzfleisch / Wolfgang Grünberg / Tim Schramm (Hg.), Wende-Zeit im Verhältnis von Juden und Christen (2009): 218–241.
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sohn – eine größere Affinität des jüdischen Glaubens zur Philosophie besteht, die im eindeutigeren Monotheismus des Judentums gründet. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass keine der monotheistischen Großreligionen so sehr um eine Versöhnung mit der Philosophie gerungen hat als gerade das Christentum, denn nirgends – sieht man von den frühen, aber kurzen Anfängen der Diskussion zwischen dem Islam und der Philosophie ab – konnten Philosophie und Religion so aneinander und miteinander wachsen als in der Geistesgeschichte des christlichen Abendlandes. 2 Die viel zahlreicheren mythologischen Elemente im christlichen Monotheismus – die Verknüpfung des Gottesgedankens mit geschichtlichen Glaubenserzählungen: die Menschwerdung Gottes, die unbefleckte Empfängnis, die Auferstehung von den Toten, die Auffahrt in den Himmel, die Ausgießung des Heiligen Geistes – machten eine höchst diffizile dialektische Denkarbeit erforderlich, um sie mit dem Gedanken des einen und absoluten Gottes zu versöhnen. Die Zweinaturenlehre und die Trinitätslehre, die zu Ende der frühchristlichen Epoche aufkamen und sich durch das Mittelalter hindurch etablierten, müssen selbst die, die ihren theologischen Ausführungen nicht folgen können, als höchst philosophische Meisterleistungen anerkennen. Aber gerade diese Angewiesenheit des christlichen Glaubens auf eine philosophische Auslegung und Begründung verschaffte der Philosophie innerhalb der christlichen Glaubensdominanz in der abendländischen Geschichte – vor allem seit Renaissance und Reformation – wieder Unabhängigkeit und Freiraum, wie sie sie bereits in der griechischen Antike besessen hat. Dieses Miteinander- und Gegeneinander von christlichem Glauben und Philosophie hat nicht nur beide Seiten zu höchster Blüte getrieben, sondern seit drei Jahrhunderten schrittweise zu einer vollständigen gegenseitigen Lösung voneinander geführt. Heute finden wir die christliche Theologie und die weltliche Philosophie wie zwei eifersüchtige Schwestern in einem getrennten Nebeneinanderher vor. Weder will die Philosophie irgendetwas mit der christlichen Theologie noch diese mit der Philosophie zu tun haben.
2 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit. Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zur Interkulturellen Philosophie (2017): 185 ff.
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Hermann Cohen
Hier liegt einer der Unterschiede zur jüdischen Philosophie, die sich einbezogen in den Bund versteht, den der einzige und alleinige Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat und den es immer und immer wieder denkend und handelnd zu erneuern gilt. Diese Philosophie räsoniert weder aus einer Distanz heraus über Gott noch legt sie überkommene religiöse Glaubenssätze aus, sondern sie versteht sich als ein Kettenglied im Gespräch mit Gott, das mit der Thora beginnt, durch die Midraschim fortgesetzt und nun erneut philosophisch bezeugt und bekräftigt wird. Aus diesem Selbstverständnis heraus konnte die jüdische Philosophie durch die Jahrhunderte hindurch problemlos die islamische und die christliche Philosophie begleiten, ohne ihr eigenständiges jüdisches Fundament aus dem Bund mit Gott aufgeben zu müssen. Natürlich soll nicht verschwiegen werden, dass auch das orthodox-jüdische Selbstverständnis – und ebenso der fundamentalistische Islam – voller mythologischer Momente steckt, aber doch ist es wesentlich leichter, die Einzigkeit Gottes, die Auserwähltheit des Volkes Israel oder die Erwartung des Messias philosophisch zu interpretieren und zu begründen. Da hier Vernunft und Glaube zusammen bestehen können, braucht sich weder die Philosophie gewaltsam aus der Umklammerung der Religion zu befreien noch der Glaube sich verteidigend gegen die Philosophie einzuigeln. Gerade in diesem Im-Gespräch-mit-Gott-Sein besteht das Herausfordernde der drei großen jüdischen Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl gegenüber dem Christentum als auch gegenüber einer nur weltlichen oder gar erklärtermaßen atheistischen Philosophie – doch letzteres soll hier nicht unser Thema sein. Trotz dieser jüdischen Gemeinsamkeit stellen die philosophischen Ansätze von Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig extrem unterschiedliche Denkansätze dar, die sich auch in ihren unterschiedlichen Haltungen dem Christentum gegenüber niederschlagen. Diese Ansätze sollen im Folgenden thesenhaft skizziert werden.
15.1 Hermann Cohen Hermann Cohen, der große Neukantianer, der mit seinen Werken Logik der reinen Erkenntnis, Ethik des reinen Willens und Ästhetik des reinen Gefühls zu Beginn des 20. Jh. ein eigenes dreigliedriges idealistisches System aufbaute, war zugleich von Kindheit an ein be455 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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kennender Jude und daher in seinem Alter bemüht, beides – die idealistische Philosophie und den religiösen Bezug zu Gott – miteinander zu verbinden. Dieser Aufgabe stellt sich Cohen, der nach seiner Emeritierung in Marburg an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin lehrt, in seiner Schrift Begriff der Religion im System der Philosophie (1915). In ihr arbeitet Cohen heraus, dass die Religion gleichsam quer zum Systemgedanken steht, ohne die aber das System der Philosophie sich nicht vollständig erfüllen kann, da die Religion in ihrer Eigenart in alle Systemteile hineinspielt. Alle Systemteile der Philosophie können immer nur das Allgemeine bestimmen, das Allgemeine der Naturerkenntnis in ihrer Gesetzmäßigkeit, das Allgemeine des Sittengesetzes für die Menschheit und das Allgemeine ästhetischen Fühlens, aber sie erreichen dabei niemals uns in unserer je einmaligen Korrelation zur Einzigkeit des Seins, die wir Gott nennen. Von dieser Korrelation von Gott und Mensch, ihrer Einzigartigkeit des Vertrauens in unser Gehaltensein im Sein und in die Sinnbestimmtheit unseres geschichtlichen Handelns spricht die Religion, und in dieser Eigenart ist sie in allen Systemteilen anwesend. Es findet also in der Religion eine Umwendung der Problemstellung statt von der Bestimmung durch die Vernunft hin zur Erfahrung des Bestimmtseins aus Gott. Das Zentrum des Bezuges der Religion zum System der Philosophie liegt in der Ethik, aber während Cohen vorher in der Ethik des reinen Willens – gerade auch unter Hinweis auf die Propheten – die Versittlichung der Menschheitsgeschichte herausarbeitete, so ist es nun – mit stärkerer Betonung der Psalme – die Selbsterkenntnis des Individuums in »seinen Schwächen«, in seiner je eigenen »Sündhaftigkeit«, aber auch die je persönliche Zuwendung zum »Nächsten«, die als »Geburtstätten der Religion« (Cohen, Begriff der Religion: 54) hervorgehoben werden. »Wir stehen hier am begrifflichen Ursprung der Religion […]. Wir wissen, die Eigenart der Religion soll nicht ihre Unabhängigkeit von der Ethik bedeuten […]. Die Einzigkeit aber fällt ganz aus dem Rahmen der Ethik heraus.« (Cohen, Begriff der Religion: 58, 59, 61) Die ganze Ethik wird durch die Religion in eine andere Sphäre je individueller unmittelbarer Bezüge getaucht. Auf diese Dimension existentiell-geschichtlichen Menschseins bezogen spricht Cohen nun in neuer Weise von der Korrelation von Gott und Mensch als einer geradezu existentiellen Beziehung: im Gebet des sich in seiner Endlichkeit und Gebrechlichkeit wissenden Menschen als Hinwendung zum einzigen Gott mit der Bitte um Vergebung und 456 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Erlösung, das zwar nicht aus der Ethik als sittliche Aufgabe menschheitlicher Geschichte herausführt, aber es bekräftigt das über die Ethik noch hinausragende religiöse Gebot der Liebe. So weit war Cohen in seiner ersten Berliner Schrift Der Begriff der Religion im System der Philosophie (1915) vorgedrungen. In dem in den folgenden Jahren ausgearbeiteten Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, das 1919 posthum erschien, versucht Cohen, wie der Titel schon sagt, die Religion der Vernunft »aus den Quellen des Judentums« darzulegen, wodurch Vernunft, Offenbarung und Judentum in eins zusammengezogen werden. Nicht, dass Cohen die Religion aus der historischen Gestalt des Judentums herleiten bzw. jüdische Exegese betreiben wollte. Er betont im Gegenteil, dass die Thematisierung der »Religion der Vernunft […] die Religion zu einer allgemeinen Funktion des menschlichen Bewußtseins« macht, die sich niemals in der Partikularität der Religion eines Volkes zu »erschöpfen« vermag. »Der Begriff der Religion soll durch die Religion der Vernunft zur Entdeckung gebracht werden. Und die Quellen des Judentums sollen als das Material aufgezeigt und nachgewiesen werden, in dessen geschichtlicher Selbsterzeugung die problematische Vernunft, die problematische Religion der Vernunft sich erzeugen und bewahrheiten soll.« (Cohen, Religion der Vernunft: 5) Und doch ist es legitim und sinnvoll, die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums zu erläutern, da die menschliche Vernunft im jüdischen Volk seit Moses, seit den Propheten und seit den Psalmisten die Grundlagen eines reinen Monotheismus herausgearbeitet hat. Und der reine Monotheismus ist nach Cohen das Fundament der Religion der Vernunft. Insofern ist das Judentum der Urquell des ersten Hervortretens der Religion der Vernunft in der Geschichte, aus der alle späteren Quellen gespeist werden. Aber mehr noch, das Judentum ist durch seine Treue und sein Festhalten an dem Gedanken der Einzigkeit Gottes – trotz Druck und Bedrohung weltmissionarischer Nachfolgereligionen – Zeuge und Garant des reinen Monotheismus der Religion der Vernunft geblieben und steht so für das messianische Versprechen ein, dass alle Völker sich einst in die Religion der Vernunft einfinden, die dann der ganzen Menschheit und somit allen Menschen gehört. (Cohen, Religion der Vernunft: 39) Das Neue der Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gegenüber den vorhergehenden Schriften liegt darin, dass Cohen nicht mehr vom philosophischen System her über die Religion, sondern von der Religion her argumentiert und so die Vernunft 457 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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der Religion selbst zur Sprache bringt, so dass dadurch sowohl die Vernunft der Offenbarung begreifbar als auch die Vernunft als Offenbarung vernehmbar wird. Für Cohen ist die Einheit von Vernunft und Offenbarung von entscheidender Wichtigkeit, wobei Einheit hier nicht Einerleiheit, sondern Zusammengehörigkeit bedeutet. Dies kommt im Doppelsinn des bekannten, oft zitierten Satzes sehr gut zum Ausdruck: »Die Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft« (Cohen, Religion der Vernunft: 84), denn im Doppelsinn des genitivus subiectivus und obiectivus spricht Cohen sowohl aus, dass die Offenbarung die Vernunft, als auch, dass die Vernunft die Offenbarung hervorbringt. »Die Einzigkeit Gottes bedingt sein Verhältnis zur Vernunft des Menschen. Und die Vernunft des Menschen, als Schöpfung Gottes, bedingt sein Vernunftverhältnis zu Gott, daher aber auch den Vollzug dieses Vernunftverhältnisses in der Offenbarung, welche mitsamt der Schöpfung die Korrelation von Mensch und Gott begründet.« (Cohen, Religion der Vernunft: 95) Gerade diese Einheit von Vernunft und Offenbarung wird – so Cohen – vom Christentum verlassen, denn die Verschmelzung von Gott und Mensch in Christus und die Trinität hat noch niemand aus der Vernunft ableiten können. Das Christentum fällt – wie Cohen sehr zurückhaltend andeutet – aus der Religion der Vernunft in einen Mythos, den Glauben an eine Erzählung, zurück: »Es ist eine Tragik des Monotheismus, daß […] an dem Begriff des Menschensohns sowohl der Begriff Gottes, wie der des Menschen zur Gefährdung des reinen Monotheismus geworden ist.« (Cohen, Religion der Vernunft: 246) Im Judentum ist dem menschlichen Geist die Religion der Vernunft offenbar geworden, ist ihm die Einzigkeit Gottes als die Ewigkeit des Seins aufgegangen, der gegenüber die Menschheit in einen sittlich-messianischen Auftrag gestellt ist, in der jedes einzelne Individuum sich je für sich korrelativ auf Gott bezogen erfasst. An diesem Kern der Religion der Vernunft hält das Judentum bis heute fest, nicht als ausschließlichen Besitz für sich, sondern damit dereinst alle Menschen und alle Völker zur Reinheit des Monotheismus, zur Religion der Vernunft einzukehren vermögen. Dies besagt nach Cohen ausdrücklich nicht, dass in der Zukunft alle Menschen Juden werden, sondern nur, dass die Religion der Vernunft, die das Judentum in ihrem Kern bisher in reinster Gestalt bewahrt hat, zum Kernbestand aller Religionen in einer Welt der Liebe werden wird, oder genauer: dass alle Menschen dereinst aus der Religion der Vernunft zur Ver458 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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wirklichung eines religiösen Sozialismus finden werden: »Zu dieser weltgeschichtlichen Aufgabe für die Errichtung und Befestigung des Monotheismus.« (Cohen, Religion der Vernunft: 86 f.) Es sind insbesondere drei Momente der Religion der Vernunft, die Cohen herausstellt: (1) die Einzigkeit Gottes, wie sie nur durch den reinen Monotheismus ausgedrückt werden kann, (2) die Einzigartigkeit der Korrelation von Mensch und Gott als Grundlage für die Korrelation des Menschen zum Menschen und (3) der Messianismus als geschichtlicher Aufgegebenheitshorizont sittlichen Zusammenlebens der Menschheit: (1) Nur der menschlichen Vernunft offenbart sich Gott, und nur die menschliche Vernunft vermag, Gott in seiner Einzigkeit zu schauen, insofern fallen für Cohen Vernunft und Offenbarung letztlich zusammen. 3 Unbestreitbar ist es das Judentum, das diesen reinen Monotheismus – nicht philosophisch, sondern in gelebter Praxis – freigelegt hat, es ist die geschichtliche Quelle der Religion der Vernunft. Das Volk Israel – und es zuerst und allein 4 – tritt in einen Bund mit dem einzigen Gott ein, darin gründet seine Auserwähltheit durch Gott, und es hält bis heute unbeirrt an diesem Bund fest, darin bekundet es seine Treue zu Gott. Für die Religion der Vernunft, wie sie bei den Juden aufbricht – so Cohen – erscheint die Einzigkeit Gottes nicht in einer besonderen Gestalt eines Seienden, sondern in der Einzigkeit des Seins, des Existierens schlechthin: »Für die Religion gehört es sicherlich zu den einleuchtendsten Wegweisern ihres Rationalismus, daß die mosaische Urkunde, und zwar in der ersten Offenbarung an Mose, Gott als den [schlechthin] Seienden offenbart […]: ›Ich bin, der ich bin‹ […]. Der Text macht es unbestreitbar, daß das Wesen des Einzigen Gottes in diesen Begriff des Seins [schlechthin] gelegt wird […], die Bedeutung des Monotheismus […] liegt im Sein, und zwar in der Einzigkeit des Seins, welches das Sein Gottes ausmacht.« (Cohen, Begriff der Religion: 20 ff.)
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 113 ff. 4 Auch der »Monotheismus« Echnatons – von dem Cohen zu seiner Zeit noch nichts wissen konnte – ist kein Gegenbeweis, sondern kann nur als eine Vorläufergestalt des reinen Monotheismus angesehen werden, denn Aton, die lebensspendende Sonne, ist noch an ein bestimmtes Seiendes in seiner herausragenden Besonderheit gebunden und noch nicht der transzendente und zugleich persönliche Gott, wie er sich dem Volk Israel offenbart. 3
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(2) Die Korrelation von Gott und Mensch, d. h. dass sich Gott nur dem Menschen offenbart und nur der Mensch Gottes Offenbarung erfahren kann, ist für Cohen das Herzstück aller Religion, wobei der Einzigkeit Gottes hier jeder einzelne Mensch in seiner existentiellen Endlichkeit, Einsamkeit, Angst, Verlassenheit und Sündhaftigkeit gegenübersteht. Das »ich bin«, das wir je selber sind, erfährt sich in und vor die Existenz Gottes gestellt. »Nur im Sein Gottes kann das Sein des Menschen gegründet werden«. (Cohen, Religion der Vernunft: 57) »Die Selbsterkenntnis [unserer] Schwächen ist die Geburtsstätte der Religion.« »Der einzige Gott vollzieht damit eine neue Bedeutung seiner Einzigkeit – er ist einzig für den Menschen, sofern dieser als ein einziger gedacht werden muß.« (Cohen, Begriff der Religion: 54, 61) Von dieser Korrelation zwischen Mensch und Gott sprechen und singen die in der Bibel gesammelten Psalmen. Sie sind preisende, aber auch verzweifelte Anrufungen Gottes aus der überwältigenden Erfahrung des menschlichen Daseins in seiner Einmaligkeit und seiner Verlassenheit. Hier wurzelt auch die Bedeutung des Gebets, das mehr ist als bloße Magie, welche ein Wunder von außen herbeizwingen will. Im Gegensatz zu aller Magie zeigt sich für Cohen der wahre Kern allen Betens beispielhaft im Psalm 51, 12: »Ein reines Herz erschaffe mir, Gott, und einen gegründeten Geist erneuere in meinem Innern.« Hier tritt der Mensch in seiner existentiellen Not in eine unmittelbare Zwiesprache mit Gott ein und bittet um Offenbarung seines Willens und um die Kraft des eigenen Standhaltens. »Daher ist das Gebet die Grundform, die Grundtat der Religion. Denn in diesem Ziele des Gebetes auf Wurzelung des Bewusstseins, in der Wahrhaftigkeit tritt Gott hervor, als das Gegenglied der Korrelation. Gott ist der Gott der Wahrheit, und der Mensch soll der Mensch der Wahrhaftigkeit werden.« (Cohen, Religion der Vernunft: 443) (3) Aus dieser Beziehung zu Gott erwächst schließlich die Einsicht, dass der Mensch sein je eigenes Aufgerufensein durch Gott nur erwidern kann durch die tätige Liebe seinem Nächsten gegenüber – hierin gründet der Urgedanke des biblischen Doppelgebots der Gottes- und der Nächstenliebe. Nicht in einer wissenden Selbsterkenntnis, sondern nur in der existentiellen Sinnfindung seines Handelns bezogen auf den Nächsten kann die Antwort des Menschen gegenüber Gott liegen. Gerade vor der Einzigkeit Gottes offenbart sich dem je einzelnen Menschen seine Angewiesenheit auf den Nächsten und seine Verantwortung für diesen. »So sind Ethik und Religion im 460 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Begriff des Menschen auf den Begriff des Mitmenschen gestellt.« (Cohen, Religion der Vernunft: 133) 5 Doch bleibt die Entdeckung des Nächsten, des Du nicht auf eine Dualbeziehung beschränkt, sondern schließt alle Menschen mit ein, die meiner bedürfen. Da jeder Mensch Ebenbild der Einzigkeit Gottes ist, sind in der Religion der Vernunft alle Menschen in den messianischen Verantwortungshorizont des Handelns der Menschen miteingeschlossen. »So wird es verständlich, daß der Monotheismus im Messianismus seinen Gipfel erlangt. Der Messianismus aber bedeutet schlechthin die Herrschaft des Guten auf Erden.« (Cohen, Religion der Vernunft: 24) Der Messianismus ist für die Religion der Vernunft der sittliche Horizont der Aufgegebenheit menschlichen Handelns und Strebens, die ethische Zielperspektive der Menschheitsgeschichte, wie dies bereits in der Bibel bei den Propheten zu finden ist – dies erneut und betont herausgestellt zu haben, macht den religiösen Sozialismus Cohens aus. »Die Propheten waren nicht Philosophen, aber sie waren […] in der Politik bei all ihrem Patriotismus messianische Weltbürger. [… Und] sie erkannten im Staate als die schwerste Gefahr seines Gleichgewichtes den Unterschied von Arm und Reich. Der Arme wurde ihnen zum Symbol des Menschenleids. […] So wird ihr Gott zum Gott der Armen« und der Leidenden. (Cohen, Religion der Vernunft: 26) Dass das erstrebte göttliche Reich auf Erden komme, kann nicht nur von außen erwartet werden, sondern muss auch von den Menschen durch ihr Handeln, durch ihren Kampf gegen Armut, Rechtlosigkeit und Leid mit erstritten werden. Diese Hoffnung zielt auf die Anerkennung der Wahrheit der sittlichen Gebote des einzigen Gottes durch alle Völker. In diesen Zusammenhang sieht Cohen auch Schicksal und Aufgabe des von allen Völkern ausgeschlossenen und verfolgten Volkes Israel gestellt. »Die Weltgeschichte mit ihrem messianischen Ziele vollzieht diese Versöhnung Gottes mit den Völkern. Und das Volk Israel ist in der Vision des Gottesknechtes mehr als der Priester, vielmehr das Schlachtopfer, das sich dem Leiden bloßstellt durch seine Erkenntnis von dem unersetzlichen Werte dieses Leidens für das geschichtliche Heil der Menschheit.« (Cohen, Religion der Vernunft: 333 f.) Siehe Hermann Cohen, Der Nächste. Vier Abhandlungen über das Verhalten von Menschen zu Menschen nach der Lehre des Judentums, m. e. Vorbemerkung hg. v. Martin Buber (1935).
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So weist der jüdische Messianismus über das Judentum hinaus und stimmt – wie Hermann Cohen immer wieder betont – mit Kants Sittenlehre und Gottesverständnis im Kern überein. Es ist daher legitim und sinnvoll, die Religion der Vernunft aus dem Judentum zu erläutern, da die menschliche Vernunft im jüdischen Volk seit Moses, den Propheten und den Psalmisten die Grundlagen eines reinen Monotheismus herausgearbeitet hat. Insofern ist das Judentum der Urquell der Religion der Vernunft in der Geschichte. Hier offenbart sich Gott der menschlichen Vernunft erstmals in der Einzigkeit seines Seins, und hier wurden sich die Menschen – stellvertretend im Volk Israel – ihres sittlichen Auftrags bewusst. So ergeht also – von Hermann Cohen gesehen – die Herausforderung an das Christentum, allererst zu einem reinen und wahren Monotheismus zurückzukehren und sich somit aus der Religion der Vernunft gründend zu erweisen.
15.2 Martin Buber Während Hermann Cohen als ein typischer Vertreter des westeuropäischen liberalen Judentums angesehen werden kann, ist Martin Buber ganz und gar durch das osteuropäische Judentum geprägt. Zwar ist er in Wien geboren, aber bereits als Dreijähriger kommt er zu seinen Großeltern nach Galizien, und er wird von seinem Großvater, einem Midrash-Gelehrten, erzogen. In dieser Zeit schon kommt er mit der ostjüdischen Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus in Berührung sowie mit der ostjüdischen Nationalitätsbewegung. 1896 beginnt er sein Studium in Wien und schließt sich hier der zionistischen Bewegung an, gehört allerdings schon bald zur jungen geistigreligiösen Opposition gegen Theodor Herzl. In Wien wird er 1904 mit einer Arbeit über christliche Mystiker unter dem Titel Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems promoviert. 6 So ist es von Anbeginn an die lebensbezogene Mystik des Chassidismus, in der seine Religiosität und sein philosophisches Denken wurzelt. Noch in einem seiner Spätwerke Gottesfinsternis. BetrachVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Jude und Deutscher. Hermann Cohen, Martin Buber und Franz Rosenzweig«, in: Jens Flemming / Dietfrid Krause-Vilmar / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Juden in Deutschland. Streiflichter aus Geschichte und Gegenwart (2007): 47 ff.
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tungen zur Beziehung zwischen Religion und Philosophie (1953) unterstreicht Buber – gerade in Abgrenzung von Cohen – den Unterschied der »Liebe zu Gott« – dem Glauben »an einen lebendigen Gott« – und der philosophischen Behandlung der »Gottesidee« – einen Gott für wahr halten. Dieser Unterschied ist nicht etwa ein spezifisch jüdisches Problem, sondern ist ebenso im Christentum anzutreffen, was Buber an der Gegenüberstellung von Pascal und Kant verdeutlicht. Aber die Liebe zu Gott ist doch – wie dies schon Pascal betonte – ein »Erbgut der jüdischen Religion« von ihren Anfängen her. (Buber, Gottesfinsternis: 65) Alle drei von Cohen herausgearbeitete Kerngedanken des Judentums lassen sich auch bei Martin Buber – dem lebensphilosophischen Kontrahenten von Cohen – nachweisen, aber sie sind bei ihm gänzlich anders akzentuiert, denn es geht Buber nicht um eine Religion der Vernunft, sondern um ein alles Leben durchdringendes religiöses Erleben, wie es insbesondere das Judentum auszeichnet: (1) um die lebendige Erfahrung der Liebe Gottes, (2) um das Wandeln mit deinem Gott in tätiger Nächstenliebe und (3) um den geschichtlich gelebten Auftrag eines religiös verwurzelten sittlichen Zusammenlebens der Menschen. Im Gegensatz zu Cohen, der Gottes Selbstbenennung mit »Ich bin, der ich bin« übersetzt und darin die Offenbarung der Einzigkeit des Seins Gottes sieht, die er ausdrücklich gegen alles endlich Daseiende absetzt, versteht Buber – wie er in seinem Buch Gottesfinsternis ausführt – die Selbstbenennung »Ehje« als »Ich-bin-da, der ich dasein-werde« als die liebende Offenbarung Gottes in »seiner lebendigen Gegenwart«. »Aber auch der tiefste Grund der jüdischen Gottesidee kann nur durch Vertiefung in jenes ›Ehje‹ erreicht werden, jenes von Gott zu Mose gesprochene ›Ich-bin-da‹, das für alle Zeiten über Sinn und Gehalt dieser Idee entschieden hat und in dem gerade das persönliche ›Dasein‹ Gottes, ja seine lebendige Gegenwart, als das Attribut angesprochen wird, das unter allen den Menschen, dem er sich kundgibt, am unmittelbarsten angeht.« (Buber, Gottesfinsternis: 74) Buber spricht nicht substantivisch über Gott, sondern drückt die Beziehung zu Gott als eine das ganze menschliche Leben durchwirkende Begegnung mit ihm aus. Gott ist für Buber kein Gedanke, keine Idee, sondern eine uns existentiell tragende Erfahrung: »Denn die Gottesidee, das Meisterwerk des Menschen, ist nichts als das Bild der Bilder, das sublimste unter den Bildern, die sich der Mensch von Gott, dem Bildlosen macht […]. Aber der Mensch erfährt, wenn er Gott 463 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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lieben lernt, eine Wirklichkeit, die die Idee überwächst«. (Buber, Gottesfinsternis: 74 f.) Für Buber ist die Liebe zu Gott das Erbgut der jüdischen Religion, daher gesteht er auch seinem Kontrahenten Cohen zu: »[A]uch Cohen hat Gott zwar als Idee gedacht, aber geliebt hat auch er ihn als – Gott.« (Buber, Gottesfinsternis 70) Das Leben als ein Geliebtsein von Gott und als Liebe zu Gott zu erfahren, ist die Basis aller Hinwendung des Menschen zum Anderen, zum Du. In seinem Buch Ich und Du (1923) hat Buber die hier aufbrechende Grundproblematik in Gegenüberstellung zweier unaufhebbar entgegengesetzter Haltungen des Menschen erläutert. 7 Die eine Haltung wird durch die Grundworte Ich-Es bestimmt. Sie umschreibt die wissenschaftlich-technisch-ökonomische Inbesitznahme der Welt durch den Menschen, wie wir sie tagtäglich praktizieren. Der Mensch ist hier das Ich, das sich alles ihm gegenüberstehende Es untertan macht. Von diesem zweckhaften Umgang mit der Welt als Dinghaftem geht aber – wenn er zum dominanten oder gar alleinigen verabsolutiert wird – eine Gefahr für alles Menschliche aus. Denn das Wesen des Menschlichen kommt nur im Grundwortpaar Ich-Du zum Vorschein. Nur in den Beziehungen der Menschen zueinander, in der existentiellen Begegnung des Ich mit dem Du, in der Hinwendung zum Du und der Rückerfahrung aus dem Du vermag es sich zu erfüllen. »Das Du begegnet mir. […] Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. […] Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, […] steht kein Zweck […]. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« (Buber, Ich und Du: 15 f.) 8 Die Möglichkeit dieser Beziehung von Ich und Du wurzelt letztlich – wie Buber darlegt – in der Beziehung zu Gott. Gerade dies ist in der jüdischen Religiosität zu einer bewussten und gelebten Erfahrung geworden. Gott als religiös erfahrenes Gegenüber ist das »ewige Du«, aus dem und in dem alle Ich-Du-Beziehungen der Menschen gründen und leben. »Ich-Du findet seine höchste Verdichtung und Verklärung in der religiösen Wirklichkeit, in der das uneingeschränkt Seiende als die absolute Person zu meinem Partner wird«. (Buber, Gottesfinsternis: 57) »Die Beziehung zum Menschen ist das eigentliche Gleichnis
Martin Buber, »Ich und Du« (1923), in: Ders., Das dialogische Prinzip (1973). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 161 ff.
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der Beziehung zu Gott. Darin wahrhafter Ansprache wahrhafte Antwort zuteil wird.« (Buber, Ich und Du: 104) Dabei führt in der jüdischen Religion die Beziehung des menschlichen Ich zum ewigen Du Gottes den Menschen nicht von der irdischen Welt weg in eine davon abgehobene jenseitige Realität, sondern durchdringt und erfüllt vielmehr alle irdischen Erfahrungen und Beziehungen. Dies verdichtet sich ganz besonders im Gebet als Gespräch mit Gott: »Gebet im prägnanten Sinn nennen wir jenes Sprechen des Menschen zu Gott, das, um was immer auch gebeten wird, letztlich die Bitte um Kundgabe der göttlichen Gegenwart, um das dialogische Spürbarwerden dieser Gegenwart ist.« (Buber, Gottesfinsternis: 149) Damit aber wird der sittliche Auftrag sichtbar, der das jüdische Volk von seinen Anfängen her bestimmt. »Alle sittliche Forderung wird hier [am Berge Sinai] somit als eine kundgetan, die den Menschen, das Menschenvolk in den Bereich erheben soll, wo das Ethische im Religiösen aufgeht, vielmehr wo die Differenz zwischen dem Ethischen und dem Religiösen im Atemraum des Göttlichen selbst aufgehoben wird. Das wird unüberbietbar deutlich in der Begründung jener Zielsetzung ausgesprochen: Israel soll heilig werden, ›denn ich bin Heilig‹. Die Nachahmung Gottes durch den Menschen, das ›ihm in seinen Wegen Folgen‹, kann sich naturgemäß nur an den dem menschlichen Ethos zugewandten göttlichen Attributen, an Gerechtigkeit und Liebe vollziehen.« (Buber, Gottesfinsternis: 128) Diesem uranfänglichen sittlichen Auftrag kontrapunktisch entgegen begleitet das jüdische Volk die Erfahrung von Ausgrenzung und Verfolgung. Das leidvolle »Schicksal«, so unterstreicht Buber »Pein, Elend, Schmach, all dies hat unser Wesen, hat unsere Beschaffenheit mitgeformt.« (Buber, Jude und sein Judentum: 15) Doch gerade hieraus erwächst den in alle Welt verstreuten Juden die aus ihrem Bund mit Gott erwachsende zusammenhaltende Kraft zur Verwirklichung der ihnen aufgegebenen Zielperspektiven sittlichen Handelns. (Vgl. Buber, Der Jude und sein Judentum: 33) Während jedoch das traditionelle Judentum der Propheten noch gebunden war an »eine transzendente Gottesidee« und daher auf ein Eingreifen Gottes in die Geschichte, hoffte und hofft, muss sich das erneuerte Judentum der Gegenwart seiner Mitverantwortung für die Geschichte bewusstwerden – Geschichte ist kein Geschick, sondern eine mit in die eigenen Hände gelegte Aufgegebenheit. (Vgl. Buber Jude und sein Judentum: 35 f.) 465 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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Hierin gründet der oft übersehene religiöse Sozialismus, den Buber in Nachfolge von Gustav Landauer 9 verfolgt und den er in Pfade in Utopia. Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung (1946/1985) umreißt. »Seit drei Jahrzehnten empfinden wir, daß wir am Anfang der bisher größten Krisis des Menschengeschlechts leben. […] In den Zeiten seines Erdenwegs hat der Mensch das, was man seine Macht über die Natur zu nennen pflegt, immer mehr und in einem immer zunehmenden Tempo gesteigert […]. Zugleich aber hat er von einer Krisis zur andern immer tiefer zu spüren bekommen, wie brüchig all die Herrlichkeit ist«. (Buber, Pfade in Utopia: 244 f.) Die Überwindung der Krisis kann den Menschen nur durch eine radikale Umkehr gelingen, durch die sie sich – ihrer gegenseitigen Angewiesenheit bewusstwerdend – auf ihren geschichtlichen Auftrag besinnen, gemeinsam ein menschliches Zusammenleben aufzubauen, das zugleich ein Leben aus, mit und unter Gott ist. »Die Urhoffnung aller Geschichte geht auf eine echte, somit durchaus gemeinschaftshaltige Gemeinschaft des Menschengeschlechts.« (Buber, Pfade in Utopia: 251) Diese sittliche Perspektive in die Welt gebracht zu haben und – trotz aller Leiderfahrungen – an ihr weiterhin festzuhalten, ist die weltgeschichtliche Aufgabe des Volkes Israel. Von dieser dreifachen Kennzeichnung des Judeseins als Wandeln mit Gott, umreißt Buber in seiner Schrift Zwei Glaubensweisen (1950/1994) den Gegensatz von Judentum und Christentum. Es handelt sich hierbei um zwei verschiedene Glaubenserfahrungen: Die Glaubenserfahrung (emuna) der Juden, dem Glauben als Vertrauen auf Gott, und dem Glauben (pistis) der Christenheit, dem Glauben an eine verkündete Wahrheit. »In der einen ›findet sich‹ der Mensch ins Glaubensverhältnis gestellt, in dem andern ›bekehrt er sich‹ zu ihm. Der Mensch, der sich darin findet, ist primär Glied einer Gemeinschaft, deren Bund mit dem Unbedingten ihn mitumgreift und determiniert; der Mensch, der sich zu ihm bekehrt, ist primär ein Einzelner, zu einem Einzelnen Gewordener, und die Gemeinschaft entsteht als Verband der bekehrten Einzelnen.« (Buber, Zwei Glaubensweisen: 11) Zwar räumt Buber durchaus ein, dass auch unter Juden der Glaube als pistis vorkommt und auch Christen zur emuna vorzudrinGustav Landauer, Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk (1968). Vgl. Joachim Israel, Martin Buber. Dialogphilosophie in Theorie und Praxis (1995): 63 ff. und Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft (1997): 66 ff.
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gen vermögen, aber im Allgemeinen trifft der Gegensatz auf diese beiden Glaubensgemeinschaften zu. Denn die Glaubensgeschichte, an die die Christen immer wieder neu erinnern, ist der Glaube an die Menschwerdung Gottes in Christus. Die Glaubensgeschichte Israels, in die sich Juden erinnernd immer einbezogen wissen, ist dagegen das existentielle Vertrauen in Gottes schechina, in seine Anwesenheit in der Welt, nicht als ontologische Wesenheit, sondern als sinnstiftender Bezug und Begleitung des Volkes Israel in der Geschichte. Dieser Gegensatz wird – wie Buber sagt – bestehen bleiben, »bis das Menschengeschlecht aus den Exilen der ›Religionen‹ in das Königtum Gottes eingesammelt« sein wird. (Buber, Zwei Glaubensweisen: 183) Bubers Herausforderung an die Christen liegt jedoch insbesondere darin, die jüdische Glaubenshaltung auch bei Jesus herauszustellen. Buber ist ein Sympathisant und Verehrer der geschichtlichen Gestalt des Juden Jesus, der sich – wie selbst aus dem Neuen Testament hervorgeht – niemals als Gott stilisiert hat. Alles das, was die Christen an Jesu Leben und Lehre hervorheben, um es vom Judentum abzugrenzen, erweist sich gerade als seine tiefe Verwurzelung im Judentum. Wie kein anderer der jüdischen Philosophen versteht sich Buber in brüderlicher Verbundenheit zu Jesus – darum ist ihm die Heimholung von Jesus ins Judentum von entscheidender Bedeutung. Der Bruch zwischen jüdischem Glauben von Jesus zum Glauben an Christus wird erst von Paulus vollzogen sowie nach ihm – wenn auch mit anderen Akzenten – von Johannes, dem Evangelisten, und wird schließlich von den nachfolgenden Kirchenvätern vertieft. Durch die hierbei stattfindende Hellenisierung wird die jüdische emuna als Vertrauen in ein Leben mit Gott zu einem Glauben im Sinne von pistis an Christus umgewandelt. Demgegenüber – so betont Buber – hat im Grunde gerade Jesus, aus der jüdischen emuna heraus, von einem »tätigen Wandeln mit deinem Gott« gepredigt und sich bis zu seinen letzten Worten am Kreuz aus diesem verstanden. Das Volk Israel jedenfalls ist nicht nur in seiner Frühzeit, sondern auch auf seiner Wanderschaft durch die Exile von diesem Vertrauen durchdrungen. »Auch noch heute« – so schreibt Buber – »wenn ein chassidischer Rabbi an einem Scheideweg die Schechina, die ›Einwohnung‹ Gottes, vor sich her gehen sieht, ist etwas von der einstigen Führung dabei.« (Buber, Zwei Glaubensweisen: 180) In diesem Sinne erzählt Buber am Ende der ersten Rede über das Judentum (1909) eine Geschichte aus seiner Kindheit, ein geradezu 467 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Mit Gott im Gespräch – Zu Cohen, Buber und Rosenzweig
jesuanisches Gleichnis, das Schlüsselcharakter für sein ganzes Denken hat: »Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: ›Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.‹ Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: ›Worauf wartet er?‹ Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst viel später verstehen gelernt habe; er sagte: ›Auf dich‹.« (Buber, Der Jude und sein Judentum: 18)
15.3 Franz Rosenzweig Zunächst scheinen diese beiden Herausforderungen an das Christentum von Rosenzweig nicht wiederholt zu werden. Weder stellt Rosenzweig in Abrede, dass die Christen denselben Gott in seiner Einzigkeit meinen wie die Juden, noch hält er ihnen vor, dass sie zu allererst an Jesus ihren Christus glauben. Rosenzweigs jüdische Glaubensphilosophie erwächst von vornherein aus dem Gespräch mit seinen christlichen Freunden und Verwandten – vor allem mit Hans Ehrenberg, Eugen Rosenstock, Rudolf Ehrenberg und Viktor von Weizsäcker. 10 Seine Herausforderung an die Christen besteht nur darin, dass er von ihnen erwartet, dass sie sein und aller Juden Judesein so respektieren, wie er ihr und aller Christen Christsein anerkennt. Deshalb behandelt er im dritten Teil des Stern der Erlösung (1921), dem Hauptwerk seiner Glaubensphilosophie, beide – Judentum und Christentum – als zwei zusammengehörende Glaubensgemeinschaften, die er in ihren gegensätzlichen Sinngebungen ihres Glaubens phänomenologisch je aus ihnen selbst heraus bedenkt und darstellt. Ausdrücklich bezieht Rosenzweig also neben dem Judentum, das in Treue am ursprünglichen Bund mit Gott festhält, das Christentum – und nur das Christentum – in den messianischen Auftrag mit ein, die Völker zum einzigen Gott zu führen. Zusammen werden sie durch den aus zwei entgegengesetzten Dreiecken gebildeten Sechsstern symbolisiert. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart, das ewige Volk zu sein, dies findet sein Symbol im feurigen Kern des Sechssterns. Auf Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991).
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Franz Rosenzweig
diese verheißene Gewissheit hin, das ewige Volk zu sein, ist auch der Kreislauf der jüdischen Feste und Gebete bestimmt. (Rosenzweig, Stern, GS II: 331) Der Bund Gottes mit dem Volke Israel wird von beiden Seiten bezeugt durch den Fortbestand des jüdischen Volkes. Doch muss das jüdische Volk für seine Treue zum Bund mit Gott, durch den es ewiges Leben erlangt, seit fast zwei Jahrtausenden schon mit dem Ausschluss aus der Weltgeschichte bezahlen, es besitzt als Volk kein eigenes Land, keine eigene Sprache, kein eigenes Gesetz mehr. Die Juden wohnen verstreut unter den Völkern in fremden Ländern, nur in ihrem Herzen brennt die Sehnsucht nach ihrem »heiligen Land«, sie sprechen die Sprachen fremder Völker, nur in der Thora und ihrer Auslegung lebt ihre »heilige Sprache« fort, sie fügen sich den Gesetzen fremder Staaten, nur in ihren intimsten Lebensbereichen halten sie an ihrer »heiligen Gesetzeslehre« fest. 11 Völlig anders ist das Leben der christlichen Völker ausgerichtet, das Rosenzweig durch die sechs nach außen gerichteten Strahlen des Sterns symbolisiert sieht. (Rosenzweig, Stern, GS II: 374 ff.) Das Christentum ist eine über alle Völker ausgreifende Gemeinschaft derer, die an Christus glauben und ihm nachfolgen. Daher wendet sich das Christentum an jeden als Glaubenden, und es kann sich nur durch den Glauben jedes Einzelnen und seine zeugnisgebende Weitergabe hindurch fortpflanzen. Das Band ihrer Brüderlichkeit ist der gemeinsame Glaube an Christus den Gekreuzigten, ihren Heiland. Auf seinen Erdenwandel bezieht sich die Liturgie aller christlichen Jahresfeste. Sie verweisen auf Christus als dem Vermittler des neuen Bundes der Glaubenden mit Gott. Aus dieser Mittlerrolle erwächst den Christen jedoch eine eigentümliche – den Juden unbegreifliche – Gespaltenheit der christlichen Wegorientierungen, die sich bezogen auf Gott, Mensch und Welt in der Trennung von »Vater und Sohn«, »Priester und Heiliger« sowie »Staat und Kirche« niederschlägt. (Rosenzweig, Stern, GS II: 382) Aber das Entscheidende für Rosenzweigs Glaubensphilosophie liegt in dem Angebot einer jüdisch-christlichen Partnerschaft über das unaufhebbar Trennende hinweg. Denn auch nach jüdischer Lehre kann das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle Völker heimgekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche Lehre
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Von Rosenzweig so beschrieben zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
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bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. »Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. Er kann keinen entbehren. Zwischen beiden hat er in aller Zeit Feindschaft gesetzt und doch hat er sie aufs engste wechselseitig aneinander gebunden.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 462) Weder im jüdischen Glauben, der im verheißenen ewigen Leben des jüdischen Volkes wurzelt, noch im christlichen Glauben, dem die Erlösung aus der Nachfolge des ewigen Wegs verheißen wird, liegt bereits die ganze Wahrheit. Beide – der Jude und der Christ – können aneinander ihre Grenze und ihren Halt erfahren. So sind beide – getrennt in ihren Glaubenswegen – doch gegenseitig aufeinander angewiesen, damit sich ihr Auftrag erfülle. Nur wechselweise sind sie Garanten ihrer Verheißungen – nur gemeinsam sind sie der von Gott entzündete, feurig-strahlende Stern der Erlösung. Keine der beiden Glaubensgemeinschaften vermag, zur ganzen Wahrheit zu gelangen, die nur bei Gott selbst liegt. In ihm als Schöpfer, Offenbarer und Erlöser ruhen Ursprung, Mitte und Zielpunkt der Wahrheit. Den Juden und Christen offenbart sich seine Wahrheit je nur anteilmäßig in der Sinnerfahrung ihres Lebens. »Gott ist die Wahrheit – dieser Satz, mit dem wir ein Äußerstes des Wissens zu erschwingen meinten – sehen wir näher zu, was denn Wahrheit sei, so finden wir, daß jener Satz nur das innigst Vertraute unserer Erfahrung uns mit andrem Wort wiederbringt; […] daß er Wahrheit ist, sagt uns zuletzt doch nichts anderes, als daß er – liebt.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 432) Der Mensch, der die geschöpfliche, sprachliche und sittlich-fordernde Wahrheit Gottes erfährt, vermag, der ihm zuteilgewordenen Wahrheit existentieller Wirklichkeit nur dadurch zu genügen, dass er sie durch sein Handeln im Alltag bewährt – wie Rosenzweig, in diesem Punkt ganz wie Cohen und Buber argumentierend, im Schlusskapitel »Tor« ausführt: »Einfältig wandeln mit deinem Gott – nichts weiter wird da gefordert als ein ganz gegenwärtiges Vertrauen. […] Es ist das Allereinfachste und grade darum das Schwerste. Es wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tor […]. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 472) Von diesen grundsätzlichen Überlegungen her versucht Rosenzweig – anknüpfend an Gespräche mit seinen christlichen Freunden, vor allem aber mit Hans Ehrenberg – auf Schellings christliche Visio470 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Franz Rosenzweig
nen eines künftigen johanneischen Christentums einzugehen. 12 Zunächst skizziert Rosenzweig den Schellingschen Gedanken der kirchengeschichtlichen Abfolge der petrinischen, paulinischen und johanneischen Epoche, um dann mit Hans Ehrenberg zu betonen, dass die noch ausständige Johannesgemeinde keine neue Gestalt des Christentums sein wird, sondern sich nur in der Besinnung auf das gemeinsame, übergreifende Band in den bestehenden christlichen Kirchen – einschließlich der orthodoxen – zu erfüllen vermag. (Rosenzweig, Stern, GS II: 316) Für Rosenzweig ist aber als entscheidender Zusatz wichtig, dass in dieses aufgeklärte, aber zugleich gläubige Grundverständnis eines johanneischen Christentums in den modernen christlichen Staaten auch die Juden als Juden partnerschaftlich einbezogen werden: »Und auch das andre große kirchengeschichtliche Ereignis […], die Befreiung und Aufnahme der Juden in die christliche Welt, wirkt sich gleichfalls nicht in einer neuen kirchlichen Bildung aus, sondern wieder nur in einer Neubelebung der alten Kirchen, und hier allerdings, aus dem ewigen, von Haus aus gotteskindlichen Volk der Hoffnung, strömt unmittelbar die Grundkraft der neuen vollendeten Welt […], so ist es in dieser beginnenden Erfüllung der Zeiten wohl der in die christliche Welt aufgenommene Jude, der den Heiden im Christen bekehren muß.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 317) 13 Explizit besteht also Rosenzweigs Herausforderung an die Christen nur in der Anmutung gegenseitiger Anerkennung. Implizit bleiben aber die beiden von Cohen und Buber formulierten Herausforderungen weiterhin bestehen. Zwar gesteht Rosenzweig den Christen durchaus zu, dass sie für ihren Weg zu Gott, Jesus ihren Christus als Mittler brauchen, nur müssen sie anerkennen, dass die Juden ihren Glaubensbruder als Mittler nicht brauchen, da sie schon bei Gott, ihrem Vater sind. »Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn [Johannes 14,6]. Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht,
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung (1832), (1992). 13 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006), darin: »Die Vision einer Gemeinschaft von Juden und Christen« (91 ff.). Siehe auch das Kapitel 13: »Rosenzweigs neues, existentielles Denken und die Wahrheit Gottes«. 12
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weil er schon bei ihm ist Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel.« (Rosenzweig, Briefe, GS, I: 134 f.) Für Juden ist die Verehrung von Jesus als Gott genauso wie die Vermengung Gottes mit einem Menschenkind pure Gotteslästerung, daran kann auch für Rosenzweig kein Zweifel bestehen.
15.4 Nachbemerkung Bewusst wurde hier aus den jüngsten interreligiösen Glaubensdisputen das Wort »Gotteslästerung« übernommen, das so wörtlich bei Rosenzweig oder den beiden anderen jüdischen Denkern nicht vorkommt, um damit zu unterstreichen, dass die Kernaussagen einer Glaubensgemeinschaft in ihrem orthodoxen, dogmatischen, fundamentalistischen Gehalt aufgenommen von den jeweils anderen Glaubensgemeinschaften – und hier wollen wir den Islam ausdrücklich mit einbeziehen – als Gotteslästerung wahrgenommen werden müssen. Das Erschrecken einiger heutiger Kirchenfürsten mutet seltsam an, wenn sie diese Selbstverständlichkeit erst nach zweitausendjährigem bzw. vierzehnhundertjährigem Glaubensstreit plötzlich für sich zu entdecken beginnen. An wahren interreligiösen Glaubensgesprächen können überhaupt nur Philosophen der verschiedenen Glaubensgemeinschaften teilnehmen, das war bereits im Mittelalter so, und das ist heute nicht anders. Es gehört zum interreligiösen Glaubensgespräch von vornherein die Bereitschaft, eigene Glaubensinhalte immer wieder reflexiv auf den in ihnen gemeinten Wahrheitsgehalt in Frage zu stellen. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei ausdrücklich hinzugefügt, dass auch reine, nicht konfessionsgebundene Philosophen an solchen Glaubensgesprächen nur dann teilnehmen können, wenn sie ihrerseits religiöse Fragen als Sinnprobleme ernstzunehmen vermögen. Für unseren Themenzusammenhang von besonderer Bedeutung ist nun der christliche Philosoph und Pastor Hans Ehrenberg, ein Vetter von Franz Rosenzweig und einer seiner wichtigsten philosophischen und theologischen Gesprächspartner. 14 Ehrenberg gelingt es, in seinem Buch Die Heimkehr des Ketzers. Eine Wegweisung (1920) nicht nur eine Deutung von Jesus als Christus zu Siehe das Kapitel 12 »Ehrenberg – Vom theologischen Philosophen zum philosophischen Theologen«.
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Nachbemerkung
entwickeln, die den vernunftwidrigen Dogmen entkommt, sondern er vermag mit seiner philosophischen Durchdringung des Christentums der jüdischen Herausforderung eine christliche entgegenzustellen. »Was ist das alte Dogma anderes als die christliche Heilswahrheit in Form heidnischer Begriffe? Der heidnische Geist spricht von Naturen und Substanzen, von Personen und Ein- oder Vielheit; der christliche Geist muß von Namen und Geschicken, von Taten und Worten reden […]; der heidnische Gedanke ist fleischgewordene Menschheit, der christliche fleischgewordene Gottheit.« (Ehrenberg, Heimkehr: 60) Die Trinität ist für Ehrenberg keine Substanzen- oder Personenlehre, sondern – ganz wie bei Rosenzweig – das dreifache Sich-Zeigen Gottes durch Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. »Nur die erste Person der Trinität ist auch Gott selber […]. Denn Er ist allein ungeworden, der Sohn aber erzeugt als die Menschwerdung göttlichen Wesens, und der Geist ausgegangen als die Verleiblichung göttlichen Wesens.« (Ehrenberg / von Bubnoff (Hg.), Östliches Christentum, II: 397 f.) Nun darf man auch diese theologische Aussage nicht wiederum substantivisch missverstehen, denn die »Menschwerdung göttlichen Wesens« ist nichts anderes als das Wortwerden des göttlichen Logos im Menschen, und die »Verleiblichung göttlichen Wesens« ereignet sich nirgends anders als in der Erfüllung des Liebesgebotes durch die Menschen. In diesem Sinne versteht Hans Ehrenberg Jesus von Nazareth als einen Menschen, in dem Gottes Logos Fleisch geworden ist und der uns darin zur Nachfolge aufruft. Ausdrücklich führt Ehrenberg in der Heimkehr des Ketzers aus: »Jesus ist nicht Sohn Gottes, nein, er wird es. Und weil er Erfüllung, weil er Sohn wird, so ist er es schon immer: Erfüllung und Sohn! […] Von der Stimme Gottes am Jordan und der Taube des göttlichen Geistes geht die Linie dieses Lebens bis zu dem Kreuz auf Golgatha und bis zum Worte: es ist vollbracht! […] Wenn wir das Leben Jesu so erleben, dann kränken wir nicht seinen eigenen Glauben und seine Herkunft aus dem alten Bund und gewinnen doch im Gekreuzigten und Auferstandenen den reinen Christus unserer Hoffnung.« (Ehrenberg, Heimkehr: 33 f.) Die christliche Gegenherausforderung Ehrenbergs an die Juden liegt darin, dass er nicht nur auf ihre herausfordernden Anfechtungen eingeht, sondern dass er bei aller Anerkenntnis der fortdauernden Berechtigung des Judentums der jesuanischen Botschaft doch philosophisch noch ein Mehr über die jüdische Offenbarung hinaus 473 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Mit Gott im Gespräch – Zu Cohen, Buber und Rosenzweig
abgewinnen kann: »Im Judentum ist der Erwählte nur der Empfänger der göttlichen Botschaft […]. Aber Jesus kündet in der Liebe, denn sein Künden fließt aus ihm selbst; in ihm selbst ist die Stimme Gottes. […] Jesus ist unser Christus, weil er uns den Anfang der Erlösung vermittelt.« (Ehrenberg, Heimkehr des Ketzers: 29) Zum Schluss sei nochmals daran erinnern, dass es jüdische und christliche Philosophen sind, die hier in einen interreligiösen Dialog eintreten, denn von den fundamentalistisch verstandenen Dogmen her können Religionen allenfalls zu einem gegenseitigen politischen Tolerieren kommen. Die permanent zu erneuernde philosophische Besinnung auf die eigenen Glaubensinhalte tut allen Religionen gut, für einen interreligiösen Dialog aber ist die Philosophie unentbehrlich. Von der philosophischen Beobachterrolle aus, die wir in diesem Bericht über die verschiedenen Herausforderungen eingenommen haben, können wir abschließend nur sagen: Die Christen tun gut daran, die von den jüdischen Philosophen an sie herangetragenen Herausforderungen sehr ernstzunehmen, denn nach wie vor gilt der kantische Satz: »[E]ine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten.« (Kant, Religion, IV: A XVIII f.) Aber wir müssen ebenso zugeben, dass die philosophische Interpretation der jesuanischen Botschaft durch Ehrenberg etwas am Christentum herauszuarbeiten vermag, was eine nicht abweisbare christliche Herausforderung an das Judentum darstellt. Auf die Fortführung des Gesprächs jüdischer und christlicher Philosophen müssen wir – auch unter Einbeziehung der Philosophen anderer Glaubensrichtungen – unsere Hoffnungen für einen Frieden stiftenden interreligiösen Dialog, ja wohl auch für ein menschliches Überleben der Menschen richten.
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16. Philosophie der Offenbarung – Bemerkungen zu Schelling, Jaspers und Rosenzweig 1
Religion und Philosophie erwachsen aus unterschiedlichen Quellen des Bewusstseins: die Religion aus dem existentiellen Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (Schleiermacher) und die Philosophie aus dem Bedürfnis, sich im Weltzusammenhang begreifen zu wollen (Hegel). Im mythischen Denken (Ernst Cassirer) 2 ist beides noch eng miteinander verschlungen. Erst mit der Entstehung der Staatsreligionen in den Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens bildet sich eine Priesterschaft mit eigenen theologischen Schulen einerseits heraus und andererseits – als singuläre Erscheinung – in der griechischen Antike die reine Philosophie als theologisch unabhängige Denkbewegung. Einmal als eigene Gestalten hervorgetreten, geraten sie in Konkurrenz und versuchen, sich gegenseitig zu überwältigen. Bezogen auf die monotheistischen Religionen, die die vorhergehenden Staatsreligionen verdrängten und ersetzten, lassen sich markante Unterschiede des Zusammentreffens von Philosophie und Religion ausmachen. Der jüdische Monotheismus hat die geringsten Schwierigkeiten mit der Philosophie. Im Judentum konnten Vernunft und Glaube am leichtesten miteinander verschmelzen. Der Islam, bereits als Antwort auf den uneindeutigen Monotheismus des Christentums entstanden, Dieser Beitrag: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Philosophy of Revelation: Remarks on Schelling, Jaspers, and Rosenzweig« erschien zunächst – von Josiah Simon ins Englische übersetzt – in: Helmut Wautischer, Alan M. Olson, Gregory J. Walters (eds.), Philosophical Faith and the Future of Humanity – To the Memory of Leonard H. Ehrlich, (2012): 147–157; eine erweiterte deutsche Fassung erschien unter dem Titel »Religion als symbolische Form und/oder als Offenbarung« in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik / Helmut Schneider (Hg.), Zwischen den Kulturen. Im Gedenken an Heinz Paetzold, (2012): 231–247. 2 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1924/1956), II: 3 ff. Vgl. Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext (1994). 1
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Philosophie der Offenbarung – Schelling, Jaspers und Rosenzweig
erlebte vom 9. bis zum 14. Jh. u. Z. ein unglaublich fruchtbares Ringen von Vernunft und Glaube, das durch die Zerstörung der beiden intellektuellen Zentren im vormaligen Großsyrien und in Iberien mit einer dogmatisch verordneten und bis heute fortwirkenden Unterjochung der Vernunft unter den Glauben endete. 3 Ganz anders verlief die Auseinandersetzung im christlichen Abendland, das seit dem 12. Jh. die bereits elaboriertere Diskussion aus dem Islam aufnahm. Da das Christentum aufgrund der immanenten Verschränkung von Monotheismus und Mythologie am meisten auf die Philosophie angewiesen war, denn die Zwei-Naturen-Lehre, die Dreieinigkeit, die Auferstehung etc. sind ohne große philosophische Anstrengungen nicht mit dem Monotheismus vereinbar, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gründlich mit der Philosophie einzulassen. 4 Während es am Anfang dieses Ringens im abendländischen Mittelalter zu massiver Knebelung und brutaler Unterdrückung philosophischen Denkens kam, setzte sich ab dem 15. Jh. mit der Renaissance und ab dem 17. Jh. mit der Aufklärung schrittweise die Philosophie durch, so dass Kant 1793 in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bereits sagen kann: »[E]ine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten.« (Kant, Religion, IV: A XVIII f.) Damit ist aber keineswegs ein A-Theismus oder eine A-Religiosität angesprochen, wie sie später ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert verkündet und in den heutigen Wissenschaften und in der gegenwärtigen Lebenspraxis der westlichen Industrienationen zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden ist, sondern die philosophische Vernunft behauptet hier nur ihre vollständige Unabhängigkeit vom konfessionellen Glauben. Innerphilosophisch wird im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Religion und Philosophie wohl am entschiedensten von Hegel und Schelling, den ehemaligen Jugendfreunden, kontrovers durchdacht. Natürlich gibt es auch kontroverse innerreligiöse Debatten über das Verhältnis von Glaube und Vernunft – beispiels-
Vgl. Mohamed Turki, Einführung in die arabisch-islamische Philosophie (2015). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit. Philosophische Reflexionen zur Kulturanthropologie und zu Interkulturellen Philosophie (2017): 185 ff. 3 4
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Philosophie der Offenbarung – Schelling, Jaspers und Rosenzweig
weise von Schleiermacher und Karl Barth oder Karl Rahner und Joseph Ratzinger 5 –, auf die wir jedoch hier nicht eingehen werden. Um die Differenz philosophischer Klärung vorweg zu benennen, kann man sagen, dass für Hegel die Vernunft den Glauben zwar nicht auflöst, wohl aber in sich aufhebt, so dass die Religion in der Philosophie der Religion kumuliert. Demgegenüber bleibt für Schelling der Glaube – ähnlich wie bei Schleiermacher – in der menschlichen Existenz verwurzelt, und die Vernunft hat nur die Aufgabe, diese Verwurzelung klärend aufzuhellen. 6 Im letzten gründet die Differenz von Schelling und Hegel in der zwischen ihnen erneut aufbrechenden Gigantomachie. Durch Schellings späte Idealismus- und Hegel-Kritik bricht der Gigantenkampf zwischen den Seins- und den Ideenfreunden, den Platon (Sophistes, 246 a ff.) bereits dialektisch aufgehoben wähnte, erneut in ungeahnter Differenziertheit und Radikalität auf. Eine Zeitlang schien Hegel mit seinem philosophischen System des absoluten Idealismus den Sieg für die Ideenfreunde eindeutig und abschließend errungen zu haben. Doch siehe, da erhebt sich sein Jugendfreund Schelling, der einst den absoluten Systemgedanken mit entworfen hatte, und tritt als Idealismuskritiker gegen Hegel an. Hegel hat – den Grundgedanken des Parmenides dialektisch zu Ende führend – die Einheit von Denken und Sein als die übergreifende Einheit des Geistes über sich selbst als Denken und sein Anderes, das Sein, gefasst. Mit diesem absoluten Idealismus glaubt Hegel, eine wahrhaft voraussetzungslose Philosophie vollendet zu haben, denn sie selbst ist im Nachvollzug aller Gestalten des begriffenen Seins zugleich Selbsterkenntnis des alles durchdringenden absoluten Geistes. (Hegel, Logik I, 5: 65 ff.) Aber Hegels Philosophie lebt aus einer Voraussetzung, die sie nicht einzuholen vermag, da sie in einer Verleugnung besteht. Denn indem sie sich selbst für voraussetzungslos erklärt, setzt sie voraus, dass nur das Denken sei, das das Sein als seine Prädikation setzt und daher auch zu sich als übergreifenden Geist einzuholen vermag. (Hegel, Logik II, 6: 548 ff.) Damit wird das Sein nicht als das Andere des
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube (1821), 1960. Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, I: Die Lehre vom Worte Gottes, Prolegomena (1927), 1982. Karl Rahner / Joseph Ratzinger, Offenbarung und Überlieferung (1965). Joseph Ratzinger, Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung (2007). 6 Siehe hierzu die Kapitel 5 und 6 in diesem Band. 5
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Philosophie der Offenbarung – Schelling, Jaspers und Rosenzweig
Denkens, sondern nur als sein Anderes, das vom Denken zu Begreifende und Begriffene gedacht. Dieser absolute Idealismus Hegels ist zwar in seiner Dialektik des Übergreifens genial, aber er verleugnet – vom ersten Gedanken an – das Sein in seiner Eigenständigkeit des Existierens, das seinerseits das Denken als Existierendes mit umgreift. Dies eben ist es, worum es Schelling immer schon geht, was er aber erst in seiner Spätphilosophie als Kritik an Hegels absolutem Idealismus klar herauszuarbeiten vermag. (Schelling, Geschichte der neueren Philosophie, X: 126 ff.) 7 Zwar bleibt das Begreifen der Wirklichkeit in all ihren Gestalten eine wichtige Aufgabe der Philosophie als System, die Schelling als die rein-rationale oder negative Philosophie bezeichnet. (Schelling, Rein-rationale Philosophie, XI: 255 ff.) Aber ein solches Begreifen macht die Wirklichkeit zwangsläufig zu einem Objekt, zu seinem Objekt, d. h. das Denken ist hier von Anfang an das alleinige Subjekt, das alles Seiende als sein Objekt zu sich als umgreifenden Geist einholt – wie dies Hegel durchaus treffend darlegt. Dies kann aber nur eine Umschreibung des Erkennens darstellen, erreicht aber nicht unsere existentiell-praktische Positionsfindung in der geschichtlichen Welt, in der das Denken selbst gründet. Gerade aber um diese ist es Schellings positiver Philosophie zu tun, denn als denkende Individuen finden wir uns unvordenklich in die geschichtliche Existenz gestellt vor, die sicherlich niemals ganz vom erkennenden Begreifen eingeholt werden kann. Um dieser unvordenklichen Existenz überhaupt angemessen begegnen zu können, muss sich das Denken in eine »Ekstasis« – wie Schelling sagt – seines vorrangigen »Wissen-Wollens« begeben, um das Andere der Existenz in seiner Eigenständigkeit des Existierens hervortreten zu lassen und sich und die Welt aus ihm her verstehen zu können. (Schelling, Philosophie als Wissenschaft, IX: 229 f.) Erst danach kann sich das Denken wieder erheben und fragen, wie es sein existentielles Sein aus dem Vorrang der Existenz, der sich ereignenden Geschichte, zu erfassen vermag. Dieser positiven Philosophie Schellings geht es nicht um ein Begreifen der Welt im Allgemeinen, sondern um unsere je eigene Positionsfindung in der sich
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 262 ff.
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ereignenden Geschichte, in der wir uns sittlich-praktisch zu bewähren haben. 8 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beginnen eine Reihe von jungen Denkern – aus ganz verschiedenen Richtungen herkommend – die vorherrschende Schulphilosophie, die nur auf ein Erkennen des Allgemeinen zielt, auf ein neues existentielles Denken hin zu überwinden. Auf unser Problem der Religion als Offenbarung bezogen, möchten wir hier nur auf die philosophischen Ansätze von Franz Rosenzweig und Karl Jaspers eingehen, die sich ihrerseits mit unterschiedlichen Akzentsetzungen auf Schellings Kritik an Hegels Idealismus rückbeziehen. 9 Beide – Rosenzweig wie Jaspers – sind fasziniert von Schellings Aufbruch zu einer Existenzphilosophie und verstehen sich durchaus aus der Nachfolge Schellings, doch halten sie Schellings Durchführung seiner positiven Philosophie, die in der Philosophie der Offenbarung gipfelt, für misslungen, ziehen aber daraus ganz unterschiedliche Konsequenzen. Für Rosenzweig – hierin seinem Vetter Hans Ehrenberg folgend 10 – spielt die Hegel- und Idealismus-Kritik Schellings und damit seine Wende von der negativen zur positiven Philosophie die fundierende Rolle in seinem Denken, daher versteht er seinen Stern der Erlösung (1921) als die Zu-EndeFührung dessen, was Schellings Philosophie der Offenbarung nicht ganz gelang. Jaspers dagegen würdigt zwar Schellings Anliegen einer positiven Philosophie, die er aber in ihrer Durchführung für gnostische Schwärmerei erachtet, der er eine Philosophie der »Existenzerhellung« entgegensetzt, die den Offenbarungsglauben auf einen »philosophischen Glauben« hin zu überwinden versucht. 11
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016): 175. 9 Vgl. Leonard H. Ehrlich, »Neues Denken und Erneuerung der Fundamentalphilosophie«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs »neues Denken«, 2 Bde. (2006), I: 66 ff. 10 Hans Ehrenberg, Die Parteiung der Philosophie. Studien wider Hegel und den Kantianismus (1911/1998), siehe auch das Kapitel 12: »Ehrenberg – Vom theologischen Philosophen zum philosophischen Theologen«. 11 Karl Jaspers, Der philosophische Glaube (1948); Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) sowie Schelling. Größe und Verhängnis (1955). 8
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Philosophie der Offenbarung – Schelling, Jaspers und Rosenzweig
16.1 Schellings Philosophie der Offenbarung Die positive Philosophie kann für Schelling geschichtlich durch die Philosophie der Mythologie und der Philosophie der Offenbarung expliziert werden, wie er sie seit 1832 in München und dann ab 1841 in Berlin vorträgt. 12 Die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung stellen Schellings großangelegte Philosophie der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit dar, allerdings gleichsam brennpunktartig allein auf das »nothwendig Gott-setzende Bewußtsein« konzentriert, das sich darin zugleich als von Gott gesetztes Bewusstsein erweist. Es geht Schelling hierin um das geschichtliche Zusich-selber-Kommen des menschlichen Bewusstseins, der menschlichen Freiheit, in seiner Bezogenheit auf das Absolute: im Angesicht Gottes. (Schelling, Philosophie der Mythologie, XII: 119 f.) 13 Geschichtliche Philosophie meint hier nicht Vergangenheitserzählung oder allgemeine Erkenntnis der Geschichtlichkeit unseres Daseins, sondern Standortfindung für die je eigene gegenwärtige Entschiedenheit mit ihrem Richtungshorizont auf die noch ausständige und in die menschliche Mitverantwortung gestellte Zukunft. Die Philosophie der Mythologie ist von unserer gegenwärtigen Freiheit her gesehen gleichsam als Vorvergangenheit gesetzt. In ihr vergegenwärtigen wir uns die bewusstlos-naturwüchsige Geschichte menschlichen Bewusstwerdens bezogen auf das Absolute, die vorbewusste Geschichte zur Freiheit des Bewusstseins. Die mythologischen Götterwelten und der theogonische Prozess, der sich durch die Mythengeschichte vollzieht, sind keine willkürlichen Erfindungen der Menschen, sondern hier drückt sich ein sehr realer und mächtiger, in seiner Naturwüchsigkeit notwendiger Bewusstseinsprozess aus, in dem die noch nicht zu sich selber gekommenen Bewusstseinspotenzen verselbständigt als Götter und Götterkämpfe das menschliche BeFriedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung (1832/1992). 13 Mit dem »nothwendig Gott-setzenden Bewußtsein« nimmt Schelling nicht nur die Religionskritik von Ludwig Feuerbach vorweg, die er gleichzeitig kritisch überhöht, sondern bezieht vorweg auch Ernst Cassirers Bestimmung der Religion als symbolische Form in seinen Gedankengang ein, gibt ihr aber zugleich eine existentielle Fundierung. Denn alles Bewusstsein ist »nothwendig« auf das Existieren schlechthin bezogen, dem es selbst mit zugehört. Insofern ist das wahrhaft Übergreifende nicht das Denken, sondern die »unvordenkliche Existenz«, in die sich der Mensch – geschichtlich existierend – denkend und handelnd einzubeziehen hat. 12
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wusstsein beherrschen. Nur so ist erklärlich, dass der mythologische Prozess ein kollektives Geschehen ist, welches das menschliche Bewusstsein so total okkupiert, dass es zu allen möglichen Formen von Menschenopfern, behexender Magie und religiöser Ekstase getrieben werden kann. Erst in seiner späten Form des Kunstmythos und seiner Verarbeitung in der Tragödie in der griechischen Antike ringt sich das menschliche Bewusstsein zur Selbstbewusstwerdung durch, allerdings noch ganz im tragischen Gegensatz zur Übermacht des Schicksals begriffen. Dies verdeutlicht Schelling an der Gestalt des Prometheus. (Schelling, Philosophie der Mythologie, XII: 482) Mit der Philosophie der Offenbarung treten wir in die Geschichte menschlicher Freiheit ein. Die Gestalt, in der uns diese Freiheit bewusst wird, ist – nach Schelling – Jesus von Nazareth. In Jesus von Nazareth ist das menschliche Bewusstsein in die völlige Unabhängigkeit seiner Freiheit getreten, und doch setzt es sich dabei nicht absolut, sondern bekennt sich zu seiner Herkunft aus Gott, seiner Abkunft als Sohn vom Vater. Gerade durch dieses Bekenntnis des Jesus von Nazareth, indem er bekennt: ›nicht ich bin Gott‹, sondern ›ich bin gesandt vom Vater‹ ; gerade durch diese Freiheitstat – so Schelling – wird Jesus zu Christus. »Der Sohn konnte unabhängig von dem Vater in eigener Herrlichkeit existieren, er konnte […] außer und ohne den Vater Gott, nämlich Herr des Seins, zwar nicht dem Wesen nach, aber doch actu Gott sein. Diese Herrlichkeit aber, die er unabhängig von dem Vater haben konnte, verschmähte der Sohn, und darin ist er Christus. Das ist die Grundidee des Christentums.« (Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIV: 37) Durch diese bleibende Differenz zwischen Vater und Sohn, Gott und Mensch eröffnet sich ein dritter Horizont, nämlich der noch ausstehende und uns mitaufgegebene Horizont der Vereinigung von Vater und Sohn, Gott und Mensch, im Geiste der »Liebe«. (Schelling, Freiheit, VII: 408) 14 Hiermit treten wir – nach Schelling – in die Gegenwart unseres Freiheitsbewusstseins ein. Aber es wird noch lange dauern, bis sie wirklich unsere eigene Freiheit sein wird. Dies ist die Geschichte der Nachfolge Christi, d. h. der bewussten Aneignung unserer Freiheit; es ist dies die Geschichte des Christentums, die für Schelling noch nicht abgeschlossen ist. Da ist zunächst einmal die katholische Kirche des Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991), darin das Kapitel: »Vom Totalexperiment des Glaubens. Kritisches zur positiven Philosophie Schellings und Rosenzweigs«: 51 ff.
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Petrus, in der die menschliche Freiheit noch durch die Autorität der Kirche repräsentiert wird und die in ihren Momenten der Christvergessenheit sich selbst als menschliche Institution absolutsetzt und mit grausamer Gewalt gegen alle ihr nicht Hörigen vorgeht, und da ist zum zweiten die im Protestantismus Gestalt annehmende Kirche des Paulus, in der jeder Einzelne für sich in die Freiheit der Nachfolge berufen ist, die in ihren Momenten der Christvergessenheit zur absoluten Selbstherrlichkeit des Menschen mit all seinen Praktiken der Durchsetzung seiner Interessen entartet. In dieser Epoche der Zerrissenheit dieser beiden Gestalten des Christentums und ihrer Entartungen stehen wir heute, aber mit einer Hoffnung und einem Drängen auf eine künftige Gemeinde des Johannes hin, die eine bewusste und solidarische Gemeinschaft der Freiheit und der Liebe sein wird. (Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, II: 701 ff.)
16.2 Jaspers’ Kritik der Philosophie der Offenbarung Karl Jaspers’ Kritik an Schellings Philosophie der Offenbarung ist keineswegs eine Kritik von außen, sondern sie ist eine Kritik, die Schellings Anliegen durchaus ernstnimmt, aber dessen Misslingen in der Durchführung er aufzudecken versucht. Zunächst unterstreicht Jaspers, dass Schelling keineswegs von einem Offenbarungsglauben ausgehe, also keineswegs als Philosoph eine Wendung zur Exegese des christlichen Glaubens vollzogen habe. So hebt Jaspers hervor, dass die Offenbarung bei Schelling nicht als Quelle, sondern als Gegenstand seines Philosophierens zu verstehen ist. (Jaspers, Schelling: 59, 103) Unter Offenbarung als Quelle versteht Jaspers eine »unmittelbare, zeitlich und räumlich lokalisierte Kundgabe Gottes durch Wort, Forderung, Handlung, Ereignis«. (Jaspers, Philosophischer Glaube angesichts der Offenbarung: 49) Sie wird begründet und tradiert durch Propheten, Apostel und Priester, und sie wird durch Institutionen gesichert, die die religiöse Glaubensgemeinschaft zusammenhält. Auf all das beruft sich Schelling nicht, vielmehr strebt er – wie er selber sagt – auf eine noch ausständige »philosophische Religion« hin (Schelling, Philosophie der Offenbarung, XIII: 133; Jaspers, Schelling: 60, 105), zu der er über seine philosophisch-religionsgeschichtliche Durchdringung der Mythologie und des christlichen Offenbarungsglaubens zu gelangen hofft. 482 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Jaspers’ Kritik der Philosophie der Offenbarung
Erst hier setzt die eigentliche Kritik Jaspers’ an, denn so sehr Schellings Philosophie der Mythologie und Philosophie der Offenbarung einerseits eine Pionierleistung für das philosophische Verständnis des Mythos und des Christentums darstellt, so versteht Schelling doch andererseits die religiösen Aussagen zu sehr als geschichtliche Faktizitäten, anstatt sie als geschichtliche Chiffren für die Transzendenz zu nehmen. Obwohl Schelling selber seine positive Philosophie als eine »Existentialphilosophie« 15 versteht, die über die Vernunftwissenschaft der negativen Philosophie hinaus zu einer positiven Sinnfindung des Menschen in seiner geschichtlichen Existenz zu kommen versucht, gelingt es ihm »kaum, aus eigener existentieller Erfahrung eine Chiffer zu finden, die ergriffe«. (Jaspers, Schelling: 107) Seine Ausführungen gleiten immer wieder in ein »gnostisches Wissen« um die »letzten Dinge« ab. Damit versucht Schelling, wie es ihm bereits als Jüngling – in dem von Franz Rosenzweig 1917 entdeckten »Ältesten Systemprogramm« (1796) 16 – vorschwebte, zur »Stiftung einer philosophischen Religion« zu gelangen, die alle Menschen erfasst. Gerade um das Anliegen von Schellings positiver Philosophie zu retten, tritt Jaspers Schellings gnostischer »Stiftung einer philosophischen Religion« (Jaspers, Schelling: 109) 17 entschieden entgegen. Eine über die »Vernunftwissenschaft« bzw. wissenschaftliche Erkenntnisse hinausgehende existentiell-praktische Positionsfindung in der gelebten Geschichte kann nicht wiederum über ein Wissen erreicht werden und führt auch nicht zu einer philosophisch gestifteten Religion. Was ein positives Philosophieren, zu dem Schelling erklärtermaßen hinstrebt, allein zu leisten vermag, ist – nach Jaspers – eine »Existenzerhellung« unseres In-der-Welt-Seins, die sich im »philosophischen Glauben« eines absoluten Sinnzusammenhangs gründend versteht. Beides aber stellt kein Wissen dar, sondern bewegt sich in Chiffren, die zwar unsere Existenz in der Welt und unseren Bezug zur Transzendenz im tiefsten Innern berühren, die wir aber zugleich als schwebende Deutungen einsehen. »Als Existenz denken wir zur Transzendenz hin in Gegenständen, die wir Chiffern nennen. […] Das Karl Rosenkranz, Hegels Leben (1844) zit. bei Jaspers, Schelling (1955), 1986: 98. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Ein handschriftlicher Fund, mitgeteilt v. Franz Rosenzweig (1917). Vgl. Christoph Jamme / Helmut Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft (1984): 79 ff. Siehe Karl Jaspers, Schelling (1955), 1986: 56. 17 Siehe Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962): 236. 15 16
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Ungenügen aller Chiffern aber zeigt sich darin, daß ich mich an sie nur wie an Bilder oder an Leitfäden im existentiellen Augenblick halten kann, nicht an sie als eine Realität, die als solche mich sichert.« (Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung: 153 ff.) 18 In diesem Zusammenhang glaubt Jaspers, sich mehr an die Dialektik anschließen zu müssen, die zwar »bei Hegel am reichsten entwickelt« ist, sich aber bei ihm zu einem »absoluten Wissen« versteigt, zu dem die Philosophie jedoch nie zu gelangen vermag, daher bezieht sich Jaspers auf die »existentielle Dialektik«, wie sie Sören Kierkegaard in Kritik an Hegel entwickelt hat. 19 Gegenüber der vermeintlichen Gewissheit der Offenbarung verbleibt diese dialektische Rede des philosophischen Glaubens in der Schwebe der Chiffren. »Die dialektische Denkweise ist eine Form für die Mitteilung von Chiffern der Transzendenz, die in jener vieldeutigen Schwebe den Menschen ansprechen, aber ihn nicht sich unterwerfen.« (Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung: 181) Da sich die Philosophie dem Problem der Transzendenz, des Sinnzusammenhangs der Existenz, in die wir gestellt sind, nicht entziehen kann, ohne ihr doch habhaft werden zu können, spricht Jaspers von einem »philosophischen Glauben«. Aber im Gegensatz zum »Offenbarungsglauben«, der »meint die Handlungen Gottes im Sichoffenbaren zum Heil der Menschen zu kennen«, weiß dieser philosophische Glaube »nicht von Gott, sondern hört nur die Sprache der Chiffern. Gott selbst ist ihm eine Chiffer.« (Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung: 196) Für den Philosophen kann es keine Offenbarung als geschichtlich ereignete Kundgabe Gottes geben, weder die Selbstbenennung Gottes »Ich werde sein, der ich sein werde« noch die Menschwerdung Gottes können von der Philosophie anders gedeutet werden als Offenbarwerdungen des Transzendenten im Menschen. In diesem Sinne sagt Karl Jaspers: »Die Christusreligion enthält die Wahrheit, daß Gott zum Menschen durch Menschen spricht, aber Gott spricht durch viele Menschen, in der Bibel durch die Reihe der Propheten, in der als letzter Jesus steht; kein Mensch kann Gott sein; Gott spricht durch keinen Menschen ausschließend, durch jeden auch noch vieldeutig.« Vgl. Heinz Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext (1994): 66 ff. 19 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Werke (1962): 13 ff. 18
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Rosenzweigs Neubestimmung der Offenbarung
(Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1948): 80) 20
16.3 Rosenzweigs Neubestimmung der Offenbarung Ganz anders und viel entschiedener knüpft Franz Rosenzweig an Schellings Spätphilosophie an, obwohl auch er betont, dass Schelling die Durchführung seines genialen Projekts nicht gelingt. Mit den beiden ersten Teilen des Stern der Erlösung (1921) versucht Rosenzweig, das einzulösen, was Schelling mit der Umkehr von der negativen zur positiven Philosophie intendierte. Ähnlich wie Schelling mit seiner negativen Philosophie führt auch Rosenzweig im ersten Teil des Stern eine Selbstbegrenzung der Philosophie durch. Diese sich selbst begrenzende Bescheidung philosophischen Denkens führt zu einer Umkehr des gesamten philosophischen Denkens, die Schelling als die Wende von der negativen zur positiven Philosophie kennzeichnete. Die negative oder »rein-rationale Philosophie« kann immer nur das Strukturell-Allgemeine begreifen, ohne welches Natur, Mensch und Gott nicht gedacht werden können, aber die sich existentiell ereignende Wirklichkeit, in die wir selbst geschichtlich mit einbezogen sind, bleibt ihr ein »Wunder«, das sie nicht zu fassen vermag. Im »Übergang« zum zweiten Teil des Stern der Erlösung vollzieht Rosenzweig »eine Wendung […], eine Umkehr« von der rein-rationalen Philosophie, die voraussetzungslos alles aus sich heraus ableiten will, hin zu einem Denken, das das geschichtliche Ereignen in seinen Sinndimensionen verstehend zu ergründen versucht. 21 Wenn Rosenzweig in der Einleitung zum zweiten Teil »Über die Möglichkeit das Wunder zu erleben – in theologos!« von einem Wunder spricht, so ist damit nichts gemeint, was der philosophischen Welterkenntnis in ihrer strukturellen Allgemeinheit widerspricht. Sondern vielmehr dieses vorgängige Existieren der sich geschichtlich ereignenden Wirklichkeit selbst, in welche wir uns als Denkende unvordenklich einbezogen vorfinden, ist das Wunder. So liegt die OffenVgl. Leonard Ehrlich, Karl Jaspers: Philosophy as Faith (1975). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991): 56 ff. sowie Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 27 ff.
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barung im weitesten Wortsinn darin, dass diese geschichtliche Existenz, in die wir einbezogen sind, sich durch unsere Sinndeutungen hindurch als Sinnzusammenhang offenbart und wir existentiell in ihm zu uns selbst zu finden vermögen. Der entscheidende Punkt ist hierbei, dass die Sinndeutungen zwar als unsere Sinngebungen begriffen, zugleich aber in ihrer Ermöglichung als Gabe, als unfassliches Wunder, verstanden werden müssen. Das Wunder geschichtlicher Wirklichkeit, in das wir existierend gestellt sind und das wir uns in seiner Sinnhaftigkeit zu erschließen versuchen, ist ein dreifaches: das kreatürliche Dasein der Schöpfung, die sprachliche Sinnerschließung der Offenbarung i. e. S. und die sittliche Orientiertheit auf ein Reich der Erlösung hin. (Rosenzweig, Stern, GS II: 103 ff.) In ihnen ereignet sich unsere Existenz dreifach zeitlich: als fundierende Vergangenheit, als sich erneuernde Gegenwart und als aufgegebene Zukunft. (Rosenzweig, Stern, GS II: 134, 194, 269) 22 So wie das Wunder der Schöpfung an ihrem immerwährenden »Schon-da-sein« erfahren wird, so ereignet sich das Wunder der Offenbarung in der »allzeiterneuerten Gegenwart« der Sinnerschließung der Sprache, im Miteinander-sprechen-Können der Menschen, dem Sinnverstehen-Können. Darüber hinaus wird das Wunder der Erlösung ewig erwartet im »Kommen des Reichs«, der wir durch die Taten der Nächstenliebe zuzustreben suchen, deren Erfüllung jedoch nicht in unserer Macht allein liegt. Nur gemeinsam bilden diese drei Dimensionen die Grundlage der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz und umreißen die Sinnhorizonte menschlichen Wirkens und Hoffens in der Geschichte. Diesem zeitlichen Indie-Bahn-gestellt-Sein begegnet das »neue Denken« – wie Rosenzweig in Anlehnung an Schelling formuliert – als erfahrendes, als dialogisches und als geschichtliches Denken. 23 Im Zentrum der menschlichen Sinnfindung in seiner geschichtlichen Existenz pulsiert die Sprache als lebendige Stätte aller Offenbarung und Offenbarwerdung. »[D]ie Sprache, wie sie von Anfang an ganz da, ganz geschaffen ist, erwacht doch erst in der Offenbarung Vgl. Leonard H. Ehrlich, »Rosenzweigs Begriff der Zeitigung aus den Quellen des Judentums«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) (1988), II: 731 ff. 23 Die Berührungspunkte zwischen Franz Rosenzweig und Karl Jaspers sind frappant. Vgl. Leonard Ehrlich, »Neues Denken und Erneuerung der Fundamentalphilosophie«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Franz Rosenzweigs »neues Denken«. Internationaler Kongress Kassel 2004, 2 Bde., (2006): 66 ff. 22
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zur wirklichen Lebendigkeit. Und so ist nichts an dem Offenbarungswunder neu, nichts ein zauberhafter Eingriff in die erschaffene Schöpfung, sondern ganz ist es Zeichen, ganz Sichtbarmachung und Lautwerdung der ursprünglich in der stummen Nacht der Schöpfung verborgenen Vorsehung, ganz – Offenbarung. […] Das Wort des Menschen ist Sinnbild: jeden Augenblick wird es im Munde des Sprechers neu geschaffen, doch nur, weil es von Anbeginn an ist und jeden Sprecher, der einst das Wunder der Erneuerung an ihm wirkt, schon in seinem Schoße trägt. Aber dies ist mehr als Sinnbild: das Wort Gottes ist die Offenbarung, nur weil es zugleich das Wort der Schöpfung ist. Gott sprach: Es werde Licht – und das Licht Gottes, was ist es? Des Menschen Seele.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 122 f.) Damit hat Rosenzweig gefunden, wonach Jaspers vergebens sucht, als er schreibt: »Wäre es möglich Offenbarung als solche zur Chiffer werden zu lassen, dann würde eine Wandlung des Offenbarungsglaubens einsetzen.« (Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung: 505) Dies erfüllt sich jetzt durch Rosenzweig, wenn dieser die Sprache selbst, das Miteinander-sprechenKönnen der Menschen, das Sinnverstehen von Welt und Geschichte, als Offenbarung versteht. Und es gelingt ihm damit nicht nur, für sein eigenes Werk Der Stern der Erlösung eine neue philosophischtheologische Ausdrucksform »existentieller Erfahrung« zu finden, die Jaspers bei Schelling zu Recht vermisste, sondern das neue Denken wirft auch ein neues Licht auf Schellings Philosophie der Offenbarung, die wir dadurch tiefer verstehen und würdigen können, als dies Jaspers vermochte.
16.4 Philosophischer Glaube Während es Rosenzweig im zweiten Teil des Stern der Erlösung gelingt, dem Offenbarungsbegriff eine grundlegend philosophischtheologische Deutung zu geben, mit der er Jaspers vorweg zu antworten vermag, so gerät er mit dem dritten Teil des Stern doch wieder in die Schusslinie der Kritik Jaspers, denn Rosenzweig stellt sich hier in die immanente Gewissheit der jüdischen und der christlichen Glaubensgemeinschaften, d. h. er spricht hier aus dem Selbstverständnis des »Offenbarungsglaubens« der Juden und Christen, ohne die Chiffrenhaftigkeit seiner Rede mitzureflektieren. Verschärfend kommt hinzu, dass Rosenzweig nur den Juden und Christen einen Offen487 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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barungsglauben zubilligt, während er alle anderen Glaubensgemeinschaften – inklusive der Glaubensgemeinschaft des Islam – als heidnische Religionen abtut, die erst für den Offenbarungsglauben gewonnen werden müssen. Im ersten Kapitel dieses dritten Bandes »Das Feuer oder das ewige Leben« – dem Innenbereich des Davidsterns – geht Rosenzweig auf das durch die Zwiesprache mit Gott bestimmte Leben der Juden ein. Dem jüdischen Volk ist durch Gott offenbart, dass es ewig Sein Volk ist. Und daraufhin ist auch der Kreislauf der Feste und Gebete bestimmt und durchdrungen von der Verheißung, das eine, das ewige Volk zu sein. (Rosenzweig, Stern, GS II: 331) Dieses Herausgehobensein aus dem geschichtlichen Weltlauf drückt sich in der Liturgie der jüdischen Jahresfeste aus. Sie alle verweisen auf Offenbarungsereignisse des Volkes Israel, die in ihrer Folge den Bund Gottes mit seinem Volk bezeugen, beschwören und damit als ewigen Bund immer wieder neu besiegeln. Anders ist das Leben und die Liturgie der christlichen Völker bestimmt, auf die Rosenzweig im zweiten Kapitel »Die Strahlen oder der ewige Weg« zu sprechen kommt – die äußeren Strahlen des Davidsterns, die in das Dunkel der heidnischen Welt hinausweisen: »Die Christenheit muß missionieren. […] Ja, das Missionieren ist ihr geradezu die Form der Selbst-erhaltung. Sie pflanzt sich fort, indem sie sich ausbreitet.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 331) Anders als das Judentum ist das Christentum eine über alle Völker ausgreifende Gemeinschaft der Glaubenden, die an Christus glauben und ihm nachfolgen. Daher wendet sich das Christentum an jeden als Glaubenden, und es kann sich nur durch den Glauben jedes Einzelnen und seine zeugnisgebende Weitergabe hindurch fortpflanzen. Auf Jesu Christi Erdenwandel bezieht sich die Liturgie aller christlichen Jahresfeste. Sie verweisen auf Christus als den Vermittler des neuen Bundes der Glaubenden mit Gott. Doch erst nach dieser Kennzeichnung der Gegensätze kommt das Entscheidende, nämlich das Angebot einer jüdisch-christlichen Partnerschaft über das unaufhebbar Trennende hinweg. Weder im jüdischen Glauben, der im verheißenen ewigen Leben des jüdischen Volkes wurzelt, noch im christlichen Glauben, dem die Erlösung aus der Nachfolge des ewigen Wegs verheißen wird, liegt bereits die ganze Wahrheit, denn diese liegt allein bei Gott (Rosenzweig, Stern, GS II: 423) – dies ist das Fazit des dritten Kapitels »Der Stern oder die ewige Wahrheit«. Beide – der Jude und der Christ – können aneinan488 https://doi.org/10.5771/9783495823613
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der ihre Grenze und ihren Halt erfahren, auch nach jüdischer Lehre kann das Reich der Erlösung erst kommen, wenn alle Welt und alle Völker zurückgekehrt sind zu Gott, und auch für die christliche Lehre bleibt das Volk Israel bis dahin Zeuge des alten Bundes mit Gott. So sind beide – Juden wie Christen – getrennt in der Erfüllung je ihres Auftrags und doch gegenseitig aufeinander angewiesen, damit sich ihr Auftrag erfülle. Nur wechselweise sind sie Garanten ihrer Verheißungen – nur gemeinsam sind sie der von Gott entzündete, feurig-strahlende Stern der Erlösung. (Rosenzweig, Stern, GS II: 462 f.) Sicherlich findet Rosenzweig hier eine großartige Vision für den jüdisch-christlichen Dialog, wie er zu seiner Zeit nur im kleinen Freundeskreis möglich war und nach der Shoa in Europa zwischen den christlichen Kirchen und der jüdischen Kultusgemeinde erst schrittweise in Gang gekommen ist, aber er behandelt dabei die Glaubensinhalte der Juden und Christen – und nur dieser beiden Glaubensgemeinschaften – als Realitäten. Dies aber ist – nach Jaspers – dem Philosophen verwehrt, für ihn können alle Glaubensbilder immer nur Chiffren sein. Rosenzweigs Aussage, dass nur bei Gott die ganze Wahrheit sei, an der die Juden und die Christen nur je ihren Anteil haben, ist als Chiffre genommen und auf alle Glaubensgemeinschaften bezogen eine unglaublich tiefsinnige Einsicht, die mit Jaspers’ Aussage von der »Unmöglichkeit, Gott zu erkennen, und die Unumgänglichkeit, ihn zu denken«, harmoniert. (Jaspers, Philosophischer Glaube angesichts der Offenbarung: 386) Aber als Realität genommen, die nur den Juden und den Christen offenbar geworden ist, steckt darin nicht nur eine Provokation für alle ausgeschlossenen Glaubensgemeinschaften, sondern dies zu akzeptieren ist auch für den »philosophischen Glauben« – wie Jaspers sagen würde – »eine Unmöglichkeit«. Unzweideutig spricht dies Jaspers bezogen auf die Grundfeste des Christentums aus: Jesus ist nicht der Gottmensch Christus. »Der menschgewordene Gott Christus ist philosophisch unmöglich, während Jesus als einzigartige Chiffer sprechen kann.« Jesus als Mensch ist eine Chiffre des Menschseins. »Die Wirklichkeit des Menschen Jesus ist eine unvergleichliche, einzige Chiffer der Möglichkeit des Menschen vor seinem Gott.« Er ist nicht eine Offenbarung Gottes, aber über ihn kann uns etwas offenbar werden. (Jaspers, Philosophischer Glaube angesichts der Offenbarung: 225 ff.; 500 ff.) Auf das Judentum übertragen, kann man genauso sagen, dass 489 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Philosophie der Offenbarung – Schelling, Jaspers und Rosenzweig
der Bund, den Gott mit dem Volk Israel schließt, als Realität eine philosophische Unmöglichkeit ist, dass aber in der Auserwähltheit des Volkes Israel eine Chiffre impliziert ist, die darin besteht, dass es das Volk Israel war, in dem geschichtlich die Einzigkeit Gottes offenbar wurde, und dass das Volk Israel dieser Chiffre von der Einzigkeit Gottes die Treue hält, bis dereinst alle Menschen und Völker zu diesem Gottesgedanken gefunden haben. 24
16.5 Nachbemerkung Der Philosoph – darauf pochte Jaspers mit Kant zu Recht – kann sich niemals einer bestimmten Konfession unterwerfen. Er kann sehr wohl die religiösen Chiffren des einen oder anderen Glaubens verstehend zu durchdringen versuchen und von daher sich dem einen oder dem anderen Glauben verbundener fühlen, aber sie stellen für ihn niemals Realitäten dar, die vor aller philosophischen Reflexion gelten. In diesem Punkt fühlt Jaspers sich Schelling verwandt, der mit seiner Philosophie der Offenbarung die mythologischen und die christlichen Glaubensinhalte philosophisch zu durchdringen versuchte. Allerdings will Schelling sodann doch zu viel, wenn er sich bemüht, diese philosophische Einsicht zu einer »philosophischen Religion« zu verdichten, die zwar anknüpft an die bestehenden Konfessionen, aber eine alle Menschen erreichende und erfassende höhere Form von Religion darstellen soll, denn auch er vermengt hiermit – so Jaspers – philosophisches und religiöses Denken. Rosenzweig dagegen, so würde Jaspers monieren, wenn er den dritten Teil des Stern der Erlösung gekannt hätte, fällt doch wieder, nachdem er im zweiten Teil des Stern in großartiger Weise zu einer neuen philosophisch-theologischen Rede von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung gefunden hat, die das, was Jaspers »Existenzerhellung« nennt, sogar noch an Differenziertheit übertrifft, in die Glaubensgewissheit einer Konfession – genauer gesagt: zweier Konfessionen – zurück. Auch hier bei Rosenzweig liegt – von Jaspers aus gesehen – ein zu unkritisches Überschreiten der »Schwelle« von Philosophie zur Theologie vor. Siehe Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (1919/1966): 39. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Rosenzweig im Gespräch mit Ehrenberg, Cohen und Buber (2006): 127.
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Nachbemerkung
Dem philosophischen Glauben, wie ihn Jaspers versteht, ist es verwehrt, die Glaubensinhalte einer Religion anders zu verstehen als Chiffren für die Transzendenz. Die Geborgenheit in der Gewissheit einer geschichtlich gewachsenen Glaubensgemeinschaft bleibt dem Philosophen versagt, er kann sich weder aus ihr begreifen noch in sie hinein bewähren, er bleibt mit und vor seinem Gott allein. Hier gibt es durchaus Verbindungslinien zwischen Ernst Cassirer und Karl Jaspers, aber der Bezug zu Gott muss dabei doch als mehr als bloß eine symbolische Form des menschlichen Geistes erfasst werden, denn mit Gott ist das Absolute angesprochen, in dem der menschliche Geist gründet und auf das hin der Mensch all sein Handeln gerichtet weiß – wie es sowohl Schelling im »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein« als auch Richard Hönigswald als Grund des Glaubens ausgesprochen haben. Auch der Philosoph versteht sein Denken auf eine zu bewährende Praxis bezogen, doch deren Horizont liegt nicht in den Grenzen einer Konfession, sondern in der sittlichen Bewährung des Menschseins, die er mit Blick auf die ganze Menschheit mit allen Gleichgesinnten vor Gott zu bewähren hat. Erstaunt stellt sich der Philosoph angesichts der Begrenzungen der Glaubensgemeinschaften die Frage: Gehören wir nicht alle als Menschen dem auserwählten Volk an und sind wir nicht alle in die Sohnschaft zu vollbringender Nächstenliebe gerufen? Gerade deshalb fällt dem Philosophen noch eine besondere Aufgabe zu. Jede Glaubensgemeinschaft bleibt im letzten auf sich selbst bezogen und grenzt sich von allen anderen ab. Es waren und sind immer Philosophen, die die Übersetzungsarbeit über die Glaubensgrenzen hinweg leisten und Verständnis und Akzeptanz der Glaubensgemeinschaften füreinander einklagen und so einen interreligiösen Dialog gegen die Religionskriege voranbringen.
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17. Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer 1
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dringen zwei Denker im nie zuvor gekannten Ringen um neue sprachliche Ausdrucksformen zu einer Grundlegung der Ethik vom Anderen her und auf den Anderen hin vor, um so – nach den Katastrophen der Weltkriege und der Shoa – der sittlichen Aufgegebenheit des Menschseins grundlegender gerecht zu werden. 2 Wir meinen Emmanuel Lévinas mit seinen Studien zur Phänomenologie des Anderen 3 sowie Franz Fischer mit seinen Entwürfen zu Proflexion – Logik der Menschlichkeit. 4 Beide Denkansätze entstanden – ohne Kenntnis voneinander – gleichzeitig in den sechziger Jahren. Erst in den letzten Jahrzehnten dringt das Herausfordernde ihres Denkens langsam in die philosophische Diskussion ein. Beide versuchen sie, um philosophisch den Bezug zum Anderen als Anderen zur Sprache bringen zu können, bewusst die Darstellungsformen traditionellen Philosophierens zu durchbrechen, ja, sie scheuen nicht davor zurück, ihr Denken bis in äußerste Paradoxien voranzutreiben, um intentional nicht Aussagbares doch aufscheinen zu lassen. Ihre Wege sind – bei aller Nähe im Anliegen – einander extrem entgegengesetzt, und doch kommen sie zu unglaublich verwandten Gleichnissen und Ausdrücken. In gewisser Weise wiederholt sich in ihren Denkansätzen – auf ungleich radikalerem philosophiÜberarbeitete Fassung eines Teilabschnittes des Kapitels »Ethik – Bestimmtsein vom Anderen her und auf ihn hin«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung (1991): 175 ff. 2 Vgl. hierzu auch Emil Fackenheim, To Mendt the World: Foundations of Post-Holocaust Jewish Thought (1981) sowie Ders., Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart (1987/1999). 3 Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere (1948/1984); Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität (1961/1987); Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1978/1992). 4 Franz Fischer, Proflexion und Reflexion. Philosophische Übungen zur Eingewöhnung der von sich reinen Gesellschaft (1965/1997) sowie: Proflexion – Logik der Menschlichkeit (1985). 1
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Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie
schem Niveau – Nähe und Gegensatz zwischen Denkern der Dialogphilosophie zu Beginn der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. 5
17.1 Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie Das Denken von Emmanuel Lévinas kommt von der Phänomenologie Husserls und der frühen Daseinsanalytik Heideggers her. Das Thema des Anderen hat Lévinas schon früh beschäftigt –Die Zeit und der Andere (1948) –, jedoch erst nach seinem ersten Hauptwerk Totalität und Unendlichkeit (1961) gelingt Lévinas – wie er selber betont – der eigentliche methodologische Durchbruch zum Anderen. Bereits der späte Husserl und einige aus seiner Schule haben versucht, die transzendental-phänomenologische Bewusstseinsanalyse auf Probleme der Intersubjektivität und der Sozialität hin auszuweiten, doch was ihnen dabei allenfalls gelingt, sind Differenzierungen dialogischer und sozialer Phänomene als Gegenstände des erkennenden Bewusstseins. Grundsätzlich vermag die Phänomenologie von ihrer bewusstseinsanalytischen Methode her ihre transzendentale »Egologie« auf den Anderen hin nicht zu durchbrechen. Die Phänomenologie kann allenfalls den Anderen als einen ausgezeichneten Gegenstand des transzendentalen Bewusstseins behandeln, niemals aber zum Anderen als Anderen vordringen. 6 Genau hier nun setzen die Denkbemühungen von Emmanuel Lévinas seit den sechziger Jahren an. Obwohl an der Phänomenologie grundsätzlich festhaltend, versucht er, sie am Problem der Bewusstseinstranszendenz der Anderheit des Anderen transzendierend, im größten »Kampf und Schmerz um den Ausdruck« (Lévinas, Spur des Anderen: 319), das Unsagbare sagbar zu machen. Daraus erwächst das Paradoxe seiner gedanklichen und sprachlichen Anstrengungen, das Eigentümliche seiner Sprachschöpfungen, das Überraschende seiner Blickweisen – so vor allem in seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1974).
Martin Buber, »Ich und Du« (1923), in: Das dialogische Prinzip (1973): 5 ff.; Ferdinand Ebner, Das Wort und die geistigen Realitäten (1919/1980). 6 Vgl. Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart (1964). Bernhard Waldenfels, Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen im Anschluß an Edmund Husserl (1971). 5
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Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Wie gleichzeitig auch Franz Fischer setzt sich Emmanuel Lévinas kritisch von der Denkstruktur ab, wie sie in Hegels Dialektik zum Ausdruck kommt, aber auch der transzendentalen Phänomenologie Husserls zugrunde liegt. Die Hegelsche Dialektik des Im-Andernzu-sich-selber-Kommens ist eine Bewegung des Denkens, die den Anderen nur als Widerpart benutzt, um über ihn zu sich selbst zurückzukehren. In gewisser Weise erfüllt sich in Hegels Dialektik, was das abendländische Denken als Erste Philosophie immer schon intendierte: ein das All der Welt begreifendes Bei-sich-Sein der Vernunft. »Die abendländische Philosophie fällt mit der Enthüllung des Anderen zusammen; dabei verliert das Andere, das sich als Sein manifestiert, seine Andersheit […]; durch alle Abenteuer hindurch findet sich das Bewusstsein als es selbst wieder, es kehrt zu sich zurück.« (Lévinas, Spur des Anderen: 211) Aber bei noch genauerer Analyse unseres Bewusstseins, unseres Erlebens und Erfahrens finden wir Momente des Transzendierens, die sich dieser dialektischen Struktur der Rückkehr des Bewusstseins zu sich selbst versagen, wie beispielsweise das auf den Anderen gerichtete »Werk«, das entgegengesetzt zu Heideggers selbstbezogenem »Sein zum Tode« sich geradezu als »Sein-für-das-Jenseits-meinesTodes« erweist. (Lévinas, Humanismus: 35) 7 »Radikal gedacht ist das Werk nämlich eine Bewegung des Selben zum Anderen, die niemals zum Selben zurückkehrt. Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch ungekannten Land aufzubrechen […]. Wird das Werk bis zu Ende gedacht, dann verlangt es eine radikale Großmut des Selben, das im Werk auf das Andere zugeht. Es verlangt infolgedessen die Undankbarkeit des Anderen. Die Dankbarkeit wäre die Rückkehr der Bewegung zu ihrem Ursprung.« (Lévinas, Spur des Anderen: 215 f.) Die Schroffheit der letzten beiden Sätze, die uns zunächst irritiert – und die bereits eine Differenz zu Buber, aber auch zu Fischer markiert –, ist für Lévinas von entscheidender Wichtigkeit. Das Transzendieren, um das es ihm geht, muss eine »einseitige Bewegung« sein, ohne jegliches Schielen auf Heimkehr und auf Gegenseitigkeit. Odysseus’ Heimkehr ist das Bild der dialektischen Struktur Zur Diskussion der Todesproblematik bei Heidegger und Rosenzweig siehe Werner Marx, »Die Bestimmung des Todes im ›Stern der Erlösung‹«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929): 611 ff.
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Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie
der abendländischen Philosophie. Die das Bewusstsein transzendierende Bewegung aber entspricht Abrahams Aufbruch in die Fremde, ohne Hoffnung auf Rückkehr für sich und seine Nachkommen. Nur solches Handeln, das »darauf verzichtet, den Erfolg seines Werks zu erleben«, wird »gleichgültig gegen den [eigenen] Tod«, »intendiert eine Zeit jenseits des Horizonts seiner Zeit« (Lévinas, Spur des Anderen: 217), ist bis zum Äußersten des sich Opferns für den Anderen bereit. Von solch nicht-dialektischer Art ist auch das »Begehren des Anderen«, das zu unterscheiden ist vom Bedürfen des Anderen um meiner selbst willen; im Begehren »verliert« sich das Selbst auf den Anderen hin. »Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst.« (Lévinas, Spur des Anderen: 219) Wie aber begegnet mir der Andere als Anderer jenseits des Erscheinungsbildes, das die Phänomenologie vom Anderen als meinem Bewusstseinsgegenüber zu differenzieren vermag? Wie vermag mich die Anderheit des Anderen zu erreichen? Der Andere ›begegnet‹ mir – so betont Lévinas – unmittelbar »durch sich selbst«, er tritt durch sein »Antlitz« an uns heran. »Seine Gegenwart besteht darin, auf uns zuzukommen, einzutreten. […] Die Epiphanie des Antlitzes ist Heimsuchung.« (Lévinas, Spur des Anderen: 221) »Das Antlitz tritt in unsere Welt von einer absolut fremden Sphäre aus ein, d. h. genau, von einem Absoluten aus, das übrigens der eigentliche Name der fundamentalen Fremdheit ist.« (Lévinas, Humanismus: 41) Unter »Antlitz« versteht Lévinas selbstverständlich nicht das bloße Erscheinungsbild des Gesichtes eines anderen Menschen, aber auch nicht eine den Menschen unsichtbar umgebende Aura, sondern schlicht das Menschsein des Anderen, das uns unmittelbar anspricht, bevor der Andere auch nur ein Wort an uns gerichtet hat. Er ist etwas, was nicht erst durch unser Bewusstsein aufgebaut wird, sondern was von sich her – von uns völlig unerwartet – an unser Bewusstsein herantritt. »Der Eintritt des Antlitzes in unsere Welt geschieht im Ausgang von einer absolut fremden Sphäre – d. h. aber gerade im Ausgang von einem Absoluten, was übrigens der eigentliche Name der tiefen Fremdheit ist.« (Lévinas, Spur des Anderen: 222) Nicht in irgendeiner Forderung, einem Rechtsanspruch, den der Andere unserer Freiheit gegenüber geltend machen könnte, sondern allein in der Nacktheit, der Schutzlosigkeit seines Daseins, seines Voruns-Tretens, wird uns das Antlitz des Anderen zum Gebot. »So bedeutet die Anwesenheit des Antlitzes eine nicht abzulehnende An495 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
ordnung, ein Gebot. […] Das absolut Andere spiegelt sich nicht im Bewußtsein. Es widersteht dem Bewußtsein. […] Die Heimsuchung besteht darin, sogar die Ichbezogenheit des Ich umzustürzen, das Antlitz entwaffnet die Intentionalität, die es anzielt.« (Lévinas, Spur des Anderen: 223) Wir sind hier mit der »ethischen Dimension der Heimsuchung« wohl am erregendsten Punkt des Denkens von Emmanuel Lévinas angelangt, durch den der von Kant intendierte Primat der praktischen Vernunft voll eingelöst wird und der erklärtermaßen – Aristoteles widersprechend – die Ethik zur »Ersten Philosophie« erhebt, da hier der Grund alles ethischen Denkens und Handelns im Antlitz des Anderen aufgedeckt wird, denn es »nötigt sich […] mir auf, ohne daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte«. (Lévinas, Spur des Anderen: 223) Alle bisherige Philosophie versuchte, die Ethik von der Freiheit des Ich her aufzubauen und über die Anerkennung der Freiheit der anderen Menschen die Selbsteinschränkung und Selbstverpflichtung zu begründen. Anders nun geht Lévinas das Problem an – und hier besteht die große Parallele zur Position von Franz Fischer, auf die noch einzugehen sein wird –: nicht in der eigenen Freiheit und nicht in der Allgemeinheit des Menschseins aller Anderen, sondern in der Einmaligkeit des Antlitzes des je Anderen liegt die »Aufforderung zur Antwort«, gründet unsere Verantwortung für unseren je Anderen. »Die Epiphanie des absolut Anderen ist Antlitz, in dem der Andere mich anruft und mir durch seine Nacktheit, durch seine Not, seine Anordnung zu verstehen gibt. Seine Gegenwart ist eine Aufforderung zu(r) Antwort.« (Lévinas, Spur des Anderen: 224) Alle Sittlichkeit wurzelt im »Faktum der menschlichen Brüderlichkeit, die der Freiheit vorausgeht« (Lévinas, Spur des Anderen: 319), sie gründet darin, dass »vor dem Anderen […] das Ich unendlich verantwortlich« ist. (Lévinas, Spur des Anderen: 225) Auch die »Einzigkeit des Ich« rührt keineswegs vom Sich-selberDenken des Ich oder Seins (Dasein) her, sondern ersteht praktisch aus der Aufforderung des Antlitzes des Anderen, einer Aufforderung, der »niemand an meiner Stelle antworten kann«. (Lévinas, Spur des Anderen: 224) Und gerade in dieser Hinsicht des sittlichen Gefordert-Seins und der Verantwortung für den Anderen, die sich je konkret nur an die Einzigkeit des Ich wendet, wird dieses zur »Geisel für alle […], Stellvertreter für alle infolge seiner Unaustauschbarkeit selbst«. (Lévinas, Humanismus: 82) »Niemand kann in sich selbst 496 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie
bleiben: die Menschlichkeit des Menschen, die Subjektivität, ist Verantwortung für die Anderen, eine äußerste Verwundbarkeit. […] Es handelt sich um die Verantwortung für die Anderen, auf die hin die Bewegung des Auf-sich-selbst-Zurückkommens umgeleitet ist. […] Sich selbst fremd, besessen von den Anderen, unruhig, ist das Ich Geisel, Geisel gerade in seiner Rückbezogenheit eines Ich, das sich unablässig selbst verfehlt […]; diese Verantwortung, der sich das Ich nicht entziehen kann […], sie bezeichnet so die Einzigkeit des Unersetzbaren.« (Lévinas, Humanismus: 100 f.) Nun bricht durch das Antlitz des Anderen letztlich die ganze Transzendenz in das Bewusstsein ein – »Das Wunder des Antlitzes rührt her vom Anderswo« (Lévinas, Spur des Anderen: 227). Denn das Antlitz des Anderen – so sehr es unmittelbar nichts anderes als den konkreten Anspruch des je Anderen meint – stellt als Gebot, als »Vorladung zur Verantwortung« (Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt: 254), uns in eine größere »personale Ordnung«, die im letzten auf eine »dritte Person«, ein »Er« – wie Lévinas im Anschluss an Rosenzweig sagt – verweist, von dem her diese Ordnung und wir in ihr gestiftet sind. So leuchtet durch das Antlitz eine »Spur« von Ihm, der »Erheit«. »Die Illeität der dritten Person ist die Bedingung der Unumkehrbarkeit«. (Lévinas, Spur des Anderen: 230) »Jenseits des Seins ist eine dritte Person, die nicht durch das Sich-Selbst, durch die Selbstheit definiert werden kann. […] Das Jenseits, von dem das Antlitz herkommt, steht in der dritten Person. Das Pronomen ›Er‹ drückt die nicht ausdrückbare Unumkehrbarkeit dieses Jenseits aus. […] Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert – ein absolutes Wesen – kann eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Anwesenheit dessen, was, eigentlich gesprochen […] immer schon vorübergegangen ist. […] Der geoffenbarte Gott unserer jüdischchristlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen ›An-ordnung‹ selbst liegt.« (Lévinas, Humanismus: 41) Der Sinn des menschlichen Daseins oder des Seins schlechthin liegt nicht im Dasein oder Sein selbst, wie Heidegger zu zeigen versucht, um vom Absoluten los zu kommen, sondern wir begreifen den »Sinn des Seins« erst von dem Einbruch des »Ethischen« in unser Dasein: »Wende vom Antlitz des Anderen her, wo genau inmitten des Phänomens, genau in seinem Licht, ein Mehr an Bedeutung bedeutet, das man als Herrlichkeit bezeichnen könnte. Herrlichkeit, die mich fordert, mich beansprucht, mich vorlädt. Sollte man nicht diese 497 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Forderung oder diese Anfrage oder diese Vorladung zur Verantwortung Wort Gottes nennen? Fällt Gott nicht gerade in dieser Vorladung ein, eher als in der Thematisierung eines Denkbaren, eher sogar als in irgendeiner Einladung zum Dialog?« (Lévinas, Wenn Gott: 254) – so fragt sich Lévinas mit kritischer Anspielung gegen Heideggers »Atheismus«, der in seiner Seinsphilosophie außer dem Sinn, der im Sein selbst liegt, keinen Sinn und damit auch keine Ethik zulässt. (Lévinas, Spur des Anderen: 254) Durch das Antlitz des Anderen – so formuliert Lévinas – »fällt Gott in mein Denken ein« (Lévinas, Wenn Gott: 251), aber er entzieht sich zugleich jeglichen Zugriffs, er gehört weder zur Immanenz meines Seins (Daseins) noch zur Welt des Seienden. Die Spur von sich, die er uns offenbart, leuchtet im Antlitz des Anderen. So kann sich auch nach Emmanuel Lévinas – ganz wie für Martin Buber und Franz Rosenzweig – die Beziehung zu Gott nur in der Hinwendung zum Nächsten, zum anderen Menschen bewähren: »Nach dem Bilde Gottes sein heißt, […] sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität […] zeigt sich nur in seiner Spur. […] Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Anderen zugehen, die sich in der Spur halten.« (Lévinas, Spur des Anderen: 235) Das Fundament aller Ethik ist also für Lévinas in einer »personalen Ordnung« begründet, in die gestellt wir uns angesichts des Anderen vorfinden und die uns zwei unendlich einseitige Bewegungen abverlangt: die »Vorladung zur Verantwortung« vom Anderen her unmittelbar durch sein an uns gerichtetes Antlitz und unsere Antwort als bedingungslose Zuwendung auf den Anderen hin, die keine Rückgabe fordern darf. »Die personale Ordnung, zu der uns das Antlitz nötigt, ist jenseits des Seins. Jenseits des Seins ist eine dritte Person, die sich nicht durch das Sich-selbst, durch die Selbstheit, definiert« und die in »unumkehrbarer Abwesenheit, die […] eigentliche Erhabenheit der Heimsuchung begründet.« (Lévinas, Spur des Anderen: 229 f.) »Als Ille und als dritte Person ist die Transzendenz gewissermaßen außerhalb der Unterscheidung von Sein und Seiendem. Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert, kann eine Spur hinterlassen. Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist.« (Lévinas, Spur des Anderen: 233) Das, was Kant die intelligible Welt nannte, in die uns die praktische Vernunft stellt und die von der Welt der Erscheinungen strikt 498 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie
getrennt ist, versucht Lévinas über die Grenzen der Phänomenologie hinaus fassbar werden zu lassen. Dabei muss er aber jedes Bild, das unsere Sprache benutzt, aus ihrer abbildenden Bildhaftigkeit herausnehmen, um es in seiner ethischen Bedeutung hervorzuheben. So ist die Spur nicht ein Fußabdruck Gottes, den wir sehen und daher folgen können, um erkennend zu Gott zu kommen, sondern das »Antlitz leuchtet [aus] der Spur des Anderen […]. Das Antlitz ist durch sich selbst Heimsuchung und Transzendenz. […] Der Gott, der vorbeigegangen ist, ist nicht das Urbild, von dem das Antlitz das Abbild wäre. Nach dem Bilde Gottes sein heißt nicht, Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden. Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit, die in der personalen Ordnung selbst ist. Er zeigt sich nur in seiner Spur […]. Zu ihm hingehen heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die Andern zugehen, die sich in der Spur halten.« (Lévinas, Spur des Anderen: 235) Seine Grundgedanken von Ethik als Erster Philosophie zusammenfassend, schreibt Emmanuel Lévinas in der Einleitung zu Wenn Gott ins Denken einfällt (1982): »Wir meinen, daß die Idee-des-Unendlichen-in-mir – oder meine Beziehung zu Gott – mir in der Konkretheit meiner Beziehung zum anderen Menschen zukommt, in der Sozialität, die meine Verantwortung für den Nächsten ist: Verantwortung, die ich in keiner ›Erfahrung‹ vertraglich eingegangen bin, aber zu der das Antlitz des Anderen, aufgrund seiner Anderheit, aufgrund eben seiner Fremdheit, das Gebot spricht, von dem man nicht weiß, woher es gekommen ist.« (Lévinas, Wenn Gott: 18) »Verantwortung, die sicherlich das Geheimnis der Sozialität wahrt, deren völlige Grund- und Absichtslosigkeit, selbst wenn sie im äußersten Fall vergeblich wäre, Nächstenliebe heißt, Liebe ohne Konkupizenz, die jedoch ebenso unabweisbar ist wie der Tod.« (Lévinas, Wenn Gott: 258) Von Gott zu sprechen ist für Lévinas überhaupt nur sinnvoll, wenn diese Rede aus dem Horizont der Ordnung des Ethischen erfolgt, daher ist ihm auch Kants Rede vom »Dasein Gottes«, obwohl Kant sie gerade ausdrücklich nur für den Bereich der praktischen Vernunft zulässt, suspekt. »Das Problem der Existenz Gottes aufwerfen, […] heißt, sich allein an die Einheit des Seins halten oder an die Eindeutigkeit seines esse, das trotz der Vielfalt seiner Modalitäten, sich [letztendlich] an der Wirksamkeit bewähren muß […], das in der Rechnung vorkommen muß, die zu allem Planen gehört.« (Lévinas, Jenseits des Seins: 212) 499 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Dieser Vorwurf ist Kant gegenüber sicherlich nicht gerechtfertigt, denn er berücksichtigt nicht die sich auch sprachlich völlig unterschiedlich ausdrückenden Problemzugänge von Kant einerseits und denen der Phänomenologie und Existenzontologie von Husserl und Heidegger andererseits, von denen Lévinas herkommt und aus denen er sich gleichzeitig zu lösen versucht. Was Kant mit der Vergewisserung des Dasein Gottes meint, ist vielmehr mit einer Umschreibung von Lévinas – ins Phänomenologische übersetzt – so zu umschreiben: »Die Unmöglichkeit, Gott zu entkommen […] (der, zumindest in dieser Hinsicht, nicht ein Wert unter anderen ist) ruht in meinem Innern als Sich, als absolute Passivität.« (Lévinas, Jenseits des Seins: 285 f.) Wir sollten hier nur die Gemeinsamkeit mit Kant unterstreichen, die auf Kants strikter Unterscheidung von erscheinender und intelligibler Welt gründet. Für Lévinas ergibt sich daraus, dass Gott radikal von der Welt des Seienden getrennt werden muss und sich allein im Bereich der praktischen Vernunft und mit Mitteln der praktischen Vernunft ausdrücken lässt. »Gehorsam gegenüber dem absoluten Befehl – der Autorität par excellence – ursprünglicher Gehorsam […] gegenüber dem Wort Gottes – unter der Bedingung, Gott nicht anders zur Sprache zu bringen als ausgehend von diesem Gehorsam. Un-bekannter Gott, der nicht Gestalt annimmt und sich den Verleumdungen durch den Atheismus aussetzt!« »Denken, das zum kategorischen Imperativ gezwungen, das durch einen unbekannten Gott inspiriert wird, das zum Tragen unablässiger Verantwortung gezwungen wird, aber so gerade meine persönliche Einmaligkeit, mein Erstgeborenenrecht und meine Erwählung sanktioniert.« (Lévinas, Wenn Gott: 263 ff.) Mit der Betonung, dass Gott als »dritte Person« ein »un-bekannter Gott« ist und bleibt, wendet sich Lévinas zugleich ganz ausdrücklich auch gegen Buber, gegen das große Du Gottes, von dem her dem Ich das Du des Anderen allererste zu begegnen vermag. »Un-bekannter Gott, der dem Thema und der reinen Geradlinigkeit des Du-Sagens entzogen ist, so als ob Er sich davon abheben oder sich in der dritten Person als Er transzendieren würde.« (Lévinas, Wenn Gott: 265) Doch auch dürfen wir nicht übersehen, dass hier das nahezu selbe Anliegen zweier Denker nur – bedingt aus der unterschiedlichen philosophischen Sichtweise – nach einer je anderen Ausdrucksweise verlangt. Während Buber – wie etwa Hönigswald oder Cohen auch – mit dem großen Du die sprachliche Dimension der Ver500 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Emmanuel Lévinas – eine Transzendierung der Phänomenologie
bindung betont, in der sowohl das Wort Gottes im Gewissen vernehmbar wird als auch im Gebet Bitte und Dank an Gott gerichtet werden kann, geht es Lévinas um die Hervorhebung der A-Symmetrie zwischen der Herausforderung von Gott und unseren Möglichkeiten in Nächstenliebe antworten zu können. »Ambiguität des Befehls, der mir den Nächsten aufträgt; den Nächsten, der mich verfolgt bis zur Besessenheit, für den ich und vor dem ich verantwortlich bin aufgrund meines Ich, in dem sich das Sein zu Stellvertretung umkehrt, in ebendie Möglichkeit der Gabe – und einer unendlichen Illeität, deren Herrlichkeit gerade darin liegt, daß sie den Menschen einbezieht, ›verstrickt‹, zu Nähe verstrickt; Umsturz des sein zu Stellvertretung […] Illeität, die die Erkenntnis wie auch das Rätsel, durch welches das Unendliche in der Erkenntnis eine Spur hinterlässt, übersteigt.« (Lévinas, Jenseits des Seins: 352) Gerade weil für Lévinas »Gott« für die intentional zu erkennende Welt keinerlei Bedeutung hat, sondern allein die ethische Welt des Anderen offenbar werden lässt, wehrt sich Lévinas vehement gegen jegliche Verdinglichung oder Ontologisierung Gottes, wie sie von den Alltagsgläubigen bis zu den Theologen aller Konfessionen geglaubt und verbreitet werden. Von daher ist die schroffe Reaktion und die Verachtung der Atheisten verständlich, obwohl ihre Reaktion selbst aus einer verfehlten Anbetung der Verdinglichung rührt. Einen »nicht durch das Sein infizierten Gott zu vernehmen«, haben sie nicht gelernt. »In dem Satz, in dem Gott sich erstmals unter die Worte mischt, fehlt noch das Wort Gott. Auf keinen Fall lautet dieser Satz: ›Ich glaube an Gott‹. Gott bezeugen heißt gerade nicht dieses außer-ordentliche Wort aussprechen, als könnte die Herrlichkeit einziehen in ein Thema und sich als These darstellen oder Geschehen des Seins werden. Das ›hier, sieh mich‹ als Zeichen, das dem Anderen von ebendieser Zeichenbedeutung gegeben wird, bedeutet mir im Namen Gottes den Dienst an den Menschen, die mich angehen, ohne daß ich mich mit irgendetwas identifizieren könnte, es sei denn mit dem Klang meiner Stimme oder der Figur meiner Handbewegung – mit dem Sagen selbst. Die Rekurrenz ist Aufrichtigkeit, Sich-Verströmen, Sich-›Ausliefern‹ an den Nächsten.« (Lévinas, Jenseits des Seins: 327) So beendet Emmanuel Lévinas sein letztes großes Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht mit dem an uns gerichteten Satz: »Nach dem Tode eines bestimmten, die Hinterwelt bewohnenden Gottes deckt die Stellvertretung der Geiselschaft die 501 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Spur – als unaussprechliche Schrift – dessen auf, das, immer schon vergangen, immer schon ›Er‹, in keine Gegenwart eintritt und zu dem weder die Namen, die Seiende bezeichnen, noch die Verben, in denen ihr sein erklingt, mehr passen – das vielmehr, selbst Pro-nomen, allem, was ein Namen trägt, sein Siegel einprägt.« (Lévinas, Jenseits des Seins: 395) Im Hinblick auf die erstaunliche Nähe, aber auch klare Differenz zu Franz Fischer möchten wir hier nochmals mit einem Zitat die Einseitigkeit der Bewegungen hervorheben, die Lévinas in allen Beziehungen des Anderen auf uns her und von uns auf den Andern hin herausstellt: »Ich habe für den Anderen verantwortlich zu sein, ohne mich um die Verantwortung des Anderen für mich zu kümmern. Beziehung ohne Wechselbeziehung oder Liebe zum Nächsten, die Liebe ohne Eros ist. Für-den-andern-Menschen und dadurch Zu-Gott!« (Lévinas, Wenn Gott: 20 f.) Diese stark an Ferdinand Ebner (Das Wort und die geistigen Realitäten: 17 ff.) erinnernde Aussage ist sicher auch der paradoxalen Ausgangsposition von Lévinas geschuldet, an der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse festhalten und sie zugleich an der Transzendenz des Anderen überschreiten zu wollen. So kommt immer nur der Akt des Transzendierens in den Blick, ohne dass das Miteinander von Selbst und Anderem oder gar die Gemeinsamkeit des Wir innerhalb der gesteckten Grenzen thematisiert werden könnten. Allerdings sollten wir es uns nicht zu leicht machen, darin nur eine methodologische Aporie zu sehen, steht doch dahinter vielmehr auch die existentielle Erfahrung von Auschwitz (Lévinas, Humanismus: 61), wo den Gequälten, Gefolterten, in den Tod Geschickten sogar dieses Letzte verweigert wurde, Antlitz sein zu dürfen. Hier, im totalen Zusammenbruch jeglicher mitmenschlichen Gegenseitigkeit blieb den Opfern nur noch das »Opfer«, ins Unendliche hinaus, Mensch zu bleiben vor Gott.
17.2 Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit Franz Fischer kommt – ähnlich wie Rosenzweig 40 Jahre vorher – von der Rezeption des Deutschen Idealismus und seiner immanenten Kritik her. Bereits in seinen frühen Studien zur Philosophie des Sinnes von Sinn, Die Erziehung des Gewissens und Darstellungen der Bil502 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit
dungskategorien 8 arbeitet sich Fischer im Gegenzug zu Hegels Dialektik, in der das »Meinen« des Wirklichen schrittweise in das »Sagen« des Wissens aufgehoben wird, zu einer Dialektik des Meinens und Sagens durch, die die je im Sagen gemeinte, ungesagt vorausgesetzte Wirklichkeit aufklärt, um uns so schrittweise deren praktischen Anspruch zu erschließen. Diese Arbeiten gehören meines Erachtens zu den bedeutendsten Studien immanenter Idealismus-Kritik – auch hierin den Arbeiten von Schelling, Ehrenberg und Rosenzweig sehr verwandt. Fischer bleibt aber bei diesen die Reflexionsstruktur des Idealismus in negativer Selbstkritik durchbrechenden frühen Studien nicht stehen, eben weil sie an den praktischen Anspruch der Wirklichkeit immer nur negativ heranführen, ohne diesen selbst positiv zur Sprache bringen zu können. Dies wird ihm zu Beginn der sechziger Jahre am Problem der Beziehung zum anderen Menschen bewusst. Er bricht daher seine Arbeiten an seinem Habilitationsprojekt Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften ab und wendet sich in Proflexion und Reflexion (1965/2007) einer sich grundlegend aus dem Primat praktischer Vernunft verstehenden Logik der Menschlichkeit zu. Mit ihr will Fischer zeigen, dass das philosophische Befragen unseres Menschseins, nicht nur eine theoretische Spielerei ist, sondern dass mit ihm unser Menschsein selbst praktisch auf dem Spiel steht. Da Fischer eine Habilitation mit diesen Studien verwehrt wird, kehrt er der Universität Bonn den Rücken, arbeitet aber bis zu seinem selbstgewählten Tode 1970 in immer neuen und ausgreifenderen Entwürfen an diesem Projekt weiter, sie wurden 1985 unter dem Titel Proflexion – Logik der Menschlichkeit herausgegeben. In Proflexion und Reflexion (1965/2007) stellt Franz Fischer – ähnlich wie Martin Buber in Ich und Du (1923) dem Ich-Es das IchDu entgegensetzt – mit »Reflexion« und »Proflexion« zwei Grenzfälle der »Logik der Menschlichkeit« gegenüber in ihren sich ausschließenden Grundhaltungen und in ihren extrem entgegengesetzten Folgen. Ausgangspunkt sind zwei unterschiedliche Weisen, in denen der Mensch nach seinem Menschsein fragt: reflexiv auf das Immer-schon seines naturhaften Menschseins zurück oder proflexiv auf sein noch ausstehendes sittliches Menschsein voraus. Daraus erSiehe Kapitel 14: »Fischer – Die Affinität von Wirklichkeit und Sinn sowie die Gottesfrage«.
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Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
geben sich auch zwei unterschiedliche Weisen, in denen das Selbst sich und den Anderen gewahr wird sowie mit dem Anderen zu den noch ausstehenden Aufgaben des Menschseins findet. Was uns heute so frappiert, sind die unglaublichen Parallelen der Ausführungen Fischers zu den gleichzeitigen Bemühungen von Emmanuel Lévinas, die Ethik als Erste Philosophie aus der Epiphanie des Anderen zu begründen. Beide – obwohl sie nichts voneinander wissen konnten – grenzen sich mit ganz ähnlichen Argumenten gegen alle transzendentale Bewusstseins- und Geistphilosophie ab und versuchen, mit verwandten denkerischen Mitteln ein davon unabhängiges Bestimmtsein des Selbst aus dem Anderen her und auf ihn hin zu fundieren. 9 Wie Lévinas setzt sich auch Fischer vor allem von Hegels dialektischer Denkstruktur des Im-Andern-bei-sich-Seins ab: »Die primitive Betrachtung unserer Dehnung erwuchs mir aus der Kritik am Begriff der Grenze in der Logik Hegels. Hegel definiert die Grenze durch den Verlauf der Idee, die sich zunächst selbst ihre Grenze setzt und dann von ihr auf sich zurückbezieht. In der Begrenzung negiert die Idee ihr Sein, setzt sich dadurch ihr Anderssein entgegen, negiert dann dieses als absolute Negation von sich selbst und setzt sich dadurch wieder mit ihrem Sein in eins.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 80) Anders aber als Emmanuel Lévinas zieht Franz Fischer daraus nicht die Konsequenz, jegliche Formen wechselweiser Beziehungen aus seinem Denken zu verbannen und nur noch einseitige Bewegungen gelten zu lassen; ganz im Gegenteil: Da der Fehler im Grundcharakter der Hegelschen Dialektik gerade darin liegt, dass der Andere als Anderer gar nicht erkannt und anerkannt, sondern nur als Mittel und Spiegelung für das eigene wissende Zu-sich-Kommen gebraucht wird, kann in der idealistischen Dialektik wahre Gegenseitigkeit überhaupt nicht zur Sprache kommen. Die Rückkehr zu sich selbst darf nicht als eine Beziehung der Gegenseitigkeit gedeutet werden. Wenn es uns aber nun um den Anderen als Anderen und unsere Beziehung zu ihm im eigentlichen Sinne geht, dann können wir nicht in der reflexiv, auf uns selbst zurückgebogenen Denkform verharren, sondern wir müssen eine Denkform entfalten, die gerade die positive Wechselbeziehung zwischen uns und dem Anderen zum Ausdruck bringt. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie, Würzburg 1999: 268 ff.
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Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit
Diese positive Denkform als eine wechselweise Bewegung auf den Anderen hin und vom Anderen her nennt Franz Fischer »Proflexion«; ihre sich gegen die Reflexion absetzende Entfaltung versucht er als »Logik der Menschlichkeit« zu entwickeln. Auf diese Weise erhält Fischer – ähnlich wie Martin Buber, aber in weitaus radikalerer philosophischer Strenge – in Proflexion und Reflexion zwei sich doppelnde Formen von Haltungen des Menschen zum Menschen, die er als »Grenzfälle« mitmenschlicher Erfahrung und Begegnung in ihren polar entgegenstehenden logischen Erscheinungsformen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen durch alle Bereiche mitmenschlicher Bezüge durchzuspielen versucht. Wir können hier nicht auf den Reichtum der Problemfelder eingehen, die Fischer in immer neuen und erweiterten Entwürfen von 1960–1970 vorgelegt hat, sondern möchten lediglich beispielhaft die Grundstruktur der Gegenüberstellung verdeutlichen, wie Fischer sie – auf Strophen verdichtet – in dem von ihm selbst noch veröffentlichten Büchlein Proflexion und Reflexion (1965/2007) ausgearbeitet hat. Bei den 13 mal 13 Strophen handelt es sich nicht etwa um lyrische Versuche Fischers, sondern um logische Problemmeditationen der Grenzfälle mitmenschlicher Grundsituationen – Die Hut, Die Saat, Der Tausch, Der Dienst, Die Arbeit, Das Spiel, Der Einfall, Die Weise, Der Bund, Die Stunde, Der Ort, Das Zeichen, Die Umwälzung – die jeweils in ihrer proflexiven und reflexiven Logik einander konfrontiert werden. Die beiden ersten Strophen lauten: [Proflexion] 1. »Wir sind ohne uns mit dem, der ohne sich mit uns ist.
2 »Wir vergessen uns aus uns und erahnen uns in dem, der sich aus sich vergißt und in uns erahnt. [Reflexion]
1. Wir sind mit uns ohne den, der mit sich ohne uns ist.«
2. Wir erinnern uns in uns und vergessen uns aus dem, der sich in sich erinnert und aus uns vergißt.« (Fischer, Proflexion und Reflexion: 41)
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Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Was Franz Fischer in diesen Strophen gedanklich durchspielt, sind zwei extrem sich entgegenstehende Weisen der Logik der Menschlichkeit, die Grenzfälle der Begegnung des Menschen darstellen, wobei der Grenzfall der Proflexion die ganz von sich lassende Gestalt der Hinwendung zum Anderen darstellt, wie sie in der Nächstenliebe aus der jüdischen und christlichen Tradition offenbar wird, während demgegenüber der Grenzfall der Reflexion die Struktur der auf sich zurückbezogenen, in sich selbst verbleibenden Selbstbegründung expliziert, die in ihrer absoluten Gestalt bei Hegel – wie dies bereits Karl Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 (Marx, 40: 585 f.) aufdeckte – eine Logik der Entfremdung ist. Die Darstellung dieser Grenzfälle, so legt Franz Fischer dar, kann selbst wiederum zweifach aufgenommen werden: entweder reflexiv, indem sie als eine Feststellung zweier Möglichkeiten des Menschseins genommen wird, die sich im Menschen vorfinden, diese Aufnahme bestätigt und verstärkt den Menschen in seinem Gewordensein, oder aber proflexiv, indem sie zur Aufforderung wird, für ein geschichtlich noch ausständiges Menschsein Partei zu ergreifen und dieses mit den anderen gemeinsam zu wagen. Franz Fischer weiß – auch hierin Emmanuel Lévinas nicht unähnlich –, dass er mit seiner Logik der Menschlichkeit an die äußersten Grenzen der Philosophie vorstößt, ja diese bereits bewusst überschreitet, denn alle Philosophie bleibt letztlich in der Reflexion befangen und kann bestenfalls die Grenze zum Positiven hin andeuten. Daher sind Franz Fischers Studien zu Proflexion – Logik der Menschlichkeit, trotz der systematischen Einleitung von Michael Benedikt, bis heute in der Schulphilosophie erstaunlich unentdeckt geblieben. 10 Wir wollen hier nicht den erneuten Versuch einer kritischen Erörterung von Anliegen, Anspruch und Grenze des philosophischen Versuchs Fischers vorlegen, 11 sondern an dieser Stelle nur einige Punkte herausstellen, die uns für eine Gesprächsfindung mit dem so verwandten und zugleich so gegensätzlichen Ansatz von Lévinas so-
10 Vgl. die »Einleitung« von Michael Benedikt (9–78) zu Franz Fischer, Proflexion – Logik der Menschlichkeit. Späte Schriften und letzte Entwürfe (1960–1970), (1985): 9–78. 11 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Fischers Gegenkonstruktion zur absoluten Reflexion bei Hegel«, in: Ders., Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur Hegel-Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis, (1974): 157 ff.
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Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit
wie für unsere eigene Problemklärung darüber hinaus wichtig erscheinen. In dem, was Fischer als Logik der Reflexion gegen die Logik der Proflexion abgrenzt, gibt es keinerlei Differenz zu Lévinas; auch Lévinas grenzt sich durchgängig in seinen Arbeiten von dieser Struktur des Selbstbezuges ab, wie diese in der ganzen abendländischen Philosophie dominant wirksam ist, in besonderer Weise aber bei Fichte, Hegel, Husserl und Heidegger – wenn auch sehr unterschiedlich akzentuiert – zum Ausdruck kommt. Beiden, Fischer und Lévinas, ist die Abgrenzung von aller reflexiven, in sich selbst zurückkehrenden Philosophie gemeinsam, weil diese den Anderen als Anderen nicht zu erfassen vermag. Nähe und Differenz der Positionen von Fischer und Lévinas liegen also in dem, was Fischer Proflexion nennt. Nun wird jedem, der die Arbeiten von Lévinas und von Fischer liest, sofort die unglaubliche Affinität der Metaphern auffallen, in denen beide den Bezug zum Anderen zu benennen versuchen. Aber diese Affinität bezieht sich nur auf die erste Hälfte der Proflexionsverse, während die zweite Hälfte, die – wie Fischer sagt – den wechselweisen »Gegenlauf« ausdrückt, genau das ist, was zu denken Lévinas sich strikt untersagt. Um Gleichklang und Gegensatz besonders hervorzuheben, zitieren wir erneut zwei Verse der Proflexion – unter Ausklammerung ihrer reflexiven Gegenstücke –, da sie wie direkte Anspielungen an oder Antworten auf die gleichzeitig und unabhängig entstandenen Ausführungen von Lévinas erscheinen: 12 »Wir sterben aus uns und leben in dem, der aus sich stirbt und in uns lebt.«
13 »Wir geben uns preis und behüten den, [Gegenlauf] der sich preisgibt und uns behütet.« (Fischer, Proflexion und Reflexion: 45)
Um das philosophische Problem, das in der Differenz der beiden Neuansätze zum Ausdruck kommt, noch deutlicher herauszuarbeiten, gilt es, nochmals daran zu erinnern, dass für Lévinas die Ethik des Anderen in ihrer Radikalität als Erste Philosophie nur begründet werden kann, wenn die sie tragenden Bewegungen unendlich einseitig bleiben: als einfallende Heimsuchungen durch das Antlitz des Anderen, ohne jeden Grund im Selbst – etwa in Form von Einfühlung oder Mitleid, die ihren Ausgang im Selbst haben und sich gegenüber dem 507 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Anderen in seiner Anderheit gar nicht öffnen – und als unbedingte Hinwendung auf den Anderen hin ohne jegliche Forderung der Dankbarkeit, ohne Schielen auf eine Gegengabe, denn dadurch würde die in der grundlosen Verantwortung für den Anderen gründende Ethik im Keim erstickt. Ohne Zweifel dürfen wir an diesen Grundfesten nicht rütteln, wenn wir nicht gleich wieder alles verlieren wollen, was wir durch Lévinas für eine Begründung der Ethik vom Anderen her und auf ihn hin gewonnen haben. Aber wir dürfen auch nicht übersehen, worauf Lévinas in Abgrenzung gegenüber Martin Buber ja selber ausdrücklich hinweist, dass diese Ethik jede Gegenseitigkeit ausschließt. 12 Franz Fischer bleibt dagegen beim Verfolg der beiden Wendungen der Proflexion und der Reflexion – wie sie auch Lévinas kennt – allein nicht stehen, sondern schreitet fort zu einem Durchdenken ihrer Konsequenzen für die Gegenseitigkeit mitmenschlicher Beziehungen. Das, was aus der Begegnung zweier Menschen im Gespräch, in der Liebe, in der Freundschaft, in der Ehe, ja in allen Formen mitmenschlicher Zuwendungen zu erwachsen vermag, versucht Fischer im jeweiligen Kontrast zum reflexiven Umlauf aus dem proflexiven »Gegenlauf« aufscheinen zu lassen. Im Umlauf kehren wir in der Bewegung reflexiv-dialektischen Begreifens über den Begriff des Anderen und seiner Welt zu uns selbst zurück (Hegels »Bei-sich-Sein« des absoluten Wissens), so wie auch der Andere über den Begriff von uns und unserer Welt zu sich zurückkehrt. Demgegenüber finden wir in der Bewegung proflexiv-dialogischen Zugehens auf den Anderen im Gegenlauf mit dem Zugehen des Anderen auf uns zu eine Gemeinsamkeit, die etwas Neues stiftet. Um die Logik der Gegenseitigkeit der mitmenschlichen Beziehungen geht es nun aber gerade Franz Fischer – hierin ganz bewusst an Martin Buber anknüpfend. Zunächst sollten wir jedoch darauf achten, dass die beiden gegenläufigen Sätze in Fischers Versen der Proflexion kein Bedingungsgefüge aussprechen. Es wird nicht gesagt, weil der Andere sich mir hingibt, gebe ich mich ihm hin. Auch erfolgt hier nicht eine entsprechende Berechnung auf die Zukunft hin: Ich gebe mich ihm hin, damit sich der Andere mir hingebe. Sondern im Grunde sind beide Seiten – gerade wie es Lévinas fordert – zwei unSiehe Emmanuel Lévinas, »Martin Buber und die Erkenntnistheorie«, in: Paul Arthur Schlipp / Maurice Friedman (Hg.), Martin Buber (1963): 119 ff.
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Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit
endliche einseitige Bewegungen, bedingungslos und ohne Forderung einer Gegengabe geben sie sich dem Anderen hin. Genau dies meint Fischer mit dem »Gegenlauf« der proflexiven Bewegungen im Gegensatz zum »Umlauf« der Reflexion, der sich an der Grenze zum Anderen nur abstößt, um zu sich selbst zurückzukehren. Sagt also Fischer nur mit anderen Worten und in anderen Formen dasselbe wie Lévinas? Ja und Nein. Ja – insofern auch er kein Schielen auf Gegengaben kennt; jeder schenkt sich dem Anderen bedingungslos. Nein – da erst durch die Verknüpfung beider gegenläufigen Bewegungen das zur Sprache kommen kann, was Lévinas undenkbar erscheint, nämlich die »Wechselstiftung« mitmenschlicher Beziehungen – Buber sprach in diesem Zusammenhang vom »Zwischen« der »Mutualität«. Nochmals anders gesagt: Nirgends geht es in diesen gegenläufigen Bewegungen der Proflexion darum, eine Gegengabe einzuklagen. Wo eine Gegengabe eingeklagt wird, ist die wechselseitige Beziehung bereits zerstört: Sondern es geht um das Neue und Einmalige der »Wechselstiftung« in all diesen mitmenschlichen Beziehungen. Blieben die unendlich einseitigen Bewegungen im Sinne von Lévinas ohne Verknüpfung, so wäre im Grunde jegliche Begegnung mit dem Anderen, ja sogar jegliche Verständigung mit dem Anderen ausgeschlossen; der Andere bleibt dann, wie es Lévinas selber formuliert, eine »Epiphanie« – eine konkrete Begegnung mit ihm kann nicht stattfinden. In seinen letzten Arbeiten in der zweiten Hälfte der 60er Jahre durchbricht Fischer die bloße Ausrichtung auf die Ich-Du-Beziehung, wie sie bei allein Buber dominant ist, und versucht die Logik der Gegenseitigkeit auch auf die weiteren Perspektiven menschheitlicher Gemeinschaften hin zu bedenken. Um diesen Abschnitt in seinen Nuancen zu explizieren, müssten wir weiter ausholen, als es hier geschehen kann; worauf es an dieser Stelle allein ankommt, ist die Ausweitung der Logik der Gegenseitigkeit auf die größeren Zusammenhänge und Perspektiven gesellschaftlicher, ja menschheitlicher Beziehungen. Menschheitsgeschichtlich betrachtet ist dies einerseits die Gemeinschaft unserer Abkunft und andererseits die Gemeinschaft unserer Nachkommenschaft, auf die wir uns in unterschiedlicher Weise zurückbeziehen oder vorausentwerfen. Etwas ungewohnt sind uns dabei die von Fischer eingeführten Benennungen von »Wir« und »Ihr«, wobei das Wir – wie das Ich – das selbstbezogene Abschließen meint, während das Ihr – wie das Du – für die selbstlose Hinwendung steht. Fischer durchdenkt hier die 509 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
gegensätzlichen Beziehungsformen von Wir und Ihr, einerseits auf die Gemeinschaft unserer Abkunft zurückbezogen und andererseits auf die Gemeinschaft unserer Nachkommenschaft hin, auf die wir uns vorausentwerfen. (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 558 ff.) Auf all diese Formen gesellschaftlicher Gegenseitigkeit bezogen, lässt sich kommentierend sagen, dass ›Wir‹ in den heutigen Industrienationen aus ökonomischem Eigeninteresse leben auf Kosten des ›Ihr‹ der Dritten Welt und ebenso des ›Ihr‹ der eigenen Nachkommenschaft. Dementgegen gilt es, Gemeinschaftsformen auf das ›Ihr‹ der ausgebeuteten Völker und das Ihr der Nachkommenschaft zu entwerfen, deren Konturen Fischer in seiner proflexiven Logik der Menschlichkeit skizziert. 13 Auf die Wechselstiftung in ihrer menschheitlichen Perspektive bezogen, wie sie zunächst am Verhältnis zur Nachkommenschaft deutlich wird, führt Franz Fischer im »Gesetz des Menschentums« aus: »Das Leben des Menschen, sowohl als einzelner wie als Masse, ist das Leben zwischen Geburt und Tod. Das Leben des einzelnen und das Leben der Masse vollzieht sich im Augenblick zwischen der Rückschau auf die Abkunft und der Vorschau auf die Zukunft. […] Die Schwierigkeit dieses Gedankenganges liegt darin, daß wir zunächst in einer Zeitlinie leben und uns wohl vorstellen können, daß von der Geburt her gesehen wir näher durch das Ich und ferner durch das Wir auf die Abkunft gerichtet sind. Es läßt sich auch vorstellen, daß wir auf die Zukunft hin gesehen und damit auf den Tod mit dem Du und dem Ihr unserer Nachkommen zusammenhängen. Dabei freilich sind Du und Ihr einfacher betrachtet nur das Du und das Ihr unserer Nachkommen, also derer, die nach unserem Tod leben werden. Wenn diese Zeitlinie in einen Augenblick zusammengezogen wird, dann erscheint uns das Du und das Ihr nicht erst als Du und Ihr der Nachkommenschaft, sondern als Du und Ihr eines jeden Setzungsvorganges, in dem sich die Wechselstiftung vollzieht.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 523 f.) In einer seiner letzten Arbeiten zur »Friedensforschung« (1969) versucht Franz Fischer sogar, sehr konkrete Konsequenzen aus der Gegenüberstellung der proflexiven Logik der Menschlichkeit und der Reflexion zu ziehen. Indem wir hier die ersten Sätze daraus zitieVgl. Michael Benedikt, »Das Ende der idealistischen Philosophie und der Übergang von der Dialogphilosophie zur Gesellschaftsethik«, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929): 697 ff.
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Franz Fischer – Die Logik mitmenschlicher Gegenseitigkeit
ren, geht es uns nicht darum, Fischers Entwurf zur Friedensforschung zu diskutieren, was ohne eingehende Darstellung des Gesamtzusammenhanges nicht gelingen könnte, sondern darum, hier nochmals den entscheidenden Stellenwert des Problems der Gegenseitigkeit für Franz Fischer hervorzuheben. »Wenn wir von Friedensforschung sprechen, dann fragen wir nach den Bedingungen des Friedens. Wir tuen es in der Bereitschaft zum Frieden und damit im Zusammenhang derer, denen es darum geht, Frieden zu erschaffen und also Vorurteile zu überwinden, die dem Frieden entgegenstehen. Der Frieden ruht auf der Wechselseitigkeit, in der wir aus uns in dem ersind, der aus sich in uns erist. Der Krieg basiert auf der Verneinung der Wechselseitigkeit, in der wir aus dem in uns versind, der aus uns in sich verist.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 591) Wenn wir abschließend noch auf die Gottesfrage eingehen, die in Fischers Philosophie durchgängig eine fundierende Rolle spielt, so scheint mir hier die Differenz zu Lévinas mehr in der unterschiedlichen Sprache und der schärferen Abgrenzung von den orthodoxen Theologien als im Aussagegehalt zu liegen. Entschieden lehnt Fischer – wie Buber – es ab, Gott außerhalb der proflexiven Wechselstiftung des Menschentums, die aber keineswegs reflexive Verabsolutierung des Menschen ist, an einen »dritten Ort« zu versetzen. Was Fischer hier als »dritten Ort« abwehrt, ist aber nicht das, was Lévinas als »dritte Person« versteht, sondern ist eine Verdinglichung Gottes, die verhindert, dass sich Gott im sinnstiftenden Geschehen der Proflexion selbst ereignen kann. (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 527 f.) Einen Gedanken und eine Formulierung Martin Bubers aufnehmend (Buber, Ich und Du: 86) und radikalisierend, sagt Fischer in einem die Gedankenbewegungen von Proflexion und Reflexion durchbrechenden »Bekenntnis«: »Der von uns reine und von uns erfüllte Mensch stellt im von uns reinen Menschen Gott als Gott vor und gibt im von uns erfüllten Menschen, den Menschen als Menschen wieder. […] Gott ist als Menschenvater das, was der Menschsohn ist, und der Menschensohn ist als Gottessohn das, was Gott ist.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 473) Vielleicht noch ein bisschen radikaler als Lévinas löst Fischer die Rede von Gott in das sittlich-liebende Geschehen der Menschen miteinander auf. Gott ist kein jenseitiges Wesen, das von einem »dritten Ort« her in die Welt hinein waltet, sondern er ereignet sich nur in der Liebe selbst – wie Fischer in Fortführung Kierkegaards darlegt: »In diesem Zusammenhang stellt sich uns die Frage, wie es sich mit Gott 511 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
verhält. Wenn wir uns zueinander so verhalten, daß wir uns darin jeweils erhalten, dann beziehen wir uns von unseren Worten auf die anderen, indem wir uns auf ihre Frage beziehen, das heißt, wir deuten uns als Folge, die den Grund in den anderen haben. Soweit in den anderen der Grund unserer Folge ist, erkennen wir uns als Menschen und das Menschentum als Grundlage von allem, was es gibt.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 526) »Wenn wir Gott ohne uns mit dem als Du erschauen, der ihn ohne sich mit uns als Du erschaut, dann empfangen wir aus unserem Gleichen im Selben von dem das von sich reine Sein der Duheit, der es aus seinem Gleichen in unserem Selben empfängt, so daß wir ineinander den von sich reinen Menschen erbilden und damit durch den am Strahlreich Gottes teilnehmen, der durch uns an ihm teilnimmt.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 507) Jede Ontologisierung Gottes an einem »dritten Ort« führt dazu, dass wir etwas von Gott erwarten, was nur wir selbst in proflexiver Gegenseitigkeit mit unseren Mitmenschen zu vollbringen vermögen. Doch daraus ist keineswegs eine Leugnung Gottes im Sinne Nietzsches oder Heideggers abzuleiten, vielmehr liegt das Göttliche in einer Ermöglichung einer Sinnerfüllung, die nur durch liebende Freiheit vollbracht zu werden vermag. »Das was wir der Gotteslehre vorwerfen, ist ihre Richtung zu dem von der Welt Reinen und nicht zu dem zur Welt Reinen. Wenn wir sagen, daß wir vom anderen zu uns rein sein sollen, so kommen wir zur Lehre von der Göttlichkeit eines Menschen, wie zum Beispiel der Buddhas oder der Jesu. Eine solche Reinheit von der Welt besteht nur durch die Entsagung und den Opfertod. […] In diesem Zusammenhang deuten wir […] unser Schicksal als […] freies Schicksal, als Schicksal also, das nicht durch den Bezug der anderen zu uns, sondern durch unseren Bezug zu den anderen seinen Weg geht.« (Fischer, Logik der Menschlichkeit: 527) Von dieser proflexiv Gott-gerichteten mitmenschlichen Bewährung des Menschen – die wiederum sehr an Lévinas erinnert – erhofft sich Franz Fischer die Überwindung jenes selbstbezogenen reflexiven Denkens, das Auschwitz zuließ. (Vgl. Fischer, Logik der Menschlichkeit: 529) Insofern beabsichtigt Fischer mit seiner wiederholenden Gegenüberstellung der logischen Strukturen von Proflexion und Reflexion keineswegs, nur mögliche Grenzfälle des Menschseins darzulegen, dies wäre eine selbst wieder nur reflexive Lesart seines Versuchs, sondern er will uns vor eine Entscheidung stellen, will uns »nötigen«, einzusehen, dass wir selbst unausweichlich vor die Ent512 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Eine erneute Erinnerung an Franz Rosenzweig
scheidung für oder gegen den Anderen gestellt sind. Wo wir uns also auf eine solche proflexive Lesart der problem-logischen Meditationen Fischers einlassen, bieten sie sich als »Handreichungen« zur »Einübung« proflexiver Wendungen an, vom Anderen her und auf ihn hin zu denken und zu handeln.
17.3 Eine erneute Erinnerung an Franz Rosenzweig Zunächst scheint mir, haben wir Franz Rosenzweigs kritische Bemerkungen gegenüber der Ich-Du-Beziehung bei Martin Buber zu erneuern. Auch Emmanuel Lévinas und Franz Fischer werfen sich in ihrer »Entdeckerfreude«, einen Durchbruch zum Anderen gefunden zu haben, mit einer geradezu beängstigenden Ausschließlichkeit auf den Bezug zum Anderen, um von daher die ganze Philosophie zu erneuern. Wo bleibt – so müssen wir insbesondere Franz Fischer fragen – in der Logik der Menschlichkeit der Bezug zur Natur in ihrer Kreatürlichkeit? 14 Dass die Natur im reflexiven »Umlauf« nicht in ihrer Kreatürlichkeit, sondern immer nur als Objekt technischen Erkenntnisinteresses vorkommen kann, ist seit Schellings Fichte-Kritik von 1806 philosophisch grundsätzlich herausgearbeitet. Nun kommt aber in Fischers proflexiver Logik der Menschlichkeit die Natur ebenfalls nicht vor – und dies verweist unseres Erachtens auf eine prinzipielle Begrenztheit dieses Neuansatzes. Die Stärke von Lévinas’ und Fischers Denken liegt in der Neukonstitution einer Ethik, die vom Anderen her und auf ihn hin begründet ist, aber es wäre übertrieben zu glauben, mit diesem Neuansatz bereits alle Probleme der Philosophie gelöst zu haben. Auf das Naturproblem bezogen möchten wir hier wenigstens an die ebenfalls in jener Zeit entstandenen Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty zur Phänomenologie der Leiblichkeit und ihrer Eingebettetheit in die Natur sowie auf Ernst Blochs Perspektive einer Allianz von Mensch und Natur erinnern. 15 Ebenso – und dieser Einwand richtet sich vor allem gegen Em-
Bei Emmanuel Lévinas gibt es wenigstens, wenn auch sehr rudimentäre, Ansatzpunkte ihrer Einbeziehung. Siehe dazu Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen: 326. 15 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (1986); Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972). 14
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Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
manuel Lévinas – müssen wir mit Rosenzweig fragen, wo denn der Wir-Horizont einer Gesellschaftsethik bleibt. 16 Bei Emmanuel Lévinas liegt es sowohl an dem paradoxen Festhalten an der Phänomenologie als auch an dem Versuch ihrer Überwindung, wodurch verhindert wird, dass über das unmittelbare Ansichtigwerden des Anderen hinaus auch noch eine Perspektive geschichtlicher Praxis mit den Anderen ins Blickfeld kommen kann. Aber grundsätzlicher noch fehlt in beiden Ansätzen die Einsicht, dass es im Hinblick auf eine menschheitsgeschichtliche Gesellschaftsphilosophie nicht nur der ethischen Perspektive bedarf, sondern auch einer kritischen Analyse der herrschenden Kräfte der Gegenwart, die einer sittlichen Mitmenschlichkeit hemmend im Wege stehen, wie dies Karl Marx in seinen Arbeiten zur Kritik der politischen Ökonomie vorgelegt hat. Im Anschluss an Marx haben diese geschichtliche Perspektive gesellschaftlicher Praxis vor allem Georg Lucács in den zwanziger Jahren und Henri Lefebvre in seinen Arbeiten in den sechziger und siebziger Jahren in einer Eindringlichkeit fortgeführt, 17 hinter die wir nicht zurückfallen dürfen, wenn es uns um eine Gesellschaftsethik im Horizont der Menschheitsgeschichte geht. Doch noch eine letzte kritische Eingrenzung des Neuansatzes von Lévinas und Fischer möchten wir von Rosenzweig her anmerken. Beide – Lévinas und Fischer – vergessen im letzten, ihre philosophischen Entwürfe selber nochmals einer kritischen Selbstbegrenzung auf die uns aufgegebene Praxis hin zu unterwerfen. Da sie dies unterlassen, verfallen ihre Entwürfe in paradoxer Weise dem von ihnen kritisierten Reflexionssystem. Um das Gemeinte deutlicher zu machen, möchten wir nochmals auf Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung eingehen. Rosenzweig beschließt sein Buch mit einem Schlussabschnitt, der mit »Tor« überschrieben ist und dessen letzte Worte lauten: »Ins Leben!« Was er mit diesem Schlussabschnitt intendiert, hat er in der Abhandlung »Das neue Denken« (1925) nochmals ausdrücklich erläutert: »Hier schließt das Buch, denn was nun noch kommt, ist schon jenseits des Buchs, ›Tor‹ aus ihm heraus […] – Aufhören des Buchs. Ein Aufhören, das
In Franz Fischers späten Entwürfen finden wir erste Schritte in diese Richtung – so in den verschiedenen Entwürfen zu einer »Dialektik der Gesellschaft« und zum »Gesetz des Menschentums«. 17 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923); Henri Lefebvre, Metaphilosophie (1965). 16
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Eine erneute Erinnerung an Franz Rosenzweig
zugleich ein Anfang ist und eine Mitte: Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens. […] Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selber verantwortet werden […]. Diese Verantwortung geschieht am Alltag des Lebens. Nur um ihn als All-Tag zu erkennen und zu leben, mußte der Lebenstag des All durchmessen werden.« (Rosenzweig, Neues Denken, GS III: 160) Was Rosenzweig hiermit unterstreicht, ist, dass die Philosophie, auch die existentiellste und konkreteste Philosophie, nicht an die Stelle des Lebens und der Praxis treten kann. Im Gegenteil, gerade die Philosophie, die den Menschen in seinem existentiellen Betroffensein erreichen will, hat sich als gesagte, als geschriebene zurückzunehmen, um der Bewährung in der Praxis, im täglichen Leben, Raum zu geben. Diese Selbstbegrenzung der Philosophie ist keine Verneinung der Philosophie, denn ihr fällt unaufgebbar die Aufgabe der Orientierung der Praxis zu, sie hat Hinführung zur gelebten Bewährung der Praxis zu sein. Aber gerade deshalb ist die an ihr selbst noch sichtbar zu machende Selbstbegrenzung gegenüber dem Vollbringen der Praxis von so entscheidender Bedeutung, nur so vermag sie, sich in die Praxis aufzuheben und zu verwirklichen. Was Franz Rosenzweig hier ausspricht, ist die bewusste Erneuerung dessen, was Platon in all seinen Dialogen mit der Verweigerung eines aussagbaren Ergebnisses intendiert, denn nur dadurch kann das in den Gesprächen in Gang gesetzte Suchen nach dem, was sittliche Praxis ist, von uns praktisch aufgenommen und bewährt werden. Wir werfen Lévinas und Fischer keineswegs vor, dass es ihnen nur um die Philosophie als Philosophie gehe; selbstverständlich intendieren ihre Neuansätze mitmenschlicher Ethik deren Bewährung in der Praxis, selbstverständlich werden sie diese Bewährung je für sich versucht haben. Was wir ihren Ansätzen vorhalten, ist, dass sie die Selbstbegrenzung der philosophischen Aussage gegenüber der zur vollbringenden Praxis nicht selbst noch thematisieren. Uns fasziniert Emmanuel Lévinas’ Anliegen, die Ethik als Erste Philosophie auszuweisen; aber es fragt sich, ob nicht gerade eine solche grundlegende Ethik an sich selbst demonstrieren müsste, dass sie dem Primat der Praxis untersteht. Wir wollen Lévinas’ »Kampf und Schmerz um den Ausdruck« (Lévinas, Die Spur des Anderen: 319), den Anderen als Anderen zur Sprache zu bringen, keineswegs geringschätzen, aber aller sprachlicher Ausdruck, der die Hinwendung zum Anderen umschreibt, ist doch nur Rede über den Anderen und nicht die Hinwendung zum Anderen selbst. Gerade von dieser negativen 515 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Der Andere und die Wechselstiftung – Lévinas und Fischer
Differenz der Philosophie zur Praxis sollte eine Ethik, die sich unter den Primat der Praxis gestellt weiß, auch sprechen. Ähnliches gilt für die »Logik der Menschlichkeit« von Franz Fischer. Hier empfinden wir das Fehlen der philosophischen Selbstbegrenzung in seinem Spätwerk noch schmerzlicher und tragischer. Es waren einige frühere Arbeiten von Fischer, die uns anstießen, auf die grundlegende Differenz zwischen aller Rede über die Praxis und dem »Vollbringen« der Praxis zu achten. (Franz Fischer, Sinn von Sinn: 62 ff.) Franz Fischers spätere Philosophie der Logik der Menschlichkeit versucht, diese Differenz zu umgehen, indem sie zwei Weisen der Menschlichkeit als Grenzfälle bis hin zur letzten Konsequenz von Frieden und Krieg, von aufbauender Zukunft und zerstörendem Verhängnis darlegt, um uns schließlich vor die »Entscheidung« zu stellen. Aber bis in die letzten Sätze hinein, die von uns eine Entscheidung fordern und in einem »Bekenntnis« gipfeln, bleibt Fischer – im »Rausch der Entdeckerfreude« (Rosenzweig) – dem Sagen der Logik der Menschlichkeit verhaftet, ohne dass er eine Möglichkeit findet, dieses Sagen gegenüber dem aufgegebenen Vollbringen zu begrenzen. Obwohl sicherlich das, was Fischer »Proflexion« nennt, prägnanter als alle vorhergehende Philosophie die Logik des Dialogs, des dialogischen Sprechens und Handelns, entfaltet, verhält sich sein Spätwerk dem Leser gegenüber, den er doch ansprechen und erreichen will, extrem undialogisch, eben weil sich die Explikation der Logik des Dialogs – unbeabsichtigt zwar – an die Stelle des zu vollbringenden Dialogs schiebt. Mit diesem kritischen Einwand möchten wir keineswegs die Neuansätze von Emmanuel Lévinas und Franz Fischer abtun oder uns gar einer intensiveren Rezeption ihrer Werke in den Weg stellen. Im Gegenteil: beide Ansätze gehören zu den tiefsten Problemmeditationen in Bezug auf die »Epiphanie des Anderen« und die »Logik der Wechselseitigkeit« sowie im Hinblick auf ein erneuertes Ernstnehmen der Gottesproblematik als unserer Aufgegebenheit. Vieles harrt hier noch der näheren Entdeckung und Explikation, wobei uns ihre wechselweise Konfrontation besonders fruchtbar erscheint, um sie in all ihren nuancierten Implikationen zum Sprechen zu bringen. Aber mit Franz Rosenzweig und dem jungen Franz Fischer möchten wir doch an dem kritischen Einwand festhalten, dass es die Aufgabe der Philosophie sein muss – der Glaubensphilosophie zumal –, sich als Philosophie aufzuheben, damit sie sich in die gelebte Praxis hinein bewähren könne. 516 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Unwiderruflich sind wir in das Zeitalter des Exterminismus 1 eingereten, in das Zeitalter der möglichen Selbstvernichtung der Menschheit, in der die unter wertökonomisch angetriebene Expansion der wissenschaftlich-industriellen Produktivkräfte in Destruktivkräfte (Marx) umgeschlagen sind, in Destruktivkräfte sowohl in Bezug auf die Menschen als auch gegenüber der Erde als unser aller Lebensgrundlage. Die technischen Mittel zur Selbstvernichtung besitzen wir Menschen erst seit einigen Jahrzehnten, aber sie wachsen unaufhörlich und gigantisch an. Gefährlicher noch als die Waffenarsenale zum Overkill und ihr kriegerischer Einsatz ist die schleichende Zerstörung der Biosphäre durch die fortschreitende industrielle Produktion in ihrer gegenwärtigen wertökonomischen Formbestimmtheit. Die hier in Gang gesetzte Entwicklung ist deshalb von völlig neuer Qualität, da sie – obwohl durch gesellschaftliche Produktion hervorgebracht – doch keineswegs in den Grenzen gesellschaftlicher Kontrolle verbleibt, sondern völlig ungesteuert – von den unmittelbaren Verursachern ignoriert – Prozesse, Veränderungen und Brüche nicht nur im gesellschaftlichen Gefüge, sondern auch in der organischen Natur einleitet und hervorruft, die teilweise unumkehrbar vernichtend sind und daher den kommenden Generationen die Chance zur eigenen Gestaltung eines menschenwürdigen Lebens entziehen. So scheint heute bereits die Unaufhaltbarkeit des Selbstzerstörungsprozesses unendlich viel wahrscheinlicher zu sein als ein menschheitliches Überleben.
Edward P. Thompson, »›Exterminismus‹ als letztes Stadium der Zivilisation«, in: Das Argument (1981): 326 ff. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende (1972). Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965/1975): 346. Wolfdietrich SchmiedKowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984/2018).
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Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
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Zu einer Strophe von Hölderlin 2
»Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.« (Hölderlin, Patmos, [1803], II: 172) Vor mehr als 65 Jahren – damals, als dieses Problem einer die Menschheit bedrohenden ökologischen Krise gerade erst erahnbar wurde – haben zwei Denker versucht, sich diesem Problem unseres gegenwärtigen immer problematischer werdenden wissenschaftlichtechnischen Umgangs mit der Natur und der darin implizierten Gefahr zu stellen: Martin Heidegger in Vorträgen (1949/50), die in dem Büchlein Die Technik und die Kehre (1962) erschienen, und Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung, geschrieben in den 40er und 50er Jahren, erschienen 1954/59. Beide beziehen sich dabei auf den zweiten Vers der ersten Strophe aus der Hymne Patmos von Hölderlin: »Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.« Kann uns heute noch aus dem Bedenken dieses Hölderlin-Wortes Hoffnung und Kraft erwachsen für das Rettende? Martin Heidegger nennt die Technik in ihrer gegenwärtigen Entwicklung eine Gefahr für den Menschen und nicht nur für ihn; wobei »das Gefährlichste der Gefahr« darin liegt, dass sie uns verhüllt bleibt, dass sie uns die Einsicht in das Gefährdende verstellt, da »es immer noch und immer wieder« so aussieht, »als sei die Technik ein Mittel in der Hand des Menschen«, die er nach seiner Willkür und seinen beliebigen Zwecksetzungen zu handhaben vermag. »In Wahrheit ist jetzt das Wesen des Menschen dahin bestellt, dem Wesen der Technik an die Hand zu gehen« (Heidegger, Technik: 37), denn das Wesen der Technik – nicht ihre gegenwärtige technische Gestalt – ist das Hervorbringen und das Entbergen der Möglichkeiten des Seins.
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur«, in: Gvozden Flego / Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Ernst Bloch – Utopische Ontologie (1986): 219 ff.
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Zu einer Strophe von Hölderlin
In der gegenwärtigen Anwendung und im Selbstverständnis der Technik und ihres gesamten Mechanismus, den Heidegger »Gestell« nennt, liegt also eine grundlegende Verkehrung. »Sagt dies, der Mensch sei der Technik ohnmächtig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? Nein. Es sagt das reine Gegenteil«. (Heidegger, Technik: 37) Denn »das Gestell«, die Technik, »ist, obzwar verschleiert, noch Blick, kein blindes Geschick im Sinne eines völlig verhangenen Verhängnisses.« (Heidegger, Technik: 45) 3 Daher ist auf eine »Kehre« zu hoffen. Aber die »Kehre« ist nicht etwas, was wir technisch erwirken oder willkürlich in menschlicher Selbstherrlichkeit vollziehen können. Zum Wandel der Technik werden wir nicht technisch als blinde Handlanger der Technik gebraucht, sondern als Menschen, die das Wesen des Seins und sich darin gewahr werden, die sich besinnen auf das Wesenhafte ihres Existierens, die merken, »daß alles bloße Wollen und Tun nach der Weise des Bestehens (der Technik) in der Verwahrlosung beharrt.« (Heidegger, Technik: 45) Um die Kehre zu ermöglichen, sind Menschen gefordert, die sich dem Getriebe »verweigern«, die das Getriebenwerden in sich anhalten, die sich auf ihr Wesen besinnen und dem Anspruch des Seins zu entsprechen versuchen. »Dies alles vermögen wir nur, wenn wir vor der anscheinend immer nächsten und allein als dringlich erscheinenden Frage: Was sollen wir tun, dies bedenken: Wie müssen wir denken? Denn das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins an die Hand zu gehen. […] Denkend lernen wir erst das Wohnen in dem Bereich, in dem sich […] die Verwendung des Gestells (der Technik) ereignet.« (Heidegger, Technik: 40) Hiermit wird also klargestellt, dass eine Wandlung der Technik, die der Gefahr in ihr begegnet, die eine Gefahr im Menschsein selbst ist, nicht durch technisches Wollen und Handeln erwirkt werden kann, sondern nur durch ein »Sichkehren« des Menschen, der versucht, »dem Sein und dessen Anspruch zu entsprechen und im Entsprechen dem Sein zu gehören«. Dieses »Sichkehren« ist selbst aber kein rationalistisch gesteuerter Willensakt, sondern ereignet sich »blitzartig«, wo uns erstmals »die Gefahr […] als die Gefahr, die sie ist, eigens ans Licht kommt«. (Heidegger, Technik: 40)
3
Vgl. Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit (1983): 25.
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Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Somit wird deutlich, was Heidegger mit dem Hölderlin-Vers anspricht; er führt dazu aus: »Wo die Gefahr als die Gefahr ist, gedeiht auch schon das Rettende. Dieses stellt sich nicht nebenher ein. Das Rettende steht nicht neben der Gefahr. Die Gefahr selber ist, wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende. Die Gefahr ist das Rettende, insofern sie aus ihrem verborgenen kehrigen Wesen das Rettende bringt. Was heißt ›retten‹ ? Es besagt: lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hand nehmen, wahren.« (Heidegger, Technik: 41) Die Kehre ist etwas, was sich in uns ereignen muss, jedoch nicht erzeugt aus rationeller Entscheidung und geplantem Willensakt, sondern dem das Sein bedenkenden Menschen zuwächst im Ansichtigwerden der Gefahr. »Vielleicht stehen wir bereits im vorausgeworfenen Schatten der Ankunft dieser Kehre. Wann und wie sie sich geschicklich ereignet, weiß niemand. Es ist auch nicht nötig, solches zu wissen. Ein Wissen dieser Art wäre sogar das Verderblichste für den Menschen, weil sein Wesen ist, der Wartende zu sein, der das Wesen des Seins wartet, indem er es denkend hütet.« (Heidegger, Technik: 41) Nur wenn er »dem menschlichen Eigensinn entsagt«, und ganz »Hirte des Seins« ist, entspricht der Mensch in seinem Wesen dem Anspruch des »Seins«. (Heidegger, Technik: 44, 41) Doch fast schon verzweifelt klingt Heideggers Ausruf Mitte der 60er Jahre angesichts unserer planetarischen Bedrohung: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« Worunter Heidegger allerdings keinen transzendenten Gott irgendeiner Religion versteht, schon gar nicht den christlichen Gott (Heidegger, Beiträge, GA 65:403), sondern ein Ereignis, das wir nicht herbeiführen, sondern das wir nur im Andenken des Seins erwarten können. Insofern fährt Heidegger fort: »Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang, daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.« (SPIEGEL Nr. 23 (1976): 209) * * * Diesem Konzept Heideggers, das sich denkend und wartend auf eine Schickung des Seins zurückwendet, stellt Ernst Bloch sein Prinzip Hoffnung entgegen: »Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.« 520 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Zu einer Strophe von Hölderlin
»[D]ieser Hölderlin-Vers« – so sagt Bloch – »gibt schlechthin das positiv-dialektische Wendemoment an, dem die Furcht der Todesstelle verschwunden ist. […] Gefahr und Glaube sind die Wahrheit der Hoffnung, dergestalt, dass beide in ihr versammelt sind und die Gefahr keine Furcht, der Glaube keinen trägen Quietismus in sich hat. Die Hoffnung ist derart zuletzt ein praktischer, ein militanter Affekt, sie wirft Panier auf.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 127) Anders als bei Heidegger bleibt hier bei Bloch das Sichkehren angesichts der Gefahr nicht bei einer das Rettende erwartenden Schickung des Seins stehen, sondern nach Bloch wächst uns aus der Gefahr eine praktische, eine militante Hoffnung zu, die uns zu einer bewussten und gemeinsamen revolutionären Praxis ermutigt. Revolutionäre Praxis ist keine technische, auch sie verweigert sich dem Getriebe des Bestehenden, die den Menschen zum Anhängsel einer verselbständigten wertökonomischen Entwicklung macht; sie ist aber mehr als ein auf das Wesen des Seins gewendetes Denken, sie ist vielmehr der praktische und gemeinsame Versuch, das bestehende Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen und zur Natur grundlegend zu verändern. Der ermöglichende Grund und der Glaube für dieses praktische Hoffen erwächst uns einerseits aus uns selbst, denn in uns ist – trotz der unser Denken und Tun verformenden Verhältnisse – noch sehr viel »Träumen nach vorwärts«, was uns über das Schlecht-Bestehende hinaustreibt. »Sich ins Bessere denken, das geht zunächst nur innen vor sich. Es zeigt an, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, was wartet,« verwirklicht zu werden. (Bloch, Prinzip Hoffnung: 224) Andererseits ist die Welt – sowohl die natürliche als auch die gesellschaftliche – keine bereits abgeschlossene und in ihrem Entwicklungsprozess bereits vorweg determinierte, vielmehr ist sie voller Potenzen – Latenzen und Tendenzen –, die ihrer über die menschliche Praxis zu erschließenden Verwirklichung harren. »Was heraufkommt, ist noch nicht entschieden, was als Sumpf steht, kann durch Arbeit ausgetrocknet werden. Durch das Doppelte von Mut und Wissen kommt die Zukunft nicht als Geschick über den Menschen, sondern der Mensch kommt über die Zukunft und tritt mit dem Seinen in sie ein.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 227) Dies begründet aber nur die Verankerung des Hoffens im Möglichen in uns und im Weltprozess, deren Teil wir selbst sind. Dies gibt uns jedoch noch keineswegs die Gewissheit, dass uns je die Verwirklichung einer besseren Zukunft den bestehenden Verhältnissen und 521 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Entwicklungsmechanismen zum Trotz erreichbar sein wird. 4 Gerade darin haben wir die Gefahr zu sehen, wenn wir den Geschichtsprozess allein dem Getriebe der gegenwärtigen Entwicklung überlassen, dann wird ganz sicher die Zukunft als ein katastrophales Geschick über uns kommen. Da der »Geschichtsprozeß«, »infolge eines noch nicht verwirklichten Treibens- und Ursprungs-Inhalts, noch ein unentschiedener ist, kann seine Mündung ebensowohl das Nichts wie das Alles, das totale Umsonst wie die totale Gelungenheit sein.« (Bloch, Prinzip Hoffnung: 222) Deshalb aber ist der »arbeitende Mensch«, der revolutionärpraktische Mensch selber notwendig der »archimedische Punkt«, durch den sich die Not wenden kann. Nicht – gerade nicht – die sich selbst, d. h. den herrschenden Mächten überlassene Welt kann sich zum Besseren wenden, nur durch die revolutionäre Praxis derer, die die Gefahr erkennen und sich ihr entgegenstellen, besteht Hoffnung auf eine humanere Gesellschaft und ein versöhntes Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Mit der Gefahr wächst, in der revolutionären Praxis derer, die sie erkennen und ihr entgegentreten, das Rettende. »Dadurch hat der vorgerückte Zustand des Nichts, der in der Geschichte immer stärker ausbrechende« Zustand möglicher Weltvernichtung, »der Dialektik zum Alles selber konstitutive Macht gegeben. Utopie dringt vor, im Willen des Subjekts wie in der TendenzLatenz der Prozeßwelt«. (Bloch, Prinzip Hoffnung: 363) Solange wir leben und leben wollen, werden wir auch das Hoffen nicht in uns tilgen können, es ist dies ein Hoffen nicht auf Hilfe von außen, sondern auf die noch nicht ausgeschöpften Potenzen in uns in Vermittlung mit den noch nicht ausgeschöpften realen Möglichkeiten im Natur- und Geschichtsprozess. Aber angesichts der wachsenden Bedrohung reicht dieses Hoffen nicht aus, es muss zum militanten Hoffen einer revolutionären Gegenbewegung gegen das drohende Unheil werden. »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, das ist die beste Hoffnung […]. Das Vorhandensein des Widersacherischen […] ruft genau und unnachlaßlich das rebellierend Prometheische hervor […]. Denn das Reale enthält in seinem Sinn die Möglichkeit eines Seins wie Utopie, das es gewiß noch nicht gibt, doch es gibt den fundierten, fundierbaren Vor-Schein davon und dessen utopisch-prinzi-
4 Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969/1981).
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Postulate des Dasein Gottes
piellen Begriff, so politisch wie ethisch wie ästhetisch wie metareligiös.« (Bloch, Experimentum mundi: 238) 5
2.
Postulate des Dasein Gottes
Erstaunlich ist, dass beide Denker, Bloch und Heidegger, wohl weil sie radikal a-theistisch und entschieden gott-los denken wollen, so offensichtlich den ersten Vers der ersten Strophe der Hymne Patmos übergehen und damit Hölderlin um die Tiefe seiner Aussage bringen: »Nah ist Und schwer zu fassen der Gott.« Dabei kommen beide bei all ihrer Heroisierungen des Menschen – hier an der Grenze einer möglichen Menschheits-Apokalypse – nicht umhin, metaphorisch auf eine Beschwörung der Gottheit auszugreifen. Nicht die Heroisierung des Menschen möchten wir ihnen ankreiden, sondern dass sie der Gottesproblematik nicht tief genug nachgehen und sich ihr daher nicht wirklich stellen. Beide versuchen sie – mit unterschiedlicher Akzentsetzung zwar –, der offensichtlichen Einseitigkeit der Geistphilosophie Hegels eine ebensolche absolute Gegenposition eines dialektischen Materialismus bzw. einer Hermeneutik des Seins entgegenzustellen. Was in Hegels absoluter Religion des Geistes nur durch die Ignorierung der Eigenständigkeit der Existenz gelingt, wird bei den versuchten Gegenpositionen von Bloch und von Heidegger durch unterschiedliche Einbeziehung des Sinns in die Materie bzw. in das Sein erreicht. Dabei verkürzen all diese Vereinnahmungsversuche – des Seins in den Sinn oder des Sinns in das Sein – das Problem in unzulässiger Weise, denn die Einheit von Sinn und Existenz ist dem philosophischen Denken nicht gegeben, sondern als Frage aufgegeben. 6 Erinnert sei nochmals an die frühe Aussage Blochs: »Denn wir sind mächtig; nur die Bösen bestehen durch ihren Gott, aber die Gerechten – da besteht Gott durch sie, und in ihre Hände ist die Heiligung des Namens, ist Gottes Ernennung selber gegeben, der in uns rührt und treibt, geahntes Tor, dunkelste Frage, überschwängliches Innen, der kein Faktum ist, sondern ein Problem, in die Hände unserer gottbeschwörenden Philosophie und der Wahrheit als Gebet.« (Bloch, Geist der Utopie: 346). 6 Siehe hierzu Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (1953). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Ko5
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Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Ohne Zweifel wissen wir nur von einer Menschheit, ihr gehören wir an, für sie sind wir verantwortlich. 7 Ob es noch andere Erden gibt, auf denen sich Lebens- und Bewusstseinsformen herausbilden konnten, ist uns bisher unbekannt. Doch selbst wenn wir einst erfahren sollten, dass es noch andere geistige Wesen gegeben hat, gibt oder geben wird, so entlässt uns das nicht aus der Geschichte unseres Menschengeschlechts und unserer Verantwortung für diese Geschichte, der wir und nur wir angehören. Die Menschheit ist in dem, was sie von sich begreift und was sie aus sich macht, allein auf sich gestellt. Die Menschheitsgeschichte ist – wie es Platon (Symposion 212a–c; Politeia 473c–e) und Kant (Zum ewigen Frieden, VI: 195 ff.) schon zeigen – das Experiment, das die Menschheit an sich selbst vollbringt. In dieser Aufgabe ist die Menschheit unendlich einsam und mit sich allein, darin liegt die Bürde der Freiheit des Menschen, denn es gibt für das Projekt des Menschseins (Lefebvre, Metaphilosophie: 354) keine Vorgaben aus der Natur oder von einem Gott her. Es wäre aber völlig falsch, aus dieser Einsicht einen absoluten Anthropozentrismus Feuerbachscher oder Nietzscheanischer Prägung ableiten zu wollen. Denn natürlich haben wir uns nicht selbst erschaffen, wir sind mit allem, was wir Menschen sind, aus der Natur geworden – was denn sonst? Und selbstverständlich begreifen wir, dass all unsere Suche nach Wahrheit und all unsere sittlichen Vernunftentscheidungen, die wir menschheitsgeschichtlich herausarbeiten, nicht unsere willkürlichen Erfindungen und Setzungen sind, sondern Auslegungen eines Sinnanspruchs, in dem auch unsere je individuelle Vernunft gründet. (Fischer, Sinnes von Sinn: 193) Diese Doppelbestimmtheit, in der wir uns immer schon gestellt vorfinden, können wir uns nicht entziehen. Sie wurde einerseits von Schleiermacher im theoretisch-existentiellen Postulat des »im unmittelbaren Selbstbewußtsein Sich-schlechthin-abhängig-Finden[s]« (Schleiermacher, Glaubenslehre, I: 171) und andererseits von Kant im sittlich-praktischen Postulat des »Daseins Gottes« als Voraussetzung für die Verwirklichung all unseres sittlichen Handelns ausgewiesen. (Kant, KpV, IV: 254 ff.)
warzik, »Geschichtsphilosophie und Theologie«, in: Myriam Bienenstock (Hg.), Der Geschichtsbegriff: eine theologische Erfindung? Würzburg 2006: 51 ff. 7 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit (2017): 189 ff.
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Postulate des Dasein Gottes
Selbstverständlich begreifen wir, dass all unsere erkennende und entscheidende Vermittlung von Sinn und Existenz, von Sinnverstehen der Existenz in unserem Weltbegreifen und von Existenzsetzung von Sinn in unserem Handeln nicht unsere willkürlichen Setzungen sind, sondern einbezogen sind in einen größeren Existenz- und Sinnzusammenhang, der uns weder theoretisch noch praktisch verfügbar ist und den wir doch postulieren müssen. So können wir zwar, wenn wir die Einheit von Sinn und Existenz gemäß unserer Tradition Gott nennen, die ganze Geschichte der Menschwerdung des Menschen metaphorisch als einen Dialog Gottes mit den Menschen umschreiben, in dem Gott der uns Rufende ist und wir die Antwortenden, die sich vor ihm zu ver-antworten haben. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Gott, wenn wir den Ruf als seinen hören, nur in uns spricht. Auch für die Urmonade (Leibniz, Monadologie: I, 439 ff.) haben wir keine Fenster, durch die sie von außen in uns eindringen könnte; sie kann nur etwas immer schon in uns selbst Aktivierbares, in uns zum Vorscheinkommendes sein. Ob überhaupt und wie wir Gott in uns vernehmen, ist also selbst etwas, was nur geschichtlich durch Menschen hindurch offenbar werden kann, obwohl es nicht etwas in der menschlichen Kommunikation Erschaffenes, sondern etwas in ihr Aufbrechendes ist. Der Gott, den die Philosophie postuliert, ist kein vorbestimmender oder in die Geschichte eingreifender Gott, sondern er ist göttlicher Ermöglichungsgrund und Zielperspektive, die die freie Selbstfindung und Selbstbestimmung des Menschen uneingeschränkt und vorbehaltlos brauchen – wie dies bereits Kant in seiner ReligionsSchrift unterstreicht. Weder kann Gott in die Geschichte eingreifen noch kann jemand für uns Opfer erbringen, um uns vor uns selbst zu retten, sondern dies kann nur der Mensch selbst, der sich vor Höherem verantwortlich weiß. Auch die Offenbarung und das Gebet als Formen des Dialogs, den der Mensch menschheitsgeschichtlich oder individuell mit Gott führt, ist kein äußerliches Geschehen und kennt keine äußerlichen Erscheinungsformen, sondern ereignet sich nur im einzelnen Menschen oder in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter und findet seine Erfüllung in der von Liebe durchdrungenem Handeln der Menschen miteinander. Dies ist es, was Franz Rosenzweig mit dem Wunder der Sprache, Franz Fischer mit der Proflexion als Logik der Menschlichkeit und Emmanuel Lévinas mit der Epiphanie des Antlitzes des Anderen in der Spur der abwesenden Erheit an den Grenzen des Unsagbaren auszusagen versuchen. 525 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Nicht erst diese jüngsten philosophischen Deutungsversuche ringen um ein Ausdrücken des Unsagbaren. Schon die frühesten Zeugnisse der biblischen Tradition versuchen – wie aus der Erzählung der Selbstoffenbarung Gottes im brennenden Dornbusch zu ersehen ist, mit dem »Ich bin, der Ich bin« oder »Ich werde sein, der Ich sein werde« (2. Mose 3: 14) bzw. »Ich werde dasein, der ich dasein werde« 8 –, jeglicher Verdinglichung des Gottesgedankens entgegenzuwirken. In ähnlicher Weise schimmert durch die Erzählung der Einsetzung der beiden Gebotstafeln der Gottesliebe und der Nächstenliebe (2. Mose, 20, 1 ff.) die Schwierigkeiten durch, dem Volk die Reinheit der Liebesgebote zu vermitteln. Die ursprünglich von Gott gravierten Tafeln mit dem Doppelgebot wurden von Moses angesichts der Anbetung des goldenen Lamms durch das Volk Israel zerbrochen, aber aus Liebe und Verantwortung für sein Volk bringt Moses in einem zweiten Anlauf dem Volk dann doch noch Tafeln und zusätzliche konkrete Anweisungen, die sich dann nicht nur in 10 Geboten, sondern in 613 kultischen und sozialen Verhaltensregeln niederschlagen, die das Volk zwar befriedigen, aber den sittlichen Kern des Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe auch verwischen.
3.
Das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
All das schwingt in dem von Schelling geprägten Ausdruck vom »notwendig Gott-setzenden Bewußtsein« mit, ein Gedanke, der bereits bei Xenophanes im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erstmals anklingt und der durch Ludwig Feuerbach – wenn auch nur halb rezipiert – Weltberühmtheit erlangte. Feuerbach reflektiert nur die eine Hälfte der Einsicht, dass alle Vorstellungen und Bilder, die sich die Menschen von Gott machen, seine, des Menschen, Ideale repräsentieren, dass also der Mensch sich Gott nach seinem idealisierten Ebenbilde schafft. Feuerbach unterschlägt jedoch die zweite Hälfte des Gedankens, dass der Mensch sowohl theoretisch als auch praktisch gar nicht anders kann als notwendig Gott-setzend zu sein. Denn er selbst, der Mensch, kann die von Gott erwartete und erhoffte absolute Einheit von Sinn und Wirklichkeit weder aus theoretischer
Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, I: Namen, 3: 14.
8
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Das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
noch aus praktischer Vernunft je aus sich heraus erfüllen, jene Einheit kann ihm immer nur Postulat bleiben. Das Bewusstsein ist grundsätzlich Gott-setzend, das heißt zunächst, es kann weder sich selbst noch irgendetwas sonst aus sich selbst setzen, es ist unvordenklich als selbst existierend gesetzt, und es ist immer auf Existierendes bezogen. In all seiner Sinnsuche und Sinnbestimmung erhofft sich das Bewusstsein, in einer Einheit von Sinn und Existenz zu stehen, zu deren Erfüllung es selber mit beizutragen hat. Somit können wir uns nun bewusster und entschiedener dem menschheitsgeschichtlichen Projekt der Menschwerdung des Menschen stellen. Alles, was der Mensch von sich und von der Welt begreift, und alles, was er aus sich und aus der Welt macht, ist sein Werk. Aber er kann dies nur dann von sich behaupten, wenn er gleichzeitig einsieht, in einen Naturprozess eingebettet zu sein, aus dem er niemals loskommt, und dass er in seinem Streben nach einer humaneren Welt der Idee des Guten verpflichtet ist, aus der er sich selbst zu begreifen hat. (Vgl. Platon, Politeia: 534bf.) Nur so kann der Mensch davor bewahrt werden, sich selbst und sein Werk absolutzusetzen, um sich vielmehr verantwortlich zu begreifen für das Ganze der »Schöpfung selbst« und sich gefordert zu erfahren, auf das »höchste Gut« auf Erden hinzuwirken (Kant, KU, V: B 396 ff.). Nur so kann begründet und erreicht werden, dass wir Verantwortung übernehmen sowohl für den daseienden und lebendigen Evolutionszusammenhang, aus dem auch wir sind, wie dies Hans Jonas fordert (Jonas, Verantwortung: 245), als auch hoffend, uns für die Sinnverwirklichung sittlichen Menschseins einzubringen, wie dies Ernst Bloch (Bloch, Geist der Utopie: 346) umschreibt. Wobei sie jedoch beide – in Missachtung der jeweiligen Gegenposition – die Tiefe des Gedankens vom »Gott-setzenden Bewusstsein« verfehlen. Die Menschwerdung des Menschen ist ein unabgeschlossenes, ein unabschließbares Projekt. Wir sind immer auf dem Wege, das Menschliche unseres Menschseins theoretisch zu finden und praktisch zu erfüllen, und Bildung zur Mündigkeit sowie politische Emanzipation der Menschen sind hierbei regulative Orientierungsziele unseres Werdeprozesses. Aber ihnen voraus erahnen und erhoffen wir einen größeren Existenz- und Sinnzusammenhang, in den wir gestellt sind. Bei unserer Sinnsuche und unserer Sinnverwirklichung dürfen wir den Gottesgedanken gerade nicht verleugnen, sondern müssen ihn als unverzichtbares Postulat unseres Denkens und Handelns beibehalten, denn ohne ihn kommt es unweigerlich zu einer 527 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Hypostasierung der menschlichen Vernunft bzw. ihrer verdinglichten Realabstraktionen: der Wissenschaft, der industriellen Technik, der Wertökonomie mit all ihren Zwängen und Abhängigkeiten für die Individuen. Der sich zum Übermenschen erklärende Mensch bringt die schrecklichsten Barbareien und ungeheuerlichsten Katastrophen hervor – man denke nur an die Nacht und Hölle von Auschwitz (Adorno, Erziehung zur Mündigkeit: 88) sowie an den Vorschein eines »Abortus der menschlichen Geschichte« – wie Henri Lefebvre diese uns erst seit einigen Jahrzehnten gegebene exterministische Zukunftsperspektive benennt. (Lefebvre, Metaphilosophie: 346) In diesem Sinne stellt Schelling der absoluten Religion Hegels, in der die verklärte Erkenntnis Gottes durch die Gemeinde mit der Selbsterkenntnis Gottes zusammenfällt, die Gestalt Jesu entgegen, der gerade in Erfüllung des Gedankens des »notwendig Gott-setzenden Bewußtseins« zu Christus zu werden vermag, zu einer Leitgestalt für eine Aufgabe, die den Menschen zur geschichtlichen Erfüllung aufgegeben ist. Der ursprüngliche Kern von Leben und Botschaft des Jesus von Nazareth ist, in christliche Mythen und in christliche Dogmen verpackt, in seinem gemeinten Sinnanspruch nur noch schwach zu erkennen. Jesus war nicht gekommen, das Sittengesetz der Väter umzustürzen, sondern es zu verinnerlichen. Er setzte dort an, wo Moses aus Verzweiflung an seinem Volk die ursprünglichen Tafeln zerbrach und gleichzeitig doch sich nicht anders zu helfen wusste, als neue Tafeln zu meißeln. Die Kenntnis und die äußere Einhaltung dieser Gebote vorausgesetzt, geht es ihm einzig und allein um ihre Erfüllung aus Liebe zum Nächsten, um die Verwirklichung sittlichen Menschseins. Wenn Jesus gegen den überkommenen Glauben sagt, »wartet nicht erst auf den Messias« – den »Übermenschen«, den »letzten Gott« –, denn »sein Reich ist bereits mitten unter euch«, so verweist er damit nicht auf sich selbst, wie die spätere christliche Mythologie vermeinte, sondern erläutert ausdrücklich: Gottes Reich ist mitten unter uns, sofern wir – wir Menschen – hier und heute beginnen, aus Liebe zum Nächsten zu handeln. Jesus von Nazareth hat in Taten, Predigten und Gleichnissen konkretisiert, was es heißt, aus der Liebe zum Nächsten zu handeln – das sind keine äußeren Regeln, die man zu befolgen hat, sondern etwas, was jeder nur als Anspruch des hilfebedürftigen Anderen in der konkreten Situation erfahren und als sittliche Aufgabe dem Nächsten gegenüber erfüllen kann. Zugleich steckt in dieser Bot528 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Die Philosophie und die Religionen
schaft aber der weiteste Menschheitshorizont, der sich nur denken lässt, denn jeder, der menschliches Antlitz trägt, ist mir in seiner Hilfsbedürftigkeit der Nächste. In dieser Antizipation steckt – von Jesus von Nazareth noch kaum selbst erahnt – eine die Grenzen des jüdischen Volkes sprengende Menschheitsperspektive, die das unerhört Herausfordernde seiner Botschaft auch für uns heute noch ausmacht.
4.
Die Philosophie und die Religionen
Die Philosophie kann die Existenz Gottes nicht beweisen, aber sie muss so etwas wie eine absolute Einheit von Sinn und Existenz postulieren, um die eigene Einheit von Sinn und Existenz, die jeder von uns ist, verstehen und verwirklichen zu können. Die eigene Einheit von Sinn und Existenz gründet im unhintergehbaren »Ich bin« unseres daseienden Bewusstseins, das sich einerseits als daseiendes in einen umfassenden Existenzzusammenhang gestellt erfährt und andererseits als sich bedenkendes Bewusstsein in einen umfassenden Vernunftzusammenhang begreift. Ob die beiden das Bewusstsein umspannenden Zusammenhänge eine absolute Einheit darstellen, ist dem Bewusstsein nicht verfügbar, aber wo immer das Bewusstsein denkend und handelnd sich zu verwirklichen versucht, postuliert es eine solche Einheit, postuliert es einen es ermöglichenden und orientierenden Gott. In dieser Weise ist das Bewusstsein Gott-setzend. Die Religion, jede Religion von ihren Uranfängen an, steht vor diesen Einschränkungen nicht, für sie ist Gott sinnbestimmende Existenzgegebenheit und existenzgegebene Sinnbestimmung, die niemals in Frage gestellt werden kann. Gott ist, ganz gleich unter welchem Bild er verehrt und angefleht wird, ob als allumfassender Kosmos oder als Göttervielfalt oder als personaler Gott, der Schutzgebende und Ängstigende, der unerbittlich Fordernde und der gnädig Trostspendende zugleich. Wo die Menschen im Laufe der Menschheitsgeschichte immer mehr zu den Gestaltern ihrer eigenen individuellen und kollektiven Geschichte werden, um so mehr wird Gott auf die wenigen Stunden existentieller Not und existentiellen Glücks zurückgedrängt, bis auch diese letzten Winkel menschlicher Lebensängste durch den Glauben an die Wissenschaften, die Technik und die Ökonomie verwaltbar und beherrschbar erscheinen. Doch können diese Ersatzgötter niemals die 529 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Religion ganz ersetzen, denn ihr Versprechen, Sinn und Existenz zu vereinigen, haben allenfalls nur begrenzten Bestand und werden von Krisen erschüttert, die sie selbst mit hervorbringen. Seit der Hochblüte des Mittelalters kommt es über Vermittlung arabischer Aristoteles-Rezeptionen in Europa zu einer verstärkten Auseinandersetzung zwischen christlicher Religion und Philosophie. 9 Das Christentum ist mit seinen sehr starken mythologischen Anleihen anders als philosophisch gar nicht als Monotheismus begründbar, daher war es von Anfang an auf eine Symbiose mit der Philosophie angewiesen, ohne ihre gegenseitige Verschlingung – im Doppelsinn des Wortes – wäre die christliche Religion nicht denkbar. Die Dreifaltigkeitslehre, die Einheit von Gott und Mensch in Jesus-Christus, die Einbeziehung des Gläubigen in die Ausgießung des Heiligen Geistes – dies alles sind höchst filigrane Glaubensspekulationen, an denen Generationen von Theologen seit dem Mittelalter bis in die Neuzeit hinein mit der ganzen Schärfe philosophischer Vernunft und in inbrünstiger Hingabe gearbeitet haben. In dieser Symbiose von Philosophie und Glauben in der christlichen Theologie, die selbstverständlich nur von der obersten Elite getragen wurde und wird, liegt zugleich die geschichtliche Stärke und Schwäche der christlichen Religion. D. h. als Theologie ist die christliche Religion eine höchst differenzierte Philosophie, als Volksreligion bleibt sie meist so mythologisch wie jede andere. Von daher ist es verständlich, dass sich die Philosophie nur in Europa in Durchdringung des Christentums ab der Renaissance erneut – wie zuvor in Griechenland – von jeglicher religiösen Bevormundung befreien konnte. Denn nur dadurch, dass die Philosophie als Magd der Theologie benötigt wurde, konnte sie sich weiterentwickeln und emanzipieren. Aus der gegenseitigen Verschlingung von Philosophie und Glauben in der christlichen Theologie geht das freie Denken letztlich als Sieger hervor. Durch die Jahrhunderte hindurch wird in Europa die Alltagskultur säkular, und der religiöse Glaube wird zwar keineswegs abgeschafft, aber in die Privatsphäre zurückgedrängt. Wir stehen heute noch mitten in diesem Prozess. Das bedeutete aber für die Philosophie keineswegs eine Leugnung der Gottesproblematik, sondern es geht ihr um ein Verstehen ihres Kerns aus »den Grenzen der bloßen Vernunft« (Kant) und um 9 Vgl. Erhard Oeser, Das Vermächtnis von Al-Andalus. Dialog statt Kampf der Kulturen, Saarbrücken 2017.
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Die Philosophie und die Religionen
eine Orientierung auf diesen Kern. Die Gottesfrage wird in der kritischen Philosophie als eine für sie selbst notwendige Grenzproblematik freigelegt, der sich die menschliche Vernunft nicht entziehen kann, will sie nicht einer unkritischen Absolutsetzung eines selbst gezimmerten Fetisches zum Opfer fallen. Weil die kritische Philosophie offen ist für die Gottesfrage als unabweisbare Grenzproblematik, ist sie auch offen zum Dialog mit allen Glaubensrichtungen, sofern diese sich nicht dogmatisch und fundamentalistisch jeglichem vernünftigen Gespräch versperren. Besonders die Dogmatiken der monotheistischen Religionen schließen einander radikal aus, empfinden die Glaubenssätze der jeweils anderen Religion geradezu als Gotteslästerungen. Bereits im Mittelalter waren es Philosophen aus den drei Religionen – des Judentums, des Islam und des Christentums –, die im maurischen Andalusien das interreligiöse Gespräch suchten und eine erstaunlich lange Zeit ein friedliches Nebeneinander dieser drei Glaubensgemeinschaften ermöglichten. Erst in der Neuzeit tritt die Philosophie als unabhängiger Vermittler und Schiedsrichter hinzu. In Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise, ist es der Jude Nathan, der seiner Ringparabel einen wahrhaft philosophischen Schluss gibt: Welcher der drei Ringe die wahre göttliche Kraft besitzt, wird man in »über tausend tausend Jahren« an der sittlichen Bewährung der Kindes-Kindeskinder der drei Brüder entscheiden können. 10 Im jüdisch-christlichen Dialog sind sicherlich Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg in nie zuvor gekannter Weise aufeinander zugegangen, und doch blieb zwischen ihnen – ganz abgesehen davon, dass sie alle anderen Glaubensgemeinschaften aus dieser Zweisamkeit der Juden und Christen ausschlossen – eine Glaubensdifferenz, die sie nicht zu überbrücken vermochten, deren Überwindung sie daher scherzhaft gesprochen dem Kommen oder Wiederkommen des Messias überantworteten. Die entscheidende Einsicht zu ihren interreligiösen Gesprächen führt Rosenzweig in seinem Stern der Erlösung aus: »Vor Gott sind so die beiden, Jude und Christ, Arbeiter am gleichen Werk. […] Die Wahrheit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns. […] Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil. […] So sind wir beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe gerade um dessentwillen, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen.« (Rosenzweig, Stern, GS II: 462 f.) 10
Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (1778/1983): 75.
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Epilog: Der Mensch, das »notwendig Gott-setzende Bewusstsein«
Diese Einsicht sollte nicht nur auf Gesprächswillige aller Religionen ausgeweitet werden, sondern in diesen Dialog sollten auch alle Philosophen einbezogen werden, denen es um das sittliche Überleben der Menschheit geht, ganz sicherlich auch a-theistische Philosophen wie Ernst Bloch und Hans Jonas. Es sollte dies ein Dialog um die Sinnorientierung und Verantwortung menschlichen Handelns in der Geschichte sein, der sich zugleich als Kampf gegen die der Menschwerdung des Menschen entgegenstehenden Dogmatismen und Fundamentalismen versteht sowie gegen die selbstgezimmerte Ersatzreligion mit ihrem Götzenbild eines heilbringenden globalisierten Kapitalismus auf ihrem Thron. 11 Zur Anregung und Forcierung solcher Gespräche kommt der Philosophie eine entscheidende Rolle zu. Allerdings ist dabei eine Philosophie gefordert, die sich der Sinnfrage unserer Existenz bis in ihre letzten religiösen Horizonte hinein nicht entzieht. Wird uns dann nicht deutlich, dass wir in einem unabgeschlossenen Diskurs über den Sinnauftrag unseres Daseins stehen? Gehören wir nicht alle als Menschen – um es hier nur mit jüdischen und christlichen Bildern zu fragen – dem auserwählten Volk an, und sind wir nicht alle in die Kindschaft einer zu vollbringenden Nächstenliebe gerufen?
Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 290 ff.
11
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»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?« Eine Laienpredigt
Seit Menschengedenken treibt den Menschen diese Frage um: Was ist der Mensch? oder besser: Wer bin ich – Mensch? Der Mensch ist das einzige Wesen, das wir kennen, das sich diese Frage stellen kann, und er ist in der verzweiflungsvollen Situation, dass nur er diese Frage zu beantworten vermag. Diese Situation markiert das grundlegend philosophische Problem menschlicher Selbstaufklärung, dem der Mensch nicht zu entrinnen vermag. Anders als die Wissenschaft vom Menschen – die in unserer Reihe der Universitätspredigten durch den Biologen Prof. Dr. Roland Hedewig zu Wort kam – stellt die Philosophie keinerlei Erfahrungswissen zur Beantwortung der Frage »Was ist der Mensch?« bereit, sondern sie warnt vielmehr davor, das gesammelte Erfahrungswissen bereits für die ganze Beantwortung der Frage zu halten, denn alles Wissen vom Menschen erreicht niemals unsere existentielle Frage »Wer bin ich – Mensch?«, der sich jeder von uns in überwältigenden Entscheidungssituationen ausgeliefert findet. Anders als die Theologie – die durch Prof. Dr. Martin Hein, Bischof der Evang. Landeskirche von Kurhessen-Waldeck, zu Wort kam – vermag die Philosophie dem Menschen auf seine verzweiflungsvolle Frage »Wer bin ich – Mensch?« keine Botschaft Gottes anzubieten, aus der ihm Trost und Gebot für sein irdisches Dasein offenbar wird. Vielmehr gemahnt die Philosophie, Glaubensantworten nicht schon für absolutes Wissen über Gott und den Menschen zu halten. Der Philosoph konfrontiert den Menschen mit seiner auf sich allein gestellten Selbstreflexion, aus der Frage und Antwort je in ihrer Begrenztheit und Zerbrechlichkeit erwachsen. Der 22jährige Philosoph Friedrich W. J. Schelling bezeichnete vor mehr als zwei Jahrhunderten (1797) den Menschen »als das sichtbare, herumwandernde Problem aller Philosophie« (Schelling, II: 54), um auszudrücken, dass wir zwar nicht wissen, wie Geist und Materie zu533 https://doi.org/10.5771/9783495823613
»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?«
sammenhängen und doch ihre Verknüpfung in uns tragen. 35 Jahre später sprach Schelling in seiner Philosophie der Offenbarung (1832) von uns als dem »notwendig Gott-setzenden Bewusstsein«. Alles – so können wir diese Selbstkennzeichnung des Menschen kurz auslegen –, was wir von Gott aussagen, was wir von Gott als Anrufung und Gebot erfahren, ist immer nur unser Bild, das wir von Gott entwerfen, wir sind Gott-setzendes Bewusstsein. Aber wir sind notwendig Gott-setzendes Bewusstsein, d. h. der Mensch hat sich nicht selbst erschaffen, er ist mitsamt seiner Sinngebung immer schon in den Sinnzusammenhang einer geschichtlichen Existenz gestellt, deren Sinnhaftigkeit und deren Sinnauftrag – und das ist ihm Gott – er sich immer nur auslegend zu erschließen vermag. Von hier her möchte ich versuchen, an die Fragen »Was ist der Mensch?« bzw. »Wer bin ich – Mensch?« in Annäherungen an den Psalm 8 (in der Übersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig) heranzutreten. »Du, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in allem Erdreich! Du, dessen Hehre der Wettgesang gilt über den Himmel hin, aus der Kinder, der Säuglinge Mund hast du eine Macht gegründet, um deiner Bedränger willen, zu verabschieden Feind und Rachgierigen. Wenn ich ansehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger, Mond und Sterne, die du hast gefestet, was ist das Menschlein, daß du sein gedenkst, der Adamssohn, daß du zuordnest ihm! Ließest ihm ein Geringes nur mangeln, göttlich zu sein, kröntest ihn mit Ehre und Glanz, hießest ihn walten 534 https://doi.org/10.5771/9783495823613
»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?«
der Werke deiner Hände. Alles setzest du ihm zu Füßen, Schafe und Rinder allsamt und auch das Getier des Feldes, den Vogel des Himmels und die Fische des Meers, was die Pfade der Meere durchwandert. Du, unser Herr, wie herrlich ist dein Name in allem Erdland!« Die Psalme gehören mit zu den faszinierendsten Gebetsliedern der Menschheitsgeschichte. Ihre ältesten Teile weisen zurück auf den ägyptischen Früh-Monotheismus unter Echnaton. Aber gerade im Vergleich mit dem Sonnenhymnus des Echnaton wird auch das unerhört Neue des jüdischen Monotheismus greifbar. Erstmals wird Gott als der Einzige angerufen, der nicht von dieser Welt ist und von dem doch alles erschaffen ist, der alles erhält und mit Sinn durchwirkt. Erstmals treten hier Gebetslieder auf, die nicht etwa nur der König für sich und seine Untertanen spricht, sondern die von jedem einzelnen in der Gemeinschaft gebetet oder gesungen werden können. Es entsteht – wie der Philosoph Hermann Cohen sagt: eine unmittelbare Korrelation zwischen der Einzigkeit Gottes und jedem einzelnen Menschen – eine je individuelle Zwiesprache des Dankens und Bittens. Gerade der Psalm 8 zeigt dies ganz besonders eindrucksvoll, indem er die allgemeine Frage »Was ist der Mensch?« auf den existentiellen Ruf »Wer bin ich – Mensch?« verdichtet. In der ersten Strophe wird auf die Sprache angespielt, durch die der Mensch aus der gesamten Schöpfung herausgehoben ist, von der der aus Kassel stammende Religionsphilosoph Franz Rosenzweig sagt: »Denn die Sprache ist wahrhaftig die Morgengabe des Schöpfers an die Menschheit und doch zugleich das gemeinsame Gut der Menschenkinder, an dem jedes seinen besonderen Anteil hat, und endlich das Siegel der Menschheit im Menschen. [… D]er Mensch wurde zum Menschen, als er sprach«. (Rosenzweig, GSII: 122) Aber in der Aussage des Psalms steckt noch mehr: »[A]us der 535 https://doi.org/10.5771/9783495823613
»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?«
Kinder, der Säuglinge Mund hast du eine Macht gegründet, um deiner Bedränger willen«. Man könnte meinen, hier schon den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas herauszuhören, der darauf hinweist, dass alle Ethik in der Epiphanie des Antlitzes des Anderen – auch schon das Antlitz des Säuglings vor jedem verbalen Hilferuf – gründet, die sich in dem Gebot ausdrücken lässt: »Du wirst mich nicht töten.« Jedenfalls spricht diese erste Strophe aus, dass die menschliche Sprache nicht nur eine Gegebenheit ist, durch die wir in den Raum mitmenschlicher Sinnverständigung gestellt sind, sondern eine Aufgegebenheit, die »Bedränger Gottes« zu überwinden – oder wie Luther übersetzt: »daß du vertilgest den Feind und den Rachgierigen«, den Widersacher alles Guten. Die zweite Strophe, die in Luthers Übersetzung so lautet: »Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?«, – diese zweite Strophe lässt zunächst ein Thema anklingen, das Immanuel Kant in seinem berühmten Wort vom Menschen in Welt und Geschichte wieder aufgegriffen hat: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht […]: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (Kant, KpV, IV: A 288) Angesichts des bestirnten Himmels über mir weiß sich der Mensch als ein Staubkorn auf einem Staubkorn im Universum, aber durch das moralische Gesetz in ihm ist er an die Front eines Mitstreiters für eine bessere, gerechtere Welt gestellt. Doch der Psalm 8 geht in dieser zweiten Strophe noch einen Schritt weiter, und hierin liegt der religiöse Kern des ganzen Psalms (hier in Anlehnung an Luther etwas umgeformt): ›Wer bin ich – Mensch?, dass du meiner gedenkst, und […] dass du dich meiner annimmst?‹ Hier spricht sich das religiöse Grundvertrauen und der Dank dafür aus, dass unser Dasein in all seinen Höhen und Tiefen, durch all seine Freuden und Leiden durch eine Sinnstiftung gehalten und geleitet wird, die wir Gott nennen. Für den Kasseler Religionsphilosophen Franz Rosenzweig gipfelt die Gotteserkenntnis darin, dass wir in Gott die Wahrheit erblicken, und er fährt danach erläuternd fort: »Gott ist die Wahrheit – dieser Satz, mit dem wir ein Äußerstes des Wissens zu erschwingen meinten, sehen wir näher zu, was denn Wahrheit sei, so finden wir, daß jener Satz nur das innigst Vertraute unserer Erfahrung uns mit andrem Wort wiederbringt; […] daß er Wahrheit ist, sagt uns zuletzt 536 https://doi.org/10.5771/9783495823613
»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?«
doch nichts anderes, als daß er – liebt.« (Rosenzweig, GS II: 432) Und das meint, die Wahrheit Gottes liegt in keinem absoluten Wissen, das wir von der Welt haben, sondern darin, dass wir unsere Existenz als ein Geschenk der Liebe erfahren. Und wie können wir dieser Wahrheit genügen? Nur dadurch, dass wir im Angesicht der Wahrheit Gottes unser Menschsein bewähren – Rosenzweig wörtlich: »Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr ›ist‹, und wird das, was als wahr – bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff […]« des »neuen Denkens«. (Rosenzweig, GSIII: 159 f.) Das Geschenk der Existenz können wir nur durch Bewährung unseres Lebens beantworten. Damit kommen wir abschließend noch zum Kern der Aussage der dritten Strophe: »Ließest ihm ein Geringes nur mangeln, göttlich zu sein, kröntest ihn mit Ehre und Glanz, hießest ihn walten der Werke deiner Hände. Alles setzest du ihm zu Füßen«. Dieser ganz kleine Unterschied, der den Menschen als Ebenbild vom Urbild Gottes trennt, ist doch sehr entscheidend. Wir leben heute in einer Zeit, in der der Mensch diesen Unterschied nicht mehr wahrhaben will. In Wissenschaft, Technik und Ökonomie gebärdet sich der Mensch als absoluter Herr des Seins. Er empfindet keine Verantwortung mehr für den Weltzusammenhang, in den er gestellt ist. Er wähnt sich an Gottes Stelle getreten zu sein. Vor 120 Jahren bereits diagnostiziert Friedrich Nietzsche den Tod Gottes für unsere Epoche. Er lässt den tollen Menschen ausrufen: »Gott ist tot! […] Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns […]? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt das Blut von uns ab?« (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, II: 127) Aber kann denn der Mensch wirklich an Gottes Stelle treten? Beschwörend hofft Nietzsche auf das Kommen des Übermenschen. »Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch […]. Dieser Mensch der Zukunft, […] dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muß einst kommen …« (Nietzsche, Genealogie, II: 837). Aber was hilft’s – Nietzsche mag noch so verzweifelt rufen, der Mensch kann weder zum Übermenschen werden, noch kann er einen Übermenschen erschaffen. Wenn auch nur »ein Geringes« – wie der Psalm 8 sagt –, doch dieses Geringe mangelt uns, »göttlich zu sein«. Wir haben nicht die Welt erschaffen, in der wir uns vorfinden, wir 537 https://doi.org/10.5771/9783495823613
»Wer bin ich Mensch, dass du meiner gedenkst?«
haben nicht einmal uns selbst hervorgebracht, so kann auch der Sinn, zu dessen Mitgestaltung wir aufgefordert sind, immer nur etwas sein, was als Anspruch an uns herantritt, der über uns hinausverweist. Wir sind und bleiben »notwendig Gott-setzendes Bewusstsein«, dieser Selbsteinsicht gerecht zu werden, darin liegt unsere Bescheidung und Größe zugleich. Ganz zum Abschluss möchte ich noch hervorheben, weshalb viele der Psalme – ähnlich wie das »Vater unser« – auch für Philosophen so attraktiv und anerkennenswert sind. In ihnen wird keinerlei religiöse Mythologie erzählt, und in ihnen spricht sich keinerlei religiöse Dogmatik aus. Sie können nahezu von allen religiösen Glaubensrichtungen aufgenommen und auch von einem Philosophen mitgesprochen werden, sofern dieser den Menschen in seiner Sinnsuche akzeptiert. Die Psalmen verkünden keinerlei absolutes Wissen, sondern verbleiben in der lebendigen Sprache von Anrufung und Dank für eine Grundbefindlichkeit unseres Menschseins, in der wir uns vorfinden und in der wir uns zu bewähren haben. So möchte ich mit der erneuten Lesung von Psalm 8 in der Übersetzung von Martin Luther schließen: »Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, du, den man lobet im Himmel! Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, daß du vertilgest den Feind und den Rachgierigen. Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Ochsen allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und was im Meer gehet. Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!«
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 365, 528 Altfelix, Thomas 430 Anders, Günther 269, 517 Amir, Yehoyada 19 Anselm von Canterbury 19, 20, 22– 23, 185, 207 Anz, Wilhelm 84 Apel, Karl Otto 72 Appel, Kurt 43 Aristoteles 13, 31, 72, 74, 169, 205, 314, 317, 320, 323, 365, 421, 496, 530 Arndt, Andreas 150 Augustinus 386, 412, 415–416 Aulke, Reinhard 425
500, 503, 505, 509, 511, 513, 526, 534 Bubnoff, Nikolai von 412 Buddha (Siddhartha Gauta-ma) 512 Burckhart, Holger 345
Baeck, Leo 453 Bal, Karol 150 Barba, Francesco 410 Barth, Karl 477 Bauch, Bruno 335 Beaufret, Jean 307, 311, 314 Beckers, Heidelinde 205 Benedikt, Michael 43, 506, 510 Benner, Dietrich 429, 443 Bloch, Ernst 15, 251–277, 298, 356, 359, 388, 390, 403–404, 513, 518, 520–523, 527, 532 Böhler, Dietrich 272 Brakelmann, Günter 356 Brasser, Martin 19 Breil, Reinhold 329, 339 Brincken, Gertrud von den 9 Bruckstein, Almut Sh. 351 Buber, Martin 16, 388, 403, 453, 455, 461, 462–468, 471, 493–494, 498,
Danz, Christian 191 Derbolav, Josef 74, 345, 428–429, 436 Derrida, Jacques 422 Descartes, René 20, 23, 185, 202, 416 Dilthey, Wilhelm 72–73 Dober, Hans Martin 403
Camus, Albert 307, 405 Casper, Bernhard 389 Cassirer, Ernst 345, 475, 480, 482, 484, 491 Cohen, Hermann 16, 30, 140, 150, 351, 362, 394, 453, 455–464, 470471, 490, 500, 535 Cotta, Johann Friedrich 192 Cramer, Wolfgang 335, 337
Ebbinghaus, Julius 360, 368 Ebner, Ferdinand 493, 502 Eckhart (Meister) 176, 271, 386, Ehrenberg, Hans 16, 150, 305, 355– 385, 388, 392, 394, 397, 400, 410– 420, 462, 468, 470–474, 479, 503, 531 Ehrenberg, Rudolf 393, 411, 418, 468 Ehrlich, Leonard H. 394, 475, 479, 485, 486 Eidam, Heinz 150 Eliade, Mircea 294–295 Engelmann, Peter 422 Engels, Friedrich 237, 245
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Personenregister Fackenheim, Emil 492 Ferrari, Massimo 341 Feuerbach, Ludwig 15, 25–27, 29–30, 35, 38, 88, 221–237, 243, 247–248, 251, 253, 259–260, 262, 266–267, 278, 371, 375, 379, 480, 524, 526 Feyerabend, Paul 297 Fichte, Johann Gottlieb 14, 53, 72, 95–105, 112–120, 128–149, 150– 151, 155, 159, 161–164, 183, 189, 191, 202, 211, 315, 331, 356–357, 359, 366–367, 368–373, 375–376, 385, 416, 521, 443, 453, 507, 513 Fischer, Anton 422 Fischer, Franz 16, 35, 37–39, 255, 396, 421–449, 492–496, 502–511, 512–516, 524–525 Fischer, Kurt Rudolf 297 Fischer-Buck, Anne 422 Flego. Gvozden 251, 518 Fleischer, Margot 221 Flemming, Jens 462 Flickinger, Hans Georg 150 83 Frank, Manfred 73, 372, 387 Freund, Else 391 Friedman, Maurice 508 Friedrich Wilhelm II. König von Preußen 54 Gadamer, Hans-Georg 72–73 Garnitschnig, Karl 436 Gaunilo von Marmoutiers 20 Givsan, Hassan 205 Görtz, Heinz-Jürgen 410 Gottberg, Iris von 9 Grünberg, Wolfgang 453 Habermas, Jürgen 72, 193 Handelman, Matthew 386 Harnack, Adolf von 453 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13–17, 21–26, 30, 38, 72, 83, 95–97, 113, 115, 119–120, 123, 135, 149, 150–185, 186–187, 192, 201–202, 204, 206, 208–209, 211, 214–215, 221–227, 231–243, 245–249, 258– 260, 267, 297–298, 307, 315, 317,
319, 324, 330–333, 351, 354, 355– 357, 359–369, 372–374, 376–380, 386–389, 392, 394–400, 409, 415– 416, 421–427–429, 439, 441, 444, 453, 475–479, 483–484, 494, 503– 504, 506–508, 523, 528 Heidegger, Martin 15, 36, 216, 254, 297–326, 353, 388, 390–391, 403– 404, 422, 493–494, 497–498, 500, 507, 512, 518–521, 523 Heintel, Erich 14, 335, 422, 427 Henningfeld, Jochem 221 Hermenau, Frank 150 Herzfeld, Wolfgang D. 367 Hönigswald, Richard 15, 329–354, 443, 492, 500, Hofer, Michael 43, 95, 332, 386 Hufnagel, Erwin 349 Humboldt, Wilhelm von 89, 345 Husserl, Edmund 36, 298. 307, 315, 358, 422, 493–494, 500, 507 Israel, Joachim 466 Jacobi, Friedrich Heinrich 161, 163– 164 Jähnichen, Traugott 410 Jaspers, Karl 14, 16, 307, 387, 390– 391, 475, 479, 482–484, 486–491 Jamme, Christoph 483 Jean Paul (Friedrich Richter) 264 Jesus von Nazareth (Christus) 38, 60–61, 69, 85, 90, 92, 143–145, 148, 159–161, 179–180, 212–213, 216, 264–266, 278, 282, 285, 289–293, 295, 413, 415–420, 467–468, 471– 474, 481, 484, 489, 528–530, Jerusalem, Wilhelm 72 Jonas, Hans 35, 271–277, 402–403, 527, 532 Kajon, Irene 351 Kamper, Dietmar 410 Kant, Immanuel 11, 13–16, 20–23, 26, 30, 32, 36, 39, 43–70, 71, 82–83, 89, 91–92, 95, 97–108, 110–114, 116, 131, 140–141, 144, 146, 161,
540 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Personenregister 164, 185, 191, 195, 202, 206, 208– 209, 214, 248–249, 251–252, 315, 330–336, 338–340, 342, 346, 352, 354–356, 359–361, 374, 387, 392, 394–395, 416, 421, 433, 436–437, 462–463, 474, 476, 490, 496, 498– 500, 524–525, 527, 530, 536 Kierkegaard, Sören 29, 84, 307, 356, 359, 371–372, 376, 378, 387–388, 394, 400, 424, 484, 511 Klein, Hans Dieter 71, 95, 114, 221 Kojève, Alexandre 307 Kortzflei9sch, Siegfried von 453 Krause-Vilmar, Dietfrid 462 Kroner, Richard 368–369 Landauer, Gustav 466 Langthaler, Rudolf 43, 71, 95, 191, 221, 332, 386 Lask, Emil 359, 363, 369, Lefebvre, Henri 307, 514, 517, 524, 528 Leibniz, Gottfried Wilhelm 114, 205, 402, 416, 525, Lessing, Gotthold Ephraim 34, 90, 376, 413, 531 Lévinas, Emmanuel 16, 35–39, 307, 422, 492–502, 504, 506–516, 525, 536 Link, Herbert 150 Litt, Theodor 428–429, 436 Löwi, Moritz 349 Löwith, Karl 391, 523 Losch, Andreas 335, 410 Lukács, Georg 356, 359, 388, 514, Manz, Hans Georg von 119, Marcel, Gabriel 308, 390 Marcuse, Herbert 312–313, 326 Marx, Karl 15, 135, 221, 233–250, 252–253, 258–262, 266–267, 273– 274, 276, 307, 371, 424, 506, 514, 517 Marx, Werner 494 Mayer, Reinhold 389, 411 Meder, Norbert 329, 349
Meiller, Christopher 43 Meinecke, Friedrich 389 Meir, Ephraim 386 Mosès, Stéphane 389 Muhr, Peter 297 Nachtsheim, Stephan 329 Nagl, Ludwig 71, 221 Nairz-Wirth, Erna 428 Neuser, Wolfgang 89 Nietzsche, Friedrich 15, 27–31, 35, 211, 278–296, 298, 311, 322, 325, 356–359, 376, 387, 387–388, 394, 400, 419–420, 512, 524, 537 Noll, Christine Magdalene 205 Olson, Alan M. 475 Orth, Ernst Wolfgang 340 Ottmann, Henning 150 Paetzold, Heinz 475, 484 Pascal, Blaise 386, 463 Pfeiffle, Horst 428 Petzelt, Alfred 349 Platon 13, 27, 31, 57, 60, 63, 72–74, 114, 122, 194, 205, 214–215, 271, 320–321, 323, 344, 354, 366, 404, 421, 435, 442, 444, 477, 515, 524, 527 Rahner, Karl 477 Ratzinger Joseph (Benedikt XVI) 477 Reininger, Robert 335, 422 Rickert, Heinrich 362 Riehl, Alois 330 Rosenstock (-Huessy), Eugen 388, 403, 410–411, 413–414, 416, 468 Rosenstock-Huessy, Margrit (Gritli) 411, 414, 417 Rosenzweig, Franz 16, 19, 29–35, 39, 352, 355, 367–368, 373, 376, 382, 384–385, 386–420, 453, 455, 468– 474, 475, 479, 483, 485–491, 494, 497–498, 502–503, 513–516, 525, 526, 531, 534–537 Rousseau, Jean-Jacques 108 Rühle, Inken 411
541 https://doi.org/10.5771/9783495823613
Personenregister Samuelson, Norbert M. 395 Sartre, Jean Paul 307–311, 390, Scheler, Max 72 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 12–14, 16, 23–25, 29–33, 39, 72, 76, 86, 95–118, 119–141, 146–147, 149, 150–153, 155, 157–158, 162–163, 183–185, 186- 217, 222, 225, 242– 243, 249, 252, 254, 257–258, 266, 271, 274, 277, 297–298, 315, 317, 319–320, 324, 331–332, 360, 366– 369, 371–376, 380–381, 385, 386– 388, 391–395, 397–398, 402, 411– 412, 414–415, 419, 421–422, 424– 427, 430, 453, 470–471, 475–487, 490–491, 503, 513, 526, 528, 533– 534 Schelling, Karl Friedrich August 192, 202 Schelkshorn, Hans 43 Schirmacher, Wolfgang 519 Schlegel, Friedrich 71, 89 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 13, 16, 71–92, 104, 111, 145, 169, 221–222, 227–228, 248, 344– 345, 349, 351, 437, 475, 477, 524, Schlipp, Paul Arthur 508 Schmied-Kowarzik, Walther 9 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Literaturverweise) 43, 51, 71, 80, 89, 95, 99, 107, 111, 119, 146, 150, 153, 162, 186, 205, 207, 211, 215, 221, 233, 236, 241, 249–252, 274, 277, 278, 297, 329–330, 332, 334, 336, 340–341, 349, 351–352, 354, 360, 368, 372–373, 386–392, 394–395, 404, 406, 409–410, 421–422, 428– 429, 436, 443–444, 454, 459, 462, 464, 468, 471, 475, 476, 478–479, 481, 485–486, 490, 492, 494, 504, 506, 517–518, 524, 532 Schrader, Wolfgang 119
Schramm, Tim 453 Schulz-Jander, Eva 389 Selge, Kurt-Victor 71 Simon, Josiah 475 Spinoza, Baruch de 119–121, 132, 222, 396, 416, 453 Sonnemann, Ulrich 278, 404, 522 Souza, Draiton de 150 Swertz, Christian 329 Theunissen, Michael 36, 197, 389, 493 Thompson, Edward P. 269, 517 Türcke, Christoph 279 Turki, Mohamed 476 Turner, Yossi 19 Vidal, Francesca 251 Wagner, Hans 329, 335–336 Waldenfels, Bernhard 493 Walters, Gregory J. 475 Waszek, Norbert 150 Wautischer, Helmut 475 Wegeler, Cornelia 297 Weiß, Johannes 297 Weizsäcker, Viktor von 416, 468 Wendland, Paul 266 Wicke, Erhard 89 Wieland, Wolfgang 195 Wiese, Christian 386 Windelband, Wilhelm 362 Wölfflin, Heinrich 367 Wolandt, Gerd 329 Xenophanes 13, 31, 526 Zeidler, Kurt Walter 329, 335, Zimmermann, Rainer 111 Zöller, Günter 119 Zöllner, Detlef 422, 430, 436
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