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German Pages 1377 Year 2011
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1196
Staat, Verwaltung und Rechtsschutz Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Peter Baumeister, Wolfgang Roth und Josef Ruthig
Duncker & Humblot · Berlin
Staat, Verwaltung und Rechtsschutz Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1196
Staat, Verwaltung und Rechtsschutz Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Peter Baumeister, Wolfgang Roth und Josef Ruthig
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13468-7 (Print) ISBN 978-3-428-53468-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83468-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Am 25. Oktober 2011 vollendet Wolf-Rüdiger Schenke sein 70. Lebensjahr. Aus diesem freudigen Anlass widmen ihm Freunde, Kollegen und Schüler diese Festschrift. Sie sprechen ihm damit gemeinsam ihre Anerkennung aus und bezeugen ihre Verbundenheit mit einem Wissenschaftler, der es mit unermüdlicher Schaffenskraft verstanden hat, sich auch den Respekt derjenigen Kollegen zu sichern, deren wissenschaftliche Auffassungen er im Laufe einer langen Wissenschaftslaufbahn mit größtem Scharfsinn attackiert hat. Wolf-Rüdiger Schenke wurde in Breslau geboren. Nach dem Abitur 1960 in Erlangen studierte er – nach einem kurzen Ausflug in die Sinologie – Rechtswissenschaft, zunächst vier Semester in Tübingen, sodann drei in Erlangen, wo er auch im Sommersemester 1964 das 1. Juristische Staatsexamen ablegte. 1965 folgte bei Heinrich Hubmann die Promotion mit einer Dissertation zum Thema „Die Einwilligung des Verletzten im Zivilrecht unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung bei Persönlichkeitsverletzungen“, einer Arbeit im Umfang von deutlich über 200 Druckseiten, die er innerhalb von drei Monaten fertig stellte. Anschließend hatte er parallel zum Referendariat von 1965 bis 1967 bei Ludwig Fröhler, Hubert Armbruster und Wilhelm Henke eine volle Assistentenstelle am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität ErlangenNürnberg inne. Nach dem Ende 1967 bestandenen 2. Juristischen Staatsexamen war er von 1968 bis 1972 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Mainz, wo er auch – nach einem Habilitationsstipendium – von 1973 bis 1974 als Assistenzprofessor tätig war. Die Habilitation folgte 1974 bei Hubert Armbruster mit der grundlegenden und auch heute noch viel beachteten Schrift zum „Rechtsschutz bei normativem Unrecht“. Im unmittelbaren Anschluss folgte der Ruf an die Universität Bochum. 1979 entschied er sich dann nach Rufen an die Universitäten Marburg und Mannheim für letztere, an der er den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht innehatte und der er bis zu seiner Pensionierung im Frühjahr 2007 treu blieb. In Mannheim war Wolf-Rüdiger Schenke zwei Wahlperioden Dekan der Juristischen Fakultät, außerdem von 2000 bis 2008 Direktor an dem von Jürgen Wolter und ihm neugegründeten Institut für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht. Bis heute ist er Mitherausgeber der Zeitschriften „Verwaltungsarchiv“ und „Wirtschaft und Verwaltung“. Ausweis seiner ertragreichen wissenschaftlichen Tätigkeiten sind nicht weniger als 16 Monographien, darunter mehrere Lehrbücher, etwa 80 Beiträge in Sammelwerken, einschließlich zahlreicher Kommentierungen monographischen Zuschnitts
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Vorwort
(etwa im Bonner Kommentar zum Grundgesetz), sowie annähernd 200 Aufsätze in allen Zeitschriften mit Rang und Namen. Hervorzuheben sind hier namentlich seine vielfach neu aufgelegten Lehrbücher zum Verwaltungsprozessrecht sowie zum Polizei- und Ordnungsrecht, mit denen er sich sowohl bei seinen Fachkollegen als auch bei mehreren Studierendengenerationen einen Namen gemacht hat. Als wohl bedeutendster Meilenstein für die breite Wahrnehmung seiner Arbeiten auch in der gerichtlichen und anwaltlichen Praxis kann im Nachhinein die Übernahme der VwGO-Kommentierung von Ferdinand O. Kopp nach dessen zu frühem Tod im Jahr 1995 angesehen werden. Die Herausgeber erinnern sich nur zu gut an die Zeit unmittelbar nach dem Angebot des Verlages C. H. Beck, beide Kommentare von Kopp, also sowohl den zur VwGO als auch den zum VwVfG, zu übernehmen. Seiner Familie ist es schließlich (mit gewisser Unterstützung der Mitarbeiter) gelungen, ihn jedenfalls teilweise von dieser reizvollen Aufgabe abzubringen. Und wer weiß, ob der freudige Anlass dieser Festschrift überhaupt je eingetreten wäre, wenn sich der Jubilar mit der ihm eigenen Akribie auch noch an das VwVfG herangemacht hätte. Gleichwohl beherrschte die Arbeit an der Kommentierung seither über weite Strecken seine Tätigkeit und die seiner Lehrstuhl-Mitarbeiter. Die zuvor stets ausgiebigen Diskussionen über so manche neue These des „Chefs“ – die großen Diskussionsrunden unter Einbeziehung der Assistenten und aller wissenschaftlichen Mitarbeiter des Lehrstuhls zählten zu den Höhepunkten fast jeder Woche – fielen in der Folgezeit notgedrungen spärlicher aus. Bei allem wissenschaftlichen Tiefgang hat sich der Geehrte zu keinem Zeitpunkt in den vielgescholtenen Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückgezogen. Sein Werk ist geprägt durch eine durchgehend große Praxisrelevanz. Er trat nicht nur als Prozessvertreter vor den Verwaltungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht auf (hervorzuheben sind hier sicherlich etwa die Verfahren zur Bundestagsauflösung 1983 und 2005). Er ist vor allem ein Wissenschaftler, der sich bis heute nicht zu schade ist, in mühevoller Kleinarbeit gesetzliche und rechtsdogmatische Details aufzuarbeiten, von denen die Entscheidungen in der Praxis wirklich abhängen. Hier bereitet es ihm große Freude, Widersprüche oder Lücken in den Lösungen der sog. herrschenden Meinung aufzuspüren und neue, rechtsdogmatisch überzeugendere Ansätze zu erarbeiten. Gerade eine einhellige herrschende Meinung, der es in seinen Augen an einer überzeugenden Begründung mangelt und bei der er damit ein Defizit an rechtsdogmatischer Durchdringung ausgemacht hat, löst bis heute sein Interesse aus und stachelt seinen Ehrgeiz bei der Suche nach einer stimmigen Lösung an. Solche Themen lassen ihn regelmäßig nicht eher los, bis er diese Lösung für sich gefunden hat. Mit nicht wenigen solcher scheinbar hoffnungslosen „Mindermeinungen“ hat er sich schließlich durchgesetzt. Das in Mannheimer Studentenkreisen zunächst kursierende Gerücht, bei der gebräuchlichen und feststehenden Zitierweise „A.A. Schenke“ müsse es sich wohl um eine Abkürzung der Vornamen handeln, ist denn auch schon seit langem verstummt.
Vorwort
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Die umfassende publizistische Tätigkeit Wolf-Rüdiger Schenkes befruchtete zugleich seine Lehrveranstaltungen. Als lebender Beweis für die notwendige Einheit von Forschung und Lehre ließ er in seine Vorlesungen und Seminare die aktuellsten Entwicklungen von Rechtsprechung und Literatur einfließen, so dass das Studium nicht als Wiederkäuen längst uninteressant gewordener Theorien erschien, sondern stets in seiner praktischen Relevanz deutlich wurde. Seine Diskussionen der unterschiedlichen Auffassungen waren Musterbeispiele juristischer Argumentation und als solches für jeden Studierenden ein großer Gewinn. Neben allem Eifer für die eigene wissenschaftliche Arbeit fand Wolf-Rüdiger Schenke stets auch Zeit für seine Mitarbeiter und Doktoranden, wenn diese ihre Thesen mit ihm diskutieren wollten. Seine Tür stand für diese Anliegen immer offen. So dürfen sich seine Schüler für vielfältige wissenschaftliche und persönliche Förderungen bedanken. Auch wenn Wolf-Rüdiger Schenke in seinem Wirken nur wenige Themen im öffentlichen Recht ausgelassen hat, lassen sich doch mit dem Staatsorganisationsrecht, dem Polizeirecht sowie dem Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht drei Schwerpunkte ausmachen, die deswegen auch in der Gliederung dieser Festschrift ihren Ausdruck finden. Der Jubilar hat es den Autoren der Festschrift damit einerseits leicht gemacht, indem sich in seinem Werk mühelos inhaltliche Anknüpfungspunkte für den jeweiligen Beitrag finden ließen. Andererseits weiß jeder, wie schwer es ist, noch wesentlich Neues zu bemerken, wenn sich Wolf-Rüdiger Schenke eines Themas schon einmal angenommen hat. Und sicherlich dürfte die eine oder andere These aus dem vorliegenden Band vom Jubilar in künftigen Publikationen einer wohlwollendkritischen Überprüfung unterzogen werden. Autoren und Herausgeber dieser Festschrift wie auch der Verlag Duncker & Humblot, dem der Jubilar seit der Publikation seiner Habilitationsschrift verbunden ist, danken Wolf-Rüdiger Schenke für die unterschiedlichsten Begegnungen, Diskussionen und Förderungen sehr herzlich und wünschen ihm, dass ihm noch viele gute Jahre zusammen mit seiner Gattin, Frau Dr. Marlene Schenke, die ihm die vielen Jahre wissenschaftlicher Betätigung hindurch eine unverzichtbare Stütze war, beschieden sind. Wolf-Rüdiger Schenke möge sich sein Feuer für die Wissenschaft noch lange erhalten und hoffentlich auch Zeit für seine vielen weiteren Interessen finden! . Peter Baumeister
Wolfgang Roth
Josef Ruthig
Inhaltsverzeichnis I. Verfassungsrecht Richard Bartlsperger Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates . . . . . . . . .
17
Wilfried Berg Das Grundrecht der Freizügigkeit und die Grenzen der Staatsorganisation . . . .
51
Herbert Bethge Die materielle Verfassungsstreitigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Christoph Degenhart Verfassungsfragen der FraktionsenquÞte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Otto Depenheuer Der verfassungsrechtliche Schutz des Betriebsgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . .
97
Markus Deutsch Gemeinsame Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Bund und Länder – Zum Verbot der „Mischfinanzierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
Thomas Fetzer Steuerrecht und Normenklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Kristian Fischer Sonderabgaben, Ausgleichsabgaben und Vorteilsabschöpfungsabgaben im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Werner Frotscher Das Bundesratsprinzip – „gute, deutsche“ Verfassungstradition? . . . . . . . . . . .
167
Nobuhiko Kawamata Zur Absolutheit des Folterverbots – ein Vergleich zwischen der japanischen und der deutschen verfassungsrechtlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Eckart Klein Überlegungen zu Kompetenzausstattung und Kompetenzhandhabung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Winfried Kluth Gesetzgebung im Spannungsfeld von Parlamentarismus und Föderalismus – Reformperspektiven für das Vermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Peter Cornelius Mayer-Tasch „Wir sind das Volk!“ – oder: Wie demokratisch ist die direkte Demokratie? . .
233
Reinhard Mußgnug Ämtervergabe durch Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Hans-Jürgen Papier Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
263
Gerd Roellecke Traditionen des Rechtsstaates in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Michael Sachs Die Bundeswehr als „Parlamentsheer“ – und der Bundesrat? . . . . . . . . . . . . . .
287
Ralf P. Schenke Die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes in Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
II. Polizei- und Strafrecht Matthias Bäcker Kriminalpräventives Strafrecht und polizeiliche Kriminalprävention . . . . . . . .
331
Kurt Graulich Bekämpfung der Piraterie als Polizeiaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Klaus Grupp Zur Gefahrenabwehr bei Gefahrguttransporten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Christoph Gusy Die „Schwere“ des Informationseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Dieter Lorenz Die polizeiliche Überwachung von entlassenen Straftätern . . . . . . . . . . . . . . . .
415
Hans-Ullrich Paeffgen Prozessuale Zwischenlösungen bei der Vorratsdatenspeicherung? Verfassungsgerichtliche Nichtigkeits-Erklärung und Strafprozeß . . . . . . . . . . .
427
Inhaltsverzeichnis
11
Franz-Joseph Peine Kampfmittelbeseitigungsrecht – ein Sonderfall des Gefahrenabwehrrechts . . .
447
Bodo Pieroth Der Gesetzesvorbehalt für die Zahl und die Standorte von Polizeidirektionen
465
Rainer Pitschas Innere und zivile Sicherheit in der offenen Gesellschaft – Legitimationsprobleme collaborativer Sicherheitsgovernance im vorsorgenden Sozialstaat . .
481
Josef Ruthig Grundrechtlicher Kernbereich und Gefahrenabwehr: Verfahren, Rechtsschutz, Schadensersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
499
Jae-Young Son Grenzen der sog. „Kernbereichs-Dogmatik“ des Bundesverfassungsgerichts . .
525
Jürgen Wolter Strafprozessuale Verwendung von Zufallsfunden nach polizeirechtlichen Maßnahmen. Zur notwendigen Reform der §§ 161 Abs. 2, 100d Abs. 5 Nr. 3, 161 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
541
Thomas Würtenberger Resilienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
561
Mark A. Zöller Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
579
III. Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht Peter Baumeister Rücknahmeermessen bei einem anfechtbaren rechtswidrigen Verwaltungsakt?
601
Winfried Benz Anforderungen an das Führungspersonal in Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
619
Martin Burgi Der Vertragsarzt und die Konkurrenz neuer Versorgungsformen im Spiegel von Schutznormlehre und Regulierungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
635
12
Inhaltsverzeichnis
Hans-Joachim Cremer Die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Wiederaufnahmegrund nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
649
Klaus Ferdinand Gärditz Das Sonderverwaltungsprozessrecht des Asylverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . .
689
Max-Emanuel Geis Die Feststellungsklage als Normenkontrolle zwischen suchender Dialektik und dogmatischer Konsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
709
Torsten Gerhard Das Verbot der Vollstreckung von Verwaltungsakten als Rechtsfolge prinzipaler Normenkontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
721
Bernd Grzeszick Kausalität und normative Verantwortlichkeitszuordnung im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
739
Annette Guckelberger Die Präklusionsregelung des § 47 Abs. 2a VwGO bei der Normenkontrolle . . .
759
Dirk Hanschel Das Widerspruchsverfahren als föderales Experimentierfeld – Plädoyer für ein Fakultativmodell, alternative Streitbeilegung und dezentrale Widerspruchsausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
777
Friedhelm Hufen Von der „heimlichen Normenkontrolle“ zur umfassenden Gerichtskontrolle exekutiver Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
803
Christian Hug Rechtsschutz gegen den Ruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
813
Martin Ibler Verwaltungsrechtsschutz des Baunachbarn unmittelbar aus Art. 14 GG versus „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
837
Hans D. Jarass Das Recht auf eine gute Verwaltung, insb. auf ein faires Verwaltungsverfahren
849
Karl-Hermann Kästner Privatisierung kommunaler Einrichtungen – eine rechtliche Bestandsaufnahme
863
Wolfgang Kahl Verwaltungsprozessuale Probleme der reformatio in peius . . . . . . . . . . . . . . . .
901
Inhaltsverzeichnis
13
Hae Ryoung Kim Die verwaltungsgerichtlichen Klagearten in Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
917
Franz Ludwig Knemeyer Von der rechtmäßigen zur auch guten Verwaltung. Zum Instrument einer selbst gesetzten Behördenverfassung. Gute Verwaltung – good administration – ist mehr als nur rechtlich gesteuertes, sanktioniertes Verwaltungshandeln . . . . . . .
933
Jürgen Kohl Baden verboten am Rheinischen Lido. Ein Beitrag zur polizeirechtlichen Problematik von Badeverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
945
Klaus Lange Der Kommunalverfassungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
959
Hans-Werner Laubinger Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
975
Hartmut Maurer Rechtsschutz gegen Verkehrszeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 Hiroaki Murakami Der effektive Rechtsschutz im japanischen Verwaltungsprozessrecht – Bedeutung und Grenzen der Reform 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 Jost Pietzcker Der „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ beim Verwaltungszwang . . . . . . . . . . 1045 Thomas Puhl Abgabenverschonung als Finanzierung? – Gedanken zum kartellvergaberechtlichen Auftraggeberbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 Ulrich Ramsauer Stabilität und Dynamik des Verwaltungsverfahrensrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089 Wolfgang Roth Grundsatzrevision bei ausgelaufenem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 Bernd Schieferdecker Kontingentierung von Nutzungsmöglichkeiten im Baurecht – insbesondere für Einzelhandelsbetriebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123 Eberhard Schmidt-Aßmann In-camera-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147
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Inhaltsverzeichnis
Matthias Schmidt-Preuß Die Konfliktschlichtungsformel. Zur Neubegründung des subjektiven öffentlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167 Friedrich E. Schnapp Der trialistische Behördenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1187 Friedrich Schoch Entbehrlichkeit des Vorverfahrens nach der VwGO kraft Richterrechts . . . . . . 1207 Christoph Sennekamp Ausgewählte Fragen des Rechtsschutzes gegen Veränderungssperre und Zurückstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225 Jong Hyun Seok Die Enteignung zugunsten des privaten Unternehmers in Korea . . . . . . . . . . . . 1241 Helge Sodan Das Merkmal der Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1259 Udo Steiner Zum Stand des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes in Deutschland . . . . . . 1277 Rolf Stober Zur Entwicklung des Wirtschaftsüberwachungsrechts. Ein Rechtsgebiet zwischen Gefahrenabwehr, Risikobewältigung, Regulierung und unternehmerischer Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1291 Rainer Wahl Wie entsteht ein neues Rechtsgebiet: Das Beispiel des Informationsrechts . . . . 1305 Jan Ziekow Zur Zulässigkeit der Klage eines Bundeslandes gegen die Festlegung von Flugrouten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1325
IV. Zu guter Letzt Egon Lorenz Über Festschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1347 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1355 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1371
I. Verfassungsrecht
Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates Von Richard Bartlsperger Die Rechtsschutzgewährleistung unter den Voraussetzungen des öffentlichen Rechts, spezifisch auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts, sowie dabei namentlich der individualrechtliche Anknüpfungspunkt und Sinnbezug im subjektiven öffentlichen Recht bilden die Thematik, die das außerordentlich umfangreiche Werk des Jubilars durchgängig und weitgehend prägt.1 Ein Beitrag zum subjektiven öffentlichen Recht in der dem Jubilar gewidmeten Festschrift verlangte deshalb keiner besonderen Erklärung und Rechtfertigung, wäre da nicht der Umstand, dass die betreffende staatsrechtliche, insbesondere die verwaltungsrechtliche Literatur den Gegenstand schon in einer kaum mehr überschaubaren Weise ausgeschöpft hat, jedenfalls was die anwendungsbezogene Dogmatik angeht.2 Der nun bereits seit einem Jahrhundert 1 Siehe die Nachw. bei Schenke, BK, Art. 19 Abs. 4 (2009), Rn. 398 ff. und im Schrifttum sowie bei dems., in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2009, § 42 Rn. 83 ff. und 118 ff. 2 Unter der Verfassungsordnung des GG wesentlich bzw. exemplarisch sowie jeweils m. w. N. Bachof, Reflexwirkungen und subjektive Rechte im öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift Walter Jellinek, 1955, 287 ff.; Bernhardt, JZ 63, 302 ff.; Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968; ders., DÖV 80, 621 ff.; Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35 ff.; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, Rott, Das verwaltungsrechtliche subjektive öffentliche Recht im Spiegel seiner Entwicklung im deutschen liberalen Rechtsstaat und in der französischen „th¦orie des droits subjectifs des administr¦s“, 1976; Zuleeg, DVBl. 76, 709 ff.; H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986; ders., DVBl. 86, 208 ff.; ders., AöR 113 (1988), 582 ff.; ders., Schutznormtheorie im Wandel, in: Heckmann/Messerschmidt (Hg.), Gegenwartsfragen des Öffentlichen Rechts, 1988, 113 ff.; Herdegen, Objektives Recht und subjektive Rechte, in: Heckmann/Messerschmidt (Hg.), a. a. O., 161 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, § 65, P.-M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, 100 ff.; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991, 223 ff.; Blankenagel, DV 93, 1 ff.; Schur, Anspruch, absolutes Recht und Rechtsverhältnis im Öffentlichen Recht entwickelt aus dem Zivilrecht, 1993, Wahl, DVBl. 96, 641 ff.; Wiegand, BayVBl. 94, 609 ff. und 647 ff.; Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, Eisele, Subjektive öffentliche Rechte auf Normerlass, 1999, 22 ff.; SchmidtAßmann, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 (2003), Rn. 116 ff.; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2006, S. 74 ff.; Reiling, Zu individuellen Rechten im deutschen und im Gemeinschaftsrecht, 2004, Schütze, Subjektive Rechte und personale Identität, 2004; R. Schröder, Verwaltungsrechtsdogmatik im Wandel, 2007, 72 ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl. 2007, § 43 Rn. 10 ff.; 24 ff. und 27 ff.; Schulev-Steindl, Subjektive Rechte, 2008; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 8.
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Richard Bartlsperger
tradierten und bestimmenden Theorie zur normativen Abhängigkeit des öffentlichrechtlichen Individualrechtsschutzes von einer entsprechenden gesetzlichen Schutznorm3 wird bestätigt, dass „manche Meinungsverschiedenheiten“ dazu bei „sehr globaler Betrachtung“ sich nur „im Umfeld von Scheinalternativen bewegen.“4 Die Rechtsprechung gar scheint auf der Grundlage jener sogenannten Schutznormtheorie jedenfalls zwischenzeitlich mit den im Fortschreiten der Sachprobleme immer wieder neu auftretenden Anwendungsproblemen vermöge flexibler Handhabung, Fallbezogenheit, Falltypisierung und Selbstreferenz regelmäßig in praktikabler Weise zurechtzukommen und sieht sich insofern anscheinend auch von keinen Akzeptanzproblemen mehr angefochten.5 Von rechtsdogmatischer Seite freilich sind keineswegs vollends Äußerungen verstummt, die von einer „Krise des subjektiven öffentlichen Rechts im Recht der Gegenwart“ sprechen6 oder wegen neu aufkommender Sachkomplexe von einem nicht zu Ende gehenden „Dauerthema“.7 Noch grundsätzlicher ist angesichts der erstaunenswerten „Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Anschauungen über einen so wichtigen Gegenstand“ wie das Wesen des subjektiven Rechts überhaupt sogar „eine Art Tragik im Erkenntnisbemühen der Rechtswissenschaft“ konstatiert worden;8 danach soll sich unter anderem am subjektiven Recht erwiesen haben, dass „der juristische Geist gerade das, was sich seiner unmittelbaren Erfassung gleichsam als selbstverständlich aufdrängt und in seiner Erkenntnis am eindringlichsten aufleuchtet, in seinem tiefsten Wesen am wenigsten“ erfasst.9 In solchem Sinne war schon vor einem Jahrhundert gegenüber der Verwaltungsrechtslehre kritisch bemerkt worden, es sei durch Jahrzehnte über subjektive öffentliche Rechte Recht gesprochen worden, „ohne dass eine Klage über die Verwirrung der Grenzen dieser Rechte laut geworden 3 Zu Ausgangspunkt und Grundlegung der sogenannten Schutznormtheorie O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914 sowie dazu H. Bauer, a. a. O., Geschichtliche Grundlagen, 133 ff.; unter der Verfassungsordnung des GG Bachof, a. a. O. Zur weiteren Entwicklung und zu den Modifikationen der Schutznormtheorie sowie zu ihrer heutigen Funktion als Sammelbezeichnung H. Bauer, a. a. O., Geschichtliche Grundlagen, 77 ff.; 137 ff. und 140 ff.; ders., DVBl. 86, 608, 613 ff.; ders., AöR 113 (1988), 582 ff.; ders., a. a. O., Schutznormtheorie, 582 ff.; Stern, a. a. O., § 65 III 3; Huber, a. a. O., 107 ff.; Blankenagel, DV 93, 1/3 ff.; Masing a. a. O., 197 ff.; Eisele, a. a. O., 42 ff.; Schmidt/Aßmann, a. a. O., Das allgemeine Verwaltungsrecht, 59 f. und ders., a. a. O., Art. 19 Abs. 4, Rn. 118 f. und 127 ff.; Reiling, a. a. O., 85 Fußn. 129 f. (Nachw. zu Rsp. und Lit.), 102 ff. (Darstellung der Kritik m. Nachw.); Wolff/Bachof/Stober, a. a. O., § 43 Fußn. 23 ff.; Maurer, a. a. O., § 8 Rn. 8; Schulev-Steindl, a. a. O., 73 ff. 4 H. Bauer (Fußn. 2), Schutznormtheorie, 113/143. 5 Siehe bei Schenke, in: Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 83 ff.; ders., Verwaltungsprozessrecht, 11. Aufl. 2007, Rn. 496 ff.; Maurer (Fußn. 2). § 8 Rn. 9. 6 H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 128 ff. 7 Wahl, DVBl. 96, 641/641. 8 Vonlanthen, Zum rechtsphilosophischen Streit über das Wesen des subjektiven öffentlichen Rechts, 1964, 10. 9 A. a. O.; auch Schulev-Steindl (Fußn. 2), Vorwort.
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wäre“, und dass auf diesem Gebiet „der instinctive Tact der Praxis dem Stand der Wissenschaft weit vorausgeeilt“ sei.10 Dabei ist auf den zu jener gleichen Zeit geprägten und bekannten Satz Bezug genommen worden: „Nichts steht nämlich weniger fest als der Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts selbst.“11 Die genannten Beurteilungen zum Zustand der Rechtslehre um das subjektive Recht im allgemeinen bzw. zur Entwicklung der Verwaltungsrechtslehre um das subjektive öffentliche Recht treffen in jener uneingeschränkten und undifferenzierten Allgemeinheit auf den heutigen Stand der betreffenden Erkenntnisbemühungen, jedenfalls hinsichtlich des subjektiven öffentlichen Rechts, keineswegs mehr zu. Gerade aus jener vor einem Jahrhundert beklagten Situation sind grundlegende, über Jahrzehnte wirkungsträchtige Standardwerke zum subjektiven öffentlichen Recht entstanden.12 Im Zuge einer Neubegründung der Verwaltungsrechtsdogmatik schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und dann unter der Verfassungsordnung des GG, im weiteren Verlaufe vornehmlich und zunehmend in der jüngeren Vergangenheit sind, wie schon eingangs angesprochen, in reichem Maße rechtsdogmatische Anstrengungen und rechtspraktische Ausarbeitungen zum subjektiven öffentlichen Recht unternommen worden, verständlicherweise was die individualrechtliche Abwehrfunktion gegen angenommene öffentlichrechtliche Eingriffe angeht.13 Gleichwohl lässt sich für die Staats- und Verwaltungsrechtslehre zum subjektiven öffentlichen Recht nach wie vor die zu den Theorien über das Wesen des subjektiven Rechts im allgemeinen gemachte Beobachtung immer noch nicht von der Hand weisen, dass „im Reich der juristischen Wirklichkeiten das Bekannteste in seinem innersten Sein das Verborgendste“ sein kann.14 Dem für das subjektive öffentliche Recht jedenfalls nachzugehen, gibt Anlass für die gegenständliche Erörterung.
I. Bekanntes und Verborgenes zum Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts Verglichen mit der Rechtslehre zum subjektiven Privatrecht steht die Begriffsbildung für das subjektive öffentliche Recht unter den besonderen staatsrechtlichen und entsprechenden staatstheoretischen Voraussetzungen einer zweihundertjährigen konstitutionellen bzw. verfassungsstaatlichen Entwicklung. Gleichwohl stellt sich vergleichbar mit der Rechtslehre zum subjektiven Privatrecht und prinzipiell umso mehr die Frage, ob die Rechtslehre zum subjektiven öffentlichen Recht nur das Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung ist, also lediglich einen kontingenten Rechtsbegriff hervorzubringen vermochte, oder ob sie einer „sachlichen Notwendigkeit“ entspringt, und das kann speziell für das subjektive öffentliche Recht nur heißen, 10 11 12 13 14
Tezner, Grünhuts Zeitschrift 21 (1894), 107/107 f.; ebenso dazu Bühler (Fußn. 2), 5 f. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte (1892), 2. Aufl. 1905, 5. O. Bühler (Fußn. 3) und G. Jellinek, a. a. O. Nachw. Fußn. 2. Vonlantzen (Fußn. 8), 10.
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ob sie einer verfassungsstaatlichen Ordnung entsprechen muss, also der heute im GG verwirklichten Verfassungsstaatlichkeit gerecht zu werden hat.15 Geht man von Letzterem aus, was allein einem staatsrechtlichen Denken vom Staatsbegriff und von der betreffenden Staatstheorie her entspricht, dann hat man es mit einem Begriff vom subjektiven öffentlichen Recht zu tun, der zwei voneinander abhängige „sachlich notwendige“ Bedeutungen einschließt. Deren eine und logisch erste gilt dem notwendigerweise staats- und rechtstheoretisch begründeten Ursprung, dem Grund des subjektiven öffentlichen Rechts in der Idee des Verfassungsstaats, d. h. der materiellen Substanz und Funktion des subjektiven öffentlichen Rechts im Verfassungsstaat, namentlich und aktuell unter der heutigen Verfassungsordnung des GG.16 Hiervon abhängig beantwortet sich die zweite Frage nach der demzufolge begriffsnotwendig normativen Voraussetzung subjektiver öffentlicher Rechte. Naturgemäß ist es diese letztere Frage, auf die sich das rechtsdogmatisch anwendungsbezogene Interesse der Staatsund Verwaltungsrechtslehre richtet und mit der sich deshalb die Erkenntnisbemühungen des gegenwärtigen Meinungsspektrums zum „Begriff“ des subjektiven öffentlichen Rechts hauptsächlich beschäftigen.17 Es lässt sich also eine Unterscheidung treffen im rechtswissenschaftlichen Umgang mit dem subjektiven öffentlichen Recht zwischen einer auf den staats- und rechtstheoretischen Ursprung und Grund desselben zurückgehenden Erkenntnisbemühung und einer auf eine verständliche, brauchbare sowie akzeptable, anwendungsbezogene Rechtsdogmatik gerichtete Verwaltungsrechtslehre zu den normativen Voraussetzungen subjektiver öffentlicher Rechte, was genauer, wie noch klarzustellen ist, für die betreffenden individualrechtlichen Abwehrrechte des öffentlichen Rechts spezifische Relevanz besitzt. Es ist eine Sache des Selbstverständnisses und der Akzeptanz der betreffenden Verwaltungsrechtslehre, dass sie sich in ihren rechtdogmatischen Annahmen zu den normativen Voraussetzungen subjektiver öffentlicher Rechte in einer rechtskonstruktiven Abhängigkeit zu sehen hat von deren staats- und rechtstheoretischem Ursprung und Grund. Die Meinungsverschiedenheiten und kontroversen Standpunkte zu den in der Rechtsanwendung maßgeblichen normativen Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Rechts18 indizieren gerade, dass die betreffenden Differenzen und Gegensätze, insbesondere deren grundlegende Divergenzen, eine Folge unterschiedlicher oder unklarer, wenn nicht überhaupt fehlender Vorstellungen vom Ursprung und Grund, also von der materiellen staatsrechtlichen Substanz und Funktion 15 So zum subjektiven Recht im Allgemeine Coing, Zur Geschichte des Begriffs „subjektives Recht“, in: Coing u. a. (Hg.), Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, 1959, 7/21. 16 Zutreffend differenzierend hierzu, d. h. zu den „Gründen“ für das subjektive öffentliche Recht aus dem verfassungsrechtlichen Freiheitsprinzip Reiling (Fußn. 2), 123 ff. (zfd. 135) sowie im Zusammenhang der betreffenden Annahmen zu Art. 19 Abs. 4 GG ders., a. a. O., 136 ff. (zfd. 147 f.). 17 Ebenso und zu der „Ermittlung“ subjektiver öffentlicher Rechte Reiling, a. a. O., 148 ff. 18 Zu dem entsprechenden Meinungsspektrum siehe die Nachw. in Fußn. 2, stellvertretend die Darstellung bei Reiling, a. a. O., 85 ff. und 102 ff.
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der subjektiven öffentlichen Rechte im Verfassungsstaat sind. Dies gilt vor allem für die in der ideengeschichtlichen Entwicklung, namentlich im gegenwärtigen Meinungsspektrum hervortretenden unterschiedlichen Traditionslinien und prinzipiellen gegensätzlichen Standpunkte zur Frage einer Gesetzesabhängigkeit der subjektiven öffentlichen Abwehrrechte, wie sie die unter der Sammelbezeichnung der sogenannten Schutznormtheorie zusammengefassten Auffassungen vertreten.19 Jedenfalls die Schutznormtheorien zu einer mehr oder weniger maßgeblichen Abhängigkeit subjektiver öffentlicher Abwehrrechte von einer einfachgesetzlichen Rechtsbegründung bzw. Ausgestaltung repräsentieren gerade das Gegenteil zu einer „sachlich notwendigen“, unmittelbar auf einen staats- und rechtstheoretischen Ursprung und Grund des subjektiven öffentlichen Rechts in der Idee des Verfassungsstaates zurückgreifenden Begriffsbildung. Nicht zuletzt müssen sich in diesem Zusammenhang die Schutznormtheorien in grundlegender Weise auch durch den Umstand herausgefordert sehen, dass der Verfassungsstaat mit der Entwicklung zu einer zwischenzeitlich aktuellen unmittelbaren Geltung grundrechtlicher Freiheiten ein individualrechtlich fundierter und geprägter Grundrechtsstaat geworden ist. Vor diesem Hintergrund hat das Meinungsspektrum zum Begriff und zu den normativen Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Rechts zwar an neuen Ansätzen und Erkenntnissen gewonnen.20 Die Thematik ist zwar nach wie vor eine Domäne der Verwaltungsrechtslehre, wozu es im Gefolge und als Konsequenz einer entstehenden Verwaltungsgerichtsbarkeit in der spätkonstitutionellen Epoche des neunzehnten Jahrhunderts sowie im Zuge des epochalen Hervortretens einer neuen Verwaltungsrechtsdogmatik Ende des neunzehnten Jahrhunderts gekommen war.21 Aber die thematische Spannung hat sich auf die Beziehungen verlagert, die sich für das subjektive öffentliche Recht aus seiner staatsrechtlichen Substanz und Funktion sowie nicht zuletzt aus seinem staats- und rechtstheoretischen Ursprung und Grund in der Idee des Verfassungsstaates ergeben. Als traditionelle Domäne des Verwaltungsrechts ist das subjektive öffentliche Recht das Bekannte an ihm. In der begonnenen Überwindung seiner spezifischen verwaltungsrechtlichen Dogmatik vermag seine staatsrechtliche Substanz und Funktion sowie seine staats- und rechtstheoretische Ursache und Begründung im Verfassungsstaat zutage zu treten.22 Es kennzeichnet die Lehre vom subjektiven öf19
Zur Schutznormtheorie Nachw. in Fußn. 3. Fußn. 18. 21 Zur seinerzeitigen Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, speziell im Zusammenhang mit einer Verwaltungsrechtslehre vom subjektiven öffentlichen Recht, siehe die Darstellung bei O. Bühler (Fußn. 3), 261 ff.; ferner dazu Henke (Fußn. 2), 30 ff. und 62 ff.; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991, 154 ff.; Masing (Fußn. 2), 77 ff. und 116 ff. Zur neuen, wesentlich von O. Mayer begründeten Verwaltungsrechtslehre siehe bei Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 403 ff. 22 Zu den Gesichtspunkten und Auffassungen einer Verfassungsorientierung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht siehe auch bei H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 130 ff., 158 f. und 163 f. sowie dems. (Fußn. 2), Schutznormtheorie im Wandel, 114 f. und 146 f. 20
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fentlichen Recht in deren Ideengeschichte, dass sie ihren Standort zwischen Staatsrecht und einfachem Verwaltungsrecht, auch abhängig von den jeweiligen zeitgeschichtlichen Verhältnissen in Staatsrecht und Staatsrechtslehre, nur schwer zu finden vermochte. Aus gegenwärtiger Sicht kann man das subjektive öffentliche Recht wohl zutreffend als eine traditionelle und als eine zu überwindende Domäne des Verwaltungsrechts bezeichnen. II. Das subjektive öffentliche Recht als traditionelle und zu überwindende Domäne des Verwaltungsrechts Die spezifische Ideengeschichte zum Begriff des subjektiven öffentlichen Rechts beginnt bekanntlich mit dessen „Entdeckung“ unter den besonderen Voraussetzungen und im Rahmen jener in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hervorgetretenen und wirkungsträchtigen Staatsrechtslehre, die sich in ihrer „juristischen“ Methode einer formalistischen, logisch-systematischen Begriffsbildung entschieden zur Maßgeblichkeit und Rezeption der seinerzeit aus der Zivilrechtslehre erwachsenen Begriffsjurisprudenz auch für die Staatsrechtlehre bekannt hat und die daher Ursprung sowie Programm des über die Epoche der Spätkonstitutionalismus hin beherrschenden staatsrechtlichen Positivismus geworden ist.23 Auf dem Boden einer solchen staatsrechtlichen Methoden konnte naturgemäß keine Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht entstehen, die ihre Aufmerksamkeit auch auf dessen materielle staatsrechtliche Substanz und Funktion in einer konstitutionellen bzw. verfassungsstaatlichen Ordnung sowie auf dessen staats- und rechtstheoretischen Ursprung und Grund hätte richten wollen. Hinzu kommt die zu jener Zeit nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung bestimmende und für den Spätkonstitutionalismus epochal gebliebene verfassungspolitische und verfassungstheoretische Situation, wonach Grundrechte, die seinerzeit auch so bezeichneten „Volksrechte“, lediglich als „objektive, abstrakte Rechtssätze über die Ausübung der Staatsgewalt“ gegolten haben und „der Begriff Staatsbürgerthum lediglich ein politischer, aber durchaus nicht ein juristischer“ gewesen ist.24 Danach vermochten die „Volksrechte“ und 23
Sowohl für die Staatsrechtslehre als auch speziell für die Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht maßgeblich v. Gerber, Ueber öffentliche Rechte (1852), Abdr. 1913 sowie ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (1865), 2. Aufl. 1869 und 3. Aufl. 1880, 187 ff. Zu Werk und Bedeutung v. Gerbers siehe Stolleis (Fußn. 21), 331 ff. sowie die Darstellung und die umfangreichen Nachw. bei Bartlsperger, Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaats, Festschrift Wahl, 2011, 11 Fußn. 47 und 30 Fußn. 115; dort (12 Fußn. 48 f. sowie 30 f. Fußn. 115 und 118) auch Nachw. zum wissenschaftlich-methodischen Herkommen v. Gerbers von der zivilistischen Begriffsjurisprudenz sowie zum betreffenden durch v. Gerber vertretenen und von ihm ausgehenden staatsrechtlichen Formalismus bis hin zu Laband und G. Jellinek. 24 v. Gerber, a. a. O., Ueber öffentliche Rechte, 62 ff./63 f.; dazu auch Wyduckel, Jus Publicum, 1984, 277 und Reiling (Fußn. 2), 67 ff. Zu Entstehung und Geltungsproblemen der Grundrechte Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, § 32 und § 33 I.
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„staatsbürgerlichen Rechte“, d. h. die konstitutionell verbürgten bzw. anzunehmenden „politischen Freiheiten“, in individualrechtlicher Hinsicht lediglich eine politische, keine „juristische“ Bedeutung, also insofern keine rechtliche Geltung zu beanspruchen. Ihre im übrigen, d. h. objektivrechtlich vorhandene „juristische“ Relevanz konnte „nur in etwas Negativem gefunden werden, nämlich darin, dass der Staat sich bei der Beherrschung und Unterwerfung des „Einzelnen innerhalb seiner naturgemäßen Schranken hält.“25 Jene damaligen methodischen und verfassungsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Grundlegung des Begriffs subjektiver öffentlicher Rechte und die hierbei entstandene staatsrechtliche Dogmatik haben nicht nur Konsequenzen für die spätkonstitutionelle Staatsrechtlehre des staatsrechtlichen Positivismus gehabt. Darüber hinaus haben sie unmittelbare oder mittelbare Nachwirkungen entfaltet, die, ungeachtet einer zwischenzeitlich gänzlich veränderten Verfassungsrechtslage und Situation der Grundrechtsgeltung, noch die gegenwärtige Meinungsbildung zum subjektiven öffentlichen Recht zu beeinflussen vermögen und zur gegenständlich interessierenden Fragestellung nach einer nicht nur formalen Begriffsbildung und Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte, sondern nach einer materiellen Substanz und Funktion sowie nach Ursprung und Grund derselben herausfordern müssen. An jenem ideengeschichtlichen Beginn lassen sich deutlich die Elemente aufweisen, welche die subjektiven öffentlichen Rechte zu einer traditionellen Domäne von einfachem Gesetzesrecht und Verwaltungsrechtslehre haben werden und dabei nicht wesentlich über einen formalen Rechtsbegriff haben hinauskommen lassen. Jener ideengeschichtliche Ausgangspunkt ist für das Verständnis der weiteren Entwicklung und des gegenwärtigen Meinungsspektrums von zentraler Bedeutung geblieben und bedarf deshalb einer eingehenden Vergegenwärtigung. 1. Ideengeschichtlicher Beginn und wirkungsgeschichtlicher Ausgangspunkt a) Nicht anders als generell die Staatsrechtslehre des Konstitutionalismus, insbesondere des Spätkonstitutionalismus in dessen die Epoche repräsentierender Erscheinung, war auch die Lehre von den „öffentlichen Rechten“ in ihrem ideengeschichtlichen Ursprung von zwei vorherrschenden Prinzipien bestimmt. Es war zum einen die erwähnte, aus der zivilistischen Begriffsjurisprudenz rezipierte „juristische“ Methode des staatsrechtlichen Positivismus und zum andern das verfassungsgeschichtlich maßgebliche monarchische Prinzip. Beide vermochten in ihrem Zusammenwirken zu verhindern, dass sich eine der verfassungsstaatlichen Idee und Entwicklung entsprechende Staatsrechtslehre und eben auch eine dementsprechende Auffassung von subjektiven öffentlichen Rechten etablieren konnte.26 25
v. Gerber , a. a. O., 64 f. In einem anderen staatsrechtlichen Erörterungszusammenhang insofern zu v. Gerber auch bereits Bartlsperger (Fußn. 23), 30 m. Nachw. Fußn. 114 ff. 26
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Schon die nicht lange Zeit vor der Lehre von den „öffentlichen Rechten“ hervorgetretene Annahme einer Rechtspersönlichkeit des Staates als eines eigenständigen Gemeinwesens hatte es in methodischer, d. h. in „juristischer“ Hinsicht bei einem formellen Staatsbegriff dieser Staatsperson belassen und deren rechtlichen Mittelpunkt in der staatsrechtlichen Stellung des Monarchen gesehen.27 Die dann folgende Unterscheidung „öffentlicher Rechte“ vom subjektiven Privatrecht bzw. die rechtsbegriffliche Besonderung derselben gegenüber dem subjektiven Recht im Allgemeinen hat erklärtermaßen den gedanklichen Anschluss an jene seinerzeit neue „juristische“ Auffassung von Staat, Staatsrecht und Staatsrechtslehre gesucht.28 Zwar hat sie einen materiellen Inhalt des Staatsbegriffs angenommen, nämlich diesen in der seinerzeit immer mehr zur Anerkennung gelangten Idee eines staatlichen Organismus gesehen. Damit war eine Vorstellung vom Staat als eines sittlichen Organismus verbunden, dessen „Lebensinhalt“ in der „Ermöglichung einer ununterbrochenen Kundgebung und Wirksamkeit des allgemeinen (Volks-)Willens in seiner Richtung auf die sittliche Vollendung des Gemeinlebens“ besteht.29 Dies bedeutete einerseits eine Bestätigung der mit der konstitutionellen Entwicklung erfolgten Loslösung des Staatsbegriffs von der vormals feudalstaatlichen, „unnatürlichen Verbindung mit der Person des Landesherrn in der Form des Privatrechts“ sowie andererseits die Vermeidung einer bloßen Fiktion des Staates als idealer Persönlichkeit. Nach jenem organischen Staatsbegriff konnte nunmehr das Verhältnis des Staates zum Monarchen prinzipiell darin gesehen werden, dass der Staat nicht mehr Objekt der monarchischen Gewalt ist, auch nicht mehr als Subjekt neben dem Monarchen besteht, sondern dieser als Organ des Staates gilt, freilich als das „hervortretenste“. An sich war hierdurch die staatstheoretische Voraussetzung geschaffen worden, um die in der konstitutionellen Staatsrechtslehre unter deren formalistischer Begriffsbildung stets unentschieden gebliebene Alternative zwischen einem organischen oder einem herrschaftlich-monarchischen Staatsbegriff zugunsten einer folgerichtigen und wirklichen verfassungsstaatlichen Entwicklung zu entscheiden, in der auch die staatsrechtliche Konstruktion an die objektive und eigenständige Realität des Staates anknüpft, einer entsprechenden materiellen Verfassungstheorie folgt und im Rahmen einer konstitutionellen Verfassungsordnung dem Monarchen lediglich die Rechtsstellung eines Organs zubil-
27 Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts, Göttingische Gelehrten Anzeigen 1837, 1489 ff. und 1508 ff. (Neudruck 1962); dazu Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teil, 1959, 84 ff. und Wyduckel (Fußn. 24), 229 ff. 28 v. Gerber (Fußn. 23) Ueber öffentliche Rechte, 12 ff. sowie ders. (Fußn. 23), Grundzüge, 201 ff., 211 ff., 219 ff. 29 Zur Vorstellung v. Gerbers vom staatlichen Organismus und seiner juristischen Bedeutung in dem Zusammenhang ders., a. a. O., Ueber öffentliche Rechte, 15 ff.; ferner ders. (Fußn. 23), Grundzüge, 1 ff. und 211 ff. sowie ders., Ueber deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft überhaupt (1851, 1855, 1865), in: ders., Gesammelte Juristische Abhandlungen, 1878, 1 ff. und ders., Theilbarkeit deutscher Staatsgewalt (1865), in: ders., a. a. O., 441 ff.
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ligt.30 Nicht zuletzt hätte auf der Grundlage einer verfassungsstaatlichen Organismustheorie vom Staat eine Lehre von den „öffentlichen Rechten“ deren Ursprung und Grund nicht mehr in monarchischen Herrschaftsrechten und, was die „Unterthanen“ angeht, nicht mehr in entsprechenden monarchischen Unterwerfungsverhältnissen zu suchen brauchen, sondern jedenfalls für die letzteren „öffentlichen Rechte“ in einer gliedschaftlichen Stellung und individualrechtlichen Funktion des Einzelnen bei der realen und rechtlichen Konstituierung des staatlichen Organismus finden können. Solchen staatsrechtlichen Folgerungen aus der staatstheoretischen Organismustheorie stand seinerzeit jedoch die zeitgeschichtliche politische Unverrückbarkeit der monarchisch-herrschaftlichen Staatsauffassung entgegen.31 Diese vermochte sich wie in der konstitutionellen Staatsrechtslehre überhaupt so auch in dem speziellen Fall einer Staatsrechtslehre von den „öffentlichen Rechten“ als deren konstruktiver Anknüpfungspunkt kraft der erwähnten, die Staatsrechtslehre gleichzeitig beherrschenden „juristischen“ Methode, d. h. im Sinne des begriffsjuristisch formalistischen Denkens des staatsrechtlichen Positivismus, zu behaupten.32 Nach jener „juristischen“ Methode der Staatsrechtslehre sollten die staatstheoretische Vorstellung vom Staat als eines sittlichen Organismus und die staatstheoretische Idee einer Personifizierung der im Staat zu einer organischen Gemeinschaft vereinigten Menschen zwar den „materiellen Inhalt einer juristischen Form“ des Staates anzeigen können.33 Im Verhältnis zum Rechtsbegriff des Staates dagegen sollte dessen tatsächlicher organischer Einheit keine konstruktive Bedeutung beizumessen sein. Vielmehr wird der Begriff einer im staatlichen Organismus sich realisierenden Persönlichkeit des Staates nicht als juristischer, sondern als der „ethische des Selbstbewusstseins, der geistigen Einheit“ gesehen. Für das Recht dagegen wird gar kein Bedürfnis erkannt, „die juristische Natur des Staates im Ganzen zu bestimmen“ und überhaupt „den Begriff des Staates in irgendeine juristische Form zu bringen“. Die Begründungen hierfür erweisen sich als nur schwer entwirrbar. Aber ihr gewolltes staatsrechtliches Ergebnis einer letztlichen rechtlichen Irrelevanz der staatstheoretischen Organismustheorie 30 Zum Problem einer dualistischen Struktur und Legitimationsgrundlage des deutschen Konstitutionalismus Quaritsch, Souveränität, 1970, 487 ff.; Häfelin (Fußn. 27), 87 f.; Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR I, 3. Aufl. 2003, § 2 Rn. 47 und 51 ff.; Pauly (Fußn. 26), 151 ff.; im Zusammenhang der Organismustheorie E. Kaufmann (Fußn. 27), 50 ff. 31 Im Zusammenhang der Lehre von den „öffentlichen Rechten“ v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 39 f. und 42 ff. sowie ders. (Fußn. 23), Grundzüge, 73 ff.; im Übrigen zur zeitgeschichtlichen Behauptung des monarchischen Prinzips E. Kaufmann, a. a. O., 63 und 66, Bärsch, Der Gerber-Labandsche Positivismus, in: Sattler (Hg.), Staat und Recht, 1972, 43/ 66 ff.; Pauly, a. a. O., 25 ff.; Wilhelm (Fußn. 27), 155 f. und 159. Ferner zur politischen Motivation v. Gebers sowie überhaupt zu den politischen Implikationen in der konstitutionellen Staatsrechtslehre die Nachw. bei Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, FS Steiner, 2009, 31/43 f. Fußn. 37 und dems. (Fußn. 23), 30, Fußn. 119. 32 Hierzu die Nachw. in Fußn. 23. 33 v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 17. auch zum Folgenden ders., a. a. O., 16 ff.
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und damit im Prinzip jedes Ansatzes einer materiell verfassungsstaatlichen Entwicklung gegenüber einer bloß formalen Grundlegung des staatsrechtlichen Systems im Prinzip monarchischer Herrschaft ist klar erkennbar. b) Auf der einen Seite wird in konsequenter Verfolgung des Formalismus der seinerzeitigen „juristischen“ Methode dem „Thatsächlichen“, also dem staatstheoretisch angenommenen staatlichen Organismus, der Vorstellung von einer realen organischen Einheit und Ganzheit sowie einer entsprechenden realen Rechtspersönlichkeit des Staates, eine rechtliche Bedeutung abgesprochen. „Juristische“ Relevanz wird ausschließlich „der Bewegung seiner Glieder nach dem Maßstab der Idee des Organismus“ zuerkannt.34 Auf der anderen Seite wird, wie dieser letztere Hinweis auf die „Maßstäbe der Idee des Organismus“ zeigt, die Besonderheit und Unterscheidung der innerhalb der staatsrechtlichen Ordnung anzunehmenden „öffentlichen Rechte“ gegenüber subjektiven Privatrechten gerade darin gesehen, dass die privatrechtlichen Willensäußerungen solche der betreffenden Individuen sind, während die „öffentlichen Rechte“ von Gliedern des staatlichen Organismus und demzufolge „einer beschränkenden Gemeinschaft, nämlich der Volksverbindung“ wahrgenommen werden.35 Dies bedeutet zum einen, dass „öffentliche Rechte“ allen Gliedern des angenommenen Staatsorganismus zu eigen sein sollen, d. h. neben einem „Recht der Unterthanen“ erkärtermaßen zuallererst ein „Recht des Monarchen“ und ein „Recht der Beamten“ bestehen soll.36 Zum zweiten und wesentlich soll danach der staatsrechtliche Begriff der „öffentlichen Rechte“ dahin definiert sein, dass ihre Träger als Glieder des staatlichen Organismus unter den Schranken des objektiven Rechts tätig werden und dass die betreffenden Berechtigungen und Verpflichtungen durch objektives Recht, „durch eine objektive aus der Natur des Staatsverbandes selbst hervorgehende Rechtsregel (den allgemeinen Willen) bestimmt“ sind.37 Es sind also nachweislich die „tatsächlichen“ Merkmale gemäß einem organischen Staatsbegriff, die unmittelbar die rechtskonstruktive Grundlage des staatsrechtlichen Systems, speziell des staatsrechtlichen Begriffs der „öffentlichen Rechte“ bilden sollen. Namentlich wird ganz im Sinne der staatstheoretischen Vorstellung vom staatlichen Organismus als einer realen und objektiven geistigen Einheit davon gesprochen, dass die für den Rechtsbegriff der „öffentlichen Rechte“ wesentliche objektivrechtliche Beschränkung aus einem „allgemeinen Willen“ hervorgehe. Auf der anderen Seite und im Widerspruch dazu sollte nach der dargelegten methodischen Grundlegung die Tatsache eines staatlichen Organismus, d. h. die Existenz des Staates als einer geistig und rechtlich verbundenen realen Einheit und wirklichen Ganzheit, keinerlei „juristische“ Bedeutung beanspruchen können. Folgerichtigerweise musste danach ein Rechtsbegriff der „öffentlichen Rechte“ ohne eine konstruktive Bezugnahme auf die sinnhafte materielle Substanz einer gliedschaftlichen Stel34
A. a. O., 17 f. A. a. O., 25 und 29. 36 A. a. O., 40; ausgeführt a. a. O., 42 ff. (Recht des Monarchen), 58 ff. (Recht der Beamten), 62 ff. (Recht der Unterthanen). 37 A. a. O., 40 f. 35
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lung von deren Trägern innerhalb einer organisch verstandenen Wirklichkeit des Staates, also ausschließlich anhand formeller Merkmale definiert werden. Angesichts solcher grundlegender methodischer Ungereimtheiten müssen die letztlich entscheidenden rechtskonstruktiven Grundlage jener damaligen, erst am ideengeschichtlichen Beginn stehenden, deshalb aber keineswegs weniger wirkungsträchtigen Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten in ihrem nachweisbaren eigentlichen Ansatz ausgemacht werden. Dazu gelangt man allerdings erst auf den Umwegen der seinerzeitigen Argumentation. c) Jene Lehre von „öffentlichen Rechten“, die für die rechtsbegriffliche Entwicklung der subjektiven öffentlichen Rechte den ideengeschichtlichen Ausgangspunkt bildet, folgt weder einem genuin staatsrechtlichen Denken noch beschränkt sie die Frage nach dem Rechtsbegriff subjektiver öffentlicher Rechte auf das nach der heutigen Staatsrechtslehre hierfür allein in Betracht kommende Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat. Vielmehr verfährt sie getreu ihrem bekannten Herkommen aus der zivilistischen Begriffsjurisprudenz auch bei der Begriffsbestimmung „öffentlicher Rechte“ nach der Methode, dass „der einzige Weg einer sicheren Begründung des positiven Staatsrechts in seiner formellen Wiederannäherung an das Privatrecht zu liegen scheint.“38 Deshalb definiert sie nach der seinerzeit für die subjektiven Privatrechte maßgeblich gewordenen sogenannten Willenstheorie auch die „öffentlichen Rechte“ als Willensmacht;39 demzufolge wird in „juristischer“ Hinsicht der Persönlichkeit des Staates die „Fähigkeit eines Willens in seiner Richtung auf Unterwerfung eines Objekts“ sowie der Staatsgewalt die „Willensmacht eines persönlich gedachten sittlichen Organismus“ zugeordnet.40 Als unterscheidendes Merkmal gegenüber den subjektiven Privatrechten und als spezifisches konstitutives Merkmal der „öffentlichen Rechte“ kann danach, wie schon angesprochen, nur gelten, dass deren Rechtsträger in ihren Willensäußerungen, ganz anders als in ihren Willensäußerungen nach Privatrecht, wegen ihrer insofern bestehenden organschaftlichen Gliedstellung innerhalb des Staates entsprechenden „juristischen“, objektivrechtlichen Bindungen und Beschränkungen unterliegen. Zusammengefasst bedeutet ein auf solche Weise aus formellen, d. h. spezifisch „juristischen“ Merkmalen konstituierter Rechtsbegriff „öffentlicher Rechte“, dass deren Rechtsträger ein Recht auf die „Funktion“ und die „Wirkung“ ihrer unter den Bindungen und Beschränkungen des öffentlichen Rechts betätigten Willensäußerungen haben.41
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A. a. O, 24; zum Folgenden a. a. O., 24 ff. Zur zivilistischen Willentheorie zunächst v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band I, 1840 (Neudruck 1973), 7 f. und Puchta, Pandekten, 8. Aufl. 1856, 37, 46 ff. sowie dann Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Erster Band, 4. Aufl. 1875, 91 ff.; allgemein dazu Vonlanthen (Fußn. 2), 28. f.; Schütze (Fußn. 2), 81 ff.; Schulev-Steindl (Fußn. 2), 12 ff. 40 v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 17 bzw. ders. (Fußn. 23), Grundzüge, 19 ff. 41 v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 39 ff. 39
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Mit der dargelegten Begriffsbestimmung sollten erklärtermaßen jedenfalls und zuerst die zu den „öffentlichen Rechten“ gezählten staatsorganisationsrechtlichen Kompetenzen der seinerzeitigen staatstragenden Organe erfasst sein, nämlich das „Recht des Monarchen“ und „das Recht der Beamten“;42 möglicherweise sollten es sogar nur diese sein. Im Grunde handelt es sich insofern lediglich um die Staatsorgantheorie einer strikt am monarchischen Prinzip orientierten konstitutionellen Staatsrechtslehre. Aus den weiteren dortigen Annahmen ist jedenfalls keineswegs eindeutig und abschließend erkennbar, ob jene Grundlegung „öffentlicher Rechte“ auch gerade für das Verhältnis von Individuum und Staat den rechtskonstruktiv entscheidenden Ansatzpunkt liefern sollte, das im heutigen staatsrechtlichen System den Bereich der subjektiven öffentlichen Rechte bildet. An diesem seinerzeit mit dem „Recht der Unterthanen“ bezeichneten Bereich erweist sich erst abschließend, von welchem rechtskonstruktiven Ansatzpunkt aus die dann künftige und die heutige Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten letztlich ihren ideengeschichtlichen Ausgang genommen und ihre wirkungsgeschichtlichen Prägungen empfangen hat.43 d) Die Rechtskonstruktion des so bezeichneten „Rechts der Unterthanen“ ist nicht von der erwähnten, einmal getroffenen methodischen Weichenstellung abgewichen, die staatsrechtliche Begriffsbildung an das Privatrecht anzunähern.44 Demzufolge ist zum staatsrechtlichen Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat nicht anders als bei den erörterten anderen „öffentlichen Rechten“ des Monarchen und der Beamten das betreffende rechtskonstruktive Konzept auf der Grundlage der seinerzeit in der Zivilrechtslehre sich behauptenden Willenstheorie entwickelt worden.45 Dies ist jedoch in einem gänzlich anderen Sinne geschehen als von der Begriffsprägung „öffentlicher Rechte“ her erwartbar, und zwar gerade umgekehrt zu einer von daher und überhaupt von der Stellung der „Unterthanen“ her suggerierten individualrechtlichen Sicht, d. h. gerade umgekehrt zu der Annahme einer staatsrechtlich begründeten Willensmacht des Einzelnen gegenüber dem Staat. Vielmehr ist in diesem staatsrechtlichen Zusammenhang die zivilrechtlich definierte Willensmacht in einer prinzipiell gegensätzlichen Perspektive auf die Staatsgewalt als die dem Staat als Persönlichkeit gegenüber den Einzelnen eigentümliche Willensmacht bezogen sowie diese wiederum dem Monarchen als oberstem Willensorgan des Staates zugeordnet worden. In diesem sollte „die abstracte Persönlichkeit der Staatsgewalt verkörpert“ sein und sein Wille sollte „als allgemeiner Wille, als Wille des Staates gelten“.46 Es handelt sich um eine Rechtskonstruktion, welche die in der Zivilrechtslehre im spezifischen Zusammenhang zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse entwickelte Willenstheorie mit dem monarchischen Prinzip in dessen staatsrechtlich striktesten Sinne verbindet und in einem so begründeten monarchisch herrschaftlichen Prinzip die 42
Nachw. Fußn. 36. Zum betreffenden „Recht der Unterthanen“ v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 62 ff.; dort auch zum Folgenden. 44 Fußn. 38. 45 Zur Willenstheorie Nachw. Fußn. 39. 46 Neben den Nachw. in Fußn. 43 so v. Gerber (Fußn. 23), Grundzüge, 220 bzw. 73 f. 43
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maßgebliche Grundlegung des staatsrechtlichen Systems im konstitutionellen Staat zu beanspruchen vermochte. Dagegen ist die staatsrechtliche Stellung des „Unterthanen“ demzufolge nur „die eines staatlich Beherrschten und mit diesem Begriffe vollständig bezeichnet“.47 Die so definierte monarchisch herrschaftliche Willensmacht unterscheidet sich von der individuellen Willensmacht des Privatrechts, wie schon zum generellen Rechtsbegriff „öffentlicher Rechte“ sowie zum „Recht des Monarchen“ dargelegt, dadurch, dass sie als spezifisch staatsrechtliche nach Ablösung der vormaligen feudalstaatlichen Ordnung durch eine konstitutionelle nunmehr den im konstitutionellen Rahmen bestehenden und entstehenden Bindungen und Beschränkungen des objektiven Rechts unterliegt; zu diesen objektivrechtlichen Schranken der monarchischen Herrschaftsgewalt gegenüber den „Unterthanen“ sind auch die seinerzeit als „Volksrechte“ bezeichneten Grundrechte konstitutioneller Verfassungen gezählt worden. Die Rechtsstellung der „Unterthanen“ in einem solchen staatsrechtlichen System der konstitutionellen Monarchie ist danach zwar die einer herrschaftlichen Rechtsunterworfenheit unter die monarchische Staatsgewalt, aber keine rechtlich unbeschränkte.48 Es stellt sich dazu aber jedenfalls die zu jenem ideengeschichtlichen Ausgangspunkt der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten abschließende Verständnisfrage, ob mit jenem dargelegten damaligen rechtskonstruktiven Konzept einer objektivrechtlich gebundenen und beschränkten monarchisch herrschaftlichen Rechtsunterworfenheit der „Unterthanen“ überhaupt schon ein Recht im subjektiven, individualrechtlichen Sinne begründet worden war.49 Nicht zuletzt gilt diese Frage der seinerzeitigen konstitutionellen Grundrechtslehre, nach der, wie gesagt, die damals auch so bezeichneten „Volksrechte“ bzw. „staatsbürgerlichen Rechte“ lediglich als objektivrechtliche Grenzen der monarchisch herrschaftlichen Staatsgewalt Geltung beansprucht haben sollen.50 Wo sonst, wenn nicht anhand jener in den gleichen rechtskonstruktiven Zusammenhang gehörenden konstitutionellen Grundrechtstheorie, lässt sich die Frage einer unmittelbaren und genuinen individualrechtlichen Substanz des seinerzeit angenommenen „Rechts der Unterthanen“ allenfalls einer Beantwortung zuführen. Erklärtermaßen ist dem „Recht der Unterthanen“ einschließlich der sogenannten „Volksrechte“ in deren spezifisch rechtlichem Sinne lediglich die Funktion einer negativen Begrenzung von Befugnissen der monarchischen Staatsgewalt zuerkannt
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v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 63. Ders. a. a. O., 62. ff. und ders. (Fußn. 23), Grundzüge, 220 ff. 49 Zu dieser Fragestellung dann G. Jellinek (Fußn. 11), 68 sowie in thematisch umfassender Erörterung 81 ff., 85 ff., 96 ff. und 104 f.; ferner dazu Henke (Fußn. 2), 27 ff.; Wyduckel (Fußn. 24), 279 f.; Stern (Fußn. 2), § 65 II 1 b, Eisele (Fußn. 2), 23 f. und 30 ff. 50 Dazu bei H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 62 ff. und 65 ff. Selbst bei Bejahung eines individualrechtlichen Charakters der Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte konnte man sie wegen ihres dann gleichwohl nur einfachrechtlichen Geltungsranges als „die positivierte und ins Verwaltungsrecht abgedrängte Kümmerform der politischen Grundrechte“ bezeichnen (so Stolleis, Fußn. 21, 375). 48
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worden.51 Zwar findet sich durchaus auch die Erwägung, dass es hierbei um die „Wirkungen der persönlichen Freiheit im Staate“ geht. Aber gemäß der erwähnten, die betreffende damalige Staatsrechtslehre beherrschenden „juristischen“ Methode konnte jener allgemeine Gesichtspunkt einer materiellen subjektiven, freiheitlichen Funktion und Substanz der die monarchisch herrschaftliche Staatsgewalt bindenden und beschränkenden objektivrechtlichen Grenzen allenfalls eine politische Bedeutung beanspruchen. In „juristischer“ Hinsicht dagegen konnten diese Begrenzungen des herrschaftlichen Unterwerfungsverhältnisses wegen ihrer im staatrechtlichen System der konstitutionellen Monarchie ausschließlich objektivrechtlichen Funktion nur als „Negationen“ der Staatsgewalt gelten, d. h. als Zurückweisungen der monarchischen Staatsgewalt, als „Schranken der Rechte des Monarchen vom Gesichtpunkte der Unterthanen aus betrachtet“; für die staatsrechtliche Auffassung galten sie folglich als eine „positive Bestimmung der Rechte der Staatsgewalt.“52 Zwar sollten die betreffenden objektiven Rechtssätze unter der „Voraussetzung eines bestimmten Tathbestandes eine Berechtigung (ein Recht im subjektiven Sinne)“ erzeugen, d. h. wohl unter der Voraussetzung einer konkreten Verletzung jener objektivrechtlichen Grenzen der Staatsgewalt einen Anspruch gegen den Staat begründen. Aber eine solche Festsetzung sollte für die „Charakteristik des Unterthanenrechts“ lediglich eine „Modifikation“ enthalten.53 Hierzu mag angenommen worden sein, dass der Einzelne durch die Unterwerfung unter das staatliche Herrschaftsrecht in ein „eigenthümliches Rechtsverhältnis zum Staate“ tritt.54 Dies war jedoch keineswegs als Ausgangspunkt einer rechtlichen Begriffsbildung gemeint. Denn es fehlte hierzu nicht an der Klarstellung, dass die staatsbürgerliche Unterwerfung unter die Staatsgewalt „offenbar der principale Tathbestand“ ist und dass die staatsbürgerlichen Rechte allenfalls als „Reflexrechte“ bezeichnet werden können.55 Erkennbar hatte sich jener ideengeschichtliche Anfang und wirkungsgeschichtliche Ausgangspunkt der Lehre von der subjektiven öffentlichen Rechten angesichts der dargelegten, in rechtsmethodischer und politischer Hinsicht hierfür recht schwierigen zeitgeschichtlichen Voraussetzungen auf eher verschlungenen Wegen zu bewegen. Gleichwohl lassen sich wesentliche Aspekte recht eindeutig festhalten und als die entscheidenden Richtpunkte auch der nachfolgenden ideengeschichtlichen Entwicklungen identifizieren.
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Hierzu v. Gerber (Fußn. 23), Ueber öffentliche Rechte, 63 ff. A. a. O., 64 f./65. 53 A. a. O, 65 f.; zu späteren literarischen Beurteilungen hierzu siehe die Nachw. in Fußn. 49. 54 v. Gerber (Fußn. 23), Grundzüge, 222 und dazu a. a. O., 222 ff. 55 A. a. O., 221 bzw. 224. Der Begriff der „Reflexrechte“ ist später von G. Jellinek (Fußn. 11, 67 ff.) klargestellt und von da an nachfolgend, auch unter der Begründung als „Rechtsreflexe“, gerade in einen Gegensatz zu subjektiven öffentlichen Recht gestellt worden. Zurückgehend auf v. Ihering wurde von „Reflexwirkungen“ gesprochen; dazu Bachof (Fußn. 2). 52
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e) Im Ergebnis haben jene ideengeschichtlich ersten rechtskonstruktiven Annahmen zum „Recht der Unterthanen“ auf der Grundlage und unter den Bedingungen eines monarchisch herrschaftlich verstandenen staatsrechtlichen Systems jedenfalls in einem Punkt schon einen entscheidenden Schritt hin auf eine individualrechtliche Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat getan. Zwar konnte im damaligen konstitutionellen Verfassungsverständnis das staatsbürgerliche Verhältnis prinzipiell und primär nur in einer objektivrechtlich gebundenen und begrenzten Unterwerfungsstellung des Einzelnen gesehen werden. Aber in den hiervon abgeleiteten, sekundären sogenannten „Reflexrechten“ Einzelner bei konkreter Betroffenheit durch Verletzung einer ihre Angelegenheiten objektiv betreffenden Regelung war erstmals unter konstitutionellen Verhältnissen eine unmittelbare subjektive Berechtigung, ein individueller Rechtsanspruch gegen den Staat definiert worden. Mit der hierbei tatbestandsmäßig lediglich vorausgesetzten tatsächlichen Eingriffsbetroffenheit des Einzelnen im Sinne eines subjektiven Rechtswidrigkeitszusammenhangs mit der angewendeten gesetzlichen Regelung war jene individualrechtliche Rechtskonstruktion an sich schon deutlich der nachfolgend entwickelten, eingangs erwähnten Schutznormtheorie voraus, die bis heute meinungsführend, ungeachtet von Differenzierungen, im Grunde eine Abhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts von einer spezifischen gesetzlichen Verleihung, also von einer gezielten gesetzlichen Begründung vertritt. Aber jene Annahme allein von einem aus der Verletzung objektivrechtlicher, einschließlich der Grundrechte immer nur objektivrechtlicher Bindungen und Beschränkungen der monarchisch herrschaftlichen Staatsgewalt resultierenden, also von einem lediglich abgeleiteten Reaktionsanspruch war wegen dessen nur sekundären Charakters auch nicht geeignet, die Lehre vom „Recht der Unterthanen“ im Verlauf der weiteren ideengeschichtlichen Entwicklung in eine originär individualrechtliche Richtung zu lenken. Auf der rechtskonstruktiven Grundlage eines primären, bloß durch objektives Recht begrenzbaren monarchisch herrschaftlichen Unterwerfungsverhältnisses der Einzelnen war es letztlich ausgeschlossen, subjektive öffentliche Berechtigungen aus einer Begründungsabhängigkeit einfachgesetzlicher Regelungen herauszuführen und über eine hiermit verbundene rechtsquellenmäßige Etablierung im einfachen Verwaltungsrecht hinauszuführen. Dazu hätte es einer gänzlich anderen staats- und rechtstheoretischen Grundlegung bedurft als dies seinerzeit geschehen war. Unter der damaligen Verbindung von formalistischer Methode im Geiste des begriffsjuristischen staatsrechtlichen Positivismus sowie von zivilistischer Willenstheorie zum subjektiven Recht mit dem monarchisch herrschaftlichen Prinzip des konstitutionellen staatsrechtlichen Systems fehlte es an Voraussetzungen, von denen aus es allein möglich ist, eine Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten aus einem rechtskonstruktiv individualrechtlichen Ursprung und Grund zu entwickeln. Hierzu bedarf es einer verfassungsstaatlichen Vorstellung, nach welcher der Staat auch als Rechtsbegriff und Rechtspersönlichkeit eine aus der ursprünglichen Freiheit und Subjektivität der Einzelnen sich organisch konstituierende objektive und eigenständige, geschichtlich reale Einheit und Ganzheit darstellt und die Rechts-
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konstruktionen des staatsrechtlichen Systems einem solchen Staatsbegriff folgen. Allein auf der Grundlage und im Rahmen einer solchen verfassungsstaatlichen Verfassungsordnung vermag sich das subjektive öffentliche Recht in seiner materiellen Funktion und Substanz als ursprüngliches Individualrecht zu entfalten. Im Unterschied dazu ist die Ideengeschichte vom subjektiven öffentlichen Recht von Anfang an und in ihrer Entwicklung trotz epochal neuer verwaltungsrechtlicher und veränderter staatsrechtlicher Voraussetzungen vom Erbe der positivistischen und konstitutionellen Staatsrechtslehre geprägt. Man kann eine Kontinuität selbst unter prinzipiell veränderten Voraussetzungen beobachten. 2. Kontinuität unter neuen verwaltungsrechtlichen und veränderten staatsrechtlichen Voraussetzungen Noch für die spätkonstitutionelle Epoche lassen sich zur Lehre von den anfänglich sogenannten „öffentlichen Rechten“ zwei ideengeschichtlich wesentliche Veränderungen hervorheben.56 Sie haben aus jenen erwähnten, zunächst auf alle Rechtsbeziehungen innerhalb der staatsrechtlichen Ordnung erstreckten „öffentlichen Rechten“ die künftig nur mehr im staatsrechtlichen Verhältnis zwischen Einzelnen und dem Staat angesiedelten „subjektiven öffentlichen Rechte“ werden lassen. Im Bereich der äußeren Voraussetzungen war es die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in partikularstaatlich unterschiedlichen Konzeptionen und Ausgestaltungen entweder an eine tatsächliche subjektive Rechtsbetroffenheit durch objektivrechtliche Rechtsverletzungen oder unmittelbar an subjektive öffentliche Rechte anknüpfte.57 Im Bereich der inneren ideengeschichtlichen Entwicklung war es das Auftreten der sogenannten Statuslehre, welche die erwähnten, anfänglichen zivilistischen Elemente in der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten durch eine rein staatsrechtliche Konstruktion, Systematik und Begriffsbildung abgelöst hat.58 Nach dem Ende der konstitutionellen Epoche schließlich vollzog sich in der Verfassungsentwicklung die unmittelbare individualrechtliche Aktualisierung der Grundrechte bis hin zu deren heutiger aktueller Geltung unter dem GG sowie eine dementsprechende 56
Zum spätkonstitutionellen, lange Zeit nicht wesentlich gewandelten Meinungsbild um subjektive öffentliche Rechte siehe Rosin, Hirths Annalen 1883, 265/286 ff.; Schuppe, Der Begriff des subjektiven Rechts, 1883 (Neudruck 1963), Labend, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 5. Aufl. 1911 (Neudruck 1964), 137 f. und 546 f.; G. Jellinek (Fußn. 11), 4 ff.; Tezner, Grünhuths Zeitschrift 21 (1894), 107 ff.; O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band 1, 3. Aufl. 1923, 104 ff.; zur weiteren Entwicklungsgeschichte der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten Nachw. bei Bachof (Fußn. 2), 287/291 Fußn. 16 sowie speziell bei H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 69 ff.; Masing (Fußn. 2), 56 ff.; Eisele (Fußn. 2), 22 ff.; Reiling (Fußn. 2), 67 ff. 57 Zur Entstehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und zu den dabei unterschiedlichen Modellen eines objektiven Beanstandungsverfahrens oder individualrechtlichen Rechtsschutzverfahrens die Nachw in Fußn. 21. Zum in der Folgezeit jedenfalls erfolgreichen süddeutschen Modell eines individualrechtlichen Rechtsschutzverfahrens Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, 1880. 58 G. Jellinek (Fußn. 11).
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Entwicklung der Grundsrechtsdogmatik.59 Das Interesse an diesen Vorgängen richtet sich im gegenständlichen Zusammenhang spezifisch auf die Frage, ob sowie gegebenenfalls inwiefern und inwieweit in deren Gefolge die Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechte in ihrem konstitutionellen und positivistischen Erbe Wandlungen zu vollziehen vermochte. a) Am Ende der konstitutionellen Epoche ist mit der erwähnten sogenannten Statuslehre ein ideengeschichtlicher Schritt in Richtung auf eine staatsrechtlich sinnvolle Funktionalisierung der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten sowie zu deren Präzisierung und Differenzierung getan worden. Von wirkungsgeschichtlicher Bedeutung ist diese Statuslehre auch dadurch, dass unter anderem sie im Ergebnis Anteil an der Weitervermittlung des konstitutionellen und positivistischen Erbes von der Gesetzesabhängigkeit der subjektiven öffentlichen Rechte in die nachkonstitutionelle Epoche hinein hat. Zuallererst ist gegenüber der am Anfang stehenden Lehre von den „öffentlichen Rechten“ eine nur vom staatsrechtlichen Verhältnis zwischen Individuum und Staat ausgehende, dementsprechend rechtsfunktional zutreffende Ausgrenzung von staatsorganisatorischen Organverhältnissen aus dem Kreis von subjektivrechtlichen Beziehungen erfolgt.60 Vor allem ist dabei mit der begrifflichen Verabschiedung eines „Rechts des Monarchen“ sowie eines davon abhängigen „Rechts der Beamten“ das seinerzeit als tragende Grundlage verwendete staatsrechtliche Konstruktionsprinzip einer monarchisch herrschaftlichen und im Sinne der zivilistischen Willenstheorie verstandenen Willensmacht des Staates abgelöst worden durch einen objektiven und eigenständigen Rechtsbegriff des Staates.61 Nach wie vor allerdings hat es die gleichzeitige Beharrung auf einer „juristischen“ Methode der Staatsrechtslehre nicht zugelassen, den Staat auch als Rechtsbegriff und Rechtspersönlichkeit in seiner objektiven und eigenständigen, geschichtlich realen organischen Einheit zu definieren und demzufolge die subjektiven öffentlichen Rechte der Einzelnen auf der Grundlage von deren dementsprechender ursprünglicher Freiheit und gliedschaftlicher Subjektivität im staatlichen Organismus zu konstituieren, d. h. sie in ihrer materiellen Funktion und Substanz als originäre und prinzipale Individualrechte im Verhältnis 59
Zu der im gegenständlichen Zusammenhang relevanten Entwicklung der Grundrechtsgeltung und der Grundrechtstheorie H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 54 ff.; Eisele (Fußn. 2), 61 ff. 60 G. Jellinek (Fußn. 11), 81 ff.; danach zu einem eigenen Recht der Staatsorgane ders., a. a. O., 223 ff. Zur Annahme bzw. Möglichkeit subjektiver öffentlicher Rechte des Staates Rosin, Hirths Annalen 1883, 265/290 f.; Schuppe (Fußn. 56), 78 ff. und 290 ff.; Tezner, Grünhuths Zeitschrift 21 (1894), 107/161 ff.; H. Bauer, a. a. O, 166 f. und 172 ff.; ders., DVBl. 86, 208 ff.; Maurer (Fußn. 2), § 8 Rn. 2; ablehnend bzw. kritisch, vornehmlich wegen der Zuordnung des subjektiven öffentlichen Rechts an einem freien und verantwortlichen Personenbegriff Coing (Fußn. 15), 19, Huber (Fußn. 2), 106 f. und 172, Schur (Fußn. 2), 106, Masing (Fußn. 2), 106 f.; Reiling (Fußn. 2), 80 ff. sowie bei H. Bauer, a. a. O., Geschichtliche Grundlagen, 16 und 50 f. 61 G. Jellinek, a. a. O., 12 ff. und 81 ff.; zum Festhalten an der sogenannten Willenstheorie an sich jedoch a. a. O., 41 ff.
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zum Staat und damit ohne eine Begründungsabhängigkeit von einfachgesetzlichen Verleihungen zu begreifen. Vielmehr ist folgerichtig nach der „juristischen“ Methode des staatsrechtlichen Positivismus daran festgehalten worden, die Rechtspersönlichkeit des Staates sowie dessen Rechtsverhältnis gegenüber den Einzelnen allein in den objektivrechtlichen Bindungen und Beschränkungen der Staatsgewalt konstituiert zu sehen.62 Rechtskonstruktiv bilden jene objektivrechtlichen Bindungen und Begrenzungen der Staatsgewalt einen jeweiligen „Status“ des Einzelnen gegenüber dem Staat, sei es in einem negativen Sinne gegenüber entsprechenden, das objektive Recht verletzenden Eingriffen oder sei es mit einer positiven Funktion in Bezug auf subjektivrechtlich begründete Leistungspflichten desselben oder im Sinne einer aktiven Mitwirkung der Einzelnen an der staatsrechtlichen Willensbildung.63 Als subjektive öffentliche Rechte gelten danach erst die aus der Verletzung eines betreffenden Status entstehenden Rechtsansprüche gegen den Staat.64 Im Ergebnis bedeutet dies, dass solche individuellen Rechtsansprüche sich mittelbar einer staatlicherseits gewollten objektiven Rechtspflicht gegenüber den Einzelnen verdanken und unmittelbar sich erst aus einer Verletzung der betreffenden statusverleihenden objektiven Rechtspflichten ergeben. Der Staat wird auf diese Weise zwar vom bloßen Machtsubjekt zum Rechtssubjekt, zu einem Rechtsstaat, aber principaliter und primär aufgrund seiner objektivrechtlich gewollten Bindungen, Beschränkungen, Verpflichtungen.65 Individualrechte gegenüber dem Staat dagegen resultieren hieraus erst als abgeleitete, sekundäre Rechtsansprüche, je nach Maßgabe eines objektivrechtlich begründeten Verpflichtungswillens des Staates gegenüber den Einzelnen. Hiermit war erklärtermaßen gemeint, dass nicht bereits eine staatliche Verletzung objektiven Rechts in Verbindung mit einem hiermit bestehenden subjektiven Rechtswidrigkeitszusammenhang ein subjektives öffentliches Rechts gegen den Staat begründet. Vielmehr sollte als Voraussetzung eines subjektiven öffentlichen Recht nur die staatliche Verletzung eines subjektiven Status in dem dargelegten Sinne gelten, dass der Staat dem Einzelnen die „Fähigkeit zuerkennt, seinen Rechtsschutz wirksam anzurufen“,66 ihm dadurch ein rechtliches „Können“ überhaupt erst Rechtspersönlichkeit im spezifisch vom Privatrecht unterschiedenen staatsrechtlichen Verhältnis zum Staat verleiht.67 Im Ergebnis hat die Statuslehre durchaus eine freiheitsgewährleistende Funktion, aber lediglich in dem sekundären, eingeschränkten Sinne, dass und soweit der Staat 62
A. a. O., 194 ff. bzw. 82 ff. A. a. O., 87 und 94 ff. (status negativus), 114 ff. (status positivus), 136 ff. (status activus). 64 A. a. O., 86. Dazu dann Rupp (Fußn. 2), 153. 169 ff. und 249 ff.; Scherzberg, DVBl. 88, 124 f.; 129 und 132 f. 65 G. Jellinek, a. a. O., 81 ff. und 103 f.; dazu Lorenz (Fußn. 2), 5, Wyduckel (Fußn. 24), 279 ff.; Reiling (Fußn. 2), 71. 66 G. Jellinek a. a. O., 82. 67 Zur Unterscheidung von bloßem rechtlichem „Dürfen“ und rechtlichem „Können“ dabei a. a. O., 46 f.; zu dieser Unterscheidung kritisch Tezner, Grünhuths Zeitschrift 21 (1894), 107/ 109 ff., 113, Schulev/Steindl (Fußn. 2), 79 ff. 63
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durch gesetzliche Verleihung eines entsprechenden Status an den Einzelnen dessen Rechtspersönlichkeit anerkennt; insofern wird die Herrschaft des Staates als „eine Herrschaft über Freie“ angesehen.68 Rechtskonstruktiv geschieht dies, indem der Staat nicht nur negativ seine Herrschaftsbefugnis objektivrechtlich beschränkt, sondern „zum positiven Handeln im individuellen Interesse sich bestimmend, dem Einzelnen die rechtliche Fähigkeit anerschaffen“ hat, „seine Tätigkeit in Anspruch zu nehmen, derart, dass er sich selbst durch seine Rechtsordnung verpflichtet hat.“69 Danach besteht der im Falle seiner Verletzung ein subjektives öffentliches Recht auslösende Status des Einzelnen jedenfalls nur begründungsabhängig von einer einfachgesetzlichen Verleihung. Eine prinzipielle staats- und rechtstheoretische Veränderung der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten hin zu deren Anerkennung als primären und unmittelbaren, im materiell funktionalen und substantiellen Sinne ursprünglichen und nicht gesetzesabhängigen Individualrechten ist dadurch nicht erfolgt. Auch die an sich staatsrechtlich angelegte Statuslehre hat nichts daran geändert, dass die subjektiven öffentlichen Rechte einschließlich ihres Aspekts als konstitutioneller Grundrechte eine Domäne des Verwaltungsrechts geblieben sind. b) Für die weitere ideengeschichtliche Entwicklung der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten kann man davon ausgehen, dass sie zunächst einen gewissen Abschluss ihrer konstitutionellen Epoche erlebt sowie eine wirkungsträchtige Erneuerung und Stabilisierung infolge der partikular- bzw. gliedstaatlichen Gesetzgebung zu einer eigenständigen Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie anlässlich von deren Rechtsprechung erfahren hat.70 Dabei erscheint zutreffend beobachtet worden zu sein, dass die betreffenden Gerichte keinen Nutzen aus der überlieferten konstitutionellen und positivistischen Verwaltungsrechtslehre zu ziehen vermochten, die in der dargelegten Weise subjektiven Berechtigungen allenfalls einen abgeleiteten Charakter auf der Grundlage von lediglich objektivrechtlichen Bindungen und Beschränkungen der Staatsgewalt gegenüber den Einzelnen zuzubilligen bereit war.71 Erklärtermaßen ist nunmehr umgekehrt von Seiten der Verwaltungsrechtslehre eine Anknüpfung an die Rechtsprechung gesucht worden.72 Maßgeblich wurde deren Praxis, die seinerzeit noch enumerativ geregelten Rechtswegeröffnungen entweder mit der Voraussetzung einer konkreten subjektiven Rechtsbetroffenheit oder von gesetzlich unmittelbar und primär begründeten subjektiven öffentlichen Rechten zu verknüpfen. Für die hieran anschließende Verwaltungsrechtslehre bedeutete dies die rechtskonstruktive Konsequenz, subjektive Berechtigungen bzw. subjektive öffentliche Rechte nicht mehr bloß gemäß den dargelegten Annahmen der konstitutionellen Gesetzesstaatstheorie als abgeleitete Reaktionsansprüche aufgrund einer Verletzung objektiv68
G. Jellinek, a. a. O., 85. A. a. O. 70 Hierfür steht das seinerzeit zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der sogenannten Schutznormtheorie gewordene Standardwerk von O. Bühler (Fußn. 3). Zur seinerzeitigen Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit Nachw. Fußn. 21. 71 Siehe die Äußerungen Nachw. Fußn. 10. 72 O. Bühler (Fußn. 3), 5 f. 69
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rechtlicher Beschränkungen der Staatsgewalt bzw. objektivrechtlicher Status anzuerkennen. Stattdessen waren nun auch in der Verwaltungsrechtslehre die subjektiven öffentlichen Rechte als unmittelbar und primär gesetzlich begründete Individualrechte zu begreifen, d. h. als Rechtsansprüche entweder auf eine negative Abwehr bestimmter Rechtseingriffe der Staatsgewalt oder im positiven Sinne auf bestimmte Leistungen derselben oder auf eine bestimmte aktive Teilnahme an staatsrechtlichen Vorgängen.73 Die von da an maßgebliche Begriffsbestimmung des subjektiven öffentlichen Rechts sieht in diesem „diejenige Stellung des Unterthanen zum Staate, in der er aufgrund eines Rechtsgeschäfts oder eines zwingenden zum Schutze seiner Individualinteressen erlassenen Rechtssatzes, auf den er sich der Verwaltung gegenüber soll berufen können, vom Staat etwas verlangen oder ihm gegenüber etwas tun darf.“74 Danach setzt die Entstehung eines subjektiven öffentlichen Rechts eine Rechtsbegründung voraus, die (1) zwingenden Charakter trägt, (2) zugunsten bestimmter Personen oder Personenkreise, zur Befriedigung von deren Individualinteressen und nicht nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen ist und (3) im Interesse dieser Personen diesen die Rechtsmacht zur Durchsetzung einer solchen Regelung gegenüber dem Staat verleiht.75 Mit diesen drei Konstitutionselementen des subjektiven öffentlichen Rechts haben dessen Begriffsbestimmung und die anwendungsbezogene Dogmatik von dessen Voraussetzungen den ideengeschichtlichen Stand erreicht, der als Erbe der konstitutionellen Epoche auch nachfolgend, ungeachtet einer zwischenzeitlich unmittelbaren individualrechtlichen Grundrechtsgeltung, sich im Grunde und weitgehend in Gestalt der erwähnten sogenannten Schutznormtheorie zu behaupten im Stande gezeigt hat.76 Daher gilt es das Wesentliche hervorzuheben, das auch im gegenwärtigen Meinungsspektrum um das subjektive öffentliche Recht fortwirkt und noch immer einer gänzlich anderen, nämlich einer staats- und rechtstheoretischen Grundlegung desselben Widerpart leistet. Die grundlegende und wirkungsgeschichtlich bedeutsame Neuerung, mit welcher die dargelegte spätkonstitutionelle Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht zuletzt die konstitutionelle Epoche derselben beendet hat, besteht zweifellos in der nunmehrigen Annahme, dass in einer subjektivrechtlichen Stellung des Einzelnen gegenüber dem Staat Recht und Anspruch verschmolzen sind.77 Damit werden „öffentliche Rechte“ des Einzelnen bzw. subjektive öffentliche Rechte nicht mehr mit der ideengeschichtlich genuin konstitutionellen Vorstellung in Verbindung gebracht, wonach 73
Zu dieser Differenzierung subjektiver öffentlicher Rechte nach der sogenannten Statuslehre Fußn. 63. 74 O. Bühler (Fußn. 3), 224. 75 A. a. O., 21. 76 Zur Weimarer Zeit sowie zur „Rechtserneuerung“ unter dem Nationalsozialismus H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 94 ff. und 102 ff.; Reiling (Fußn. 2), 72 f.; zur aktuellen Bedeutung unter dem GG Bachof (Fußn. 2), 287/294 ff., 296 ff. und 299 ff., Bernhardt, JZ 63, 302/303, H. Bauer, a. a. O., 84 ff.; Masing (Fußn. 2), 88 f. und 89 ff.; Reiling, a. a. O., 73 f. und 83 f. 77 Reiling, a. a. O., 71 f. m. Nachw. zu diesem rechtskonstruktiven Schritt bei O. Bühler.
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für herrschaftsunterworfene Untertanen allenfalls sekundäre, abgeleitete Ansprüche bei Verletzung objektivrechtlicher Bindungen und Beschränkungen der Staatsgewalt bzw. eines bestimmten staatsrechtlichen Status bestehen könnten.78 Vielmehr gilt jetzt das subjektive öffentliche Recht selbst als Grundlage entsprechender staatsrechtlicher Ansprüche gegen den Staat. Im Übrigen aber ist es in prinzipiell bedeutsamer Weise bei der konstitutionell gesetzesstaatlichen Voraussetzung von subjektiven öffentlichen Rechten geblieben, nach der solche immer nur begründungsabhängig von einer besonderen einfachrechtlichen Verleihung bestehen können, und zwar ungeachtet einer grundrechtlichen Eingriffsbetroffenheit im heutigen Sinne wegen der damaligen konstitutionellen Auffassung von einer prinzipiell lediglich politischen bzw. staatsrechtlich nur objektivrechtlichen Bedeutung der Grundrechte.79 Verändert hat sich insofern nur die dabei verwendete Terminologie; man kann von einem bloßen „Etikettentausch“ sprechen, wenn anstatt von Ansprüchen der „Unterthanen“ gegenüber der herrschaftlich monarchischen Staatsgewalt nunmehr von subjektiven öffentlichen Rechten der „Bürger“ unter gleich gebliebenen objektivrechtlichen Maßgaben gesprochen wird.80 Es ist dabei geblieben, was die liberal rechtstaatlichen Forderungen unter den Voraussetzungen einer konstitutionellen, prinzipiell monarchischen Verfassungsordnung insofern zu bewirken vermochten, dass nämlich die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat bloß unter den Voraussetzungen und nach Maßgabe objektiver Gesetzesstaatlichkeit gewährleistet sein konnte. Hierbei fehlt jedenfalls noch völlig eine genuin verfassungsstaatliche Vorstellung von rechtsstaatlicher Freiheit, wonach subjektive öffentliche Rechte eine ursprüngliche Grundlage in der materiellen Funktion und Substanz einer Rechtssubjektivität des Einzelnen haben, die bereits selbst ein originäres Element in der organischen Konstituierung des Staates als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität darstellt. Es erscheint deshalb als eine zutreffende bildhafte Anmerkung, dass die Ideengeschichte des subjektiven öffentlichen Rechts klar zur Erscheinung bringen könne, wo dieses verlorengegangen ist, dass es also darauf ankomme, dieses „dort wieder zu suchen, wo es verschwunden ist“.81 Jener ideengeschichtliche Ort ist, wie dargelegt, die konstitutionelle Gesetzesstaatlichkeit. Unter deren verfassungsgeschichtlichen Voraussetzungen konnte eine genuin verfassungsstaatliche Entwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts nicht entstehen. Indessen hat sich die von dort aus letztlich ausgegangene Schutznormtheorie mit ihrer wesentlichen Aussage einer Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte als ein wirkungsträchtiges Erbe erwiesen, das, wie schon eingangs erwähnt, bis heute trotz einer grundlegend anderen, materiell verfassungsstaatlichen Ordnung des GG im Zentrum der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht steht. Offenbar liegen diesem Phänomen auch noch andere, von den erwähnten verfassungsgeschichtlichen Voraussetzungen und von der Ideengeschichte des sub78 Zu den betreffenden Annahme bei v. Gerber, Nachw. in Fußn. 55, zu denjenigen bei G. Jellinek, Nachw. in Fußn. 64 f. 79 Zu den Fragen der damaligen Grundrechtstheorie O. Bühler (Fußn. 3), 61 ff. und 126 ff. 80 H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 134 f. 81 Henke (Fußn. 2), 40 sowie dessen Ausführungen dazu a. a. O., 40 ff.
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jektiven öffentlichen Rechts unabhängige Motivationen einer etatistischen Verwaltungsidee und Verwaltungsrechtslehre zugrunde, die gegenüber der verfassungsrechtlichen Begründungsebene weiterhin Dominanz beanspruchen möchten. Das hieraus entspringende Spannungsverhältnis kennzeichnet das zwischenzeitliche, gegenwärtige Meinungsspektrum zum subjektiven öffentlichen Recht. Trotz seiner Vielfältigkeit erscheint dieses in den wesentlichen Positionen erfassbar und beurteilbar. c) Zunächst ist in Erinnerung zu rufen und festzuhalten, dass die erörterte, zum Ende der spätkonstitutionellen Epoche ausgeformte Schutznormtheorie, nachdem sie über die Weimarer Zeit hin für einen Stillstand in der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten verantwortlich gewesen war, auch wiederum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und noch vor dem GG eine Rezeption erlebt hat. Aufgrund der in den westlichen Besatzungszonen nunmehr eingeführten verwaltungsgerichtlichen Generalklauseln zur Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges bot sie die Grundlage für eine entsprechende anwendungsbezogene Rechtsdogmatik subjektiver öffentlicher Rechte.82 Ihre beherrschende Stellung in der Rechtspraxis hat sie auch unter dem GG, speziell im Rahmen der dann bundesrechtlich geltenden Rechtswegeröffnung zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, beibehalten. Schließlich hat sie auch die in Art. 19 Abs. 4 GG grundrechtlich verankerte generelle Rechtswegeröffnung gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt geraume Zeit maßgeblich bestimmt.83 Allerdings konnte die tradierte Schutznormtheorie mit Rücksicht auf die aktuelle Geltung der Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG und die dementsprechende Fragestellung nach einer unmittelbaren grundrechtlichen Begründung von Individualrechten im Verwaltungsrecht nicht mehr unangefochten bleiben. Zwischenzeitlich konnte man von einem „Dualismus von Grundrechtslehre und Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht“ oder von einem „Lehrendualismus“ in der Frage einer ideengeschichtlich tradierten Gesetzesabhängigkeit oder einer mit der neuen Verfassungsbzw. Grundrechtssituation geschaffenen Gesetzesunabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechts sprechen.84 Argumentationen zum Grundrechtsbezug subjektiver öffentlicher Rechte, insbesondere zu einer unmittelbaren grundrechtlichen Grundlegung derselben, richten sich naturgemäß in erster Linie und in der Hauptsache auf die subjektiven Abwehrrechte. Insofern ergibt sich freilich alles andere als ein einheitliches Meinungsbild, zuweilen 82
Zu den Anfängen der Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem Zweiten Weltkrieg Ule, Die geschichtliche Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes in der Nachkriegszeit, Festschrift Menger, 1985, 81 ff. 83 Repräsentativ dazu Bachof (Fußn. 2). Zur Entwicklungsgeschichte siehe schon die Nachw. in Fußn. 56; zur Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem GG Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 6. Aufl. 2005, Rn. 21 ff. m. Nachw. 84 H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 130 ff. und ders. (Fußn. 2), Schutznormtheorie im Wandel, 113/114 f.; ferner zum betreffenden Meinungsspektrum ders. (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 154 ff.; Masing (Fußn. 2), 114 ff.; Eisele (Fußn. 2), 49 ff.; Reiling (Fußn. 2), 102 ff.
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stellt sich auch eher der Eindruck mangelnder Folgerichtigkeit und Entschiedenheit ein, vor allem was klare und brauchbare anwendungsbezogene Ergebnisse angeht. Die Auffassungen reichen von einer eindeutigen Ablehnung jenes Grundrechtsbezugs subjektiver öffentlicher Rechte85 über Annahmen zu einer allgemeinen verfassungsrechtlichen bzw. grundrechtlichen Freiheitsgewährleistung86 bis hin zu wiederum differenzierten Auffassungen entweder von einer norminternen Wirkung von Grundrechten im einfachen Recht87 oder von einem Gebot der grundrechtskonformen Auslegung desselben88 und schließlich von einer Befugnis des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des individualrechtlicher Grundrechtsgehalts.89 Eher vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass die Grundrechte die Schutznormtheorie völlig erübrigt bzw. ersetzt hätten, insbesondere dass die allgemeine grundrechtliche Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG in Form eines Verbots rechtswidriger Eingriffe die Schutznormtheorie abgelöst habe.90 Von einer solchen konsequenten grundrechtlichen Position abgesehen, erscheint das betreffende Meinungsspektrum grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, dass zwischen einer grundrechtlichen individuellen Freiheitsgewährleistung und einem Verwaltungsrecht subjektiver öffentlicher Rechte zu trennen sei und dabei lediglich normative Beziehungen zwischen zwei individualrechtlichen Ebenen im öffentlichen Recht anzunehmen seien. Offenbar mangelt es den genannten Auffassungen an einer das konstitutionelle und positivistische Erbe überwindenden staats- und rechtstheoretischen Vorstellung von einer einheitlichen, ursprünglichen Rechtssubjektivität des Einzelnen im Verhältnis zum Staat und damit an einer Grundlegung der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht in dessen dementsprechender materieller Funktion und Substanz als originäres Konstitutionselement des Verfassungsstaates. Weitere Auffassungen suchen die Trennung von grundrechtlichen Gewährleistungen und verwaltungsrechtlicher Grundlegung subjektiver öffentlicher Rechte mit Hilfe einer sogenannten Rechtsverhältnistheorie aufzuheben. Danach soll das tradierte, als obrigkeitsstaatlich beurteilte allgemeine Gewaltverhältnis zwischen dem Staat und Einzelnen eine rechtsstaatliche Erneuerung erfahren, in welcher die betreffenden rechtlichen Beziehungen und sachlichen Umstände in einem jeweiligen Rechtsverhältnis zusammengefasst werden, das dann gegebenenfalls auch Grundlage von An-
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Blankennagel, DV 93, 1/22. Dazu H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 144 ff. und 181 ff.; ders. (Fußn. 2), Schutznormtheorie im Wandel, 113/141 f.; Lorenz (Fußn. 2), 58 ff. und 62 ff.; Eisele (Fußn. 2), 51 ff.; Reiling (Fußn. 2), 82 f., 95 ff. und 126 ff.; Wolff/Bachof/Stober (Fußn. 2), § 43 Rn. 10, Maurer (Fußn. 2), § 8 Rn. 10 ff. 87 P.-M. Huber (Fußn. 2), 172 ff., 189 ff., 200 ff., 222, 281 ff. 88 Maurer (Fußn. 2), § 8 Rn. 11. 89 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 2. Aufl. 1972, 180 ff.; Wahl, DVBl. 96, 641/644 f.; Schmidt-Aßmann (Fußn. 2), Art. 19 Abs. 4 Rn. 121 ff. 90 So Bernhardt, JZ 63, 302 ff. und Zuleeg, DVBl. 96, 514 ff. 86
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sprüchen des Einzelnen gegen den Staat ist.91 Eine solche sogenannte Rechtsverhältnistheorie möchte sowohl die Begriffsbestimmung subjektiver Rechte auf der Grundlage einer Willenstheorie und einer Rechtsmachtverleihung ablösen als auch die Schutznormtheorie von subjektiven öffentlichen Rechten in ihrem tradierten Verständnis einer ausschließlichen Gesetzesabhängigkeit aufgeben; an deren Stelle soll jeweils ein Rechtsverhältnis zwischen Einzelnen und dem Staat im genannten Sinne anzunehmen sein. Dieses soll zwar keineswegs als gesetzesunabhängig gesehen werden. Aber im Unterschied zur tradierten Schutznormtheorie sollen auch verfassungsrechtliche Beziehungen berücksichtigt werden müssen.92 Abgesehen von einer kritischen Beurteilung hierzu wegen des angenommenen, aber mit der verfassungsrechtlichen Grundstruktur nicht zu vereinbarenden Gleichordnungsverhältnisses des Einzelnen zum Staat,93 vermag jene Rechtsverhältnistheorie im Grunde nicht über eine formelle Begriffsbestimmung des subjektiven öffentlichen Rechts hinauszuführen. Es ist schwer zu erkennen, ob sie überhaupt oder gegebenenfalls inwiefern sie etwas beizutragen vermag zu einer gesetzesunabhängigen, unmittelbaren und ursprünglichen staats- und rechtstheoretischen Grundlegung subjektiver öffentlicher Rechte. Eine Rechtsverhältnistheorie zu den subjektiven Rechtsbeziehungen einzelner gegenüber dem Staat mag eine rechtskonstruktive Grundlage subjektiver öffentlicher Rechte auf staatliche Leistungen und auf aktive Mitwirkung im staatsrechtlichen Verfahren erklären können. Aber für die subjektiven öffentlichen Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat bleibt sie, soweit ersichtlich, eine Antwort auf die insofern wesentliche Frage nach der rechtskonstruktiven Grundlegung der betreffenden Freiheitsgewährleistung schuldig. Dazu bedarf es einer genaueren Vorstellung von der Rechtsubjektivität des Einzelnen. Sie verlangt eine staats- und rechtstheoretisch konsequente Rechtskonstruktion des Individualrechtsverhältnisses der Einzelnen zum Staat aus einer schon nach der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre ideell begründbaren, dann aber mit dem geschichtlichen Auftreten des Verfassungsstaates auch empirisch realisierbar gewordenen Ursprünglichkeit der subjektiven öffentlichen Rechte im Unterschied zu deren ideengeschichtlich erörterter gesetzesstaatlicher Abhängigkeit und bloßem abgeleiteten sekundären Rechtscharakter.94 Mit der verfassungsstaatlichen Ordnung des GG sind denn auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen klargestellt worden, um die Begriffsbildung zu subjektiven öffentlichen Rechten, im gegenständlichen Zusammenhang speziell zu den subjektiven öffentlichen Abwehrrechten, sowie die normativen Voraussetzungen derselben aus ihrer Grundlegung in einer ursprünglichen, originären Rechtssubjektivität 91 H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 169 f., 172 ff., 181 ff.; Schur (Fußn. 2), 178 ff., 255 f.; w. Nachw. bei Masing (Fußn. 2), 113 Fußn. 248, Reiling (Fußn. 2), 113 ff.; ferner zum rechtsstaatlichen Staatsrechtsverhältnis Henke, DÖV 80, 621/624. 92 H. Bauer, DVBl. 86, 208/217 und ders., AÖR 113 (1988), 582/610 ff., 615 f. 93 E.-M. Huber (Fußn. 2), 168. 94 Zum staats- und rechtstheoretisch begründeten rechtkonstruktiven Primat subjektiver öffentlicher Rechte gegenüber dem objektiven Recht Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, 147; dazu Reiling (Fußn. 2), 109 f.
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des Einzelnen entwickeln zu können. Denn mit der aktuellen Grundrechtsgeltung sowie mit den generellen individualrechtlichen Rechtswegeröffnungen sowohl gegen einfachrechtliche Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt als auch gegenüber Grundrechtsverletzungen hat die rechtsstaatliche Verfassungsordnung im GG explizit und dezidiert eine prinzipielle individualrechtliche Ausrichtung erfahren.95 Darum konnte es nach geraumer Zeit nicht ausbleiben, dass eine unaufhebbare Kollision festgestellt werden musste zwischen der verwaltungsrechtlichen Tradition der Schutznormtheorie in allen deren wie weit auch immer gehenden Modifikationen von einer Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte einerseits und deren in der neuen Verfassungsordnung des GG deutlich gemachter materieller Funktion und Substanz als rechtskonstruktive Ausformung einer im Verfassungsstaat originär vorgegebenen Rechtssubjektivität der Einzelnen. Daraus ist die konsequenteste Gegenposition gegen jedwede mehr oder weniger weitgehende Annahme einer einfachrechtlichen Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte erwachsen, sei es dass mit dieser bloß noch das Erbe konstitutioneller Gesetzesstaatlichkeit fortgeführt wird oder sei es dass sie mehr oder weniger zugestandenen Motiven einer noch lebendigen etatistischen Verwaltungsstaatlichkeit und Eigenständigkeit des Verwaltungsrechts gegenüber dem Verfassungsrecht entspringt. Im Gegensatz zu diesen letzteren Positionen wird danach für den durch das GG gewährleisteten wirksamen Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der öffentlichen Gewalt eine konsequente Resubjektivierung und Individualisierung gefordert.96 Danach stellt allein schon das gesetzwidrige, jedenfalls rechtswidrige Verhalten des Staates die Situation dar, in der dem hierbei konkret betroffenen Bürger der Schutz durch Recht und Gericht gewährt werden muss.97 Grundlage und Substanz subjektiver öffentlicher (Abwehr-) Rechte sind also die „eigenen Angelegenheiten des Bürgers“; Individualrechte gegenüber dem Staat entstehen, wenn dieser eine die betreffenden Angelegenheiten objektiv regelnde Rechtsnorm verletzt.98 Gelegentlich wird dieser originär individualrechtlichen Grundlegung subjektiver öffentlicher Rechte entgegengehalten, dass sie einem bloßen „Kriterium der tatsächlichen Betroffenheit“ folge.99 Gegenüber einer solchen kritischen Beurteilung ist klarzustellen, dass keineswegs das Faktum einer beanspruchten tatsächlichen Betroffenheit oder Interessiertheit allein als rechtsbegründend angesehen werden sollte. Man kann auch weder von einer in dem Zusammenhang befürchteten Tendenz zur „Selbstauflösung“ des subjektiven öffentlichen Rechts sprechen noch von einer ins Feld geführten Grenzüberschreitung zur Geltend95
Art. 1 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a (n. F.) GG. Henke (Fußn. 2), 57 ff.; 58; ebenso Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35/48 f. (grundsätzlich zu dem insofern signifikanten „Dilemma des baulichen Nachbarrechts“) und ders., DVBl. 70, 30/32 f. 97 Henke, a. a. O., 60 sowie die Nachw. zu Bartlsperger (Fußn. 96). 98 A. a. O.; der Begriff der „eigenen Angelegenheiten“ ist im Unterschied zu bloßen „Interessen“ im Sinne der zivilrechtlichen Interessentheorie v. Iherings dahin zu verstehen, dass in ihnen das subjektive öffentliche Recht schon latent vorhanden ist (.a. a. O.). 99 Eisele (Fußn. 2), 50 f.; auch Zuleeg, DVBl. 76, 509/510. 96
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machung objektiver Rechtsverletzungen.100 Vielmehr ist zwingend und stets ein sogenannter subjektiver Rechtswidrigkeitszusammenhang vorausgesetzt, d. h. dass zwischen der tatsächlichen Betroffenheit in eigenen Angelegenheiten und der geltend gemachten Rechtsverletzung ein objektiver normativer Zusammenhang bestehen muss.101 Dies bedeutet, dass die betreffende tatsächliche Betroffenheit niemals allein, sondern nur dann rechtsbegründend ist, wenn sie innerhalb des objektiven Regelungsbereiches der verletzten Norm geschieht.102 Um ein Missverständnis handelt es sich schließlich auch, wenn kritisch angemerkt wird, ein subjektives Recht könne nicht erst durch rechtswidriges Verhalten entstehen.103 Solches wird mit jener Auffassung gerade nicht behauptet, wenn sie die Grundlegung subjektiver (Abwehr-)Rechte in den „eigenen Angelegenheit“ des Einzelnen richtigerweise so versteht, dass die betreffenden „eigenen Angelegenheiten“ des Einzelnen die tatbestandlich sachliche Repräsentanz von dessen originärer Rechtssubjektivität darstellen. Recht und Anspruch können in ihrer Grundlegung gar nicht getrennt werden.104 Es ist vielmehr zusammengefasst die dem Staat gegenüber bestehende Rechtssubjektivität des Einzelnen als solche und allein, welche die unmittelbare und originäre Grundlage inhaltlich konkreter subjektiver öffentlicher Rechte ist sowie identisch und konkludent hiermit auch die Grundlage entsprechender Ansprüche gegenüber dem Staat darstellt, wenn dieser eine Rechtsnorm verletzt, deren Regelungsbereich die Rechtssubjektivität des betreffenden Einzelnen in einem ihrer konkreten Inhalte objektiv betrifft. d) Die ideengeschichtliche Distanznahme zu den rechtskonstruktiven Auffassungen um Rechtsbegriff und normative Voraussetzungen subjektiver öffentlicher Rechte lässt, auch wenn sie hier notwendigerweise nur in gedrängter Form erfolgen konnte, eine Erkenntnis zu, die in anderen Themenbereichen der Staatsrechtslehre nicht immer in gleicher deutlicher Weise in Erscheinung tritt. So erklärt sich die zuletzt erörterte Auffassung einer prinzipiellen Begründungsunabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte von einer einfachrechtlichen Rechtsverleihung aus einer spezifisch staats- und rechtstheoretischen Annahme, nämlich der ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen gegenüber dem Staat. Nicht weniger explizit beruhen die am Beginn der ideengeschichtlichen Entwicklung stehende Lehre von den 100 Masing (Fußn. 2), 114 ff. bzw. 93 ff. und 103 ff.; im übrigen Kritik bzw. Ablehnung bei Lorenz (Fußn. 2), 60 ff.; Stern (Fußn. 2), § 65 III 3c, Wolff/ Bachof/Stober (Fußn. 2), § 43 Rn. 25. 101 Zu einem subjektiven Rechtswidrigkeitszusammenhang Bernhardt, JZ 63, 302/307 und Schmidt-Aßmann (Fußn. 2), Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Zweites Kapitel, Rn. 61. 102 Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), 35/48 f. Unbegründet ist danach der Vorwurf, mit der betreffenden Auffassung werde im Ergebnis nicht über die Schutznormtheorie hinausgegangen (Eisele, Fußn. 2, 50.) Die Voraussetzungen eines subjektiven Rechtswidrigkeitszusammenhanges bedeutet lediglich, dass der objektive Regelungsbereich der verletzten Norm die betreffenden individuellen Angelegenheiten erfassen muss (Henke, Fußn. 2, 60). 103 Wolff/Bachof/Stober (Fußn. 2), § 43 Rn. 25. 104 Dazu schon Fußn. 77.
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„öffentlichen Rechten“ sowie die wirkungsträchtige spätkonstitutionelle Schutznormtheorie ebenfalls auf den in den jeweiligen Zusammenhängen dargelegten staats- und rechtstheoretischen Voraussetzungen eines seinerzeit monarchisch-herrschaftlichen sowie gesetzesstaatlichen staatsrechtlichen Systems. Die hiervon ausgegangene, nachfolgende Ideengeschichte zu den subjektiven öffentlichen Rechten mag dann zwar vorwiegend bloß dogmatische oder nur anwendungsbezogene Argumente und Auffassungen hervorgebracht haben. Von den ideengeschichtlichen staatsund rechtstheoretischen Traditionen jedoch ist das betreffende Meinungsspektrum keineswegs abtrennbar. Es ist also ein die Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten, unbeschadet von deren zuweilen recht divergierenden Auffassungen, grundsätzlich kennzeichnendes Phänomen, dass die betreffenden Rechtskonstruktionen letztlich staats- und rechtstheoretischen Grundlegungen folgen oder jedenfalls solchen zuzuordnen sind. Die demnach der Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten schon ideengeschichtlich anhaftende rechtskonstruktive Eigenart einer staats- und rechtstheoretischen Voraussetzungsgebundenheit ist gegenwärtig zu behalten, wenn es abschließend gilt, Rechtsbegriff und normative Voraussetzungen der subjektiven öffentlichen Rechte anhand der hierfür aktuell unter der Verfassungsordnung des GG zentral einschlägigen grundrechtlichen Rechtsweggewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG zu beurteilen. Denn auch insofern sieht sich der Interpret vor die Frage gestellt, welcher staats- und rechtstheoretischen Grundlegung subjektiver öffentlicher Rechte die grundrechtliche Rechtsweggewährleistung bei ihrer Anknüpfung an die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts durch die öffentliche Gewalt folgt. Es geht mit anderen Worten um eine in der grundrechtlichen Rechtsweggewährleistung so oder so implizit getroffene verfassungskräftige Entscheidung zwischen den beiden staats- und rechtstheoretisch prinzipiell gegensätzlichen Auffassungen zu Begriff und normativen Voraussetzungen subjektiver öffentlicher Rechte, zwischen einer staats- und rechtstheoretisch begründeten Gesetzesabhängigkeit derselben und deren staats- und rechtstheoretisch zwingend anzunehmender Grundlegung und Vorgegebenheit in einer ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen gegenüber dem Staat. III. Die grundrechtliche Rechtsweggewährleistung als staats- und rechtstheoretische Aussage Mit der grundrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG in allen Fällen einer Individualrechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt hat sich jedenfalls eine lange Zeit zur Ideengeschichte des subjektiven öffentlichen Rechts gehörende Problematik erledigt. In jener bekannten Frage war es darum gegangen, ob im Zusammenhang der Begriffsvoraussetzungen subjektiver öffentlicher Rechte die gesetzliche Einräumung einer formellen Rechtsmacht zu deren Durchsetzung zu den konstituierenden Begriffselementen gehört, ob also von der gesetzlichen Rechts-
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schutzeröffnung die Annahme eines subjektiven öffentlichen Rechts abhängt.105 Inzwischen ist es, namentlich mit Rücksicht auf die heute generelle grundrechtliche Rechtsweggewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG, allgemeine Auffassung, dass die betreffende Klagemöglichkeit ein entsprechendes subjektives öffentliches Recht bereits voraussetzt, oder umgekehrt gesagt, dass also ein Klagerecht immer dann anzunehmen ist, wenn der Betreffende materiellrechtlich ein subjektives öffentliches Recht gelten machen kann.106 Die Rechtsmacht als Begründungsvoraussetzung und Begriffsmerkmal des subjektiven öffentlichen Rechts, wie das noch die ursprüngliche Schutznormtheorie angenommen hatte,107 kann demnach allenfalls noch als die dem subjektiven öffentlichen Recht innewohnende „materielle Rechtsmacht“ ausgefasst werden.108 Mit der Erledigung jenes Problems eines rechtsbegrifflichen Zirkels zwischen formeller Rechtswegeröffnung und konstituierendem Begriffsmerkmal subjektiver öffentlicher Rechte109 ist indes nicht auch schon die Frage eines grundrechtlichen Zirkels zwischen verfassungsrechtlicher Rechtswegeröffnung und verwaltungsrechtlicher Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte gelöst.110 Ein solcher Zirkelschluss würde drohen, wenn die grundrechtlich gewährleistete Rechtswegeröffnung für subjektive öffentliche Rechte lediglich an eine Entscheidung der einfachrechtlichen Normsetzung zu subjektiven öffentlichen Rechten anknüpfen würde, wenn es also bei der Gesetzesabhängigkeit derselben geblieben wäre. Dann träfe ideengeschichtlich die grundrechtliche Rechtsweggewährleistung des GG auf die konstitutionelle Gesetzesstaatlichkeit subjektiver öffentlicher Rechte. Die prinzipielle verfassungsrechtliche Entscheidung des GG für eine individualrechtliche Ausrichtung der rechtsstaatlichen Verfassungsordnung hätte sich insofern nur wiederum in eine Abhängigkeit vom Verwaltungsrecht begeben. Es drohte ein verwaltungsrechtlich initiierter Leerlauf des Verfassungsrechts und das Verwaltungsrecht hätte seine Dominanz in der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht auch unter dem GG behaupten können. In einer staats- und rechtstheoretischen Perspektive würde die grundrechtliche Rechtsweggewährleistung ihre materielle Funktion und Substanz verfehlt haben, auch in prozessualer Hinsicht die ursprüngliche und originäre, vor-
105 Zu dieser Frage aus der älteren Literatur Schuppe, Der Begriff des subjektiven Rechts (1887), Neudruck 1963, 84 f.; im Übrigen dazu bei Bachof (Fußn. 2), 287/300. 106 Allgemein zum subjektiven Recht Windscheid (Fußn. 39), 37, Rosin, Hirths Analen 1883, 265/287; zum subjektiven öffentlichen Recht Bachof (Fußn. 2), 287/299 ff. , Lorenz (Fußn. 2), 55 ff.; Zuleeg, DVBl. 76, 509/510, P.-M. Huber (Fußn. 2), 104 f.; Reiling (Fußn. 2), 112 f., 136 ff., 146 f. 107 Fn 75. 108 Reiling (Fußn. 2), 147. 109 Dazu Robbers (Fußn. 2), 157 ff.; dazu auch Rupp (Fußn. 2), 170 f. 110 Dazu P.-M. Huber (Fußn. 2), 164 ff.
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staatliche Freiheit des Individuums zu garantieren.111 Allein schon die Bedeutung als Verfahrensgrundrecht hat der verfassungsrechtlichen Rechtsweggewährleistung die Würdigung als einer „königlichen“ Bestimmung in der rechtsstaatlichen Entwicklung sowie als „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaates“ eingetragen.112 Aber darüber hinaus hebt sie sich gerade dadurch als außerordentlich bemerkenswerte verfassungsrechtliche Bestimmung hervor, dass sie zu Begriff und normativer Voraussetzung subjektiver öffentlicher Rechte mit Verfassungskraft eine staats- und verfassungstheoretische Aussage von grundlegender und zentraler Bedeutung innerhalb einer materiell verfassungsstaatlichen Ordnung enthält, wie sie in spezifischer Weise vom GG verstanden wird und geschaffen worden ist. Die grundrechtliche Rechtschutzgarantie für subjektive öffentliche Rechte kann in ihrer materiellen Sinngebung nur dahin verstanden werden, dass es sich dabei um die staatsrechtliche Verfahrensgewährleistung der ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen handelt, die mit dem fortschreitenden historischen Auftreten realer Verfassungsstaatlichkeit nicht mehr nur als ideelle Forderung einer vernünftigen Staats- und Verfassungsordnung, sondern von da an auch als das wesentliche empirische Element bei der organischen Konstituierung des Staates als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit Anerkennung gefunden hat. In einem solchen staatstheoretisch ideengeschichtlichen Verständnis erweist sich die materielle Verfassungsaussage des Art. 19 Abs. 4 GG als eine auf dem Boden des materiellen grundgesetzlichen Verfassungsverständnisses methodisch gerechtfertigte Grenzüberschreitung des Staatsrechts zur praktischen Philosophie. Der Vorgang lässt sich mit wenigen Feststellungen in seinen ideengeschichtlichen Zusammenhang einordnen. Wie zum ideengeschichtlichen Beginn der Lehre von den „öffentlichen Rechten“ schon dargelegt, hatte es sich seinerzeit für den betreffenden, aus der zivilistischen Begriffsjurisprudenz kommenden staatsrechtlichen Positivismus untersagt, staatsrechtliche Begriffe aus der durchaus wahrgenommenen, zeitgeschichtlich entstandenen Realität von organischer Staatlichkeit und aus entsprechenden verfassungsstaatlichen Vorstellungen zu entwickeln.113 Daher war, wie ebenfalls hervorgehoben, ein „juristisches“ Verständnis des staatsrechtlichen Begriffs „öffentlicher Rechte“ der „Unterthanen“ unter Zugrundelegung von deren materieller Funktion und Substanz als Freiheitsgewährleistung und Verwirklichung der unmittelbaren, originären Rechtssubjektivität des Einzelnen ausgeschlossen. Die Staatsrechtslehre musste deshalb auch an dem geistesgeschichtlich nicht von ungefähr zeitgleichen Bewusstsein von sich entwickelnder Verfassungsstaatlichkeit in der Staatstheorie und ursprünglicher, originärer Rechtssubjektivität des Einzelnen in der praktischen Philosophie vorbeigehen. Dabei war in der kritischen Philosophie, noch ausgehend von der vernunft111 Zu den subjektiven öffentlichen Rechten als Verwirklichung vorstaatlicher Freiheit Henke (Fußn. 2), 40 ff.; H. Bauer (Fußn. 2), Geschichtliche Grundlagen, 168 f.; Masing (Fußn. 2), 113 f.; allgemein zum subjektiven Recht insofern Coing (Fußn. 15), 20 f. 112 G. Jellinek, VVDStRL 8 (1950), 3 bzw. Thoma, in: Recht-Staat-Wirtschaft 3 (1951), 9 ff.; ferner und mit weiteren Zitaten Reiling (Fußn. 2), 136 f. 113 Oben unter II.1.a).
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naturrechtlichen Staatsvertragslehre, und in der nachfolgenden Epoche idealistischer Philosophie die Rechtssubjektivität des Einzelnen als Idee bzw. als empirische Annahme gegenwärtig gewesen.114 Es hätte nur beides, Staatstheorie und praktische Philosophie zusammengeführt werden müssen. Diesen ideengeschichtlichen Vorgang vor Augen, tritt die bemerkenswerte Verfassungsaussage der grundrechtlichen Rechtsweggewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG recht eindeutig in Erscheinung. Sie führt als zentrale und grundlegende Verfassungsnorm innerhalb der materiellen Verfassungsordnung des GG die in der ideengeschichtlichen Entwicklung infolge des staatsrechtlichen Positivismus wirkungsgeschichtlich getrennt gebliebenen Vorstellungen der verfassungsstaatlichen Entwicklung und der praktischen Philosophie von der ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen letztendlich zusammen. Dem Verfassungsgeber war bei Schaffung des Art. 19 Abs. 4 GG offenbar mehr oder weniger bewusst, dass das subjektive öffentliche Recht wie das subjektive Recht überhaupt als etwas Vorrechtliches und Selbstverständliches in der Seiensordnung verankert ist und seine rechtstheoretische Erfassung nur rechtsphilosophisch angegangen werden kann.115 Dies respektierend konnte eine verfassungsstaatlich freiheitliche Verfassungsordnung wie diejenige des GG im Rahmen einer entsprechenden Rechtsweggewährleistung nur daran anknüpfen, dass „jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“ wird. Sie hat damit auf die betreffenden Vorstellungen praktischer Philosophie zur ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen im Verfassungsstaat verwiesen. Es handelt sich um die verfassungskräftige Anerkennung des Primats des subjektiven Rechts bei der Konstituierung und innerhalb des Systems der objektiven Rechtsordnung. IV. Primat des subjektiven Rechts 1. – Mit dem Primat des subjektiven Rechts lässt sich eine Denkweise praktischer Philosophie, insbesondere in der Rechtsphilosophie, sowie in der Rechtstheorie bezeichnen, die das System der Rechtsordnung von der individuellen Berechtigung her entwickelt und versteht. In der Rechtswissenschaft hatte dieses Denken einen spezifischen und prägnanten Ausdruck in der zivilistischen Anschauung gefunden, wonach die objektive Rechtsordnung im Wege der Abstraktion von den vorhandenen subjektiven Rechten aus gewonnen worden sei.116 In der heutigen freiheitlich demokratischen Verfassungsordnung entspricht dem Primat des subjektiven Rechts das individualistische Verständnis und die individualistische Legitimation des betreffenden 114 Insofern zu Kants Idee von der Ursprünglichkeit subjektiver Rechte bei Hruschka, JZ 2004, 1085 ff.; zur Annahme eines „Urrechts“ individueller Rechtssubjektivität im empirischen Idealismus bei J. G. Fichte ders., Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Neudruck 1960 der 1922 hgg. 2. Aufl., insb. 110 ff. 115 So zum subjektiven Recht Vonlanthen (Fußn. 8), 92 f. 116 Nachw. zu den betreffenden Auffassungen von Dernburg und v. Ihering bei SchulevSteindl (Fußn. 2), 4 f.; dort auch zum Folgenden.
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staatsrechtlichen Systems.117 Eine die Lehre von den subjektiven öffentlichen Rechten begleitende Sozialwissenschaft vermag in diesen die dezentralisierte und pluralistische Entscheidungsmöglichkeit zu sehen.118 Schließlich haben die betreffenden Traditionen auch der Diskurstheorie Gründe für die Annahme geliefert, dass die in der staatsrechtlichen Entwicklung vollzogene Verrechtlichung der Staatsgewalt, d. h. aktuell die grundrechtliche Freiheit gegenüber dem Staat, recht eigentlich als eine erst sekundäre Erscheinung angesehen werden könne gegenüber dem hierbei unkenntlich gewordenen primär intersubjektiven Sinn subjektiver Rechte, die reziproke Anerkennung kooperierender Rechtssubjekte zu begründen und zu gewährleisten;119 danach soll sich die subjektive Freiheit des Einzelnen im staatsrechtlichen Sinne erst daraus erklären, dass die ursprünglich intersubjektiven Rechtsbeziehungen zwischen den Rechtsgenossen auf das Verhältnis zum Staat übertragen worden sind. Rechtsphilosophisch zusammengefasst kann das subjektive Recht als die „fundamentalste Urform des Rechts“, als „Recht an sich“ gelten.120 2. – In spezifisch rechtsphilosophischer und rechtstheoretischer Hinsicht gehört die Annahme eines Primats von individueller Freiheit und subjektivem Recht in die vernunftnaturrechtliche Tradition.121 Mit der vernunftrechtlichen Staatsvertragslehre ist sie dann am Ausgang jener ideengeschichtlichen Epoche in die praktische Philosophie bzw. die Rechtsphilosophie der KantÏschen Kritik eingegangen und dort zur Grundlage einer Rechtsphilosophie von der „Ursprünglichkeit“ des subjektiven Rechts geworden.122 Für die künftige Entwicklung der Staatsrechtslehre und der Verfassungsverhältnisse ist daraus ein bedeutender ideengeschichtlicher, verfassungspolitischer Beitrag zur Verwirklichung rechtsstaatlicher Strukturen und Institutionen entstanden.123 Aber angesichts der epochal zeitgleichen Ablösung der ver117 Zutreffend sind die subjektiven öffentlichen Rechte unter dem GG aus dem „Primat der menschlichen Persönlichkeit und der menschlichen Freiheit“ erklärt worden (Bachof, Fußn. 2, 387/301). 118 J. Schmidt, ARSP 57 (1971), 383/388 ff. sowie ders. und Luhmann, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band I (1970), 299 ff. bzw. 321 ff. 119 Habermas, Faktizität und Geltung (1992), Taschenbuchausgabe 1998 der 4. Aufl. 1994, 116 f., 305 ff. 120 Vonlanthen (Fußn. 8), 125 ff./126. 121 Coing (Fußn. 15), 17 ff. 122 Dazu bei Ahrens, Die Rechtsphilosophie, oder das Naturrecht, auf philosophisch-anthropologischer Grundlage, 4. Aufl. 1852, 33 ff.; Hruschka, JZ 2004, 1085 ff.; Schütze, Subjektive Rechte und personale Identität, 2004, 35 ff., 89 ff.; zum betreffenden Freiheitsbegriff Kants siehe Schur (Fußn. 2), 240 ff. Zu Kants Denken auf der Grundlage einer vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, 1932, 34 ff., 40 f.; Schmidt-Aßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967, 86 ff., 90 ff., 96 ff.; Höffe, Immanuel Kant, 7. Aufl. 2007, 231 ff. 123 Insofern zu Kants Staats- und Verfassungsphilosophie Schmidt-Aßmann, a. a. O., 91 f.; H. Dreier, Kants Republik, in: ders. (Hg.), Symposion für H. Hofmann, 2005, 151/155 f., 181 ff.; Höffe, a. a. O., 231 ff.; Wawrzinek, Die „wahre Republik“ und das „Bündel von
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nunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre durch einen verfassungsstaatlichen Begriff des Staates als originärer, objektiver und eigenständiger, geschichtlich realer Einheit und Ganzheit konnte jene KantÏsche Rechtsphilosophie von der „Ursprünglichkeit“ des subjektiven Rechts nicht mehr zu einer unmittelbar wirkungsträchtigen Grundlage für die Entwicklung des subjektiven öffentlichen Rechts in der Staatsrechtslehre werden. Der transzendentale Idealismus und der hiermit verbundene formale Freiheitsbegriff Kants waren nicht mehr mit der empirischen Staatswirklichkeit im Sinne des Verfassungsstaates in Verbindung zu bringen.124 Erst ein empirischer Idealismus konnte mit der Annahme eines empirischen Subjekts die Grundlage schaffen für die Vorstellung von einer empirischen, ursprünglichen und originären Rechtssubjektivität des Einzelnen. In der Hegelschen Rechtsphilosophie ist deshalb individuelle Freiheit eine im Recht und im Staat verwirklichte Freiheit.125 Aber auch in dem Zusammenhang ist keine rechtsstrukturelle Aufklärung erfolgt, wie aus dem Primat von Freiheit und subjektivem Recht die objektive Rechtsordnung und die Wirklichkeit des Staates entstehen. Hierzu bedarf es genauerer, insbesondere substantiierterer empirischer Vorstellungen von einer „ursprünglichen“ Subjektivität der Einzelnen als konstituierendem Ausgangspunkt und Element sowie von den intersubjektiven Beziehungen der betreffenden Subjekte als konstituierenden Vorgängen für staatliche Wirklichkeit und objektive Rechtsordnung. Mit der KantÏschen Rechtstheorie jedenfalls, wonach die Beschränkung individueller Freiheit durch die Freiheit aller auf bloß formale Weise gewährleistet werden könne, war die zwischenzeitliche geschichtliche Wirklichkeit des Verfassungsstaates und dessen staatsrechtliches System nicht mehr zu erfassen. Vielmehr ist nach Ablösung der ideellen Konstruktionen der insofern auch noch von Kant übernommenen vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre die „ursprüngliche“ Rechtssubjektivität nunmehr als diejenige von empirischen Subjekten zu verstehen gewesen. Aus dieser Einsicht und Abstandnahme von der KantÏschen Rechtstheorie hat dann eine auf der Grundlage und im Rahmen eines empirischen Idealismus konzipierte Rechtslehre eine verständliche, überzeugende, brauchbare und akzeptable Erklärung für den Primat des subjektiven Rechts geliefert.126 Kompromissen“: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist, 2009. 124 Zum transzendentalen Idealismus Kants ohne ein empirisches Subjekt N. Hartman, Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl. 1949, 149 ff. 125 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Taschenbuchausgabe 1986, § 4 (S. 46 ff.), § 26 (S. 76 ff.), § 29 (S. 80 ff.), §§ 257 ff. (S. 398 ff.); insofern zu Freiheitsbegriff und individueller Rechtssubjektivität bei Hegel siehe Ahrens (Fußn. 122), 102 ff., 108 ff., 110 ff.; Th. Litt, Hegel, 1961, 104 ff.; Schur (Fußn. 2), 243 ff.; Ritter, Moralität und Sittlichkeit (1966), in: ders., Metaphysik und Politik, Erw. Neuausgabe 2003, 281/296 und 309; ferner insoweit zum sogenannten institutionellen Grundrechtsdenken Häberle (Fußn. 90), 56 ff., 61 ff., 85 ff., 96 ff. sowie zu den subjektiven öffentlichen Rechten als Sozialordnung Rupp (Fußn. 2), 175 f. 126 J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Neudruck 1960 der 2., 1922 hgg. Auflage. Zur Distanzierung von der KantÏschen Rechtstheorie
Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates
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3. – Die betreffende Rechtslehre vom ursprünglichen Charakter und vom Primat des subjektiven Rechts nimmt ihren Ausgangspunkt von einer Wissenschaftslehre, nach der Wahrnehmung die transzendentale Leistung eines empirischen Subjektes ist und mit Rücksicht auf eine solche Vorstellung von einer sich frei setzenden Subjektivität auch praktische Philosophie ihre Grundlage darin hat, dass die Subjekte sich gegenseitig als freie Wesen anerkennen.127 Als freie Vernunftwesen setzen sie sich nicht nur selbst, sondern auch und vor allem durch den Gegensatz zu den anderen. Grundsatz aller Rechtsbeurteilungen ist demzufolge, dass jeder seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit des anderen beschränkt. Die betreffenden Rechtsverhältnisse bestehen in der wechselseitigen symmetrischen Beschränkung der Freiheitssphären.128 Der Rechtsbegriff der Freiheit, der an sich nur formelle Bedeutung hat, gewinnt dabei eine materielle Funktion und Substanz in dem Begriff eines „Urrechts“; es ist dasjenige Recht, das jeder Person als solcher absolut zukommt. An sich ist dieses „Urrecht“ der Einzelnen lediglich eine Fiktion; wirklich wird es in der Rechtsgemeinschaft mit Anderen.129 Die hierdurch begründete Rechtsordnung erklärt sich aus einem intersubjektiven „Staatsbürgervertrag“ und der Staat hat sich als organischer, objektiver und eigenständiger realer Träger eines kraft jenes „Staatsbürgervertrags“ eingerichteten Zwangsrechts zum Schutze der Individualrechte zu verstehen.130 Das subjektive Recht ist das in der Rechtsgemeinschaft verwirklichte „Urrecht“ des Einzelnen. Das subjektive öffentliche Recht definiert sich in gedanklicher Fortführung dieser Rechtskonstruktion des subjektiven Rechts als Verwirklichung des „Urrechts“ gegenüber dem Staat. 4. – Ersichtlich zählt es zu den die kritische Philosophie und die Philosophie des Idealismus prinzipiell kennzeichnenden rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Annahmen, dass die subjektiven Rechte, auch die ideengeschichtlich erst nachfolgend ins Bewusstsein der Rechtswissenschaft getretenen subjektiven öffentlichen Rechte, in ihrer materiellen Funktion und Substanz einen „ursprünglichen“ Charakter bei der Konstituierung der Rechtsordnung und dementsprechend einen Primat innerhalb derselben zu beanspruchen haben. Dabei handelt es sich um Grundlegungen praktischer Philosophie, die nicht nur wegen der zeitgeschichtlichen, epochalen Koders., a. a. O., 9 ff. und 11 ff.; zum Folgenden bei dems., a. a. O. insb. 8 ff., 110 ff., 119 ff., 195 ff. sowie Rohs, Johann Gottlieb Fichte, 2. Aufl. 2007, 79 ff. 127 J. G. Fichte, a. a. O., 17 ff. 128 A. a. O., 110 ff. und Rohs (Fußn. 126), 79 f. 129 J. G. Fischte, a. a. O., 110; Rohs, a. a. O., 81 f. Bei dieser Gelegenheit ist klarzustellen, dass der von J. G. Fichte verwendete Begriff des „Naturrechts“ nicht derjenige im ideengeschichtlichen Sinne ist. Vielmehr wird in dem Zusammenhang Recht immer nur als Recht unter positiven Gesetzen angesehen (J. G. Fichte, a. a. O., 147). 130 J. G. Fichte, a. a. O., 119 ff., 144 ff., 185 ff., 195 ff.; Rohs, a. a. O., 82. Nochmals klarzustellen ist bei dieser Gelegenheit, dass die betreffende Rechts- und Staatstheorie ihre Grundlage in einem empirischen Idealismus hat und daher fundamental unterschieden ist von den Ideenkonstruktionen des Vernunftnaturrechts und der KantÏschen Kritik.
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inzidenz den in Deutschland seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts sich entwickelnden Verfassungsstaat staats- und rechtstheoretisch zu einem ihrer hauptsächlichen Themen gemacht und zu erfassen verstanden haben, auch wenn dabei in der kritischen Philosophie zunächst noch die vernunftnaturrechtliche Staatsvertragslehre nachgewirkt hat. Jedenfalls hat die Geschichte der Philosophie in Deutschland seitdem eine ihrer sie wesentlich durchziehenden Grundlinien in der Annahme einer ursprünglichen Subjektivität und Rechtssubjektivität des Individuums.131 In der Staatsrechtslehre ist dieses geistige Gut wegen der im neunzehnten Jahrhundert beherrschend hervorgetretenen Bewegungen einer konstitutionellen Verfassungstheorie und eines staatsrechtlichen Positivismus sowie wegen der hieraus resultierenden gesetzesstaatlichen Tradition nicht zur Geltung gekommen. Unter anderem und nicht zuletzt die bis heute mehr oder weniger weitgehend wirkungsträchtig gebliebene Lehre von der Gesetzesabhängigkeit subjektiver öffentlicher Rechte ist ein Erbe jener wenig glücklichen Entwicklung der Staatsrechtslehre.
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Zur Entwicklungslinie vom empirischen Subjektivismus zur Phänomenologie und damit zu dem weiteren, hieraus entwickelten philosophischen Gedankengut siehe Tietjen, Fichte und Husserl, 1980. Unter anderem soll darin auch eine der in die Hermeneutik eingegangenen Denktraditionen liegen (Haardt, Dilthey Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Band 6 (1989), 292 ff.
Das Grundrecht der Freizügigkeit und die Grenzen der Staatsorganisation Von Wilfried Berg I. Verfassung und Zeit Unter der Überschrift „Verfassung und Zeit“ hat Wolf-Rüdiger Schenke schon vor 33 Jahren in einer grundlegenden Arbeit die Entwicklung von der „entzeiteten“ zur zeitgeprägten Verfassung gezeichnet, einer Arbeit, der er ganz bescheiden und in Anlehnung an Günter Dürig nur einen „Essaycharakter“ zugebilligt hat1. Ausgehend von der Darstellung des Positivismus und des liberalen Rechtsstaats, der sich nur als „Rechtsbewahrungsanstalt“ verstand2, beschreibt er die Dynamik der sich immer mehr beschleunigenden technischen Entwicklung, die das Sein zunehmend bestimmt, das Sein, in dem alles Recht verwurzelt ist, so daß dem Recht – auch dem Verfassungsrecht – nichts anderes übrig bleibt, als mit der Zeit zu gehen: Anpassungsfähigkeit der Verfassung wird gefordert; der Verfassungswandel wird als Ausdruck einer „zeitgeprägten Verfassung“ in einer „zeitdurchfluteten“ Wirklichkeit gesehen3. Allerdings gelte es, den Gefahren einer zu starken Pluralisierung der Verfassungsinterpretation entgegen zu wirken, Gefahren, wie sie sich in der Häberleschen Formel von der offenen Verfassung zur „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ abzeichneten4. Wesentlich schärfer ist die Kritik von Wilhelm Henke, der den „fließenden Staat“ heraufziehen sieht, wenn die Verfassung zum „öffentlichen Prozeß“ erklärt und „nicht einmal eine feste Verfahrensordnung für diesen Prozeß“ anerkannt wird: Wir dürften nicht darauf verzichten, „der Offenheit für Wandel und Veränderung durch Festigkeit und Beständigkeit abschließender Entscheidungen Grenzen zu setzen“5.
1 Schenke, Verfassung und Zeit – von der „entzeiteten“ zur zeitgeprägten Verfassung, AöR 103 (1978), 566 (569). – Zur Zeitbedingtheit des Rechts, insbesondere des Öffentlichen Rechts, Berg, Die Zeit im öffentlichen Recht, JöR NF 56 (2008), S. 29 ff. 2 Schenke (Fußn. 1), S. 572. 3 Schenke (Fußn. 1), S. 577, 585, 593. Dazu, daß das Recht bei aller Beweglichkeit doch immer hinter der Technik herzuhinken pflegt Berg, Vom Wettlauf zwischen Recht und Technik, JZ 1985, 401 ff. 4 Schenke (Fußn. 1), S. 586 unter Bezugnahme auf Häberle, JZ 1975, 297. 5 Vgl. Henke, Der fließende Staat, zugleich Besprechung von Peter Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, 1978, Der Staat 1981 (20), 580 ff., 592.
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Eine solche Kritik wäre zweifellos gerechtfertigt, wenn es nur um Veränderung von Aggregatszuständen ginge, also nur darum, den festen Rechtsbewahrungsstaat zu verflüssigen, um ihn schließlich in Luft aufzulösen6. In Wirklichkeit geht es aber um Entwicklungsoffenheit für den Staat, der dem Schutz der Würde des Menschen und der Entfaltung seiner Freiheit verpflichtet ist, also nicht um einen Prozeß als Selbstzweck, sondern als Weg zum Ziel der Freiheit – einen sehr langen Weg zu einem entwicklungsoffenen, sehr fernen Ziel. II. Die Garantie der Freizügigkeit in der Zeit Die Zeitbedingtheit rechtlicher Institutionen läßt sich in ganz besonderer Weise am Grundrecht der Freizügigkeit belegen. Aus- und Einwanderung Einzelner wie ganzer Völker werden von Bedingungen ausgelöst, die in ihrer Vielfalt und Veränderbarkeit kaum zu beschreiben sind. Sei es die Suche nach dem „gelobten Land“, die Flucht vor religiös, politisch, oder ethnisch motivierten Verfolgungen, seien es der Reiz fruchtbarer Böden, frischen Wassers, des Goldes, die Sehnsucht nach Raum und Freiheit oder pure Abenteuerlust. Allein die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Wanderungsbewegungen – von der Besiedlung der Mittelmeerküsten durch die Griechen, der Ausdehnung des römischen Imperiums über die Völkerwanderungen bis zu den Wanderarbeiter-, Flüchtlings- und Asylantenströmen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Alle Staatsorganisationen haben auf solche Wanderungsbewegungen reagiert. Besonders eindrucksvoll sind noch heute die Denkmäler der Abwehrversuche durch die chinesische Mauer, den Limes, die Stadtmauern des Mittelalters oder die Maginot-Linie aus der Zeit zwischen den Weltkriegen bis hin zu den Grenzzäunen zwischen Griechenland und der Türkei zur Sicherung der „Festung Europa“ im 21. Jahrhundert7. Nelson Mandela beschreibt in seiner 1994 veröffentlichten Autobiographie „Long Walk to Freedom“, wie sehr er nach 27jähriger Gefangenschaft im Alter von 71 Jahren seine erste Reise durch Afrika genoß. Er schreibt: „Sehr schnell hatte ich mich an eine Welt gewöhnt, die völlig anders war als die, die ich verlassen hatte. Mit den Wandlungen des Verkehrs, der Kommunikation und der Massenmedien hatte die Welt sich beschleunigt, alles geschah so schnell heutzutage, daß man
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Dies läge im modernen Trend einer „Vergesellschaftung“ des Staates; dagegen Berg (Fußn. 1), S. 30 ff. und v. a. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HdStR II, 2004, § 31 Rn. 29 ff.; s.a. Häberle, Formen und Grenzen der normierenden Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 487. 7 Zum Aufwand der Grenzziehungen in der Vergangenheit Berg, Zonenrandförderung, 1989, S. 152. Durch „Frontex“, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, werden die Mitgliedstaaten der EU bei der Überwachung und Sicherung der Unionsgrenzen unterstützt.
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gelegentlich Mühe hatte, den Anschluß zu behalten“8. – Auch das Staatsangehörigkeitsrecht wurde und wird von Staaten genutzt, um sich durch Festlegung des „Abstammungsprinzips“ (ius sanguinis) vor Fremden zu schützen9. Aber auch umgekehrt haben „Einwanderungsstaaten“ durch Anknüpfung der Staatsangehörigkeit an den Geburtsort (ius soli) darauf hingewirkt, ihr Staatsvolk zu vergrößern10. 1. Das Grundrecht auf Freizügigkeit in der deutschen Verfassungsentwicklung a) Die historischen Wurzeln der Freizügigkeit Ein Grundrecht auf Freizügigkeit hat zwei historische Wurzeln, nämlich den Drang nach Glaubensfreiheit auf der einen und das Bemühen um Berufs- und Gewerbefreiheit auf der anderen Seite11. Vor dem Hintergrund von Kleinstaaterei und Glaubensspaltung in Europa versuchten immer mehr Menschen, den „Staatsreligionen“ auszuweichen. Eine wesentliche Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 bestand in der Garantie der Abzugsfreiheit, also der Möglichkeit, sich – an einem andern Ort – zu einer anderen Religion als der des bisherigen Landesherrn zu bekennen. An dieser Stelle wird deutlich, daß korrespondierend zur Freizügigkeit als Bewegungsfreiheit der eigenen Staatsangehörigen die Öffnung der Grenzen für Fremde, die Freiheit der Zuwanderung, hinzutritt. Auf der Grundlage des Edikts von Potsdam von 1685 wurden in großer Zahl Hugenotten in Brandenburg aufgenommen. Der Vater Friedrichs des Großen, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. hat 17.000 Salzburger Protestanten in Ostpreußen eine neue Heimat geschaffen. In der Zeit von 1701 – 1705 wurde am Berliner Gendarmenmarkt die Friedrichstadtkirche für französische Glaubensflüchtlinge errichtet. Friedrich der Große ließ an diese Kirche und an eine gleichartige deutsche Kirche im Jahr 1785 je einen Kuppelturm anbauen; so entstanden der Französische und der Deutsche Dom. Der Überdruck der staatlichen Repressionen nach dem Wiener Kongreß trieb insbesondere südwestdeutsche Demokraten zum Kampf um die Verwirklichung der in Nordamerika und in der Französischen Revolution errungenen unveräußerlichen Menschenrechte auch in Deutschland. In Art. 5 des Offenburger Programms der deutschen Radikaldemokratie vom 12. September 1847 heißt es: „Das Vereinsrecht, … das Recht des Volks, sich zu versammeln und zu reden, … das Recht des Einzelnen, sich zu ernähren, sich zu bewegen und auf dem Boden des deutschen Va-
8 Vgl. Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, 4. Aufl. 2000, Fischer Taschenbuch, S. 764 f. 9 Vgl. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehorigkeit, HdStR II, 2004, § 16 Rn. 51: Das ius sanguinis eignet sich als Anknüpfungspunkt besonders, weil es „ein Staatsvolk in seiner Geschlechterfolge von Fremden abschließt“. 10 Zur Funktion des ius soli oder ius territorii Grawert (Fußn. 9), Rn. 51, 53. 11 s. z. B. Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 5. Aufl. 2008, S. 197.
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terlandes frei zu verkehren, seien hinfür ungestört“12. Durch die am 1. 7. 1867 in Kraft getretene Verfassung erhielt der Norddeutsche Bund durch einen umfangreichen Katalog Gesetzgebungskompetenzen, die sich u. a. auf die Freizügigkeit, Heimatund Niederlassungsverhältnisse, das Staatsbürgerrecht, Paßwesen und die Fremdenpolizei, Auswanderung und Gewerbeangelegenheiten erstreckte13. b) Das Bonner Grundgesetz von 1949 In den deutschen Verfassungen des 20. Jahrhunderts wird jedenfalls den deutschen Staatsbürgern ein Grundrecht auf Freizügigkeit garantiert. Nach Art. 111 der Weimarer Verfassung von 1919 genießen alle Deutschen „Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich an beliebigem Ort des Reichs aufzuhalten, niederzulassen, Grundstücke zu erwerben und jeden Nahrungszweig zu betreiben“. Darüber hinaus ist jeder Deutsche „berechtigt, nach außerdeutschen Ländern auszuwandern“ (Art. 112 WRV). – Das Bonner Grundgesetz von 1949 schützt demgegenüber ausdrücklich nur die Freizügigkeit „im ganzen Bundesgebiet“ (Art. 11 GG). Mit Blick auf die weitere Entwicklung sicher überraschend formulierte dagegen die erste DDR-Verfassung vom Herbst 1949: „Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern“ (Art. 10 II). Auch die Bayerische Verfassung vom Dezember 1946 berechtigt in sprachlicher und inhaltlicher Anlehnung an die Weimarer Verfassung „alle Bewohner Bayerns, nach außerdeutschen Ländern auszuwandern“ (Art. 109 II BV). Es konnte nicht ausbleiben, daß die restriktive Formulierung des Grundrechts auf Freizügigkeit durch das Bonner GG alsbald zu einem Rechtsstreit führen würde, der schließlich vom BVerfG in seinem „Elfes-Urteil“ entschieden wurde. Wilhelm Elfes war in der Weimarer Zeit als Polizeipräsident, nach dem 2. Weltkrieg als Oberbürgermeister und Landtagsabgeordneter der CDU in Nordrhein-Westfalen tätig. Im „Bund der Deutschen“ kämpfte er recht aktiv auf Veranstaltungen im In- und Ausland für die „Rückholung“ der früheren deutschen Ostgebiete. 1953 wurde ihm die Verlängerung seines Reisepasses verweigert. Mit Recht verneinte das BVerfG hier die Anwendbarkeit des Art. 11 GG als des Grundrechts der – innerdeutschen – Freizügigkeit, sah aber die „Ausreisefreiheit als Ausfluß der allgemeinen Handlungsfreiheit“, die gemäß Art. 2 I GG einen angemessenen grundrechtlichen Schutz gewähre14. Einen Paß bekam Elfes trotzdem nicht; denn die allgemeine Handlungsfreiheit ist nur innerhalb der Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Das damals geltende Paßgesetz von 1952 sah die Gefährdung der Staatssicherheit als einen der verfassungsmäßigen Ordnung entsprechenden Paßversagungsgrund vor, 12 Ausführlich zu diesem Programm und zur vormärzlichen Bewegung Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2007, Rn. 277 ff. 13 Dazu näher Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 1941 ff. und Rn. 2067 f. zu den entsprechenden Grundrechten in der Reichsverfassung von 1871.– Zur wirtschaftlichen Freizügigkeit in der Paulskirchenverfassung Breuer, Freiheit des Berufs, HdStR VIII, 2010, § 170 Rn. 1 ff., 4 f. (zur Weimarer Verfassung). 14 Vgl. BVerfGE 6, 32, 36 f. Dazu Bumke/Voßkuhle (Fußn. 11), S. 68 ff.
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und die politischen Aktivitäten von Elfes wurden von den Gerichten damals als staatsgefährdend eingeschätzt. – Bedenkt man die lange Tradition einer Garantie der Ausreisefreiheit, dann überrascht es schon, daß die Väter und Mütter des GG auf die ausdrückliche Schaffung eines solchen Grundrechts verzichtet haben. In einer Kommentierung heißt es dazu: „Dieser klägliche Befund“ beruhe u. a. „ auf der Ängstlichkeit des Parlamentarischen Rats, wo man angesichts des zerstörten Deutschlands eine Auswanderungswelle befürchtete und daher die Auswanderung nicht in Art. 11 mit aufnahm“. Und in der kritischen Würdigung der Fassung des GG schreibt derselbe Autor im Jahre 1975: „Die Bedenken des Parlamentarischen Rats hinsichtlich einer Massenauswanderung haben sich längst erledigt. Für die Bemühungen um eine innerdeutsche Freizügigkeit wäre es ein Beweis des guten Willens, wenn wir das Recht, das Bundegebiet zu verlassen, nicht nur tatsächlich gewährleisten, sondern auch ausdrücklich in die Verfassung aufnehmen würden“15. Das war der Unterschied zur DDR-Verfassung und zum in der DDR praktizierten real existierenden Sozialismus. Der wirtschaftliche Aufschwung Westdeutschlands konnte in der unmittelbaren Nachkriegszeit von niemandem vorhergesehen werden – im Nachhinein erschien er in der allgemeinen Einschätzung als ein „Wirtschaftswunder“. Die Ängstlichkeit des Parlamentarischen Rats 1948/49 war also durchaus nachvollziehbar – auch wenn die Schöpfer der Bayerischen Verfassung offenbar schon mehr Hoffnung in die Zukunft setzten. In der DDR wurde mit dem Versprechen, den Sozialismus zu errichten, anfangs viel brachliegender Idealismus aktiviert. Aber: „Trotz erheblicher Anstrengungen der Menschen in der DDR blieben Lebensstandard und Qualität der Produkte beträchtlich unter dem westlichen Niveau“16. Nach der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 kam es zu drastischen Preissteigerungen und zu einer zehnprozentigen Normerhöhung für Industriearbeiter. Ein Streik am 17. Juni 1953 eskalierte zu einer nationalen Aufstandsbewegung. Allein die sowjetischen Panzer retteten das SED-Regime. Auch wenn es danach zu Verbesserungen der materiellen Grundversorgung kam, „zogen die Lichter West-Berlins die Menschen aus der DDR fast magisch an, und so wuchs der Strom der Flüchtlinge über die Sektorengrenze ständig und erreichte 1961 1.650.000 Menschen: Das entsprach der gesamten Bevölkerung Ost-Berlins. Die Sowjetunion konnte auf Dauer diese „Abstimmung mit den Füßen“ (Lenin) nicht hinnehmen … Der Nervenkrieg um die Stadt heizte sich auf, bis am 13. August 1961 DDR-Soldaten und paramilitärisch Uniformierte über Nacht Stacheldrahtverhaue und Gräben um den freien Teil Berlins zogen“17. In diesem Sommer jährte sich der Bau der Berliner Mauer zum 50. Mal. – Im Westen wurde die ängstliche Beschränkung der Freizügigkeit durch das GG dank des Wirtschaftswunders und dank der 1957 entstandenen EWG rechtlich schnell überholt und faktisch völlig vergessen. Art. 45 I EU-Grundrechtecharta ge15 16 17
Vgl. Dicke, in: v.Münch (Hrsg.), GG-Kommentar Bd. 1, 1975, Art. 11 Rn. 2, 27. Vgl. Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, 1996, S. 247. Vgl. Hagen Schulze (Fußn. 16), S. 248 f.
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währt Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern das Recht, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“. Seit dem Fall der Mauer im November 1989 ist die Freizügigkeit der Menschen geradezu explodiert. Die EWG hatte von ihrem Ansatz als Wirtschaftsgemeinschaft her für die wirtschaftliche Integration über eine Zollunion den Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen vor Augen. In diesem Raum ist der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet, Art. 26 AEUV. Erst nach dem freien Warenverkehr kommt deshalb die „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ (Art. 45 ff. AEUV); der in der Religions- und Glaubensfreiheit liegende Ausgangspunkt der Freizügigkeit ist da nicht mehr zu finden18. Wirtschaft und Gewinn stehen meist ganz im Vordergrund. So wächst z. B. die Anziehungskraft von „Steueroasen“ in einem Maße, daß das BVerfG im Hinblick auf die unterschiedlichen Hebesätze der Gewerbesteuer auf kommunaler Ebene „unsinnige rein steuermotivierte Wanderbewegungen“ beklagt hat. Es sei ein legitimes gesetzgeberisches Ziel, die Bildung von „Steueroasen“ zu verhindern. Gemeinden haben deshalb nicht mehr das Recht, völlig auf die Erhebung der Gewerbesteuer zu verzichten19. Standen im Forderungskatalog der Menschen, die 1989 für Demokratie und Freiheit in der DDR auf die Straße gingen, die Meinungs- und die Reisefreiheit ganz oben, wird heute – im neuen demographischen Karussell einer schrumpfenden Gesellschaft – schon nach der Freiheit und nach dem Recht gefragt, „dort bleiben zu können, wo man will“. Und zitiert wird ein Liedermacher aus Hoyerswerda: „Alle die gehen wollÏn, sollen gehen können. Alle die kommen wollÏn, sollen kommen können. Alle die bleiben wollÏn, sollen bleiben können“20.
Das Grundrecht auf Freizügigkeit garantiert dieses Recht als Recht auf Selbstbestimmung des innerdeutschen Aufenthaltsortes, aber – wie alle anderen Freiheitsrechte auch – prinzipiell nur als „Abwehrrecht“, aus dem allein sich keine Ansprüche gegen den Staat auf Schaffung einer materiell gesicherten Lebensgrundlage vor Ort ergeben. Ebenso wenig, wie der Staat seine Bürger in seinen Grenzen festhalten darf, ebenso wenig darf er sie vertreiben. Staat und staatliche Souveränität sind nicht mehr Selbstzweck, sondern für den Menschen da. Die optimale Grundrechtsverwirklichung ist Ziel und Maßstab seines Handelns21. Nicht der 18
Allerdings gehen die unionsrechtlichen Freiheitsgarantien längst über rein ökonomische Aspekte hinaus, vgl. nur EuGH Urteil vom 13. 4. 2010 – JuS 2010, 655 (Streinz) zum unionsweiten Hochschulzugang. 19 Vgl. BVerfG Beschl. v. 27. 1. 2010 BayVBl. 2010, 400, 404 f. Rn. 95 ff. So auch Schenke, in: Sodan, Grundgesetz, 2009, Art. 106 Rn. 15. 20 Vgl. Felix Ringel, Hoytopia allerorten? Von der Freiheit zu bleiben, APuZ 30 – 31/2010, S. 40 ff.(46). 21 Siehe Berg, Staatsrecht, 6. Aufl. 2011, Rn. 117, 427; ders., Dem Gemeinwohl verpflichtet – Zur Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft, Akademie 2006, 99 ff. Grundlegend Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdStR II, 2004, § 22 Rn. 65.
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Staat bestimmt, wo und wie seine Bürger – im Inland oder im Ausland – zu leben haben, sondern das bestimmen die Bürger selbst, und der Staat hat deren freie Entscheidung zu respektieren. Noch einmal erinnert werden soll an dieser Stelle daran, daß diesem Freizügigkeitsrecht der Staatsbürger gegenüber ihrem Staat ein „Zufluchtsrecht“ der Bürger entsprechen muß, wenn das Menschenrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung sich in letzter Konsequenz bewähren soll. Es geht dabei um das Asylrecht mit seinem Grundgedanken, demjenigen, der in seinem eigenen Land nicht mehr leben kann, eine Zuflucht zu bieten22. In seiner Urfassung hatte das GG in Art. 16 II 2 – ohne jeden Vorbehalt – bestimmt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Dem Parlamentarischen Rat standen noch sehr lebendig die politischen und rassistischen Verfolgungen durch das nationalsozialistische Regime vor Augen23. Während das Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG) und das Ausbürgerungs- und das Auslieferungsverbot (Art. 16 I, II GG) nur deutsche Staatsbürger schützen, können sich auf das Asylrecht des Art. 16 a GG nur Ausländer berufen24. Hier besteht eine offensichtliche und im Nationalstaat unvermeidbare Asymmetrie. Kein Staat kann einen andern Staat verpflichten oder gar zwingen, Verfolgten Asyl zu gewähren. Die Bundesrepublik Deutschland kann nur die eigenen Türen öffnen. Wenn es um auswanderungswillige oder rückkehrwillige Deutsche geht, muß sie dies. c) Staatsbürger und staatliche Souveränität Seit Georg Jellinek und seiner Drei-Elemente-Lehre hat man sich daran gewöhnt, nur dann von einem Staat zu sprechen, wenn ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt vorzufinden sind25. Jedem so bestehenden Staat gewährt eine rechtlich geordnete Völkergemeinschaft die gleiche unabhängige Befugnis zum Handeln innerhalb seiner Staatsgrenzen. So kann der Staat allein auf sein Staatsgebiet zugreifen; jedenfalls aber hat er den alleinigen Zugriff auf seine Staatsbürger26. Als demokratischer Rechtsstaat ist er „nach innen“ aber durch Grundrechte gebunden und muß das Selbstbestimmungsrecht seiner Bürger respektieren, auch ihren „Austritt aus
22
Vgl. BVerfGE 76, 143 (157). Zu den Ursprüngen des Asylrechts als „Heiligtum der Menschenrechte“ Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2. Aufl. 2009, § 20 Rn. 1 und Rn. 2 zu den Motiven des Parlamentarischen Rates. Zur Entstehungsgeschichte Meßmann/Kornblum, JuS 2009, 810 ff. Michael/ Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. 2010, Rn. 410 halten einen grundrechtlichen Gehalt des Art. 16 a GG für praktisch irrelevant. 24 Vgl. Sodan, GG, 2009 Art. 16 a Rn. 5. 25 s. nur Isensee, Staat und Verfassung, HdStR II, 2004, § 15 Rn. 49 ff. 26 Heinz, Souveränität und Globalität geistlicher Ritterorden, BayVBl. 2010, 745 (748 f.) meint, ein Staat bedürfe nicht notwendigerweise eines Staatsgebietes, wohl aber eigener Staatsangehöriger. 23
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dem Staat“27. In einem weltoffenen Markt können Unternehmen ihre bevorzugte Rechtsordnung selbst wählen und Staaten sogar gegeneinander ausspielen28. Es entsteht ein Paradoxon: Der Staat muß die Freizügigkeit, auch ihre wirtschaftlichen Konsequenzen, zulassen, auch wenn er dadurch sein Staatsvolk und damit das wesentliche Element seiner Staatlichkeit verliert. Aber dies ist keine Katastrophe, sondern durch das System der freiheitlichen demokratischen Ordnung bedingt. Die Freiheit und Selbstbestimmung seiner Bürger sind Zweck des Staates – nicht umgekehrt ist der Staat Zweck seiner Bürger. Alles Handeln des Staates muß durch das Gemeinwohl, das Wohl seiner Menschen, gerechtfertigt sein. Es spricht viel dafür, daß ein Staat, dem seine Bürger davonlaufen, dieses Gemeinwohlziel verfehlt. Der überzeugendste Beleg dafür dürfte in jüngster Vergangenheit die Auflösung der DDR durch die „Republikflucht“ ihrer Bürger sein. Der Mauerbau vor 50 Jahren konnte das Ende dieses Staates um eine Generation verzögern, nicht aber verhindern29. 2. Staatsziele des Grundgesetzes und der Lissabon-Vertrag Vor der Wiedervereinigung konnten auch die dichten Grenzen der DDR nicht verhindern, daß Umweltverschmutzung in den Westen kam30. Die Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren, die Vergiftung der Elbe und das Waldsterben in den Mittelgebirgen waren unübersehbar. Kein Staat allein konnte – spätestens seit dem 2. Weltkrieg – und kann heute ohne Kooperation mit anderen Staaten seine ureigensten Aufgaben erfüllen: Seine Bürger vor grenzüberschreitenden Umweltbelastungen oder vor vergifteten Lebensmitteln aus den weltweiten Produktionsketten schützen oder ihnen ihre berufliche und kulturelle Entfaltung und Verwirklichung ermöglichen. Das Grundgesetz hat das nicht nur früh erkannt, sondern geradezu zu einem seiner Wesensmerkmale gemacht. Seine „Völkerrechtsfreundlichkeit“, die von Anfang an v. a. in der Präambel und in Art. 24 und 25 starken Ausdruck gefunden hat, wird ergänzt und weiter gestärkt durch die wachsende „Europarechtsfreundlichkeit“, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil herausstellt31. Selbstverständlich fordern diese Prinzipien keineswegs, „dass das Grundgesetz in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit so weit zu gehen habe, sich selbst in Frage zu stellen“32. 27 Vgl. Rupp (Fußn. 6), Rn. 64, der eine „Entstaatlichung durch Globalisierung“ und elementare Auswirkungen auf die Staatlichkeit und ihre territoriale Friedens- und Schutzfunktion und auf das demokratische Prinzip sieht. 28 Vgl. Paul Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, HdStR VIII, 2010, § 169 Rn. 23, 67 ff. S. auch die Entscheidung des BVerfG zur Gewerbesteuer, Fußn. 19. 29 s.o. im Text zu Fußn. 16, 17. Dazu, daß wirtschaftliche Not Grenzen schafft, Berg, (Fußn. 7), 1989, S. 146 f. 30 Zu den besonders gravierenden Umweltbelastungen im sog. „Zonenrandgebiet“ Berg (Fußn. 7), S. 18 f. 31 Vgl. BVerfG Urteil vom 30. 6. 2009 – JZ 2009, 890 LS 4 S. 3, Rn. 340 etc. Dazu Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des BVerfG, Die Verwaltung Beiheft 10, 2010, S. 229, 233. 32 Vgl. Schmahl, in: Sodan, GG, 2009 Art, 25 Rn. 12 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG.
Das Grundrecht der Freizügigkeit und die Grenzen der Staatsorganisation
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Im Gegenteil: Erst und allein durch internationale Zusammenarbeit und durch Verwirklichung eines vereinten Europas können die Vorgaben des Grundgesetzes eingehalten, nämlich die Würde und Freiheit der Menschen in Deutschland in die Zukunft hinein gesichert werden. Wenn das BVerfG behauptet, das Grundgesetz „setzt die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch“33, dann kann es dafür aus dem Grundgesetz keinen Beleg liefern. Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III sichert Menschenwürde, Demokratie, Republik, Rechts-, Sozial- und Bundesstaat, nicht aber deren zeitbedingte Organisation in der Gestalt einer „souveränen Bundesrepublik Deutschland“. Die Schutzwirkung des Art. 79 III wird durch die europäische Integration nicht gemindert, sondern verstärkt. Kein souveräner Nationalstaat in Europa hat es in der Vergangenheit geschafft, über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren Frieden, Sicherheit und Freiheit herzustellen und für die Zukunft zu garantieren. Die quantitative und qualitative Mehrung der Freizügigkeit, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit über alle europäischen Grenzen hinweg kann kein Nationalstaat seinen Bürgern bieten, ebenso wenig wie ein europaweites Wahlrecht auf kommunaler Ebene, Europawahlen und Bürgerinitiativen auf europäischer Ebene und einen Anspruch auf Zuflucht in einem anderen Staat. Die Rechte aus der Unionsbürgerschaft treten zur nationalen Staatsbürgerschaft wesentlich erweiternd hinzu (vgl. Art. 20 I S. 3 AEUV) und schmälern sie nicht. Und die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet (Art. 2 EUV), sind in einer Intensität und Weite gesichert, von der die Väter und Mütter des Grundgesetzes in der Nachkriegszeit nicht einmal hätten träumen können. Auch die Wiedervereinigung wäre ohne die feste Verankerung Deutschlands in der Europäischen Gemeinschaft niemals möglich gewesen – für Korea ist noch immer kein Ende der Teilung in Sicht34. Schließlich sei betont, daß die Wahlmöglichkeiten zum Europäischen Parlament auch im Hinblick auf dessen erweiterte Kompetenzen eine gewaltige Steigerung demokratischer Mitwirkung bedeuten. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht allein dadurch eine Demokratie, daß ihre Bürger alle vier Jahre Gelegenheit haben, bei Bundestagswahlen ihre Stimme abzugeben; demokratische Mitwirkung des Volkes geschieht auch durch Landtagswahlen, durch Engagement in der kommunalen Selbstverwaltung, in Parteien, Verbänden, durch die Medien, durch Petitionen, Bürgerinitiativen, Demonstrationen und nicht zuletzt durch „Abstimmung mit den Füßen“, wenn sich die Staatsgewalt zu sehr abgehoben hat. Kommunalwahlen tragen 33 Vgl. BVerfG JZ 2009, 890, 893 Rn. 216. Kritisch dazu insbesondere Häberle, Das retrospektive Lissabon-Urteil als versteinerte Maastricht II-Entscheidung, JöR NF 58, 2010, S. 329 ff.; Fischer-Lescano/Viellechner, Globaler Rechtspluralismus, APuZ 34 – 35/2010, S. 20, 24 sprechen von „Abschottung nationaler Demokratie unter dem Schutzmantel staatlicher Souveränität“. 34 s.a. Classen, Legitime Stärkung des Bundestages oder verfassungsrechtliches Prokrustesbett?, JZ 2009, 881, 889: „Immerhin konnte Deutschland seine Souveränität nach Krieg und Mauerfall nur dank seiner Einbindung in die Europäische Gemeinschaft wiedererlangen“. s. a. Berg (Fußn. 7), S. 102 ff. zum Verhältnis zwischen verfassungsrechtlichem Wiedervereinigungsgebot und europäischer Integration; s.a. ders., Staatsrecht, 6. Aufl. 2011, Rn. 469.
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zur Integration der Unionsbürger bei (vgl. Art. 20, 22 I AEUV, Art. 28 I 3 GG), und Europawahlen werden als „Denkzettel“ oder als Bestätigung für die nationale Politik verstanden. Es gibt immer weniger Sachfragen, die so intensiv auf kulturelle und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, daß sich die demokratische Öffentlichkeit allein im nationalen Raum diskursiv entfalten könnte35. Immer häufiger gelingt es erst den Institutionen Europas, verkrustete innerstaatliche Beschränkungen der Freiheitsrechte und Verstöße gegen den Gleichheitssatz bewußt zu machen und aufzuheben. III. Ausblick So hat sich der Kreis der Betrachtung von Verfassung und Zeit mit dem Blick auf zeitbedingte Interpretationen der Ewigkeitsklausel geschlossen. Der lange, aber auch der einzige Weg zur Freiheit geht – derzeit – über Europa. „Derzeit“, weil der Weg vom Staats- und Unionsbürger zum „Weltbürger“36 längst begonnen hat, aber noch keineswegs am Ziel ist. Hans Heinrich Rupp hat – mit Recht – große Skepsis gegenüber der Selbstregulierungskraft der „Weltbürgerschaft“ geäußert37. Es bedarf einer hoheitlichen Rechtsordnung, eines „Weltrechts“, das – unausweichlich – unabdingbar ist38. Letztlich aber wird das Gleichgewicht einer freiheitlichen Ordnung nie stabil, sondern immer labil sein. „Der auf die Freiheit der Individuen bauende Staat ist niemals fertig, sondern wesenhaft unfertig“39. Weg und Ziel für die Wanderung in Freizügigkeit zeigt die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 III GG mit dem die Demokratie von vornherein gegenüber anderen Staatsformen kennzeichnenden „offeneren Verfassungsverständnis“40.
35 Vgl. Grzeszick, Die Europäisierung des Rechts und die Demokratisierung Europas, Die Verwaltung Beiheft 10, 2010, S. 95, 115. – Zu den vielfältigen Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger auf die staatliche Willensbildung Berg, Staatsrecht, 6. Aufl. 2011, Rn. 65 f., 123 ff., 129, 132 ff., 172. 36 s. den Bericht von Kotzur, Vom Staatsbürger zum Weltbürger – ein republikanischer Diskurs in weltbürgerlicher Absicht. Internationales Forschungskolloquium am Istituto Svizzero di Roma, DVBl 2010, 1424 f. s. auch die Beiträge zum Thema „Weltstaatengesellschaft“ in: APuZ 34 – 35/2010 und oben, Fußn. 30. 37 Vgl. Rupp (Fußn. 6), Rn. 65 ff. 38 Vgl. Paul Kirchhof (Fußn. 28), Rn. 69. 39 Vgl. U.J. Schröder, Wovon der Staat lebt, JZ 2010, 869, 874. 40 Vgl. Schenke (Fußn. 1), S. 580.
Die materielle Verfassungsstreitigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit Von Herbert Bethge Der Begriff der Verfassungsstreitigkeit ist für den deutschen Rechtskreis keine Denkfigur allein der allgemeinen Staats- oder Verfassungslehre, auch nicht lediglich vexierhaftes Element einer abstrakten Theorie vom modernen Verfassungsstaat. Er erschöpft sich genauso wenig in der Bedeutung des Strukturprinzips eines supranationalen Verfassungs(gerichts)verbundes. Er ist auch nicht Produkt europäischer Verfassungsvergleichung.1 Im konkreten Verfassungsstaat des Grundgesetzes2 stellt die Verfassungsstreitigkeit einen innerstaatlichen Rechtsbegriff3 dar. Er hat Teil an der Normativität der Verfassung und der von ihr determinierten einfachrechtlichen Legalordnung. Er ist juristischer Referenzbegriff der ihrerseits auf positivem Recht basierenden Verfassungsgerichtsbarkeit und der ebenfalls gesetzlich fundierten Fachgerichtsbarkeiten. Die Verfassungsstreitigkeit steht im Fokus eines komplexen, hochdifferenzierten, durchweg normativ geprägten Rechtsprechungsgefüges des nationalen Rechts. I. Die Grundlagen 1. Die Normativität der Verfassungsgerichtsbarkeit Primärer Bezugspunkt des vorwiegend vom Prozessrecht bestimmten Topos ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Instituierung untrennbar mit dem Vorrang der Verfassung verbunden ist.4 Das Bundesverfassungsgericht – für die Landesverfassungsebene ist es vornehmlich die Landesverfassungsgerichtsbarkeit – sichert den Vorrang der Verfassung.5 Verfassung ist das Grundgesetz, das seinerseits zum Gesetz,
1 Dazu Albrecht Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010. Zum Stellenwert der Verfassungsvergleichung Sebastian Müller-Franken, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 900 f. 2 Dazu BVerfGE 123, 267 (345); Isensee, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rn. 166 ff.; 184. 3 Schenke, AöR Bd. 131 (2006), 139 f., Bethge, Jura 1998, 529 ff. 4 Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG III, 6. Aufl., 2011, Art.93 Rn. 17. 5 Di Fabio, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 27 Rn. 29; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl., 2011, Art. 93 Rn. 3 f.; Löwer, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 70 Rn. 2.
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eben zur lex fundamentalis avanciert ist6: Die Verfassung ist Fundament des Staates (Hans Kelsen), besser: die rechtliche Grundlage des Staates (Werner Kägi). Entsprechend exklusiv normativ legitimiert und limitiert ist die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zwar sichert sie den Vorrang der Verfassung. Doch gilt für sie nichtsdestotrotz der Vorbehalt der Verfassung. Sie steht nicht über der Verfassung, noch nicht einmal zwangsläufig über der einfachrechtlichen Legalordnung.7 Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch sonst nicht dem Grundgesetz vorgelagert;8 wie es denn überhaupt keinen zeitlosen Begriff von Verfassungsgerichtsbarkeit gibt.9 Sie lässt sich nur mit dem positiven Recht rechtfertigen.10 Auch das Bundesverfassungsgericht ist nicht Herr der Verfassung. Es ist nicht nur schon als Gericht11 an die Verfassung und jedes Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG), sofern es nicht gerade über dessen Verfassungsmäßigkeit zu urteilen hat.12 Es ist gerade mit Blick auf seine zentrale Funktion keine freischwebende Institution mit beliebigen Zuständigkeiten oder gar Zugriffsmöglichkeiten;13 Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland ist strikt formalisiert und institutionalisiert. Ihre Zuständigkeiten sind verfassungsakzessorisch und gesetzesdeterminiert.14 Sie wird von der konkreten (Verfassungs-)Rechtsordnung bestimmt und begrenzt. 2. Die normative Kraft des Enumerationsprinzips Die strikte Normativität der Verfassungsgerichtsbarkeit wird verstärkt (nicht erst begründet) durch den Umstand, dass die Entscheidungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts auf keiner vagen Generalklausel beruhen, sondern katalogmäßig aufgelistet sind (Art. 93 GG; § 13 BVerfGG). Das Enumerationsprinzip (oder der Grundsatz der Einzelzuständigkeit) widerspricht nicht dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Fehlen der Generalklausel erweist sich als Möglichkeit, die Ver-
6 Schlaich, VVDStRL Heft 39 (1981), 103 ff. Zur normativ-realen Verfassung im Unterschied zur faktisch-realen Verfassung als der tatsächlichen Ordnung und Befindlichkeit eines Gemeinwesens siehe Matthias Jestaedt, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 32 Fußn. 98. 7 Schmidt-Aßmann, HStR II, 3. Aufl., 2005, § 26 Rn. 45. 8 Kischel, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 69 Rn. 54. 9 Schenke (Fußn. 3), S. 117 f. 10 Roellecke, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 67 Rn. 26; Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 93 Rn. 2, 3. 11 Hopfauf, (Fußn. 10), Art. 93 Rn. 13; Jarass/Pieroth, (Fußn. 10), Art. 93 Rn. 2; s.a. BVerfGE 104, 151 (196). 12 Roellecke (Fußn. 10), § 67 Rn. 36; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., 2001, Rn. 170. 13 Vgl. schon Nawiasky, VVDStRL Heft 9 (1952), 121 f. 14 Bethge, FS Franz Klein, 1994, S. 181; Rozek, FS 100 Jahre SachsOVG, 2002, S. 397; Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), GGK III, 2. Aufl., 2008, Art. 93 Rn. 44 f.
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fassungsgerichtsbarkeit ihrerseits unter Kontrolle zu halten.15 Die strikte Orientierung am Verfahrensrecht wirkt Tendenzen der Jurisdiktionsstaatlichkeit entgegen,16 ohne sie freilich völlig ausschließen zu können. a) Maßgebend ist im einzelnen ein Kanon von verschiedenartigen Verfahrensarten mit exakt fixierten und limitierten Antragsrechten, Beschwerdebefugnissen, Streitgegenständen, Prüfungsmaßstäben und Entscheidungswirkungen. Die Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts wird ausschließlich in den vorgesehenen Verfahrensarten wahrgenommen. Freiwüchsige exzeptionelle Befugnisse, die sich nicht aus verfassungsrechtlichen bzw. einfachgesetzlichen Zuweisungen ableiten lassen, existieren nicht. Weder seine Stellung als den anderen Staatsorganen gleichgeordnetes bzw. ebenbürtiges17 Verfassungsorgan noch die Funktion eines Hüters der Verfassung, noch gar seine mögliche Teilhabe an der obersten Staatsleitung verleihen dem Bundesverfassungsgericht Zuständigkeiten, die über die gesetzlichen Kompetenzzuordnungen hinausgehen. Bei solchen Titeln und Prädizierungen handelt es sich um Funktionsbeschreibungen, nicht um Kompetenzzuweisungen.18 Einen Mehrwert (Axel Hopfauf) an Kompetenzen vermitteln sie nicht. Ein rechtspolitisches Bedürfnis allein kann eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht begründen.19 Auch eine Ausdehnung der Zuständigkeiten unter dem Gesichtspunkt der Analogie ist unzulässig.20 Ebenso wenig ist es Aufgabe des Gerichts, abstrakte Rechtsfragen zu beantworten21 oder eine allgemeine Verfassungsaufsicht zu gewährleisten.22 In summa: Es gibt keinen „Rechtsweg“ zum Bundesverfassungsgericht in Verfassungsstreitigkeiten.23 b) Das Enumerationsprinzip nimmt in erster Linie das Bundesverfassungsgericht selbst in Pflicht. Voraussetzung für eine Entscheidung zur Sache ist die Zulässigkeit der Verfahrensart.24 Sachentscheidungen setzen die Einhaltung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfahrensart voraus.25 Die Entscheidung des Verfassungsgebers gegen eine Generalklausel darf nicht durch eine extensive oder großzügige Handha15 Benda/Klein (Fußn. 12), Rn. 31 mit Fußn. 43; s. o. Wolfgang Meyer, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 93 Rn. 23. 16 Knies, FS Stern, 1997, S. 1162, 1168. 17 Kritisch Schmitt Glaeser, FS Stern, 1997, S. 1191 ff. 18 Hans H. Klein, FS Stern, 1997, S. 1136. 19 BVerfGE 38, 121 (127); Bethge, FS Franz Klein, 1994, S. 182; Jarass/Pieroth (Fußn. 10), Art. 93 Rn. 1. 20 BVerfGE 1, 396 (409); 2, 341 (346); 21, 52 (54). 21 BVerfGE 96, 133 (138 f.); s. a. BVerfGE 68, 1 (73); 104, 151 (193 f.). 22 BVerfGE 100, 266 (268). 23 So zutreffend Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 3 ff. Schief daher, aber unschädlich die gelegentliche Formulierung des Gerichts selbst vom „Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht“; z. B. in: BVerfGE 120, 82 (95). 24 BVerfGE 106, 210 (214). 25 Benda/Klein (Fußn. 12), Rn. 228; vgl. auch Kunig, VVDStRL Heft 61 (2002), S. 68 f.
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bung der Zulässigkeitsvoraussetzungen26 und/oder Begründetheitsmaßstäbe der positiv zugewiesenen Verfahrensarten konterkariert werden. Namentlich die Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V. mit § 90 BVerfGG ist kein Surrogat für das Fehlen einer bundesverfassungsgerichtlichen Generalklausel.27 Schwachstellen gibt es da schon. Zwei Beispiele: aa) Die eine Einbruchstelle betrifft das Standarddilemma der Urteilsverfassungsbeschwerde, die keine Superrevisionsinstanz eröffnet und nicht zu einer allgemeinen Gerechtigkeitsjudikatur führen darf. Dahinter steht die grundlegende Problematik der Abschichtung der Entscheidungskompetenzen zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit28. Beide Institutionen der rechtsprechenden Gewalt genießen jeweils verfassungsrangigen Funktionsschutz. Abgrenzungskontroversen sind unausweichlich. Wo fängt das „spezifische Verfassungsrecht“ an, das der Exploration des Bundesverfassungsgerichts unterliegt, und wo hört das einfache Gesetzesrecht auf, dessen authentische Interpretation allein Sache der Fachgerichtsbarkeit ist. Dass abstrakte Großformeln nicht zur Lösung beitragen,29 benennt das Problem nur, bereinigt es aber nicht. bb) Ein jüngerer Fall von Grenzüberschreitung zeigt sich in Tendenzen in den beiden grundlegenden EU-Judikaten des Bundesverfassungsgerichts.30 Schon das Maastricht-Urteil blähte das aktive Statusrecht (Wahlrecht) des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zum Grundrecht auf Beibehaltung der Demokratie und der nationalen Souveränität auf.31 Das Lissabon-Urteil sattelte gewissermaßen drauf und verstieg sich über ein Individualrecht auf Staatlichkeit32 bis zur „individualrechtsschutzeröffnenden Umpolung des Art. 146 GG.“33 c) Das Enumerationsprinzip entbindet nicht von der Pflicht zur Trennung zwischen den – ohnehin meist heterogenen – Verfahrensarten, die dem Bundesverfassungsgericht positivrechtlich zugewiesen sind. Die Verfassungsbeschwerde ist kein Auffangtatbestand für den Schutz nichtorganstreitfähiger Rechtspositionen.34 Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde eröffnet nicht die Möglichkeit einer vom Nach26
Bedenklich Schorkopf, AöR Bd. 130 (2005), 465 ff. Bethge, in: Maunz u. a. (Hrsg.), BVerfGG, Vorb Rn. 152; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 2011, Rn. 105, 123. 28 Grundlegend Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, 1987, bes. S. 27 ff.; Wolfgang Roth, AöR Bd. 121 (1996), 544 ff.; Papier, HGR III, § 79 Rn. 6 ff; s. a. die Vorträge von Alexy, Kunig, Heun und Hermes, in: VVDStRL Heft 61 (2002); weiter Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2002. 29 Papier, HGR III, § 80 Rn. 32; Starck, FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 13. 30 BVerfGE 89, 155 ff. (Maastricht); 123, 267 ff. (Lissabon). 31 Kritisch Pauly, AöR Bd. 123 (1998), 281 Fußn. 254. 32 Kritisch Nettesheim, NJW 2009, 2867. 33 Kritisch Jestaedt, Der Staat Bd. 48 (2009), 497 (503 Fußn. 22). 34 So aber BVerfGE 108, 251 (267 f.); kritisch Sachs, JuS 2004, 72; Hillgruber/Goos (Fußn. 27), Rn. 123; s. a. Grzeszick, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechtskommentar, 2009, Art. 38 Rn. 126. 27
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weis der Beschwer des „Grundrechtsklägers“ befreiten abstrakten Normenkontrolle.35 d) Dem Enumerationsprinzip zuwider läuft einerseits die beliebige Erweiterung des Kreises der Antragsberechtigten.36 Andererseits ist es dem Bundesverfassungsgericht untersagt, sich durch Schaffung neuer Zulässigkeitsvoraussetzungen seinem Rechtsprechungsauftrag zu entziehen.37 Judicial restraint gar ist Justizverweigerung und Kompetenzanmaßung zugleich. 3. Bundesverfassungsgerichtsbarkeit als formelle Verfassungsgerichtsbarkeit Da die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes (und der Länder) rechtlich konstituierte und limitierte Gerichtsbarkeit ist, steht formelle Verfassungsgerichtsbarkeit in Rede. Da die enumerativ aufgelisteten Kompetenzen einem besonderen Funktionsträger der dritten Gewalt, dem Bundesverfassungsgericht (Art. 92 GG) und den Landesverfassungsgerichten (Staatsgerichtshöfen), übertragen sind, handelt es sich zugleich um institutionalisierte Verfassungsgerichtsbarkeit. Als unergiebig erweist sich demgegenüber das verschwommene Bild einer materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie so mancher Assoziationsbegriff verleitet die Vorstellung zu Spekulationen. a) Wenn Verfassungsgerichtsbarkeit im Verfassungsstaat des Grundgesetzes allein normativ zu begreifen ist, kann ein apriorischer, d. h. ein der positiven Ordnung vorgegebener materieller Typus von Verfassungsgerichtsbarkeit keine Relevanz haben.38 Es existiert allenfalls ein theoretisches Ordnungsmodell der Verfassungslehre, dessen Grundtenor das Anliegen der Kontrolle und der Mäßigung von Staatsgewalt ist. Diese Zurückhaltung gegenüber materiellen Qualifikationen schließt für den deutschen Bundesverfassungsrechtsbereich die Einbeziehung rechtshistorischer und entwicklungsgeschichtlicher Erfahrungswerte nicht aus. Natürlich bleibt der Verfassungsorganstreit die „eigentliche“39 Verfassungsstreitigkeit. Mehr noch ist die Bund-LänderStreitigkeit als klassische Verfassungs- und Parteistreitigkeit Grundstock oder Urgestein deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit. Beide Verfahren spiegeln die historischen Wurzeln der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit wider.40 Entscheidend ist aber, welche konkrete normative Ausgestaltung die „Organklage“41 im aktuellen Ver35
Zutreffend BVerfGE 79, 1 (14 f.). BVerfGE 21, 52 (53 f.). 37 Spranger, AöR Bd., 127 (2002), 60 f.; s. a. Hatje, VVDStRL Heft 69 (2010), 165 f. 38 Kischel, HStR III, 3. Aufl., 2005, § 69 Rn. 54. 39 BVerfGE 1, 208 (209); Umbach, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, Vor §§ 63 ff. Rn. 7. 40 Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 3; siehe auch Schlaich, VVDStRL Heft 39 (1981), 127. 41 Zur jüngeren Terminologie BVerfGE 103, 164 (169); 107, 286 (292); 111, 286 (288); 114, 107 (108). 36
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fassungsrecht erfährt: Ist sie ein objektives Beanstandungsverfahren?42 Dient sie einer allgemeinen Verfassungsaufsicht?43 Dominiert die prinzipale44 rsp. authentische Verfassungsauslegung?45 Oder steht eine subjektive bzw. kontradiktorische Parteistreitigkeit als ausnahmsweise zugelassener Insichprozess in Rede.46 b) Müßig ist auch die Frage, ob die Verfahrensarten der formellen Verfassungsgerichtsbarkeit die spezifischen Elemente einer zugleich materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit aufweisen. Alle, also auch die über die beiden Klassiker hinausreichenden weiteren Kompetenzzuweisungen weisen ohnehin thematisch zumindest eine gewisse „Verfassungsnähe“ auf.47 Dazu einige Beispiele: Selbst die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 2. Alternative GG zulässige Kontrolle einfachen Landesrechts am Maßstab einfachen Bundesrechts dient immerhin der Wahrung des Primats der überwölbenden Bundesrechtsordnung (Art. 31 GG).48 Weiter: Die Urteilsverfassungsbeschwerde soll gerade nicht eine weitere fachgerichtliche Superberufungs- oder Superrevisionsinstanz eröffnen. Sie ist keine Fortsetzung des fachgerichtlichen Verfahrens49. Sie ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, mit dem beim Bundesverfassungsgericht als dem letztverantwortlichen „Hüter der Grundrechte“50 die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts gerügt wird. Grundrechtsgerichtsbarkeit (Hans Huber) dieses Zuschnitts ist Verfassungsgerichtsbarkeit.51 Schließlich: Das Verfahren der Verfassungssicherung und des Verfassungsschutzes nach Art. 18 GG (Grundrechtsverwirkung)52 stellt kein strafrechtliches Surrogat oder Derivat dar.53 Wenn die sonst eher problematische Prädizierung des Bundesverfassungsgerichts als „Hüter der Verfassung“54 eine die bloße deskriptive Funktionsbeschreibung55 übersteigende Symbolik erlangt, dann doch hier: Verfassungssicherung ist nun wahrlich genuine Verfassungsgerichtsbarkeit. Schlussendlich: Vor die42
Verneinend BVerfGE 104, 151 (193 f.); 118, 277 (319). Verneinend BVerfGE 100, 266 (268); 118, 277 (319). 44 Jesch, DÖV 1961, 760. 45 Dazu Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 8 ff., 13. 46 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., 2010, Rn. 79; a.M. Hillgruber/Goos (Fußn. 27), Rn. 320. 47 So schon Paul Kirchhof, DÖV 1972, 103; s. a. Häberle, JöR n.F. Bd. 45 (1997), 109. 48 Hillgruber/Goos (Fußn. 27), Rn. 524; siehe auch Malte Graßhof, in: Umbach/Clemens/ Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, § 76 Rn. 38. Fragwürdig ist die These, dass jeder Verstoß gegen die Normenhierarchie ohnehin ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip sei; dazu Stern, BK, Art. 93 Rn. 264. 49 BVerfGE 115, 81 (92). 50 Dazu Papier, HGR III, § 80. 51 Drath, VVDStRL Heft 9 (1952), 35 f. 52 Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 7; Konrad Hesse, JöR n.F. Bd. 46 (1998), 6. 53 Dazu Lechner/Zuck, BVerfGG, 5. Aufl., 2006, § 13 Rn. 3. 54 In jüngerer Zeit beiläufig in bezug auf das Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG verwandt in BVerfGE 119, 247 (258). 55 Hans H. Klein, FS Stern, 1997, S. 1136. 43
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sem Hintergrund stünde erst recht nichts entgegen, wenn der deutsche Gesetzgeber im Gefolge der Europäischen Union ein zusätzliches, speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenes Verfahren einführte; dies mit dem Ziel der Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschneidende oder identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall in Deutschland unangewendet zu lassen56. Wahrung der Verfassungsidentität – von europhilen Schwarmgeistern leichthin als Verfassungsnationalismus denunziert – ist Verfassungsgerichtsbarkeit par excellence. c) Umgekehrt ist nichts gewonnen, die Entscheidungskompetenzen der Fachgerichtsbarkeiten darauf abzuklopfen, ob sie der Sache nach auf die Wahrnehmung einer Art materieller Verfassungsgerichtsbarkeit hinauslaufen. Der größte Verfassungsprozessrechtler des letzten Jahrhunderts, Ernst Friesenhahn, stellte vor ca. 50 Jahren diese Überlegung unter der Überschrift „Ausübung von Verfassungsgerichtsbarkeit durch andere Gerichte“ wohltuend pragmatisch an: „Andere Gerichte üben keine Verfassungsgerichtsbarkeit im strengen Sinn aus. Zwar kommt es in allen Rechtsprechungszweigen vor, dass Gerichte Vorschriften des Grundgesetzes auslegen und anwenden müssen, aber es handelt sich dabei nicht um gerichtliche Verfahren, welche die Einhaltung der Verfassung unmittelbar gewährleisten sollen.“57. In der Tat sollte man sich vor der Verklärung von Fachgerichten zu Verfassungsgerichten (im weiteren Sinne) zurückhalten. Das in Art. 100 Abs. 1 GG vorausgesetzte richterliche Prüfungsrecht, das genau genommen eine Prüfungspflicht ist, macht den iudex a quo nicht zum Verfassungsrichter. Das gilt nicht nur für die von ihm erwartete inzidente (oder diffuse) Normenkontrolle.58 Das Oberverwaltungsgericht, das nach § 47 VwGO im Rahmen einer prinzipalen Normenkontrolle untergesetzliche Rechtssätze, also Normen der Exekutive, am Maßstab höherrangigen Rechts überprüft und ggf. mit Allgemeinverbindlichkeit für nichtig erklärt, verhält sich im Rahmen seiner, nämlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 40 VwGO).59 Nicht jede prinzipale Normenkontrolle erweist sich als materielle Verfassungsgerichtsbarkeit.60 (Umgekehrt mutiert das Bundesverfassungsgericht, das im Rahmen der Kommunalverfassungsbeschwer-
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BVerfGE 123, 267 (354 f.). Dazu Heinrich Amadeus Wolff, DÖV 2010, 49 ff. Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, 1963, S. 21 f. 58 Instruktive Übersicht zu den diversen Normenkontrollvarianten bei Maurer, Staatsreht I, 6. Aufl., 2010, § 20 Rn. 69 ff. 59 Siehe auch BVerfGE 115, 81 (94). 60 Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle ist darum keine Verfassungsgerichtsbarkeit, weil sie allein untergesetzliche Rechtssätze, also nicht formelle Gesetze zum Prüfungsgegenstand hat. Nicht jede prinzipale Normenkontrolle stellt materielle Verfassungsgerichtsbarkeit dar; a.M. Schenke (Fußn. 3), S. 130 ff.; ders., FS Steiner, 2009, S. 686 mit Fußn. 9; Kraayvanger, Der Begriff der verfassungsrechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 2003, S. 52 ff. Die prinzipale Rechtssatzkontrolle des nichtformellen Normenautors betrifft eine öffentlich-rechtliche Rechtsfrage nichtverfassungsrechtlicher Art i. S. des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO. 57
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de nach § 91 BVerfGG i.V. mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG61 eine untergesetzliche Norm überprüft62, nicht zum Oberverwaltungsgericht im Sinne des § 47 VwGO). Der Zivilrichter schließlich, der die interpretationsleitende Wirkung der Grundrechte auf der Rechtsanwendungsebene des Privatrechts zu berücksichtigen hat63, bleibt ordentlicher Richter. d) Vom zweifelhaften Abgrenzungswert einer „materiellen Verfassungsgerichtsbarkeit“ zu trennen ist die Frage der Existenz materieller Verfassungsstreitigkeiten und ihrer Justiziabilität. Das ist ein Problem der Abschichtung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit sowie der Reichweite der Justizgewährungsgarantie(n) des Grundgesetzes. II. Die Abschichtung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit judizieren innerhalb eines sensiblen, durchweg normativ geordneten, differenzierten Beziehungsgeflechts. Es lässt sich nicht vollständig in eindimensionalen Hierarchievorstellungen begreifen. Noch weniger darf es in wolkigen Formeln von gerichtlichen Kooperationsverhältnissen64 und diffusen Mehrebenenbildern aufgelöst werden. Hinter der gemeinsamen Rechtssprechungsfunktion (Art. 92 GG) stehen unterschiedliche Aufgaben, die in einen systematischen Kontext zu bringen sind und auch gebracht werden können. 1. Die systematische Plausibilität der unterschiedlichen Kompetenzzuweisungen Der Verzicht des Grundgesetzes auf eine Generalklausel für das Bundesverfassungsgericht und die Entscheidung für ein konkret aufgeschlüsseltes Prinzip der Einzelzuständigkeit sind zu respektieren, nicht zu korrigieren.65 Die Entscheidung hat ihre spezifische Legitimation. Sie erschließt sich namentlich im Vergleich zu den drei Säulen der Verwaltungsgerichtsbarkeit66 und hier wiederum exemplarisch zur 61 Zum Charakter der Kommunalverfassungsbeschwerde als Rechtssatzverfassungsbeschwerde siehe BVerfGE 107, 1 (8). 62 Dazu BVerfGE 107, 1 (8 f.). 63 BVerfGE 99, 185 (196); 114, 339 (348); 120, 180 (194); siehe auch für das Strafrecht BVerfGE 124, 300 (342). 64 Kritisch gegenüber solchen Einordnungen zurecht schon Zuck, NJW 1994, 978. Übertrieben die Euphorie bei Niemöller, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, Kap. II 6. Abseitig auch die dortige Einschätzung der Strafgerichtsbarkeit als „Juniorpartner“ des BVerfG. 65 Lerche, FS 50 Jahre BayVerfGH, 1997, S. 85. 66 Zur Rechtswegaufspaltung in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art zwischen der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit und den beiden besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeiten s. Gärditz, Die Verwaltung Bd. 43 (2010), 309 ff.
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allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Deren Entscheidungskompetenzen sind durch eine Generalklausel (§ 40 VwGO) geregelt, die unmissverständlich auf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art abstellt. a) Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat eine andere Funktion als die Verwaltungsgerichtsbarkeit(en). Die für sie typischen Generalklauseln (§ 40 VwGO, § 51 SGG, § 33 FGO) sind die logische Konsequenz des Verfassungsbefehls des Art. 19 Abs. 4 GG. Mit anderen Worten: Die verwaltungsgerichtliche Generalklausel ist Korrelat des besonderen Justizgewährungsanspruchs67 bzw. der diesem korrespondierenden staatlichen Justizgewährleistungspflicht.68 Dessen primäres Anliegen ist der Individualrechtsschutz69. Dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit – die allgemeine wie die besondere70 – mittelbar auch das objektive Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) realisiert, steht nicht entgegen. b) Demgegenüber speist sich die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht allein aus anderen – historischen wie aktuellen – Quellen. Vor allem verfolgt sie unterschiedliche Sicherungsanliegen. Ihr primäres oder gar exklusives Ziel ist nicht der Individualrechtsschutz.71 Diesen Eindruck vermittelt zwar die quantitativ alle anderen Verfahren in den Schatten stellende grundrechtsorientierte Verfassungsbeschwerde. Der ursprünglich nur einfachgesetzlich (§ 90 BVerfGG) geregelte Rechtsbehelf ist aber nicht nur erst spät (1969) mit Verfassungsrang (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) ausstaffiert worden. Der Individualrechtsschutz betrifft vor allem nur eine, entwicklungsgeschichtlich erst die dritte Formation der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die erste bilden die klassischen kontradiktorischen Parteistreitigkeiten der staatlichen Binnenorganisation (Bund-Länder-Streitigkeit und Organstreitigkeit). Die zweite repräsentieren die prinzipalen Normenkontrollen des formellen Gesetzgebers. Die Verfassungsgerichtsbarkeit war ganz entscheidend und ist immer noch zum großen Teil auf die vom Individualeingriff gelöste Kontrolle der Gemeinwohlbezogenheit staatlichen Handelns ausgerichtet.72 Ob man so weit gehen kann zu sagen, dass Verfassungsgerichtsbarkeit offenbar typusmäßig Gerichtsbarkeit für den Binnenraum der (Bundes-) Staatlichkeit sei,73 steht zu überlegen; schwerpunktmäßig ist sie das sicher. Dafür spricht immerhin, dass Initiatoren auch der prinzipalen Normenkontrollen – das 67
Dazu BVerfGE 107, 395 (401 ff.). Vgl. Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 40 Rn. 13; Eyermann/Rennert, VwGO, 13. Aufl., 2010, § 40 Rn. 4. 69 Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Einl. Rn. 21, 167 ff.; BVerfGE 116, 1 (11); 116, 135 (149); s. a. Maurer, FS Bethge, 2009, S. 545. 70 Als besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit figurieren auch die auf der Grundlage von „Traditionszuständigkeiten“ judizierenden ordentlichen Gerichte in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art nach Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG, Art. 34 Satz 3 GG; siehe Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl., 2008, § 11 Rn. 55. 71 Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 306. 72 Degenhart, VVDStRL Heft 55 (1996), S. 199 Fußn. 62. 73 Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 3. 68
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sind nicht von ungefähr von Individualbelangen befreite objektive Verfahren74 – hauptsächlich staatliche Funktionsträger sind:75 Bei der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) sind es die Bundesregierung, eine Landesregierung und ein Viertel der Mitglieder des Bundestages; bei der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) ist dies der vorlegende Richter. Auch die kommunale Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG) – vom Verfahrenstypus her eine Normenkontrolle – kann nur von kommunalen Gebietskörperschaften eingeleitet werden, deren Selbstverwaltungsrecht schon lange nicht mehr in einem Freiheitsrecht, sondern in einer kompetenzrechtlichen Verteilungsgarantie verwurzelt ist.76 Wahlprüfung (Art. 41 Abs. 2 GG), Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG) und Parteienverbot (Art. 21 Abs. 2 GG) sind gleichfalls schwerpunktmäßig Verfahren der objektiven Sicherung von Verfassungsrecht. Erst bei der grundrechtsorientierten Individualverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) erweist sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als Institution und Instrument des Individualrechtsschutzes.77 An diesem Befund ändern auch die objektive Funktion des Rechtsbehelfs und dessen genereller Edukationseffekt (Konrad Zweigert) nichts. Die Behauptung von der sog. Doppelfunktion der Verfassungsbeschwerde ist missverständlich. Vorrangig ist individueller Grundrechtsschutz. Der objektiv-rechtliche Institutionenschutz ist nachrangig. Es mag sein, dass sich die Verfassungsbeschwerde nicht ausschließlich im individuellen Grundrechtsschutz erschöpft, sondern dass sie sich auch als spezifisches Rechtsschutzmittel des objektiven Verfassungsrechts78 einschließlich seiner Weiterbildung79 bewährt.80 Doch ist die Sicherung und Fortentwicklung des objektiven Verfassungsrechts sekundäre Nebenerscheinung des individuellen Grundrechtsschutzes, nicht das gleichrangige oder gar vorrangige Anliegen des außerordentlichen Rechtsbehelfs.81
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BVerfGE 68, 346 (350 f.); 101, 158 (213); ferner BVerfGE 20, 350 (351). Zum Charakter des Verfahrens nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG als objektives Verfahren siehe Jarass/Pieroth (Fußn. 10), Art. 93 Rn. 19. - Zur Aufgabe der Interpretation der objektiven Grundlinien der Verfassung in den Normenkontrollklagen Scheuner, BVerfG und GG I, 1976, S. 61. 75 In dieser Richtung Mahrenholz, ZRP 1997, 132. 76 Dazu Bethge, FS von Unruh, 1983, S. 149 ff. – Zur Unangemessenheit der Bezeichnung kommunale „Verfassungsbeschwerde“ vgl. Bethge, Jura 1997, 593 mit Fußn. 36, 594 mit Fußn. 48; siehe weiter Häberle, JöR n.F. Bd. 45 (1997), 129; Schlaich/Korioth (Fußn. 46), Rn. 192; Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl., 2010, § 20 Rn. 139. 77 Vgl. dazu Rozek, DVBl. 1997, 517 ff.; Wolfgang Meyer (Fußn. 15), Art. 93 Rn. 57; Gusy, FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 644; Hopfauf (Fußn. 5), Art. 93 Rn. 152. 78 BVerfGE 94, 166 (214); 98, 218 (243); Hoffmann-Riem, AöR Bd. 128 (2003), S. 176; vgl. auch Eckart Klein, DÖV 1982, 797 f.; Schlaich/Korioth (Fußn. 46), Rn. 205. 79 BVerfGE 79, 365 (367); 85, 109 (113); Rupp, FS Schiedermair, 2000, S. 433. 80 BVerfGE 33, 247 (258 f.); 45, 63 (74); 81, 278 (290); 85, 109 (113). 81 Bethge, HGR III, 2009, § 72 Rn. 90.
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2. Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in verfassungsrechtlichen Streitigkeiten Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten konzentriert. Es ist verbindliche Instanz in Verfassungsfragen.82 Nach Wolfgang Löwer ist es in erster Linie (wenn auch nicht notwendig ausschließlich) Verfassungsfachgericht mit letztverbindlicher Entscheidungszuständigkeit in Verfassungssachen.83 Dem Bundesverfassungsgericht kommt im Rahmen seiner Zuständigkeiten und in Abgrenzung zur Fachgerichtsbarkeit das rechtlich gesicherte Monopol zur autoritativen Entscheidung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten zu84. Dem korrespondiert das Prinzip, dass dem Bundesverfassungsgericht nur Verfassungsstreitigkeiten unterbreitet werden können85. a) Den Fachgerichten ist die prinzipale Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten versagt. Dem entspricht es, dass die für die Fachgerichtsbarkeiten maßgeblichen Generalklauseln des einfachen Rechts die Spruchkörper ausdrücklich oder mittelbar lediglich zur Entscheidung von (öffentlich-rechtlichen) Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art berufen (vgl. §§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 51 Abs. 1 SGG, 33 Abs. 1 FGO). Das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts in Verfassungsstreitigkeiten muss gewahrt bleiben. Zu seiner Sicherung bestehen Pflichten der obersten Bundesgerichte zur Vorlage (vgl. §§ 50 Abs. 3 VwGO, 39 Abs. 2 SGG), die das Bundesverfassungsgericht konsequenterweise nicht binden kann.86 b) Die negative Bestimmung der öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, die auch bei der Subsidiaritätsklausel zur Verfahrenstrias des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG relevant wird, nötigt spiegelbildlich zu einer Definition der verfassungsrechtlichen Streitigkeit.87 Bei dieser positiven Qualifikation ergibt sich, dass die Verfassungsstreitigkeit nicht auf die enumerativen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts beschränkt ist. Entsprechend meint „nichtverfassungsrechtlich“ in § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht etwa „nichtverfassungsgerichtlich“.88 Es dominiert insoweit also ein materieller bzw. funktionaler Begriff der Verfassungs-
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BVerfGE 40, 88 (94); 67, 26 (34). Fußn. 5, § 70 Rn. 34. – Der Ausdruck Fachgericht für das Bundesverfassungsgericht sollte versöhnlich stimmen gegenüber der als untunlich empfundenen Qualifikation der fünf anderen Gerichtsbarkeiten des Art. 95 GG als „Fachgerichtsbarkeit“. Kritisch Hopfauf (Fußn. 5), Art. 93 Rn. 12. 84 Löwer (Fußn. 5), Rn. 5, 36. 85 Hillgruber/Goos (Fußn. 27), Rn. 42; Hopfauf (Fußn. 5), Art. 93 Rn. 215; weniger eng Wolfgang Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, 2001, S. 135 ff. 86 Lechner/Zuck (Fußn. 53), Vor § 71 Rn. 10 f.; Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 36 mit Fußn. 318; siehe auch BVerfGE 109, 1 (6); Sachs, DÖV 1981, 767 ff. 87 Lerche (Fußn. 65), S. 79; Bethge, Jura 1998, 529. 88 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 11. Aufl., 2007, Rn. 126. 83
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streitigkeit,89 der weiter reicht als die formelle verfassungsgerichtliche Zuständigkeit. (Formelle) Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsstreitigkeit fallen nicht zusammen, genauer: sie sind nicht völlig deckungsgleich. Der Begriff der Verfassungsstreitigkeit reicht weiter.90 Dies hat Konsequenzen. 3. Die falsche These von der Justitiabilität aller Verfassungsstreitigkeiten Verfassungsstreitigkeiten sind nicht durch die Bank justitiabel. Die verquere Vorstellung eines totalen Rechtsprechungsstaates, der keine justizfreien Räume kennt,91 erfährt insoweit eine berechtigte Korrektur. a) Angesichts des Auseinanderfallens von verfassungsgerichtlichen, d. h. den Verfassungsgerichten gesetzlich, aber nur enumerativ zugewiesenen Streitigkeiten und materiellen Verfassungsstreitigkeiten ist es in der Tat zwangsläufig, dass nicht alle Verfassungsstreitigkeiten vor die Verfassungsgerichte kommen.92 Andererseits sind sie aber auch der Entscheidungskompetenz der (Verwaltungs-)Fachgerichtsbarkeit entzogen, weil die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit wie die Sonderverwaltungsgerichtsbarkeiten93 eben nur in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art befinden dürfen; der Rechtsweg zu den Fachgerichten ist also versperrt.94 Die Fachgerichtsbarkeiten haben – auf den ersten Blick paradoxerweise – die Exklusivität der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte in Verfassungssachen95 auch dann zu wahren, wenn deren Entscheidungskompetenz auf Grund der limitierenden Wirkung des Enumerationsprinzips gerade nicht eröffnet ist. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist keine Ersatzverfassungsgerichtsbarkeit und auch keine Notverfassungsgerichtsbarkeit. Die exakte Bemessung des Begriffs Verfassungsstreitigkeit bleibt unverzichtbar.96 Mit fatalistischen Grenzenlosigkeitsschlüssen lässt sich die Problematik nicht beiseiteschieben97. 89
BVerfGE 94, 297 (310); Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, § 40 Rn. 148; Eyermann/Rennert (Fußn. 68), § 40 Rn. 18 f. 90 Lerche (Fußn. 65), S. 85 m.w.N. in Fn 23; s.a. BVerfGE 13, 54 (90). 91 Kritisch Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986. Siehe auch Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 4: Lückenloser Verfassungsrechtsschutz ganz im allgemeinen wird nirgends versprochen. 92 Eyermann/Rennert (Fußn. 68), § 40 Rn. 18 ff.; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl., 2006, Rn. 163. 93 BVerfGE 46, 166 (178 f.). – Als funktionelle Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit figuriert neben der Sozial- und der Finanzgerichtsbarkeit auch die ordentliche Gerichtsbarkeit, wenn sie über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten befindet (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 VwGO). Zum Teil bestehen sogar verfassungsrangige Traditionszuständigkeiten der ordentlichen Gerichte (Art. 14 Abs. 3 Satz 4 und Art. 34 Satz 3 GG). 94 Sachs, FS Stern, 1997, S. 480. 95 Vgl. Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 4. 96 Lerche (Fußn. 65), S. 79; Umbach, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, Vor §§ 63 ff. Rn. 37 mit Fußn. 62; Eyermann/Rennert (Fußn. 68), § 40 Rn. 17 ff. 97 So zutreffend Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 40 Rn. 32 b.
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b) Nicht alle Verfassungsstreitigkeiten sind also justitiabel.98 Mit Art. 19 Abs. 4 GG, der jedem Betroffenen Gerichtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt einräumt, ist dieses scheinbare Rechtsschutzvakuum sehr wohl vereinbar. Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verbürgt Rechtsschutz nur gegen die hoheitlich handelnde Exekutive99 unter Einschluss der untergesetzlichen Normsetzung.100 Die öffentlichrechtliche Verwaltungstätigkeit ist Gegenstand dieser Rechtsschutzgarantie. Ihre wesentliche Zielsetzung besteht darin, die „Selbstherrlichkeit“ der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger zu beseitigen.101 Das Rechtsschutzziel des Art. 19 Abs. 4 GG wird durch die generelle Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art verwirklicht.102 Verfassungsrechtliche Streitigkeiten gehören dazu nicht103. Die dem Art. 19 Abs. 4 GG inhärente Forderung nach effektivem Rechtsschutz104 steht diesem – letztlich restriktiven – Befund nicht entgegen. Das Postulat darf nicht verselbständigt werden; es gilt nur innerhalb des Anwendungsbereichs, den die Verfassung dem Art. 19 Abs. 4 GG zuweist.105 Dasselbe betrifft den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 20 Abs. 3 GG, der sich – als „privatrechtswirksames Pendant zur öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzgarantie“106 – auf zivilrechtliche Streitigkeiten bezieht107. Auch das Anliegen lückenlosen Rechtsschutzes darf nicht aus dem jeweiligen Normzusammenhang gelöst werden. Es stellt keinen Widerspruch dar, dass es bestimmte, dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eröffnete Verfahrensarten gibt, die das Gericht auf einen lückenlosen gerichtlichen Schutz festlegen.108 c) Das formelle Hauptgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet mithin den Rechtsweg allein für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art. Der Begriff „Rechtsweg“ umfasst dagegen nicht verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz (z. B. gegen den formellen Gesetzgeber109), auch nicht die dem Indivi98
Wolfgang Roth (Fußn. 85), S. 393. BVerfGE 35, 263 (274); 49, 329 (341); 107, 395 (403 ff.); 112, 185 (207); 122, 248 (270 f.). 100 BVerfGE 115, 81 (92). 101 So zutreffend Schenke, HGR III, § 78 Rn. 17. 102 Degenhart, HStR III, 2. Aufl., 1996, § 75 Rn. 8; Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 4 mit Fußn. 25. 103 BVerfGE 99, 1 (19). 104 Vgl. BVerfGE 97, 298 (315). 105 BVerfGE 49, 329 (341). Unklar insoweit Häberle, JöR n. F. Bd. 45 (1997), 115 f. 106 So Walter Leisner, DVBl. 2010, 964, im Anschluss an Maurer, FS Bethge, 2009, S. 513. 107 BVerfGE 107, 395 (401); 116, 135 (150). 108 Für Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, 3. Var. BVerfGE 4, 375 (377); dazu Scholtissek, FS Gebhard Müller, 1970, S. 462; Zierlein, EuGRZ 1991, 308. Zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 b GG siehe Grupp, FS Stern, 1997, S. 1112 f. 109 Zur öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zählt nicht der formelle Gesetzgeber; vgl. BVerfGE 24, 33 (49); 24, 367 (401); 107, 395 (403 f.) m.w.N. pro et contra; 99
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dualrechtsschutz dienenden Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) und der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG).110 Das Bundesverfassungsgericht setzt zwar den als Grundrecht verbürgten Justizgewährleistungsanspruch zu den Fachgerichten mitsamt der Effektivität des Rechtsschutzes durch, namentlich im Verfahren der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i. V. mit Art. 19 Abs. 4 GG).111 Auch der Verwaltungsrichter ist in Pflicht genommen. Bemisst er den nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebotenen Rechtsschutz des Bürgers gegenüber der Verwaltung zu restriktiv, verletzt er dessen Grundrecht auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Gegen die richterliche Entscheidung ist nach Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs die Verfassungsbeschwerde zulässig,112 die sich exakt - auch gegen den angefochtenen Verwaltungsakt richtet. Dabei geht es um den Rechtsschutz in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, um den sich Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG bemüht.113 Doch rechnet der Verfassungsrechtsweg selbst nicht zu dem Rechtsweg, den Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert.114 Zum dort geregelten Rechtsschutzauftrag der Fachgerichte zählt Rechtsschutz in materiellen Verfassungsstreitigkeiten gerade nicht. Auch die – ohnehin nur noch idealtypische – subsidiäre Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG ist materiell Verwaltungsrechtsprechung,115 ist also an die für die Verwaltungsgerichtsbarkeit maßgebliche, d. h. beschränkte Entscheidungskompetenz angeseilt.116 116, 135 (149). Zum Rechtsschutz über Art. 19 Abs. 4 GG gegen untergesetzliche Normen BVerfGE 115, 81 (92); Schenke, FS Steiner, 2009, S. 697. - Bei formellen Gesetzen wird Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG lediglich dann als Prüfungsmaßstab herangezogen, wenn die gewählte staatliche Handlungsform – eben das Gesetz – den durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierten effektiven Rechtsschutz zu schmälern droht; vgl. BVerfGE 24, 367 (398 ff.); 45, 297 (331, 333); 95, 1 (22). Dazu Hufeld, JZ 1997, 302 ff.; Bethge, VVDStRL Heft 57 (1998), S. 34 f. Ebenso ist der Verfahrensgesetzgeber durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gehalten, in den Verfahrensordnungen den Rechtsschutz gegen die Exekutive effektiv zu gestalten; BVerfGE 97, 298 (315). Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist im übrigen ein „normgeprägtes“ Grundrecht; vgl. BVerfGE 97, 298 (315); 107, 395 (408); 116, 135 (150); Bethge, GS Tettinger, 2007, S. 381; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 368. Verfehlt der normprägende parlamentarische Gesetzgeber das Normziel des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, d. h. funktionsgerechten, effektiven Rechtsschutz, ist Art. 19 Abs. 4 verletzt und ist dieser Verstoß über Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG verfassungsbeschwerdefähig. 110 So aber Peter M. Huber (Fußn. 109), Art. 19 Abs. 4 Rn. 472; a. M. Rozek, DVBl. 1997, 522. 111 Vgl. BVerfGE 35, 263 (274); 60, 253 (296); 84, 34 (49). 112 BVerfGE 125, 104 (136 f.); s.a. BVerfGE 97, 298 (315 f.); 107, 299 (270 f.). 113 Das gleiche gilt für den Zivilrichter, der den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt. Dazu BVerfGE 107, 395 (403); 116, 135 (150); 122, 248 (270 f.). 114 BVerfGE 99, 1 (19), unter Hinweis auf BVerfGE 1, 332 (344). 115 Vgl. schon Friesenhahn, FS Thoma, 1950, S. 49. 116 Bethge, Jura 1998, 532; wie auch Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 4 mit Fußn. 25, unter Hinweis auf Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. IV Rn. 294; vgl. auch Eyermann/Rennert (Fußn. 68), § 40 Rn. 4 f.
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d) Auf nachhaltigen Widerspruch stößt darum die Instrumentalisierung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG als Erzwingungsnorm, mit Hilfe derer vermeintlich defizitärer verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz aktiviert werden soll. Für die Verfassungsstreitsachen des staatsorganisationsrechtlichen Binnenraumes wäre ein solche Konstruktion nachgerade schon abenteuerlich.117 Der kritische Vorbehalt gilt aber auch für das Unternehmen, die individualrechtlich zugeschnittene Verfassungsbeschwerde des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG bzw. (fehlende) Landesverfassungsbeschwerden unter den Schutzschirm des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu stellen. Beide Rechtsschutzgarantien – Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG einerseits, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG andererseits – haben unterschiedliche Wurzeln. Sie verfolgen verschiedenartige Anliegen.118 Sie liegen nicht auf einer Ebene.119 Maßgebendes Credo ist auch hier, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im Kern nur fachgerichtlichen Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung, aber keinen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet, auch keinen individualgrundrechtlichen Schutz nach Art des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG.120 Anders gewendet: Unzuträglichkeiten bei der gesetzlichen Ausgestaltung der Verfassungsbeschwerde oder bei ihrer praktischen Handhabung dürfen nicht am Maßstab des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gemessen werden.121 Vielmehr können mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde Rechtsschutzverletzungen des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ausgeräumt werden, der sich aber selbst über die Verfassungsbeschwerde nicht verhält. Der Rechtsschutz des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG reicht also weiter als der nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. e) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG wird bei dieser traditionellen Sichtweise nicht zu einer Norm minderer Art und Güte. Die richtige Handhabung seiner Freiräume hat Entlastungsfunktion, die der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts zustatten kommt. Zwei aktuelle Beispiele: aa) Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keinen fachgerichtlichen Instanzenzug.122 Sehen aber prozessrechtliche Vorschriften ein Rechtsmittel vor, so verbietet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG den Gerichten eine Auslegung und Anwendung dieser Rechtsnormen, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs in einer unzumutbaren, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren.123 Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ lassen.124 Sol117
Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 4 Fußn. 25. Zum Verhältnis zwischen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG siehe Schlaich/Korioth (Fußn. 46), Rn. 196; Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 3 mit Fußn. 22. 119 Kloepfer, DVBl. 2004, 678. 120 Falsch daher Frenz, DÖV 1993, 852; Häberle, JöR n.F., Bd. 45 (1997), 116; merkwürdig Hufen, NdsVBl. 2010, 123. 121 A.M. Kraayvanger (Fußn. 60), S. 157; wie hier Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 3 Fußn. 22. 122 BVerfGE 87, 48 (61); 92, 365 (410); 104, 220 (231); 125, 104 (136 f.). 123 BVerfGE 54, 94 (96 f.); 77, 275 (284); 78, 88 (99); 112, 185 (208); 125, 104 (137). 124 BVerfGE 112, 185 (208); BVerfG(K), NJW 2011, 138. 118
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che Justizverweigerung durch den Fachrichter kann mit einer auf die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gestützten Verfassungsbeschwerde erfolgreich gerügt werden. Andererseits gehört die Absolvierung des gesamten fachgerichtlichen Instanzenzuges, wenn er denn vorgesehen ist und beschritten werden kann, zum Rechtsweg, der entsprechend § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen ist. bb) Auf eine andere interessante Konsequenz weist Wolf-Rüdiger Schenke hin.125 Nachdem das Bundesverfassungsgericht inzidenten Rechtsschutz gegen untergesetzliche Normen als zulässigen Rechtsweg im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG bewertet,126 ist es nur folgerichtig anzunehmen, dass es auch insoweit einen fachgerichtlichen Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gibt, den der Beschwerdeführer zu erschöpfen hat. Des Rückgriffs auf den allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde – so das Bundesverfassungsgericht – bedarf es da gar nicht mehr. f) Ansonsten bleibt es dabei, dass Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht die Verfassungsbeschwerde garantieren kann, mit Hilfe derer er selbst aktiviert wird. Das Ergebnis wäre – von der juristischen Unlogik abgesehen – der kontraproduktive regressus ad infinitum des totalen Rechtsstaats (Karl August Bettermann). III. Die Reichweite der materiellen Verfassungsstreitigkeit Inhalt und Umfang sind im Grunde schon per definitionem nicht abschließend bestimmbar. Verfassungstheoretische Grundanforderungen sind unergiebig und fehl am Platze. Die konkrete positive Verfassungsentscheidung mit ihren einfachrechtlichen Ablegern ist maßgebend.127 Für diese normative Lage ist kennzeichnend, dass es schon angesichts der Heterogenität der verfassungsgerichtlichen Einzelzuständigkeiten einen generalklauselartig gefassten Referenz-, Komplementär- oder Kontrastbegriff der überschießenden materiellen Verfassungsstreitigkeit nicht geben kann. Doch ist das kein Nachteil. Man muss sich an konsentierten exemplarischen Fallkonstellationen orientieren und von hierher für zusätzliche oder benachbarte Problemlagen Lösungen versuchen und deren Verallgemeinerungsfähigkeit testen. 1. Die Figur der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit Die Strahlkraft dieser Lehre scheint in der Tat immer noch ungebrochen.128 Solche Anerkennung verdient sie auch, sofern man sie nicht als Passepartout-Argument für alle Verfassungsstreitigkeiten (namentlich im Rahmen der Rechtswegabgrenzung 125
FS Steiner, 2009, S. 724. BVerfGE 115, 81 (92). 127 Siehe zu Parallelproblemen auch Matthias Cornils, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 699. 128 Dazu Löwer (Fußn. 5), § 70 Rn. 6 m.w.N. 126
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des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) einsetzt.129 Doch ist die Anwendungsbreite der Figur begrenzt. Lautet die Sprachregelung, es müssten Organe des Verfassungsrechts sein, die ihre Rechtspositionen unmittelbar im Verfassungsrecht finden, sieht sich damit lediglich die unproblematische „eigentliche“ Verfassungsorganstreitigkeit definiert. Schon die Bund-Länder-Streitigkeit, die keine interföderative Organstreitigkeit ist, sondern eine Verbandsstreitigkeit darstellt, würde davon nicht mehr erfasst. Diese terminologische Unsauberkeit scheint zwar mittlerweile behoben; man spricht neutral von Rechtsträgern, zu denen Organe und Verbände rechnen. Aber auch dann ist für den Verfassungsstreit außerhalb des staatlichen Binnenraums nichts gewonnen. Immerhin leistet die Definition der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit gute Abgrenzungsdienste gegenüber der Figur der verwaltungsrechtlichen Organstreitigkeit, bei der es um die Rechtmäßigkeit des organschaftlichen Funktionsablaufs zwischen Rechtsträgern geht, deren Kompetenzen einfachrechtlich geregelt sind.130 2. Die prinzipale Normenkontrolle des formellen Gesetzgebers Der Begriff Verfassungsstreitigkeit umgreift auch (parteienlose) Verfahren objektiver Art, in denen die Norm selbst im Mittelpunkt steht.131 Entscheidendes Kriterium für die Zugehörigkeit der prinzipalen Normenkontrolle zu den materiellen Verfassungsstreitigkeiten ist die Qualität der verfahrensgegenständlichen Norm als Rechtssatz des formellen Gesetzgebers. Der Fachgerichtsbarkeit ist die Verwerfungskompetenz entzogen (arg. Art. 100 Abs. 1 GG). Stehen parlamentsautorisierte Normen in Rede, darf die Normbeanstandung namentlich in Form der Nichtig- oder Unvereinbarerklärung, aber auch die Normbestätigung wegen der Allgemeinverbindlichkeit des Judikats (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) nur vom Bundesverfassungsgericht verfügt werden.132 Hierin liegt der Unterschied zur untergesetzlichen Rechtsnorm der Verwaltung, deren prinzipale Kontrolle und gegebenenfalls Kassation von der Verwaltungsgerichtsbarkeit wahrgenommen werden dürfen. Da der Fachgerichtsbarkeit die Kontrolle des Parlaments in Sachen Legiferierung versagt ist, kann nichts anderes für die Überprüfung und Beanstandung normakzessorischer Begleitmaßnahmen (z. B. Gesetzesinitiative oder Anhörungen) gelten. 3. Die Verfassungsbeschwerde als Normkontrollklage und Normerlassklage Abschied zu nehmen ist von der Vorstellung, zwischen Bürger und Staat könnten keine verfassungsrechtlichen Streitigkeiten bestehen. Die Annahme, der Staat kommuniziere mit den im status negativus verharrenden Bürgern nicht, steht augenschein129 130 131 132
Kritisch Bethge, JuS 2001, 1100 f. Wolfgang Roth (Fußn. 85), passim; Bethge, HKWP I, 3. Aufl., 2007, § 28 Rn. 39. Dazu BVerfGE 1, 208 (218 f.); 27, 240 (245 f.). Bethge, Jura 2009, 18 ff.
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lich immer noch unter der majestätischen Nachwirkung der „eigentlichen“ Verfassungsstreitigkeit, die die Befindlichkeit des staatsinternen Binnenraumes zum Maßstab aller Dinge macht. Im grundrechtsintrovertierten Verfassungsstaat des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 3 GG)133 ist für solche großspurigen Exklusionen des Grundrechtsträgers aus dem Kreis der möglichen Parteien von Verfassungsstreitigkeiten kein Raum. Sicher: Grundrechtsstreitigkeiten des Bürgers mit dem verwaltenden Staat sind öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art (arg. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). a) Aber auch der parlamentarische Gesetzgeber kann mit dem Bürger in Grundrechtskonflikt geraten. Dann liegt eine Kontroverse unmittelbar verfassungsrechtlichen Charakters vor, die die Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit übersteigt.134 Verfahrensrechtlich kommt in diesem Fall die Verfassungsbeschwerde zum Zuge. Gegenüber Grundrechtrechtsverletzungen des Gesetzgebers wird die gesetzesunmittelbare (oder Rechtssatz-)Verfassungsbeschwerde relevant. Sie bleibt sicherlich trotz § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG eine Ausnahmeerscheinung. Angesichts der hohen Zulässigkeitshürden, an deren Spitze der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, ist eine Umgehung der „eigentlichen“ prinzipalen Normenkontrollen mit ihren qualifizierten bzw. privilegierten Antrags- und Vorlagebefugnissen nicht zu besorgen.135 Schwierigkeiten bereitet vor allem die Beschwerdebefugnis. Der Beschwerdeführer muss von der Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. b) Auch der untätige Normgeber kann in Pflicht genommen werden. aa) Steht ein Unterlassen exekutiver Rechtsetzung in Rede, sind zunächst die verwaltungsprozessualen Möglichkeiten der Normenerlassklage auszuloten. Ansprüche auf Erlass untergesetzlicher Rechtsnormen sind vor den Verwaltungsgerichten einzuklagen.136 Es handelt sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art, die von Hause aus der Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichtsbarkeit überantwortet sind. Erst nach der Absolvierung des verwaltungsgerichtlichen Instanzenzuges ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. bb) Auch ein Unterlassen des formellen Gesetzgebers kommt in Betracht.137 Die Situation wird akut, wenn Grundrechten eine staatliche Schutzpflicht zu entnehmen ist, aus der Handlungspflichten des Gesetzgebers resultieren können.138 Auch die auf 133
Bethge, HGR III, § 72 Rn. 1. BVerfGE 70, 35 (55). 135 Dazu BVerfGE 79, 1 (14 f.); Hans H. Klein, in: Starck (Hrsg.), Fortschritte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Welt – Teil II, 2005, S. 152. 136 Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO-Kommentar, § 42 Abs. 1 Rn. 160; Reidt, DVBl. 2000, 602 ff., 609 mit Fußn. 60; a.M. Schenke, VerwArch. Bd. 82 (1991), 336 ff.; Kraayvanger (Fußn. 60), S. 111 f. 137 BVerfGE 56, 40 (70); Hillgruber/Goos (Fußn. 27), Rn. 150; Hopfauf (Fußn. 5), Art. 93 Rn. 176. 138 Vgl. Wolfgang Meyer (Fußn. 15), Art. 93 Rn. 57; siehe auch Calliess, JZ 2006, 321 ff. 134
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Handeln des formellen Gesetzgebers zielende „Untätigkeits“-Verfassungsbeschwerde unterliegt dem Verbot der Popularklage. Notwendig ist nicht nur die Existenz einer in den Grundrechten radizierten staatlichen Schutzpflicht.139 Erforderlich sind weiter eine dieser objektiven Pflicht korrespondierende hinreichend individualisierbare konkrete Rechtsposition des Beschwerdeführers und die Plausibilität gerade seiner (behaupteten) Rechtsverletzung.140 Die meisten Verfassungsbeschwerden scheitern daran, dass es den subjektiv einklagbaren „Leistungsanspruch“ auf parlamentarische Gesetzgebung nicht gibt.141 Wie auch immer: Der Sache nach handelt es sich bei dieser Konstellation um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit.142 Es wird der formelle Gesetzgeber in Pflicht genommen. Nur das Verfassungsgericht, nicht aber die Fachgerichtsbarkeit kann äußerstenfalls das Parlament mittels einer Rechtsetzungsdirektive zum Handeln verpflichten. IV. Schlussbemerkung Die Verfassungsstreitigkeit ist keine Figur mehr allein des praxisfernen Hochrechts des Grundgesetzes. Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung bewirkte ihre Einbeziehung ins einfachrechtliche Prozessrecht. Sie liegt im Spannungsfeld zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit. Die Zahl der Experten, die dieses Feld abzustecken vermögen, ist überschaubar. Ein Meister im relativ geschlossenen Kreis der Interpreten des Verfassungsprozessrechts wie des Fachprozessrechts ist Wolf-Rüdiger Schenke.
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Jarass/Pieroth (Fußn. 10), Art. 93 Rn. 50a. BVerfGE 77, 170 (215); 114, 258 (274 f.); Benda/Klein (Fußn. 12), Rn. 494. 141 So zutreffend Horst Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GGK I, 2. Aufl. 2004, Vorb Rn. 95; siehe auch Bethge, FS Isensee, 2007, S. 622 f.; differenzierend Sachs, FS Bethge, 2009, S. 266. 142 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl., 2006, Rn. 166; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 40 Rn. 32 g; a.M. Hufen (Fußn. 70), § 11 Rn. 50. 140
Verfassungsfragen der FraktionsenquÞte Von Christoph Degenhart I. Anlass und Gegenstand der Untersuchung: die „FraktionsenquÞte“* Regularien zu entwickeln für das politische Kräftespiel, einen verlässlichen Rahmen zu schaffen für das Zusammenwirken der Verfassungsorgane, das nie umfassend und abschließend in verfassungsrechtliche Kautelen eingebunden werden kann, aber auch für den Ausgleich im Verfassungskonflikt, diese wesentliche Aufgabe des Staatsrechts bezeichnet ein wesentliches Anliegen und einen Schwerpunkt im wissenschaftlichen Werk von Wolf-Rüdiger Schenke.1 Eines der zentralen Konfliktfelder im Verhältnis von Parlament und Regierung, aber auch im Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition bezeichnet hierbei das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Das parlamentarische EnquÞterecht ist auf Bundes- wie auf Landesebene eines der grundlegenden organspezifischen Rechte des Parlaments zur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben vor allem gegenüber der Regierung und der ihr zugeordneten Exekutive.2 Die Kontrolle der Regierung bezeichnet den „Kernbereich“ des parlamentarischen Untersuchungsrechts.3 Es ist dies nach seiner Entwicklung und Funktion vor allem ein Recht der Opposition, der parlamentarischen Minderheit.4 In der Folge einer die Gewaltenteilung im Verhältnis von Exekutive und Legislative überlagernden Einheit der politischen Gewalt5 ist diese Funktion immer
* Der Beitrag beruht auf einem der Fraktion der CDU im Landtag Rheinland-Pfalz erstatteten Rechtsgutachten. 1 Neben seiner Monographie „Die Verfassungsorgantreue“, 1977 sei beispielhaft verwiesen für den Themenkomplex der Vertrauensfrage und vorzeitigen Bundestagsauflösung auf Schenke, NJW 1982, 2521 ff.; NJW 1983, 150 ff.; NJW 2005, 1844 ff.; für die Abstimmung im Bundesrat auf Schenke, NJW 2002, 1318. ff.; vgl. ferner die umfassende Kommentierung der Art. 63 – 69 GG im Bonner Kommentar durch Schenke. 2 Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, Rn. 13/139; Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 44 Rn. 1; BVerfGE 105, 197 (222). 3 BVerfGE 77, 1 (43); 105, 197 (222); Masing, Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte, 1998, S. 170. 4 BVerfGE 105, 197 (222). 5 Vgl. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 1975, S. 126; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 45.
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mehr in den Fokus des parlamentarischen Untersuchungsrechts getreten.6 Dieses hat sich „unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems maßgeblich zu einem Recht der Opposition auf eine Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit entwickelt“.7 Mit dieser im Schwerpunkt gegen die Regierung und die ihr nachgeordnete Exekutive gerichteten verfassungsrechtlichen Funktion des parlamentarischen Untersuchungsrechts, ungeachtet einer ausnahmsweisen Zulässigkeit der Untersuchung auch parlamentsinterner Vorgänge,8 und mit seiner Ausrichtung vor allem als Recht der Opposition, erscheint es nicht ohne weiteres vereinbar, wenn das Parlament auf Antrag der die Regierung tragenden Mehrheitsfraktion die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gegen eine in Opposition zur Regierung stehende Minderheitsfraktion beschließt. Eben dies war – soweit ersichtlich, in der parlamentarischen Praxis der Bundesrepublik erstmalig9 – der Fall im Landtag Rheinland-Pfalz im Vorfeld der Landtagswahlen 2011. Die die Landesregierung tragende Mehrheitsfraktion beantragte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Zusammenhang mit Vorgängen um die Verwendung von Fraktionsgeldern durch die Oppositionsfraktion,10 Vorgänge, die Gegenstand eines Berichts des Landesrechnungshofs gewesen waren. Diese präzedenzlose Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich gegen eine Parlamentsfraktion und damit gegen einen wesentlichen Teil des Parlaments selbst richtet, wurde vom Verfassungsgerichtshof des Landes Rheinland-Pfalz im Grundsatz für zulässig erklärt,11 andererseits wurden angesichts des damit einhergehenden intensiven Eingriffs in die verfassungsrechtlichen Rechte der betroffenen Fraktion, insbesondere der Oppositionsfraktion,12 qualifizierte Anforderungen an dessen Rechtfertigung aufgestellt.13 Den mit einer derartigen „FraktionsenquÞte“14 aufgeworfenen Verfassungsfragen ist im Folgenden nachzugehen. 6
Vgl. Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 44 Rn. 3. BVerfGE 105, 197 (222). 8 Vgl. Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 44 Rn. 21; Degenhart, Staatsrecht I, 26. Aufl. 2009, Rn. 640. 9 Vgl. Landtag Rheinland-Pfalz – Wissenschaftliche Dienste: Zulässigkeit eines Untersuchungsausschusses des Landtags zur CDU-Finanzaffäre, Gutachten vom 12. Mai 2010, S. 6. 10 Ldtg-Drucksache 15/4687 vom 15. 06. 2010. 11 U. v. 11. 10. 2010 – VGH O 24/10 –, VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504. 12 VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505 f.); – die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition ist in Art. 85 b LVerfRhPf ausdrücklich anerkannt, ähnlich zB Art. 38 Abs. 3 und Art. 49 Abs. 4 BerlVerf, Art. 48 Verf LSA, Art. 16a BayVerf; für das Demokratieprinzip des Grundgesetzes s. Huber, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 47 Rn. 70 ff. 13 VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1506 f.). 14 Der Begriff der FraktionsenquÞte findet sich, eben wegen der Präzedenzlosigkeit des Vorgangs, bisher nicht in der Rechtsprechung und im rechtwissenschaftlichen Schrifttum – im Unterschied etwa zur „KollegialenquÞte“; er wird im Folgenden zugrunde gelegt, da er die Fallgestaltung am treffendsten kennzeichnet. 7
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II. Die nähere Problemstellung – verfassungsrechtliche Funktionen und zulässige Gegenstände des parlamentarischen EnquÞterechts 1. Parlamentsfunktionen und EnquÞterecht Die FraktionsenquÞte, wie sie von der Mehrheit des Landtags Rheinland-Pfalz beschlossen wurde, ist auf die Untersuchung von Vorgängen im Bereich einer Fraktion des Landtags gerichtet. Sie richtet sich gegen diese Fraktion als Untergliederung des Landtags,15 als Teil des Parlaments. Es handelt sich also in der Tat um eine Untersuchung des Parlaments gegen sich selbst. Dies steht im Widerspruch zur verfassungsrechtlichen Funktion des parlamentarischen EnquÞterechts. Gesetzgebung und Kontrolle gegenüber der Exekutive, insbesondere der Regierung, sind Hauptfunktionen des Parlaments in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes.16 Entsprechend diesen bestimmenden verfassungsrechtlichen Funktionen des Parlaments in Bund und Ländern sind die verfassungsmäßigen Aufgaben der Untersuchungsausschüsse zu bestimmen. Dessen Kontrollfunktionen zugeordnet sind in ihrer verfassungsrechtlichen Funktion die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in der Erscheinungsform der KontrollenquÞte – in Unterscheidung zur sog. GesetzgebungsenquÞte,17 die, als Korrelat zur Gesetzgebungsfunktion des Parlaments, diesem bei komplexeren Gesetzgebungsvorhaben die notwendigen Sachinformationen verschaffen soll, in der Praxis – und auch im vorliegenden Fall – jedoch keine Rolle spielt.18 2. Regierungskontrolle als Kernbereich des parlamentarischen Untersuchungsrechts Geht es also bei den Kontrollfunktionen des Parlaments in erster Linie um die Kontrolle der Exekutive und insbesondere der Regierung, so geht es gleichermaßen bei der KontrollenquÞte des Parlaments vor allem um deren Kontrolle, um die Untersuchung von Sachverhalten in deren Bereich. Wenn sich hierbei das EnquÞterecht des Parlaments unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems zudem maßgeblich zu einem Recht der Opposition auf eine Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und den Mehrheitsfraktionen entwickelt hat, so liegt damit sein sachlicher Schwerpunkt weiterhin auf der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung.19 Soweit auch Vorgänge im nichtstaatlichen Bereich, gesellschaftliche und private Sachverhalte, zum Gegenstand einer parlamentarischen 15
Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 109. Vgl. Degenhart, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 26. Aufl. 2010, Rn. 598. 17 Vgl. hierzu Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 135: „GesetzgebungsenquÞte“ und „MißbrauchsenquÞte“; Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 44 Rn. 4; Masing (Fußn. 3), S. 70 ff. 18 Näher Masing a.a.O. 19 BVerfGE 105, 197 (225). 16
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Untersuchung gemacht werden können, ist jedenfalls zu fordern, dass ein Bezug zur staatlichen Sphäre gegeben ist,20 dass ein Zusammenhang mit Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen vorliegt.21 Ein gegenständlich unbegrenztes parlamentarisches Untersuchungsrecht gegenüber Privaten besteht nicht; insbesondere Grundrechte begrenzen hier nicht nur die konkrete Vorgehensweise des Untersuchungsausschusses, sondern können weitergehend bereits die Zulässigkeit des Untersuchungsverfahrens in Frage stellen.22 3. Die „KollegialenquÞte“ – Untersuchung parlamentsinterner Vorgänge? Ungeachtet dieser auch in der Staatspraxis vorrangigen Zielsetzung des parlamentarischen EnquÞterechts kann zunächst davon ausgegangen werden, dass auch parlamentsinterne Vorgänge ausnahmsweise Gegenstand parlamentarischer Untersuchungsausschüsse sein können. Dies gilt jedenfalls für das Verhalten einzelner Abgeordneter, nicht zuletzt im Interesse der Wahrung des Ansehens des Parlaments, obschon insbesondere zu der in ihrer Zulässigkeit „höchst problematischen“ KollegialenquÞte23 gesicherte, operable Grundsätze in der Rechtsprechung bisher nicht entwickelt wurden. Die insoweit deutlich zurückhaltende, den Ausnahmecharakter derartiger Untersuchungen betonende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Abgeordnetenüberprüfung nach § 44 b AbgG24 (a.F.)25 und der Verfassungsgerichte der Länder, hatte bislang noch keine hinreichenden Anlässe, um vergleichbar gefestigte Grundsätze zum parlamentarischen EnquÞterecht hinsichtlich parlamentsinterner Vorgänge auszuformen. Das Bundesverfassungsgericht insbesondere hebt für die Überprüfung eines Abgeordneten auf eine frühere Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der DDR nach § 44 b AbgG in der seinerzeit geltenden Fassung die nur ausnahmsweise Zulässigkeit einer derartigen „KollegialenquÞte“, bei der es sich nicht um einen Untersuchungsausschuss nach Art. 44 GG handelt,26 hervor. Es stellt hierbei auf die unterschiedliche Ausgestaltung der Verfahren ab, die hinsichtlich der Intensität der Untersuchung und der zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht vergleichbar sind: im Verfahren nach § 44 b Abs. 2 AbgG ist insbesondere der Zeugenbeweis nicht eröffnet, es ist weder dem Verfahren vor dem parlamentarischen Unter20
Vgl. BayVerfGH NVwZ 1995, 681 („Amigo-Ausschuss“): Bezug zu öffentlicher Funktion bzw. Amtstätigkeit erforderlich; BayVerfGH NVwZ 1996, 1206 zur Untersuchung des Fehlverhaltens eines kommunalen Wahlbeamten. 21 Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 § 13 Rn. 139. 22 BayVerfGH a.a.O; s. auch Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 13 Rn. 143. 23 Vgl. Masing, Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte, 1998, S. 230 mit Fußn. 16. 24 Vgl. BVerfGE 94, 351 (366 ff.) und BVerfGE 99, 19 (33 ff.). 25 § 44 b AbgG i. d. F. des G. v. 20. Januar 1992 (BGBl I S. 67). 26 Vgl. für § 44 b AbgG n.F. Magiera, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 44 Rn. 6.
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suchungsausschuss noch einem gerichtlichen Verfahren vergleichbar.27 Ähnlich entschied im Ergebnis der Verfassungsgerichtshof des Freistaats Thüringen zur Abgeordnetenüberprüfung nach der entsprechenden landesgesetzlichen Regelung.28 Um das Verhalten der Mitglieder eines Untersuchungsausschusses im Zusammenhang mit der Weitergabe vertraulicher Unterlagen an Dritte ging es in einer Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts vom 01. 12. 2006.29 Weitere Entscheidungen zu KollegialenquÞten sind nicht nachgewiesen.30 Von einer „Selbstreinigung“ des Parlaments,31 so eine auch in dem dieser Untersuchung zugrundeliegenden Verfassungskonflikt gebrauchte plakative Formulierung,32 schließlich spricht das Bundesverfassungsgericht in einer einzigen Entscheidung in vergleichbarem Zusammenhang, in seiner Entscheidung vom 21. 5. 1996 zur Überprüfung von Abgeordneten auf eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik durch § 44 b Abgeordnetengesetz.33 Die dortige ersichtlich singuläre und aus dem historischen Kontext zu erfassende Fallgestaltung lässt keine der Verallgemeinerung zugänglichen Aussagen zum EnquÞterecht des Parlaments hinsichtlich parlamentsinterner Vorgänge zu. 4. FraktionsenquÞte – die nähere Fragestellung Die wenigen und punktuellen Aussagen hierzu in der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte des Bundes und der Länder lassen dies deutlich werden: „KollegialenquÞten“ zur Untersuchung parlamentsinterner Vorgänge sind verfassungsrechtlich nicht von vornherein ausgeschlossen. Dies bedeutet nicht, dass sie ohne weiteres und ohne gegenständliche Begrenzung zulässig wären. Dies bedeutet insbesondere nicht die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der FraktionsenquÞte als eines Unterfalls einer KollegialenquÞte. Im Gegenteil: der verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten begrenzt die Zulässigkeit der KollegialenquÞte – eben deshalb ist diese in ihrer Zulässigkeit zumin27
BVerfGE 94, 351 (369 f.). Vgl. ThürVerfGH LKV 2009, 374 und ThürVerfGH LKV 1998, 10 zur Abgeordnetenüberprüfung nach ThürAbGÜG. 29 HbgVerfG NVwZ-RR 2007, 289. 30 Bezeichnenderweise kann weder das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes (o. Fußn. 9) unter III. 1. S. 5 ff. noch auch etwa die Kommentierung bei Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 44 Rn. 21, auf die sich das Gutachten bezieht, die Aussagen zum weitreichenden Untersuchungsrecht in Bezug auf parlamentsinterne Vorgänge auf hierfür einschlägige Rechtsprechung stützen; nicht anders die 6. Aufl. 31 Vgl. Geis, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 55 Rn. 6. 32 So bei der Ankündigung des Untersuchungsausschusses im Internet-Auftritt der SPDFraktion. 33 BVerfGE 94, 351 (364); auch Geis, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 55 Rn. 6 vermag für die „Selbstreinigung des Parlaments“ als Funktion des Untersuchungsrechts keine Belege zu nennen. 28
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dest „problematisch“.34 Wie aber der einzelne Abgeordnete durch den Grundsatz des freien Mandats mit eigenen verfassungsmäßigen Rechten ausgestattet ist, gilt dies auch für die Fraktionen im Parlament, die als Einrichtungen des Verfassungslebens anerkannt sind,35 so auch ausdrücklich in einzelnen Bestimmungen des Landesverfassungsrechts, wie Art. 85 a Abs. 3 LVerfRhPf. Wie demgemäß die auf das Verhalten einzelner Abgeordneter gerichtete „KollegialenquÞte“ den verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten zu wahren hat, hat die auf das Verhalten und erst recht auf die internen Verhältnisse einer Parlamentsfraktion gerichtete parlamentarische Untersuchung deren Verfassungsstatus zu wahren. Wie im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen, zu Grundrechtsträgern, aber auch zu Mandatsträgern, gilt auch im Verhältnis zu den Fraktionen, als mit eigenen verfassungsmäßigen Rechten ausgestatteten Untergliederungen des Parlaments: verfassungsmäßige Rechte wie das EnquÞterecht sind in Konkordanz zu bringen zu verfassungsmäßig geschützten Rechten der durch dessen Wahrnehmung betroffenen Rechtsträger, seien es Grundrechtsträger oder Träger staatlicher Kompetenzen.36 Innerhalb der Staatsorganisation wird im Verhältnis zur Exekutive das parlamentarische Untersuchungsrecht begrenzt durch Kriterien des Schutzes eines Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung, und damit durch die Stellung der Exekutive im Rahmen der grundgesetzlichen Gewaltenteilung.37 Im Verhältnis zu Privaten sind es deren Grundrechte, die, wie dargelegt, nicht nur die Vorgehensweise des Untersuchungsausschusses im Rahmen der Beweiserhebung begrenzen, sondern bereits dessen Zulässigkeit entgegenstehen können. Gegenüber politischen Parteien als verfassungsrechtlichen Institutionen, die, ungeachtet ihrer spezifischen Staatsnähe, dem gesellschaftlichen Bereich zuzurechnen sind,38 werden dem parlamentarischen EnquÞterecht auf Grund der Garantie des Art. 21 GG Schranken gesetzt,39 aus dessen Garantie der Staatsfreiheit ein zugriffsgeschützter „Arkanbereich“ der Partei abgeleitet wird.40 Dieser Ansatz ist auf Fraktionen auf Grund ihrer Zurechnung zur organisierten Staatlichkeit41 nicht unmittelbar übertragbar. Doch sind sie Träger verfassungsmäßiger Rechte. Inwieweit verfassungsrechtliche Schutzpositionen der Fraktionen dem Un34
Masing (Fußn. 3), S. 230 mit Fußn. 16. BVerfGE 70, 325 (350); 80, 188 (219); Degenhart, Staatsrecht I, 26. Aufl. 2010, Rn. 626; näher u. III. 1. 36 Davon ausgehend auch das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes (Fußn. 9), S. 13 – zum Grundsatz der „praktischen Konkordanz“ im Verhältnis von Verfassungsorganen s. Degenhart, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 26. Aufl. 2010 Rn. 643; BremStGH NVwZRR 1999, 483; Schenke, JZ 1988, 805 (809 f.). 37 Glauben/Brocker, Das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern, 2005, S. 57 ff.; Geis, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 55 Rn. 40; BVerfGE 67, 100 (139); 110, 199 (214 ff.). 38 Vgl. BVerfGE 121, 30 (53 f.). 39 Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 44 (2002) Rn. 128; Glauben/Brocker (Fußn. 37), S. 76 Rn. 107. 40 Glauben/Brocker a.a.O. 41 VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77 f.). 35
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tersuchungsrecht des Parlaments Schranken ziehen, sowohl hinsichtlich der Vorgehensweise eines Untersuchungsausschusses, aber auch der grundsätzlichen Zulässigkeit einer FraktionsenquÞte, dem ist im Folgenden nachzugehen.42 III. Verfassungsrechtliche Stellung der Parlamentsfraktionen – zum Grundsatz des Funktionsschutzes 1. Funktionsschutz als Schranke des EnquÞterechts Für den Exekutivbereich, als dem eigentlichen Feld parlamentarischer Untersuchung,43 begründet das Gewaltenteilungsprinzip einen unausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Exekutive. Das parlamentarische Untersuchungsrecht findet, wie dargelegt, dort seine Grenzen, wo ein derartiger Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betroffen ist.44 Auch wenn dieses für das Verhältnis von Parlament und Regierung bestimmende Kriterium des Schutzes eines Kernbereichs an Eigenverantwortung nicht unbesehen auf das Verhältnis des Parlaments zu dessen Untergliederungen zu analoger Geltung gebracht werden kann: in ihm manifestiert sich ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Schutzes der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen.45 Dem Verständnis grundgesetzlicher Gewaltenteilung als einem Prinzip der wechselseitigen Zuordnung staatlicher Funktionen entspricht es, verfassungsrechtliche Schutzpositionen der Exekutive im Verhältnis zu parlamentarischen Befugnissen nach Maßgabe ihrer Funktionsfähigkeit zu bestimmen. Dort also, wo der ausforschende parlamentarische Zugriff auf Vorgänge im Binnenbereich der vollziehenden Gewalt diese an der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unzumutbar behindert, werden parlamentarische Kontrollrechte beschränkt; die Wahrung der Funktionsfähigkeit verfassungsrechtlicher Institutionen hat ihrerseits Verfassungsrang. Wenn also das parlamentarische Untersuchungsrecht unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Stellung der Exekutive wahrzunehmen ist und hierbei jenen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung zu wahren hat, so ist dies Ausdruck des allgemeineren Prinzips des Ausgleichs kollidierender verfassungsmäßiger Rechte nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz.46 Die Wahrung verfassungsrechtlich begründeter staatlicher Funktionen ist in Ausgleich zu bringen mit dem seinerseits verfassungsrechtlich begründeten Untersuchungsrecht des Parla-
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Näher Degenhart, Staatsrecht I – Staatsorganisationsrecht, 26. Aufl. 2010, Rn. 625 ff. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010 § 13 Rn. 142. 44 Vgl. hierzu BVerfGE 67, 100 (139), 110, 199 (214 ff.). 45 BVerfGE 9, 268 (279 f.); BVerfGE 34, 52 (59); BVerfGE 95, 1 (15 f.); auf Landesebene: BayVerfGH NJW 2005, 3699 (3708); BremStGH NVwZ 1989, 953 (955); NRW VerfGH NVwZ 1994, 678 (679); NdsSTGH NVwZ 1996, 1208. 46 VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). 43
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ments; Funktionsschutz begrenzt das parlamentarische EnquÞterecht im staatsorganisatorischen Bereich. 2. Funktionsschutz der Parlamentsfraktion, insbesondere der Opposition Dies gilt auch für die Fraktionen als Einrichtungen des Verfassungslebens, als solche ausdrücklich anerkannt in Art. 85 a LVerfRhPf, der einen für das Staatsorganisationsrecht in Bund und Ländern gleichermaßen anerkannten Grundsatz positiv zum Ausdruck bringt. Sie sind der organisierten Staatlichkeit zuzurechnen47 und hierin mit verfassungsrechtlichen Funktionen betraut.48 Sie sind als die wichtigsten politischen Untergliederungen des Parlaments49 „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens“50 und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung. Sie sind hierbei nicht allein auf den Bereich der innerparlamentarischen Willensbildung, der Koordination der Tätigkeit des Landtags gemäß Art. 85 a Abs. 2 Satz 1 LVerfRhPf beschränkt,51 sie sind vielmehr Faktoren der politischen Willensbildung im Verhältnis von Parlament und Volk. Sie sind, nicht zuletzt auf Grund ihrer parteipolitischen Verankerung,52 eingebunden in den Prozess der demokratischen Meinungsbildung vom Volk hin zum Parlament, und wirken ihrerseits auf die Bildung der öffentlichen Meinung ein, hierin konkurrierend mit anderen politischen Kräften und mit den anderen Fraktionen im Parlament.53 Dies gilt in erhöhtem Maße für die parlamentarische Opposition, deren Stellung in Art. 85 b LVerfRhPf besonders hervorgehoben wird,54 deren verfassungsrechtlicher Status55 aber unabhängig von einer positiven verfassungsrechtlichen Verankerung aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes, das eine effektive Opposition voraussetzt, abzuleiten ist.56 Ihre Betätigungsmöglichkeiten müssen, wie der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz in seiner Entscheidung vom 11. Oktober 2010 zu Recht feststellt, „so ausgestaltet sein, dass sie ihr Wächter-
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VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77, 78). Zu diesen verfassungsrechtlichen Funktionen s. etwa Schmidt-Jortzig, NVwZ 1994, 1145 (1146 f.). 49 Vgl.VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77); Schmidt-Jortzig a.a.O. 50 Vgl. bereits BVerfGE 2, 143 (160); 10, 4 (14); 20, 56 (104) sowie aus der neueren Rspr. BVerfGE 62, 194 (202); 80, 188 (231). 51 VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77). 52 Insbesondere zur Bedeutung der Fraktionen in der parteienstaatlichen Demokratie s. BVerfGE 80, 188 (231 f.). 53 Vgl. unter dem Aspekt der Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (78). 54 s. dazu VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). 55 Ausführlich zum Begriff der Opposition und ihrer Bedeutung im parlamentarischen System s. VerfG LSA LKV 1998, 101; s. auch SächsVerfGH LKV 1996, 21. 56 Vgl. Huber, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 47 Rn. 70 ff. 48
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amt auch tatsächlich wirksam ausüben und die Verantwortung der Regierung dem Landtag gegenüber effektiv durchsetzen kann.“57 Wenn also die Fraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens ihnen verfassungsrechtlich übertragene Aufgaben wahrnehmen und sie Träger verfassungsmäßiger Rechte sind, so betrifft dies nicht allein ihre Funktion, die Arbeit des Parlaments zu strukturieren, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, sondern gleichermaßen ihre Funktion einer Mitwirkung an politischer Willensbildung, ihre Beteiligung an kontroverser politischer Auseinandersetzung, ihre Stellung im Wettbewerb der politischen Kräfte. Unter beiden Aspekten hat der Funktionsschutz der Parlamentsfraktion Verfassungsrang und ist mit dem gleichermaßen mit Verfassungsrang ausgestatteten Untersuchungsauftrag des Parlaments in Ausgleich zu bringen. Dies gilt in besonderer Weise für die Oppositionsfraktion, der unter den Bedingungen des parlamentarischen Regierungssystems aufgrund der engen politischen und personellen Verbindungen zwischen Mehrheitsfraktionen und Regierung für die Kontrolle der Exekutive besondere Bedeutung zukommt.58 IV. Verfassungsrechtliche Bewertung der FraktionsenquÞte 1. FraktionsenquÞte und Funktionsschutz Dass die FraktionsenquÞte, also der gegen eine Fraktion als solche gerichtete parlamentarische Untersuchungsausschuss, diese in ihrer Aufgabenwahrnehmung behindern kann, folgt bereits aus dem Zwang zur Offenlegung fraktionsinterner Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Insbesondere eine Oppositionsfraktion müsste hiernach nicht nur gegenüber der Mehrheitsfraktion, sondern auch gegenüber anderen Fraktionen und der Regierung die Struktur und auch die Inhalte ihrer internen Entscheidungsprozesse offenlegen. Auch kann zu berücksichtigen sein, dass die Regierung nach jeweiliger Maßgabe der einschlägigen bundes- oder landesrechtlichen Vorschriften des Rechts der Untersuchungsausschüsse Zutrittsrecht zu allen, auch vertraulichen Sitzungen des Untersuchungsausschusses hat und Akteneinsicht nehmen kann. Wie die Funktionsfähigkeit der Regierung durch die Ausforschung interner Willensbildungsprozesse und Entscheidungsstrukturen beeinträchtigt werden kann und deshalb sich der Ausforschung durch den Untersuchungsausschuss entzieht, gilt dies auch für interne Willensbildungsprozesse einer Fraktion. Die FraktionsenquÞte bedeutet daher eine erhebliche Beeinträchtigung der Fraktion in ihrer verfassungsrechtlichen Position als „Einrichtung des Verfassungslebens“,59 wie sie auf landesverfassungsrechtlicher Ebene für den hier zugrundeliegenden Verfassungskonflikt durch Art. 85 a LVerfRhPf ausdrücklich anerkannt wird, unabhängig davon aber aus dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes wie der Landes57 58 59
VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). BVerfGE 80, 188 (217 ff.).
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verfassungen abzuleiten ist, in ihren innerparlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten ebenso wie in ihrem Wirken nach außen. Anders als dies etwa der Fall sein mag bei schutzwürdigen Interna Privater,60 kann die Fraktion auch nicht auf den Ausschluss der Öffentlichkeit oder auf andere Maßnahmen des Geheimnisschutzes im parlamentarischen Untersuchungsverfahren verwiesen werden. Denn der entscheidende Eingriff in ihre verfassungsmäßigen Rechte liegt nicht erst darin, dass Interna der Fraktion61 aus der Sphäre des Parlaments an die Öffentlichkeit gelangen – dem könnte durch Maßnahmen des Geheimnisschutzes Rechnung getragen werden. Der entscheidende Eingriff liegt vielmehr darin, dass Interna der Fraktion innerhalb des Parlaments offengelegt werden. Deshalb sind auch Maßnahmen des Geheimnisschutzes nicht geeignet, um der Fraktionsautonomie Rechnung zu tragen. Mithin ist festzuhalten: ein gegen eine bestimmte Fraktion gerichteter parlamentarischer Untersuchungsausschuss bedeutet in jedem Fall eine relevante Beeinträchtigung der Fraktion in ihren verfassungsrechtlich begründeten Wirkungsmöglichkeiten,62 dies bereits auf Grund des Zwanges zur Offenlegung von Fraktionsinterna. Diese Beeinträchtigung ist von besonderer Intensität, wenn ein auf Antrag der die Regierung tragenden Mehrheitsfraktion im Parlament eingesetzter Untersuchungsausschuss sich gegen eine oppositionelle Fraktion richtet. Dies kann nicht nur einzelnen Maßnahmen des Untersuchungsausschusses entgegengehalten werden, sondern bereits dessen Einsetzung in seiner Verfassungsmäßigkeit in Frage stellen. 2. FraktionsenquÞte und öffentliches Interesse a) Zweckwidriger Einsatz des EnquÞterechts und öffentliches Interesse Im Hinblick auf diese Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich begründeten Wirkungsmöglichkeiten der Fraktion, wie auch der Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition, die in dem den Anlass zu dieser Untersuchung gebenden Verfassungskonflikt den besonderen Schutz des Art. 85 b LVerfRhPf genießt, erlangt auch der Gesichtspunkt eines zweckwidrigen Einsatzes des parlamentarischen EnquÞterechts zur Durchführung einer FraktionsenquÞte verfassungsrechtliches Gewicht. Von der primären und, wie vorstehend gezeigt wurde, nach wie vor bestimmenden Zielsetzung des parlamentarischen EnquÞterechts als Instrument des parlamentarischen Kontrollrechts gegenüber der Exekutive und als Instrument des Schutzes der parlamentarischen Minderheiten, also insbesondere der Oppositionsfraktionen, wird die hier beabsichtigte FraktionsenquÞte nicht getragen. Sie stellt sich, auch in 60 61 62
Vgl. BVerfGE 67, 100 (143 f.). Vgl. VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). So auch VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505).
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Anbetracht bevorstehender Landtagswahlen, als ein Instrument des parteipolitischen Meinungskampfes dar,63 nicht etwa im Verhältnis der Oppositionsfraktion zur Regierung – hier kann der Untersuchungsausschuss durchaus auch als Instrument der Parteitaktik zum Einsatz gebracht werden64 –, sondern im Verhältnis gleichgeordneter Parlamentsfraktionen. Dies bedeutet einen zweckwidrigen, wenn nicht missbräuchlichen Einsatz des verfassungsrechtlichen Instruments des parlamentarischen Untersuchungsrechts, dies umso mehr, als er sich gegen die explizit durch Art. 85 b LVerfRhPf als Ausfluss des Demokratieprinzips, aber auch generell im Rahmen der parlamentarischen Demokratie in ihrer Funktionswahrnehmung besonders geschützte Opposition, richtet. Wenn dies alles sich in zeitlicher Nähe zu bevorstehenden Landtagswahlen abspielt, ist dies jedenfalls nicht dazu angetan, den Missbrauchsvorwurf zu entkräften. Dies mindert entscheidend das Gewicht des Untersuchungsauftrags des Parlaments im verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich mit den Belangen der Fraktion,65 wenn diese, wie dargelegt, durch die Durchführung der FraktionsenquÞte, wie bereits durch die Einsetzung des Untersuchungsausschusses in ihrer Funktionswahrnehmung beeinträchtigt ist. Auch wenn bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses für den staatlichen Bereich ein besonderes öffentliches Interesse als ungeschriebene Voraussetzung, anders als für die Untersuchung von Vorgängen im privaten Bereich,66 nicht eigens festgestellt werden muss, kann es doch für die spezifische Fallgestaltung der FraktionsenquÞte nicht außer Betracht bleiben, wenn sie, wie unter den hier gegebenen Voraussetzungen, schon von ihrem Gegenstand und ihrer Zielsetzung her – und nicht nur nach ihren mittelbaren politischen Auswirkungen – allein dem Partikularinteresse einer einzelnen Parlamentsfraktion in ihrer politischen Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Fraktion verpflichtet ist. b) Folgerungen: EnquÞterecht des Parlaments und Funktionsschutz der Fraktion Aus dem Vorstehenden folgt: Ein gegen eine bestimmte Fraktion gerichteter parlamentarischer Untersuchungsausschuss bedeutet in jedem Fall eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Fraktion in ihren verfassungsrechtlich begründeten, auf landesverfassungsrechtlicher Ebene etwa in Art. 85 a LVerfRhPf ausdrücklich bestätigten Wirkungsmöglichkeiten. Dies bejaht auch der Verfassungsgerichtshof RheinlandPfalz im Urteil vom 11. Oktober 2010. Er will nun den Funktionsschutz der Fraktion in Ausgleich bringen mit dem verfassungsrechtlich fundierten Untersuchungsauftrag des Parlaments, dergestalt, dass die widerstreitenden Verfassungsgüter einander so 63 Vgl. zu diesem Aspekt der zeitlichen Nähe zu einem Wahlkampf in anderem Zusammenhang der Beschränkung staatlicher Äußerungsrechte: BVerfGE 44, 125 (138 ff.). 64 Vgl. Geis, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 55 Rn. 8. 65 Dazu s. VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505). 66 s. dazu BVerfGE 67, 100 (143).
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zugeordnet werden, dass beide so weit wie möglich Wirkung entfalten.67 Hieraus ergeben sich Schranken für die FraktionsenquÞte, ihren Untersuchungsgegenstand wie auch bzgl. einzelner Fragen des Untersuchungsauftrags, für die das öffentliche Interesse an Aufklärung die verfassungsrechtlich geschützten Belange der betroffenen Fraktion überwiegen muss.68 So sehr auch der Grundsatz praktischer Konkordanz,69 des nach beiden Seiten hin schonenden Ausgleichs,70 die maßgeblichen Direktiven weist für die Auflösung von Verfassungskonflikten: in dieses Stadium des verhältnismäßigen Ausgleichs ist dann nicht mehr einzutreten, wenn sich die Inanspruchnahme verfassungsrechtlicher Handlungsbefugnisse von vornherein als missbräuchlich darstellt, wenn vom verfassungsrechtlichen Handlungsinstrumentarium des Parlaments in zweckwidriger Weise Gebrauch gemacht wird. Dies aber ist bei der FraktionsenquÞte typischerweise der Fall, insbesondere dann, wenn sie sich gegen die Opposition richtet und wenn sie in einer Wahlkampfphase beschlossen wird. V. Insbesondere: FraktionsenquÞte, Fraktionsmittel und Rechnungshofkontrolle 1. Erforderlichkeit der EnquÞte nach Rechnungshofkontrolle? Der dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz zugrundeliegende Verfassungskonflikt war durch die Besonderheit geprägt, dass die den Untersuchungsauftrag bildende Frage der ordnungsgemäßen Verwendung von Fraktionsmitteln bereits vom Landesrechnungshof nach § 5 FraktG71 umfassend geprüft worden 67
(44). 68
VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1505) unter Verweis auf BVerfGE 67, 100 (143 f.); 77, 1
VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1506). Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72, 318. 70 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 125 f. 71 § 5 FraktG RhPf i. d. F. des G. v. 21. 12. 1993 (GVBl. S. 642), zuletzt geändert: durch Art. 2 des G. v. 7. 4. 2009 (GVBl. S. 165) BS 1101 – 6: Rechnungsprüfung (1) Der Rechnungshof ist berechtigt, die Verwendung der Leistungen nach § 2 Abs. 3 und 4 durch die Fraktionen zu prüfen. Die Prüfung erstreckt sich darauf, ob die Geld- und Sachleistungen bestimmungsgemäß und in Übereinstimmung mit § 3 verwendet worden sind. Bei der Prüfung ist der Rechtsstellung und den Aufgaben der Fraktionen Rechnung zu tragen; der Rechnungshof hat den politischen Ermessensspielraum der Fraktionen zu beachten. (2) Der Rechnungshof bestimmt Zeit und Ort der Prüfung; er kann erforderliche örtliche Erhebungen durch Beauftragte vornehmen lassen. Er kann Sachverständige hinzuziehen. (3) Dem Rechnungshof und seinen Beauftragten sind die erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Unterlagen, die der Rechnungshof zur Erfüllung seiner Aufgaben für erforderlich hält, sind ihm auf Verlangen innerhalb einer von ihm zu bestimmenden Frist vorzulegen. (4) Der Präsident des Rechnungshofs teilt das Prüfungsergebnis den Fraktionen zur Äußerung binnen einer von ihm zu bestimmenden, angemessenen Frist mit. Er leitet den Fraktionen den sie betreffenden Teil des Entwurfs des abschließenden Berichts über die Prü69
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war. Sein abschließender Bericht war durch den Präsidenten des Landtags entsprechend § 5 Abs. 4 Satz 4 FraktG veröffentlicht worden. Damit waren die den Gegenstand der FraktionsenquÞte bildenden Vorgänge nicht nur in der Sache aufgearbeitet, sondern auch vor dem Landtag offengelegt worden. Dann aber stellt sich die Frage, welchen Aufklärungsinteressen des Parlaments ein auf Antrag der Regierung gegen die Oppositionsfraktion eingesetzter Untersuchungsausschuss dienen soll. Sie stellt sich umso mehr, als an das Gewicht des Untersuchungsauftrags, der damit verfolgten öffentlichen Interessen, im Fall der FraktionsenquÞte, wollte man sie denn überhaupt für zulässig erachten, angesichts der damit einhergehenden intensiven Beeinträchtigung der verfassungsrechtlich begründeten Stellung der Fraktion, hohe Anforderungen zu stellen sind. Auch ist hier die Finanzautonomie der Fraktion, der Grundsatz der autonomen Mittelverwendung, den der Verfassungsgerichtshof landesverfassungsrechtlich verankert sieht, tangiert.72 Er bejaht gleichwohl ein relevantes Untersuchungsinteresse auf Grund unterschiedlicher Zielsetzung der Rechnungshofkontrolle und der parlamentarischen EnquÞte. Während die Kontrolle durch den Rechnungshof haushaltsrechtlichen Gesichtspunkten folge, sei die Einsetzung der Parlamentsenquete vorrangig auf die Aufklärung der politischen Verantwortlichkeit und auf die Frage nach etwaigen politischen Konsequenzen gerichtet.73 2. Rechnungshofprüfung nach Landesverfassungsrecht als abschließende Regelung? a) Fraktionsautonomie und unabhängige Prüfung durch den Rechnungshof Doch spricht Art. 85 a Abs. 3 Satz 2 LVerfRhPf ausdrücklich von der „Prüfung der Rechnung“ für die nach Satz 1 den Fraktionen zu gewährende Ausstattung durch den Rechnungshof. Darunter ist jene Finanzkontrolle zu verstehen, wie sie typischerweise dem Rechnungshof aufgetragen ist, unter Wahrung der verfassungsrechtlichen Autonomie der Fraktionen.74 Die Verfassungsnorm ist als Regelungsauftrag an den Gesetzgeber zu sehen, dem dieser mit der Regelung des § 5 FraktG nachgekommen ist.75 Damit werden Kontrollbefugnisse gegenüber der Fraktion hinsichtlich der Verwendung staatlicher Mittel vorrangig dem Rechnungshof als neutraler und in richterlicher Unabhängigkeit tätiger, mit spezifischer Sachkompetenz ausgestatteter Instanz zugefungsergebnisse zu. Die Fraktion kann innerhalb eines Monats beantragen, dass der Entwurf mit dem Präsidenten des Rechnungshofs im Ältestenrat des Landtags besprochen wird. Den abschließenden Bericht über die Prüfungsergebnisse leitet der Präsident des Rechnungshofs dem Präsidenten des Landtags zu. Die Fraktionen können zu diesem Bericht Stellung nehmen. (5) Über Angelegenheiten von besonderer Bedeutung kann der Präsident des Rechnungshofs den Präsidenten des Landtags jederzeit unterrichten. 72 VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1507). 73 VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1507). 74 Heun, in: Dreier, GG III, 2. Aufl. 2008, Art. 114 Rn. 23. 75 Vgl. VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77).
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ordnet.76 Dadurch werden jene Eingriffe in die verfassungsrechtlich geschützten Wirkungsmöglichkeiten der Fraktion vermieden, die mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses einhergehen. Verfassungsrechtliche Stellung und Sachkompetenz des Rechnungshofs gewährleisten eine effektive Finanzkontrolle, ohne aber die Fraktionen zu zwingen, schutzwürdige Interna wie fraktionsinterne Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse im politischen Wettbewerb offenzulegen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn die Fraktionen des Landtags durch Inanspruchnahme parlamentarischer Untersuchungsrechte sich wechselseitig in ihrem Finanzgebaren kontrollieren könnten – was im Ergebnis einer wirksamen Finanzkontrolle nach sachgerechten Maßstäben abträglich wäre. Dies gilt umso mehr, als in den Untersuchungsausschüssen gemäß Art. 91 Abs. 1 Satz 2 LVerfRhPf die Fraktionen ihrerseits vertreten sein müssen, es gerade in diesem Bereich der Prüfung durch die sachkundige, neutrale und unabhängige Instanz bedarf. b) Rechnungshofkontrolle als sachgerechter Ausgleich – abschließender Charakter Wenn also die Rechnungsprüfung gegenüber den Fraktionen durch Art. 85a Abs. 3 Satz 2 LVerfRhPf dem Rechnungshof zugewiesen wird, so wird damit ein sachgerechter Ausgleich erzielt, zwischen dem verfassungsrechtlichen Erfordernis einer wirksamen Kontrolle der Verwendung insbesondere staatlicher Fraktionszuschüsse einerseits,77 dem verfassungsrechtlich gleichermaßen gebotenen Schutz der Fraktion in ihrer Aufgabenwahrnehmung, ihrer Autonomie gegen die Ausforschung fraktionsinterner Bereiche und die Offenlegung von Inhalten und Strukturen ihrer Willensbildung andererseits. Dem entspricht es, wenn dem Präsidenten des Landtags nur ein ergänzendes, subsidiäres Beanstandungsrecht auf der Grundlage des § 6 Abs. 2 Satz 2 FraktG eingeräumt wird.78 Für ein zusätzliches Prüfungsund Beanstandungsrecht parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, das den verfassungsrechtlichen Funktionsschutz der Fraktionen in erheblichem Maße beeinträchtigen und das in der Sache auf eine wechselseitige Finanzkontrolle der Fraktionen hinauslaufen würde, ist daneben kein Platz. Es besteht hierfür auch kein legitimes Bedürfnis. Gerade jene gegenüber der Rechnungshofkontrolle überschießenden Prüfung, die durch den Untersuchungsausschuss stattfindet und nach dem Ansatz des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz das besondere Untersuchungsinteresse für die FraktionsenquÞte begründen soll, begünstigt den zweckwidrigen Einsatz des Handlungsinstruments des parlamentarischen Untersuchungsrechts. Wenn Verfassung und Gesetzgeber mit den Bestimmungen des 76
Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Rechnungshofs s. Degenhart, VVDStRL 55 (1996), 190 ff. 77 Vgl. VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77), der insoweit in verfassungskonformer Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 1 FraktG von einer Prüfpflicht des Rechnungshofs ausgeht. 78 VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77).
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Art. 85 a Abs. 3 Satz 2 LVerfRhPf und den Vorschriften des Fraktionsgesetzes ein umfassendes System der Kontrolle und Korrektur der Mittelverwendung etabliert haben, das sowohl dem berechtigten Informationsinteresse der Öffentlichkeit als dem legitimen Interesse an Kontrolle der Mittelverwendung durch die Fraktionen Rechnung trägt, hierdurch die Stellung der Fraktion auf verfassungsrechtlicher Ebene ausgestaltet, so ist hierin eine abschließende Regelung der Kontrolle der Mittelverwendung durch die Fraktionen zu sehen.79 Der so auf Verfassungs- und Gesetzesebene vorgenommene Ausgleich mit der verfassungsrechtlich begründeten Finanzautonomie der Fraktionen, der hierin begründete, verfassungsrechtlich gebotene Funktionsschutz für die Fraktionen als Einrichtungen des Verfassungslebens, darf nicht durch den zweckwidrigen Einsatz des Instruments des parlamentarischen Untersuchungsrechts in Gestalt einer FraktionsenquÞte unterlaufen werden – auch wenn es sich hierbei um eine parlamentsinterne Kontrolle handelt.80 Denn eben der parlamentsinternen, parteipolitischen Auseinandersetzung soll dieser Bereich entzogen werden. Dies bezeichnet ein grundsätzliches Erfordernis verfassungsrechtlichen Funktionenschutzes für die Fraktionen. Es beansprucht Geltung unabhängig von Besonderheiten des jeweiligen Parlamentsrechts der Landesverfassung. VI. Fazit Der auf Bundesebene wie landesverfassungsrechtlich gebotene Funktionsschutz für die Fraktionen als Einrichtungen des Verfassungslebens begrenzt das parlamentarische EnquÞterecht nicht nur in der Durchführung, sondern hindert bereits die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses jedenfalls dann, wenn er die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Fraktion, insbesondere einer Oppositionsfraktion, in gravierender Weise beeinträchtigt, wie generell im Fall seines zweckwidrigen Einsatzes.
79 So noch VerfGH RhPf NVwZ 2003, 75 (77); VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1507) mit wenig überzeugender Begründung – der Untersuchungsausschuss erstatte dem Landtag lediglich Bericht, es handle sich um eine parlamentsinterne Kontrolle – als gegenüber der FraktionsenquÞte nicht maßgeblich bezeichnet. 80 Hierauf abstellend VerfGH RhPf DVBl 2010, 1504 (1507).
Der verfassungsrechtliche Schutz des Betriebsgeheimnisses Von Otto Depenheuer I. Der offene Verfassungsstaat und der Schutz von Geheimnissen Geheimnisse sind schon immer schlecht beleumundet:1 reflexartig ziehen sie Mißtrauen, Neid und Furcht auf sich, stehen unter dem Verdacht des Unlauteren, gelten als das Symbol des Unaufrichtigen, Falschen, Dunklen. Seit dem Beginn der Moderne unterliegt das Geheimnis indes einem fortschreitenden Prozess der Delegitimierung. Transparenz heißt die Gegenlosung, unter der sich seither die Freunde der Offenheit und Aufrichtigkeit zusammengefunden haben, um das Geheimnis moralisch zu diskreditieren und es zur Offenbarung zu zwingen. In der offenen, demokratischen, auf Transparenz getrimmten, digital gespeicherten und kopierbaren Welt geht es den Geheimnissen nunmehr scheinbar endgültig an den Kragen. Nichts darf geheim bleiben, hieß die Parole von gestern; immer weniger bleibt geheim, lautet der Befund von heute; nichts wird geheim bleiben, lautet die Prognose für die Zukunft; alles kommt auf den Tisch, lautet das Credo des öffentlichen Zeitgeistes, das exemplarisch Gestalt angenommen hat in der Internetplattform WikiLeaks und deren sich ausbreitenden Derivaten. In Zeiten und unter den Bedingungen einer sich stürmisch entwickelnden Informationsgesellschaft stehen Staats-, Bank-, Geschäftsund Privatgeheimnisse in permanenter Gefahr, aufgedeckt und veröffentlicht zu werden. Was dem Staat WikiLeaks, das ist dem verfassungsgerichtlich liebevoll gehegten Persönlichkeitsschutz des Einzelnen der datenfressende und -speichernde Staat und den Unternehmen die zunehmende und professionell betriebene Wirtschaftsspionage. Geschützte, streng vertrauliche Daten von hochsensiblen Geschäftsgeheimnissen werden durch immer kleinere Speichermedien beliebig kopierbar, lassen sich glänzend vermarkten, bieten attraktives Material für Erpressungen, sichern informelle, d. h. geheime Einflußnahme, stiften und verbreiten Unsicherheit, garantieren Peinlichkeiten aller Art. Die öffentliche Wahrnehmung des Geheimnisbruches und die verfassungsrechtliche Dogmatik ihres Schutzes kontrastieren auffällig mit seiner praktischen Rele1 Zur Kulturgeschichte des Geheimnisses vgl. aus jüngster Zeit: A. Assmann/J. Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle, Bd. 1 Geheimnis und Öffentlichkeit, 1997; Bd. 2 Geheimnis und Offenbarung, 1998; Bd. 3 Geheimnis und Neugierde, 1999; Engel/Reichert/Rang/Wunder (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne, 2002.
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vanz: politische Geheimnisse – so scheint es – sind oftmals nur deshalb und solange interessant, als man die Trivialität ihrer Inhalte nicht kennt. Das Geheimnis besteht und erschöpft sich häufig darin, keines gewesen zu sein. Verletzungen des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gelten der Jugend – anders als ihrer Elterngeneration – offenbar immer weniger suspekt, weil sich dessen persönlichkeitsrelevanten Inhalte häufig auf gänzlich unspektakuläre Art bereits in den Algorithmen von internetbasierten Suchmaschinen wiederfinden, die vielen modernen Menschen die vielleicht letzte Orientierung geben: ihre auf dem Algorithmus basierende statistische Wahrscheinlichkeit. Der Staat schützt immer häufiger nur noch eine fata morgana der Integrität einer Persönlichkeit, die tatsächlich bereits öffentlich ist. Der freiheitliche Verfassungsstaat sucht das Gemeinwesen auf einem mittleren Pfad zwischen Offenheit und Transparenz auf der einen Seite und zuverlässigem Schutz sensibler Daten andererseits zu halten.2 Geheimnisse und Datenschutz genießen im freiheitlichen Verfassungsstaat allerdings unterschiedlich ausgeprägtes Ansehen und Anerkennung: Datenschutz und Persönlichkeitsrecht erfreuen sich allerhöchsten verfassungsgerichtlichen Ansehens und effektiven Schutzes.3 Die Dogmatik des verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutzes entfaltet sich maximal ausdifferenziert insbesondere über das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 1 Abs. 1 GG. Während verfassungsrechtlich inspirierter Datenschutz mit rührender Gründlichkeit möglichst alle Geheimnisse des Bürgers zu schützen sucht, ist öffentliche Schadenfreude bei der Offenbarung von Staats- und Steuergeheimnissen garantiert. Die Verletzung von wirtschaftlich relevanten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen seltsam unbeachtet. Dabei bilden Geschäftsgeheimnisse das know how des betrieblichen Erfolges. In ihnen kondensieren sich technische Brillianz, langjährige Erfahrung, bewährte Tradition und vertrauensvolle Kundenpflege. Tatsächlich stehen die Geschäftsgeheimnisse der Unternehmen mit wachsender Tendenz und steigendem Schadenspotential im Fadenkreuz der wirtschaftlichen Konkurrenz aus dem In- und Ausland einschließlich der sie protegierenden Staaten. Firmenspionage verursacht in Deutschland einen geschätzten materiellen Schaden von derzeit schon mehreren Milliarden Euro.4 Daher ist es von nicht zu unterschätzender Brisanz, wenn der Staat in der Gestalt der Gerichte Unternehmen zur Offenlegung sensibler Geschäftsdaten verpflichtet. So sieht beispielsweise das Patentgesetz (PatG) bei rechtskräftig festgestellter Patentrechtsverletzung neben Schadensersatzansprüchen auch diverse Auskunftsansprüche gegen den Verletzer vor (§§ 139 ff. PatG), u. a. seine Pflicht, Auskunft zu geben auch über die Preise der Produkte, die er unter Verletzung fremden geistigen Eigentums erzielt hat. § 140 b Abs. 7 PatG erstreckt bei „offen2
Depenheuer (Hg.), Öffentlichkeit und Vertraulichkeit, 2003, S. 9. BVerfGE 27, 1 (6 f.) – Mikrozensus; 65, 1 (42) – Volkszählung; 115, 320 (341) – Rasterfahndung. 4 Harte-Bavendamm, in: ders./Henning-Bodewig, BeckOK, UWG, Vorb.§§ 17 – 1 Rn. 3. [Stand: März 2009]. 3
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sichtlichen Patentverletzungen“ die Auskunftspflicht auch auf das einstweilige Verfahren.5 Derartige staatliche Offenbarungspflichten von Betriebsgeheimnissen geben der Frage nach deren verfassungsrechtlichen Schutz rechtliche Brisanz. Wo also ressortiert in grundrechtlicher Perspektive das Betriebsgeheimnis? In Betracht kommen vor allem die beiden wirtschaftsaffinen Grundrechte des Berufs und des Eigentums. II. Das Geschäftsgeheimnis als Element der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) Das Bundesverfassungsgericht verortet das Betriebsgeheimnis im Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht der Berufsfreiheit umfaßt die Erwerbstätigkeit, d. h. jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und Erhaltung der Lebensgrundlage dient.6 Es schützt das berufsbezogene Verhalten einzelner Personen oder Unternehmen am Markt. Erfolgt die unternehmerische Berufstätigkeit nach den Grundätzen des Wettbewerbs, wird die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regelungen mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen. Art. 12 Abs. 1 GG sichert in diesem Rahmen die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen. Wesentliches Element dieses Wettbewerbs bilden immaterielle Faktoren: Erfahrungen, Kundenstamm, Patente und Geschäftsgeheimisse sonstiger Art. Damit gewährleistet die Berufsfreiheit auch den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.7 Begriff und Umfang des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses sind im Lichte des Art. 12 GG weit auszulegen. Betriebsgeheimnisse umfassen in der Regel technisches Wissen, während Geschäftsgeheimnisse vornehmlich kaufmännisches Wissen beinhalten.8 Für die Einstufung als Betriebs- und Geschäftsgeheimnis kommt es allein darauf an, ob die Daten geeignet sind, die Wettbewerbsfähigkeit des Geheimnisträgers zu beeinflussen, unabhängig von der Detaillierungstiefe. So kann die Verpflichtung zu einer auch nur teilweisen Offenlegung der Kalkulation eines Unternehmens gleichwohl der Konkurrenz wichtige Einblicke in dessen Internas und damit erhebliche Wettbewerbsvorteile erbringen.9
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Diese Pflicht, „Angaben zu machen über […] die Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie über die Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse oder Dienstleistungen bezahlt wurden“ (§ 140 b Abs. 3 Nr. 2 PatG), ist durch Novelle zum Patentgesetz (Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 23. 05. 2008, BGBl. I S. 1191) erstmals normiert worden. 6 BVerfGE 7, 377 (397 ff.); 105, 252 (265). 7 BVerfGE 115, 205 (229 f.). 8 Schütze, KSzW 01.2011, S. 72 (73); McGuire/Joachim/Künzel/Weber, GRUR Int. 2010, S. 829 (829). 9 Schütze, KSzW 01.2011, S. 72 (74).
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Staatliche Offenlegungspflichten, wie etwa die Offenlegung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen im patentrechtlichen Verletzungsverfahren (§ 140 b Abs. 1, 3, 7 PatG), berühren mithin Art. 12 Abs. 1 GG in seinem Schutzbereich. Denn dadurch wird die ausschließlich dem Unternehmen zugewiesene Nutzung des betreffenden Wissens für den eigenen Erwerb im Rahmen des unternehmerischen Wettbewerbs beeinträchtigt.10 Eine staatliche, den Wettbewerb behindernde Maßnahme stellt sich damit als Beschränkung des Freiheitsrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG dar.11 Wird durch staatliche, d. h. gerichtliche Verfügung exklusives, im Wettbewerb relevantes Wissen den Konkurrenten zugänglich, mindert dies für das betroffene Unternehmen die Möglichkeit, seine Berufsausübung unter Rückgriff auf dieses Wissen erfolgreich zu gestalten und auszubauen. Dadurch können unternehmerische Strategien durchkreuzt werden und Anreize zu unternehmerischem Handeln entfallen. Investitionskosten können nicht mehr eingebracht werden, weil Dritte unter Einsparung solcher Kosten das geheime Wissen des anderen zur Grundlage ihres Erfolgs in Konkurrenz mit dem Geheimnisträger nutzen.12 Fragen der Preisbildung, -gestaltung und -kalkulation zählen mit zum innersten Kern unternehmerischen Handelns und beeinflussen den Erfolg des Unternehmens im Wettbewerb maßgeblich. Eine gerichtlich erzwungene Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen an den wirtschaftlichen Konkurrenten und damit die Möglichkeit ihrer Verwendung im Wettbewerb beeinträchtigt die Ausschließlichkeit der Nutzung des betroffenen Wissens für den eigenen Erwerb im Rahmen der beruflichen Betätigung des Geheimnisträgers. Darin liegt ein Grundrechtseingriff in Art. 12 GG. Das damit erzielte verfassungsrechtliche Schutzniveau ist freilich nicht allzu hoch anzusetzen. Jeder legitime Gemeinwohlzweck vermag den staatlichen und staatlich erlaubten privaten Zugriff auf Geschäftsgeheimnisse zu rechtfertigen. Da es sich nicht um persönlichkeitskonstituierende, den Intimbereich des Grundrechtsträgers berührende Daten, sondern „nur“ um umsatz- und gewinnrelevante Geschäftsdaten handelt, setzen die vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten Grenzen dem direkten staatlichen Datenzugriff bzw. der staatlich erzwungenen Offenbarung der Daten nur unschwer überwindbare Schranken. Fielen Betriebsgeheimnisse darüber hinaus auch unter den Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, könnten sich hingegen bei rechtswidrigen Eingriffen Kompensationsansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff ergeben.13 10
BVerfGE 115, 205 (230). BVerfGE 86, 28 (37). 12 BVerfGE 115, 205 (230 f.). 13 Abweichend BVerfGE 115, 205 (248), das die Eigentumsqualität von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen offenläßt, aber obiter dicta erklärt, daß der Schutz des Art. 14 GG jedenfalls nicht weiter als der durch Art. 12 GG reiche. Mag dies für negatorische Abwehransprüche zutreffend sein, so gilt dies indes nicht für kompensatorische Entschädigungsansprüche aufgrund enteignungsgleichen Eingriffs bei irreversiblen Schädigungen oder Verzögerungsschäden. Diesen Ansprüchen kommt nach wie vor originäre Bedeutung zu, vgl. von Arnauld, VerwArch 2002 (93), S. 394 (417). 11
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III. Das Geschäftsgeheimnis als vermögenswerte Rechtsposition (Art. 14 Abs. 1 GG) Die Verpflichtung zur Auskunftserteilung über Betriebsgeheimnisse könnte als Eingriff in die grundrechtliche Eigentumsgarantie angesehen werden, wenn und weil die unternehmerische Kalkulation und Preisgestaltung als Rechtspositionen von erheblichem Vermögenswert angesehen werden könnten (nachfolgend 1.). In ihrer Ausprägung als Schutz des Betriebseigentums umfaßt die Eigentumsgarantie auch den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (nachfolgend 2.). Unabhängig davon bilden Betriebsgeheimnisse rechtlich zugewiesene Vermögenspositionen, die durch Art. 14 GG geschützt werden: das TRIPs-Übereinkommen sowie die darauf Bezug nehmende Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft und das Patentgesetz selbst weisen die Betriebsgeheimnisse den betroffenen Unternehmen als ausschließlich ihnen zustehende Positionen zu (nachfolgend 3.). 1. Der Vermögenswert des Betriebsgeheimnisses „Preisgestaltung“ Der Vermögenswert von unternehmensinternen Preisgestaltungen wird aus der Perspektive des Kartellrechts besonders deutlich.14 Das Kartellrecht ist eine Materie, die wie kaum eine andere hohe Sensibilität in Ansehung wettbewerbsrelevanter Daten entwickelt hat und damit auch die verfassungsrechtliche Analyse im Hinblick auf wettbewerbsverzerrende Informationen befruchten kann. Aus wettbewerblicher Perspektive wird der erhebliche und eigentumsrelevante Vermögenswert der Betriebsgeheimnisse unmittelbar erkennbar. Besteht nämlich zwischen Verletztem und Verletzer eine Wettbewerbsbeziehung, ist die unbeschränkte Übermittlung wesentlicher wettbewerblich sensibler Informationen geeignet, den Wettbewerb i.S. von Art. 101 Abs. 1 AEUV15 zu verfälschen. Denn dadurch kann es zu einer Einschränkung des Aktionsparameters „Geheimwettbewerb“ zwischen den Wettbewerbern kommen. Der Verletzer erhält zudem durch die Informationen die Möglichkeit, sich aufgrund der erhaltenen Kenntnisse vor allem über bestimmte Verhaltensweisen der Abnehmer einen Wettbewerbsvorsprung auch vor anderen und am konkreten Rechtsstreit unbeteiligten Wettbewerbern zu verschaffen. Ein solches Ergebnis ist unvereinbar mit dem Schutz des unverfälschten Wettbewerbs: einen Wettbewerbsvorsprung soll sich ein Unternehmen nur verschaffen können, wenn dies auf einer eigenen unternehmerischen Leistung und nicht auf einer wettbewerbsfremden Verhaltensweise beruht.
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Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Ann, Rechtsgutachten zu den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von § 140 b PatG [MS], 2010, S. 19 ff. 15 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 2008, ABl. Nr. C 115, S. 47, zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndB 2010/718/ EU vom 29. 10. 2010, ABl. Nr. L 325, S. 4.
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Durch die Informationsübermittlung kann zudem auch der Wettbewerb auf der Stufe der Abnehmer von Verletzer und Verletztem betroffen sein. Durch eine unbeschränkte Preisgabe der Informationen, die sich vor allem auf die Abnahmemengen und die diesbezüglichen Preise beziehen, erhält der Verletzte wettbewerblich relevante Informationen über die nachgelagerte Marktstufe der Abnehmer. Es besteht dann die Gefahr, daß insoweit der Geheimwettbewerb aufgehoben wird, da der Verletzte und Auskunftsberechtigte einen Überblick über eine gesamte Marktstufe erhält. Dies wäre ihm ansonsten in diesem detaillierten Umfang kaum möglich. Er würde dadurch in die Lage versetzt […], aufgrund dieser Kenntnisse bestimmte Abnehmer im Bezug auf Preise und Konditionen zu diskriminieren, sie etwa dafür zu „bestrafen“, daß der Betreffende in der Vergangenheit bei Wettbewerbern erheblich größere Mengen abgenommen hat. Preisgaben von Informationen über Preise oder die Preisgestaltung zählen damit zu den besonders gravierenden, sogenannten „Hardcore“-Verstößen. Bei ihnen wird die Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vermutet.16 Die erzwungene Offenbarung geheimer Informationen greift damit in den Wettbewerb ein. Die im Betriebsgeheimnis kondensierte unternehmerische Leistung des Wettbewerbers wird neutralisiert: denn bei Offenlegung der Preise läßt sich die individuelle Preisgestaltung des Wettbewerbers ableiten. Mittels einer Wertkostenanalyse kann der Wettbewerber die Preisgestaltung des Konkurrenten für Alternativlösungen auch für andere Produkte im fraglichen Produktsegment mit hoher Genauigkeit berechnen. Die Konkurrenten würden derart in den Stand versetzt, die wirtschaftlich bedeutendsten Kunden des Wettbewerbers zu identifizieren, seine Angebote zu unterbieten, diese Kunden gezielt anzusprechen und für sich zu werben. Dabei profitierten sie von der während langjährigen Geschäftsbeziehungen herausgebildeten individuellen Preisgestaltung. Aufgrund des scharf geführten Wettbewerbs würden bei Offenlegung der Preise gegenüber ihrem Konkurrenten diese auch den abnehmenden Kunden bekannt werden und auch dort erheblichen Preisdruck erzeugen. Die Möglichkeit zu individueller Preisgestaltung wäre stark gefährdet, wenn nicht sogar ausgeschlossen. Eine derartige Beschränkung greift in erheblichem Maße in die unternehmerische Handlungsfreiheit des zur Offenlegung seiner Betriebsgeheimnisse verpflichteten Wettbewerbers ein. Der Vermögenswert der entsprechenden Betriebsgeheimnisse hinsichtlich der Preise ist nach alledem nicht ernsthaft zu bestreiten.17 Darin liegt die grundrechtliche Bedeutung des „ohnehin recht weitgehenden Anspruchs“18 auf Auskunftserteilung nach § 140b Abs 7 PatG. Eine zwangsweise Offenlegung ist zudem endgültig und kann auch durch Sicherheitsleistung nicht kompensiert werden. Die Intensität des Grundrechtseingriffs wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, daß der Wert eines 16 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung (de minimis), ABl. 2001 C 368/13 Rn. 11. 17 Ebenso: McGuire/Joachim/Künzel/Weber, GRUR Int. 2010, S. 829 (831). 18 Vgl. BT-Dr. 11/4792, S. 32.
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Geschäftsgeheimnisses nur schwerlich beziffert werden kann. Das muß er aber auch nicht: Geschäftsgeheimnisse haben einen – unschätzbaren – Wert, auch wenn sie keinen – bezifferbaren – Preis haben. 2. Eigentumsrechtliche Zuweisung über den Schutz des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ Innehabung, Verfügung und Verwertung von Betriebsgeheimnissen zählen zum verfassungsrechtlich geschützten Recht „am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“. Dieses gehört zu den verfassungsrechtlich als Eigentum geschützten vermögenswerten Rechten des Privatrechts.19 Von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung als sonstiges Recht i. S. d. § 823 Abs. 1 BGB entwickelt und seit langem gewohnheitsrechtlich anerkannt, schützt es die Sach- und Rechtsgesamtheit eines wirtschaftlichen Unternehmens, dessen Wert gerade in der spezifischen Zusammenfassung der Mittel, ihres Einsatzes und der zugehörigen Kenntnisse und Erfahrungen besteht.20 Dieser Mehrwert des Betriebes als organische Betriebseinheit geht über die Summe der ohnehin gewährleisteten Einzelrechte hinaus. Gerade in diesem betrieblichen Mehrwert drückt sich die besondere unternehmerische Leistung aus: er bestimmt den Wert des Unternehmens auf dem Markt und ist daher rechtlich als sonstiges Recht geschützt. Der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb weist damit sämtliche den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff konstituierende Merkmale auf: gesetzliche Zuordnung (§ 823 Abs. 1 BGB), rechtliche Anerkennung, Ausdruck eigener Leistung und Verfügungsmacht über das Unternehmen als Ganzes. Integrierten Betrieben korrespondiert verfassungsrechtlich integrierter Eigentumsschutz.21 Die Grundsatzposition des BGH ist daher nach wie vor überzeugend: der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums umfaßt „den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht nur in dessen eigentlichem Bestand, sondern auch in dessen einzelnen Erscheinungsformen, wozu die gesamte gewerbliche Tätigkeit zu rechnen ist, vor unmittelbaren Störungen. […] Zum Gewerbebetrieb gehören nach heutiger Auffassung nicht nur die Betriebsgrundstücke und -räume sowie die Einrichtungsgegenstände, die Warenvorräte und die Außenstände; dazu gehören auch geschäftliche Verbindungen, Beziehungen, der Kundenstamm, kurz: alles das, was in
19 BVerwGE 67, 93 (96); BGHZ 111, 349 (355 f.); Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 132 ff.; Badura, in: HbVerfR, S. 387 Rn. 94; Leisner, in: HStR VI, 1992 § 149 Rn. 108 ff.; Engel, AöR 118 (1993), S. 169 (191, 204 f.); Ossenbühl, Die beruflichen und wirtschaftlichen Grundrechte im deutschen Grundgesetz, in: Kirchhof/Kommers (Hg.), Deutschland und sein Grundgesetz, 1993, S. 283 (304 f.); a. A. Sendler, UPR 1983, S. 33 (36); Schmidt, Eigentumsschutz für Gewerbebetriebe, 2001, S. 220; Engel, AöR 118 (1993), S. 169 (191). 20 Ann, Know-how – Stiefkind des Geistigen Eigentums, GRUR 2007, S. 39 (43) m.w.N. 21 Leisner, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 1992, § 149 Rn. 111.
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seiner Gesamtheit den wirtschaftlichen Wert des konkreten Betriebes ausmacht.“22 Und zu dieser Gesamtheit zählen eben auch und nicht zuletzt die Betriebsgeheimnisse. Das Bundesverfassungsgericht läßt in jüngerer Zeit die Frage ausdrücklich offen, „ob – eigentumsrechtlich gesehen – das Unternehmen [nur] eine tatsächliche, nicht aber eine rechtliche Zusammenfassung der zu seinem Vermögen gehörenden Sachen und Rechte ist, die an sich schon vor verfassungswidrigen Eingriffen geschützt sind.“23 Ungeachtet der damit aufgeworfenen prinzipiellen Frage handelt es sich beim Betriebseigentum auch nicht nur um die tatsächliche, sondern auch und gerade um die rechtlich anerkannte Zusammenfassung der Einzelrechte zu einem ökonomisch integrierten Wirtschaftskörper. Der einzelne Betrieb gehört zu den natürlich abgegrenzten Gütern, die als Rechte grundsätzlich ohne weitere Konkretisierungen eigentumsrechtlich geschützt sind. Es bedarf nur der eigentumsrechtlichen Zuordnung des Unternehmens als solchem, um den Schutz des Betriebseigentums in all seinen Facetten gegenüber Dritten und gegenüber dem Staat zu realisieren. Diese rechtliche Zuordnung als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist erfolgt und richterrechtlich ausgeformt.24 Eine gerichtliche Verpflichtung zur Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen würde damit in die vermögenswerte und rechtlich zugewiesene Eigentumsposition des Unternehmers eingreifen. 3. Geschäftsgeheimnisse als eigenständige Rechtsposition Ungeachtet dessen werden Geschäftsgeheimnisse von der positiven Rechtsordnung in zunehmendem Maße ausdrücklich unter rechtlichen Schutz gestellt. Sie werden als Rechtspositionen des Geheimnisträgers ebenso rechtlich anerkannt wie andere Ausdrucksformen des geistigen Eigentums, z. B. Patente. Insoweit kann zum einen auf die internationale Entwicklung zum Schutz des geistigen Eigentums rekurriert werden, aber auch auf nationale Regelungen, die ausdrücklich dem Schutz des Geschäftsgeheimnisses zu dienen bestimmt sind.
22
BGHZ 23, 157 (162 ff.); 45, 150 (155); 78, 41 (44). BVerfGE 51, 193 (221 f.); 66, 116 (145); 68, 193 (222 f.); 96, 375 (397); 105, 225 (278). 24 Im Ergebnis ebenso: BVerwG, NVwZ 2009, S. 1114 (1116); Huhmann, Die verfassungsrechtliche Dimension des Bankgeheimnisses, 2002, S. 312 ff.; Bullinger, Wettbewerbsgerechtigkeit bei präventiver Wirtschaftsaufsicht, NJW 1978, S. 2173 ff.; Papier, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. 1, Art. 14 Rn. 99; ders., NJW 1985, S. 12 (13); Breuer, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 1992, § 148 Rn. 26 f.; Sieckmann, Modelle des Eigentumsschutzes, 1998, S. 177; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 133. 23
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a) Zuweisung als Rechtsposition durch das TRIPs-Abkommen25 Bestimmungen zum Schutze des geistigen Eigentums sind erstmals mit dem Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages zur Errichtung der WTO in das GATTRegelwerk aufgenommen worden. Das TRIPs-Abkommen ist als Anhang zum WTO-Abkommen Bestandteil der Welthandelsorganisation.26 Als multilaterales Handlungsabkommen der EU soll es einen geeigneten Schutz geistigen Eigentums in den Mitgliedsstaaten sicherstellen. Nach TRIPs erfaßt der Begriff des geistigen Eigentums aber keineswegs nur die gewerblichen Schutzrechte, das Marken- und das Urheberrecht, sondern auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Dies folgt aus Art. 1 Abs. 2 TRIPs, der alle in den Abschnitten 1 bis 7 des Teils 2 des TRIPs geregelten Kategorien des geistigen Eigentums erfaßt, also auch den in Abschnitt 7 verorteten Schutz geheimer Informationen (Protection of Undisclosed Information, Art. 39 TRIPs). Art. 39 TRIPs verpflichtet die WTO-Mitgliedstaaten, natürliche und juristische Personen vor der Offenbarung geheimer Informationen zu schützen. Durch die Aufnahme von „nicht offenbarten Informationen“ in den Schutzkatalog des Abkommens wird die enge Verwandtschaft von Geheimnisschutz und Schutz von Immaterialgüterrechten unterstrichen.27 Daher fallen auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse in den Anwendungsbereich der Richtlinie und genießen somit deren positiven Schutz28, wobei allen Schutzrechten gleicher Stellenwert zukommt.29 b) Zuweisung als Rechtsposition durch EU-Recht Geschäftsgeheimnisse sind als geistiges Eigentum auch von der EnforcementRichtlinie30 der Europäischen Union anerkannt und geschützt. Ausweislich des Erwägungsgrunds (13)31 wurde der Anwendungsbereich der Richtlinie breit gefaßt, 25 Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights = TRIPs-Abkommen), Fassung vom 15. April 1994, zuletzt geändert durch ÄndG vom 6. 12. 2005, ABl. 2007 Nr. L 311 S. 37, BGBl. II S. 1730, Beschluss des Rates, 94/800/EG, ABl. L 336 vom 23. Dezember 1994. 26 von Danwitz, Eigentumsschutz in Europa und im Wirtschaftsvölkerrecht, in: Danwitz/ Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 284. 27 Harte-Bavendamm, in: ders./Henning-Bodewig, BeckOK, UWG, Vorb. §§ 17 – 1 Rn. 2. [Stand: März 2009]. 28 Eine weitestgehende Übereinstimmung mit den von der deutschen Rechtsprechung entwickelten Anforderungen an Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse mit Art. 39 TRIPs feststellend: McGuire/Joachim/Künzel/Weber, GRUR Int. 2010, S. 829 (831). 29 Ann, Rechtsgutachten zu den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen von § 140 b PatG [MS], 2010, S. 7. 30 Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl. Nr. L 157 S. 45, gesamte Vorschrift ber. ABl. Nr. L 195, S. 16. 31 „Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie muss so breit wie möglich gewählt werden, damit er alle Rechte des geistigen Eigentums erfasst, die den diesbezüglichen Gemein-
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damit er alle Rechte des geistigen Eigentums erfaßt. Gewerbliche Schutzrechte sind explizit eingeschlossen, wie sich aus Artikel 1 der Richtlinie ergibt.32 Dass auch geheime Informationen wie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse besonderem Schutz unterliegen sollen, lässt sich Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie entnehmen, wonach Beweissicherungsmaßnahmen unter dem Vorbehalt der Gewährleistung des Schutzes vertraulicher Informationen stehen. In Erwägungsgrund (4) der Richtlinie wird zudem auf das TRIPs-Übereinkommen Bezug genommen. Damit legt die Enforcement-Richtlinie einen einheitlichen Begriff des geistigen Eigentums zugrunde, dem auch die Betriebsgeheimnisse unterfallen. Aus diesem Blickwinkel erweisen sich Betriebsgeheimnisse als vom europäischen Recht eigenständig geschützte vermögenswerte Rechtspositionen.33 c) Zuweisung als Rechtsposition durch nationales Recht aa) Schließlich finden sich auch in der nationalen Rechtsordnung Bestimmungen, die dem Schutz von Betriebsgeheimnissen zu dienen bestimmt sind. An erster Stelle ist hier an das Patentgesetz zu erinnern. Patentrechte sind als geistiges Eigentum vom internationalen und europäischen Recht geschützt. Obwohl keine Patente, schützt das Patentgesetz auch Betriebsgeheimnisse. Insofern nämlich § 140 b Abs. 7 PatG die Offenbarung von Preisen nur zuläßt, wenn die Patentverletzung rechtskräftig festgestellt oder offensichtlich ist, schützt sie die Preispolitik des Unternehmens im Umkehrschluß in genau diesem Umfang.34 Geschäftsgeheimnisse sind rechtlich nicht Gemeingut, sondern dem Geheimnisträger rechtlich zugewiesen. Nur unter der schaftsvorschriften und/oder den Rechtsvorschriften der jeweiligen Mitgliedstaaten unterliegen. Dieses Erfordernis hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, die Bestimmungen dieser Richtlinie bei Bedarf zu innerstaatlichen Zwecken auf Handlungen auszuweiten, die den unlauteren Wettbewerb einschließlich der Produktpiraterie oder vergleichbare Tätigkeiten betreffen.“ – ABl. L 195, 17. 32 „Diese Richtlinie betrifft die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe, die erforderlich sind, um die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums sicherzustellen. Im Sinne dieser Richtlinie umfasst der Begriff „Rechte des geistigen Eigentums“ auch die gewerblichen Schutzrechte.“ – ABl. L 195, 19. 33 Dagegen: McGuire/Joachim/Künzel/Weber, GRUR Int. 2010, S. 829 (835), die Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse zwar als Immaterialgüter, jedoch nicht als Immaterialgüterrechte verstehen. 34 Im Ergebnis ebenso: Breuer, NVwZ 1986, S. 171 (174); Denninger, GRUR 1984, S. 633 ff.; Hahn, Offenbarungspflichten im Umweltschutzrecht, 1984, S. 171; Schröder, Der Geheimhaltungsschutz im Recht der Umweltchemikalien, 1980, S. 22: „Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse genießen den Schutz des Art. 14 GG als vermögenswertes Gut, nicht als ,AusstrahlungenÐ des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes“; Taeger, Die Offenbarung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, 1988, S. 62; Pfister, Das technische Geheimnis (Know how) als Vermögensrecht, 1974, S. 46 ff.; Bullinger, NJW 1978, S. 2173 ff.; Schröder, Der Geheimhaltungsschutz im Recht der Umweltchemikalien I, 1980, S. 19 ff; ders., UPR 1985, S. 394 ff.; Axer, in: BeckOK, GG, Art. 14 Rn. 50 [Stand: 15. 07. 2009]; – Einzelheiten m.w.N.: Brammsen, DÖV 2007, S. 10 ff. – Wenig überzeugende Gegenposition: Wolff, NJW 1997, S. 98 ff.
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Voraussetzung der Offensichtlichkeit einer Patentverletzung durch einen Geheimnisträger und nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit kann diese rechtliche Zuordnung durchbrochen werden und er zur Offenlegung seiner Betriebsgeheimnisse verpflichtet werden. bb) Neben den auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen zielenden Bestimmungen des Strafrechts (§§ 203 f. StGB) ist hier weiterhin insbesondere auf § 30 VwVfG hinzuweisen. Danach haben die Beteiligten (eines Verwaltungsverfahrens) „Anspruch darauf, daß ihre Geheimnisse, insbesondere die zum persönlichen Lebensbereich gehörenden Geheimnisse sowie die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, von der Behörde nicht unbefugt offenbart werden“. Auch in dieser Bestimmung zeigt sich, daß Betriebsgeheimnisse von der Rechtsordnung als solche gegenüber jedermann geschützt werden.35 IV. Ergebnis Vermögenswirksame Betriebsgeheimnisse sind von der Rechtsordnung auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene als Rechtspositionen ausgeformt und dem Unternehmenseigentümer rechtlich zugewiesen. Sie konstituieren einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich“36 und sind daher neben Art. 12 Abs. 1 GG auch von der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG geschützt.
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So Bullinger, NJW 1978, S. 2173 (2178). BVerfGE 97, 350 (370).
Gemeinsame Finanzierung von Infrastrukturprojekten durch Bund und Länder – Zum Verbot der „Mischfinanzierung“ Von Markus Deutsch I. Einleitung Wolf Rüdiger Schenke gehört zu den Hochschullehrern, die immer wieder die Bedeutung des Staatsorganisationsrechts betont haben. Der Verfasser verdankt ihm die Erkenntnis, dass Kompetenzen weit mehr als formale Positionen, sondern weitreichende hoheitliche Machtbefugnisse sind. Befugnisse werden nicht nur materiell, sondern auch durch Zuständigkeitsregelungen begrenzt. Im föderalen Bundesstaat ist die Abgrenzung der Aufgaben von Bund und Ländern eine der wichtigsten Funktionen des Staatsorganisationsrechts. Staatsorganisation bedeutet aber nicht nur die Zuweisung von Aufgaben und Aufgabenwahrnehmung. Aufgaben und Aufgabenwahrnehmung ziehen Ausgaben nach sich1. Das Ob und Wie der Aufgabenwahrnehmung wird durch die Befugnis bestimmt, Ausgaben zu machen. Die Dimension dieser Ausgabenverantwortlichkeit wird vor dem Hintergrund des Wandels des modernen Staats zum Daseinsvorsorgestaat deutlich. Die ihm obliegenden Aufgaben gehen weit über den Bereich der klassischen Eingriffsverwaltung hinaus. Er erbringt nicht nur umfangreiche Leistungen für die Bürger, sondern stellt auch unverzichtbare Einrichtungen für die Allgemeinheit – vor allem im Bereich der Infrastruktur – bereit. Mit den Aufgaben wächst auch sein Finanzbedarf. Im föderalen Bundesstaat ist eine wesentliche Aufgabe die Verteilung der Einnahmen- und Ausgabenzuständigkeit zwischen Bund und Ländern. Das Grundgesetz regelt diese Fragen in einem besonderen Abschnitt der Finanz- und Haushaltsverfassung. Schon dies zeigt die Bedeutung, die der Verfassungsgeber dieser Materie beigemessen hat. Sowohl der Bund als auch die Länder müssen über eine sachgerechte Finanzausstattung verfügen. Es ist Ausdruck ihrer Eigenstaatlichkeit, dass sie ihre Aufgaben in eigener politischer Verantwortung und möglichst unbeeinflusst von der jeweils anderen Gebietskörperschaft wahrnehmen können. Eine Finanzverfassung, die das sicherstellt, ist einer der tragenden Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes2. Andererseits gibt es gerade zwischen den Aufgaben des Bundes und denen der Länder vielfache Berührungspunkte, die eine gegenseitige Rücksichtnahme und auch Koopera1 2
Maurer, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2007, § 21 Rn. 1. BVerfGE 55, 274, 300.
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tion fordern. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen3 wirft dies die Frage auf, inwieweit Bund und Länder Sachaufgaben insbesondere im Infrastrukturbereich gemeinsam finanzieren dürfen. II. Die Aussagen der Finanzverfassung Wer die Wahrnehmung der Sachaufgabe finanziert, bestimmt auch über das Ob und Wie der Ausführung. Die alte Bauernweisheit „Wer bezahlt, bestellt“, bringt dies auf den Punkt. Im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge gilt diese Aussage ebenfalls: Die Gebietskörperschaft, in deren Kompetenz die Aufgabe fällt und die die Befugnis (gegebenenfalls auch die Pflicht) der Aufgabenwahrnehmung hat, bestimmt über das Ob und Wie dieser Aufgabenwahrnehmung und trägt den Finanzierungsaufwand. Dahinter steht die Überlegung, dass der, der über die Aufgabenausführung und die konkrete, mehr oder weniger großzügige Ausgestaltung der Sachaufgabe entscheiden darf, das Ausgabenvolumen steuert und deswegen auch die Ausgaben tragen soll4. Stellt eine andere Gebietskörperschaft die Mittel bereit, besteht das Risiko, dass diese über Ob und Wie der Aufgabenwahrnehmung mitbestimmt. Die zuständige Gebietskörperschaft kann veranlasst werden, ihre Befugnisse nach den Vorstellungen einer unzuständigen Gebietskörperschaft auszuüben. Ihre Eigenstaatlichkeit würde dadurch beinträchtigt. 1. Art. 104 a GG als Kernaussage der Finanzverfassung Diese Überlegungen stehen hinter der Lastenverteilungsregelung des Art. 104a Abs. 1 GG, einer der Kernaussagen der bundstaatlichen Finanzverfassung. Danach haben Bund und Länder jeweils gesondert die Ausgaben zu tragen, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben. Die Ausgabenverantwortung folgt also der Aufgabenkompetenz (Konnexität von Aufgaben- und Ausgabenverantwortung). Aufgaben in diesem Sinne sind nach herrschender Meinung die Verwaltungsaufgaben, nicht jedoch die Gesetzgebungskompetenzen5. Ausnahmen von der Ausrichtung an den Verwaltungskompetenzen sind zulässig, soweit sie in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen sind. Dies sind die Fälle der echten Gemeinschaftsaufgaben. Führen die Länder nach Art. 84 GG Bundesgesetze im Auftrag des Bundes aus, trägt der Bund die sich daraus ergebenden Sachausgaben (Art. 104a Abs. 2 GG). 3 H. Meyer, DVBl. 2011, 449 ff. in Auseinandersetzung mit Dolde, Verfassungsmäßigkeit eines verlorenen Zuschusses des Landes Baden-Württemberg zur Finanzierung der NBS Stuttgart Ulm, Gutachten, 2007, passim. 4 Schoch/Wieland, Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1995, S. 130 m.w.N. 5 BVerfGE 26, 338 (390); BVerwGE 44, 351 (364); 102, 119 (124); zur Anknüpfung an die Verwaltungsaufgaben Prokisch, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: Dezember 2009, Art. 104a Rn. 73 ff.; Klein, in: ders., Lehrbuch des öffentlichen Finanzrechts, 1987, S. 6; Schoch/Wieland, (Fußn. 4) S. 130 m.w.N.
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Der Bund kann ferner Aufwendungen ganz oder teilweise übernehmen, wenn dies in Bundesgesetzen bestimmt ist, die finanzielle Zuweisungen aus öffentlichen Mitteln an Dritte vorsehen und die von den Ländern ausgeführt werden. Ferner kann der Bund gemäß Art. 104b GG den Ländern Finanzhilfe für bedeutsame Investitionen der Länder bzw. der Gemeinden und Gemeindeverbände gewähren. Weitere Ausnahmen enthalten die Art. 91a GG (insbesondere die Bestimmungen zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur), Art. 91b GG (Bildung und Forschung), Art. 91c GG (Zusammenwirken bei Planung, Errichtung und Betrieb informationstechnische Systeme) und Art. 91e GG (Zusammenwirken auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitssuchende). Vom Grundsatz des Art. 104a Abs. 1 GG weichen auch die Bestimmungen über gemeinschafts- und völkerrechtlich bedingte Belastungen (Art. 104a Abs. 6, 109 Abs. 5 GG), über die Pflicht des Bundes zum Ausgleich für Sonderbelastungen (Art. 106 Abs. 8 GG) und über die Finanzierung der Kriegsfolgelasten sowie über die Zuschüsse zu den Sozialversicherungssystemen (Art. 120 GG)6 ab. 2. Die Probleme der Konnexität von Aufgaben- und Ausgabenverantwortlichkeit Diese vermeintlich klaren Vorgaben bergen einer Reihe praxisrelevanter Probleme. a) Gesetzesvollzug und Ausgabenverantwortung Unter bundesstaatlichen Gesichtspunkten unproblematisch sind sie, wenn es um Aufgaben geht, bei denen Gesetzgebung und Gesetzesvollzug ausschließlich beim Bund oder ausschließlich bei den Ländern liegen. Problematisch wird es bereits dann, wenn der Bund Gesetze erlässt, die die Länder auszuführen haben7. Nicht mehr die eigenverantwortliche Ausfüllung der jeweiligen Sachaufgabe, sondern die gesetzliche Zuweisung von immer neuen Funktionen steuert die Ausgabenverantwortlichkeit. Im Verhältnis von Bund und Ländern hat dies weitreichende Folgen: Nicht ohne Berechtigung ist in der Literatur von einem partiellen Wegfall der Geschäftsgrundlage des Art. 104 a GG die Rede8. b) Das Aufeinandertreffen von Kompetenzen Ein damit, aber auch mit der zunehmenden Durchreglementierung vieler Bereiche verbundenes, in der rechtlichen Diskussion bisher nur unvollkommen aufgearbeitetes Problem ist das der unechten Gemeinschaftsaufgaben. Darunter versteht man Sachaufgaben, die von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden, ohne dass einer 6
Maurer, Staatsrecht II, (Fußn. 1), § 21 Rn. 9 ff. Zu dieser Problematik Maurer, Staatsrecht II, (Fußn. 1), § 21 Rn. 8; zu der Finanzbelastung der Kommunen durch gesetzliche Aufgabenzuweisungen Schoch/Wieland, (Fußn. 4), S. 15 ff. 8 Schoch/Wieland, (Fußn. 4), S. 140. 7
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der ausdrücklich in der Verfassung geregelten Ausnahmefälle vorliegt. Handgreiflich ist dies dann spürbar, wenn sich eine Gebietskörperschaft an einer vermeintlich allein in die Aufgabenkompetenz einer anderen Gebietskörperschaft fallenden Aufgabe ausschließlich finanziell beteiligt, weil sie dadurch auf eine eigene Aufgabenwahrnehmung verzichten kann. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Problem in der grundgesetzlichen Verteilung der Verwaltungskompetenzen angelegt, an die Art. 104a Abs. 1 GG anknüpft. Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Der Bund hat also nur in bestimmten, abschließenden Fällen die Verwaltungskompetenz für die Ausführung der Bundesgesetze9. Die Verwaltungskompetenz für die Ausführung der Landesgesetze obliegt ohnehin den Ländern. Schon dies legt nahe, dass es bei der Kompetenzausübung angesichts der enumerativen Bundeskompetenzen einerseits und einer allumfassenden Landeskompetenz andererseits vielfach zu Berührungen zwischen den Aufgaben des Bundes und der Länder kommen kann. Ein weiterer Aspekt ist das „Aufgabenerfindungsrecht“ des Staates im Bereich der Daseinsvorsorge. Anders als bei der Eingriffsverwaltung, bei der eine klare gesetzliche Regelung von Zuständigkeiten Kompetenzüberschneidungen vermeidet, ist dies bei der Daseinsvorsorgeverwaltung nicht zwingend. Dies gilt insbesondere bei der nicht gesetzesakzessorischen Daseinsvorsorge. Eine klassische Konstellation des Aufeinandertreffens von Verwaltungskompetenzen des Bundes einerseits und Verwaltungskompetenzen der Länder andererseits ist das Kreuzungsrecht im Verkehrsinfrastrukturbereich. So ist etwa der Bau der Eisenbahninfrastruktur Verwaltungsaufgabe des Bundes, der Bau von Landesstraßen Verwaltungsaufgabe des jeweiligen Bundeslandes. Beide Infrastrukturen werden sich zwangsläufig kreuzen. Auf den ersten Blick ist nahe liegend, dass für diese Fälle eine gemeinsame Lösung bis hin zu einer Regelung der gemeinsamen Finanzierung gefunden werden muss. Nichts anderes gilt, wenn etwa ein Bundesland eine Aufgabenerfüllung durch den Bund nutzt, um seinerseits gleichsam als „Trittbrettfahrer“ eigene Aufgaben mit zu erfüllen. Und schließlich sind Fälle denkbar, in denen die Aufgabenwahrnehmung durch eine Gebietskörperschaft – unter Umständen sogar obligatorisch – eine Verwaltungstätigkeit der anderen Gebietskörperschaft auslöst. In diesen Fällen scheint es wenig sachgerecht, uneingeschränkt an der Konnexität von Aufgaben- und Ausgabenverantwortung festzuhalten. Tatsächlich gibt es gerade bei der Verkehrsinfrastruktur immer wieder Fälle, in denen bestimmte Maßnahmen von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. Ein Beispiel für eine derartige Maßnahme ist etwa die geplante Verlegung der heutigen Bahntrasse der rechtsrheinischen Hauptstrecke der Deutschen Bundesbahn AG in einen Tunnel im Bereich der Stadt Rüdesheim10. Hier haben Kommunen, die hessische Landesregierung, der Bund und die Deutsche Bundesbahn AG eine gemeinsa9 Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, 1975, S. 200 mit dem Hinweis auf ungeschriebene Verwaltungszuständigkeiten des Bundes. 10 BT-Drucks. 16/3408.
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me Finanzierung vereinbart. An der Neubaustrecke Stuttgart – Ulm beteiligt sich das Land Baden-Württemberg mit einem erheblichen finanziellen Zuschuss. Die Stadt Frankfurt diskutiert eine Kostenbeteiligung an der Einhausung einer Autobahn, die durch städtisches Gebiet in unmittelbarer Nähe von Wohnsiedlungen führt11. Und immer wieder gibt es Hinweise darauf, dass bestimmte Infrastrukturmaßnahmen von Bund und Ländern gemeinsam finanziert werden. III. Das Verbot der Mischfinanzierung Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die Problematik der Mitfinanzierung solcher Maßnahmen durch Bund und Länder nicht Gegenstand einer intensiveren juristischen Diskussion ist. Sie wird – wenn überhaupt – unter dem Begriff der „unechten Gemeinschaftsaufgaben“ bzw. dem Verbot der Mischfinanzierung mehr oder minder apodiktisch geführt. 1. Die Mischfinanzierung in der Rechtsprechung Die Rechtsprechung musste sich dieses Problems mehrfach annehmen. a) Keine Ansprüche auf Mitfinanzierung aus Art. 104a Abs. 1 GG Vergleichsweise frühzeitig haben die Gerichte geklärt, dass Art. 104a Abs. 1 GG keine Ansprüche auf Mitfinanzierung einräumt. So wies das Bundesverwaltungsgericht eine Klage der Deutschen Bundesbahn ab, die nach der Änderung der Bezeichnung einer Kommune und der deswegen notwendig gewordenen Umbenennung des Bahnhofs die Umbenennungskosten von der Kommune heraus verlangt hatte. Das Gericht lehnte ein Anspruch aus Art. 104 Abs. 1 GG ab, da die Umbenennung in der ausschließlichen Verwaltungskompetenz des Bundes liege12. Ähnlich erging es der Deutschen Bundespost in der Auseinandersetzung mit einer Kommune als Trägerin der Straßenbaulast. Wegen der (vergeblichen) Suche der Kommune nach Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg im Straßenraum hatte die die Deutsche Bundespost eine Telegrafenleitung verlegt. Den ihr dadurch entstandenen Aufwand verlangte sie von der Kommune unter anderem unter Berufung auf Art. 104a Abs. 1 GG heraus. Der Bundesgerichtshof lehnte ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht bei der Bahnhofumbenennung einen verfassungsrechtlichen Ausgleichsanspruch ab13. Die Verwaltungskompetenz für die Verlegung von Fernmeldeleitungen liege beim Bund, da die Bundespost in bundeseigener Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau geführt werde. Die Deutsche Bundespost könne 11 12 13
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 03. 2011, Nr. 65, S. 45. BVerwGE 44, 351 (364 f.). BGH, NJW 1987, 1625 (1627).
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sich daher nicht auf Art. 104a GG berufen, um der beklagten Stadt die Kosten der Verlegung des Kabels aufzubürden. Abgelehnt hat die Rechtsprechung auch Ansprüche der Deutschen Bundesbahn gegen ein Bundesland auf Erstattung von Kosten für die Absicherung eines Bahnübergangs, die in Folge einer unangekündigten Straßenbaumaßnahme erforderlich geworden war14. Das Bundesverwaltungsgericht war der Auffassung, dass die Absicherung des Bahnübergangs eine Aufgabe der Bahn war. Auf die Frage, wer den zusätzlichen Verkehr veranlasst habe, komme es nicht an. In den hier vorliegenden Fällen der Gefahrenabwehr gebe es eine klare überschneidungsfreie Abgrenzung der Zuständigkeitsordnungen. Für einen Anspruch der Deutschen Bundesbahn sah das Bundesverwaltungsgericht daher keinen Raum. Diesen Sachverhalten ist gemeinsam, dass das Handeln eines Kompetenzträgers die Aufgabenwahrnehmung des anderen Kompetenzträgers ausgelöst hat. Die Gerichte haben angeknüpft, in wessen Kompetenz die jeweilige Maßnahme fiel. Bei genauerer Betrachtung wäre das nicht notwendig gewesen. Dass nämlich Art. 104a Abs. 1 GG keine Zahlungsansprüche des Bundes oder der Länder begründet, ergibt sich aus dem Wortlaut und aus der systematischen Stellung der Vorschrift in den Bestimmungen der Finanzverfassung, die Zuständigkeiten abgrenzen. Umgekehrt bedeutet dies nicht, dass Bund und Länder in den entschiedenen Fällen gehindert gewesen wären, eine Vereinbarung über die Finanzierung der Maßnahmen zu treffen. Stimmen im Schrifttum15 weisen darauf hin, dass zwar verschiedene Aufgabenzuständigkeiten vorlagen, aber ein übergreifender Aufgabenzusammenhang gegeben war, in dem mehrere Verwaltungsträger zur gemeinsamen Erfüllung einer Sachaufgabe zusammengewirkt haben. Würden in einem solchen Fall dem Bund bzw. dem Land Kosten für die von dem anderen Teil wahrgenommene Aufgabe nicht als solche, sondern in der Stellung als Mitverantwortlicher für die Gesamtaufgabe auferlegt, sei Art. 104a Abs. 1 GG nicht verletzt. Damit wird – wenn auch ein wenig verklausuliert – der eigentliche Gehalt des Art. 104a Abs. 1 GG angesprochen: Wie weit reicht das aus ihm abgeleitete Verbot der Misch- oder Mitfinanzierung? Können Bund und Länder Vereinbarungen darüber treffen, dass in naheliegenden Konstellationen ein Aufgabenverantwortlicher die Erfüllung der Aufgabe dem anderen Kompetenzträger überlässt und sich auf eine Mitfinanzierung beschränkt? b) Die Übertragung der Aufgabenwahrnehmung und ihre Mitfinanzierung Bei einem besonders engen Zusammenhang wird diese Frage bejaht. Er liegt vor, wenn Träger von Infrastrukturaufgaben zwangsläufig auf den gleichen Raum zugrei14 15
BVerwG, JZ 1992, 460 (461). Lorenz, JZ 1992, 462 (464).
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fen müssen. Dies sind die klassischen Fälle des Kreuzungsrechts. Sowohl das Straßen- (§ 12 Abs. 2 FStrG) als auch das Wasserstraßen- (§ 41 Abs. 5 WaStrG) und das Eisenbahnrecht (§§ 11 Abs. 2, 12 Nr. 2, 13 EKrG) enthalten Regelungen, die eine Kostenteilung der betroffenen Körperschaften vorsehen. Die gemeinsame Finanzierung ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsgemäß, wenn die Kostenverteilung an die Baulast für die beteiligten Verkehrswege anknüpft16. Dass die Entscheidung noch zur Verfassungsrechtslage vor der Einfügung des Art. 104a Abs. 1 GG ins Grundgesetz erging, entwertet sie nicht. Die bis dahin herrschende Auffassung17 war auch auf der Grundlage des Art. 106 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 GG a.F. davon ausgegangen, dass Bund und Länder gesondert die Ausgaben zu tragen hatten, die sich aus der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Verwaltungsaufgaben ergaben. Ein absolutes Mitfinanzierungsverbot folgt daher aus dem Konnexitätsprinzip nicht. Es wäre in der Tat ein befremdliches Ergebnis, wenn eine derartige Regelung mit Art. 104a Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren wäre. Angesichts der Unabweisbarkeit von Kreuzungen verschiedener Infrastruktureinrichtungen muss zwangsläufig nicht nur eine Abstimmung unter den verschiedenen Infrastruktur- und Aufgabenträgern vorgenommen, sondern auch eine gemeinsame Kostenverteilung geregelt werden. Alles andere würde dazu zwingen, aus rein formalen Gründen – Verbot einer Mischfinanzierung – ineffizient zu handeln und unnötigen Aufwand zu produzieren. c) Die einheitliche Sachaufgabe Einer Mitfinanzierung zugänglich sind auch Konstellationen, in denen sich unterschiedliche Verwaltungskompetenzen verschiedener Aufgabenträger auf einen einheitlichen Sachzusammenhang beziehen. Nach Art. 89 Abs. 2 GG ist der Bund der zuständige Verwaltungsträger für die Bundeswasserstraßenverwaltung. Seine Kompetenz umfasst die Unterhaltung, den Aus- und den Neubau der Wasserstraßen. Das Wasserhaushaltsrecht ist dagegen eine Verwaltungszuständigkeit der Länder. Unter ihre Kompetenz fällt etwa der Gewässerausbau. Beide Aufgabenzuständigkeiten sind zwangsläufig miteinander verflochten. Der Ausbau einer Wasserstraße wirkt sich auf den Wasserhaushalt aus; wasserhaushaltsrechtliche Maßnahmen können und werden die Verkehrsfunktion einer Bundeswasserstraße beeinflussen. Art. 89 Abs. 3 GG verweist deswegen ausdrücklich darauf, dass bei der Verwaltung, dem Aus- und dem Neubau von Wasserstraßen die Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft im Einvernehmen mit den Ländern zu wahren sind. Dies bedeutet nicht, dass die Länder ihrerseits bei Maßnahmen der Wasserwirtschaft die Verkehrsfunktion der Wasserstraße nicht berücksichtigen müssen. Das Bundesverwaltungsgericht18 spricht in diesem Bereich zu Recht von einer „Mischverwaltung“.
16 17 18
BVerfGE 26, 338 (390 f.). BVerfGE 26, 338 (389). BVerwG, NVwZ 2002, 1239 (1242).
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Bei einer solchen Mischverwaltung muss auch eine Mischfinanzierung zulässig sein19. d) Die Beteiligung an der Aufgabe des anderen Verwaltungsträgers Als „leading case“ und Prüfstein für die Anwendung des Art. 104a Abs. 1 GG wird eine gemeinsame Finanzierung bei sich funktional überschneidenden unterschiedlichen Verwaltungsaufgaben diskutiert. Das Bundesverwaltungsgericht hat es gebilligt, dass eine Kommune der Deutschen Bahn den Aufwand für die Errichtung eines Schülerhaltepunktes und für den Betrieb von Schülerzügen mitfinanzierte20. Der Kommune oblag nach Landesrecht als Pflichtaufgabe der Schülerverkehr. Wegen der Lage des Schulzentrums in der Nähe der Bahnlinie entschied sie sich gegen eine Anbindung über Schulbusse, sondern vereinbarte mit der Deutschen Bahn den Bau eines Schülerhaltepunktes und den Betrieb von entsprechenden Zügen. In einem Vertrag verpflichtete sie sich zur Mitfinanzierung des Baus der Haltestelle und zur Zahlung einer Betriebskostenpauschale. Die Baukosten bezahlte sie, die Betriebskostenpauschale zunächst auch, behielt sie dann aber unter Hinweis auf die angebliche Unwirksamkeit des Vertrags ein21. Das Bundesverwaltungsgericht gab der Klage der Deutschen Bundesbahn statt. Die Vereinbarung verstoße nicht gegen Art. 104a Abs. 1 GG. Das in dieser Verfassungsvorschrift geregelte Verbot der Mischfinanzierung verbiete es zwar, dass eine Gebietskörperschaft sich außerhalb ihrer Aufgabenzuständigkeit an den Kosten beteilige, die einer Gebietskörperschaft der anderen Ebene bei Erfüllung von allein von dieser nach der verfassungsmäßigen Zuständigkeitsordnung wahrzunehmenden und wahrgenommenen Aufgaben entstünden. Dagegen hielt das Gericht es für zulässig, dass Bund und Länder (einschließlich der Gemeinden) in einem Aufgabenbereich der Leistungsverwaltung (Daseinsvorsorge) zusammenarbeiteten, in dem sich – wie im öffentlichen Personennahverkehr – die Kompetenzen zur Aufgabenwahrnehmung überschnitten. Dabei könne auch ein Aufgabenträger die Aufgabe alleine nach Gesichtspunkten der Sachgerechtigkeit und Zweckmäßigkeit ausführen und der andere Aufgabenträger sich auf die Finanzierung beschränken. Art. 104a Abs. 1 GG verbiete es nicht, dass Bund und Länder bzw. Gemeinden in Wahrnehmung jeweils eigener Aufgabenzuständigkeiten zur Erreichung eines bestimmten Ziels zusammenarbeiteten und dabei Vereinbarungen über eine Kostenaufteilung nach dem Maß ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Wahrnehmung der Aufgabe abschlössen. Art. 104a Abs. 1 GG gebiete allenfalls, dass
19
So auch Fastenrath/Simma, DÖV 1983, 8 (9). BVerwG, NVwZ 1989, 876. 21 Wenig überzeugend ist es, wenn Meyer darauf hinweist, in dem Urteil sei es allein um die Betriebskosten gegangen; H. Meyer, DVBl. 2011, 449 (453). Die Errichtungskosten waren ebenfalls Gegenstand des Vertrages. Das Urteil enthält keine Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen, das Bundesverwaltungsgericht hätte einen Streit um die Errichtungskosten anders entschieden. 20
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jeder diejenigen Kosten trage, die dem Anteil seiner Verpflichtung zur Aufgabenwahrnehmung entsprächen. Der Fall zeichnet sich dadurch aus, dass das Land (die Kommune) die ihm obliegende Aufgabe vollständig von der Deutschen Bundesbahn wahrnehmen ließ und sich an dem dafür entstehenden Aufwand finanziell beteiligte. Die Kommune wäre dabei ohne weiteres in der Lage gewesen, ihre Aufgabe – die Schülerbeförderung – auch auf andere Art und Weise zu erfüllen. Es wäre ihr etwa möglich gewesen, einen Schulbusverkehr zu organisieren. Sie war also nicht auf die Zusammenarbeit mit der Deutschen Bundesbahn angewiesen. Eine zwingende Notwendigkeit der Zusammenarbeit zur Kompetenzwahrnehmung durch die Kommune kann also die Mitfinanzierung nicht rechtfertigen. Näher liegt es, insoweit auf das Vorliegen einer Pflichtaufgabe für die Kommune abzustellen. Auch dies ist allerdings kein taugliches Kriterium, um eine Mitfinanzierung zu rechtfertigen. Zum einen bleibt auch dann die Frage, warum die Kommune ihre Aufgabe so erfüllen musste, dass es zu einer Mitfinanzierung kam. Zum anderen – und das ist entscheidend – kann das Abstellen auf eine Pflichtaufgabe kein geeignetes Unterscheidungskriterium sein. Der Kommune war die Aufgabe der Schülerbeförderung durch den Landesgesetzgeber zugewiesen worden. Im Rahmen des Art. 104a Abs. 1 GG ist die Kommune aber im Verhältnis zum Bund Teil des Landes. Wenn das Land der Kommune die Aufgabe aufgibt, den Schülerverkehr durchzuführen, bedeutet dies im Verhältnis zu einer Aufgabenwahrnehmung des Bundes nichts anderes als die Entscheidung des Landes, eine Verwaltungskompetenz so auszuüben, dass das Land (die Kommune) sich die Aufgabenerfüllung des Bundes zu Nutze macht und dessen Kompetenzwahrnehmung mit finanziert. 2. Die Bewertung der Mischfinanzierung im Schrifttum Soweit im Schrifttum die Zulässigkeit der Mit- bzw. Mischfinanzierung überhaupt diskutiert wird, gehen die Meinungen auseinander. a) Mitfinanzierung nur bei ausdrücklicher Zulassung Am engsten ist die Auffassung, die eine Mitfinanzierung nur in den von der Verfassung ausdrücklich zugelassenen Fällen gestatten will22. Diese Auffassung kann zwar für sich anführen, dass der Verfassungsgeber der Finanzreform ein Verbot der Mitfinanzierung fremder Aufgaben einführen wollte. Sie verkennt jedoch, dass in einem föderalen Staat, in dem der Bund nur bestimmte, ihm enumerativ zugewiesene Verwaltungsaufgaben hat, während die Verwaltungsaufgaben ansonsten bei den Ländern liegen, das Zusammentreffen der Kompetenzen von Bund einerseits und Ländern andererseits keine Ausnahme ist. Ebenso wenig berücksichtigt diese Auffas22 H. Meyer, DVBl. 2011, 449 (456); Carl, DÖV 1986, 581 (582); kritisch auch Siekmann, DÖV 2002, 629 (632), der Vereinbarungen über eine Aufteilung der Lasten nach Maßgabe der jeweiligen Aufgabenzuständigkeit als „nicht unbedenklich“ bezeichnet; kritisch ferner Fromm, NVwZ 1992, 536 (538).
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sung, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber diese Konstellationen – wie die Gesetzesbegründung zeigt23 – sehr wohl gesehen hatte. Es ist bezeichnend, dass sie als Beispiel für eine finanzielle Beteiligung der Länder an den Ausgaben des Bundes den Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur der Bundesbahn ausdrücklich erwähnt. Diese enge Auffassung ist daher weder systematisch noch von der Entstehungsgeschichte des Art. 104a GG her überzeugend. b) Überschneidung von Verwaltungszuständigkeiten Großzügiger zugunsten einer Mitfinanzierung von Aufgaben der jeweils anderen Gebietskörperschaft sind die Stimmen im Schrifttum, die eine solche Mit- oder Mischfinanzierung dort für möglich halten, wo sich die Verwaltungszuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen faktisch so überschneiden, dass ein- und dieselbe Maßnahme in die Aufgabenbereiche des Bundes und der Länder fällt. Das sind die Fälle, in denen sich die auszuübenden Kompetenzen – oft zwangsläufig – sachlich oder räumlich berühren24. Diese Autoren tragen der Tatsache Rechnung, dass sich derartige Überschneidungen letztlich nicht vermeiden lassen. Die effiziente Wahrnehmung der Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung von Bund und Ländern verlangt eine Lösung solcher Überschneidungsfälle. Dies hat das Schrifttum25 schon frühzeitig im Zusammenhang mit einheitlichen Sachaufgaben vertreten, die Gegenstand verschiedener Verwaltungskompetenzen sind. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Gemengelage bei Bundeswasserstraßen. Der Bund verwaltet Bundeswasserstraßen im Wege der Bundeseigenverwaltung, soweit sie als Verkehrswege genutzt werden (Art. 89 Abs. 2 GG). Er trägt also die Aufgaben- und Ausgabenverantwortung26. Soweit es dagegen um den Wasserhaushalt geht, liegt die Verwaltungszuständigkeit für die Ausführung der Wasserhaushalts- und wasserrechtlichen Vorgaben dafür gemäß den Art. 83, 30 GG bei den Ländern. Die auf wasserhaushaltsrelevante Maßnahmen entfallenden Aufwendungen haben also die Länder zu tragen. Andererseits berühren Unterhaltung und Betrieb der Bundeswasserstraße, aber auch Ihrer Ausbau oder ihrer Änderung regelmäßig wasserhaushaltsrechtliche Fragestellungen. Es liegt nahe, die Aufgabenwahrnehmung zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. Daher kommt bei solchen Aufgaben eine Mischfinanzierung in Betracht27.
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BT-Drucks. V/2861, S. 19. Hellermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Kommentar, Bd. III, 6. Aufl. 2010, Art. 104a Rn. 54; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. 2011, Art. 104a Rn. 3, der als Beispiel Verkehrswegekreuzungen, die Kostenaufteilung im öffentlichen Personennahverkehr, aber auch die Errichtungsfinanzierung öffentlicher Einrichtungen nennt; vergleiche auch Dolde, (Fußn. 3), S. 14 – 17. 25 Fastenrath/Simma, DVBl. 1983, 8 (19). 26 BVerfGE 15, 1 (22); 21, 312 (320); Fastenrath/Simma, DVBl. 1983, 8 (19). 27 So auch Fastenrath/Simma, DVBl. 1983, 8 (19). 24
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c) Zusammenarbeit bei der Aufgabenwahrnehmung Am weitesten geht eine Auffassung, nach welcher der Bund und die Länder in Wahrnehmung der jeweils eigenen Aufgabenzuständigkeiten zur Erreichung eines bestimmten Ziels zusammenarbeiten und dabei Vereinbarungen über eine Kostenteilung nach Maßgabe ihrer Aufgabenverantwortung abschließen28. Nach dieser Auffassung reicht für eine Mischfinanzierung jede Verknüpfung der unterschiedlichen Kompetenzen durch das gemeinsame übergeordnete Ziel. Es kommt dann weder darauf an, ob sich bei der Wahrnehmung von Aufgaben faktische (räumliche) Überschneidungen einstellen oder ob ein enger Sachzusammenhang vorliegt. Eine gemeinsame Finanzierung ist auch dann möglich, wenn die Gebietskörperschaften Bund und Länder ein gemeinsames Ziel verfolgen und einzelne Teilaspekte, die der Verfolgung dieses Ziels dienen, in die Kompetenz des Bundes, andere in die Kompetenz der Länder fallen. 3. Die gemeinsame Finanzierung beim Zusammentreffen von Aufgaben Die Analyse von Rechtsprechung und Schrifttum zeigt, dass pauschale Kritik an der Existenz „unechter Gemeinschaftsaufgaben“ nicht gerechtfertigt ist und an der Sache vorbeigeht. Gerechtfertigt allenfalls die Kritik an der Begrifflichkeit „unechte Gemeinschaftsaufgabe“. Es handelt sich nämlich nicht um eine ungeschriebene oder aus der Natur der Sache herrührende Verwaltungskompetenz, die Bund und Ländern zur gemeinsamen Erfüllung zugewiesen ist und die auch gemeinsam finanziert werden darf. Vielmehr geht es um das Zusammentreffen der Kompetenzen zweier Verwaltungsträger. Derartige Berührungspunkte lassen sich in einem föderalen Bundesstaat nicht vermeiden, erst recht nicht, wenn eine der beteiligten Gebietskörperschaften alle die Verwaltungszuständigkeiten hat, die der anderen nicht ausdrücklich zugewiesen sind. Die Stimmen im Schrifttum, die eine gemeinsame Finanzierung für zulässig halten, tragen diesen Umständen zu Recht Rechnung. Das bedeutet allerdings nicht, dass eine gemeinsame Finanzierung bei jedem wechselseitigen Betroffensein von Kompetenzen von vornherein zulässig ist. Die Wertung der Verfassung, dass die Ausgabenverantwortlichkeit der Aufgabenverantwortlichkeit nachfolgt und dass ein „Führen am goldenen Zügel“ durch die Finanzierung fremder Verwaltungsaufgaben unterbunden werden soll, verlangt auch beim Zusammentreffen der Kompetenzwahrnehmungen von Gebietskörperschaften unterschiedlicher Ebenen Beachtung.
28 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, 11. Aufl. 2004, Art. 104a Rn. 19; vgl. auch Dolde, (Fußn. 3), S. 28.
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a) Der Grad der Betroffenheit Mindestvoraussetzung ist eine qualifizierte Betroffenheit, die eine gemeinsame Finanzierung rechtfertigen kann. aa) Räumliche Überschneidung Am unproblematischsten sind die Fälle, bei der die Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben notwendigerweise auf den gleichen Raum zugreift. Das ist gerade bei der Erfüllung von Infrastrukturaufgaben der Fall. Das klassische Beispiel dafür ist die räumliche Überschneidung von Verkehrsinfrastrukturen, die in die Verwaltungskompetenzen einerseits des Bundes, andererseits des Landes (bzw. der Gemeinden) fallen. Kreuzen sich zwei Infrastrukturen, nehmen sie also denselben Raum ein, besteht ein enger Sachzusammenhang, der eine beschränkte gemeinsame Erledigung der auf jeweils unterschiedlichen Zuständigkeiten beruhenden Sachaufgaben gestattet und eine Kostenaufteilung unter den Kompetenzträgern rechtfertigt. bb) Unterschiedliche Kompetenzen im Hinblick auf den gleichen Sachgegenstand Mit der Gruppe der räumlichen Überschneidungen bei der Kompetenzwahrnehmung verwandt ist der Bezug der Kompetenzen verschiedener Gebietskörperschaften auf eine konkrete, im Ergebnis unteilbare Sachaufgabe. Das zeigt ein in der Literatur29 herangezogenes anschauliches Beispiel: Wenn eine Zollschule als Einrichtung des Bundes (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG) zu Ausbildungszwecken ein Schwimmbad errichten will und die Standortgemeinde ihrerseits ebenfalls ein solches Schwimmbad für die Bevölkerung in Wahrnehmung einer kommunalen (aus Sicht des Art. 104a Abs. 1 GG Landes-) Kompetenz bauen möchte, würden zwei parallele Neubauten zu volkswirtschaftlich sinnlosen Ausgaben führen. Ein striktes Verbot der Mischfinanzierung hätte eine sinnlose Verdoppelung von Infrastrukturen zur Folge. Dies kann nicht das Ziel des Art. 104a Abs. 1 GG sein. Die Regelung steht in solchen Fällen der Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der Ausübung ihrer Verwaltungskompetenzen nicht entgegen. Der Bund und das jeweilige Land können sich daher darauf verständigen, dass einer von ihnen die Sachaufgabe (gegebenenfalls auf seine spezifischen Erfordernisse zugeschnitten) durchführt, während die andere Gebietskörperschaft einen Anteil der Kosten der Aufgabenwahrnehmung übernimmt. Die Kritik, es handle sich um ein „wenig überzeugende(s) und offensichtlich erfundene(s) Beispiel“30, ist sachlich nicht berechtigt. Sie würde letztlich dazu führen, dass in solchen Fällen entweder doppelte Infrastrukturen geschaffen werden oder – was wahrscheinlicher ist – ein Kompetenzträger von der Wahrnehmung seiner Aufgaben in einer bestimmten Art und Weise (z. B. durch einen Verzicht auf ein eigenes
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So Vogel, in: Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 1990, § 87 Rn. 25. H. Meyer, DVBl. 2011, 449 (453 Fußn. 27).
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Schwimmbad) absehen würde. Auch dies kann nicht Sinn des Art. 104a Abs. 1 GG sein. cc) Veranlassung der Kompetenzwahrnehmung der anderen Gebietskörperschaft Eine sachliche Berechtigung für eine gemeinsame Finanzierung kommt auch dann in Betracht, wenn die Wahrnehmung einer Kompetenz durch einen Verwaltungsträger den Anstoß dazu gibt, dass der andere Verwaltungsträger ebenfalls tätig wird. Ein ausreichend enger Sachzusammenhang liegt jedenfalls dann nahe, wenn die Aufgabenerfüllung durch einen Verwaltungsträger eine rechtliche Obliegenheit des anderen Verwaltungsträgers zum Handeln begründet. Eine solche Konstellation lag in dem Fall vor, in dem die Baumaßnahme eines Landes die zusätzliche Absicherung eines Bahnübergangs der Deutschen Bundesbahn notwendig machte. Zwar ist die Gefahrenabwehr am Bahnübergang Sache der Deutschen Bundesbahn. Aus dieser Aufgabenverantwortung folgt ihre Ausgabenverantwortung. Dies bedeutet jedoch nicht, dass in einer solchen Konstellation eine gemeinsame Aufgabenwahrnehmung und eine gemeinsame Finanzierung verboten wären. Auch in solchen Fällen kann es sinnvoll sein, wenn einer der beteiligten Verwaltungsträger die Aufgabenausführung insgesamt übernimmt und der andere Verwaltungsträger sich an den Kosten beteiligt31. Für die Zulässigkeit entsprechender Absprachen lassen sich nicht nur Effizienzüberlegungen anführen. Bei einer solchen Zusammenarbeit kommt es auch ersichtlich nicht zu dem „Führen am goldenen Zügel“, also der Veranlassung zur Wahrnehmung einer bestimmten Verwaltungskompetenz durch die Gewährung finanzieller Leistungen. Die Zulässigkeit einer gemeinsamen Ausführung und Finanzierung einer Sachaufgabe liegt weniger nahe, wenn ein Verwaltungsträger die Erfüllung der Sachaufgabe durch den anderen Verwaltungsträger nur dazu nutzt, eine in seine Zuständigkeit fallende Aufgabe zu erfüllen (bzw. diese fremde Aufgabenerfüllung zur Erreichung des Ziels der eigenen Kompetenzen nutzt), ohne genau zu dieser Art der Aufgabenerfüllung verpflichtet zu sein. Diese Konstellation liegt der Kostenbeteiligung der Kommune an der Errichtung eines Schülerhalts durch die Bundesbahn und an dem Schülerverkehr zu Grunde. Die Kommune nutzt die Kompetenzausübung durch die Bundesbahn (und damit durch den Bund), um eine ihr zugewiesene Aufgabe in einer bestimmten, allerdings nicht zwingend vorgesehenen Form zu erfüllen. Die besondere Sachnähe ergibt sich in diesem Fall nicht zwangsläufig aus dem räumlichen Zusammentreffen der Aufgabenwahrnehmung oder einem vorgegebenen Bezug auf einen letztlich nicht teilbaren Sachgegenstand. Sie wird vielmehr durch eine bewusste Entscheidung der Kommune herbeigeführt. Erst dadurch entsteht der Bezug zu dem Verkehrsträger Bahn und zu der Verwaltungsaufgabe des Bundes. Diese Konstellation
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Lorenz, JZ 1992, 462 (464).
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wirft noch am ehesten die Frage auf, ob Art. 104a Abs. 1 GG ein solches Anknüpfen an die Kompetenzausübung eines anderen Verwaltungsträgers unterbinden will. b) Der Zweck des Art. 104 a Abs. 1 GG Die Risiken liegen auf der Hand, wenn gerade im letzteren Fall eine gemeinsame Finanzierung erfolgt: In der Praxis wurde bereits frühzeitig die Befürchtung geäußert, die Bahn lasse sich künftig ihre Infrastrukturaufgaben von den Kommunen unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bezahlen32. Einen grundlegenden Einwand stellt dieser Hinweis auf Missbrauchsmöglichkeiten indes nicht dar. Bei dieser Form des Rückgriffs auf die Kompetenzausübung des anderen Verwaltungsträgers zur Erfüllung eigener Aufgaben handelt es sich um eine typische Konstellation, wie sie im Verhältnis verschiedener Verwaltungsträger immer wieder vorkommen kann. Dass ein Kompetenzträger im Einzelfall seine Kompetenzen missbrauchen kann, um eine Mitfinanzierung zu erzwingen, bedeutet noch nicht, dass eine solche Mitfinanzierung generell ausgeschlossen ist. aa) Kein Zwang zum Verzicht auf die Aufgabenwahrnehmung Ein genereller Ausschluss einer Mitfinanzierung bei einem derartigen Zusammenwirken hätte zur Folge, dass eine Gebietskörperschaft eine ihr zugewiesenen Aufgabe nicht oder nicht in dieser Form ausüben könnte. In vielen Fällen würde dies einen Zwang zur Verdoppelung von Infrastrukturen (so etwa im Schwimmbad-Fall), zu einer ineffizienten Aufgabenwahrnehmung (etwa, wenn für den Schülerpersonennahverkehr bei einem Verzicht auf eine Bahnanbindung nur eine wirtschaftlich aufwendigere Alternative in Betracht gekommen wäre), zu einer politisch nicht gewollten Aufgabenwahrnehmung (Schulbusse statt Bahnverkehr) oder gar zu einem Verzicht auf die Aufgabenwahrnehmung bedeuten. Die Zielsetzung des Art. 104a Abs. 1 GG, durch das Verbot der Finanzierung fremder Aufgaben die Eigenständigkeit von Bund und Ländern zu wahren, gerät in Konflikt mit der von einem der beiden Verwaltungsträger gewählten Art der Kompetenzwahrnehmung. Dieser Konflikt kann nicht einseitig zu Gunsten eines Mitfinanzierungsverbotes entschieden werden. bb) Der Konflikt über das Wie der Aufgabenwahrnehmung Das gilt auch für eine weitere Konstellation des Zusammentreffens von Verwaltungsaufgaben. Gerade im Zusammenhang mit dem Infrastrukturausbau haben die Verwaltungsträger Bund und Land oft unterschiedliche Vorstellungen, wie einer von beiden ihm zustehende Kompetenzen auszuüben hat. Ein Beispiel findet sich vor allem beim Ausbau von Eisenbahnen des Bundes. Aus der Eigentumszuweisung des Art. 87b Abs. 3 S. 2 GG ergibt sich, dass der Bund die eigentumstypischen Nut-
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Fromm, NVwZ 1992, 536 (538).
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zungs- und Verfügungsrechte über die Eisenbahninfrastruktur hat33. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch der Infrastrukturbau zu seinen Aufgaben zählt. Das gleiche Ergebnis folgt aus der Infrastrukturgewährleistungsfunktion des Art. 87e Abs. 4 GG34. Diese Kompetenzausübung kann aber in einen vielfältigen Konflikt mit den Kompetenzausübungen der Länder geraten, auf deren Territorium der Ausbau stattfindet. Das gilt nicht nur für die Kreuzung mit anderen Infrastrukturen. Auch die Art und Weise der Kompetenzausübung des Bundes ist oft problematisch, weil sie etwa mit städtebaulichen oder naturräumlichen Entwicklungsvorstellungen des Landes, aber auch mit auf Landesebene entwickelten Schallschutzkonzepten oder sonstigen Vorstellungen zum Schallschutz nicht in Einklang steht. Verbindliche rechtliche Regelungen zur räumlichen und inhaltlichen Steuerung der Kompetenzausübung des Bundes wird das Land vielfach nicht oder nicht so erlassen können, dass sie im Zulassungsverfahren – regelmäßig die Planfeststellung (§ 18 AEG) – unüberwindbar wären. Verwirklicht werden können die vom Land wahrzunehmenden Aufgaben also nur dann, wenn der Bund auf die Vorstellungen des Landes eingeht. Hier zeigt sich der in der Diskussion vernachlässigte Gesichtspunkt, dass die Länder aufgrund ihrer allgemeinen Verwaltungszuständigkeit (Art. 83, 30 GG) insbesondere auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge zahlreiche Aufgaben wahrnehmen können (und teilweise auch müssen), die – wie etwa die Umsetzung der Lärmaktionsplanung35 – in vielfältiger Weise mit dem Infrastrukturausbau in Konflikt kommen können. Auch diese Kompetenzwahrnehmung ist Element ihrer Eigenstaatlichkeit. Die dadurch hervorgerufenen Konflikte lassen sich im Anlagenzulassungsverfahren der eisenbahnrechtlichen Planfeststellung (§ 18 AEG) nicht oder nur unvollkommen lösen. Das Land hat in solchen Fällen zwar theoretisch die Möglichkeit, seine Aufgaben auf dem Gebiet des Lärm- oder Naturschutzes durch entsprechende Maßnahmen unabhängig von dem Infrastrukturausbau zu verfolgen. Im Regelfalle wird dies jedoch wenig effizient sein. Sein Ziel wird das Land oft nur dann erreichen können, wenn die Infrastrukturtrasse anders ausgestaltet (etwa im Hinblick auf aktive Schallschutzmaßnahmen) oder räumlich verlegt wird. 4. Die Funktion des Art. 104a Abs. 1 GG Gerade in solchen Konstellationen zeigt sich in besonderem Maße, dass eigenständige staatliche Aufgabenwahrnehmung und das Verbot, das Handeln einer Gebietskörperschaft auf der anderen Ebene mitzufinanzieren, scheinbar in einen kaum aufzulösenden Widerstreit geraten. In einen sachgerechten Ausgleich sind die beiden Positionen aber dann zu bringen, wenn man sich die Funktion verdeutlicht, die Art. 104a Abs. 1 GG übernehmen soll. 33
Windthorst, in: Sachs, GG, Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 87e Rn. 50. Windthorst, (Fußn. 31), Art. 87e Rn. 62; Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, (Fußn. 26), Art. 87e Rn. 6. 35 Dazu etwa Jarass, BImSchG, 8. Aufl. 2010, § 47 Rn. 6 f. zu den Handlungsmöglichkeiten; ferner Repkewitz, VBlBW 2006, 409 (415). 34
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a) Das Verbot des Führens am goldenen Zügel Erste Voraussetzung für eine gemeinsame Finanzierung einer Sachaufgabe ist stets – dies kann nicht deutlich genug betont werden – das Zusammentreffen der Kompetenzen zweier Gebietskörperschaften unterschiedlicher Ebenen. Diese Kompetenzen dürfen nicht nur abstrakt nebeneinander stehen, sondern müssen in dem jeweiligen Fall ausgeübt werden. Dabei muss es zu einem qualifizierten Zusammentreffen oder Konflikt kommen, etwa weil die Kompetenzausübungen den gleichen Raum in Anspruch nehmen (müssen) oder weil sie sich auf eine einheitliche Sachaufgabe beziehen, aber auch, weil die Kompetenzausübungen aufeinander abgestimmt werden müssen. Genauso deutlich ist zu betonen, dass keine der Gebietskörperschaften gehindert ist, ihre Kompetenz auch in der von ihr angestrebten Art und Weise auszuüben. Sie kann stets eine möglichst optimale Aufgabenerfüllung und einen möglichst weitgehenden Wirkungs- und Erfüllungsgrad anstreben. Auch dies ist ein Element der Eigenstaatlichkeit und Eigenverantwortlichkeit. Die entscheidende Schranke setzt der Zweck des Art. 104a Abs. 1 GG. Eine Gebietskörperschaft der einen Ebene soll nicht durch Mitfinanzierung bestimmen, welche Kompetenzen die Gebietskörperschaft der anderen Ebene wahrnimmt. Dieses Risiko besteht bei der gemeinsamen Finanzierung ein und derselben Sachaufgabe ohnehin regelmäßig. Es besteht erst recht, wenn eine Gebietskörperschaft von ihren Kompetenzen deswegen Gebrauch macht, weil eine andere Gebietskörperschaft ihrerseits Aufgaben wahrnimmt. Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass eine Gebietskörperschaft etwa gezwungen ist, ineffizient oder gar nicht zu handeln. Umgekehrt kann dies nicht dazu führen, dass die andere Gebietskörperschaft ihre Aufgaben in einer bestimmten Art und Weise ausübt, um eine Reaktion der ersteren Gebietskörperschaft auszulösen, die letztlich zu einer Mitfinanzierung führt. Eine sachgerechte Lösung lässt sich in einem solchen Fall über den Umfang und die Höhe des Mitfinanzierungsanteils begründen. b) Umfang der Mitfinanzierung Das Bundesverwaltungsgericht stellt darauf ab, dass im Falle einer zulässigen Mitfinanzierung jeder Verwaltungsträger diejenigen Kosten trägt, die dem Anteil seiner Aufgabenwahrnehmung entsprechen36. Voraussetzung ist also, dass die Aufgabe und der jeweilige Anteil der beiden Verwaltungsträger an dieser Aufgabe bestimmt werden. aa) Die Bestimmung der Aufgabe Aufgabe kann in diesem Zusammenhang nicht die abstrakte Kompetenz, sondern nur die jeweilige konkrete Sachaufgabe sein, in der sich die Ausübung der unterschiedlichen Verwaltungskompetenzen begegnen. Im Infrastrukturbereich ist sie 36
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noch einfach zu bestimmen, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen beider Gebietskörperschaften sich auf eine bestimmte, standortgebundene Anlage bezieht, beide Kompetenzträger aber die Aufgabe jeweils alleine wahrnehmen dürfen und können (Schwimmbadfall). Schwieriger ist der Bezugspunkt der Mitfinanzierung zu bestimmen, wenn nur ein Kompetenzträger befugt ist, die Maßnahme durchzuführen, der andere Kompetenzträger aber – wie im Schülerhaltepunkt-Fall – eine bestimmte Ausgestaltung befürwortet, weil er damit eine ihm obliegende (andere) Aufgabe erfüllen will. Diese Konstellation findet sich vor allem bei Verkehrsinfrastruktureinrichtungen. Theoretisch kommt von der überwiegenden bis zur hälftigen Mitfinanzierung der gesamten Infrastruktureinrichtung bis hin zu einer abschnittsweisen oder punktuellen Mitfinanzierung jede Lösung einschließlich vermittelnder Varianten in Betracht. Entscheidend ist, inwieweit eine Infrastruktur angepasst oder in ihrem Verlauf geändert werden muss, damit die mitfinanzierte Gebietskörperschaft das Ziel ihrer Kompetenzausübung erreichen kann. Bei Verkehrsinfrastrukturen werden daher regelmäßig Abschnitte zu bilden sein. Bei dieser Abschnittsbildung besteht ein Beurteilungsspielraum. Die Abschnitte dürfen allerdings auch unter Mitfinanzierungsaspekten nicht willkürlich gewählt werden. Maßstab ist, inwieweit die gemeinsame Aufgabenwahrnehmung sich auf die konkrete Verwirklichung des Infrastrukturvorhabens auswirkt. Dies können punktuelle Auswirkungen (etwa bei der Errichtung und der Verlagerung von Ausfahrten, Haltestellen etc.), aber auch Auswirkungen auf ganze Trassenabschnitte (etwa bei Trassenverschiebungen) sein. bb) Die Höhe der Mitfinanzierung Die Frage der Mitfinanzierung stellt sich hinsichtlich der so bestimmten Infrastrukturmaßnahme bzw. hinsichtlich des auf diese Weise identifizierten Abschnitts. Nur er kann Gegenstand der Mitfinanzierung sein. Wie weit die Mitfinanzierung reichen kann, hängt zunächst davon ab, ob jeder Kompetenzträger für sich oder ob nur einer von beiden die Aufgabe wahrnehmen kann. (1) Befugnisse der Kompetenzträger Erhebliche Spielräume bestehen, wenn jeder der Kompetenzträger selbst die Sachaufgabe vollständig umsetzen könnte. Auch wenn auf den ersten Blick eine Kostenteilung nahe liegt, kann theoretisch jeder der beiden Kompetenzträger die Gesamtkosten übernehmen. Rechtfertigen lässt sich eine Kostenübernahme aber nur, soweit sie sachlich geboten ist. Wenn etwa im Falle eines gemeinsam von Bund und Kommune errichteten Schwimmbads die Kosten verteilt werden sollen, spielt es eine Rolle, auf wessen Bedarf die Dimensionierung oder die Ausgestaltung abgestimmt wird. Dies rechtfertigt es, dass der „Verursacher“ die entsprechenden Kosten alleine trägt. Das entspricht seinem Anteil an der Aufgabenerfüllung, auf den das Bundesverwaltungsgericht abgestellt hat37.
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Soweit nicht beide Verwaltungsträger die jeweilige Infrastruktureinrichtung vollständig errichten können, sondern ein Verwaltungsträger die Schaffung der Infrastruktur durch den anderen Verwaltungsträger für die Verfolgung seiner Ziele nutzt, rechtfertigt Art. 104a Abs. 1 GG, dass die überwiegenden Kosten beim ersten Verwaltungsträger verbleiben. Der Mitfinanzierungsanteil des zweiten Verwaltungsträgers darf in einem solchen Fall 50 % des Gesamtaufwandes der Einrichtung nicht überschreiten38. Dies stellt jedoch nur eine äußerste Grenze dar. Um das Führen am goldenen Zügel zu verhindern, muss bei einer abweichenden Ausgestaltung der Infrastruktureinrichtung auch der überwiegende Aufwand für die Abweichung bei dem für die Infrastruktur verantwortlichen Verwaltungsträger bleiben. Dies ist auch aus einem anderen Grund sachgerecht. Der gesamte Mehraufwand ist in einem solchen Fall nämlich nicht zwangsläufig identisch mit dem Vorteil, den der mitfinanzierende Verwaltungsträger hat. Wird etwa eine Infrastrukturtrasse in ihrer Ausführung geändert, wird diese dadurch nicht zu einem Vorhaben, das vornehmlich der Erfüllung von Aufgaben des anderen Verwaltungsträgers dient, sondern bleibt Infrastruktur des Verwaltungsträgers, der sie primär zur Erfüllung seiner Aufgaben errichtet und betreibt. Auf diese Weise kann effektiv verhindert werden, dass die Ziele des Art. 104a Abs. 1 GG unterlaufen werden. Weder wird der für die Infrastruktur verantwortlichen Verwaltungsträger ein Interesse daran haben, seine Infrastruktur so auszurichten, dass eine Mitfinanzierung des anderen Verwaltungsträgers „erzwungen“ wird, noch ist die Mitfinanzierung so attraktiv, dass der Infrastrukturträger allein wegen dieser Mitfinanzierung von seinen Kompetenzen Gebrauch macht. (2) Der Anteil an der Aufgabenerfüllung Das bedeutet nicht, dass ein Mitfinanzierungsanteil jedes Mal bis zur Obergrenze übernommen werden darf. Entscheidend sind stets die Umstände des konkreten Falles. Wie hoch der vom Bundesverwaltungsgericht als Maßstab herangezogene Anteil der einzelnen Verwaltungsträger an der Aufgabenerfüllung39 ist, lässt sich nicht abstrakt bestimmen. Schon der Verweis auf die Aufgabenerfüllung ist alles andere als eindeutig. Damit kann einmal der Aufwand für die Aufgabenerfüllung, aber auch der Grad der Zielerreichung der Aufgabe oder der Vorteil gemeint sein, den sich der mitfinanzierende Verwaltungsträger verspricht. Auch hier haben die Beteiligten einen Spielraum, den sie sachgerecht ausfüllen müssen. Die konkrete Höhe einer Mitfinanzierung kann beispielsweise anhand der ersparten Aufwendungen des mitfinanzierenden Verwaltungsträgers bestimmt werden. Einbezogen werden können auch Einsparungen für Folgemaßnahmen, die dann entstanden wären, wenn der Verwaltungsträger den Dingen ihren Lauf gelassen und keine Maßnahmen ergriffen hätte. Ferner können die finanziellen Vorteile, die dem mitfinanzierenden Aufgabenträger erwachsen, zur Bestimmung des Finanzierungsanteils herangezogen werden. Dabei können volkswirtschaftliche Vorteile und positive soziale Effekte berücksichtigt wer38 39
Dolde, (Fußn. 3), S. 35. BVerwG, NVwZ 1989, 876 (877).
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den. Im Ergebnis bestehen daher bei der Bestimmung des Finanzierungsanteils erhebliche Spielräume, wenn die gemeinsame Aufgabe ordnungsgemäß abgegrenzt wird und sichergestellt ist, dass die Möglichkeit einer Mitfinanzierung zwecks Wahrnehmung unterschiedlicher Kompetenzen der beteiligten Verwaltungsträger durch die Beschränkung auf einen untergeordneten Mitfinanzierungsanteil für den zusätzlichen Aufwand nicht zu einem „Führen am goldenen Zügel“ missbraucht werden kann. IV. Zusammenfassung Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass in einem Bundesstaat, in dem sich Verwaltungskompetenzen des Bundes und der Länder zwangsläufig berühren können und werden, für ein rigoroses Verbot einer gemeinsamen Finanzierung von Sachaufgaben kein Raum ist. Ein solches absolutes Verbot lässt sich aus Art. 104a Abs. 1 GG nicht entnehmen. Die Verfassung verbietet es zwar unstreitig, dass eine Gebietskörperschaft einer bestimmten Ebene die Verwaltungsaufgabe einer Gebietskörperschaft der anderen Ebene mitfinanziert, solange es nicht zu einem Zusammentreffen mit Kompetenzen der mitfinanzierenden Gebietskörperschaft kommt. Immer dann aber, wenn sich Kompetenzen in einer Sachaufgabe begegnen, ist eine Mitfinanzierung nicht ausgeschlossen. Dann geht es letztlich darum, die Eigenstaatlichkeit und die Eigenverantwortlichkeit der beteiligten Gebietskörperschaften zu wahren. Sie sind weder gehalten, Infrastrukturen doppelt zu errichten oder ineffizient zu handeln, noch müssen sie auf die Kompetenzausübung verzichten, um die unbeeinflusste Aufgabenwahrnehmung durch den anderen Verwaltungsträger zu ermöglichen. Wenn in solchen Fällen eine gemeinsame Kompetenzausübung sinnvoll und effizient ist, dann muss über die konkrete Ausgestaltung und den Anteil an der Mitfinanzierung sichergestellt werden, dass sich weder ein Verwaltungsträger seine Kompetenzwahrnehmung „zahlen“ lässt noch den anderen Verwaltungsträger über die Mitfinanzierung „am goldenen Zügel“ führt.
Steuerrecht und Normenklarheit Von Thomas Fetzer I. Einleitung Die Eckpfeiler des wissenschaftlichen Œuvres von Wolf-Rüdiger Schenke bilden das Polizei- und Ordnungsrecht, das Verwaltungsprozessrecht und das Staatsrecht. Dem Steuerrecht hat sich Wolf-Rüdiger Schenke hingegen – soweit ersichtlich – explizit nur ganz zu Beginn seines akademischen Wirkens einmal zugewandt.1 Dies ist gerade angesichts der staatsrechtlichen Expertise Wolf-Rüdiger Schenkes zu bedauern, hat doch die Bedeutung des Staatsrechts für das Steuerrecht seit Inkrafttreten des Grundgesetzes gerade auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kontinuierlich an Bedeutung gewonnen.2 Dies ist am augenscheinlichsten bei der Aktivierung der Freiheitsgrundrechte für das Steuerrecht,3 die neben dem systemtragenden, aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten, Prinzip der Gleichmäßigkeit der Besteuerung4 besonders dem Steuergesetzgeber Grenzen beim steuerlichen Zugriff auf den Bürger setzen. Die Grundrechte bilden allerdings nur einen, wenn auch wesentlichen Baustein des verfassungsrechtlichen Rahmens des Steuerrechts. Von mindestens ebenso großer Bedeutung sind die staatsorganisationsrechtlichen Vorgaben, die das Grundgesetz für das Steuerrecht bereithält.5 Dies gilt nicht nur für die finanzverfassungsrechtlichen Normen, sondern in besonderer Weise für das Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG.6 Insbesondere das Bekenntnis des Grundgesetzes zum formellen Rechtsstaat hat erhebliche – auch praktische – Konsequenzen, deren wichtigste der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung ist.7 Der hiervon umfasste Vorbehalt des Gesetzes erfordert es, dass der steuerliche Zugriff des Staates auf seine Bürger einer gesetzlichen Grundlage bedarf.8 Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes bin1
Schenke, Besteuerung und Eigentumsgarantie in: Rechtsfragen im Spektrum des Öffentlichen, Mainzer Festschrift für Hubert Armbruster, Berlin 1976, S. 177 – 210. 2 Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 51. 3 Dazu U. Arndt/C.-L. Schumacher, AöR 118 (1994), 513. Zuletzt BVerfGE 115, 97 (111) auch im Hinblick auf die durch Art. 14 GG geschützte Eigentumsfreiheit. 4 Vgl. dazu nur BVerfGE 84, 239 (268), wonach der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung neben einer formellen auch eine materielle Komponente besitzt. 5 Dazu umfassend Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, §§ 3, 4 B. 6 Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 53 ff. 7 Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 53. 8 Dazu Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 101, Rn. 11.
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det die Finanzverwaltung an die Steuergesetze.9 Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes schützen den Bürger also vor dem unbegrenzten Zugriff durch die Finanzverwaltung. Beide Grundsätze besitzen zugleich eine gewaltenteilungsrechtliche Komponente, auf die später noch zurückzukommen sein wird: Die Entscheidung über das „Ob“ und das „Wie“ der Besteuerung obliegt dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Seine Vorgaben sind von der Finanzverwaltung zu vollziehen. Der Gesetzesvollzug seinerseits kann dann gegebenenfalls durch die Finanzgerichtsbarkeit auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Neben dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung haben zwei weitere Aspekte des Rechtsstaatsgebots in den vergangenen Jahrzehnten in der Steuerrechtswissenschaft teilweise erhebliche Aufmerksamkeit erfahren: Zum einen der Grundsatz des Vertrauensschutzes, aus dem insbesondere Grenzen für die Zulässigkeit der rückwirkenden Änderung von Steuergesetzen abgeleitet werden.10 Zum anderen die Grundsätze von Normenbestimmtheit und Normenklarheit, die ebenfalls zu den systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts zählen.11 Während allerdings der Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat, sondern auch in der finanz- und verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung mit praktischem Leben gefüllt und zum Maßstab der Zulässigkeit rückwirkender Steuergesetze gemacht wurde,12 lässt sich im Hinblick auf Normenbestimmtheit und Normenklarheit Vergleichbares nicht behaupten. So hat Hans-Jürgen Papier bereits 1989 festgestellt: „Verfassungsrecht und Wirklichkeit klaffen selten so stark auseinander wie beim Bestimmtheitsgrundsatz allgemein und bei seiner Anwendung auf das Steuerrecht im besonderen. Seine Unangefochtenheit und ,verbale GlorifizierungÐ in Rechtsprechung und Literatur stehen in einem auffälligen Missverhältnis zur tatsächlichen Beachtung in der Gesetzgebung und zur faktischen Durchsetzung seitens der Judikatur“.13 An diesem Befund hat sich auch nach mehr als 20 Jahren wenig geändert. Sieht man einmal von einem – allerdings sehr spezifisch grundrechtlich besonders gelagerten – Fall ab,14 hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Steuerrecht eine praktische Effektivierung von Normenbestimmtheits- und Normenklarheitsgebot bisher nach wie vor nicht vorgenommen. Das Gegenteil ist der Fall: In
9 BVerfGE 13, 318 (328); 71, 354 (362); 93, 122 (147 f.); P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 118, Rn. 109 ff.; zum Vorbehalt des Gesetzes auch Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 101, Rn. 6. 10 Vgl. etwa Arndt/Schumacher, NJW 1998, 1538; Höreth, BB 2004, 857; P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 118, Rn. 109 ff.; Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rn. 170 ff.; Rensmann, JZ 1999, 168; Spindler, DStR 1998, 953. 11 Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 70 ff. 12 Zuletzt BVerfG, Urteil v. 07. 07. 2010, 2 BvL 14/02, BStBl II 2011, 76 sowie BVerfG, DStR 2010, 1733; DStR 2010, 1736. Dazu Gelsheimer/Meyen, DStR 2011, 193; Musil, BB 2011, 155; Schmidt/Renger, DStR 2011, 693. 13 Papier, DStJG 12 (1989), 61. 14 BVerfGE 118, 168.
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einem jüngst ergangenen Beschluss15 auf eine Vorlage des Bundesfinanzhofs16 hin, der Vorschriften zur Mindestbesteuerung wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit für verfassungswidrig hielt, hat das Bundesverfassungsgericht den relevanten Normen der § 2 Abs. 3 i.V.m. § 10d EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002,17 die für den durchschnittlichen Steuerbürger ohne Zweifel die Grenze der Verständlichkeit weit überschritten und auch den steuerrechtlich Vorgebildeten in Grenzregionen der Verständlichkeit führten, jedenfalls mittelbar seinen höchstrichterlichen Segen erteilt. Die Grundsätze von Normenbestimmtheit und Normenklarheit harren damit weiter ihrer praktischen Schärfung für das Steuerrecht. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll daher in einem ersten Schritt auf die verfassungsrechtliche Verortung sowie die Bedeutung von Normenbestimmtheit, insbesondere aber Normenklarheit für das Steuerrecht eingegangen werden (dazu II.). In einem zweiten Schritt wird auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zur Bedeutung von Normenklarheit und Normenbestimmtheit im Steuerrecht eingegangen (dazu III.). Daran anschließend sollen der Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs und der zurückweisende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Mindestbesteuerung analysiert werden (dazu IV.). Den Abschluss bildet eine Bewertung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts unter den Gesichtspunkten der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und des Gewaltenteilungsgrundsatzes (dazu V.). II. Normenbestimmtheit und Normenklarheit als Verfassungsgebote 1. Verfassungsrechtliche Verortung von Normenbestimmtheit und Normenklarheit Eine der wesentlichen Funktionsbedingungen des Rechtsstaates ist die Schaffung von Rechtssicherheit.18 Das zentrale Instrument zur Schaffung von Rechtssicherheit, das im Zentrum des in Art. 20 Abs. 3 GG normierten formellen Rechtsstaatsprinzips steht, ist das formelle Gesetz. Neben der Tatsache, dass Parlamentsgesetze über ein Höchstmaß an demokratischer Legitimation verfügen, gewähren sie als Grundlage des Handelns der Exekutive allein deshalb in gewissen Grenzen Beständigkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns, weil sie nur in einem formellen Gesetzgebungsverfahren verabschiedet, verändert und wieder aufgehoben werden können.19 Die daraus folgende Beständigkeit und Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung sind notwendige Bedingungen für Rechtssicherheit. 15 16 17 18 19
BVerfG, Beschluss v. 12. 12. 2010, 2 BvL 59/06, DStR 2010, 2290. BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, BGBl. 1990 I, S. 402 ff. BVerfGE 3, 225 (237); Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 51. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, München, § 12 Rn. 62.
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Beständigkeit und Vorhersehbarkeit sind allerdings noch keine hinreichenden Bedingungen für das Entstehen von Rechtssicherheit. Rechtssicherheit setzt darüber hinaus voraus, dass die gesetzlichen Regelungen selbst bestimmt und verständlich sind. Nur wer versteht, welches Verhalten eine Norm erwartet, kann die Norm als Normadressat befolgen bzw. sie als Exekutive anwenden. Normenbestimmtheit und Normenklarheit sind dementsprechend auch vom Bundesverfassungsgericht als wesentliche Komponenten des Rechtsstaatsprinzips anerkannt.20 Demnach muss eine Norm „in ihren Voraussetzungen und in ihrem Inhalt so formuliert sein, dass die von ihr Betroffenen die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können“.21 Speziell für das Steuerrecht führt das Gericht in ständiger Rechtsprechung aus, das Bestimmtheitsgebot erfordere es, dass der Steuertatbestand nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß bestimmt ist.22 Die Notwendigkeit der Klarheit und Bestimmtheit steuerlicher Normen ist dabei nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Vorhersehbarkeit der steuerlichen Belastung des Einzelnen zu sehen, sondern hat zudem eine strafrechtliche Dimension: Nach § 370 Abs. 1 AO ist die unrichtige oder unvollständige Angabe steuerlich erheblicher Tatsachen strafbewehrt. Wenn aber der Verstoß gegen eine steuerliche Mitwirkungspflicht strafbewehrt ist, so muss der Inhalt dieser Mitwirkungspflicht auch hinreichend klar und bestimmt sein.23 2. Der Grundsatz der Normenklarheit a) Abgrenzung von Normenklarheit und Normenbestimmtheit Während es insofern als anerkannt bezeichnet werden kann, dass Normenklarheit und Normenbestimmtheit wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind,24 bleibt das Verhältnis von Normenklarheit und Normenbestimmtheit oftmals verschwommen.25 So werden die Begriffe teilweise scheinbar synonym verwendet,26 zum Teil wird davon ausgegangen, dass eine eindeutige Abgrenzung von Normenklarheit einerseits und Normenbestimmtheit andererseits nicht möglich sei.27 Demgegenüber hat der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluss eine überzeugende Abgrenzung von Normenklarheit einerseits und Normenbestimmtheit andererseits 20
Ständige Rspr. vgl. BVerfGE 1, 14 (45); 108, 1 (20). BVerfGE 51, 1 (41); 83, 130 (145). 22 BVerfGE 108, 186 (235). 23 P. Kichhof, StuW 1995, 186 (187). 24 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 125 m.w.N. Zweifelnd aber insofern Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Der Staat 48, 29 (43). 25 Bartone, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 310. Zur sprachlichen Vielfalt in der Literatur siehe Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, S. 28 ff. 26 Etwa bei Papier/Möller, AöR 122 (1997) 175); BVerfGE 93, 213 (238 f.). So auch Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20, Rn. 126, Fußn. 510. 27 Sachs, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 20 Rn. 126. 21
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vorgenommen.28 Das Bestimmtheitsgebot gebietet demnach die sprachlich präzise Formulierung einer Norm.29 Der Gesetzgeber wird durch das Bestimmtheitsgebot also verpflichtet, einen möglichst eindeutigen und präzisen Wortlaut zu wählen. Das Bestimmtheitsgebot steht dabei freilich nicht der Verwendung auslegungsbedürftiger und auslegungsfähiger Begriffe entgegen. Allein die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe führt demnach nicht zur Verfassungswidrigkeit einer Norm, sofern deren Bedeutungsgehalt sich anhand der anerkannten Auslegungsmethoden bestimmen lässt.30 Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe kann dabei sogar die Verständlichkeit einer Norm erhöhen: Müsste der Gesetzgeber etwa statt in § 9 Abs. 1 EStG den auslegungsfähigen Begriff der „Werbungskosten“ zu verwenden alle denkbaren abzugsfähigen Erwerbsaufwendungen einzeln aufführen, würde die Norm einen Detaillierungsgrad und damit verbunden eine Unübersichtlichkeit erhalten, die ihrer Verständlichkeit kaum dienlich wären. Die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm sind dabei allerdings umso höher, je intensiver die Norm in grundrechtlich geschützte Positionen eingreift.31 Demgegenüber betrifft der Grundsatz der Normenklarheit nicht die sprachliche Präzision der Einzelformulierung einer Norm, sondern deren Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Widerspruchsfreiheit ausgehend vom Gesamtkontext der Norm.32 Bestimmtheit und Normenklarheit adressieren also unterschiedliche Anforderungen an Normen. Bestimmtheit und Normenklarheit stehen dabei nicht zusammenhangslos nebeneinander, sondern befinden sich in einem – allerdings asymmetrischen – Bedingungsverhältnis. Eine Norm, die bereits sprachlich so unpräzise gefasst ist, dass sich ihr Bedeutungsgehalt auch mittels der anerkannten Auslegungsmethoden nicht ermitteln lässt, verletzt nicht nur das Bestimmtheitsgebot, sondern konfligiert auch mit dem Gebot der Normenklarheit: Eine Norm, deren Formulierungen man bereits nicht versteht, wird zwangsläufig auch inhaltlich unverständlich. Umgekehrt können allerdings auch sprachlich präzise gefasste Normen gegen das Gebot der Normenklarheit verstoßen, sofern sie in sich widersprüchlich oder ihr Regelungsgehalt – nicht ihr Wortlaut – unverständlich bleibt.33 Die Klarheit einer Norm hängt in diesem Fall nicht nur von ihrer sprachlichen Präzision ab, sondern ergibt sich erst aus der Einbettung der Norm in ihren Gesamtkontext. Dementsprechend wäre es genauer, den Begriff der „Rechtsklarheit“ statt dem der Normenklarheit zu verwenden, weil sich die Verständlichkeit eben nicht nur auf die einzelne Norm, sondern auf das – ggf. durch ein Bündel an Normen – gesetzte Recht bezieht.
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BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. Vgl. auch Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, S. 28 ff. 30 BVerfGE 21, 209 (215). 31 BVerfGE 49, 89 (133); 59, 104 (114); 83, 130 (145); 86, 299 (311). 32 BVerfGE 109, 51. Dazu Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, S. 27 ff. 33 Bartone, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 311. 29
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b) Das erforderliche Maß an Normenklarheit Ausgehend von dieser Differenzierung zwischen der Bestimmtheit einer Norm einerseits und ihrer Klarheit andererseits bereitet insbesondere das Gebot der Normenklarheit in seiner praktischen Anwendung Schwierigkeiten: Sie resultieren unter anderem daraus, dass die Beurteilung der Klarheit einer Norm im Sinne ihrer Verständlichkeit entscheidend davon abhängt, welchen Empfängerhorizont man hierbei anlegt. Abhängig vom Empfängerhorizont variiert das Maß der Verständlichkeit einer Norm, unter das eine Norm zurückfallen muss, um das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auf sich zu ziehen. Im Steuerrecht kommen im Hinblick auf den zu wählenden Empfängerhorizont drei Gruppen in Betracht: Der steuerpflichtige Bürger, mithin der Normadressat, dessen steuerrechtlicher Berater oder aber der hoheitliche Rechtsanwender, mithin die Finanzverwaltung sowie die zur Rechtmäßigkeitskontrolle berufene Finanzgerichtsbarkeit. Ausgehend davon, dass das Gebot der Rechtssicherheit gerade auch im Interesse des – steuerpflichtigen – Bürgers besteht, ist bei der Bestimmung des Maßstabes für die Klarheit von Normen grundsätzlich auf den Normadressaten bzw. den von einer Norm Betroffenen abzustellen.34 Dem entsprechend müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die steuerbegründenden Tatsachen so bestimmt sein, „dass der Steuerpflichtige die auf ihn entfallende Steuerlast vorausberechnen kann.“35 Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesfinanzhof stellen bei der Beurteilung der Verständlichkeit einer Norm daher regelmäßig auf den Steuerpflichtigen selbst ab und gerade nicht auf den Horizont eines steuerlich vorgebildeten Beraters.36 Würde man bei der Beurteilung der Verständlichkeit steuerlicher Normen stets auf den Steuerpflichtigen selbst abstellen, müsste man wohl eine Vielzahl aller steuerrechtlichen Normen wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit als verfassungswidrig einstufen. Jenseits einer derart rein empirischen Vermutung, die für sich genommen noch kein argumentatives Gewicht hat, ist das ausnahmslose Abstellen auf den Verständnishorizont des Steuerpflichtigen aber auch deshalb nicht überzeugend, weil Steuergesetze einerseits oftmals komplexe Lebenssachverhalte in abstrakt-genereller Weise erfassen müssen.37 Dies ist auch Folge der grundsätzlichen Anknüpfung des Steuerrechts an zivilrechtliche Gestaltungen, die ihrerseits – etwa eine gesellschaftsrechtlich verschachtelte Konzernstruktur – ein hohes Maß an Kom34
BVerfGE 83, 130 (145); 86, 288 (311); 108, 52 (75); 110, 33 (53); a.A. Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Der Staat 48, 29 (61), der im Grundsatz der Normklarheit ein objektives Verfassungsprinzip sieht, das losgelöst vom Normadressaten zu beachten ist und für das deshalb auch ein objektiver Maßstab gelten soll. 35 BVerfGE 19, 253 (267); 49, 343 (362); 73, 388 (400). 36 BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167; BVerfGE 110, 33 (64). Auch Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 559 f. 37 P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 118, Rn. 97 f.; dazu auch G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 529 ff.
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plexität aufweisen können.38 Andererseits müssen Steuergesetze aber auch sicherstellen, dass übergeordnete, verfassungsrechtlich fundierte Besteuerungsprinzipien – etwa die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit – beachtet werden.39 Diese beiden grundsätzlichen Anforderungen an das Steuerrecht bringen es mit sich, dass auch das einen komplexen Lebenssachverhalt erfassende Steuergesetz zwangsläufig seinerseits ein gewisses Mindestmaß an Komplexität erhält. Die Forderung nach einer für jedermann in allen Bereichen verständlichen Steuergesetzgebung muss daher eine unerreichbare Fiktion bleiben. Die inzwischen berühmte Idee von einem Steuerrecht, das die Steuererklärung auf einem Bierdeckel erlaubt,40 mag für den durchschnittlichen Steuerzahler noch mit einer gewissen Überzeugungskraft versehen sein, etwa bei internationalen Konzernen mit zahlreichen Tochtergesellschaften und Beteiligungen aber ist sie allein aufgrund der Komplexität der tatsächlichen Verhältnisse nicht erreichbar. Ebenso wäre es aber eine Fiktion, wenn man bei der Beurteilung der Verständlichkeit einer Norm die Tatsache ausblenden würde, dass mit steigender Komplexität des zu beurteilenden Lebenssachverhalts regelmäßig auch die steuerliche Beratung der Steuerpflichtigen quantitativ und qualitativ steigt: Während etwa derjenige, der lediglich Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit bezieht und damit dem Lohnsteuerabzug durch seinen Arbeitgeber unterliegt, sich regelmäßig steuerlich nicht beraten lässt – und hierfür auch wenig Grund besteht –, wird derjenige, der positive wie negative Einkünfte aus mehreren Einkunftsarten erzielt, sehr viel häufiger steuerliche Beratung in Anspruch nehmen. Dementsprechend können aber auch die Anforderungen an die Verständlichkeit steuerlicher Normen abhängig davon beurteilt werden, inwieweit es sich um Normen handelt, die eine Vielzahl von Steuerpflichtigen in einfachen Lebenssachverhalten betreffen, oder aber um solche Normen, die komplexe Lebenssachverhalte erfassen müssen und auch weniger – regelmäßig steuerlich beratene – Steuerpflichtige adressieren.41 Auf den ersten Blick scheint dem Plädoyer für einen flexiblen Maßstab für die Beurteilung der Verständlichkeit einer Norm ein Zirkelschluss zugrunde zu liegen: Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Anforderungen an die Verständlichkeit einer Norm umso geringer, als die Norm Steuerpflichtige betrifft, die sich steuerlich bera-
38
Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2002, S. 44 ff.; Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 1 Rz. 19. 39 Ausführlich dazu jeweils m.w.N. Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, 155 ff.; Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2002, S. 499 ff.; P. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 2007, § 118, Rn. 182 ff. 40 So ausgesprochen von Friedrich Merz, der sich auf Kirchhof/Althoefer/Arndt/Bareis/ Eckmann/Freudenberg/Hahnemann/Kopie/Lang/Lückhardt/Schutter, Karlsruher Entwurf zur Reform des Einkommensteuergesetzes, 2001, bezog. 41 So auch BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167 für Einkünfte, die der Körperschaftsteuer unterliegen. Differenzierend auch Hey, DStR 2007, 1 (7 f.); a.A. Bartone, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 314.
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ten lassen.42 Ist es aber nicht erst die Komplexität des Steuerrechts, die den Steuerpflichtigen dazu veranlasst, steuerliche Beratung in Anspruch zu nehmen? Könnte also der Gesetzgeber durch eine Verkomplizierung des Steuerrechts, die zu einer Zunahme steuerlicher Beratung führt, die Anforderungen an die Verständlichkeit der Norm selbst herabsetzen, ohne dabei in die Gefahr eines Verstoßes gegen das Gebot der Normenklarheit zu geraten, da die Steuerpflichtigen ja nunmehr ohnehin steuerlich beraten sind? Ein Zirkelschluss läge nur dann vor, wenn man die Anforderungen an die Verständlichkeit einer Norm ausgehend von deren Komplexität und dem daraus resultierenden Beratungsbedarf bestimmen würde. Die Anforderungen an die Verständlichkeit einer Norm müssen sich aber vielmehr nach dem – dem Steuerrecht vorgelagerten – tatsächlichen Lebenssachverhalt richten: Je komplexer dieser Lebenssachverhalt, desto komplexer müssen zwangsläufig auch die anzuwendenden steuerlichen Normen sein und desto eher kann man bei der Beurteilung der Verständlichkeit einer Norm davon ausgehen, dass der Steuerpflichtige beraten ist und diese Tatsache entsprechend berücksichtigen. III. Die Bedeutung des Grundsatzes der Normenklarheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Steuerrecht Selbst wenn man diesen, im Vergleich zur Rechtsprechung weniger strengen, Maßstab an die Verständlichkeit von Normen anlegt, überrascht es doch, dass sich angesichts der sich ständig wandelnden, in ihrer Quantität stetig steigenden und daher in ihrem Zusammenspiel kaum noch erkennbaren einzelnen Steuernormen das Bundesverfassungsgericht – trotz entsprechender Aufforderungen durch die Steuerrechtswissenschaft43 – traditionell sehr zurückhaltend gezeigt hat, wenn es darum geht, eine konkrete Norm bzw. einen Normenkomplex wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Normenklarheit als verfassungswidrig anzusehen.44 Dieser Befund gilt umso mehr, wenn man mit der Rechtsprechung auf den Steuerpflichtigen selbst bei der Beurteilung der Verständlichkeit einer Norm abstellt, also eigentlich einen strengen Maßstab an die Verständlichkeit von Normen anlegt.
42 Bedenklich ist insofern allerdings, wenn Papier/Möller, AöR 122 (197), 178 (187) eine Art Verschuldenselement mit einbeziehen, wenn sie dem Steuerpflichtigen, der durch Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten einen steuerlichen Vorteil zu erzielen sucht, als weniger schutzwürdig ansehen, so dass auch die Anforderungen an die Normbestimmtheit herabgesetzt seien. 43 Etwa Birk, Steuerrecht, 13. Aufl., 2010, Rn. 175; Birk, DStR 2009, 877 (878); Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2002, S. 138 f. 44 Dies ist umso bemerkenswerter, als im Übrigen eine strengere Anwendung des Bestimmtheitsgebots durch das Bundesverfassungsgericht zu beobachten ist. Dazu Papier/Möller, AöR 122 (1997), 175 (197); Bartone, in: Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 326 f.
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Das Bundesverfassungsgericht hat die Konsequenz der Verfassungswidrigkeit einer steuerlichen Norm wegen eines Verstoßes gegen den Normenklarheitsgrundsatz bisher nicht gezogen. Lediglich die Verfassungswidrigkeit einer Norm wegen eines Verstoßes gegen den Normenbestimmtheitsgrundsatz hat das Gericht bisher – soweit ersichtlich – in einem Fall angenommen, der allerdings eine besondere grundrechtliche Komponente besitzt.45 Gegenstand des Verfahrens waren Regelungen in der Abgabenordnung, die unter anderem den Finanzbehörden die automatisierte Abfrage von Kontostammdaten bei Kreditinstituten ermöglichten. Weitergehend sollte nach § 93 Abs. 8 AO a.F. ein automatisierter Kontenabruf auch zugunsten anderer Behörden zulässig sein, soweit die anderen Behörden ein Gesetz vollziehen, das an Begriffe des Einkommensteuergesetzes anknüpft und eigene Ermittlungen der anderen Behörden nicht erfolgreich waren. Das Bundesverfassungsgericht sah in der Abfrage und der Übermittlung der Kontostammdaten durch die Finanzbehörden zugunsten anderer Behörden einen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Steuerpflichtigen. Ein solcher Eingriff bedarf aber, um verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein, einer bereichsspezifischen, präzisen gesetzlichen Grundlage, aus der sich ergibt, welche Daten an welche Stelle zu welchem Zweck übermittelt werden dürfen.46 Das Erfordernis einer präzisen Regelung besitzt bei Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung also eine spezifisch grundrechtliche Begründung und Ausprägung, um dem Einzelnen die Möglichkeit zur wirksamen Kontrolle über die ihn betreffenden personenbezogenen Daten zu ermöglichen.47 Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschrift des § 93 Abs. 8 AO a.F. ausgehend hiervon für verfassungswidrig gehalten, weil die Norm nicht hinreichend klar bestimme, an welche sonstigen Behörden Kontostammdaten zu welchem Zweck übermittelt werden dürfen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts taugt aber nur bedingt als Beleg dafür, dass das Gericht den Normenbestimmtheitsgrundsatz als scharfes Schwert an Steuergesetze anlegt. Für den Normenklarheitsgrundsatz besitzt sie noch weniger Aussagekraft.48 Zum einen bestand in dem Verfahren die Besonderheit, dass sich die spezifischen Anforderungen an die Bestimmtheit der streitgegenständlichen Norm daraus ergaben, dass die Norm in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingriff, für das besondere Anforderungen an die gesetzliche Regelungsdichte bestehen. Zum anderen lag dem Verfahren keine Norm des materiellen Steuerrechts zugrunde, sondern eine verfahrensrechtliche Vorschrift. Es ging also gerade nicht darum, ob die Norm es dem Steuerpflichtigen gestattete, seine steuerliche (finanzielle) Belastung vorherzusehen.
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BVerfGE 118, 168. Insofern hat das Bundesverfassungsgericht letztlich nur die im Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) entwickelten Grundsätze konsequent auf den zu entscheidenden Fall angewendet. 47 BVerfGE 65, 1. 48 So aber Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 4 Rz. 168. 46
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht zwar die Bedeutung der Grundsätze von Normenbestimmtheit und Normenklarheit in seiner Rechtsprechung stets anerkannt hat, jedoch bislang in keinem Fall eine Norm des materiellen Steuerrechts wegen eines Verstoßes gegen diese Grundsätze für verfassungswidrig erklärt hat. IV. Die Regelungen zur Mindestbesteuerung und Normenklarheit Konnte man bis zur Zurückweisung des Vorlagebeschlusses des Bundesfinanzhofs zur Mindestbesteuerung durch das Bundesverfassungsgerichts als unzulässig allerdings vielleicht noch davon ausgehen, dass dem Bundesverfassungsgericht bisher schlicht die Gelegenheit – in Form einer tatsächlich unverständlichen Steuernorm – gefehlt hat, eine Norm des materiellen Steuerrechts konkret auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Normenklarheit zu überprüfen, so muss man nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wohl Tipke in seiner Analyse zustimmen, dass der Grundsatz der Rechtsklarheit im Steuerrecht zu einer bloß leitenden Idee ohne Verbindlichkeit verkommen ist.49 1. Die Regelungen zur Mindestbesteuerung Der Vorlage des Bundesfinanzhofs im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG lag der folgende Sachverhalt zugrunde:50 Der Einkommensteuer unterliegen nur solche Einkünfte, die sich einer der in § 2 Abs. 1 EStG enumerativ aufgezählten Einkunftsarten zurechnen lassen. Für die steuerliche Belastung des Steuerpflichtigen maßgeblich ist die Summe aller Einkünfte. Finaler Anknüpfungspunkt der Besteuerung ist dann das gesamte erzielte Einkommen des Steuerpflichtigen, unabhängig davon, welcher konkreten Einkunftsart es entstammt. Dabei können grundsätzlich positive und negative Einkünfte (d. h. Gewinn und Verlust bzw. der Unterschiedsbetrag zwischen Einnahmen und Werbungkosten) sowohl horizontal, d. h. innerhalb einer Einkunftsart, als auch vertikal, d. h. zwischen verschiedenen Einkunftsarten innerhalb eines Veranlagungszeitraums miteinander verrechnet werden. Soweit nach einem solchen periodeninternen Ausgleich ein Verlust verbleibt, kann dieser Verlust in gewissen Grenzen auch periodenübergreifend, d. h. mit positiven Einkünften aus vorangegangenen oder nachfolgenden Veranlagungszeiträumen im Rahmen eines Verlustrück- bzw. -vortrags verrechnet werden. Nachdem es in den 1990er-Jahren zu einem erheblichen Rückgang des Einkommensteueraufkommens aus veranlagter Einkommensteuer gekommen war, suchte der Gesetzgeber nach Möglichkeiten, die steuerliche Geltendmachung von Verlusten, die weniger aus einer erfolglosen wirtschaftlichen Betätigung des Steuerpflichtigen resultieren, son49 50
Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2002, S. 141. BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167.
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dern vorrangig das Ergebnis steuerlicher Gestaltung sind, einzuschränken.51 Das Ergebnis dieser Bemühungen waren die Vorschriften des § 2 Abs. 3 und § 10d EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002,52 mit denen eine Begrenzung der periodeninternen Verlustverrechnung der Höhe nach und der periodenübergreifenden Verlustverrechnung der Dauer nach erreicht werden sollte. Die Neuregelung durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 war von Beginn an Gegenstand mannigfaltiger erheblicher verfassungsrechtlicher Kritik.53 Dabei standen zwei Aspekte im Vordergrund: Die Beschränkung von periodeninternem und periodenübergreifendem Verlustausgleich wurde zum einen unter dem Gesichtspunkt des objektiven Nettoprinzips von der Literatur für verfassungsrechtlich nicht unproblematisch gehalten54: Nach dem objektiven Nettoprinzip ist entscheidend für die Besteuerung die objektiv von einem Steuerpflichtigen erzielte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.55 Durch die Beschränkung der Verlustverrechnungsmöglichkeiten kann es aber zu einer Nichtberücksichtigung tatsächlich entstandener Verluste und damit zu einer von der objektiv bestehenden finanziellen Leistungsfähigkeit abweichenden steuerlichen Belastung des Steuerpflichtigen kommen. Zum anderen wurde von der ganz überwiegenden Steuerrechtsliteratur heftig kritisiert, dass die Vorschrift des § 2 Abs. 3 EStG zum periodeninternen Verlustausgleich sowie ihr Zusammenspiel mit den Regelungen zum periodenübergreifenden Verlustausgleich in § 10d EStG weder sprachlich präzise gefasst noch inhaltlich verständlich, sondern vielmehr widersprüchlich sei.56 2. Die Vorlage durch den Bundesfinanzhof Während die Finanzgerichte die Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften nicht einheitlich beurteilten,57 schloss sich der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluss der Auffassung an, dass § 2 Abs. 3 EStG i.V.m. § 10d Abs. 1 S. 2 – 4, Abs. 2 S. 2 – 4, S. 5 und Abs. 3 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Normenklarheit verfassungswidrig seien.58 In lesenswerter Weise legt der Bundesfinanzhof dar, weshalb die Vorschriften bereits sprachlich so ungenau sind, dass selbst der Fachmann die Begriffe bzw. Wort51
BT-Drucks. 14/23, S. 167 f. Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002, BGBl. 1990 I, S. 402 ff. 53 Vgl. nur Arndt/Jenzen, DStR 1998, 1818 (1820); Kirchhof, AöR 128, 1 (39). 54 Arndt/Jenzen, DStR 1998, 1818 (1820). 55 Dazu Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rz. 54 m.w.N. 56 Statt vieler Hey, DStR 2007, 1 (8); Kohlhaas, DStR 2006, 2240; Ruppe, DStR 2008, Beihefter 17, 20. Vgl. dazu die Nachweise aus der Literatur bei BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. 57 Vgl. FG Berlin, Urteil v. 12. 09. 2005, 8 K 6331/01, BeckRS 2005, 26018868; FG Rheinland-Pfalz EFG 2006, 1253; FG Münster, Urteil v. 11. 02. 2004, 7 K 5227/00 E, BeckRS 2004, 30446265. 58 BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. 52
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kombinationen kaum noch unterscheiden kann. Beispielhaft sei dabei darauf verwiesen, dass in § 2 Abs. 3 EStG für die Berechnung des zulässigen periodeninternen Verlustausgleichs eine kaum überschaubare Kombination der Wörter „negativ“, „Summe“ und „Einkünfte“ in Plural und Singular verwendet wurde. So wurden neben dem Begriff „Summe der Einkünfte“, die Begriffe „Summen der Einkünfte“, „negative Summen der Einkünfte“, „Summe der negativen Einkünfte“ verwendet, ohne dass dabei hinreichend klar war, ob die unterschiedlichen – teilweise bis zu diesem Zeitpunkt im Steuerrecht unbekannten – Wortkombinationen auch einen unterschiedlichen Bedeutungsgehalt haben. Neben der hierin liegenden sprachlichen Ungenauigkeit bemängelt der Bundesfinanzhof aber vorrangig, dass der Gesetzesaufbau „unvollständig, unübersichtlich und unsystematisch ist“. Zudem sei die Regelung „inhaltlich unvollständig“.59 Insgesamt – so der Bundesfinanzhof – „verletzen die streitgegenständlichen Vorschriften den Grundsatz der Normenklarheit, denn sie sind sprachlich unverständlich, widersprüchlich, irreführend, unsystematisch aufgebaut und damit in höchstem Maße fehleranfällig“.60 Das Gericht schloss sich damit der zum Teil harschen Kritik der Literatur an, die unter anderem von einer „Meisterleistung an Verschleierungskunst“ sprach.61 Zum Beleg seiner Auffassung verwies der Bundesfinanzhof auch darauf, dass es der Finanzverwaltung nur sehr eingeschränkt gelungen sei, die Bedeutung der Vorschriften im Rahmen von Verwaltungsvorschriften zu erläutern und in der Praxis anzuwenden. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden die Vorschriften zur Mindestbesteuerung mit Wirkung zum Veranlagungszeitraum 2004 vom Gesetzgeber wieder aufgehoben. In bemerkenswerter Offenheit hat der Steuergesetzgeber in der Gesetzesbegründung dazu ausgeführt, die Regelungen zum Verlustausgleich hätten sich in der Praxis als schwer handhabbar erwiesen.62 3. Die Reaktion des Bundesverfassungsgerichts Die streitgegenständlichen Normen hatten zwar aufgrund ihrer Aufhebung zum Veranlagungszeitraum 2004 ihre praktische Bedeutung verloren.63 Das Verfahren hätte aber doch dem Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit geboten, eine Schärfung des Grundsatzes der Normenklarheit vorzunehmen und damit dem Steuergesetzgeber Maßstäbe für die Formulierung und Konzeptionierung steuerlicher Normen an die Hand zu geben. Die Entscheidung bot also insbesondere aus steuerrechtlicher, aber auch staatsrechtlicher Sicht die Hoffnung für eine solche Klärung.
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BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. BFH, Beschluss v. 06. 09. 2006, XI R 26/04, BStBl II 2007, 167. 61 Handzik, in: Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Stand 2004, § 2 Rn. 205. 62 BT-Drs. 15/1518, S. 13. 63 Gesetz zur Umsetzung der Protokollerklärung der Bundesregierung zur Vermittlungsempfehlung zum Steuervergünstigungsabbaugesetz, BGBl. 2003 I, 2840. 60
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Durch seinen Beschluss vom 12. 12. 2010 hat das Bundesverfassungsgericht diese Hoffnung deutlich enttäuscht.64 Durch die Zurückweisung der Vorlage des Bundesfinanzhofs als unzulässig aufgrund einer nicht ausreichenden Substantiierung des Vorlagebeschlusses hat das Bundesverfassungsgericht zwar auf den ersten Blick keine bindende Aussage zu Inhalt und Reichweite des rechtsstaatlichen Gebotes von Normenklarheit und Normenbestimmtheit getroffen. Die Gründe des Beschlusses allerdings führen durchaus zu einer gewissen Klärung der Frage, welche praktische Bedeutung das Bundesverfassungsgericht dem Grundsatz der Normenklarheit im Steuerrecht beimisst – freilich eine Klärung in einer anderen als der erhofften Richtung. Formal hat das Bundesverfassungsgericht die Vorlage als unzulässig zurückgewiesen, weil der Bundesfinanzhof nicht ausreichend begründet habe, weshalb er auch nach eingehender Prüfung der streitgegenständlichen Norm von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt sei.65 Der Nachweis von der Überzeugung der Verfassungswidrigkeit einer Norm setze voraus, dass das vorlegende Gericht umfassend alle in Rechtsprechung und Literatur zu einer Norm vertretenen Auffassungen erörtere und sie verfassungsrechtlich würdige.66 Erst dann, wenn nach einer derart umfassenden Erörterung Zweifelsfragen im Hinblick auf die Bedeutung einer Norm mit den herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden nicht zu klären seien, könne ein Verstoß gegen den Grundsatz der Normenklarheit vorliegen, der zur Verfassungswidrigkeit einer Norm führe. Diese Anforderungen erfülle der Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs nicht. Weder habe das Gericht ausreichend dargelegt, dass die in § 2 Abs. 3 EStG verwendeten Wörter unklar seien, noch dass die Norm insgesamt unverständlich sei. Das Bundesverfassungsgericht lässt es allerdings mit dieser formalen Feststellung nicht bewenden, sondern begründet in der Folge, weshalb die Normen zur Mindestbesteuerung seiner Auffassung nach weder unbestimmt noch unklar seien. Im Hinblick auf die Unbestimmtheit führt das Gericht aus, dass die Normen zwar stilistische Mängel aufwiesen und insofern ihre Formulierung zu bemängeln sei, dies aber nicht zu einer Unklarheit über den Inhalt der verwendeten Begriffe führe. Ebenso lasse sich daraus keine Unklarheit über die Regelungen zur Mindestbesteuerung insgesamt ableiten. Vielmehr zeigten – wenn auch wenige – Stellungnahmen in der Literatur67, dass die Vorschriften sehr wohl einer Auslegung zugänglich seien. Ein zur Verfassungswidrigkeit führender Verstoß gegen den Grundsatz der Normenklarheit sei jedoch nur dann feststellbar, wenn zuvor eine systematische Auseinandersetzung mit den im Schrifttum vertretenen Auslegungen erfolgt sei. Eine solche systematische Auseinandersetzung mit dem einfachen Recht habe der Bundesfinanzhof aber nicht in ausreichender Weise vorgenommen. 64 65 66 67
BVerfG, Beschluss v. 12. 12. 2010, 2 BvL 59/06, DStR 2010, 2290. BVerfG, Beschluss v. 12. 12. 2010, 2 BvL 59/06, DStR 2010, 2290 (2293). BVerfG, Beschluss v. 12. 12. 2010, 2 BvL 59/06, DStR 2010, 2290 (2293 f.). Vgl. etwa Alfelder, FR 2000, 18 (19); Stapperfend, DStJG 2001 (24), S. 329 (333 f.).
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V. Bewertung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und bedenklich zugleich. Auf einer verfassungsprozessualen Ebene ist die Entscheidung bemerkenswert, weil das Gericht – jedenfalls für die Substantiierung von Verstößen gegen den Grundsatz der Normenklarheit – die Anforderungen an die Begründung eines konkreten Normenkontrollantrags nach Art. 100 Abs. 1 GG erheblich angehoben hat. Im Ergebnis führt die Entscheidung wohl dazu, dass ein Fachgericht, das eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG in Erwägung zieht, sich zuvor mit jeder in der juristischen Literatur vertretenen Auffassung auseinandersetzen muss, wenn es sich später nicht dem verfassungsgerichtlichen Vorwurf ausgesetzt sehen will, keine systematische Auseinandersetzung mit dem einfachen Recht vorgenommen zu haben. Angesichts der inzwischen nahezu unüberschaubaren Vielzahl – in ihrer Qualität nicht immer überzeugender – juristischer Veröffentlichungen verbindet sich hiermit ein erheblicher Aufwand, der manchen Richter von einer Vorlage abhalten dürfte, obwohl er – wie im vorliegenden Fall mit der ganz überwiegenden, aber eben nicht gesamten juristischen Literatur – von der Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt ist. Ebenso bemerkenswert, aber wesentlich bedenklicher ist die Entscheidung jedoch im Hinblick auf die Effektivierung des Grundsatzes der Normenklarheit insbesondere im Steuerrecht. Das Erfordernis einer umfassenden Auseinandersetzung mit den zu einer Norm vertretenen Auffassungen führt bei ganz konsequenter Anwendung dazu, dass eine Norm solange als verständlich zu gelten hat, solange es in der Steuerrechtsliteratur Auffassungen gibt, die die Norm verstehen. Anhand dieser Auffassungen können – und müssen wohl nach Ansicht des Verfassungsgerichts – Finanzverwaltung und Gerichte den Bedeutungsgehalt der Norm ermitteln. Dieser Befund ist zunächst einmal verwunderlich, steht er doch in einem gewissen Spannungsverhältnis zur bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Normenklarheit: Das Gericht – in Übereinstimmung mit der finanzgerichtlichen Rechtsprechung – stellt bisher bei der Beurteilung der Klarheit einer Norm stets auf den Horizont des Normadressaten ab. Steuerliche Normen müssen es demzufolge dem Steuerpflichtigen erlauben, seine steuerliche Belastung jedenfalls im Wesentlichen vorherzuberechnen – so das Bundesverfassungsgericht bisher.68 Nunmehr will das Gericht es hingegen als entscheidend ansehen, ob der Rechtsanwender, mithin die Finanzverwaltung und die Finanzgerichte, dazu in der Lage ist, auf Grundlage einer systematischen Auseinandersetzung mit der gesamten steuerrechtlichen Literatur ein vertretbares Auslegungsergebnis zu erzielen. Dies lässt nur zwei mögliche Schlüsse zu: Entweder das Gericht verändert damit den Bewertungsmaßstab für die Beurteilung der Unverständlichkeit einer Norm und stellt nicht länger auf den Steuerpflichtigen ab, sondern auf Finanzverwaltung und Finanzgerichte. Oder man stellt zwar weiterhin auf den Steuerpflichtigen als Normadressaten – bzw. seinen Steuerberater – für die Bewertung der Verständlichkeit einer Norm ab, verlangt aber seine systematische Auseinandersetzung 68
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mit der steuerrechtlichen Literatur. Angesichts der Tatsache, dass im Fall der Mindestbesteuerung selbst der Bundesfinanzhof nicht in der Lage war, den Bedeutungsgehalt der Normen eindeutig zu ermitteln, muten beide Konsequenzen wenig überzeugend, vor allem wenig bürgerfreundlich an. Jenseits dieser Widersprüchlichkeit, bei der Bewertung der Verständlichkeit einer Norm einerseits auf den Steuerpflichtigen abzustellen, andererseits aber eine Norm solange nicht als unverständlich anzusehen, solange man sie nur irgendwie noch einer halbwegs verständlichen Auslegung zuführen kann, ist die Entscheidung aber auch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaatsprinzips in zweierlei Hinsicht nicht unproblematisch: Zum einen liegt die befriedende – und damit zentrale – Funktion des formellen Rechtsstaates darin, seinen Bürgern Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns zu gewähren indem er die Ausübung hoheitlicher Gewalt durch die Exekutive an das Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage knüpft. Dies setzt nicht nur der Exekutive Grenzen, sondern gibt dem Bürger zugleich die Möglichkeit, sein Verhalten am geltenden Recht auszurichten. Wie soll ein Gesetz, das noch nicht einmal die Finanzverwaltung ohne Weiteres anwenden konnte und dessen Bedeutung sich dem höchsten deutschen Finanzgericht nicht erschloss, für den Bürger ein Maß an Rechtssicherheit schaffen, das es ihm erlaubt, sein Verhalten vorab entsprechend auszurichten? Zum anderen hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewaltenteilungsrechtliche Implikationen. Art. 20 Abs. 3 GG geht im Grundsatz davon aus, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist, als einzige unmittelbar demokratisch legitimierte Staatsgewalt, die Belastungsentscheidungen für seine Bürger zu treffen. Aufgabe der Exekutive ist es hingegen, die gesetzgeberischen Belastungsentscheidungen im Einzelfall umzusetzen. Dies verbietet nicht die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die der Auslegung durch die Exekutive bedürfen, da Gesetze andernfalls einen Detaillierungsgrad annehmen müssten, der ihrer praktischen Handhabbarkeit kaum dienlich wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings auch entschieden, dass Normen umso bestimmter sein müssen – weniger also auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgegriffen werden darf – je höher die Grundrechtsrelevanz einer Norm ist.69 Gerade das Steuerrecht hat aber aufgrund seiner für den Bürger belastenden Wirkungen eine erhebliche freiheitsrechtliche Dimension, besitzt also wesentliche Grundrechtsrelevanz. Es ist daher Aufgabe des Gesetzgebers, die grundlegenden Steuerbelastungsentscheidungen zu treffen.70 Wie der Bundesfinanzhof in seinem Vorlagebeschluss dargelegt hat, führten unterschiedliche Auslegungen der fraglichen Normen zur Mindestbesteuerung zu ganz erheblichen Belastungsunterschieden für den Steuerpflichtigen, unterscheiden sich also in ihrer grundrechtlichen Eingriffsintensität. Fordert man im Hinblick auf die Normenklarheit aber nur mehr, dass eine Norm unter Zugrundelegung aller möglichen Erkenntnisquellen durch die Finanzverwaltung angewendet und von den Finanzgerichten überprüft werden kann, 69 70
BVerfGE 56, 1 (13); 108, 1 (20); 52 (75); 110, 33 (53). Tipke, Die Steuerrechtsordnung I, 2. Aufl. 2000, S. 121, 123.
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führt dies im Ergebnis zu einer bedenklichen Verschiebung innerhalb des gewaltenteilungsrechtlichen Gefüges zugunsten der Finanzverwaltung. Die Exekutive und nicht mehr die Legislative trifft in diesem Fall nämlich grundrechtsrelevante Belastungsentscheidungen zulasten der Bürger. Dies bedeutet auch eine größere Verantwortung der Finanzgerichtsbarkeit für den Schutz des Einzelnen und seiner – grundrechtlich geschützten – Rechtspositionen. Im Fall der Mindestbesteuerung hat sich gezeigt, dass die Finanzgerichtsbarkeit diese Aufgabe durchaus auszufüllen bereit ist. Der Bundesfinanzhof nämlich hat in seinen Entscheidungen, die im Anschluss an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ergangen sind, die Regelungen des § 2 Abs. 3 i.V.m. § 10d EStG konsequent zugunsten der Steuerpflichtigen ausgelegt und damit die Belastungen des Steuerpflichtigen minimiert.71 So begrüßenswert dies für den konkreten Einzelfall ist, so wenig vermag es das rechtsstaatlich gebotene Maß an Rechtssicherheit durch Vorhersehbarkeit zu schaffen, das nur von Gesetzen ausgehen kann. Eine gerichtliche ex-post-Kontrolle vermag nicht dasselbe Maß an Rechtssicherheit zu schaffen, das Gesetze ex ante bereiten. VI. Ausblick Sprachliche Bestimmtheit und inhaltliche Klarheit sind wesentliche Voraussetzung dafür, dass Gesetze die ihnen in einem formellen Rechtsstaat zukommende Funktion erfüllen und Rechtssicherheit schaffen. Nur klare und verständliche Regelungen erlauben es dem Bürger, sein Verhalten entsprechend einzurichten, und begrenzen die Befugnisse der Exekutive wirksam. In der Praxis freilich lässt sich – nicht nur im Steuerrecht – leider feststellen, dass Gesetze zunehmend komplexer, unverständlicher und sprachlich unzulänglicher werden. Dies führt nicht nur zu einem geringeren Maß an Rechtssicherheit, sondern birgt zugleich auch die Gefahr einer geringen Gesetzesakzeptanz. Normenklarheit ist zwar keine Gewähr für Gesetzesakzeptanz, sie ist aber unabdingbare Voraussetzung für die Akzeptanz gesetzlicher Regelungen beim Normadressaten. Nur wer versteht, welchen Belastungen er ausgesetzt sein wird, kann der Belastungsentscheidung ein Mindestmaß an Verständnis entgegenbringen. Dies gilt in besonderem Maß für das Steuerrecht, das ohnehin in der Bevölkerung vielfach als nicht verständlich und auch ungerecht empfunden wird. Das Bundesverfassungsgericht hat insofern mit seinem Beschluss nicht nur eine Gelegenheit verpasst, den Gesetzgeber an seine rechtsstaatlich fundierte Pflicht zum Erlass klarer und bestimmter Normen zu erinnern, sondern zugleich auch die Akzeptanz steuerlicher Normen in der Bevölkerung zu stärken. Damit bleibt es bei dem Befund Hans-Jürgen Papiers, dass wenige Prinzipien im Steuerrecht einerseits so glorifiziert werden, andererseits aber in der Praxis nahezu keine Rolle spielen wie die Normenklarheit.72 Anders ausgedrückt: Wenige rechtsstaatliche Prin71 BFH, Urteil v. 09. 03. 2011, IX R 56/05, BeckRS 2011, 95353; Urteil v. 09. 03. 2011, IX R 72/04, BeckRS 2011, 95354. 72 Papier, DStJG 12 (1989), 61.
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zipien sind gerade auch im Steuerrecht prinzipiell so anerkannt, zugleich aber in Inhalt und Umfang so unbestimmt und so unklar wie das Prinzip der Normenklarheit.
Sonderabgaben, Ausgleichsabgaben und Vorteilsabschöpfungsabgaben im Spiegel der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Von Kristian Fischer I. Einführung Die Zulässigkeit der Erhebung von Abgaben, die sich außerhalb der angestammten Kategorien von Steuern, Gebühren und Beiträge bewegt, stellt seit jeher eines der umstrittenen Problemfelder des Verfassungsrechts dar. Auch wenn das BVerfG schon früh anerkannt hat, dass das Grundgesetz keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabentypen enthält1 und es daher neben den drei vorgenannten Typen noch weitere geben kann, so ist im Detail noch vieles unklar. Der nachfolgende Beitrag will die zentralen dogmatischen Linien, wie sie sich in der Rechtsprechung des BVerfG herausgebildet haben, nachzeichnen und – unter Bezugnahme auf das Referenzgebiet der Umweltabgaben – eine Konturierung vornehmen. Ich würde mich freuen, wenn Herr Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, der meinen akademischen Werdegang an der Universität Mannheim nachhaltig geprägt und begleitet hat, an der Thematik Interesse finden würde. II. Typen von nichtsteuerlichen Abgaben Anknüpfend an die vom BVerfG vorgenommene Klassifizierung lassen sich – jenseits der Vorzugslasten – drei Typen von nichtsteuerlichen Abgaben unterscheiden2: Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, Ausgleichsabgaben und Vorteilsabschöpfungsabgaben. 1. Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion In der Vergangenheit waren die Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, vom BVerfG auch als Sonderabgaben im engeren Sinne bezeichnet3, schon vielfach Ge-
1 Statt vieler BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1479). Kritisch hierzu Siekmann, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, vor Art. 104a Rn. 139 ff. 2 Es sei darauf hingewiesen, dass für die inhaltliche Qualifikation einer Abgabe nicht deren Bezeichnung, sondern ihr materieller Gehalt maßgebend ist; ständige Rechtsprechung, siehe nur BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1478). 3 Vgl. etwa BVerfG, NVwZ 2003, 1241 (1243).
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genstand von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen4. Wie die Steuern setzen die Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion eine an einen Träger öffentlicher Gewalt zu entrichtende Geldleistung voraus, die wiederum dadurch gekennzeichnet ist, dass sie keine Gegenleistung für eine individuelle Leistung der öffentlichen Hand an den Abgabepflichtigen darstellt. Im Gegensatz zur Steuer dient das Aufkommen der Sonderabgabe aber der (vollständigen oder teilweisen) Finanzierung eines besonderen Sachzwecks oder einer besonderen Staatsaufgabe. Dass eine Sonderabgabe mit Finanzierungszweck nicht zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs eines öffentlichen Gemeinwesens, sondern zur Deckung eines besonderen Finanzbedarfs erhoben wird, ist mithin das entscheidende Abgrenzungsmerkmal zur Steuer5. Mit der Finanzierung einer besonderen Staatsaufgabe korrespondiert auch, dass die Sonderabgabe typischerweise einem Sonderfonds außerhalb der Staatskasse zugeleitet wird und dass die Einnahmen nicht von den Finanzbehörden verwaltet werden. Im Einzelfall können sich Abgrenzungsprobleme zur Steuer ergeben, wenn diese als Zwecksteuern erhoben werden6. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG steht der Einordnung einer Abgabe als Steuer die Zweckbindung des Aufkommens nicht grundsätzlich entgegen7. Für die Abgrenzung der Sonderabgaben zu den Vorzugslasten ist maßgebend, ob die Abgabe den staatlichen Aufwand für die Erbringung öffentlicher Leistungen ausgleicht8. Dabei ist die Gebühr9 die Gegenleistung für eine individuell zurechenbare öffentliche Leistung der öffentlichen Hand; sie gleicht den Vorteil der staatlichen Leistung aus10 und bezweckt die (vollständige oder teilweise) Deckung ihrer Kos-
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BVerfG, NVwZ 2003, 1241; NVwZ 2004, 1477; NVwZ 2009, 641; WM 2010, 17. Aus der älteren Rechtsprechung: BVerfGE 55, 274; 57, 139; 67, 256; 75, 108; 78, 249; 81, 156; 82, 159; 91, 186; 92, 91. 5 Beispielhaft BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1478): „Wird die Abgabepflicht dem Grunde und der Höhe nach vom Gesetzgeber mit dem Anfall bestimmter Kosten für die Erledigung einer speziellen Aufgabe tatbestandlich verknüpft, liegt keine Steuer vor, die voraussetzungslos auferlegt und geschuldet wird.“ Siehe auch BVerfGE 55, 274 (298). 6 Z.B. hat das BVerfG im Fall der – für verfassungswidrig erklärten – Landesabfallabgaben offen gelassen, ob eine Steuer (und zwar in Form einer Zwecksteuer) oder eine Sonderabgabe vorliegt (BVerfG, NJW 1998, 2346 [2348]). Die Literatur (vgl. nur Hendler, Die Sonderabfallabgabe, 1996, S. 34 ff.) ist überwiegend von einer Sonderabgabe ausgegangen. 7 Dies hat das BVerfG etwa zur Stromsteuer, deren Aufkommen der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge dient, festgestellt (BVerfGE 110, 274 [294]). Kritisch wegen einer Kollision mit dem haushaltsrechtlichen Grundsatz der Gesamtdeckung (Non-Affektationsprinzip): Lang, in: Tipke/Lang, 20. Aufl. 2010, § 3 Rn. 16. 8 BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1480). 9 Zum Gebührenbegriff siehe BVerfG, NVwZ 2003, 715 (715); vgl. auch schon BVerfGE 50, 217 (226); 91, 207 (223); 92, 91 (115); BVerfG, DVBl. 1998, 1220 (1220 f.). 10 Einen Ausgleich für einen staatlichen Aufwand hat das BVerfG (NVwZ 2004, 1477 [1480]) etwa in dem Fall verneint, dass der Staat mit den Abgaben ein Schadensausgleichssystem für potenziell Geschädigte schaffe. Belastungsgrund sei dann nicht eine Staatsleistung an die Abgabepflichtigen, sondern eine Haftungsabsicherung.
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ten11. Beiträge12 sind – wie die Gebühren – öffentliche Abgaben, die sich unmittelbar auf eine Leistung der öffentlichen Hand beziehen. Im Gegensatz zu den Gebühren wird ein Beitrag jedoch nicht für den Empfang der öffentlichen Leistung erhoben, sondern nur für das Angebot der Leistung. Ein Beitrag lässt sich damit als Gegenleistung für die Bereitstellung der öffentlichen Leistung und die Möglichkeit ihrer Inanspruchnahme verstehen. 2. Ausgleichsabgaben Von den Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion lassen sich die sog. Ausgleichsabgaben (eigener Art) unterscheiden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG13 sind Ausgleichsabgaben dadurch gekennzeichnet, dass ihr Zweck nicht die Finanzierung einer besonderen staatlichen Aufgabe ist. Ihr Kerngedanke ist vielmehr eine Ausgleichsfunktion. Es soll ein Ausgleich des Vorteils stattfinden, der aus der Nichterfüllung einer konkreten öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflicht resultiert: Die von dem Normadressaten primär zu erfüllende öffentlich-rechtliche Verhaltenspflicht (i.S.e. Naturalverpflichtung) erfüllt dieser nicht, so dass er die aus der Pflichterfüllung folgende wirtschaftliche Belastung vermeidet. Zum Ausgleich des sich hieraus ergebenden Vorteils wird sekundär eine Ausgleichsabgabe erhoben. Das bedeutet: Die Ausgleichsabgabe wird allen Personen auferlegt, die die öffentlich-rechtliche Pflicht – aus welchen Gründen auch immer – nicht erfüllen14. Im Grundsatz kommt damit immer dann, wenn eine Verhaltenspflicht besteht (sei es als aktives Tun oder als Unterlassen) eine Ausgleichsabgabe in Betracht. Voraussetzung ist aber stets, dass eine konkrete, für den Einzelnen verbindliche Verhaltenspflicht besteht (das Moment der Individualisierung begründet auch den Unterschied zur Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion, die im Gegensatz dazu generalisierend wirkt). Allgemein gehaltene Zielvorgaben oder Optimierungsgebote, auch wenn sie gesetzlich fixiert sind, genügen mithin nicht. Denn die Nichterfüllung einer Verhaltenspflicht lässt sich nur dann mit einer Abgabe „sanktionieren“, wenn von dem Einzelnen die Pflichterfüllung tatsächlich abverlangt wird und – wie später noch zu zeigen sein wird – rechtlich abverlangt werden kann. 3. Vorteilsabschöpfungsabgaben Bei der Vorteilsabschöpfungsabgabe handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Geldleistungspflicht, die einen dem Abgabepflichtigen gewährten individuellen Son11 Inwiefern es sich bei der „Kostendeckung“ um ein notwendiges Merkmal der Gebühr handelt, ist selbst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht eindeutig zu beurteilen; dies – mit Blick auf die Zweckbestimmung der Gebühr – wohl bejahend BVerfGE 18, 392 (396 f.); 50, 217 (226); BVerfG, NJW 1998, 2128 (2130); BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1479). 12 BVerfGE 9, 291 (297 ff.); 42, 223 (228). 13 BVerfGE 92, 91 (117); BVerfG, NVwZ 2009, 837 (838). 14 BVerfGE 92, 91 (117).
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dervorteil abschöpft15. Gegen die Zuordnung zu der Gruppe der Steuern oder der Sonderabgaben spricht die Gegenleistungsabhängigkeit der Vorteilsabschöpfungsabgabe. Die Abgabe lässt sich aber auch nicht unter die „klassische“ Gebührendefinition subsumieren, da nicht die Deckung der Kosten für eine staatliche Leistung bezweckt, sondern ein Entgelt für die Teilhabe an einem Gut der Allgemeinheit erhoben wird. Man kann die Vorteilsabschöpfungsabgabe als eine besondere Variante der Gebühr begreifen oder sie aber als nichtsteuerliche Abgabe eigener Art qualifizieren. Das BVerfG hat auf eine dogmatische Einordnung verzichtet16. Da die Vorteilsabschöpfungsabgabe für die Inanspruchnahme von Gütern der Allgemeinheit erhoben wird, ermöglicht sie, die Nutzung von (knappen) Ressourcen mittels Abgaben zu erfassen; und zwar in der Weise, dass der Sondervorteil, den der Einzelne durch die Nutzung der Ressource erhält, mittels einer Abgabe abgeschöpft wird. 4. Ableitungen für die Erhebung umweltschutzorientierter Abgaben Alle der drei vorgenannten Abgabenkategorien lassen sich im Grundsatz zu Zwecken des Umweltschutzes oder der Ressourcenschonung einsetzen. Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, Ausgleichsabgaben und Vorteilsabschöpfungsabgaben unterscheiden sich jedoch nach Inhalt und Zielrichtung, was sich auf ihr jeweiliges Einsatzfeld als Umweltabgabe auswirkt. Das Grundkonstrukt einer Umweltsonderabgabe mit Finanzierungsfunktion ist, dass mit ihr Einnahmen zur Finanzierung von Umweltschutzmaßnahmen, also von Maßnahmen zum Ausgleich von Nachteilen in Form von Umweltbelastungen, generiert werden sollen. Beispiele für umweltschutzorientierte Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion sind die Anfang der 90er Jahre von mehreren Bundesländern per Gesetz eingeführte, später jedoch vom BVerfG für verfassungswidrig erklärte Landesabfallabgabe17, die vom BVerfG18 ebenfalls für verfassungswidrig erklärte Beitragspflicht an den Solidarfonds Abfallrückführung, die vom BVerfG19 für verfassungsgemäß erachteten Beiträge an den abgabenfinanzierten Klärschlamm-Entschädigungsfonds oder die Abwasserabgabe nach dem Abwasserabgabengesetz20. Wie die Umweltsonderabgabe mit Finanzierungsfunktion lässt sich auch die Umweltausgleichsabgabe im Fall von der Umwelt zugefügten Nachteilen einsetzen; und 15
Siehe BVerfG, NVwZ 1996, 469. Vgl. BVerfG, NVwZ 1996, 469 (470) dazu, dass es für die kompetenzrechtliche Zulässigkeit einer nichtsteuerlichen Abgabe nicht auf deren begriffliche Zuordnung ankommt. Zum Streit über die Qualifikation siehe etwa Birk, FS Ritter, 1997, S. 41, 42 und 46 ff. 17 BVerfG, NJW 1998, 2346. 18 BVerfG, ZUR 2005, 426; dazu Kloepfer, ZUR 2005, 479; Koch, NVwZ 2005, 1153. 19 BVerfG, NVwZ 2004, 1477. 20 Die Abwasserabgabe wird für verfassungsgemäß erachtet; vgl. z. B. OVG Münster, NVwZ 1984, 390. 16
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zwar dann, wenn der Einzelne durch die Nichterfüllung einer zuvor definierten öffentlich-rechtlichen Pflicht eine die Umwelt belastende Maßnahme vornimmt. Das Konzept der Ausgleichsabgabe passt also dann, wenn sich ein Umweltproblem in eine konkrete Verhaltenspflicht des Einzelnen umsetzen und einer konkreten Verhaltensweise zuordnen lässt: Dem Einzelnen wird eine bestimmte Verhaltenspflicht auferlegt; kommt er der Pflicht nicht nach, hat er die Ausgleichsabgabe zu entrichten. Will man diese Abgabenart für Umweltschutzzwecke nutzen, ist also zugleich eine entsprechende öffentlich-rechtliche Pflicht zu etablieren, nach der das die Umwelt belastende Verhalten grundsätzlich zu unterbleiben hat. Bei Entrichtung der Abgabe darf das betreffende Verhalten dann doch vorgenommen werden. Als Ausgleichsabgaben aus dem Bereich des Umweltschutzes sind die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe21 oder die Walderhaltungsabgabe nach den Landeswaldgesetzen22 zu nennen. Wie die Umweltausgleichsabgabe verfolgt auch die Vorteilsabschöpfungsabgabe einen individualisierenden Ansatz. Allerdings dient die Abgabe hier nicht dem Ausgleich eines Nachteils, der der Umwelt zugefügt wird. Vielmehr geht es bei der Vorteilsabschöpfungsabgabe um den Ausgleich eines individuell gewährten Sondervorteils, den eine bestimmte Person aus der Nutzung eines Umweltguts der Allgemeinheit zieht. Damit bietet die Rechtsfigur der Vorteilsabschöpfungsabgabe einen Ansatzpunkt, um einen Ausgleich des Vorteils für die Nutzung knapper natürlicher Ressourcen zu erreichen. Der Prototyp der Vorteilsabschöpfungsabgabe ist die in mehreren Bundesländern erhobene Abgabe für die Entnahme von Wasser aus dem Grundwasser oder oberirdischen Gewässern, der sog. Wasserpfennig. III. Verfassungsrechtliche Parameter Die Einführung der drei vorgenannten Abgabentypen kann verfassungsrechtliche Probleme aufwerfen. Dies betrifft insbesondere den Bereich des formellen Verfassungsrechts, der hier im Folgenden – ausgehend von den Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion – näher beleuchtet werden soll. Die in diesem Zusammenhang relevant werdenden Fragen des materiellen Verfassungsrechts, insbesondere der Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes, sollen hingegen ausgeklammert werden23.
21 In der Rechtsprechung wurde die Abgabe für verfassungsgemäß erklärt BVerwGE 74, 308; 81, 220. Mit Inkrafttreten des neuen Bundesnaturschutzgesetzes am 1. März 2010 (BGBl. I 2009, S. 2542) ist in § 15 Abs. 5 BNatSchG eine Ersatzzahlung vorgesehen. 22 Siehe § 9 Abs. 4 BW Waldgesetz; § 8 Abs. 4 WaldG Bbg; § 11 Abs. 5 HessForstG; § 15 Abs. 6 MVWaldG; § 8 Abs. 4 SWaldG; § 10 Abs. 4 ThürWaldG. 23 Siehe dazu Fischer, Strategien im Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht, 2001, S. 622 ff.
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1. Kompetenzrechtliche Fragestellungen nach der Föderalismusreform Da sich die Gesetzgebungskompetenz für die Erhebung von Sonderabgaben nicht nach dem (nur für Steuern geltenden) Finanzverfassungsrecht (Art. 104a ff. GG) richtet, sondern nach den Kompetenznormen für die Sachgesetzgebung gem. Art. 70 ff. GG24, können sich insofern auch verfassungsrechtliche Problemstellungen ergeben. Insbesondere stellt sich im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG) die Frage, inwieweit die Länder neben dem Bund noch regelungsbefugt sind. Vorbehaltlich des Art. 72 Abs. 3 GG, der sogleich näher untersucht wird, hat der Bund die Möglichkeit, die Gesetzgebungszuständigkeit über eine abschließende Regelung an sich zu ziehen. Dann gilt für die Gesetzgebungsbefugnis der Länder in Bezug auf Sonderabgaben: Hat der Bund eine Abgabenregelung erlassen, können die Länder im gleichen Sachbereich keine Abgabe einführen. Kennt das Bundesrecht für einen Sachbereich keinen Abgabenmechanismus, ist zu fragen, ob der Bund – trotz des Unterlassens im konkreten Fall – den Willen hatte, eine „negative Regelung“ zu treffen, die den Ländern die Einführung einer eigenen nichtsteuerlichen Abgabe verbietet25. Eine solche Sperrwirkung ist bei einem in sich abgeschlossenen Regelungskonzept des Bundes zu bejahen. Daneben ist die durch die erste Stufe der Föderalismusreform neu eingeführte Abweichungsgesetzgebung gem. Art. 72 Abs. 3 GG zu beachten. Hiernach dürfen die Länder für bestimmte, und zwar für die in Art. 72 Abs. 3 GG genannten Materien – nach ihrem freien Ermessen26 – vom Bundesrecht inhaltlich abweichende Regelungen treffen, auch wenn der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz bereits Gebrauch gemacht hat27. Dabei enthält Art. 72 Abs. 3 GG – jenseits der unmittelbar durch Art. 72 Abs. 3 GG festgelegten abweichungsfesten Kerne – keine inhaltlichen Beschränkungen für die Inanspruchnahme der Abweichungsbefugnis, die Länder sind also hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung grundsätzlich frei28. Für die Erhebung von Sonderabgaben kann die Abweichungsgesetzgebung zunächst in der Weise Bedeutung erlangen, dass der Bund in einem Sachbereich keine Sonderabgabe vorsieht, ein Land dann aber unter Berufung der Abweichungs-
24
BVerfG, ZUR 2005, 426 (426); NVwZ 2009, 1030, 1031; WM 2010, 17, 18. Verneint im Fall des Wasserpfennigs durch BVerfG, NVwZ 1996, 469 (470). 26 Haratsch, in: Sodan, GG, 2009, Art. 72 Rn. 24. 27 Rechtsdogmatisch gilt dann der lex posterior-Grundsatz: Späteres Landesrecht geht früherem Bundesrecht vor (Ipsen, NJW 2006, 2801 [2804]). Das Bundesrecht entfaltet damit insofern keine Sperrwirkung; das Bundesrecht kann das Landesrecht mangels Geltung von Art. 31 GG auch nicht brechen. 28 Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., 2008, Art. 72 Rdnr. 80 g f. 25
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befugnis eine solche einführt29. Die Pflicht zur Entrichtung der Sonderabgabe trifft dann die in dem betreffenden Land agierenden Personen, da die Hoheitsgewalt nur für den Bereich des eigenen Landes eine Sonderabgabepflicht anordnen kann. Die Einnahmen aus der Sonderabgabe sind Landesmittel (etwa ein Sondervermögen des Landes), aus dem die mit der Sonderabgabe angestrebte Aufgabe finanziert wird. Wegen der räumlichen Beschränkung auf ein Land besteht auch nicht das Problem einer möglichen „Quersubventionierung“ in Bezug auf andere Länder; es profitiert allein die Gruppe der in dem betreffenden Land beheimateten Abgabepflichtigen. Führt hingegen der Bund eine Sonderabgabe als Teil einer Gesamtregelung ein, so haben die einzelnen Länder die Möglichkeit, hiervon abzuweichen und die Bundessonderabgabenregelung für den Bereich ihres Landesgebietes aufzuheben oder abzuändern. Es kann damit partiell anwendbares Bundesrecht entstehen, falls nur manche Länder abweichen (und die Sonderabgabe aufheben) wollen; in den anderen Ländern gilt das Bundesrecht und damit die Pflicht zur Entrichtung der Sonderabgabe fort30. Die so entstehende Rechtszersplitterung in den Bundesländern mit einer Gemengelage von Bundes- und Landesrecht31, die dann auch mit der Zielvorstellung der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in einem Spannungsverhältnis steht32, wurde von dem Verfassungsgeber bewusst in Kauf genommen. Rechtliche Grenzen für die Abweichungsbefugnis können sich allenfalls aus dem Gebot bundesstaatlicher Rücksichtnahme ergeben33, wonach Bund und Länder bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen (einschließlich der Gesetzgebungszuständigkeiten) die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das wohlverstandene Gesamtinteresse des Bundesstaates zu nehmen haben34. Da aber ein Verstoß nur bei einer missbräuchlichen Inanspruchnahme einer Kompetenz angenommen wird, bei dem die Belange des Gesamtstaates in unvertretbarer Weise beeinträchtigt werden35, und da sich das BVerfG bei der Ausübung seiner Kontrolle auf die „Einhaltung äußerster Grenzen“ beschränkt36, wird das Gebot bundesstaatlicher Rücksichtnahme allenfalls in Extremfällen als Kompetenzausübungsschranke für die Abweichungsgesetzgebung eingreifen können.
29 Zu beachten ist, dass es sich dabei nicht unbedingt um eine Abweichung im technischen Sinne handeln muss, sondern auch eine Nutzung der Spielräume der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz handeln kann, die der Bund hinterlassen hat. 30 Sannwald (Fußn. 28), Art. 72 Rdnr. 80 s. 31 Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1213). 32 Nach Franzius, NVwZ 2008, 492 (496) hilft der Topos hier nicht konkret weiter. 33 Ebenso Schulze-Fielitz, NVwZ 2007, 249 (254). 34 Vgl. BVerfGE 4, 115 (140); 14, 197 (215); 32, 199 (218); 34, 9 (44 f.); 81, 310 (337). 35 BVerfGE 34, 9 (44). 36 BVerfGE 4, 115 (140).
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Rechtlich zulässig dürfte demnach zunächst eine vollständige Aufhebung der Sonderabgabenbestimmungen durch ein Bundesland oder mehrere Bundesländer sein37. Würde also etwa eine Bundessonderabgabe von den Ländern A, B und C aufgehoben und von den Ländern D, E und F hingegen unverändert akzeptiert werden, dann wäre die Konsequenz: Die von der Abgabepflicht betroffenen Personenkreise in den Ländern D, E und F müssten die Abgabe entrichten. Die hieraus resultierenden Einnahmen würden in ein Sondervermögen des Bundes fließen und wären in D, E und F für den vorgesehenen Sachzweck gruppennützig zu verwenden. Da das Bundesrecht zur Sonderabgabe aber nicht im Gebiet von A, B und C gilt (sondern das Landesrecht, welches bestimmt, dass die Bundessonderabgabe nicht erhoben wird), würde dort keine Abgabepflicht bestehen. Dann würde – mangels Geltung des Bundesrechts – auch nicht die bundesgesetzlich angeordnete Verwendung der Einnahmen aus der Sonderabgabe zur Anwendung kommen. Die Mittel würden mithin nur in Sonderabgaben-Ländern und zugunsten der dort ansässigen Abgabepflichtigen verwendet werden. Dann findet auch keine „Quersubventionierung“ statt, da von der Mittelverwendung nur die Gruppe der dort ansässigen Abgabepflichtigen profitiert. Auch die Gefahr, dass sich der Bund zur Aufgabenerfüllung verpflichtet, dann aber über keine Gelder verfügt, weil alle oder zu viele Länder „ausscheren“, besteht daher nicht. Rechtlich komplizierter stellt sich die Situation dar, wenn ein Bundesland oder mehrere Bundesländer die Sonderabgabenbestimmungen des Bundes im Grundsatz akzeptieren und nur teilweise modifizieren, wobei die Teilmodifikation das stimmige Gesamtkonzept des Bundes beseitigt; etwa dergestalt, dass das Land G (z. B. unter Berufung auf eine schlechte wirtschaftliche Lage) eine Abweichung mit dem Inhalt normiert, dass für eigene Landesangehörige eine Ermäßigung allein bei der Abgabe (etwa mit einem halben oder einem 10 %igen Abgabesatz) und trotzdem eine volle Auszahlung aus dem Bundestopf erfolgt. Insofern kann – trotz grundsätzlicher Abweichungsbefugnis – unter dem Gesichtspunkt der Bundestreue eine unzulässige Kompetenzausübung vorliegen. Das prinzipiell bestehende Recht zu punktuellem Eingreifen38 bedeutet nicht, dass ein in sich stimmiges Gesamtregelungskonzept des Bundes „aus den Angeln“ gehoben werden kann (was z. B. auch in Betracht kommt, wenn ein besonderer Verwendungszweck für das eigene Land statuiert wird). Dies zeigt, dass eine kompetenzrechtliche Grenze dort besteht, wo eine Systemmodifikation zu einem Systembruch führt, der ein sinnvolles Miteinander von Bundes- und Landesrecht ausschließt. Dies bedeutet aber nicht, dass Systemmodifi37 Nach der wohl überwiegenden Ansicht soll das Abweichungsrecht auch die schlichte Festlegung eines Landes umfassen, dass Bundesrecht nicht gelten soll (Sannwald [Fußn. 28] Art. 72 Rdnr. 80i; Haratsch [Fußn. 26], Art. 72 Rn. 27; a.A.: Degenhart, NVwZ 2006, 1209 [1213]). 38 Dazu, dass auch punktuelle Abweichungen dergestalt denkbar sind, dass einzelne Regelungen des Bundes nicht gelten sollen, so dass in einem Land teilweise Bundes- und teilweise Landesrecht gilt: Stettner, in: Dreier, GG, Bd II, Supplementum 2007, Art. 72 Rdnr. 51; Degenhart, NVwZ 2006, 1209 (1213) verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das Bestehen von abweichungsfesten Kernen im Umkehrschluss zeige, dass das Abweichungsrecht ansonsten beliebig sei.
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kationen in jedem Fall unzulässig sind. Sie können es aber sein, wie der vorgenannte Beispielsfall einer Korrektur des Abgabesatzes für eigene Landesangehörige aufzeigt. 2. Die Schutz- und Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung Weitere formell verfassungsrechtliche Hürden für die Erhebung von Sonderabgaben (oder weiteren nichtsteuerlichen Abgaben) bestehen mit Blick auf die bundesstaatliche Finanzverfassung39. Dies deshalb, weil die grundgesetzliche Finanzverfassung (als ein Eckpfeiler der bundesstaatlichen Ordnung) im Wesentlichen – neben den Zöllen und Finanzmonopolen – nur das Finanzierungsmittel der Steuer vorsieht. Zwar schließt dies die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben verschiedener Art nicht aus, da das Grundgesetz keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabetypen enthält. Die grundgesetzliche Finanzverfassung würde aber ihren Sinn und ihre Funktion verlieren, wenn unter Rückgriff auf die Sachgesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern beliebig nichtsteuerliche Abgaben unter Umgehung der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln begründet werden könnten und damit zugleich ein weiterer Zugriff auf die keineswegs unerschöpflichen finanziellen Ressourcen der Bürger eröffnet würde. Hierin kommt – so das BVerfG zu Recht – die Schutzund Begrenzungsfunktion der Finanzverfassung zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund rekurriert die neuere Rechtsprechung des BVerfG stets auf grundlegende Prinzipien der Finanzverfassung, die die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben begrenzen40: Nichtsteuerliche Abgaben bedürfen – über die Einnahmeerzielung hinaus oder an deren Stelle – einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. Sie müssen sich zudem ihrer Art nach von der Steuer, die voraussetzungslos auferlegt und geschuldet wird, deutlich unterscheiden. Die Erhebung einer nichtsteuerlichen Abgabe muss weiter der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen Rechnung tragen, denn der Schuldner einer nichtsteuerlichen Abgabe ist regelmäßig zugleich Steuerpflichtiger und wird als solcher schon zur Finanzierung der die Gemeinschaft treffenden Lasten herangezogen. Schließlich ist der Verfassungsgrundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans berührt (Art. 110 Abs. 1 GG), wenn der Gesetzgeber Einnahme- und Ausgabekreisläufe außerhalb des Budgets organisiert. Dem BVerfG ist zuzustimmen, dass eine unbegrenzte Möglichkeit zur Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben eine Aushöhlung der bundesstaatlichen Finanzverfassung, wie sie in den Art. 104a ff. GG verwirklicht wird, bewirken könnte: Hätte der einfache Gesetzgeber die freie Wahl, ob er die Erfüllung einer staatlichen Aufgabe mittels Steuern oder Sonderabgaben finanziert, könnte dieser das ausdifferenzierte Regelungsgeflecht der Art. 104a ff. GG einfach umgehen. Auf diese Weise würde 39
Siehe BVerfG, NVwZ 2003, 1241 (1242); NVwZ 2004, 1477 (1479); ZUR 2005, 426 (426 f.); NVwZ 2009, 641 (642); NVwZ 2009, 1030, 1031; NVwZ 2010, 35, 36. 40 BVerfG, NVwZ 2003, 715 (716); NVwZ 2003, 1241 (1242); NVwZ 2004, 1477 (1479); ZUR 2005, 426 (427). Vgl. auch schon BVerfG, NVwZ 1996, 469 (470 f.).
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das „Prinzip des Steuerstaates“41 unterlaufen werden, nach dem die Steuern die vorrangige Einnahmequelle zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben darstellen. Zudem müssen dem Gesetzgeber auch deshalb Grenzen bei der Erhebung von Sonderabgaben gesetzt werden, weil mit der Erhebung einer Sonderabgabe für die steuerpflichtigen Personen die Gefahr einer „Individualschutzverletzung durch Doppelbelastungen“42 droht und weil das parlamentarische Budgetrecht tangiert wird. Die aus der Konkurrenz von Steuern und Sonderabgaben (mit Finanzierungsfunktion) erwachsenden Gefahren entschärft das BVerfG in der Weise, dass es die Erhebung von nichtsteuerlichen Abgaben strengen Zulässigkeitskriterien unterwirft43. 3. Die Sonderabgabenjudikatur des BVerfG Mit Blick auf die objektive Ordnungsfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung und zum Schutz des Individuums vor Doppelbelastungen unterwirft das BVerfG44 die Erhebung von Sonderabgaben strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dies gilt insbesondere für die in Konkurrenz zur Steuer tretenden Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion, die nach Ansicht des BVerfG gegenüber den Steuern die seltene Ausnahme bleiben müssen und für deren Erhebung das BVerfG mittlerweile sechs Zulässigkeitskriterien herausgearbeitet hat. (a) Bindung des Gesetzgebers an einen besonderen Sachzweck: Der Gesetzgeber darf sich einer Sonderabgabe nur im Rahmen der Verfolgung eines Sachzwecks bedienen, der über die – einer Sonderabgabe selbstverständlich stets immanenten – Mittelbeschaffung hinausgeht45. Legt man – was durchaus plausibel erscheint – für die Festschreibung des Sachzwecks den gleichen Maßstab an wie für Lenkungszwecke bei Steuern46, dann bedarf es einer „erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung“, die aber keine ausdrückliche Verankerung des Sachzwecks im Gesetz fordert, son41 BVerfGE 93, 319 (342) leitet aus der bundesstaatlichen Finanzverfassung ab, dass „die Finanzierung der staatlichen Aufgaben in Bund und Ländern in erster Linie aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. geregelten Einnahmequellen erfolgt (Prinzip des Steuerstaates)“. BVerfGE 78, 249 (266 f.) spricht von einer „grundsätzlichen“ Finanzierung der staatlichen Aufgaben durch Steuern. Ferner BVerfGE 82, 159 (178); 92, 91 (113); 101, 141 (147). 42 Arndt, BB 1992, Beilage 8, 1 (9). 43 Soweit nichtsteuerliche Abgaben den herkömmlichen Abgabetypen der Gebühr oder des Beitrags zugeordnet werden können, begegnen sie keinen grundsätzlichen Bedenken, da sie dem Grunde nach durch ihre Ausgleichsfunktion gegenüber den Steuern in unterscheidungskräftiger Weise sachlich besonders gerechtfertigt sind (BVerfG, NVwZ, 2003, 1241 [1242 f.], wobei das Gericht aber auch feststellt, dass die konkrete gesetzliche Ausgestaltung von Vorzugslasten in Kollision mit den finanzverfassungsrechtlichen Schutzfunktionen geraten kann; siehe auch BVerfG, NVwZ 2003, 715 [716]). 44 Aus der neueren Rechtsprechung siehe: BVerfG, NVwZ 2003, 1241 (1243); NVwZ 2004, 1477 (1480); NVwZ 2009, 641 (642); NVwZ 2009, 1030, 1031 f.; WM 2010, 17, 19 f.; NVwZ 2010, 35, 36 f. 45 BVerfG, NVwZ 2003, 1241 (1243); NVwZ 2004, 1477 (1480); ebenso Jachmann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. III, 5. Aufl., Art. 105 Rn. 17. 46 Siehe dazu BVerfG, NVwZ 2004, 846 (847); BVerfG, NJW 2007, 573 (575).
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dern es genügen lässt, wenn sich der Sachzweck aus den Gesamtumständen der Gesetzgebung ermitteln lässt. (b) Homogene Gruppe der Abgabepflichtigen: Das BVerfG fordert, dass die Sonderabgabe von einer homogenen Gruppe zu erheben ist. Hierunter versteht das Gericht eine Gruppe, die in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch eine vorgegebene Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist47. Verwehrt ist es dem Gesetzgeber, „für eine beabsichtigte Abgabenerhebung beliebig Gruppen zu bilden, die nicht in der Rechtsoder Sozialordnung materiell vorgegeben sind“48. Unerheblich für die Gruppenhomogenität ist die Möglichkeit der Abgabenschuldner, die Abgabenlast ganz oder teilweise wirtschaftlich abzuwälzen49. (c) Finanzierungsverantwortung: Die mit der Abgabe belastete Gruppe muss – so das BVerfG – dem mit der Erhebung verfolgten Zweck evident näher stehen als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler. Aus dieser Sachnähe der Abgabepflichtigen zum Erhebungszweck muss eine besondere Gruppenverantwortung für die Erfüllung der mit der außersteuerlichen Abgabe zu finanzierenden Aufgabe entspringen50. Diesen Grundsatz konkretisiert das Bundesverfassungsgericht dann noch in der Weise, dass die betreffende Aufgabe „ganz überwiegend in die Sachverantwortung der belasteten Gruppe, nicht in die der staatlichen Gesamtverantwortung“ zu fallen habe51. Mithin kommt es darauf an, ob die Aufgabe der speziellen Interessenund Verantwortungssphäre der Abgabepflichtigen zugeordnet werden kann52. Dabei ist zu beachten, dass das Vorliegen einer allgemeinen Staatsaufgabe nicht zur Folge hat, dass die zur Aufgabenerfüllung vorgesehenen Finanzmittel stets im ordentlichen Staatshaushalt bereitzustellen sind. Denn dann würde man außer Acht lassen, dass es innerhalb einer staatlichen Gesamtverantwortung immer auch denkbar ist, dass bestimmte Akteure eine besondere Verantwortung i.S. einer Gruppenverantwortung tragen. Dem Staat ist es dann möglich, seine staatliche Gesamtverantwortung in der Weise wahrzunehmen, dass er – mittels Sonderabgaben – besondere Personengruppen in die Pflicht nimmt, in deren sachliche Verantwortungssphäre ein spezifisches Problem fällt53. Neben dem „ob“ beschränkt die Finanzierungsverantwortung weiter 47 BVerfGE 55, 274 (305 f.); 82, 159 (180); 92, 91 (120); BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1480). 48 BVerfGE 82, 159 (180). Z.B. hat das BVerfG in seinem Urteil zum Kohlepfennig den Kreis der Stromverbraucher als zu konturenlos angesehen, um in ihm eine von der Allgemeinheit abgrenzbare homogene Gruppe zu sehen (BVerfGE 91, 186 [205]). 49 BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1480). 50 BVerfGE 67, 256 (276); 82, 159 (180); vgl. auch schon BVerfGE 55, 274 (306). Die Rechtsprechung zur Finanzierungsverantwortung zusammenfassend: Hummel, DVBl. 2009, 874 ff. 51 BVerfGE 55, 274 (306). 52 Jachmann (Fußn. 45), Art. 105 Rn. 17. 53 Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung kommt insbesondere in dem Urteil des BVerfG zur Altenpflegeumlage (BVerfG, NVwZ 2003, 1241 [1245]) zum Ausdruck, wo es
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auch das „wie“ der Einführung einer Sonderabgabe, da die Finanzierungsverantwortung die Einnahmen mengenmäßig auf den voraussichtlichen Mittelbedarf für den mit der Sonderabgabe verfolgten Zweck begrenzt54. (d) Gruppennützige Verwendung: Das BVerfG fordert zudem, dass das Aufkommen der Abgabe im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen verwendet wird. Eine solche gruppennützige Verwendung setzt voraus, „dass zwischen den Belastungen und den Begünstigungen, die eine Sonderabgabe bewirkt, eine sachgerechte Verknüpfung besteht“55. Allerdings ist nicht erforderlich, „dass das Aufkommen im spezifischen Interesse jedes einzelnen Abgabepflichtigen zu verwenden ist; es genügt, wenn es überwiegend im Interesse der Gesamtgruppe verwendet wird“56. Geboten ist freilich eine objektive Vorteilhaftigkeit der getätigten Maßnahme für die Abgabepflichtigen. Auch insofern muss man mit Vorsicht argumentieren und darf eine gruppennützige Verwendung nicht allein deshalb verneinen, weil sie (auch) der Allgemeinheit zugute kommt. Dies wäre eine zu einseitige Betrachtungsweise. Vielmehr muss gelten: Die Gruppennützigkeit scheitert nicht bereits daran, dass auch die Allgemeinheit von der Verwendung des Aufkommens profitiert. Genügen muss vielmehr, dass sich die Mittelverwendung für die Gruppe der Abgabepflichtigen im Ergebnis als vorteilhaft erweist; wobei in Bezug auf die Vorteilhaftigkeit keine überspannten Anforderungen gestellt werden sollten. (e) Periodische Überprüfung oder zeitliche Begrenzung: Aus dem Ausnahmecharakter der Sonderabgabe folgt, dass die Erhebung von Sonderabgaben grundsätzlich zeitlich zu begrenzen ist. Falls eine Sonderabgabe jedoch über längere Zeit hinweg erhoben wird, so ist der Gesetzgeber gehalten, „in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen, ob seine ursprüngliche Entscheidung für den Einsatz des gesetzgeberischen Mittels ,SonderabgabeÐ aufrechtzuerhalten oder ob sie wegen veränderter Umstände, insbesondere nach Zielerreichung oder wegen Wegfalls des Finanzierungszwecks, zu ändern bzw. aufzuheben ist“57.
heißt: „Auch das Interesse der Allgemeinheit an der Aufgabenerfüllung tangiert die gleichzeitig gegebene spezielle Gruppenverantwortung der Abgabepflichtigen nicht. Die Förderung des Gemeinwohls ist notwendiges Ziel jeder staatlichen Aktivität, auch der des Sonderabgabengesetzgebers. Ein öffentliches Interesse an der Aufgabenerfüllung begleitet notwendig jede zwangsweise Inanspruchnahme besonderer Gruppen und setzt deren spezifische Finanzierungsverantwortung voraus, beseitigt sie aber nicht.“ 54 BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1480), auch dazu, dass daher ein Ruhen der Beitragspflicht oder eine Rückerstattung von überschüssigen Einnahmen geboten sein kann. 55 BVerfGE 55, 274 (307). Vgl. auch Kloepfer/Schulte, UPR 1991, 201 (210), die von einer abgeschwächten und kollektivierten Form des an sich für Vorzugslasten typischen Synallagmas sprechen. 56 BVerfGE 67, 256 (276 f.); vgl. bereits BVerfGE 55, 274 (307 f.), was das BVerfG (NVwZ 2003, 1241 [1246]) dann noch in der Weise konkretisiert, dass es unschädlich ist, wenn andere Gruppen oder die Allgemeinheit gewisse Vorteile aus der Abgabenverwendung haben. 57 BVerfGE 82, 159 (181). Z.B. war im früher geltenden Gesetz über die Erhebung einer Abfallabgabe in Schleswig-Holstein vorgesehen, dass die Landesregierung dem Landtag ein-
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(f) Haushaltsrechtliche Dokumentationspflichten: In seiner neueren Rechtsprechung fordert das BVerfG schließlich, dass seit dem 31. 12. 2003 Sonderabgaben entsprechend den einfachgesetzlich vorhandenen Modellen haushaltsrechtlicher Berichtspflichten in einer dem Haushaltsplan beigefügten Anlage zu dokumentieren sind58. IV. Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für die Abgabenerhebung 1. Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion Die zuvor genannten Zulässigkeitskriterien gelten jedenfalls für alle Sonderabgaben, deren Zweck die Finanzierung einer bestimmten öffentlichen Aufgabe ist. Nach Ansicht des BVerfG kommen immer dann, wenn eine Abgabe eine Finanzierungsfunktion aufweist, die strengen Zulässigkeitsvoraussetzungen uneingeschränkt zur Anwendung: „Verfolgt eine Sonderabgabe jedoch einen Finanzierungszweck – sei es als Haupt- oder Nebenzweck –, so gelten die angeführten Kriterien in vollem Umfang. Hinzutretende Lenkungszwecke, seien sie dominant oder nur beiläufig, ändern daran nichts“59. 2. Ausgleichsabgaben Ausgleichsabgaben (eigener Art) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie – wie das BVerfG60 in seinem Beschluss vom 5. 3. 2009 zu den Ausgleichsbeträgen für Stellplätze ausgeführt hat – nichtsteuerliche Abgaben sind, die aufgrund spezieller Sach- und Zweckzusammenhänge unterscheidungskräftige Merkmale zur Steuer aufweisen und daher nicht in Konkurrenz zur Steuer treten. Im Fall der Ausgleichsabgabe besteht der besondere Belastungsgrund darin, dass die Geldleistungspflicht den wirtschaftlichen Vorteil ausgleicht, der durch die Nichterfüllung einer konkreten, für den Einzelnen verbindlichen öffentlich-rechtlichen Naturalverpflichtung entsteht. Bezogen auf den Umweltschutz bedeutet dies, dass – je nach Ausgestaltung im Einzelfall – auch der mit der Nichterfüllung der Verhaltenspflicht verbundene Nachteil für die Umwelt ausgeglichen werden kann. Dementsprechend knüpfen auch die naturschutzrechtlichen Ausgleichsabgaben an dem verursachten ökologischen Schaden oder die Kosten einer Ersatzmaßnahme an61.
mal in jeder Legislaturperiode über den Erfolg der Abgabe zu berichten hat. Dies wird man als ausreichend anzusehen haben. 58 Siehe BVerfG, NVwZ 2003, 1241 (1243) zu Begründung und Inhalt. Hieran anknüpfend: BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1480); NVwZ 2009, 641 (642). Zu dem Kriterium auch Wahlhäuser, NVwZ 2005, 1389. 59 BVerfGE 67, 256 (278). 60 BVerfG, NVwZ 2009, 837; dazu auch BVerwG, NVwZ 2005, 215. 61 Vgl. Sparwasser/Engel/Vosskuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, S. 315 zum Anknüpfungspunkt in den einzelnen Bundesländern.
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Vor diesem Hintergrund fordert das BVerfG für Ausgleichsabgaben zwar – mit Blick auf die Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung – eine Beachtung der o.g. grundlegenden Prinzipien der Finanzverfassung (besondere sachliche Rechtfertigung, deutliche Unterscheidbarkeit von der Steuer, Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen sowie die Vollständigkeit des Haushaltsplans). Die hieraus resultierenden, unter III.3. dargelegten strengen Zulässigkeitskriterien sollen aber wegen des besonderen unterscheidungskräftigen Belastungsgrundes „nicht uneingeschränkt gelten“; insbesondere – so das BVerfG – „kommt es auf die Sachnähe der Abgabepflichtigen und die Gruppennützigkeit der Mittelverwendung nicht entscheidend an“62. Zulässigkeitsvoraussetzung für die Abgabe sei stattdessen, dass die auferlegte Verhaltenspflicht, an die die Abgabenerhebung anknüpft, selbst verfassungsgemäß ist63. Explizit offen gelassen hat das BVerfG die Frage, ob das Aufkommen einer Ausgleichsabgabe „funktionsgleich“ für solche Maßnahmen verwendet werden müsse, die geeignet sind, die Nichterfüllung der öffentlich-rechtlichen Pflicht zu kompensieren64. Wenn man eine solche funktionsgleiche Mittelverwendung in der Tat nicht für geboten erachtet (was nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des BVerfG möglich erscheint), dann ergeben sich gerade hierdurch Gestaltungsspielräume für den Abgabengesetzgeber, die er im Fall der Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion nicht hat. Während der Gesetzgeber dort an das Prinzip der gruppennützigen Verwendung gebunden ist, ist er bei der Ausgleichsabgabe insofern – jedenfalls nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung – freier65. 3. Vorteilsabschöpfungsabgaben Eine Vorteilsabschöpfungsabgabe hat das BVerfG66 in der in Hessen und BadenWürttemberg erhobenen Abgabe auf die Entnahme von Grundwasser (und in BadenWürttemberg auch von Wasser aus Oberflächengewässer) gesehen67. Die Erhebung dieses sog. Wasserpfennigs hat das BVerfG als verfassungsgemäß erachtet. Im Ausgangspunkt rekurriert das Gericht auf die oben dargelegte Argumentation zur Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung, aus der für die Erhebung nichtsteuerlicher Abgaben die drei oben genannten grundlegenden Prinzi62
BVerfG, NVwZ 2009, 837 (838). BVerfG, NVwZ 2009, 837 (838). 64 BVerfG, NVwZ 2009, 837 (838). Ebenso nicht beantwortet hat das BVerfG die auf S. 839 f. aufgeworfene Frage, ob das Erfordernis einer periodischen Überprüfung durch den Gesetzgeber für Ausgleichsabgaben Geltung beansprucht. 65 BVerfG, NVwZ 2009, 837 (838). 66 BVerfG, NVwZ 1996, 469 ff. 67 Wasserentnahmeabgaben finden sich u. a. auch in § 13a Wassergesetz Berlin, § 23 SächsWG oder § 47 WassG LSA sowie im Grundwassergebührengesetz von Hamburg. Zur Verfassungsmäßigkeit der Erhebung der Grundwasserentnahmeabgabe durch das Land Schleswig-Holstein: BVerfG, NVwZ 2003, 467. 63
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pien abzuleiten sind: die besondere sachliche Rechtfertigung und deutliche Unterscheidbarkeit von der Steuer, die Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen sowie die Vollständigkeit des Haushaltsplans. Im Fall des Wasserpfennigs sieht das BVerfG die Ordnungsfunktion der Finanzverfassung nicht gefährdet. Das Gericht sieht die sachliche Rechtfertigung für den Wasserpfennig in der Abschöpfung eines individuell gewährten Sondervorteils durch Teilhabe an einem (durch eine öffentlichrechtliche Nutzungsregelung bewirtschafteten) Gut der Allgemeinheit in Form einer knappen natürlichen Ressource68. Auch hat das BVerfG eine Konkurrenzsituation zur Steuer verneint und mit der Gegenleistungsabhängigkeit der Abgabe einen unterscheidungskräftigen Belastungsgrund angenommen. Belastungsgrund des Wasserpfennigs ist mithin die Inanspruchnahme des in der Natur vorhandenen Wassers in seiner Eigenschaft als Gut der Allgemeinheit. Allein hieraus rechtfertigt es sich, denjenigen, der eine knappe Ressource nutzt und damit einen Sondervorteil gegenüber den Nicht-Nutzern der Ressource erhält, als Gegenleistung mit einer Abgabe zu belegen. Genügt mithin die Abschöpfung des Sondervorteils als besonderer, von der Steuer unterscheidungskräftiger Belastungsgrund im Grundsatz für eine sachliche Rechtfertigung, dann bedarf es konsequenterweise auch keiner (schematischen) Abprüfung der o.g. Zulässigkeitskriterien für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion69. Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen ergeben sich – wie bei den Ausgleichsabgaben – allein aus der besonderen Wesensart der Abgabe: Da auf die Abschöpfung des Sondervorteils abgestellt wird, ist die Höhe der Abgabe – wie das BVerfG hervorhebt70 – zwangsläufig auf den Wert der Leistung und damit des Sondervorteils beschränkt. Bei einer darüber hinausgehenden Geldleistungspflicht würde die Legitimation nicht mehr eingreifen, da die Abgabe dann – wie die Steuer – voraussetzungslos erhoben würde. Aus der Eigenart der Abgabe werden vom BVerfG aber keine besonderen Anforderungen an eine Zweckbindung des Aufkommens (etwa i.S.e. gruppennützigen Verwendung) gestellt. Im Gegenteil: Das BVerfG thematisiert die Zweckbindung unter dem Blickwinkel, dass keine Zweckbindung rechtlich unproblematisch und eine Zweckbindung von Einnahmen – jedenfalls in Einzelfällen – zulässig ist. In der Literatur ist das Urteil des BVerfG – wegen seiner Weite und dogmatischen Unschärfe – vielfach auf Kritik, aber auch auf Zustimmung gestoßen71. Dies wird 68
BVerfG, NVwZ 1996, 469 (471) unter Bezugnahme auf Murswiek, NuR 1994, 170 (175). Dies kann aber in Betracht kommen, wenn einem Wasserentnahmeentgelt eine normative Finanzierungsfunktion beizumessen ist; dies für die Wasserentnahmeabgaben in Niedersachsen und Sachsen wegen ihrer Mittelverwendung für den land- und forstwirtschaftlichen Billigkeitsausgleich annehmend: Breuer, Öffentliches und privates Wasserrecht, 3. Aufl., 2004, S. 670. Eine Finanzierungsfunktion für die Wasserentnahmeabgabe des sächsischen Wasserrechts verneinend: VG Leipzig, LKV 2001, 427. 70 BVerfG, NVwZ 1996, 469 (471). 71 Siehe Raber, NVwZ 1997, 219 ff.; v. Mutius/Lünenbürger, NVwZ 1996, 1061 ff.; Sanden, UPR 1986, 181 ff.; Birk (Fußn. 16), S. 41 ff.; Murswiek, NVwZ 1996, 417 ff.; Meyer, NVwZ 2000, 1000; Britz, JuS 1997, 404 ff. 69
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auch an der Diskussion der folgenden Aspekte, die den möglichen Anwendungsbereich einer Vorteilsabschöpfungsabgabe näher beschreiben sollen, deutlich. Nach der Grundkonzeption des BVerfG ist der Belastungsgrund der Vorteilsabschöpfungsabgabe, dass ein individuell gewährter Sondervorteil abgeschöpft wird, den ein Einzelner durch Teilhabe an einem Gut der Allgemeinheit erhält. Mit dieser Konzeption ohne Weiteres in Einklang zu bringen ist die Fallgestaltung, dass der Einzelne eine „herrenlose“ oder eine im Eigentum des Staates stehende Ressource nutzt. Der hierdurch vermittelte Sondervorteil ist sodann einer Abschöpfung zugänglich. Was aber gilt, wenn der Einzelne eine in seinem Eigentum stehende Ressource nutzen will? Hierin wird man eine Realisierung der Eigentümerbefugnisse (§§ 903 ff. BGB) zu sehen haben. Mithin fehlt es bei einem Eigentümergebrauch an einem Gut der Allgemeinheit, an welchem dem Einzelnen ein individueller Sondervorteil vermittelt wird. Der Grundgedanke der Vorteilsabschöpfungsabgabe passt dann also nicht mehr. Eine weniger formale Betrachtungsweise, nach der man Ressourcen – unabhängig von ihrer eigentumsrechtlichen Zuordnung – auch als Gut der Allgemeinheit qualifiziert, so dass auch der Eigentümer für die Ressourcenverknappung herangezogen werden könnte, ist mit der durch Art. 14 GG (Eigentumsgarantie) etablierten verfassungsrechtlichen Wertordnung nur schwer in Einklang zu bringen. Obwohl Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums zulässt und die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG eine Erhaltung der Lebensgrundlagen für künftige Generationen fordert, stellt die mittels Abgaben erfolgende Abschöpfung eines Sondervorteils dann kein rechtlich tragfähiges Konzept dar, wenn die Nutzung durch den Eigentümer der Ressource erfolgt72. Verschieben könnte sich diese Beurteilung ggf. aber dann, wenn die Ressourcennutzung durch den Eigentümer zugleich mit einer anderweitigen Belastung der Umwelt einhergeht; also z. B., wenn die Wasserentnahme zugleich auch einen nachteiligen Eingriff in Natur und Landschaft bewirken würde. Die Frage, ob man zumindest hierin einen Sondervorteil sehen kann, der sich mittels einer Abgabe abschöpfen lässt, ist aber zu verneinen. Denn in der Sache geht es dann nicht um einen Vorteilsausgleich, sondern um einen Ausgleich oder eine Finanzierung der Nachteile, die ein Einzelner der Umwelt zufügt. Das passende Instrument ist dann insbesondere die Ausgleichsabgabe (im vorgenannten Beispielsfall also die naturschutzrechtliche Ausgleichsabgabe) und ggf. auch eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion. Auch wenn zu konzedieren ist, dass die Trennlinie zwischen der Vorteilsabschöpfungsabgabe einerseits und der Ausgleichsabgabe und der Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion andererseits eine sehr feine ist, so ist sie aber in der Konzeption der einzelnen Typen von Umweltabgaben angelegt: Die Vorteilsabschöpfungsabgabe 72 Vgl. aber Bulling/Finkenbeiner/Eckardt/Kibele, Wassergesetz für Baden-Württemberg, Bd. 1, § 17a Rn. 35 und vor §§ 17a-17d Rn. 34, dass die rechtliche Einordnung des Wasserschatzes als Sondergut der Allgemeinheit unabhängig von der mehr oder weniger zufälligen Frage sei, wem das zivilrechtliche Eigentum zustehe. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang freilich, dass jedenfalls das Grundwasser nicht der Verfügung des Grundeigentümers unterliegt (§ 12 BW WG).
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stellt auf den Sondervorteil des Einzelnen ab, den der Einzelne durch die Nutzung eines Gutes der Allgemeinheit erlangt, und bemisst sich demnach nach dem Wert des Vorteils, den der Einzelne erfährt73. Die Ausgleichsabgabe (und in generalisierender Weise auch die Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion) bemisst sich demgegenüber nach der Höhe des Nachteils, welcher der Umwelt zugefügt wird. Weiter stellt sich die Frage, ob die Erhebung einer Vorteilsabschöpfungsabgabe stets voraussetzt, dass die betreffende knappe Ressource einer Bewirtschaftung durch ein öffentlich-rechtliches Nutzungsregime untersteht. Im Fall der Ressource „Wasser“ ist dies der Fall, da das WHG eine Gewässerbewirtschaftung regelt und die Nutzung von Gewässern unter den Vorbehalt einer Erlaubnis oder Bewilligung stellt; dementsprechend wird auch der Wasserpfennig in Hessen und Baden-Württemberg allein für erlaubnispflichtige Wassernutzungen erhoben. Die Wortwahl in der Rechtsprechung des BVerfG mag dafür sprechen, dass man eine öffentlich-rechtliche Nutzungsregelung und eine einer Bewirtschaftung unterliegende Ressource fordert74; zwingend ist diese Sichtweise freilich nicht75. Ausgehend davon, dass die Vorteilsabschöpfungsabgabe darauf ausgerichtet ist, den Wert und tatsächlichen Umfang einer Ressourcennutzung abzuschöpfen, sollten keine allzu hohen Anforderungen an das öffentlich-rechtliche Nutzungsregime gestellt werden. Alternativ kann man auch die Abgabenerhebung als solche als Nutzungsregime genügen lassen76. Denn die Funktion des öffentlich-rechtlichen Nutzungsregimes kann im Zusammenhang mit der Vorteilsabschöpfungsabgabe nur sein, dass der Sondervorteil für den Einzelnen auch „greifbar“ wird. Dementsprechend ergibt sich der Sondervorteil jeweils daraus, dass der Staat dem Einzelnen die Zugriffsmöglichkeit auf die Ressource eröffnet und der Einzelne die Nutzung auch vornimmt77. Insofern sind auch im Hinblick auf eine Rechtsverleihung zur Ressourcennutzung keine überspannten Anforderungen zu stellen. Dieser in Richtung einer Verleihungsgebühr führende Gedanke78 ist ebenfalls 73 Missverständlich Britz, JuS 1997, 404 (409), wenn auf den „Ausgleich eines Nachteils“ abgestellt wird. 74 So etwa Sanden, UPR 1986, 181 (184) und v. Mutius/Lünenbürger, NVwZ 1996, 1061 (1065). 75 Sacksofsky, Umweltschutz durch nichtsteuerliche Abgaben, 2000, S. 125, konstatiert, dass das BVerfG die Frage offen gelassen habe. 76 So Murswiek, NVwZ 1996, 417 (420); a.A. hingegen v. Mutius/Lünenbürger, NVwZ 1996, 1061 (1064 f.). 77 So Murswiek, NVwZ 1996, 417 (420). Enger Reinhardt, LKV 2007, 241 (245 f.), wonach es das Besondere sei, dass der Einzelne keinen Anspruch auf die Ressourcennutzung habe, sondern diese ihm erst im Rahmen des Bewirtschaftungsermessens gestattet werde. Ebenfalls eine enge Auslegung befürwortend v. Mutius/Lünenbürger (NVwZ 1996, 1061 [1064 f.]), nach denen eine Vorteilsabschöpfungsabgabe ausscheide, solange aber das Umweltmedium ein öffentliches Gut darstelle, von dessen Nutzung keiner ausgeschlossen werden könne. 78 Nach v. Mutius/Lünenbürger, NVwZ 1996, 1061 (1062) wird bei dem Wasserpfennig an die „Rechtsverleihung zur Wasserentnahme“ angeknüpft. Vgl. auch Sanden, UPR 1986, 181 (183) dazu, dass beim BVerfG eine saubere Abgrenzung zur Verleihungsgebühr fehle. Für das Wassernutzungsentgelt von Brandenburg ist der Gesetzgeber von einer Verleihungsgebühr ausgegangen (vgl. das Zitat bei OVG Frankfurt, LKV 2004, 474 [474 f.]). Ablehnend u. a.
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in der oben zitierten Rechtsprechung des BVerfG angelegt, wenn darauf abgestellt wird, ob dem Einzelnen die Möglichkeit zur Nutzung der Ressource eröffnet wird. Hierfür muss es aber – wie soeben dargelegt – genügen, dass der Einzelne eine – wie auch immer geartete – Gestattung zur Nutzung der Ressource erhält. 4. Ableitungen für die Erhebung umweltschutzorientierter Abgaben Bei Umweltsonderabgaben mit Finanzierungsfunktion geht es stets um die Finanzierung einer (als öffentliche Aufgabe wahrgenommenen) Maßnahme zum Ausgleich von Umweltbelastungen, die der Verantwortungs- und Interessensphäre einer bestimmten (homogenen) Personengruppe zuzurechnen sind. Der Grund für die Heranziehung der Gruppe zur Entrichtung der Sonderabgabe ist darin zu sehen, dass die konkrete Aufgabenerfüllung der Verantwortlichkeits- bzw. Interessensphäre dieser Gruppe zuzuordnen ist. Mit der Heranziehung zu der Abgabe muss aber korrespondieren, dass das Aufkommen im Interesse der Gruppe der Abgabepflichtigen eingesetzt wird. Diese Grundgedanken führen dann zu den durch die Rechtsprechung des BVerfG weiter ausdifferenzierten und oben beschriebenen Zulässigkeitsanforderungen an Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion. Weniger strengen Zulässigkeitskriterien unterliegen hingegen die Umweltausgleichsabgaben. So hat das BVerfG festgestellt, dass es wegen des von der Steuer unterscheidbaren Belastungsgrundes auf die Sachnähe der Abgabepflichtigen und die Gruppennützigkeit der Mittelverwendung nicht entscheidend ankomme; wobei das Gericht aber offen gelassen hat, ob eine funktionsgleiche Mittelverwendung erforderlich ist. Verfassungsrechtliche Voraussetzung ist aber stets, dass die aus Umweltschutzerwägungen angeordnete Verhaltenspflicht ihrerseits verfassungsgemäß wäre79. Die Erhebung der Ausgleichsabgabe würde dann – im Vergleich zu einer strengen Verhaltenspflicht ohne Abgabenmechanismus – eine weniger belastende Maßnahme darstellen. Denn der Betroffene hätte die Wahl, ob er die Verhaltenspflicht erfüllt oder aber die Ausgleichsabgabe zahlt80. Im Fall der Vorteilsabschöpfungsabgabe sieht das BVerfG die sachliche Rechtfertigung in der Abschöpfung eines individuell gewährten Sondervorteils durch Teilhabe an einem (durch eine öffentlich-rechtliche Nutzungsregelung bewirtschafteten) Gut der Allgemeinheit. Da die Abschöpfung des Sondervorteils als besonderer, von der Steuer unterscheidungskräftiger Belastungsgrund für eine sachliche RechtRaber, NVwZ 1997, 219 (221), da letztlich die tatsächliche Entnahme des Wassers maßgeblich sei. 79 Treffend in diesem Zusammenhang Jachmann (Fußn. 45), Art. 105 Rn. 17: „Dabei wird durch die Zahlung der Abgabe der Vorteil der Nichterfüllung der Pflicht erkauft. Die dem vorgreifliche Statuierung der Pflicht definiert ein Stück Verantwortungssphäre der (potentiell) Abgabepflichtigen.“ 80 Näher zur Bewertung solcher und ähnlicher Formen eines Instrumentenmixes: Fischer (Fußn. 23) S. 633 ff.
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fertigung genügt, bedarf es prinzipiell auch keiner Prüfung der strengen Zulässigkeitskriterien für Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion. Dementsprechend werden vom BVerfG – angesichts der Eigenart der Abgabe – auch keine besonderen Anforderungen an eine Zweckbindung des Aufkommens (etwa i.S.e. gruppennützigen Verwendung) gestellt. Allerdings ist die Abgabenhöhe beschränkt auf den Wert des gewährten Sondervorteils. Dass die Ressourcennutzung möglicherweise mit anderen (tatsächlichen oder potenziellen) Umweltbeeinträchtigungen einhergeht, ist – wie dargelegt – nicht als „Sondervorteil“ anzusehen, der zur Erhebung einer Vorteilsabschöpfungsabgabe berechtigt. Denn der Gedanke der Vorteilsabschöpfungsabgabe zielt nicht auf die Finanzierung oder den Ausgleich von der Umwelt zugefügten Nachteilen, sondern auf die geldwerte Umsetzung der aus der Nutzung einer Ressource resultierenden Sondervorteile. Sondervorteile sind bei einem Eigentümergebrauch aber zu verneinen81. Die mit der Ressourcennutzung einhergehenden Umweltbelastungen könnten – wie gesagt – nur über eine Ausgleichsabgabe oder eine Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion erfasst werden. V. Schlussbetrachtung Will der Staat aus Erwägungen des Umweltschutzes oder der Ressourcenschonung auf den Einsatz von Abgaben zurückgreifen, so steht am Anfang die politische Gestaltungsentscheidung, welche Ziele mit der Abgabe primär verfolgt werden sollen. Auch wenn sich sowohl Steuern als auch nichtsteuerliche Abgaben prinzipiell zum Schutz der Umwelt einsetzen lassen, so ist mit der Wahl zwischen den beiden Abgabenformen bereits ein zentrale Weichenstellung verbunden: Während der Fokus einer Steuer typischerweise bei der Befriedigung fiskalischer Interessen des Staates liegen wird82, sind die nichtsteuerlichen Abgaben stärker auf die Bewältigung der Sachproblematik ausgerichtet83. Dabei bieten Sonder- oder Ausgleichsabgaben in erster Linie einen Ansatz, um die mit einem bestimmten Verhalten verbundenen Umweltbelastungen zu „managen“ und die Kosten hierfür verursachergerecht umzulegen. So passen diese beiden Abgabenformen, wenn es nicht um die Abschöpfung eines (Umwelt-)Vorteils geht, sondern um einen Nachteilsausgleich dergestalt, dass eine Umweltbeeinträchtigung be81 Konsequenterweise weist das Bayerische Wassergesetz in Art. 4 Abs. 2 S. 3 dem Gewässereigentümer das Entgelt zu, wenn ein Dritter im Rahmen einer Erlaubnis oder Bewilligung das Gewässer des Eigentümers benutzen darf. 82 Siehe insoweit insbesondere die im Jahre 1999 initiierte und später fortgeschriebene ökologische Steuerreform mit einer Besteuerung von Strom, Heizöl, Gas und Kraftstoffen; zur Verfassungsmäßigkeit: BVerfG, NVwZ 2004, 846 m. Anm. Wernsmann, NVwZ 2004, 819. Eine wesentliche Neuordnung der Besteuerung von Energie erfolgte im Jahre 2006 durch das Energiesteuergesetz. 83 Hiermit korrespondiert, dass das Instrument der Steuer einen weiter gefassten Spielraum für die Verwendung der Einnahmen belässt, als dies bei den nichtsteuerlichen Abgaben der Fall ist.
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hoben werden soll. Im Unterschied zu der Umweltausgleichsabgabe wird bei der Umweltsonderabgabe mit Finanzierungsfunktion ein generalisierender Ansatz verfolgt: Die Verantwortlichkeit für ein Umweltproblem wird – angesichts der Schwierigkeiten bei der Zuordnung, z. B. weil nicht jedes Verhalten eine Umweltbeeinträchtigung beinhaltet – nicht einer bestimmten Person, sondern einer Personengruppe zugewiesen, die die Maßnahmen zur Wahrnehmung der Umweltverantwortung zu finanzieren hat. Soll hingegen eine Abgabe für eine sparsame und effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen – beispielsweise „Wasser“, „Boden“, „Luft“ oder allgemein der „Natur“ – eingeführt werden, wäre der vorrangige Belastungsgrund einer solchen Ressourcennutzungsabgabe, dass sie als „Gegenleistung“ für die Inanspruchnahme einer natürlichen, typischerweise knappen Ressource erhoben wird. Einschlägig wäre dann die Vorteilsabschöpfungsabgabe. Andererseits weisen Ausgleichsabgabe und Vorteilsabschöpfungsabgabe insofern Gemeinsamkeiten auf, als beide Abgabentypen einen individualisierenden Charakter haben: Während die Vorteilsabschöpfungsabgabe die Gegenleistung für einen individuell gewährten Sondervorteil darstellt, wird bei der Ausgleichsabgabe allein derjenige belastet, der die Verhaltenspflicht nicht erfüllt. Dagegen hat die Sonderabgabe mit Finanzierungsfunktion – wie gesagt – einen generalisierenden Charakter: Ein konkreter Vorteil für den Einzelnen ist nicht erforderlich, es genügt die gemeinnützige Verwendung der generierten Einnahmen. Signifikante Unterschiede zwischen den drei Abgabentypen finden sich aber nicht nur in Bezug auf Inhalt und Zielrichtung. Aus der jeweiligen Eigenart der Abgaben ergeben sich auch spezifische Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen, was sich insbesondere in der gebotenen differenzierten Anwendung der Sonderabgabenjudikatur des BVerfG äußert. Dies zeigt sich zum einen bei der Verwendung der Einnahmen: Bei den Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion ist – wie gesagt – eine gruppennützige Verwendung erforderlich, bei den Ausgleichsabgaben möglicherweise eine funktionsgleiche Mittelverwendung, bei den Vorteilsabschöpfungsabgaben ist eine Zweckbindung nicht geboten. Zum anderen folgen aus der Eigenart der Abgaben schließlich auch Vorgaben für die zulässige Abgabenhöhe: Sonderabgaben mit Finanzierungsfunktion sind durch den voraussichtlichen Mittelbedarf „gedeckelt“; bei Vorteilsabschöpfungsabgaben ist der Wert des Sondervorteils maßgeblich; und die Höhe einer Ausgleichsabgabe bemisst sich nach dem Vorteil, der daraus folgt, dass die wirtschaftliche Belastung wegen Nichterfüllung der betreffenden Pflicht nicht zu tragen ist.
Das Bundesratsprinzip – „gute, deutsche“ Verfassungstradition? Von Werner Frotscher I. Einführung Die bundesstaatliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland erfuhr in den letzten Jahren eine besonders intensive politische und rechtliche „Evaluation“, deren Ergebnis überwiegend kritisch ausfiel. Das Schlagwort vom „Blockadeföderalismus“ bestimmte die Diskussion, wobei vor allem die Blockademöglichkeiten des Bundesrates auf Grund seiner starken Stellung im Gesetzgebungsverfahren ins Auge gefasst wurden1. Auch die Arbeit zweier Föderalismuskommissionen2 und die daraus resultierenden umfangreichen Verfassungsänderungen mit den Gesetzen zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. 8. 20063 (sog. Föderalismusreform I) und vom 29. 7. 20094 (Föderalismusreform II) haben die Diskussion nicht verstummen lassen. Auf der „Großbaustelle Bundesstaat“5 wird weiter gearbeitet. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf einen Teilbereich der Föderalismusproblematik, nämlich die Stellung des Bundesrates im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik. Schon bei den Verfassungsberatungen auf Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat in Bonn war die Ausgestaltung des vorgesehenen föderativen Organs auf Bundesebene umstritten (dazu unten II.6.). Die Entscheidung fiel schließlich zugunsten des sog. Bundesratsmodells, wie es in den Art. 50 – 52 GG seine Normierung gefunden hat. Es ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass die Mitglieder des föderativen Organs von den Landesregierungen bestellt werden und an deren Weisungen auch gebunden sind. Die personellen Mitglieder des Bundesrates besitzen also kein freies Mandat. Zum anderen wurden die Aufgaben und Zuständigkeiten des Bun1 So schon die Regierungsbegründung zur Föderalismusreform I, BR-Drucks. 178/06, S. 13 (Begründung – Allg. Teil); vgl. daneben von Arnim, Vom schönen Schein der Demokratie, 2000, S. 105 ff.; ders., Demokratie in Deutschland, FS Siedentopf, 2008, 217 (231); Trute, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2005, Art. 84 Rn. 21 f.; zusammenfassend Pieroth, Das Defizit des GG: der Blockadeföderalismus, in: Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Verfassung mit Zukunft!? 2010, S. 33 ff. 2 Vgl. Deutscher Bundestag/Bundesrat/Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, 2005 (Zur Sache 1/2005); dies. (Hrsg.), Die gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, 2010. 3 BGBl. 2006 I, 2034. 4 BGBl. 2009 I, 2248. 5 Papier, Großbaustelle Bundesstaat, in: FAZ, Nr. 117 v. 22. 5. 2009, S. B1 f.
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desrates im Vergleich zu seinem Vorläufer, dem Reichsrat der Weimarer Republik, erheblich erweitert. Das gilt insbesondere für den Bereich der Gesetzgebung, wo der Bundesrat auf Grund des ihm eingeräumten Gesetzesinitiativrechts (vgl. Art. 76 Abs. 1 GG) und seiner Berechtigung, zu Gesetzesinitiativen der Bundesregierung zunächst Stellung zu nehmen (sog. erster Durchgang beim Bundesrat; vgl. Art. 76 Abs. 2 GG), vor allem aber durch die mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts immer weiter ausgedehnte Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen6 zu einem dem Bundestag nahezu gleichgewichtigen Organ geworden ist. Die daraus resultierenden Blockademöglichkeiten der Opposition bei unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sind vielfach beschrieben und zu Recht beklagt worden7. Die Föderalismusreform I, die sich gerade auch dieses Problems angenommen und die Lösung in einer Reduzierung der Anzahl zustimmungsbedürftiger Bundesgesetze bei gleichzeitiger Aufwertung der Landesgesetzgebung gesehen hat, hat soweit ersichtlich bisher keine durchgreifende Abhilfe geschaffen. Die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze ist danach nur unwesentlich auf circa 41 % der Gesetzesvorlagen gesunken8. Die rechtspolitische Debatte um die richtige Ausgestaltung des föderativen Organs Bundesrat wird deshalb auch in Zukunft nicht zur Ruhe kommen. Der gegenwärtige Streit um die Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken9 macht das ebenso deutlich wie das Medienecho auf den Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen im Sommer 2010, das den Verlust der Bundesratsmehrheit als entscheidende Schwächung der Regierungskoalition in Berlin hervorhob. „Die Opposition regiert mit“, titelte etwa die Süddeutsche Zeitung10 und beklagte den von vielen Bürgern so empfundenen „Föderalismus-Poker im Bundesrat“, der nun wieder ins Haus stünde. Wolf-Rüdiger Schenke hat die Probleme des Bundesratsprinzips, wie es im Grundgesetz normiert ist, schon 1989 in seinem Beitrag „Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus“ für das Handbuch „Parlamentsrecht und Parlamentspraxis“ aufgegriffen und sich sehr grundsätzlich und kritisch mit der Stellung
6 Die Ausweitung der Zustimmungsbedürftigkeit ist zu einem Großteil auf die sog. Einheitsthese des BVerfG zurückzuführen. Diese geht von dem Umstand aus, dass jedes Gesetz gesetzgebungstechnisch eine Einheit bildet. Daraus hat das Gericht die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes im Ganzen abgeleitet, wenn das Gesetz auch nur eine einzige zustimmungsbedürftige Vorschrift enthält; vgl. BVerfGE 8, 274 (294 f.); 37, 363 (381 f.); 48, 127 (177 f.); 55, 274 (326 f.). 7 Vgl. neben den in Fußn. 1 genannten Autoren Bull, in: Denninger u. a. (Hrsg.), AK-GG, 3. Aufl. Stand 2001, Art. 84 Rn 21; Diekmann, Das Verhältnis des Bundesrates zu Bundestag und Bundesregierung im Spannungsfeld von Demokratie- und Bundesstaatsprinzip, 2007, insb. § 7, S. 119 ff. 8 Handbuch des Bundesrates für das Geschäftsjahr 2010/2011, Statist. Angaben, S. 303. 9 Vgl. einerseits Papier, NVwZ 2010, 1113 ff. und andererseits Geulen/Klinger, NVwZ 2010, 1118 ff. 10 Süddeutsche Zeitung vom 26./27. 6. 2010, S. 7.
Das Bundesratsprinzip – „gute, deutsche“ Verfassungstradition?
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des deutschen Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren auseinandergesetzt11. Er konstatiert einen „Funktionsverlust des parlamentarischen Verfahrens“12, weil der Bundestag zur Durchsetzung seiner gesetzgeberischen Ziele auf die Findung eines Kompromisses mit dem Bundesrat angewiesen sei. Unterschiedliche parteipolitische Mehrheitsverhältnisse könnten, jedenfalls wenn eine im Wege des „bargaining“ ermöglichte Kompromissbildung zwischen Bundestags- und Bundesratsmehrheit misslinge, zu einer „Paralysierung der Regierungsfunktion“13 führen. Auch die „demokratierechtlichen Schwächen der Bundesratskonstruktion“14 werden klar benannt. Im Ergebnis plädiert Schenke dann nicht für eine prinzipielle Änderung der Struktur des Bundesrates, sondern „nur“ für eine Beschränkung seiner Zuständigkeiten und für eine Reföderalisierung durch Abbau des kooperativen Föderalismus. Im Folgenden soll die Diskussion unter zwei Gesichtspunkten weitergeführt werden, die bisher eher weniger Beachtung gefunden haben. Das gilt einmal für die Berücksichtigung der deutschen Verfassungstradition, auf die zwar gern hingewiesen wird, deren Bedeutung für die Legitimation der Institution Bundesrat in seiner heutigen Gestalt jedoch nicht näher untersucht wird. Der zweite Aspekt betrifft das Spannungsverhältnis zwischen Bundesratsprinzip und parlamentarischer Demokratie. II. Die deutsche Verfassungstradition Das Bundesratsprinzip wird regelmäßig als die traditionell deutsche Lösung für das Zusammenspiel der beiden staatlichen Ebenen im Bundesstaat angesehen. Es erscheint gleichsam als „Verfassungserbgut“15, als „Kontinuum der deutschen Geschichte“16, und dabei wird – unausgesprochen oder nicht – die Vorstellung erzeugt, dass man ein solches Gut nicht leichtfertig aufgeben dürfe. Dieses „Stück echter deutscher Verfassungstradition“17 wird unterschiedlich weit zurückverfolgt: Die große Mehrzahl der den Bundesrat betreffenden wissenschaftlichen Abhandlungen beschränkt sich dabei nicht auf die unmittelbaren Vorläufer des heutigen Verfassungsorgans, nämlich den Bundesrat des Kaiserreiches und den Reichsrat der Weimarer Republik, sondern bezieht auch den Reichstag des Heiligen Römischen Reiches, die Bundesversammlung des Deutschen Bundes und das von der Paulskirchenverfas11
Schenke, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 1485 ff. 12 Schenke (Fußn. 11), Rn. 38. 13 Schenke (Fußn. 11), Rn. 41. 14 Schenke (Fußn. 11), Rn. 48. 15 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 113; Korioth, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 50 Rn. 3. 16 Robbers, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 50 Rn. 1. Kontinuitätsbetont auch die Darstellung der historischen Entwicklung bei Diekmann (Fußn. 7), § 2, S. 10 ff.; differenzierend dagegen Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG, 2. Aufl. 2006, Art. 50 Rn. 1, 2. 17 So schon Zinn, DÖV 1956, 209 f.; ähnlich heute Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 16 Rn. 31 f.
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sung konzipierte Staatenhaus in die Rückschau mit ein. Dieser Weg soll auch hier eingeschlagen werden. 1. Der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Der Reichstag des Heiligen Römischen Reiches, der seit 1663 „ in Permanenz“, d. h. als ständige Einrichtung in Regensburg tagte, war eine Versammlung der Reichsstände, die dort durch ihre jeweiligen Gesandten repräsentiert wurden18. Er bestand aus drei Kollegien, nämlich dem Kurfürstenrat, dem Fürstenrat, dem über 200 geistliche und weltliche Würdenträger angehörten, sowie dem Städterat mit etwa 50 Reichstädten. Zusammen mit dem Kaiser war der Reichstag für die Reichsgesetzgebung zuständig. Nur bei oberflächlicher Betrachtung ergeben sich insoweit gewisse Parallelen zum Bundesrat des Grundgesetzes, als beide Organe aus weisungsgebundenen Vertretern einer Landesherrschaft bestehen. Eine Vergleichbarkeit mit dem föderativen Mitwirkungsorgan in einem modernen Bundesstaat scheidet dennoch von vornherein aus. Das liegt schon in der Rechtsnatur des Heiligen Römischen Reiches selbst begründet. So umstritten diese Rechtnatur war und ist – angefangen von Pufendorfs Charakterisierung des Reiches als eines „irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körpers“19 bis zu neueren Versuchen der Einordnung als „Rahmenstaat“20 oder als „staats- und völkerrechtlicher Rahmen für die Ausübung politischer Herrschaft in Deutschland“21 – , ein dem modernen Bundesstaat vergleichbares Gebilde war das Alte Reich jedenfalls nicht22. Als auf Dauer angelegter, aber doch verhältnismäßig lose organisierter Staaten- und Herrschaftsverbund, dessen einzelne Mitglieder, die Territorien, seit dem Westfälischen Frieden von 1648 weitgehende Souveränität erlangt hatten, kann man es eher in eine Traditionslinie stellen, die letztlich zu den supranationalen Organisationen der Gegenwart wie den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union führt. Der Reichstag erschiene bei einer solchen Betrachtung 18 Zu Zusammensetzung, Aufgaben und Funktionsweise des Reichtags vgl. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 2008, Rn. 192 ff.; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 2010, Rn. 104 f.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 6. Aufl. 2009, S. 174 ff. 19 Vgl. Denzer (Hrsg.), Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, 1994, S. 199. 20 Buschmann, in: H.-J. Becker (Hrsg.), Zusammengesetzte Staatlichkeit in der Europäischen Verfassungsgeschichte, 2006, S. 9 ff. (38). 21 Frotscher/Pieroth (Fußn. 18), Rn. 97 22 So ausdrücklich auch Willoweit (Fußn. 18), S. 173, der dann resignierend feststellt, die Rechtsnatur des Reiches, das mehr gewesen sei als „ein loser ,StaatenbundÐ souveräner Mächte“, sei „mit den Mitteln der juristischen Logik nicht zu begreifen“. Ganz ähnlich meint Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867 – 1933), 2002, S. 45, dass das Alte Reich eine Staatlichkeit besessen habe, die sich moderner Klassifikation entziehe. Eisenhardt (Fn. 18), Rn. 178, kommt zu dem Schluss, das Reich habe nach dem Westfälischen Frieden von 1648 „Züge einer Staatenföderation“ getragen.
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als Vorläufer der UN-Generalversammlung23 oder des Europäischen Rates und des Rates der EG24. Aber auch ein solcher Vergleich dürfte den Umstand nicht vernachlässigen, dass dem Heiligen Römischen Reich eine feudal-ständische Ordnung zugrunde lag, die eine demokratische politische Mitsprache der Bürger ausschloss. 2. Die Bundesversammlung („Bundestag“) des Deutschen Bundes Für die Bundesversammlung des Deutschen Bundes, die dem Reichstag des Alten Reiches nachgebildet worden war und deshalb auch „Bundestag“ genannt wurde25, gelten entsprechende Überlegungen. Über die Rechtsnatur des Deutschen Bundes besteht weitgehende Einigkeit: Der Bund war, wie sich aus Einleitung und Art. 1 der Deutschen Bundesakte (DBA) vom 8. 6. 1815 sowie Art. 1 und 2 der Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. 5. 1820 ergab, „ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte“ als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten mit wechselseitigen gleichen vertraglichen Rechten und Pflichten, nach heutigem Verständnis also ein Staatenbund26. Als einziges Bundesorgan fungierte gemäß Art. 4 DBA die Bundesversammlung als ständiger Gesandtenkongress mit dem Sitz in Frankfurt. Ihre Organisation als Vertretung der Mitgliedsstaaten machte zwar den ausgeprägt föderalen Charakter des Deutschen Bundes deutlich, die Bundesversammlung blieb jedoch – selbst als der Bund seine Zuständigkeiten in problematischer Weise ausdehnte und sich zunehmend wie ein Bundesstaat gerierte27 – das Organ eines völkerrechtlichen Vereins. Ihre Beschlüsse bedurften der landesrechtlichen Publikation, um Gesetzeskraft in den Mitgliedsstaaten zu erlangen. Die Bundesversammlung war deshalb weder mit einem Parlament im modernen Sinn noch mit dem Föderativorgan in einem Bundesstaat vergleichbar. 3. Das Staatenhaus nach der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849 Die Geschichte des Bundesratsprinzips in Deutschland beginnt 1848, als sich die frisch gewählte Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche an die Aufgabe machte, eine zukunftsweisende Verfassung für das geplante neue Deutsche Reich zu erarbeiten. Dieses sollte die ersehnte nationale Einheit in der Form eines Bundesstaates gewährleisten. Am 28. 3. 1849 wurde die sog. Paulskirchenverfassung verkündet, die wegen des zwischenzeitlichen Scheiterns der Revolution zwar keine Rechtswirksamkeit mehr erlangte, die aber weit über das Jahr 1849 hinaus eine immense verfas23
Vgl. Art. 9 ff. UN-Charta. Vgl. Art. 15,16 EUV. 25 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. 1967, S. 588 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 204. 26 Frotscher/Pieroth (Fußn. 18), Rn. 255; ebenso Huber I (Fn. 25), S. 658 ff.; Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 1312 f., Stern, StaatsR V (Fn. 25), S. 193 f. 27 Vgl. Stern, StaatsR V (Fußn. 25), S. 194; Kotulla (Fn. 26), Rn. 1314. 24
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sungspolitische Bedeutung, insbesondere für alle späteren Verfassunggebungen, entfaltet hat28. Diese Verfassung hat erstmals in Deutschland eine dem heutigen Bundesrat vergleichbare Konzeption der Mitwirkung der Einzelstaaten auf Bundesebene durch ein besonderes, föderatives Organ verwirklicht. So sollte der Reichstag nach § 85 RV aus zwei Häusern bestehen, nämlich dem Staatenhaus als einer Vertretung der Einzelstaaten und dem Volkshaus als unitarisch-demokratischem Organ29. Bemerkenswert waren die Zusammensetzung des Staatenhauses und die Rechtsstellung seiner Mitglieder: Nach § 88 Abs. 1 RV sollten die 192 Mitglieder zur Hälfte durch die Regierung und zur Hälfte durch die Volksvertretung der betreffenden Staaten ernannt werden. Für die Verteilung auf die Einzelstaaten war ein fester Schlüssel vorgesehen, wobei Preußen mit 40 Mitgliedern an der Spitze lag. Für die Mitglieder des Staatenhauses sollte nach § 96 RVebenso wie für die Mitglieder des Volkshauses das freie Mandat gelten. Damit hätten auch die Ländervertreter eine sachliche Unabhängigkeit erlangt, die sie wesentlich von den Mitgliedern des Bundesrates im Kaiserreich, des Reichsrates in der Weimarer Republik und des heutigen Bundesrates unterschieden hätte. Das Staatenhaus hätte den „Charakter einer unabhängigen parlamentarischen Körperschaft“30 erlangt. Hier, wie bei anderen Verfassungsfragen, hat die Paulskirchenversammlung die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika als Modell herangezogen31. Auch die keiner Weisung unterliegenden Mitglieder des amerikanischen Senats wurden bis 191332 nicht vom Volk direkt, sondern von den gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten gewählt. Warum die Staatenhaus-Lösung der ersten deutschen Nationalversammlung, die auf Grund weitgehend allgemeiner und freier Wahlen für die Verfassunggebung unmittelbar legitimiert war, für die späteren Bundesratskonstruktionen nicht als Muster gedient hat, wird nachfolgend zu erörtern sein. 4. Der Bundesrat nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. 4. 1871 Mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. 4. 1867 und der Reichsverfassung vom 16. 4. 1871 fand das Bundesratsprinzip erstmals Eingang in das deutsche Staatsrecht. Da die Verfassung des Norddeutschen Bundes im Wesentlichen mit der Reichsverfassung übereinstimmte, wird den folgenden Erörterungen nur die Reichs28 Dazu umfassend Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl. 1998, insb. S. 62 ff., 75 ff.; Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 3 Rn. 47 ff., Stern, StaatsR V (Fußn. 25), S. 262. 29 Zur verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Reichstages vgl. etwa Frotscher/Pieroth (Fußn. 18), Rn. 338 a, 339; Kotulla (Fußn. 26), Rn. 1732 ff.; zu den Auseinandersetzungen um das am Ende mehrheitlich beschlossene Zweikammersystem Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II, 3. Aufl. 1988, S. 784 ff. 30 Huber II (Fußn. 29), S. 830. 31 Zum „amerikanischen Verfassungsexport nach Deutschland“ Pieroth, NJW 1989, 1333 (1334). 32 Vgl. Art. I: Section 3 der Verfassung und Amendment XVII vom 8. 4. 1913.
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verfassung zugrunde gelegt. Das Deutsche Reich war ein Bundesstaat, der drei höchste Staatsorgane besaß. Der Bundesrat, dem nach der Intention des Verfassunggebers die Stellung als „Central-Organ“33 und damit als mächtigstes Reichsorgan zugedacht war, bestand nach Art. 6 RV aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, d. h. aus Bevollmächtigten der Mitgliedsstaaten. Jedes Land hatte eine in der Reichsverfassung festgelegte Stimmenzahl im Bundesrat, wobei Preußen mit 17 Stimmen fast ein Drittel der Gesamtzahl auf sich vereinigte. Die Gesamtheit der Stimmen eines Landes konnte nur einheitlich abgegeben werden (Art. 6 Abs. 2 RV). Die Ländervertreter waren weisungsgebunden. Entsprechend seiner Konzeption als oberstes Reichsorgan verfügte der Bundesrat über weitreichende Kompetenzen, als deren wichtigste die gleichberechtigte Mitwirkung an der Gesetzgebung hervorzuheben ist. Schon dieser kurze Blick auf die Rechtsstellung des Bundesrates des Bismarckund Kaiserreiches macht die Parallelen zur Ausgestaltung des heutigen Bundesrates deutlich. Umso mehr kommt es darauf an, den völlig anderen staatstheoretischen Hintergrund für die damalige Bundesratskonstruktion zu beleuchten. Das Reich war ein monarchischer Bundesstaat, der (nur) aufgrund der souveränen Entscheidung der 22 monarchischen Mitgliedsstaaten und der drei Stadtrepubliken gegründet worden war. Die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten, die „verbündeten Regierungen“, wurden dementsprechend auch als Träger der Souveränität des Reiches angesehen; ihr Repräsentant war der Bundesrat34. Auch die Stellung des Reichstags als eines demokratischunitarischen Organs, das erst im Lauf der Verfassungsentwicklung größeren politischen Einfluss gewann und schließlich in der Spätphase des Kaiserreiches auch eine rechtliche Aufwertung erfuhr, ändert an der monarchischen Grundausrichtung des Reiches nur wenig35. Festzuhalten bleibt für die vorliegende Fragestellung, dass der Bundesrat – gerade auch nach den Vorstellungen Bismarcks als des spiritus rector der Verfassung – nicht Länderinteressen im heutigen Verständnis dienen sollte, sondern Ausdruck der fortdauernden Souveränität der ganz überwiegend fürstlich regierten Mitgliedsstaaten war. Diese Bundesratskonzeption knüpfte bewusst, wenn auch in der Sache zweifelhaft (vgl. oben zu 1. und 2.), an ihre staatenbündischen „Vorläufer“ an, also den Reichstag des Heiligen Römischen Reiches und den Bundestag des Deutschen Bundes. Das einem modernen Bundesstaat gemäßere StaatenhausModell der Paulskirche wurde nicht herangezogen.
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von Rönne, Das Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, in: Annalen des Deutschen Reiches, 1871, S. 1 (222); vgl. dazu auch Frotscher/Pieroth (Fußn. 18), Rn. 425 ff.; Holste, (Fußn. 22), S. 201 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl. 1988, S. 849 ff.; Korioth (Fußn. 15), Art. 50 Rn. 3. 34 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Nachdruck 1968, Vorbem. vor Art. 60; G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 5. Aufl. 1899, S. 386 f.; von Rönne (Fn. 33), S. 46 ff.; dazu Holste (Fußn. 22), S. 201, 254. 35 Das Reich war nicht „Demokratie und Monarchie zugleich“ (so Huber III, Fn. 33, S. 774), sondern eine durch die Mitwirkung des demokratisch legitimierten Staatsorgans Reichstag „eingeschränkte“ Monarchie (Frotscher/Pieroth, Fußn. 18, Rn. 448).
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5. Der Reichsrat nach der Weimarer Reichsverfassung Nach der Novemberrevolution von 1918 nahm die Weimarer Nationalversammlung, demokratisch legitimiert durch die Wahl vom 19. 1. 1919, eine Verfassungsneuordnung vor, die nicht in der Tradition von 1871, sondern in der von 1848/49 stand. Die innere Staatsform des Deutschen Reiches wurde zwar nicht verändert, der neue Bundesstaat erhielt aber in vieler Hinsicht ein ganz anderes Gesicht. Relativ unverändert blieb dabei die Rechtsstellung des früheren Bundesrates, jetzt mit dem neuen Namen „Reichsrat“36. Dieser bestand nach Art. 63 Abs. 1 WRVaus Ländervertretern, die von ihrer jeweiligen Regierung entsandt und instruiert wurden. Die Verteilung der Stimmen erfolgte nach der Einwohnerzahl, wobei jedes Land mindestens eine Stimme besaß und kein Land durch mehr als zwei Fünftel der Stimmen vertreten sein durfte (Art. 61 Abs. 1 WRV). Für die preußischen Stimmen galt insoweit eine Besonderheit, als die Hälfte der preußischen Reichsratsmitglieder von den Provinzialverwaltungen bestellt wurde (Art. 63 Abs. 1 S. 2 WRV). Mit diesen Bestimmungen wollte der Verfassunggeber die Hegemonialstellung Preußens wenn schon nicht beseitigen, so doch rechtlich begrenzen. Nach Art. 60 WRV hatte der Reichsrat – wie heute der Bundesrat (vgl. Art. 50 GG) – die Aufgabe, bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches als Vertretung der deutschen Länder mitzuwirken. Seine Kompetenzen wurden im Vergleich zu denen des Bundesrates im Kaiserreich allerdings deutlich zurückgenommen. Das galt vor allem für seine Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren, in dem er nur noch die Möglichkeit besaß, gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze Einspruch einzulegen, der aber vom Reichstag mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt werden konnte (vgl. Art. 74 WRV). Die Kategorie der zustimmungspflichtigen Gesetze, die dem Bundesrat heute seine starke und von vielen als übermächtig angesehene Stellung in der Bundespolitik verschafft, war der Weimarer Reichsverfassung noch gänzlich unbekannt. Es bleibt die Frage, welche Motive den Verfassunggeber 1919 zur Beibehaltung des Bundesratsprinzips bewogen haben. Es hätte durchaus nahegelegen, mit dem Übergang zu einer parlamentarischen Demokratie westlichen Musters auch das föderative Organ nach dem Vorbild etwa des amerikanischen Senats oder des von der Paulskirche vorgesehenen Staatenhauses auszugestalten. Entsprechende Überlegungen sind auch durchaus angestellt worden. So sah der unmittelbar nach den Wahlen zur Nationalversammlung vorgelegte erste amtliche Entwurf einer neuen Reichsver-
36 Zur Rechtsstellung des Reichsrates und zu seiner Entstehungsgeschichte vgl. Anschütz (Fußn. 34), Einl. S. 16 ff., Vorbem. vor Art. 20, Vorbem. vor Art. 60; Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Aufl. 1964; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, insb. S. 62 ff., 254 ff.; Holste (Fußn. 22), S. 265 ff., 429 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI, 1981, S. 373 ff.; H. Schneider, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, 3. Aufl. 2003, § 5, insb. Rn. 9 ff, 57 f.
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fassung37 einen Reichstag vor, der nach dem Vorbild der Reichsverfassung von 1849 aus zwei Kammern, nämlich einem Staatenhaus und einem Volkshaus, bestand. Der Entwurf stammte aus der Feder des renommierten Staatsrechtslehrers Hugo Preuß38, den Friedrich Ebert mit der Leitung des Reichsamtes des Inneren beauftragt hatte und der im Auftrag des Rates der Volksbeauftragten, der provisorischen Reichsregierung, den Entwurf einer Reichsverfassung für die Nationalversammlung ausgearbeitet hatte. Dieser Verfassungsentwurf stieß auf die geballte Ablehnung der Länderregierungen, die ihn insgesamt als zu unitarisch ansahen und insbesondere die Staatenhauslösung nicht akzeptierten39. Nach zähen Verhandlungen setzten die einzelstaatlichen Regierungen schließlich durch, dass in das von der Nationalversammlung unmittelbar nach ihrem Zusammentritt beschlossene Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. 2. 191940 ein nach der Art des alten Bundesrates gebildeter Staatenausschuss als föderatives Organ aufgenommen wurde. Damit waren die Würfel praktisch schon gefallen: Die Rückkehr zu einer Staatenhaus- oder Senatslösung war so gut wie ausgeschlossen; auch in der endgültigen Verfassung musste die Beteiligung der Länderregierungen an Gesetzgebung und Verwaltung des Reiches durch ein dem Staatenausschuss entsprechendes Organ, eben den Reichsrat, gewährleistet sein. Die Entstehungsgeschichte der Weimarer Reichsverfassung macht deutlich, dass gerade im Hinblick auf das föderative Reichsorgan nicht der neue Souverän, das Volk, vertreten durch die Nationalversammlung seine Verfassungsvorstellungen41 durchsetzen konnte, sondern vielmehr die neuen „Landesfürsten“, gleichgültig welcher politischen Couleur sie angehörten. Diese wurden bei ihrer frühzeitigen, gemeinsamen „Intervention“ zugunsten des Bundesratsprinzips nicht so sehr von staatstheoretischen Vorstellungen über die bestmögliche Organisation eines nun demokratischen Bundesstaates oder von spezifischen Gemeinwohlinteressen ihrer Länder geleitet. Sie verfolgten bei den Berliner Vorverhandlungen in erster Linie ihre eigenen machtpolitischen Ansprüche und Ziele. Nur die Besetzung des Föderativorgans mit weisungsabhängigen Regierungsvertretern ermöglichte eine stärkere gouvernementale Einflussnahme auf die Reichspolitik, die über unmittelbar vom Volk gewählte Senatoren oder von den Landesparlamenten bestimmte, unabhängige Mitglieder eines Staatenhauses nicht zu erreichen gewesen wäre.
37 Zu diesem ausgeprägt demokratisch-unitarischen Entwurf I vgl. Anschütz (Fn. 34), Einl. S. 16 ff.; Apelt (Fußn. 36), S. 56 ff.; Gusy (Fn. 36), S. 69 ff.; Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1179 f. 38 Zu Person und Verfassungsvorstellungen Hugo PreußÏ vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 80 ff. 39 Näher Apelt (Fußn. 36), S. 64 ff.; Holste (Fußn. 22), S. 269 ff. 40 RGBl. 1919, 169; abgedruckt bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. IV, 3. Aufl. 1991, Nr. 77. 41 Zu den unterschiedlichen Vorstellungen der Parteien hinsichtlich der Zusammensetzung und den Befugnissen des föderativen Reichsorgans vgl. Apelt (Fußn. 36), S. 96 ff.; Holste (Fußn. 22), S. 280.
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Bemerkenswerterweise hat der Reichsrat, der von Verfassung wegen nur eine untergeordnete Rolle im Konzert der obersten Reichsorgane spielen sollte, eine politische Aufwertung erst in der Phase des Niedergangs der Republik, insbesondere unter der Kanzlerschaft Brünings, erfahren42. Dessen Praxis, seine Politik nicht auf eine parlamentarische Mehrheit, sondern auf das problematische Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten zu stützen43 und dabei auch den Reichsrat gezielt in die politische Diskussion der Regierungsvorhaben einzubeziehen, war jedoch „kein Ausdruck der Stärke des Föderalismus“44. Sie spiegelte nur die tödliche Krankheit der parlamentarischen Demokratie. Als nur wenige Jahre später auch die deutsche Länderstaatlichkeit im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung beseitigt wurde, leistete der Reichsrat keinen Widerstand: Wie schon das sog. Ermächtigungsgesetz wurde auch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30. 1. 1934 mit seiner Zustimmung verkündet45. 6. Die Entstehung des Grundgesetzes: Bundesrats- contra Senatsprinzip Wie schon 1919 so war auch 1948/49 die verfassungsrechtliche Ausgestaltung eines föderativen Staatsorgans auf Bundesebene außerordentlich umstritten. Die westlichen Siegermächte, die mit den sog. Frankfurter Dokumenten vom 1. 7. 194846 den Auftrag zur Verfassunggebung für den neu zu schaffenden deutschen Staat erteilt hatten, hatten in Dokument I nur sehr allgemein „eine Regierungsform des föderalistischen Typs“ vorgegeben, welche „die Rechte der Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält“. Adressaten der Frankfurter Dokumente waren die Ministerpräsidenten der elf Länder der drei Westzonen, die aufgefordert wurden, binnen zwei Monaten eine Verfassunggebende Versammlung zur Ausarbeitung einer Verfassung einzuberufen. Die in Anbetracht der politischen Zustände sicherlich naheliegende „Autorisation“ der Ministerpräsidenten führte dazu, dass diese den entscheidenden Einfluss auf das Verfahren der Verfassunggebung ausüben konnten. Sie verständigten sich auf der Frankfurter Schlußkonferenz Ende Juli 1948 darauf47, dass die nun als „Grundgesetz“ bezeichnete Verfassung nicht von einer vom Volk gewählten Verfassunggebenden Versammlung, sondern durch von den Landtagen entsandte Vertreter erarbeitet und anschlie42 Zu der Rolle, die der Reichsrat in der Verfassungswirklichkeit der Weimarer Republik gespielt hat, Apelt (Fußn. 36), S. 223; Gusy (Fußn. 36), S. 259; Holste (Fußn. 22), S. 442 ff. 43 Zu der aus Art. 48 Abs. 2 WRV abgeleiteten Befugnis des Reichspräsidenten, gesetzesvertretende „Notverordnungen“ zu erlassen, und zum Präsidialkabinett Brüning vgl. Frotscher/ Pieroth (Fußn. 18), Rn. 557 ff. 44 Holste (Fußn. 22), S. 457. 45 RGBl. 1934 I, 75. 46 Abdruck bei Dennewitz, in: Bonner Kommentar, Einl., S. 40 ff. 47 Zu dem Widerstand der Ministerpräsidenten gegen das von den Alliierten geforderte Referendum vgl. Stern, StaatsR V (Fußn. 25), S. 1228 ff.
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ßend auch durch die Landtage angenommen werden sollte. Die noch von den Alliierten vorgesehene Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf wurde aus Misstrauen gegenüber allen direkt-demokratischen Verfahren, die in der Weimarer Republik diskreditiert schienen, verhindert. Die weitere Entwicklung wurde wesentlich von dem sog. Herrenchiemseer Verfassungskonvent bestimmt, einem von den Ministerpräsidenten eingesetzten vorbereitenden Verfassungsausschuss, der vornehmlich aus Ministern und Ministerialbeamten bestand48. In seinem Schlussbericht schlug der Verfassungskonvent ein Zweikammersystem vor, wobei sich eine Kammer auf die Länder gründen sollte. Da hinsichtlich der Zusammensetzung dieses föderativen Organs auf Herrenchiemsee keine Einigkeit erzielt wurde, unterbreitete der Konvent insoweit eine Alternativempfehlung, nämlich einmal für einen aus Mitgliedern der Landesregierungen bestehenden Bundesrat und zum anderen für einen von den Landtagen gewählten Senat49. Im Parlamentarischen Rat war die Ausgestaltung des föderativen Organs ebenso heftig umstritten wie im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee. Sie avancierte geradezu zu einer „Schlüsselfrage der staatlichen Struktur der Bundesrepublik Deutschland“50. Dabei zog sich der Meinungsstreit quer durch alle Fraktionen51. Die meisten Argumente, die bis heute pro und contra Bundesratssystem vorgetragen werden, prägten bereits die Debatten des Parlamentarischen Rates. So wurde zugunsten des Bundesratssystems darauf hingewiesen, dass auf die politische Kompetenz der Länderregierungen nicht verzichtet werden könne. Eine aus weisungsungebundenen Senatoren bestehende zweite Kammer werde sich nach Parteifraktionen gliedern und damit zu sehr dem Bundestag gleichen. Die beiden Kammern müssten vielmehr aus unterschiedlichen Blickwinkeln an die gesetzgeberische Arbeit herangehen und sich so gegenseitig kontrollieren und ergänzen. Auch die Befürchtung, ein Senat werde zu einer „Hypertrophie des parlamentarischen Systems“ führen, wurde laut52. Zugunsten des Senatssystems wurde die größere demokratische Legitimation ins Feld geführt, eine Legitimation, die den an die Weisungen ihrer Regierungen gebundenen Mitgliedern eines Bundesrates in dieser Form fehle. Auch sei es problematisch und mit dem Prinzip der Gewaltenteilung kaum vereinbar, ein Organ
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Zur Zusammensetzung und Arbeit des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee vom 10. – 23. 8. 1948 Stern, StaatsR V (Fußn. 25), S. 1248 ff.; Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1971, S. 19 ff. 49 Abdruck in JöR N.F. 1, 1951, S. 383. 50 Stern, StaatsR II (Fußn. 15), S. 117; ähnlich Korioth (Fußn. 15), Art. 50 Rn. 8. 51 JöR N.F. 1, 1951, S. 379 ff.; Stern, StaatsR V (Fußn. 25), S. 1308 ff. m. w. Nachw.; Otto (Fußn. 48), S. 102 ff, 119 ff.; zur westdeutschen Verfassungsdiskussion um die zweite Kammer 1946 – 1948 vgl. Niclauß, ZParl 2008, 595 ff. 52 So der Abgeordnete Seebohm (DP), Parl.Rat, Bd. 9, S. 237. Ganz allgemein sind die starken Vorbehalte gegen das unmittelbar gewählte Parlament und seine Mehrheitsentscheidungen bemerkenswert, die nicht nur im Parlamentarischen Rat, sondern auch in der vorgelagerten Verfassungsdiskussion geäußert wurden; vgl. Niclauß (Fußn. 51), 595 (597 f., 607).
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an der Gesetzgebung zu beteiligen, das sich aus Vertretern der exekutiven Gewalt zusammensetze. Der Parlamentarische Rat entschied sich schließlich für das Bundesratsprinzip. Der maßgebliche Grund für die Entscheidung lag wohl in der starken Stellung, welche die Ministerpräsidenten der Länder in dem gesamten Prozess der Verfassunggebung innehatten. Zu dieser Sicht passt auch das außerparlamentarische Treffen zwischen dem bayrischen Ministerpräsidenten H. Ehard (CSU), der nicht Mitglied des Parlamentarischen Rates war, und dem nordrhein-westfälischen Innenminister W. Menzel (SPD) am 26. 10. 1948, das als entscheidender Schritt auf dem Weg zur interfraktionellen Verständigung über diesen Streitpunkt angesehen wird53. Von einer „Volksentscheidung“ zugunsten des Bundesratsprinzips konnte jedenfalls keine Rede sein. III. Folgerungen und Argumente für die reformpolitische Diskussion „Am Anfang war das Reich“. Zu diesem Ergebnis kommt Heiko Holste in seiner gründlichen Studie zur Entstehung des deutschen Bundesstaates54. Auf das deutsche Bundesratsprinzip trifft diese Aussage dagegen nicht zu, wie die vorstehende Untersuchung gezeigt hat. Während die Wurzeln des Föderalismus in Deutschland weit zurückreichen, ist das Bundesratsprinzip erst eine Schöpfung des monarchischen Verfassunggebers von 1867 und 1871. Weder der Reichstag des Alten Reiches noch die Bundesversammlung des Deutschen Bundes sind mit dem als „Bundesrat“ oder „Reichsrat“ bezeichneten föderativen Organ in einem Bundesstaat auch nur annähernd vergleichbar. Die Auffassung von Gerhard Anschütz55, das Bundesratsprinzip habe es „ in Deutschland seit Jahrhunderten gegeben“, ja, es führe „eine gerade Entwicklungslinie, eine (so Minister Dr. Preuß) vom Reichstag des ersten Deutschen Reichs … über den Frankfurter Bundestag … zum Bundesrat des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs“ und von da letztlich zum Reichsrat der Weimarer Republik, ist ebenso unzutreffend wie ähnliche Traditionsbehauptungen in der Gegenwart, in Sonderheit aus Anlass von Verfassungsjubiläen. Hier wird eine Kontinuität vorgetäuscht, die bei nüchterner verfassungsgeschichtlicher Betrachtung nicht besteht. Will man der Verfassungstradition überhaupt eine legitimatorische Kraft für die rechtliche Ausgestaltung staatlicher Institutionen in der Gegenwart beimessen, so muss man feststellen, dass die deutsche (Verfassungs-) Geschichte nur für eine aus-
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(421). 54
Otto (Fußn. 48), S. 110 f; Stern, StaatsR V (Fn. 25), S. 1309; Ziekow, JuS 1999, 417
Holste (Fußn. 22), S. 539. Gemeint ist hier das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Zur Herausbildung der Föderalismusidee in Deutschland vgl. auch Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996. 55 Anschütz (Fußn. 34), Vorbem. vor Art. 60 RV.
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geprägt föderalistische Ordnung der Bundesrepublik spricht56. Ein Argument für die Beibehaltung oder gar Stärkung der derzeitigen Rechtsstellung des Bundesrates lässt sich daraus nicht ableiten. Ganz im Gegenteil, die monarchischen Wurzeln des Bundesratsprinzips legen es nahe, die reformpolitische Diskussion nicht auf einzelne Probleme im Zusammenspiel zwischen dem Bundesrat auf der einen Seite und Bundestag und Bundesregierung auf der anderen zu beschränken und dabei fast ausschließlich die Zuständigkeiten des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren zu thematisieren. Vielmehr darf auch eine grundsätzliche Strukturänderung, eine Abkehr vom „deutschen“ Bundesratsprinzip, kein Tabuthema sein. Nur zwei Gesichtspunkte, die eine solche prinzipielle Diskussion als notwendig erscheinen lassen, können hier noch kurz angesprochen werden. Nachdenklich stimmen muss zunächst der Umstand, dass alle vergleichbaren demokratischen Bundesstaaten in der Gegenwart eine andere verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Föderativorgans gewählt haben57. Das gilt zunächst für die Staaten, die sich wie die USA und ähnlich auch die Schweiz für das Senatsprinzip im engeren Sinn entschieden haben. Danach werden die Mitglieder des föderativen Organs, des Senats bzw. Ständerats, unmittelbar durch das Volk gewählt, wobei jedem Gliedstaat bzw. Kanton ohne Rücksicht auf die Bevölkerungszahl in der Regel zwei Senatoren bzw. Standesräte zustehen58. Österreich hat zwar den Begriff „Bundesrat“ übernommen. Die Mitglieder des Bundesrates, deren Anzahl nach der Größe der Länder zwischen 3 und 12 variiert, werden jedoch nicht von den Landesregierungen bestimmt, sondern von den Landtagen gewählt (vgl. Art. 35 Verf.). Sie sind an keinen Auftrag gebunden, sondern genießen ein freies Mandat (Art. 56 Abs.1 Verf.). Man kann insoweit von einem mittelbaren Repräsentationsprinzip59 oder von einem Senatsprinzip im weiteren Sinn sprechen, dem auch die ursprüngliche Regelung der US-Verfassung und die Staatenhaus-Lösung der Paulskirchenverfassung zuzurechnen sind. Belgien ist erst in jüngerer Zeit zu einem Bundesstaat („Föderalstaat“) umgeformt worden, der sich aus drei (Sprachen-) Gemeinschaften und drei Regionen zusammensetzt. Der Senat, den man auch in Belgien als das föderative Organ ansehen muss, besteht 56 Volkmann, Die Neuordnung des Bundesstaates im Spiegel seiner Geschichte, FS Frotscher, 2007, 183 (201), weist allerdings zu Recht darauf hin, dass diese ehrwürdige Tradition der Bundesstaatlichkeit in Deutschland nicht von der (Legitimitäts-) „Frage nach dem Woraufhin und Wozu einer solchen Ordnung“ in der Gegenwart befreit. Spätestens mit der weiteren Ausformung der Europäischen Union zu einem bundesstaatsähnlichen Gebilde stellt sich die Sinnfrage in aller Schärfe. 57 Vgl. zum Folgenden v. Beyme, in: Bundesrat (Hrsg.), Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 367 ff.; D. Hanf, Bundesstaat ohne Bundesrat? 1999; Stern, StaatsR II (Fn. 15), S. 111 f.; A. Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, 2010, S. 242 ff. 58 Nach Art. 150 Schweiz. Bundesverfassung vom 18. 4. 1999 besteht der Ständerat aus 46 Abgeordneten, wobei sechs kleinere Kantone nur jeweils einen Abgeordneten wählen. Die Wahl in den Ständerat wird von jedem Kanton selbst geregelt; in den meisten Kantonen werden die Standesräte heute direkt vom Volk gewählt. Zur mittelbaren Volkswahl des amerikanischen Senats bis 1913 vgl. oben II.3. 59 Stern, StaatsR II (Fußn. 15), S. 112; v. Beyme (Fußn. 57), S. 367.
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aus einer Mehrheit von direkt gewählten Senatoren, die das demokratische Element des Gremiums sicherstellen. Die weiteren Senatoren werden von den Parlamenten der flämischen, der französischen und der deutschsprachigen Gemeinschaft ernannt bzw. von den direkt und indirekt gewählten Senatoren kooptiert60. Alle Senatoren sind weisungsunabhängig und genießen die parlamentarischen Rechte der Indemnität und Immunität (vgl. Art. 42, 58, 59 Verf.). Die rechtsvergleichende Betrachtung wird hier abgebrochen, um zum Schluss die systematische Frage nach dem Verhältnis von Bundesratsprinzip und parlamentarischer Demokratie aufzuwerfen. Diese Grundsatzfrage ist in der deutschen Staatsrechtslehre unterschiedlich beantwortet worden. Während Friesenhahn auf der Jahrestagung 1957 der Deutschen Staatsrechtslehrer gemeint hatte, der Bundesrat passe „überhaupt nicht in die Struktur einer parlamentarisch-demokratischen Verfassung“61, kam Sachs auf der Potsdamer Tagung 1998 zu einem gegenteiligen Ergebnis: „Der Bundesrat ist ungeachtet seiner Herkunft aus dem konstitutionellen System kein Fremdkörper im demokratischen Verfassungsstaat“62. Selbstverständlich handelt es sich nicht um eine verfassungsrechtliche Kontroverse, sondern um eine staatstheoretische mit der Folge, dass die Unvereinbarkeitsthese keine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht nach sich ziehen, wohl aber eine die Struktur des Föderativorgans in der Bundesrepublik verändernde (und unter Umständen dringliche) Verfassungsreform begründen kann. Die reformpolitische Diskussion muss das Verhältnis von deutschem Bundesrat und parlamentarischer Demokratie stärker als bisher fokussieren. Es reicht nicht aus, bloße Sachargumente wie die vielfach beschworene administrative Kompetenz der Landesregierungen für die derzeitige Ausgestaltung des Bundesrates ins Feld zu führen63. Im Verfassungsstaat des 21. Jahrhunderts erscheint es auch nicht angängig, das Bundesstaatsprinzip gegen das Demokratieprinzip auszuspielen, indem man beide Prinzipien als gleichrangig nebeneinander stellt und von diesem dogmatischen Ansatz selbst eine dem demokratischen Prinzip nicht genügende Ausgestaltung des föderativen Organs glaubt rechtfertigen zu können64. Eine solche Argumentation erinnert an die früheren Kontroversen
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Vgl. Art. 67 Belg. Verfassung vom 17. 2. 1994 mit Revision vom 25. 2. 2005. Näher zum belgischen Bundesstaat und insbesondere zur Stellung und Zusammensetzung des Senats Hanf (Fußn. 57), S. 96 ff., 118 ff. 61 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (72 LS 13 und 50 mit Fußn. 117). 62 Sachs, VVDStRL 58 (1999), 39 (76); kritisch–zurückhaltend dagegen Dolzer, VVDStRL 58 (1999), 7 (19 ff.). 63 So etwa Herzog, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 57 Rn. 22 ff.; Maurer (Fn. 17), § 16 Rn. 40; Sachs (Fußn. 62), 39 (51). 64 Vgl. aber Sachs (Fußn. 62), 39 (44 f.) zum Bundesrat als „föderativ legitimiertes Mitwirkungsorgan“; ähnlich argumentiert auch Korioth (Fn. 15), Art. 50 Rn. 16, wenn er das bundesstaatliche Prinzip als „zweite und gleichsam natürliche Legitimation“ des Bundesratsmodells heranzieht.
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bezüglich des Verhältnisses von Rechtsstaat und Sozialstaat65. Bundesstaat und parlamentarische Demokratie können jedoch in Einklang gebracht werden, ohne dass ein unauflösliches Spannungsverhältnis bleibt: Das Bundesstaatsprinzip betrifft (nur) die innere Staatsform, die konkrete Ausgestaltung der föderativen Ordnung ist – und zwar ohne Abstriche – an den Grundsätzen des Demokratieprinzips auszurichten. An diesem Punkt der Argumentation rückt die Rechtsvergleichung wieder in das Blickfeld. Die eigentlich naheliegende, aber selten gestellte Frage lautet: Was haben die Föderativorgane der oben vorgestellten anderen Bundesstaaten gemeinsam, das sie gleichzeitig vom deutschen Bundesrat unterscheidet? Es sind dies drei gewichtige Punkte. (1) Es handelt sich um parlamentarische Gremien, deren Mitglieder unabhängig und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Der Bundesrat ist keine parlamentarische Körperschaft. Die daraus resultierenden Mängel, insbesondere den Funktionsverlust des parlamentarischen Verfahrens durch Schwächung des Bundestages, hat der Jubilar in der bereits angeführten Abhandlung überzeugend beschrieben66. Ein Bundesorgan, das die Bundesgesetze weitgehend mit beschließt und damit auch mit verantworten muss, sollte parlamentarisch organisiert sein. Dafür ist die Unabhängigkeit seiner Mitglieder unverzichtbar. (2) In keinem anderen Bundesstaat erlaubt die Verfassung eine unmittelbare Einflussnahme der Exekutive in Gestalt der Landesregierungen auf die Bundesgesetzgebung. Auf diese Weise wird das Prinzip der Gewaltenteilung auf horizontaler Ebene gewahrt. Die Mitwirkung des deutschen Bundesrates an der Bundesgesetzgebung verletzt dieses Prinzip dagegen, ohne dass überzeugende oder gar zwingende Gründe für die Durchbrechung ins Feld geführt werden könnten. Die für jeden Bundesstaat notwendige Beteiligung der Länder an der Bundespolitik kann, wie die Rechtsvergleichung zeigt, auch durch eine andere Ausgestaltung des Föderativorgans sichergestellt werden67. Die Missachtung der rechtlichen Gewaltenteilung unter Hinweis auf die Vorzüge der bestehenden politischen Gewaltenteilung vermag nicht zu überzeugen68. (3) Die Föderativorgane der anderen Bundesstaaten sind entweder unmittelbar demokratisch legitimiert oder ihre Legitimation ist, wie bei einer Wahl durch die Landesparlamente, nur einfach vermittelt. Auch in diesem gravierenden Punkt weist der deutsche Bundesrat ein Defizit auf, das zum Teil gar nicht wahrgenommen wird. So geht die ganz herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre davon 65 Vgl. nur Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8 ff.; dagegen Bachof in seinem Koreferat VVDStRL 12 (1954), 37 ff. 66 Schenke (Fußn. 11), Rn. 27, 38, 41. 67 Die unerlässliche Politikkoordination zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern erfolgt im Übrigen durch Fachministerkonferenzen; dazu etwa Zimmer, ZParl. 2010, 677 ff. 68 So aber Herzog (Fußn. 63), § 57 Rn. 43; Maurer (Fußn. 17), § 16 Rn. 39; zur Gewaltenteilungsproblematik auch Dolzer (Fußn. 62), 7 (22 f.); Stern, StaatsR II (Fußn. 15), S. 127.
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aus, der Bundesrat habe eine mittelbare, aber keineswegs defizitäre demokratische Legitimation69. Zur Begründung wird auf die ununterbrochene Legitimationskette hingewiesen, die bis zu den letzten Landtagswahlen zurückreiche. Betrachtet man diese Legitimationskette genauer, so besitzt sie vier Glieder: An ihrem einen Ende steht das Landesvolk, das den Landtag wählt. Dieser wiederum legitimiert durch die Wahl des Ministerpräsidenten die Landesregierung. Und schließlich werden die Bundesratsvertreter des Landes von der Landesregierung bestellt und instruiert. Eine solche mehrgliedrige Legitimationskette ist für die Tätigkeit eines Angestellten der öffentlichen Verwaltung ausreichend, nicht aber für ein oberstes Bundesorgan, das nahezu gleichrangig neben dem Bundestag an der Gesetzgebung mitwirkt. Je länger die Legitimationskette wird, desto mehr verliert der eigentliche Souverän in der Demokratie, das Volk, an Einfluss. Die Landtagswahlen mögen, was die Zustimmung zu einzelnen Parteien betrifft, mehr oder weniger stark auch von bundespolitischen Themen berührt werden. Kein Wahlberechtigter kann aber bei der Stimmabgabe die Bedeutung seines Votums für die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat und die dadurch beeinflusste Bundesgesetzgebung ermessen. Da das Abstimmungsverhalten der Landesregierung im Bundesrat auch nicht an eine diesbezügliche Entscheidung des Landtags gebunden ist70, ist der Prozess der demokratischen Rückkoppelung an den Souverän vollends reduziert. Volkswille und Repräsentantenwille fallen immer weiter auseinander. Die schwächere demokratische Legitimation des Bundesrates allein ist gewiss noch kein Grund, den demokratischen Notstand auszurufen. Sie fügt sich jedoch in das Gesamtbild der Demokratie in der Bundesrepublik ein. Entgegen gängigen politischen und journalistischen Lobeshymnen steht die Bundesrepublik im rechtlichen Vergleich mit anderen westlichen Verfassungsstaaten nicht unbedingt als die beste aller Demokratien da, wohl aber als eine besonders weitgehend mediatisierte und damit zugleich bürgerferne. Das Grundgesetz kennt, abgesehen von den Neugliederungsvorschriften der Art. 29, 118 und 118 a GG sowie der unrealistischen Totalrevision der Verfassung kraft Volksabstimmung gemäß Art. 146 GG, keine unmittelbar-demokratischen Verfahren. Auf Landesebene sind Volksbegehren und Volksentscheid zwar in allen Landesverfassungen vorgesehen, die praktische Umsetzung stößt
69 Herzog (Fußn. 63), § 57 Rn. 27; Korioth (Fußn. 15), Art. 50 Rn. 15; Maurer (Fußn. 17), § 16 Rn. 47; Pieroth, EuGRZ 2006, 330 (335); zur fehlenden demokratischen Legitimation des Bundesrates in der Europapolitik aber Röper, ZParl 2009, 3 ff. Das Legitimationsdefizit kann man nicht mit dem Hinweis darauf überspielen, dass der Bundesrat als Einrichtung „unmittelbar durch die Verfassung … legitimiert“ sei (so Bauer, Fußn. 16, Art. 50 Rn. 18). 70 Eine rechtliche Bindung scheidet mit Rücksicht auf die vom Grundgesetz normierte Entscheidungsbefugnis der Landesregierungen aus; vgl. aber W. Schneider, Einflussmöglichkeiten der Landesparlamente auf die Vertretung des Landes im Bundesrat, 1986, insb. S. 153 ff. Aber auch die politischen Kontrollmöglichkeiten der Landtage sind eng begrenzt; Schenke (Fußn. 11), Rn. 53 f.
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zum Teil aber auf unüberwindliche Schwierigkeiten71. So sieht Art. 124 der Hessischen Verfassung seit ihrem Inkrafttreten am 1. 12. 1946 die Durchführung eines Volksentscheides vor, wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten das (Volks-) Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Das einfachgesetzlich geregelte Antragsverfahren mit seinen schwer erfüllbaren Anforderungen im Zusammenspiel mit dem hohen Quorum hat dazu geführt, dass in der Geschichte des Landes Hessen noch kein Volksbegehren erfolgreich eingebracht wurde. Die Vorschrift der Verfassung läuft praktisch leer72. Viele Ereignisse in jüngerer Zeit, vor allem aber die Diskussionen und Auseinandersetzungen um das Projekt „Stuttgart 21“ haben darüber hinaus gezeigt, dass sich die Mehrheit der Bürger eine aktivere Beteiligung an essenziellen politischen Entscheidungen wünscht. Repräsentative Demokratie darf nicht als „Zuschauerdemokratie“ enden, in der die Masse der Bürger („das Volk“) als bloße Zuschauer auf die Tribüne verbannt wird, um dann nach vier oder fünf Jahren das „Spiel“ einer aktiven Minderheit, der politischen Klasse, zu beurteilen und mit Kreuzen zu bewerten. Volkssouveränität und Repräsentation müssen vielmehr in fortdauernder, enger Verbindung stehen. Für das Bundesratsprinzip bedeuten die vorstehenden Überlegungen, dass eine wirkliche Strukturreform nottut und lediglich punktuelle Änderungen der Zuständigkeitsvorschriften nicht ausreichen. Die demokratische Legitimation des föderativen Organs in der Bundesrepublik, mag es auch weiterhin „Bundesrat“ heißen, muss verstärkt werden, und zwar in der Weise, dass seine Mitglieder entweder direkt durch das Volk oder aber durch die Landtage gewählt werden. Eine derart unabhängige Ländervertretung auf Bundesebene würde auch eine Angleichung an den Verfassungsstandard anderer europäischer Bundesstaaten bedeuten und den jetzt bestehenden „deutschen Sonderweg“ beenden. Ein solcher Vorschlag hat allerdings keine Chance auf politische Verwirklichung, solange die Föderalismus-Reformkommissionen schon auf Grund ihrer Zusammensetzung einen grundlegenden Systemwechsel ausschließen. Außerdem müsste der Bundesrat einer Verfassungsänderung zustimmen, die seine derzeitigen Mitglieder, nämlich die Landesregierungen, eines Teils ihrer politischen Macht beraubt. Daran aber kann nur ein politisch naiver Betrachter glauben.
71 Zur „Verfassung“ der direkten Demokratie in den deutschen Bundesländern Rehmet, in: Schiller/Mittendorf (Hrsg.), Direkte Demokratie. Forschung und Perspektiven, 2002, S. 102 ff. 72 Das soll sich allerdings für die Zukunft ändern: vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU und der FDP für ein Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid (LT-Drucks. 18/2727 vom 27. 8. 2010) sowie Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen für ein Gesetz zur Änderung von Art. 124 der Verfassung des Landes Hessen (LTDrucks. 18/2764 vom 31. 8. 2010).
Zur Absolutheit des Folterverbots – ein Vergleich zwischen der japanischen und der deutschen verfassungsrechtlichen Diskussion Von Nobuhiko Kawamata* I. Einleitung Welcher Stellenwert den Grundrechten in einer Rechtsordnung zukommt, zeigt sich vor allem bei der Ermittlung von Verbrechen und bei der Gefahrenabwehr. Besonders bei der Vernehmung von Tatverdächtigen sind die Grundrechte gefährdet. Deswegen sind in den Verfassungsordnungen zum Schutz von Verdächtigen und polizeilichen Störern Vorkehrungen getroffen worden, wobei das absolute Folterverbot eine besonders wichtige Regel darstellt. Ein historischer Hintergrund des Folterverbotes ist die Beweisregel „Confessio est regina probationem“, das Geständnis ist die Königin der Beweise. Wenn die Verurteilung eines Verdächtigen ein Geständnis voraussetzt, so liegt es nahe, strenge Verhörmethoden einzusetzen und ein Geständnis unter Umständen auch durch psychische oder physische Qualen zu erzwingen. In der japanischen Verfassung wurde in bewusster Abkehr von dieser Vergangenheit in Art. 36 JV ein absolutes Verbot der Folter statuiert und damit einhergehend in Art. 38 Abs. 2 JV geregelt, dass Geständnisse, die aufgrund von Folter gewonnen wurden, nicht als Beweismittel verwertet werden können1. Auch in Deutschland
* Prof. Schenke betreute mich von 1989 bis 1991, als ich als DAAD-Stipendiat an der Universität Mannheim studierte. Von ihm habe ich viel gelernt. Ganz besonders seine Hinweise zum Zusammenhang zwischen Verfassung, Verwaltungsrecht und Polizeirecht haben einen großen Einfluss auf meine Forschung ausgeübt und mich zu einer vergleichenden Forschung von Verfassung und Polizeirecht inspiriert. Mit diesem Aufsatz soll ein weiterer kleiner Beitrag zum akademischen Austausch zwischen Deutschland und Japan geleistet werden. 1 Art. 36 JV: Die Anwendung von Folter durch einen öffentlichen Bediensteten und grausame Strafen sind absolut verboten. Art. 38 Abs. 2 JV: Ein Geständnis, das unter Zwang, Folter oder Bedrohung oder nach unangemessen langer Haft oder Festhaltung abgegeben ist, darf nicht als Beweismittel verwendet werden. Der deutsche Text der japanischen Verfassung in: Eisenhardt/Leser/Ishibe/Isomura/Kitagawa/Murakami/Marutschke (Hrsg.) Japanische Entscheidungen zum Verfassungsrecht in deutscher Sprache, 1998.
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ist nach der herrschenden Meinung die Folter durch Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ausnahmslos verboten2. Allerdings wird in Deutschland in letzter Zeit über die Möglichkeit einer Relativierung des Folterverbots diskutiert. Angestoßen worden ist die Debatte durch die Beiträge Bruggers3, die allerdings zunächst keine breite Diskussion ausgelöst haben. Geändert hat sich dies erst im Zuge des Falles Daschner (Gäfgen)4. In diesem stellte sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis die bedrückende Frage, ob die Folter ausnahmsweise erlaubt sein kann, wenn dies der Rettung eines Menschenlebens dient, ob also die sogenannte „Rettungsfolter“ gerechtfertigt werden kann. Auch in Japan wurde 2003 bei Verstößen gegen das Gesetz über die Wahl der Mitglieder des Stadtparlaments in der Stadt Shibushi, Präfektur Kagoshima, die Folter bei Verhören zum Problem. Dabei hatte der ermittelnde Beamte den Verdächtigen dazu gezwungen, auf ein Blatt Papier mit den Namen von Familienmitgliedern zu stampfen5. Diese Methode erinnert an die Stampfbilder, die in der Edozeit eingesetzt wurden, um Christen zu erkennen und zu unterdrücken. Von Gericht und Medien wurden sie als „Stampfschrift“ bezeichnet. Diese Methode verursacht starke psychische Leiden und kann als Folter oder folterähnliche unmenschliche und erniedrigende Verhörmethode bezeichnet werden. Allerdings wurde der Tatverdächtige nicht angeklagt und die Ergebnisse der Ermittlungen wurden nicht vor Gericht verhandelt, so dass der Fall letztendlich doch keinen Anlass für eine Diskussion des absoluten Folterverbots bot. Die Einführung des Schöffengerichts 2009 führte dann jedoch zu einem gesteigerten öffentlichen Interesse am Strafprozess. Nach dem Ashikaga-Fall, bei dem brutale Ermittlungsmethoden und nachlässige Analysen des genetischen Fingerabdrucks 2
Vgl. z. B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2007, Rn. 558a; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 1 Rn. 19; dies. Art. 104 Rn. 9; Sachs, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 1 Rn. 20. 3 Brugger, Würde gegen Würde, VBlBW 10/1995, 414 f.; ders., Würde gegen Würde – Lösung des Fallbeispiels, VBlBW 1995, 446 ff. (Lösung); ders., Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat 35 (1996), 67 ff.; ders., Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, 165 ff. 4 Polizeivizepräsident Daschner und Kriminalhauptkommisar E, die Gäfgen, den Entführer, zur Herbeiführung einer Aussage über den Aufenthaltsort des Opfers gefoltert hatten, wurden verurteilt (LG Frankfurt a.M., Urt. v. 20. Dez. 2004, NJW 2005, 692). Auch Gäfgen wurde in LG Frankfurt a.M., Urt. v. 28. Juli 2003, BGH Beschl. v. 21. Mai 2004 verurteilt. Gäfgen erhob gegen diese Urteile Verfassungsbeschwerde, diese wurde aber von der Kammer des Bundesverfassungsgerichts nicht angenommen (BVerfG, Kammerbeschl. v. 14. Dez. 2004, NJW 2005, 656). Im Anschluss erhob Gäfgen auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde, die aber erfolglos blieb (EGMR, Urt. v. 30. Juni 2008, EuGRZ 2008, 466). 5 Der Beschuldigte wurde schließlich wegen nicht ausreichenden Verdachts nicht angeklagt. Danach klagte der Beschuldigte 2004 gegen die Präfektur Kagoshima auf Schadensersatz. Im Januar 2007 wurde die Klage vom LG Kagoshima anerkannt (18. 1. 2007). Der ermittelnde Beamte wurde auf Grundlage des § 195 Abs. 1 JStGB wegen Gewaltverbrechen durch Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft oder Polizei verurteilt (LG Fukuoka, 18. 3. 2008, OLG Fukuoka, 9. 9. 2008; diese Entscheidungen sind nicht veröffentlicht).
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Grundlage einer falschen Anschuldigung waren, und dem Postskandal, bei dem ein Staatsanwalt Beweismittel verfälschte, um eine Übereinstimmung der Beweise mit den erzwungenen Aussagen zu erzielen, wurde nachdrücklich eine Reform des Strafverfahrens gefordert. Seitdem stößt man in Japan auf Abhandlungen, die von der neueren Folterdebatte in Deutschland beeinflusst sind und sich mit einer Relativierung des Folterverbots auseinander setzen6. In diesem Aufsatz soll das absolute Folterverbot aus einer verfassungsvergleichenden Perspektive erörtert werden. Zunächst wird die Diskussion in Deutschland zur Relativierung des Folterverbots betrachtet (II.), dann die japanische Folterdiskussion (III.) und schließlich werden zwei Vorschläge zur weiteren Effektivierung des Folterverbotes in Betracht gezogen (IV.). II. Die Diskussion in Deutschland Wie bereits erwähnt, wird das Folterverbot in Deutschland gemeinhin für absolut gehalten. Z.B. schreibt Schenke, dass die Folter auf Verfassungsebene durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 GG sowie durch Art. 3 EMRK als unmenschliche und erniedrigende Behandlung verboten ist. Diese Verbote gelten auch, wenn, wie im Fall Daschner, bei einer Entführung der Entführer gefoltert wird, um so möglicherweise das Leben des Opfers zu retten. Das Folterverbot ist also absolut und lässt keine Ausnahme zu7. Es gibt aber auch Meinungen, die die Relativierung des Folterverbots in der Verfassung für eng umgrenzte Ausnahmefälle befürworten8. Als repräsentative Stimme für die These einer möglichen Relativierung wird zunächst die Meinung Bruggers dargelegt und dann, als Beispiel für einen weiteren Unterstützer dieser Meinung die Auffassung von Starck betrachtet. Danach stelle ich die Gegenmeinung dar. Zum Schluss wird der Standpunkt der Rechtsprechung analysiert. 1. Pro Relativierung a) Brugger Brugger veröffentlichte bereits 1995 einen Aufsatz, in dem er das absolute Folterverbot relativierte und hat auch in der Folgezeit immer wieder mit demselben Tenor publiziert9. Ausgangspunkt für seine Argumentation ist der Fall einer Zeitbombe wie im Folgenden beschrieben: Ein Terrorist meldet, dass eine chemische Bombe mit gro6 Tamamushi, Menschenwürde und das Folterverbot, Sophia Law Review, Band 52 Nr. 1 – 2, 225 ff.; aus strafrechtlicher Perspektive Iijima, Zur strafrechtlichen Rechtfertigung der Rettungsfolter, Kagawa Law Review, Band 29, Nr. 3 – 4, 45 ff. 7 Schenke, Fußn. 2, Rn. 558a. 8 Zu diesem Problem gibt es zahlreiche Aufsätze, vgl. etwa die Übersicht bei Hufen, Staatsrecht II Grundrechte, 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 63. 9 Brugger, Fußn. 5: Hier wird die Sichtweise seiner Lösung im ersten Aufsatz vorgestellt. Bruggers Argumentation wurde bereits von Tamamushi in Japan vorgestellt (Fußn. 4).
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ßer Sprengkraft in der Großstadt S gezündet werden soll. Als Ergebnis intensivster Ermittlungen der Polizei kann der Terrorist gefasst werden, allerdings wird die Bombe mit dem laufenden Zeitzünder nicht gefunden. Die Frage ist nun, ob in einem solchen Fall Folter zulässig ist, um den festgenommenen Terroristen zu einer Aussage über den Ort der Bombe und den Code zum Abschalten des Zeitzünders zu bewegen. Nach Brugger kann diese erzwungene Aussage sowohl unter strafprozessualen Aspekten als auch unter Gesichtspunkten der Gefahrenprävention betrachtet werden. Den Schwerpunkt legt Brugger auf die Prävention und diskutiert das Problem anhand des Baden-Württembergischen Polizeigesetzes (BWPolG). Das Polizeigesetz lässt einen direkten Zwang zu, „wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist“. Brugger zeigt, dass auch der finale Todesschuss zu Lasten eines Verbrechers erlaubt ist (§ 54 BWPolG), allerdings sind brutale Methoden bei Vernehmungen in diesem Gesetz klar und ausnahmslos verboten (§ 35 BWPolG). Nach Brugger liegt dieser gesetzlichen Regelung aber kein Fall zugrunde, der mit der Zeitbombe vergleichbar ist, so dass man von einer Wertungslücke sprechen kann. Im Anschluss analysiert Brugger die Regelung zum finalen Todesschuss, wonach „das unschuldige Leben nicht zu Gunsten des Lebens des Störers geopfert werden muss“10. Hieraus folgert er, dass diese rechtliche Bewertung auch für andere, schwere Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht des Aggressors gelte. Folglich muss die Regelung im Polizeigesetz, dass bei Vernehmungen brutale Methoden verboten sind, teleologisch reduziert werden.“11 Damit kommt Brugger zu dem Schluss, dass so auf der Basis des Polizeigesetzes das Erzwingen einer Aussage zulässig sein kann. Nach herrschender Meinung und Rechtsprechung beinhalten die Grundrechte, und hier vor allem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), auch die Pflicht des Staates, dieses vor dem Eingriff durch Dritte zu schützen. Weiterhin werden in Art. 1 Abs. 1 GG auch aktive präventive Maßnahmen zum Schutz der Menschenwürde gefordert. Dies gebiete im Fall der Zeitbombe dem Staat, das Leben und die Gesundheit seiner Bürger zu schützen. Brugger meint auch, dass „eine Kollision im Rahmen des Art. 1 Abs. 1 GG vorliege,“ weil sowohl das Folterverbot gegenüber Terroristen als auch der Schutz der Bürger aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet werden könnten12. Zur Lösung dieser Kollision müsse man berücksichtigen, dass die Bürger der Stadt S das Recht nicht verletzt hätten und das „Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht“13. Diese These soll auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sein. Im Fall der Zeitbombe geht Brugger von der klaren juristischen Bewertung aus, dass der Terrorist durch sein Handeln das Recht verletzt hat, die Bürger aber das Recht befolgen. Unter dem Gesichtspunkt der Verhält10 11 12 13
Brugger, Fußn. 5, Lösung, 448. Brugger, Fußn. 5, Lösung, 449. Brugger, Fußn. 5, Lösung, 450. Brugger, ebd.
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nismäßigkeit kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass Zwang eine geeignete Methode ist, schonendere Maßnahmen unvorstellbar sind und zuletzt auch die Angemessenheit von Zwang bejaht werden muss14. Darüber hinaus überprüft Brugger diese Schlussfolgerung auch anhand der EMRK. In Art. 2 Abs. 2 a EMRK wird akzeptiert, dass der Staat jemandem das Leben nehmen kann, um die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen. Im Fall der Zeitbombe wird ähnlich wie im Polizeirecht eine analoge Anwendung des Art. 2 Abs. 2 a EMRK befürwortet und Art. 3 EMRK teleologisch reduziert15. Nach Brugger stützt also auch das internationale Recht seine Schlussfolgerung. b) Starck Starck weist zunächst auf die Notwendigkeit hin, eine Unterscheidung zu treffen zwischen präventiv-polizeilicher Folter zur Gefahrenabwehr und der ausnahmslos verbotenen Folter im Strafrecht. Dann führt auch er den Fall der Zeitbombe an und hält es für möglich, bei der Rettungsfolter eine Parallele zum Rettungsschuss zu ziehen: Weil der Staat verpflichtet ist, die Würde des Menschen zu achten, ist er verpflichtet, nicht zu foltern. Weil der Staat aber ebenso verpflichtet ist, die Würde des Menschen zu schützen, ist er in gleicher Weise verpflichtet, eine solche Verletzung der Würde durch Dritte zu verhindern. Wenn die Verpflichtung zur Achtung der Würde mit der Verpflichtung zum Schutz der Würde kollidiert, muss abgewogen werden. Wie Brugger kommt auch Starck letztlich zu der Schlussfolgerung, dass der Schutz der Opfer Vorrang hat: „Wenn nach dieser Abwägung und weiterer Prüfung Folter als geeignet und mangels eines anderen Mittels […] als erforderlich erscheint, darf die Folter zunächst angedroht und gegebenenfalls unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das für alle polizeilichen Maßnahmen gilt, vollzogen werden“16. 2. Contra Relativierung Bruggers These ist vielfach kritisiert worden. Einige der wichtigsten Einwände sollen hier betrachtet werden. Schenke führt an, dass die These, nach der der finale Todesschuss zur Abwehr unmittelbarer Lebensgefahr als ultima ratio erlaubt ist und deswegen auch Folter zur Abwehr unmittelbarer Lebensgefahr erlaubt sein soll, übersieht, „dass beide Maßnahmen wesensmäßig verschieden sind, mithin nicht in einem Maius-Minus-Verhältnis stehen“. Der Gesetzgeber hat also mit guten Gründen den finalen Todesschuss erlaubt, Folter aber ausgeschlossen. Weiterhin ist nicht erlaubt, Folter „durch den Rückgriff auf allgemeine Rechtfertigungsgründe zu legitimieren“, also durch Notwehr 14 15 16
Brugger, Fußn. 5, Lösung, 451. Brugger, Fußn. 5, Lösung, 452. Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 79.
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oder Notstand17. Denn dies würde zu einer Aushöhlung des Verhältnismäßigkeitsprinzips führen, welches das Staat-Bürger-Verhältnis grundlegend prägt18. Während nach Brugger die Regelung des Todesschusses auf die Folter analog übertragen werden kann, lehnt Schenke dies ab. Enders äußert sich wie folgt zu Bruggers Bewertung des Falls mit der Zeitbombe: Das Grundgesetz übersehe nicht etwa den Fall eines Interessenkonflikts, sondern regele diesen in Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG. In dieser Norm werde die Folter kategorisch abgelehnt. Festgehaltene Personen dürften in keiner Situation seelisch oder körperlich gequält werden. Ungeachtet entgegenstehender Gemein- und Drittinteressen habe sich der Verfassungsgeber in der Norm für ein absolutes Verbot seelischer und körperlicher Misshandlungen entschieden19. Damit sei der von Brugger befürworteten Analogie zum erlaubten Todesschuss der Boden entzogen, da die Frage nach der Zulässigkeit der Rettungsfolter bereits in der Verfassung abweichend beantwortet sei. Herdegen schreibt zur Menschenwürde, deren absolute Unverletzlichkeit nach der herrschenden Meinung anerkannt wird, dass es einen Bereich gibt, in dem die Würde absolut geschützt werden muss („Würdekern“) und einen Bereich, in dem Spielraum für Abwägungen ist20. Diese beiden Bereiche müssen unterschieden werden. Somit wird die Menschenwürde relativiert. Diese Abwägung ist keine Abwägung zwischen Art. 1 Abs. 1 und anderen Regelungen (z. B. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), sondern wird bei der Konkretisierung des Würdeanspruchs in Art. 1 Abs. 1 normimmanent vorgenommen. Das Ausmaß der Achtung vor der Würde eines bestimmten Menschen wird nach seinem eigenen Vorverhalten und der darin wurzelnden Bedrohung für Würde oder Leben anderer festgelegt. Nachdem er dies dargelegt hat, argumentiert er zur Folter folgendermaßen: Im Fall einer Rettungsfolter wie in dem Fall der Zeitbombe „stößt die würdeimmanente Abwägung an ihre Grenze“. Die Unterscheidung von Folter und milderen Formen der Schmerzzufügung ist keine überzeugende Abgrenzung. Das Problem der Prävention von Missbrauch kann erst diskutiert werden, wenn das Folterverbot für eine Abwägung relativiert wird. Auch die Anzahl der Personen, deren Würde und Leben der Gefahr ausgesetzt ist, kann nicht als Kriterium herangezogen werden, wenn man das Folterverbot keinem quantitativen Vorbehalt aussetzen will. Ein Kriterium ist der Schutz vor der Zufügung willensbeugenden Leidens, das nach dem herkömmlichen Konsens eine Verletzung der Menschenwürde darstellt. Weiterhin hat das Folterverbot als „Fixpunkt“, der der staatlichen Machtausübung eine absolute Grenze aufzeigt, eine Richtlinienfunktion. Darüber hinaus ist es auch nicht er-
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Schenke, Fußn. 2, Rn. 558a. Schenke, Fußn. 2, Rn. 562. 19 Enders, Der Staat in Not, DÖV 2007, 1039 (1041). 20 Herdegen, in Maunz/Dürig, GG, 2005, Art. 1 Abs. 1 Rn. 43. Hier soll die allgemeine Diskussion um die Menschenwürde nicht behandelt werden. 18
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laubt, die Folter mit Notwehr und Notstand zu rechtfertigen21. Somit ist ersichtlich, dass Herdegen, obwohl er eine Relativierung der Menschenwürde zulässt, gegen eine Relativierung des absoluten Folterverbots ist. Auch Pieroth/Schlink lehnen eine Rettungsfolter wie folgt ab22 : Aus der Achtung der Menschenwürde leitet sich das absolute Folterverbot ab. Selbst wenn der Verbrecher Unrecht begangen hat, ist es unzulässig, die Würde des Verbrechers zu Gunsten der Würde des Tatopfers, das kein Unrecht begangen hat, zu opfern. Denn es geht um eine Gefährdung des Lebens des Opfers und nicht etwa um eine Gefährdung seiner Würde. Weiterhin ist es nach Gebauer nicht überzeugend, den Vernommenen als Täter zu bezeichnen. Weil die Vernehmung hinter verschlossenen Türen stattfindet, darf diese auch nicht mit dem finalen Rettungsschuss verglichen werden, zumal die Möglichkeit eines Missbrauchs besteht23. Die Argumentationsbasis, die Brugger der ausnahmsweisen Erlaubnis der Rettungsfolter zu Grunde legt, also die Analogie zum finalen Todesschuss sowie die Relativierung der Würdegarantie in Kollisionslagen, wird somit ganz überwiegend verworfen. Folglich gibt es in der deutschen Literatur zwar einige Stimmen, die eine Relativierung des Folterverbots vertreten, jedoch steht die überwiegende Meinung der Relativierung ablehnend gegenüber. 3. Rechtsprechung Im Folgenden werden die Urteile des Falls Daschner (Landgericht Frankfurt), des Falls Gäfgen (Bundesverfassungsgericht) und das Folterverbot des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dargestellt. a) Landgericht Frankfurt Das Urteil erwähnt zunächst Art. 104 Abs. 1 S. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG. Weiter heißt es dort wörtlich: „Keine Person darf durch die staatliche Gewalt zum Objekt, zu einem Ausbund von Angst vor Schmerzen gemacht werden“. Im Anschluss wird der Standpunkt vertreten, dass die Achtung der Menschenwürde die Basis für den deutschen Rechtsstaat sei. Das Urteil beruft sich auch darauf, dass das Grundgesetz historisch gesehen auf den Erfahrungen mit dem Terrorregime der Nazizeit beruhe. Die Väter des Grundgesetzes hätten beschlossen, dass die Achtung der Menschenwürde auch nicht durch eine Verfassungsnovelle geändert werden dürfe. Dazu heißt es: „Das strikte Verbot, einem Beschuldigten Gewalt auch nur anzudro21 Herdegen, Fußn. 20, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45. Er schließt Rettungsfolter komplett aus, aber es gibt Hinweise, dass dies nicht immer deutlich ist (Tamamushi, Fußn. 4, 250). 22 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, § 8 Rn. 382. 23 Gebauer, Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, NVwZ 2004, 1405 (1408 f.).
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hen, ist bereits das Ergebnis einer Abwägung aller zu berücksichtigenden Interessen. Diese wurde bei Errichtung des Grundgesetzes vorgenommen“. Die Abwägung ist also bereits im Grundgesetz geschehen. Bezug nehmend auf die Erpressung und § 240 Abs. 2 StGB heißt es weiterhin, dass die Zufügung von Schmerzen zur Erlangung von Informationen ethisch nicht vertretbar ist. Diese Wertung sei auch in Art. 1 Abs. 1 GG verankert. Deshalb werde die Rettungsfolter selbst dann abgelehnt, wenn es der Rettung eines Kindes diene. Eine Anerkennung einer Ausnahme von dieser eindeutigen, gesetzlichen Regelung öffne einer Verletzung der Absolutheit der menschlichen Würde und der Abwägung Tür und Tor und verletze ein Tabu24. b) Bundesverfassungsgericht Beim Verfassungsbeschwerdeverfahren Gäfgens bezieht sich das Gericht auf das oben erwähnte Urteil des Landgerichts Frankfurt und erkennt an, dass die Folter eine Übertretung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG darstellt: „die Anwendung von Folter macht die Vernehmungsperson zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung unter Verletzung ihres verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wertund Achtungsanspruchs und zerstört grundlegende Voraussetzungen der individuellen und sozialen Existenz des Menschen.“25 c) Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Nach dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte liegt dem Folterverbot in Art. 3 der EMRK „einer der wichtigsten Grundwerte der demokratischen Gesellschaft“ zugrunde. Art. 3 EMRK lässt keine Ausnahme zu und nach Art. 15 Abs. 2 EMRK ist selbst wenn der Fortbestand des Staates in Kriegs- und anderen Notstandslagen bedroht ist, keine Außerkraftsetzung des Art. 3 EMRK durch den Staat erlaubt. Das Abkommen gebietet ferner ein Verbot der Folter unabhängig von den Taten des Vernommenen26. So ist nach allen Gerichten wie auch nach der ganz überwiegenden Meinung im wissenschaftlichen Schrifttum die Folter ausnahmslos verboten. III. Diskussion in Japan Anders als in Deutschland wird in Japan kaum über eine Relativierung des Folterverbots diskutiert. Ein Grund hierfür könnte sein, dass es keinen konkreten Fall gibt, anlässlich dessen eine Relativierung des Folterverbots tatsächlich diskutiert werden
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LG Frankfurt, Fußn 4, NJW 2005, 693 f. BVerfG, Fußn. 4, NJW 2005, 657. EGMR, Fußn. 4, S. 471 Rn. 63.
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musste. Die japanische Verfassung enthält zahlreiche strafprozessale Regelungen27. Gerade deswegen besteht bei der Interpretation dieser Regeln die Gefahr, dass die Interpretation der Verfassung, die das Folterverbot statuiert, durch die gesetzgeberische Konkretisierung der Strafprozessordnung relativiert und den Strafverfahrensrechtlern überlassen wird. Verfassungsrechtlich wird im Folgenden überprüft, ob es in den japanischen Regeln zum Folterverbot Spielraum für eine ausnahmsweise Erlaubnis gibt und dabei die Sichtweise der deutschen Debatte einbezogen. 1. Rechtssituation Die Verfassung verbietet in Art. 36 JV die Folter absolut und bestimmt in Art. 38 Abs. 2 JV, dass durch Folter erlangte Geständnisse nicht als Beweis herangezogen werden können28. Nach dem Strafrecht ist Folter von Beschuldigten oder Angeklagten durch Mitarbeiter des Gerichts, der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ein Verbrechen (Art. 195 JStGB). Außerdem ist es durch die Verfassung verboten, jemanden zu verurteilen, wenn der alleinige Beweis ein Geständnis ist, egal ob dieses mit oder ohne Folter zu Stande gekommen ist (Art. 38 Abs. 3 JV). Entsprechend sind zusätzlich zu einem Geständnis immer ergänzende Beweise notwendig. Hierzu gibt es allerdings eine abweichende Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, nach dessen Verständnis bei einem Geständnis im öffentlichen Gerichtsverfahren keine ergänzenden Beweise nötig sind29. Nach der Strafprozessordnung kann dagegen niemand nur wegen eines Geständnisses schuldig gesprochen werden, selbst wenn dieses bei einem öffentlichen Gerichtsverfahren abgegeben wird. Vielmehr werden für eine Verurteilung ergänzende Beweise verlangt (Art. 319 Abs. 2 JStPO)30. Zusammenfassend wird in Japan in der Praxis also eine Befugnis zur Folter ausnahmslos abgelehnt. Sowohl verfassungsrechtlich als auch verfahrensrechtlich dürfen durch Folter erzielte Geständnisse nicht als Beweismittel herangezogen werden. 27 Außer den bereits vorgestellten Art. 36 und Art. 38 Abs. 2 JV (Fußn. 1) stehen in einem engen sachlichen Zusammenhang zum absoluten Folterverbot auch noch Art. 31 JV (Garantie eines rechtmäßigen Verfahrens, due process of law), Art. 33 JV (Freiheit von rechtswidriger Verhaftung: Richtervorbehalt der Festnahme), Art. 34 JV (Freiheit von rechtswidrigem Festhalten und Haft, Recht auf einen Rechtsanwalt bei Festhalten und Haft), Art. 35 JV (Richtervorbehalt bei Durchsuchung und Beschlagnahme), Art 37 Abs. 1 JV (Anspruch auf ein schnelles und öffentliches Verfahren vor einem unparteiischen Gericht), Art. 37 Abs. 2 JV (Zeugenbefragungsrecht des Angeklagten), Art. 37 Abs. 3 JV (Recht auf einen Pflichtverteidiger), Art. 38 Abs. 1 JV (Recht auf Selbstbelastung, Schweigerecht), Art. 38 Abs. 3 JV (Recht, nicht allein auf Grund eines Geständnisses verurteilt zu werden) und Art. 39 JV (Verbot der rückwirkenden Gültigkeit der Strafe, Grundsatz, nicht ein zweites Mal wegen desselben Verbrechens angeklagt werden zu können: ne bis in idem). 28 Verfassungstext siehe Fußn 1. 29 Oberstes Gericht, 29. 7. 1948, OGHESt Band 2 Nr. 9 S. 1012. Die h.M. in der Wissenschaft lehnt diese Schlussfolgerung hingegen ab. 30 Art. 319 Abs. 3 JStPO legt auch fest, dass die Aussagen von Angeklagten, die ihre Schuld im verhandelten Verbrechen anerkennen, eingeschlossen sind. Dies entspricht im Wesentlichen auch dem Inhalt von § 136a StPO.
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Beamte, die gefoltert haben, werden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Damit entspricht die Gesetzeslage fast derjenigen in Deutschland. Unterschiede bestehen nur insoweit, als in Japan die Folter ausdrücklich absolut verboten ist. 2. Möglichkeit der Relativierung in Japan Ist es nun möglich, diese Gesetzeslage im Sinne einer Relativierung des Folterverbots zu interpretieren? Auch wenn es in Japan zu den einzelnen Grundrechten keinen Gesetzesvorbehalt gibt, so kann man doch das „Gemeinwohl“ in Art. 13 Abs. 2 JVals eine allgemeine Einschränkung der Grundrechte betrachten31. Damit stellt sich also die Frage, ob das absolute Folterverbot und das Verbot, durch Folter gewonnene Aussagen als Beweis zu verwenden, durch das Gemeinwohl eingeschränkt werden können. a) Das materiellrechtliche absolute Folterverbot in Art. 36 JV Das Folterverbot für Beamte in Art. 36 JV bezeichnet die Verfassung ausdrücklich als „absolut“. Damit gibt es keinen Spielraum für Relativierungen. Nach dem allgemeinen Verständnis in der Literatur bedeutet dieses „absolut“ im Wesentlichen, dass auch aus Gründen des Gemeinwohls keine Ausnahme geduldet werden kann. Im japanischen Schrifttum werden zur Rechtfertigung des strengen Folterverbot verschiedene Gründe angeführt32 : Hierzu gehöret unter anderem der „due process of law“ als grundlegendes Prinzip der Strafverfahren. Wenn Ermittlungen nicht öffentlich durchgeführt werden und die Aufrechterhaltung einer ordentlichen Gerichtsverhandlung von der Beweismittelsammlung abhängt, könnte es sonst zu Situationen kommen, in der ein Polizist sich auch unnötig aus reinem Ermittlungseifer auf Folter verlässt. Zur Zeit der alten Verfassung fanden grausame Folterungen statt. Deswegen wägt die Verfassung selbst das Gemeinwohl gegen das Folterverbot ab und gibt dem Folterverbot den Vorzug. Nach der herrschenden Meinung in Japan ist eine solche Interessenabwägung in der Verfassung nicht nur auf Art. 36 JV beschränkt. Vielmehr unterliegen auch alle auf Art. 31 JV folgenden Artikel zum Gerichtsverfahren keiner grundsätzlichen Einschränkung durch das Gemeinwohl33. D.h. diese Artikel sind eine Konkretisierung der immanenten Beschränkung auf der Grundlage des Gemeinwohls: „Alle Regelungen nach Art. 31 JV zur Beschränkung des Rechts auf Leben und Freiheit sind materielle und formelle Regelungen, die eine Konkretisierung der immanenten Beschränkungen von Leben und Freiheit durch die Verfassung selbst sind“. Wenn 31 Art. 13 S. 2 JV: Das Recht eines jeden Bürgers auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück ist, soweit es nicht dem Gemeinwohl entgegensteht, bei der Gesetzgebung und den anderen Angelegenheiten der Staatsführung als oberster Grundsatz zu achten. 32 Sugihara, Die Freiheit des menschlichen Körpers, in: Ashibe (Hrsg.): Verfassung III Menschenrechte (2), 1981, 85 ff., 185. 33 Sugihara, Fußn. 32, 95, 113 ff.
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also die Verfassung selbst zum Wesen und Verfahren der Verletzung von Verfahrensrechten Stellung nimmt, dann heißt das, dass die Verfassung selbst abschließend abgewogen hat34. Aus allen auf Art. 31 JV folgenden Regelungen kann man folglich die eindeutige Absicht der Verfassung erkennen, dass mit Rücksicht auf die ausdrücklich normierte „Absolutheit“ des Folterverbots Abwägungen ausgeschlossen sind. Ebenso problematisch ist die These, die Relativierung sei gerechtfertigt, da das gefolterte Opfer die Würde oder das Leben anderer gefährdet hätte. Selbstredend ist der Vernommene bis zur Verurteilung als unschuldig zu betrachten. Die Relativierungsdebatte muss jedoch von der Annahme ausgehen, dass das Opfer der Rettungsfolter ein Verbrecher ist, womit die Unschuldsvermutung umgedreht wird35. „Ausgehend vom Grundsatz der Verfahrensfairness und der Unschuldsvermutung ist das Strafverfahren nicht in erster Linie zur Bestrafung da, sondern dient ebenso dazu, die Unschuld des Beschuldigten bzw. Angeklagten zu beweisen“36. Die Relativierungsdebatte verstößt somit gegen grundlegende Prinzipien des „in dubio pro reo“ und „nemo praesumitur malus“. Die japanische Verfassung überträgt die Kompetenz, festzustellen, ob Personen schuldige Verbrecher sind, zudem ausschließlich den Richtern37. Auch den Haftbefehl kann ausschließlich ein Richter ausstellen (Art. 33 JV). Die dem ermittelnden Beamten zugeteilte Kompetenz beschränkt sich darauf, verdächtige Personen der richterlichen Untersuchung zuzuführen. Somit verstößt es gegen Grundprinzipien des geltenden Rechts, wenn der Ermittler von der Schuld des Verdächtigen ausgeht und dann legitimiert wäre, die Folter anzuwenden. Auch dies spricht gegen die Annahme, das in der japanischen Verfassung verankerte absolute Folterverbot könne relativiert werden. Die Regelungen des Art. 36 JV liegen auf einer Linie mit den Regelungen zu den Rechten von Beschuldigten und Angeklagten. Deswegen könnte man auch die Auffassung vertreten, dass hier nur der Bereich des Strafrechts betroffen ist, der vom Bereich des Polizeirechts zu unterscheiden ist38. Allerdings ist ein solches Verständnis nicht überzeugend. Im Einklang mit der herrschenden Meinung in Deutschland, die eine solche Einschränkung nicht erlaubt, muss auch die japanische Regelung so verstanden werden, dass sie auch im Bereich des Polizeirechts Anwendung findet. Dies kann dadurch bestätigt werden, dass der oberste Gerichtshof die Anwendung von Art. 31, 35 und 38 Abs. 1 JV im Verwaltungsverfahren anerkannt hat39. Zudem 34
Sugihara, Fußn. 32, 114. Wie man auch am Fall des Postskandals in Japan sehen kann, hatte der ermittelnde Beamte von vorneherein ein Bild und eine Geschichte zu dem Fall im Kopf und erzwang dazu passende Aussagen. Das muss man in Japan besonders betonen. 36 Sugihara, ebenda. 37 Art. 76 Abs. 1 JV: Alle rechtsprechende Gewalt liegt beim Gerichtshof und den nach gesetzlicher Bestimmung errichteten unteren Gerichten. 38 Das ist eine Hypothese, die die deutsche Debatte aufnimmt. In Japan kann man meiner Ansicht nach keine bewusste Diskussion dieses Problems finden. 39 Der Oberste Gerichtshof, 22. 11. 1972, OGHESt Band 26 Nr. 9 S. 554, Oberster Gerichtshof 1. 7. 1992, OGHESt Band 46 Nr. 5 S. 437. 35
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darf auch nicht vergessen werden, dass in der Geschichte Folter unter dem Vorwand der Verbrechensermittlung, z. B. auch zur Unterdrückung von Ideologien, angewandt worden ist. b) Das verfahrensrechtliche Verbot der Beweiswertung des durch Folter erlangten Geständnisses Wie ist das Verbot des Art. 38 Abs. 2 JV zu bewerten, wonach durch Folter erlangte Geständnisse nicht als Beweis verwendet werden dürfen? In dieser Regelung ist im Gegensatz zu Art. 36 JV nicht ausdrücklich von Absolutheit die Rede. Könnte es also sein, dass ausnahmsweise eine Verwendung von durch die Folter erzwungenen Aussagen als Beweis doch möglich wäre? Wenn das Verfahren der Beweissammlung illegal wäre und allein deshalb die Beweiskraft abgelehnt werden müsste, wäre die Frage einfach zu beantworten. Insoweit unterscheidet der Oberste Gerichtshof aber zwischen illegaler Beweissammlung und Beweiskraft. Selbst wenn das Verfahren illegal ist, gibt es Spielraum, die Beweiskraft anzuerkennen40. Somit muss überprüft werden, ob auch Ausnahmen zu Abs. 38 Art. 2 JV möglich sind. Solche Ausnahmen sind jedoch abzulehnen. Wenn die Folter materiell-rechtlich verboten ist, aber gleichwohl noch eine verfahrensrechtliche Möglichkeit der Beweisverwendung besteht, können andernfalls erzwungene Aussagen nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr muss das materiell-rechtliche Verbot auch verfahrensrechtlich untermauert werden41. Andernfalls könnte es sonst vorkommen, dass ein Ermittlungsbeamter sogar bereit ist, selbst eine Strafe zu riskieren, um die vermeintlich notwendigen Beweise zu erlangen. Um wirklich sicherzustellen, dass das Folterverbot respektiert wird, muss es auch durch ein striktes Beweisverwertungsverbot flankiert werden. Somit ist es ausnahmslos verboten, durch Folter erlangte Aussagen als Beweis zu verwenden. IV. Zur Effektivierung des Folterverbotes Als Zwischenergebnis kann damit festgehalten werden, dass in Deutschland und in Japan die Folter streng verboten ist und zwar sowohl auf der Ebene des einfachen Rechts wie auch des Verfassungsrechts. Dennoch gab es in beiden Ländern praktische Probleme bei der Umsetzung des Verbots bei Vernehmungen. Um das Folterverbot noch effektiver zu gestalten, werden im Folgenden zwei Ansätze diskutiert.
40 Der Oberste Gerichtshof, 7. 9. 1978, OGHESt Band 32 Nr. 6 S.1672: Nach dem Urteil können Beweismittel nicht als Beweis herangezogen werden, wenn beim Verfahren der Konfiszierung schwerwiegende Rechtsverletzungen vorliegen und die Zulassung dieses Beweismittels wegen der Kontrolle solcher illegaler Ermittlungen in der Zukunft nicht angemessen ist. 41 Vgl. Kawamata, Verfahrensrechtlicher Schutz des Persönlichkeitsrechts, in: Kunig/ Nagata (Hrsg.), Persönlichkeitsrechtsschutz und Eigentumsfreiheit in Japan und Deutschland, 2009, 105 ff.
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1. Überwachung der Verhöre Verhöre finden im Gegensatz zu Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen statt. Deswegen setzt auch kein Mechanismus der Überprüfung durch Dritte ein und es kann zu Folter oder anderen unangemessenen Verhören kommen. Im deutschen und im japanischen Rechtssystem gibt es als Gegenmaßnahmen die Ablehnung der Beweiskraft von Verhören, bei denen gefoltert wurde, und ein System, bei dem der ermittelnde Beamte später verantwortlich gemacht wird. Um das Folterverbot noch effektiver zu gewährleisten, könnten Kontrollmethoden, die gleichzeitig zum Verhör angewendet werden, zum Einsatz kommen. In Japan hat man jetzt mit der Diskussion über die Einführung eines Ton- und Bildaufnahmesystems begonnen42. Allerdings hat die Diskussion auf Regierungsebene gerade erst eingesetzt, so dass noch nicht klar ist, welches konkrete System eingeführt werden könnte. Dennoch ist denkbar, dass eine Überwachung durch Ton- und Bildaufnahmen zur Abschreckung vor rechtswidrigen Verhören einschließlich der Folter beitragen kann. Einmal könnte von einem derartigen System eine präventive Wirkung auf die vernehmenden Beamten ausgehen. Weiterhin kann der verhörte Beschuldigte, wenn er vor Gericht eine Aussageerpressung durch Folter geltend macht, anhand einer Wiedergabe der Aufnahme den entsprechenden Nachweis führen. Umgekehrt könnte aber auch die verhörende Seite leichter beweisen, dass das Verhör rechtens war, wohingegen entsprechende Diskussionen bislang meist im Sande verliefen, da die Verhöre hinter verschlossenen Türen stattfanden. Bei der Einführung eines solchen Systems sind noch viele Fragen offen, so z. B. welcher Bereich von Verhören auf Video festgehalten werden soll und was mit den Stellen der Ton- und Bildaufnahmen geschieht, die inhaltlich nicht für eine öffentliche Präsentation bei einer Gerichtsverhandlung geeignet sind (z. B. die Möglichkeit einer nicht öffentlichen Untersuchung im Gericht „in camera“). Um das Folterverbot wirkungsvoll zu gestalten, sollte die Einführung dieser Überwachungsmaßnahmen aber zumindest erwogen werden. 2. Definition von Folter Bislang wurde in diesem Aufsatz die Definition von Folter nicht näher analysiert. In der Literatur wird Folter sowohl in Deutschland als auch in Japan als seelisches oder körperliches Quälen zum Herbeiführen einer Aussage angesehen43. Dabei ist nicht unbedingt klar, ab welchem Grad von Qual man von Folter spricht
42 In der Regierung wird die Prüfung vorangetrieben. So hat in letzter Zeit z. B. Vizejustizminister Ogawa die Absicht geäußert, die Debatte zur Umsetzung einer möglichen Überwachung von Verhören zu beschleunigen (Asahi Zeitung, 21. Januar 2011). 43 Auch die Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe definiert Folter als „jede Handlung […], durch die einer Person […] starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden“ (Art. 1 Abs. 1).
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oder ob direkter Zwang bei Verhören erlaubt werden kann, wenn er nicht bis zur Folter geht44. Hier gibt es Probleme, die man nicht ignorieren darf, wenn man das Folterverbot wirkungsvoller sichern will. Eine Verdeutlichung der Definition von Folter bedeutet eine Verdeutlichung von Verhören ohne Folter. Der Zusammenhang zwischen der Definition und der Absolutheit eines Rechts wird in Japan z. B. beim Verbot von Zensur zum Problem. Die Zensur ist von der Verfassung ausdrücklich und nach der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung ausnahmslos verboten. Der Oberste Gerichtshof hat den Begriff der Zensur allerdings sehr eng definiert. Folglich ist eine entsprechende Anzahl von Maßnahmen der Pressekontrolle nach der Entscheidung keine Zensur mehr und wird aus Gemeinwohlgründen als verfassungsgemäß eingestuft. Parallele Fragen stellen sich auch bei der Folter. Das bedeutet, dass bei Veränderungen der Definition von Folter ein bestimmtes Druckmittel bei einem Verhör möglicherweise nicht mehr als Folter eingeordnet wird und so auch nicht mehr unter das absolute Folterverbot fällt. Deshalb ist die Gefahr nicht auszuschließen, dass der Begriff der Folter absichtlich eng definiert wird, um ein bestimmtes Druckmittel, z. B. die Rettungsfolter, vom absoluten Verbot der Folter auszunehmen und zu akzeptieren. Bei einer solchen begrifflichen Neubestimmung kann in einer Definition eine Abwägung (bewusst) versteckt werden, die mit der Abwägung im Rahmen der vermeintlichen Kollision der Menschenwürde des Täters mit der Menschenwürde des Opfers vergleichbar ist. Obwohl man die Absolutheit des Folterverbots aufrechterhält und eine Abwägung bzw. Relativierung des Folterverbotes ablehnt, kann so bereits auf der Stufe der Definition eine Abwägung vorgenommen werden. Damit besteht die Gefahr, dass die Absolutheit des Verbots umso weiter relativiert wird, je präziser der Begriff der Folter definiert wird. So gesehen sprechen bessere Gründe für ein Festhalten an einer abstrakten Definition als den Begriff der Folter durch eine fragwürdige Definitionsabwägung zu präzisieren. Die unklare und unbestimmte Regelung hat einen „chilling effect “, von dem eine präventive Wirkung in der der Verhörpraxis ausgehen kann. V. Schlussbemerkung Sowohl in Deutschland als auch in Japan gilt ein absolutes Folterverbot, das in der Rechtsordnung verankert ist und auch nicht im Wege der Interpretation überspielt bzw. ausgehöhlt werden kann. An diesem gemeinsamen Verständnis beider Länder sollte festgehalten werden. Die Relativierung des Folterverbotes unter Hinweis auf eine Kollision von Menschenwürde gegen Menschenwürde ist abzulehnen. Nicht zu verkennen ist, dass bei der praktischen Umsetzung des Folterverbotes Probleme bestehen. Als Gegenmaßnahmen wurden in dem Beitrag die Überwachung bei Ermittlungen und die Frage der Definition von Folter diskutiert und damit The44 Siehe Hufen, Fußn. 8 als Beispiel für Befürwortung von Zwang, der nicht bis zur Folter reicht.
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men zur Diskussion gestellt, die sicherlich auch noch im deutsch-japanischen Verfassungsvergleich einer weiteren Vertiefung bedürfen.
Überlegungen zu Kompetenzausstattung und Kompetenzhandhabung des Bundesverfassungsgerichts Von Eckart Klein I. Einführung Dem Bundesverfassungsgericht sind seine Kompetenzen zwar nicht pauschal im Wege einer Generalklausel für alle verfassungsrechtlichen Angelegenheiten zugeteilt worden, aber die Summe der Einzelzuständigkeiten, selbst oft ihrerseits generalklauselweit gefasst, ist groß. Die Kompetenzausstattung ist jedenfalls so breit, dass es dem Bundesverfassungsgericht nicht schwerfällt, die Verfassungsmäßigkeit staatlichen Handelns in allen Bereichen zu sichern, wenn nur ein geeigneter Antragsteller vorhanden ist1. Über die Konzeption der Grundrechte als objektive Wertordnung und Basis staatlicher Schutzpflichten ist auch das Privatrecht in seiner Auslegung und Anwendung verfassungsgerichtlicher Überprüfung zugänglich gemacht worden. Verfassungsgerichtlicher Kontrolle sind ferner Akte der auswärtigen Gewalt, etwa der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die Integration in die Europäische Union oder der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland unterworfen. Eine Political-Question-Doktrin hat sich im deutschen Recht nicht etablieren können2. All dies hat das Bundesverfassungsgericht zu einem Machtfaktor gemacht, dessen Ausstrahlungskraft weit über die deutschen Grenzen hinausreicht. Je mächtiger freilich eine Institution ist, desto wichtiger wird es, die rechtliche Kompetenzausstattung dieser Institution und die tatsächliche Ausübung der Kompetenzen durch das Bundesverfassungsgericht genau im Blick zu behalten. In diesem Sinn soll zunächst danach gefragt werden, ob sich die bestehenden Kompetenzen bewährt haben, wobei ich mich hier auf die Verfassungsbeschwerde und die abstrakte Nomenkontrolle sowie auf die föderalismusrelevanten relativ neuen Zuständigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a und Art. 93 Abs. 2 GG beschränken muss. Ein kritischer Blick wird dann auf einige problematische Kompetenzausweitungen durch die 1 Hier zeigt sich die gerichtliche Natur des Bundesverfassungsgerichts („ohne Kläger kein Richter“) in besonderer Weise. Jede Änderung der Zugangsberechtigung zu einem bestimmten Verfahren hat unmittelbaren Einfluss auf die gerichtlichen Kompetenzen selbt. Zum Antragsprinzip nach § 23 Abs. 1 BVerfGG vgl. E. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 152 f. 2 Hingegen wird diese Doktrin in den USA seit der berühmten Entscheidung des US Supreme Court in Marbury v. Madison 5 US (1 Cranch) 137, 170 (1803) anerkannt: „questions, in their nature political […] can never be made in this court.“
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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und einen vom Gericht selbst vorgebrachten Vorschlag gerichtet, ihm eine neue Kompetenz zur Kontrolle der europäischen Integration zu schaffen. Schließlich soll überlegt werden, inwieweit es angemessen ist, das Bundesverfassungsgericht an Änderungen des Grundgesetzes oder des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht zu beteiligen, soweit sich diese Änderungen auf seine Kompetenzen auswirken können. Gewidmet sind meine Ausführungen Wolf-Rüdiger Schenke, dessen rechtlich präzise und kluge Ausführungen immer wieder beeindrucken. Dies gilt in allererster Linie für seine damals grundlegenden Überlegungen zur Verfassungsorgantreue, die monographisch weit ausgreifende Kommentierung der grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantie und die anhaltende Bemühung um das Verwaltungsprozessrecht, das ja die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen in der Praxis und zugleich die Kompetenzen der Verwaltungsgerichte entscheidend prägt3. Prozessrecht ist stets auch Kompetenzrecht. II. Verfassungsbeschwerde und abstrakte Normenkontrolle Vor allem die Verfahren der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle haben dem Bundesverfassungsgericht weitreichende Kontrollmöglichkeiten eröffnet. Beide Zuständigkeiten werden in grundsätzlicher Weise darauf befragt, ob sie überhaupt oder doch in der bestehenden Form aufrechterhalten werden sollen. Dabei sind die geäußerten Bedenken durchaus unterschiedlicher Art. 1. Verfassungsbeschwerde Die gegen die öffentliche Gewalt schlechthin4 eröffnete Verfassungsbeschwerde, mit der der Grundrechtsschutz des Einzelnen seine prozessuale Krönung erfährt, ist zu einem besonderen Markenzeichen der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit geworden. Insbesondere auf der Grundlage dieser Prüfungszuständigkeit sind die Grundrechte des Grundgesetzes in einer zunächst kaum vorstellbaren, die gesamte Rechtsordnung durchwaltenden Weise entfaltet worden, auch wenn bereits im Parlamentarischen Rat die Forderung erhoben worden war, dass die Grundrechte das Grundgesetz „regieren“ müssten5. Doch hatte und hat dieser Erfolg seinen Preis. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht nur der mit großem Abstand am häufigsten eingesetzte Rechtsbehelf zum Bundesverfassungsgericht6, die schiere Zahl der erhobenen Be3 Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977; ders., in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Drittbearbeitung 2009; ders., Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009. 4 BVerfGE 4, 27 (30); näher Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, § 90 Rn. 176 (Bearbeitung 2007). 5 Abg. Dr. Carlo Schmid (SPD), in: Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 9: Plenum (bearbeitet von Werner), 1996, S. 37. 6 Die Verfassungsbeschwerden machen zwischen 96 und 97 Prozent aller Verfahren aus.
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schwerden, die im Jahr 2009 einen neuen Höhepunkt erreicht hat7, lässt vielmehr die Frage nicht verstummen, ob das Bundesverfassungsgericht diese Last überhaupt weiter tragen kann, ohne seine sonstigen Aufgaben zu vernachlässigen. So ist es kein Wunder, dass zumindest immer wieder darüber nachgedacht wurde, ob nicht die notwendige Entlastung durch ein immer wirksameres Filterverfahren erreicht werden könnte. Die mehrfachen in diese Richtung zielenden und gerade insoweit von Art. 93 Abs. 3 Satz 2 GG legitimierten Änderungen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht8 haben zweifellos gewisse Erleichterungen gebracht, ohne die es wohl zum weitgehenden „Stillstand der Rechtspflege“ gekommen wäre, haben aber das Belastungsproblem nicht grundsätzlich lösen können. Es liegt nahe, sich daher an der US-amerikanischen Praxis einer Annahme von Verfassungsbeschwerden durch den zuständigen Senat „nach Ermessen“ zu orientieren.9 Dafür hat sich denn auch die vom Bundesminister der Justiz eingesetzte „Entlastungskommission“ (BendaKommission) mit großer Mehrheit entschieden und als neue Bestimmung vorgeschlagen: „Das Bundesverfassungsgericht kann eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung annehmen. Dabei berücksichtigt es, ob seine Entscheidung für die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage oder für den Schutz der Grundrechte von besonderer Bedeutung ist.“10 Es ist nicht zufällig, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor ganz ähnlichen Problemen steht. Die Flut von Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK lässt auch ihn händeringend nach Auswegen suchen11. Das mit dem 14. Protokoll zur EMRK12 eingeführte Einzelrichterformat – für das Bundesverfassungsgericht einstweilen noch nicht vertieft erörtert – hat eine gewisse Erleichterung verschafft, wird aber nicht als endgültig-ausreichende Lösung angesehen13. Mit Nachdruck wird daher auch hier von verschiedener Seite die Übernahme des US-amerikanischen Certiorari-Verfahrens gefordert14.
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Im Jahr 2009 sind 6.308 Verfassungsbeschwerden eingegangen. Beginnend bereits mit der (ersten) Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes vom 21. 7. 1956 (BGBl. I S. 662) durch Einrichtung eines Vorprüfungsverfahrens bis zu heutigen Regelung der §§ 93c bis 93d BVerfGG (Annahme- und Kammerverfahren). 9 Vgl. dazu die Darstellung in: Bundesministerium der Justiz (Hg.), Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, Bericht der Kommission,1998, S. 39 f. 10 Bundesministerium der Justiz (Fußn. 9), S. 32 ff., 43 ff.: Benda, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts – Vorschläge der Entlastungskommission, 1998, S. 9 ff. 11 Im Jahr 2010 sind 61.300 Beschwerden einer richterlichen Formation vorgelegt worden. 12 BGBl. 2006 I S. 138. 13 Inzwischen ist der sog. Interlaken-Prozess in Gang gekommen, mit dem weitere Schritte erfolgen sollen; vgl. die auf der High Level Conference on the Future of the European Court of Human Rights am 19. 2. 2010 angenommene Erklärung und den dazugehörigen Aktionsplan. 14 Bernhardt, in: Wolfrum/Deutsch (eds.), The European Court of Human Rights Overwhelmed by Applications: Problems and Possible Solutions, 2009, S. 29 (33 f.). 8
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Im Hinblick auf beide Fälle bin ich von der Richtigkeit dieser Vorschläge nicht überzeugt15. Die Verfassungsbeschwerde hat in so hohem Maß zur Festigung des Bewusstseins geführt, in einem von der rule of law geprägten Staat zu leben, dass dieses für den Zusammenhalt der Gesellschaft so wertvolle Instrument weder ganz aufgegeben noch entscheidend eingeschränkt werden darf. Für viele Menschen, die in den Vertragsparteien des Europäischen Menschenrechtskonvention leben, ist die Möglichkeit, sich an den Straßburger Gerichtshof zu wenden, oft die letzte Hoffnung, ihre Menschenrechte gewahrt zu sehen. Die Fülle der aus Russland, der Türkei, der Ukraine und anderen Staaten kommenden Beschwerden macht dies überdeutlich16. Höhere Hürden für die Zulassung von Beschwerden aus solchen Ländern zu errichten, die wie die Bundesrepublik Deutschland ein ausgefeiltes nationales Rechtsschutzsystem haben, ist aus Gründen der Staatengleichheit nicht zu verwirklichen17. Damit würden im Übrigen die Anforderungen an die Wirksamkeit der Grundrechtsprüfung in Deutschland selbst eher steigen, was eine Annahme von Verfassungsbeschwerden nach Ermessen nur weiter zweifelhaft werden ließe. Es gilt, nach anderen Lösungen zu suchen. 2. Abstrakte Normenkontrolle Aus ganz anderen Gründen wird die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) gleichfalls kritisch betrachtet. Hier geht es angesichts der eher geringen Zahl der Verfahren18 nicht um Entlastung, sondern um die Befürchtung, das Bundesverfassungsgericht habe in diesen Fällen über ein Gesetz zu entscheiden, ohne dass ihm – eben anders als bei der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) – die Bedeutung seiner Entscheidung anhand eines konkreten Rechtsanwendungsfalls vermittelt werde. Daher wird für die Abschaffung der abstrakten Normenkontrolle plädiert19. Diese Auffassung ist aber nicht überzeugend20. Das Bundesverfassungsgericht hat durchaus die Möglichkeit, sich die Kenntnis der Auswirkung seiner Entscheidung zu verschaffen, nicht anders als bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde, an der die Skeptiker auch nicht rütteln wollen. Auch der Vorwurf, das Verfahren lade die parla15 Näher E. Klein, in: Piazolo (Hg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 227 (236 ff.); vgl. auch Minderheitsvotum der damaligen Richterin des Bundesverfassungsgerichts Graßhof, in: Bundesministerium der Justiz (Fußn. 9), S. 139 ff.; E. Klein, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 150 Rn. 84 ff. 16 Vgl. Jahresstatistik EGMR 2010. 17 So aber Papier, ZSR 2005, 113 ff. Dagegen Wildhaber, EuGRZ 2005, 743. 18 Von 1951 bis 2010 insgesamt 165 Eingänge. 19 Simon, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts (1983), S. 1253 (1266, 1289), vorsichtiger aber in der 2. Aufl. 1995, § 34 Rn. 24 und 63; Rinken, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 93 Rn. 30 ff.; „Sympathie“ für die Abschaffung äußert auch Limbach, Das Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 51 f. 20 Ebenso Wahl, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht Bd. 1, 2001, S. 461 (473); SchmidtJortzig, FS Schnapp, 2008, S. 271 (272).
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mentarische Minderheit (Opposition) dazu ein, die verlorene parlamentarische Auseinandersetzung in das Bundesverfassungsgericht zu verlagern, überzeugt nicht. Vielmehr ist dieses Verhalten „nicht im mindesten anstößig“21. Verletzt nämlich das Gesetz wirklich die Verfassung, besteht im Verfassungsstaat kein Grund, diesen Verstoß andauern zu lassen. Weder Regierungsmehrheit noch Opposition können daran ein Interesse haben. Auch im Hinblick auf die Überprüfung von Vertragsgesetzen (ausnahmsweise schon ab Zustandekommen, vor Verkündung) nach Art. 59 Abs. 2 GG wäre der ohnedies nur durch Grundgesetzänderung zu bewerkstelligende Verzicht auf die abstrakte Normenkontrolle schwer verständlich. III. Zuordnung neuer Kompetenzen Über die ursprüngliche Kompetenzzuordnung hinaus sind dem BVerfG im Lauf der Zeit weitere Zuständigkeiten übertragen worden, von denen hier nur zwei aufgegriffen werden sollen. Beide sind dadurch verbunden, dass sie im föderativen Zusammenhang stehen und die Rechte (Kompetenzen) der Länder schützen wollen. Eine weitere Gemeinsamkeit ist leider auch dahin festzustellen, dass sowohl das Kompetenzkontrollverfahren als auch das Kompetenzfreigabeverfahren gesetzgeberisch misslungen sind. 1. Kompetenzkontrolle Im Jahr 1994 wurde zum Schutz der Länder vor einer sich intensivierenden Nutzung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes Art. 72 Abs. 2 GG neu, d. h. enger gefasst22. Zugleich wurde durch Einfügung von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG ein „eigenständiges verfassungsgerichtliches Verfahren“ eingeführt23, dessen prozessuale Eingliederung in das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (§ 13 Nr. 6a, § 76 Abs. 2) allerdings nur sehr verzögert erfolgte24. § 76 Abs. 2 Halbsatz 2 BVerfGG ist deshalb schwer verständlich, weil er entgegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG neben Art. 72 Abs. 2 GG auch Art. 75 Abs. 2 GG als Prüfungsmaßstab einführt, was allenfalls durch Rückgriff auf Art. 93 Abs. 3 GG i.V.m. § 13 Nr. 15 BVerfGG zu erklären ist25. Schon wegen der im Jahr 2006 im Zuge der Föderalismusreform I erfolgten Aufhebung des Art. 75 GG wird diesem Problem allerdings keine größere praktische Bedeutung zukommen26. 21 H.H. Klein, in: Starck (Hg.), Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt – Teil II, 2006; S. 143 (152). 22 BGBl. 1994 I S. 3146. Vgl. BVerfGE 106, 62 (142 ff.) zum Zweck dieser Änderung. 23 BVerfGE 106, 62 (142). 24 BGBl. 1998 I S. 1823. 25 E. Klein (Fußn. 1), Rn. 746; ablehnend Löwer, in: HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 72. 26 BGBl. 2006 I S. 2034. – Völlig obsolet ist dadurch der Hinweis auf Art. 75 Abs. 2 GG aber nicht geworden (vgl. Art. 125a Abs. 1 GG); ebenso Sachs, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2010, Rn. 144; anders Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 132c.
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Abgesehen von diesen Ungereimtheiten in § 76 Abs. 2 BVerfGG fragt man sich, weshalb es insoweit einer „eigenständigen“ Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts überhaupt bedurfte. Tatsächlich handelt es sich – so war auch die Einschätzung im Gesetzgebungsverfahren selbst – der Sache nach um ein „abstraktes Normenkontrollverfahren“ nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG27, in dem allerdings auch der Bundesrat und die Volksvertretung eines Landes antragsberechtigt sind (§ 76 Abs. 2 Halbsatz 1 BVerfGG). Es spricht viel dafür, dass diese speziell für Art. 72 Abs. 2 GG relevante Besonderheit der Antragsberechtigung im Grundgesetz und dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht auf viel elegantere Weise hätte seinen Niederschlag finden können. Ganz davon abgesehen ist zu konstatieren, dass von diesem Verfahren (Az.: BvW) noch kein Gebrauch gemacht wurde, was insofern nicht verwundert, weil Art. 72 Abs. 2 GG selbstverständlich auch als Prüfungsmaßstab im normalen abstrakten Normenkontrollverfahren zur Verfügung steht und auch entsprechend genutzt wird28. 2. Kompetenzfreigabeverfahren Noch viel unbefriedigender verhält es sich mit dem in Art. 93 Abs. 2 GG und §§ 13 Nr. 6b, 97 BVerfGG geregelten Kompetenzfreigabeverfahren. Es ist eine – (und nicht die einzige) höchst zweifelhafte – Frucht des 52. Änderungsgesetzes zum Grundgesetz (Föderalismusreform I)29. Die Formulierung ist nicht nur außerordentlich lang und fällt im Vergleich mit Art. 93 Abs. 1 GG völlig aus dem Rahmen, sie ist auch viel zu kompliziert, teilweise missverständlich formuliert30 und verhunzt die Verfassung. Demgegenüber fällt die prozessrechtliche Regelung der Materie in § 97 BVerfGG äußerst dürftig aus, enthält Art. 93 Abs. 2 GG doch bereits fast jedes Detail selbst. Allerdings zeigt die lieblose Einordnung an diese Stelle des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, die ehemals der Gutachtenkompetenz des Gerichts vorbehalten war, dass der Gesetzgeber sich wenig Gedanken über dieses merkwürdige Verfahren gemacht hat31. Der Sache nach geht es auch hier darum, dem Landesgesetzgeber Luft zu verschaffen. Konkret soll für zwei Konstellationen eine Durchsetzungsmöglichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht eröffnet werden: Einmal für den Fall, dass der Bundesgesetzgeber es unterlassen hat, eine bundesgesetzliche Regelung, die im Sinne von Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr erforderlich ist, der Ersetzung durch Landesrecht freizugeben, wie es nach Art. 72 Abs. 4 GG möglich ist. Zum anderen für den Fall, dass der Bundesgesetzgeber konkurrierendes Bundesrecht, das bis zu der im Jahr 1994 erfolgten Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG erlassen werden durfte (danach aber nicht 27
BT-Drucks. 13/7673, S. 6 und 12: „Variante der abstrakten Normenkontrolle“. M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar, 2. Aufl. 2005, § 76 Rn. 54. Vgl. etwa auch BVerfGE 106, 62 und 111, 226. 29 BGBl. 2006 I S. 2034. 30 Schlaich/Korioth (Fußn. 26), Rn. 132 g. 31 Näher E. Klein, FS Merten, 2007, S. 223 ff. 28
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mehr) und als Bundesrecht fortgilt, ungeachtet der in Art. 125a Abs. 2 GG enthaltenen Regelung nicht zur Ersetzung durch Landesrecht freigibt. Für beide Fälle gilt, dass zunächst vergebliche Anstrengungen unternommen werden müssen, den Bundesgesetzgeber zur gesetzlichen Freigabe zu bewegen32. Hat der Antrag des Bundesrats, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes Erfolg, so ersetzt die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelung entfallen ist oder Bundesrecht nicht mehr erlassen werden könnte, die an sich nach Art. 72 Abs. 4 und 125a Abs. 2 Satz 2 GG vorgesehenen Bundesgesetze33. Vor allem drei Kritikpunkte sind hervorzuheben. Zum einen wird sozusagen unter der Hand das bislang so gedeutete bundesgesetzgeberische Ermessen, eine Freigabe an die Länder zu beschließen34, in eine Rechtspflicht verwandelt, wenn an sich die Voraussetzungen von Art. 72 Abs. 4 und 125a Abs. 2 Satz 2 GG vorliegen35. Da das bisherige Bundesgesetz als solches durch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts nicht aufgehoben wird, bleibt es wirksam, soweit und solange es nicht überall durch Landesgesetze ersetzt ist. Zum anderen weist Art. 93 Abs. 2 GG dem Bundesverfassungsgericht die Rolle eines Ersatzgesetzgebers zu, da seine Entscheidung unmittelbar die des Freigabegesetzgebers ersetzt; das ist völlig systemwidrig und gemessen an Art. 20 GG zumindest bedenklich36. Schließlich ist mit der neuen Zuständigkeit nach Art. 93 Abs. 2 GG ein ganz merkwürdig hybrides Verfahren geschaffen worden, dessen Züge zwischen Normenkontrolle, Bund-Länder-Streit und Normenqualifikation changieren und dem Prinzip prozessrechtlicher Klarheit ins Gesicht schlagen37. Man kann nur hoffen, dass dieses Verfahren (Az.: BvY), anders als in den Beratungen befürchtet, niemals realisiert zu werden braucht. IV. Ausweitung bestehender und Erschließung neuer Kompetenzen durch das Bundesverfassungsgericht Ist der (verfassunggebende) Gesetzgeber wegen mangelnder Sorgfalt im Umgang mit den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts zu tadeln, zeigt auch die Rechtsprechung des Gerichts selbst, dass es sich manches Mal hart an den „Grenzen legitimer Kompetenzausübung“38 oder gar darüber hinaus bewegt. Nur auf einige Beispiele kann hier hingewiesen werden.
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men“. 37 38
Vgl. Art. 93 Abs. 2 Satz 3 GG Vgl. Art. 93 Abs. 2 Satz 2 GG. BVerfGE 111, 10 (30). O. Klein/Schneider, DVBl. 2006, 1549 (1555). Resignierend Schlaich/Korioth (Fußn. 26), Rn. 97: „systemfremd“, „jedoch hinzunehE. Klein (Fußn. 31), S. 229 ff. So Löwer (Fußn. 25), Rn. 67 zur Auslegung von § 78 Satz 2 BVerfGG.
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1. Instrumentalisierung von Art. 38 GG Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit einer sehr extensiven Auslegung von Art. 38 Abs. 1 GG den Weg zur Überprüfung völkerrechtlicher Verträge – genauer der Vertragsgesetze – erschlossen, mit denen Kompetenzen an zwischenstaatliche Einrichtungen (Art. 24 Abs. 1 GG), insbesondere an die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1GG), übertragen werden – und zwar auch für den Fall, dass gegen den Vertragsabschluss von den politischen Instanzen keine Einwände im Wege der abstrakten Normenkontrolle oder des Bund-Länder-Streits geltend gemacht werden. Dass Grundrechte auch gegen die Ausübung der auswärtigen Gewalt durch Vertragsabschluss verteidigt werden können, ist nichts Neues, ergibt sich vielmehr bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG. Stets ist jedoch die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, wie es ihren Voraussetzungen auch entspricht, an die eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit gebunden worden39. Hiervon dispensiert sich das Bundesverfassungsgericht, wenn es, wie im Maastricht- und Lissabon-Urteil geschehen, meint, das Grundrecht auf Teilnahme des wahlberechtigten Bürgers an der Wahl zum Bundestag garantiere mittelbar auch den Verbleib substantieller Kompetenzen bei diesem Organ, weil andernfalls das Wahlrecht entleert werde40. Diese Argumentation ermöglicht eine prozessual gerade auf Bundesebene nicht zugelassene Popularklage, mit der das Bundesverfassungsgericht rechtlich nicht legitimiert seine eigenen Kompetenzen ausgeweitet hat41. Dies darf nicht unwidersprochen bleiben. 2. Ultra-vires-Kontrolle von Organakten der Europäischen Union Abzulehnen ist auch die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Kompetenz, sekundärrechtliche Akte der Europäischen Gemeinschaft/Union auf ihre Rechtmäßigkeit, sei es hinsichtlich der Beachtung der Grundrechte, sei es im Hinblick auf die Einhaltung der übertragenen Zuständigkeiten (Ultra-Vires-Kontrolle), zu überprüfen. Beide Kontrollen setzen voraus, dass das Bundesverfassungsgericht seine Jurisdiktion nicht nur über deutsche, sondern auch über nichtdeutsche Rechtsakte ausüben kann. In der Tat hat dies das Gericht in abrupter Abkehr seiner bisherigen Rechtsprechung so entschieden42. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr die prozessualen Hürden einer Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen durch EU-Organe, einschließlich den Europäischen Gerichtshof, so hoch gezogen, dass jedenfalls praktisch höchst prekäre Kollisionslagen kaum eintreten dürften43. 39
BVerfGE 1, 97 (101); 40, 141 (166); 53, 30 (48). BVerfGE 89, 155 (189); 123, 267 (330 ff.). 41 Vgl. hierzu Schönberger, Staat 48 (2009), 535 und JZ 2010, 1160 einerseits und Murswiek, JZ 2010, 702 und 1164 andererseits. 42 BVerfGE 89, 155 (175) unter Abweichung von BVerfGE 58, 1 (27). 43 Vgl. BVerfGE 73, 339 (373); 102, 147 (164); 123, 267 (399); Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (6): „unwahrscheinlich“. 40
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Schwieriger liegt es bei der Ultra-Vires-Kontrolle, weil hier das Bundesverfassungsgericht entsprechende Anträge nicht bereits generell an der Zulässigkeit scheitern lässt, sondern in die materielle Prüfung einsteigt, ob die Gemeinschaft/Union innerhalb der übertragenen Zuständigkeiten verblieben ist44. Zwar hat das Gericht in der Honeywell-Entscheidung auch bezüglich dieser Kompetenzkontrolle die sachlichen Anforderungen hochgeschraubt, so dass nur eine „hinreichend qualifizierte“, „offensichtliche“ Kompetenzüberschreitung der EU-Organe, die zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt, zur Unanwendbarkeit des Unionsrechts im deutschen Rechtsraum führen kann, wobei dem Europäischen Gerichtshof auch noch eine „Fehlertoleranz“ eingeräumt wird45. Juristisch ist dieses vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Letztkontrollrecht nicht zu begründen. Die völkervertragliche Ableitung der Rechtsstellung des Europäischen Gerichtshofs gibt dafür nichts her, weil gegen die Übertragung der Aufgabe an diesen Gerichtshof, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern (Art. 19 Abs. 1 EUV), verfassungsrechtlich nichts zu erinnern ist und mit jeder Übertragung von Gerichtsbarkeit auch Fehlurteile hinzunehmen sind. Grenze kann nur der Einbruch in vom Grundgesetz der Integration entzogene Bereiche sein (Art. 79 Abs. 3 GG)46. Bei aller Vorsicht, die das Bundesverfassungsgericht gegenüber der Rechtsprechung des Luxemburger Gerichts walten lässt, ist die Ultra-vires-Überprüfung europäischer Rechtsetzung durch das Bundesverfassungsgericht eine nicht nur gegen den EU-Vertrag, sondern auch gegen das Grundgesetz selbst gerichtete Überschreitung der eigenen Kompetenz. 3. Moderation statt Entscheidung Die Frage, ob Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durch Prozessvergleich beendet werden können, kann nur beschränkt, nämlich soweit es sich um kontradiktorische Verfahren handelt und die Streitparteien über den Streitgegenstand disponieren können, bejaht werden47. Das Problem ist im Zusammenhang mit dem durch Verfassungsbeschwerden und einen abstrakten Normenkontrollantrag vor das Bundesverfassungsgericht gebrachten LER-Verfahren vertieft behandelt worden, obgleich es sich bei dem vom Gericht ausformulierten Vorschlag einer „einvernehmlichen Verständigung“ gerade nicht um einen Vergleichsvorschlag handeln konnte, weil weder ein kontradiktorisches Verfahren vorlag noch die jeweiligen Antragsteller über das Gesetz disponieren konnten. Vielmehr ging es um die gerichtliche Anregung 44
BVerfGE 89, 155 (188) zum „ausbrechenden Rechtsakt“. BVerfG, Beschluss vom 6. 7. 2010, BeckRS 2010, 52067. 46 E. Klein, VVDStRL 50 (1991), 56 (66 ff.). 47 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl. 2010, Art. 93 Rn. 21. Weitergehend jetzt Eckhardt, Die Zulässigkeit des Prozeßvergleichs im Verfassungsprozeß, 2010 und Höpker, Der Prozeßvergleich in der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2010. 45
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einer „gütlichen Lösung“48. Die Möglichkeit zu einem solchen Prozedere ist zwar mancherorts vorgesehen, aber eben nicht im bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist daher nicht frei von prozessualer Beliebigkeit, wie sie freilich hin und wieder zum Ausdruck kommt und auch durch den gelegentlichen Hinweis, „Herr des Verfahrens“ zu sein, unterstrichen wird49. Je mächtiger eine Institution ist, desto wichtiger ist, dass sie sich an die ihr gesetzten Regeln hält und nicht zum „eher diffusen Handlungsinstrumentarium des informalen Staates“ greift50. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts hat daher zu Recht harsche Kritik erfahren51. 4. Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts zur Kompetenzerweiterung In seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen, welche Verfahren für die Durchführung der von ihm für erforderlich gehaltenen Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle in Betracht kommen. Dabei zählt es die abstrakte und konkrete Normenkontrolle, den Organstreit, den Bund-Länder-Streit und die Verfassungsbeschwerde auf. Es folgt dann der erstaunliche Satz: „Denkbar ist aber auch die Schaffung eines zusätzlichen, speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenen Verfahrens durch den Gesetzgeber zur Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall in Deutschland unangewendet zu lassen“52. Der Satz ist erstaunlich, weil es eigenartig anmutet, dass das Gericht zur Fülle seiner Kompetenzen eine weitere Zuständigkeit haben möchte. Reichen die bisher bestehenden Verfahrenswege nicht aus, um seine Prüfwünsche zu befriedigen53, kann die recht deutlich vorgetragene Anregung, eine neue Zugangsmöglichkeit für diese Prüfung zu schaffen, nur als Versuch angesehen werden, die eigene Machtstellung zu arrondieren. Das sollte nicht sein. Der Satz ist aber auch deshalb problematisch, weil er die oben bereits kritisch beleuchtete Ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auch prozessual auf eine neue Stufe stellen würde. Der prozessrechtlich bislang eingehegte Prüfzugriff
48
So auch Schlaich/Korioth (Fußn. 26), Rn. 68. BVerfGE 13, 54 (94); 60, 175 (213). Dazu E. Klein, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht I, S. 507 (510 ff.). 50 Bethge (Fußn. 4), Vorb. § 17 Rn. 50 (Bearbeitung 2008). 51 Etwa Renck, ZRP 2002, 316 ff.; Wolff, EuGRZ 2003, 463 (471); Hillgruber, JöR NF 54 (2006), 57 ff. Positiv hingegen z. B. Schmidt, NVwZ 2002, 925 ff.; Kotzur, JZ 2003, 73 ff. 52 BVerfGE 123, 267 (354 f.). 53 Zu diesem Ergebnis kommt Wolff, DÖV 2010, 49 ff., der sich deshalb zumindest für ein konkretes Integrationskontrollverfahren einsetzt. 49
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würde entgrenzt. Die angedachte neue Zuständigkeit wäre evident vertragswidrig54, da sie die dem Europäischen Gerichtshof übertragene Kompetenz frontal in Frage stellt. Sie entspräche zudem nicht dem Grundgesetz (Art. 23). Dem Gesetzgeber ist dringend anzuraten, den Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts nicht aufzugreifen. V. Ablehnung von Initiativen zur Änderung von Verfahren Werden Initiativen zur Änderung rechtlicher Vorschriften, die (auch) das Bundesverfassungsgericht betreffen, ergriffen, so empfiehlt es sich, das Gericht hiervon nicht nur zu unterrichten, sondern ihm auch Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Das ist einerseits eine im Verhältnis von Verfassungsorganen durchaus angemessene Verfahrensart55, andererseits ist es auch sachlich sinnvoll, weil zwangsläufig im Bundesverfassungsgericht das größte Potential praktischer Erfahrung mit den einschlägigen Bestimmungen vorhanden ist. Wird das Bundesverfassungsgericht gehört, ist es klar, dass es seine Stellungnahme im Plenum abstimmt und dabei seine Auffassung artikuliert. Man kann es dem Gericht nicht verdenken, wenn es dabei seine Interessen vertritt. Dennoch verwundert, mit welcher Verve Überlegungen verworfen werden, wenn sie den Kompetenz-Besitzstand des Gerichts tangieren. Die von mancherlei berufener Seite erhobene Befürchtung, der zuständige Senat des Bundesverfassungsgerichts könnte durch einen großen Parteiverbotsprozess mit dem in §§ 43 bis 47 BVerfGG gegebenen Rüstzeug hoffnungslos überfordert und für lange Zeit lahmgelegt sein56, wurde vehement bestritten und demgemäß alle Vorschläge, auch soweit sie nur moderate Änderungen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht betrafen, zurückgewiesen57. Das Gericht zeigte sich sicher, allen denkbaren Anforderungen problemlos gewachsen zu sein. Hauptpunkt des Anstoßes war natürlich der Vorschlag, einen besonderen Staatsschutzsenat zu etablieren, der sich zusammensetzt aus vier Richtern des Bundesverfassungsgerichts und aus vier Vorsitzenden Richtern, nämlich des Bundesverwaltungsgerichts (2) und des Bundesgerichtshofs (je ein Vorsitzender Richter aus einem Straf- und Zivilsenat), die insoweit als Richter des Bundesverfassungsgerichts gewählt werden. Grund des Vorschlags waren Zweifel daran, ob der zuständige (Zweite) Senat in der Lage sein werde, ein solches auf schwierige Sachaufklärung angewiesenes quasi strafrechtliches Verfahren durchzuführen. Es war absehbar, dass ein solcher über das bestehende Gericht hinausgreifende Vorschlag wenig Gegenliebe finden würde. Was aber doch verwundert, ist die Selbstgewissheit, alle Pro54
So auch Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (29 f.). Schenke, Verfassungsorgantreue (Fußn. 3), S. 116 ff. macht zu Recht darauf aufmerksam, dass dieses Prinzip die grundgesetzliche Gewaltenteilung nicht überspielen darf. 56 H.H. Klein, FAZ v. 25. 6. 1996, S. 12. 57 Es handelt sich um Vorschläge, die der Verf. zusammen mit S. Schmahl im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz unter dem Titel „Möglichkeiten einer Neustrukturierung der Verfahren nach Artikel 21 GG (Parteiverbotsverfahren) und Artikel 18 GG (Grundrechtsverwirkung)“ im Jahr 2006 unterbreitet hat. 55
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bleme, die sich schon bisher in solchen Verfahren gezeigt hatten, so ganz ohne Weiteres auf der Basis des geltenden Rechts bewältigen zu können58. Dies ist das eine. Das andere ist in meinen Augen gravierender: dass sich nämlich der Gesetzgeber, wenn auch ganz im Anfang des gesetzgeberischen Prozesses, bei der Prüfung nämlich, ob eine Gesetzesinitiative ergriffen werden soll, wie fixiert auf das Bundesverfassungsgericht schaut und dessen ablehnende Äußerung zum Anlass nimmt, jedes weitere Denken in eine jedenfalls partiell selbst für richtig gehaltene Richtung abzubrechen. Es sollte klar sein, dass der (einfache) Gesetzgeber, nicht das Bundesverfassungsgericht, „Herr“ des verfahrensrechtlichen Bodens ist, auf dem das Gericht judiziert. Das gilt zumindest in dem Umfang, in dem nicht das Grundgesetz selbst die prozessualen Regeln mitformuliert. Im Übrigen steht eine funktionsfähige Verfassungsgerichtsbarkeit ohnedies unter dem Schutz von Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 GG59. Man kann, wie man weiß, über (fast) alles streiten. Manche gemachten Vorschläge sind gut, manche weniger gut, manche schlecht. Darüber muss man reden. Man sollte aber nicht auf ein Stirnrunzeln des Bundesverfassungsgerichts hin alle weiteren Überlegungen abrupt einstellen60. Dem Gesetzgeber ist auch und gerade gegenüber dem Bundesverfassungsgericht mehr Selbstvertrauen anzuraten. VI. Schlussbemerkung Im Vorstehenden ging es mir nicht primär um Kritik an dieser oder jener konkreten Entscheidung des Gesetzgebers oder des Bundesverfassungsgerichts, auch wenn diese als Belege meines viel allgemeineren Anliegens herangezogen wurden. Mein Anliegen besteht darin, darauf hinzuweisen, dass es wichtig ist, mit der Kompetenzausstattung des Bundesverfassungsgerichts verantwortungsvoll umzugehen, aber auch an das Gericht zu appellieren, von seinen Zuständigkeiten verantwortungsvoll, d. h. im Bewusstsein der ihnen gesetzten Grenzen, Gebrauch zu machen. Für einen so bedeutenden – und eben auch politischen – Machtfaktor wie das Bundesverfassungsgericht ist Selbstdisziplin bei der Auslegung der Verfassung ebenso wie seines Prozessrechts dringend erforderlich und höchste Tugend. Der demokratische Rechtsstaat könnte sonst Schaden nehmen.
58
Das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren (BVerfGE 107, 339) hätte durchaus Gelegenheit zu Selbstzweifeln bieten können. Der große KPD-Prozess (BVerfGE 5, 85) wurde in einer Zeit durchgeführt, als das Bundesverfassungsgericht deutlich weniger belastet war als heute; immerhin zog auch er sich fast fünf Jahre hin. 59 Benda, in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 101; Giegerich, in: Breuer u. a. (Hg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S. 95 (108). 60 In ganz ähnlicher wie der geschilderten Weise sind die Überlegungen und Vorschläge der sog. Benda-Kommission (Fußn. 9), die auf keine Gegenliebe im Gericht stießen, nicht weiter verfolgt worden.
Gesetzgebung im Spannungsfeld von Parlamentarismus und Föderalismus – Reformperspektiven für das Vermittlungsverfahren Von Winfried Kluth I. Gesetzgebung im Exekutivföderalismus Die Beziehung zwischen den Verfassungsorganen des Bundes gehörte schon sehr früh zu den staatsrechtlichen Aufmerksamkeitsfeldern von Wolf-Rüdiger Schenke. Bereits in seiner vielbeachteten Schrift „Die Verfassungsorgantreue“ aus dem Jahr 1977 ging er der Frage nach den Treue- und Rücksichtnahmepflichten zwischen den Verfassungsorganen nach.1 In seinen späteren Schriften vertiefte er diese Thematik in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren nach dem Grundgesetz. Dabei fand zunächst die Tätigkeit des Vermittlungsausschusses seine besondere Aufmerksamkeit. In seiner auf einem Rechtsgutachten beruhenden Schrift „Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses“ arbeitete Schenke in einer für ihn typischen streng methodengeleiteten Argumentation heraus, dass der Vermittlungsausschuss bei seinem Einigungsvorschlag nicht über das hinausgehen darf, was zuvor Gegenstand der Verhandlungen im Deutschen Bundestag war.2 Gegen „großzügiger“ argumentierende Stimmen in der Literatur3 betonte Schenke bereits damals die parlamentarische Beratung als „Grenze der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses“, was heute als ständige Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht vertreten und umgesetzt wird.4 Aber auch innerhalb dieses verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmens fand die Art und Weise, wie das Grundgesetz den Bundesrat und den Vermittlungsausschuss in das Gesetzgebungsverfahren des Bundes einbezogen hat, keine ungeteilte Zustimmung. Zu dem von Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh herausgegebenen Handbuch „Parlamentsrecht und Parlamentspraxis“ hat Wolf-Rüdiger Schenke einen Bei1
Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977. Schenke, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses. Dargestellt am Beispiel des 2. Haushaltsstrukturgesetzes, 1984. 3 Das gilt vor allem für Henseler, NJW 1982, 849 ff. 4 BVerfGE 101, 297 (305 ff.); 120, 56 (73 ff.); BVerfG, DVBl. 2010, 308 (309 ff.); siehe dazu näher Koggel, Das Vermittlungsverfahren, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2011, § 18, Rn. 35 ff. 2
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trag zum Thema „Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus“ beigesteuert, in dem auf eine bis heute gültige und scharfsichtige Art und Weise die zahlreichen ambivalenten Facetten des föderalen Interessenausgleichs im Grundgesetz herausgearbeitet und kritisch kommentiert werden.5 Ausgehend vom zutreffenden Befund der „Politisierung des Gesetzes“6 im modernen Sozialstaat zeichnet Schenke in seinen Studien das Bild eines in den Exekutivföderalismus7 eingespannten Parlamentarismus, in dem parteipolitisches Kalkül8 die Bedeutung der parlamentarischen Debatte als historisch-genetischem Kernstück parlamentarischer Gesetzgebung marginalisiert9 und die maßgeblichen Entscheidungsprozesse nicht nur dem Parlament, sondern auch der Öffentlichkeit10 entzogen werden. Schenke verkennt in seiner Analyse nicht die Vorzüge, die mit der Einbeziehung des ministerialbürokratischen Sachverstandes durch die Ausschüsse des Bundesrats verbunden sind11, und er hängt auch keinem idealisierten Bild des Parlamentarismus nach. Vielmehr speist sich seine Argumentation aus der durch das Grundgesetz getroffenen Entscheidung, den Deutschen Bundestag als „Parlament“ zum Hauptgesetzgebungsorgan zu bestimmen und seine auf öffentlicher Debatte beruhende Beschlussfassung zum Maßstab auch der Mitwirkung des Bundesrates zu machen. Vor diesem Hintergrund sieht Schenke die Erweiterung der Mitwirkungsrechte des Bundesrats durch die großzügige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Reichweite der Zustimmungspflicht von Gesetzen12 ebenso kritisch13 wie weitere Erscheinungsformen der Verflechtung. Seine Überlegungen münden deshalb in die Forderung nach einer Beschränkung der Zuständigkeiten des Bundesrates, aber darüber hinausgehend auch der weitgehenden Abschaffung von Mischzuständigkeiten (in Gestalt der damaligen Art. 91a und 91b GG sowie des Art. 104a Abs. 4 GG a.F.). Ansatzweise sind diese Vorschläge in der Föderalismusreform I aufgegriffen
5
Schenke, Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 55, S. 1485 ff. 6 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 1. Schenke verweist damit auf dem Umstand, dass die moderne Gesetzgebung ihren früheren technischen Charakter verloren und zum zentralen Instrument politischer Gestaltung geworden ist. Ob die dabei zugrunde gelegte Annahme einer „unpolitischen“ Gesetzgebung in der vorkonstitutionellen Zeit historisch zutreffend ist, sei hier dahingestellt. 7 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 23 ff. Siehe zu diesem Aspekt auch Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004. 8 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 32. Zu diesem Aspekt näher Leibholz/Hesselberger, Die Stellung des Bundesrats und das demokratische Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 99 ff. 9 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 38, 44. 10 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 39, 45. 11 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 35. 12 Beginnend mit BVerfGE 8, 274 (294 ff.). 13 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 22.
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worden14, doch hat sich dadurch an der Kernproblematik nichts Grundlegendes geändert. Vielmehr erweist sich das Verfahren im Vermittlungsausschuss weiterhin als „Dunkelkammer“ der Gesetzgebung15, in die nicht durch verfahrensrechtliche Vorgaben der Gemeinsamen Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuss nach Artikel 77 GG16, sondern durch verfahrensrechtlich so nicht vorgesehene17 Interviews der Verhandlungsführer über die Medien punktuell Einblick gewährt wird. Zudem scheint das Aushandeln von politischen Kompromissen in noch stärkerem Maße auf informelle Gremien außerhalb des förmlichen parlamentarischen Verfahrens verlagert worden zu sein. Diese neuere Entwicklung gibt Anlass, das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentarismus und Föderalismus, das zugleich ein Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher parlamentarischer Beratung und effektivem politischen Kompromiss darstellt, erneut in den Blick zu nehmen. Dabei soll nach einer Rückbesinnung auf die Grundlagen des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens und seiner Öffentlichkeit ein Vorschlag für eine Neujustierung in Gestalt einer dem Vermittlungsverfahren nachgelagerten parlamentarischen Verhandlung entwickelt werden. II. Grundlagen und Grenzen parlamentarischer Öffentlichkeit im unitarischen Parteien-Bundesstaat 1. Die Mitwirkungsrechte des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren Durch den Bundesrat wirken die Länder unter anderem an der Gesetzgebung des Bundes mit. Aus dieser für das Grundgesetz typischen technisch-nüchternen Formulierung lässt sich bereits ableiten, dass der Bundesrat keine dem Deutschen Bundestag gleichgestellte zweite Gesetzgebungskammer18 darstellt. Und seine Zusammensetzung aus Vertretern der Landesregierungen macht zugleich deutlich, dass auch seine demokratische Legitimation mittelbarer Natur ist. 14
Dazu im Einzelnen Kluth, in: ders. (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2008, Einleitung, Rn. 34 ff. 15 Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 47. 16 Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuss nach Artikel 77 GG (GOVA) vom 5. 05. 1951, BGBl. II S. 103, zuletzt geändert laut Bekanntmachung vom 30. 04. 2003, BGBl. I S. 677. Zu Entstehungsgeschichte und Änderungen im Einzelnen Dästner, Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses, 1995, S. 31 ff. Die Geschäftsordnung wird zu Beginn jeder Legislaturperiode neu beschlossen, vgl. Koggel (Fußn. 4), § 18, Rn. 2. 17 Inwieweit durch solche Interviews die in § 6 GOVA indirekt verankerte Pflicht zur Vertraulichkeit (dazu Dästner, a.a.O., § 6, Rn. 2) verletzt wird, muss im Einzelfall geprüft werden. Da in der Regel „beide Seiten“ den Weg in die Medien suchen, ist es bislang nicht zu Rügen dieses Verhaltens gekommen. 18 Dabei kann dahinstehen, ob die Bezeichnung als zweite Kammer parlamentarisch verfassten Verfassungsorganen vorbehalten ist. Siehe dazu Schenke (Fußn. 5), § 55, Rn. 22.
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In historischer Perspektive stellen die Mitwirkungsrechte des Bundesrates an der Gesetzgebung des Bundes nach dem Grundgesetz – jedenfalls auf den ersten, nur den Normenbefund berücksichtigenden Blick – einen Tiefstand der Entwicklung dar.19 Sowohl in der Paulskirchenverfassung (Abschnitt IV Art. V § 100) als auch in der Reichsverfassung von 1871 (Art. 5) war eine Zustimmung „beider Häuser“20 für einen erfolgreichen Gesetzgebungsakt erforderlich. In der Weimarer Reichsverfassung war der Reichsrat gem. Art. 74 auf den Einspruch beschränkt, der jedoch eine nochmalige Beschlussfassung durch den Reichstag erforderlich werden ließ.21 Kam es dabei nicht zu einem „Konsens“ zwischen beiden Häusern, so kam das Gesetz nicht zustande; in diesem Fall hatte der Reichspräsident die Möglichkeit, einen Volksentscheid über das Gesetz herbeizuführen.22 Der Reichsrat verfügte demnach über ein starkes, devolutives Vetorecht, das indes weniger Bestimmungsmacht begründete als ein Zustimmungsrecht.23 Auch im Rahmen einer rechtsvergleichenden Betrachtung etwa im Verhältnis zu den Regelungen in den USA oder der Schweiz muss die Stellung des Bundesrates in der Gesetzgebung des Bundes als „schwach“ qualifiziert werden.24 2. Funktionale Bedeutungsschichten des Vermittlungsverfahrens Die in der historischen Perspektive schwache Position des Länderorgans bei der Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung erscheint in einem anderen Licht, wenn zwei weitere Gesichtspunkte in die Überlegungen einbezogen werden. Dies betrifft zunächst die quantitative und qualitative Zunahme der Bundesgesetzgebung im Verhältnis zur Gesetzgebung der Länder. Vor allem im Bereich des wirtschaftsrelevanten Rechts gibt es kaum noch Rechtsmaterien, die durch Landesrecht dominiert werden. Diese durch die Föderalismusreform I nur marginal korrigierte Kompetenz(ausübungs)verschiebung25 zugunsten des Bundes ist einer der zentralen Faktoren auf 19 Siehe auch Stettner, in: Dreier (Hrsg.) Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 78, Rn. 1. 20 Nach der Paulskirchenverfassung waren die Zustimmung des Volkshauses und des Staatenhauses, nach der Reichsverfassung 1871 von Bundesrat und Reichstag erforderlich. 21 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl. 1933, Neudruck 1987, Art. 74, Ziff. 2. 22 Im besonderen Fall einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Reichstag musste der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnen oder das Gesetz binnen drei Monaten in der vom Reichstag beschlossen Fassung verkünden. 23 Anschütz bezeichnet den Reichsrat zudem als „einen gesetzgebenden Faktor“, der das Zustandekommen des Gesetzes hemmen kann, Anschütz (Fußn. 21), Art. 74, Ziff. 1. 24 Zu Einzelheiten von Beyme, Die Funktionen des Bundesrates. Ein Vergleich mit Zweikammersystemen im Ausland, in: Der Bundesrat als Verfassungsorgan und politische Kraft, 1974, S. 365 ff. 25 Im Recht der Wirtschaft wurden nur wenige Materien mit regionalem Bezug als ausschließliche Länderkompetenzen „verschoben“; siehe dazu Kluth (Fußn. 14), Art. 74,
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dem Weg zum „unitarischen Bundesstaat“, wie Konrad Hesse die Entwicklung unter dem Grundgesetz plakativ umschrieben hat.26 Zusammen mit dem zweiten Gesichtspunkt, der Erweiterung der sachlichen Reichweite der Zustimmungspflicht27, hat diese Entwicklung eine faktische Steigerung des Einflusses des Bundesrats und damit der Länder auf die Gesetzgebung des Bundes zur Folge gehabt. Dabei kommt dem Vermittlungsverfahren eine zentrale Scharnierfunktion zu. Das in zahlreichen Einzelnormen des Grundgesetzes verankerte Zustimmungsrecht28 als solches begründet nur eine starke Veto-Position des Bundesrats. Erst in Verbindung mit der in Art. 77 Abs. 2 GG verankerten Möglichkeit, ein Vermittlungsverfahren einzuleiten, erweitert sich die Mitwirkung des Bundesrat zu einer positiven inhaltlichen Mitgestaltung der Bundesgesetzgebung. Denn im Vermittlungsverfahren kann über den Einigungsvorschlag der materielle Gehalt des Gesetzes verändert werden. Es ist die damit eröffnete Verhandlungs- und Gestaltungsmöglichkeit, die formal dem Bundesrat und politisch den die Bundesratsmehrheit tragenden politischen Parteien, die in den meisten Phasen der bundesrepublikanischen Geschichte mit der Opposition im Deutschen Bundestag identisch waren, ein besonderes Gewicht verleiht. Die Bundesratsmitwirkung führt aufgrund dieser Zusammenhänge zu einer „Verdoppelung der parteipolitischen Opposition“.29 Änderungsanträge der Opposition, die im Deutschen Bundestag und seinen zuständigen Ausschüssen keine Mehrheit gefunden haben, können durch eine Anrufung des Vermittlungsausschusses durch die Bundesratsmehrheit erneut ins Spiel gebracht und unter Verweis auf das Veto-Recht bei Zustimmungsgesetzen in vielen Fällen auch durchgesetzt werden, wenn auch nicht immer in Reinform. Bedeutsame Regelungen, wie z. B. das Optionsmodell der §§ 6a ff. SGB II30 oder der umstrittene § 58a AufenthG31 verdanken dieser Vorgehensweise ihre Existenz. Der Kampf um diesen politischen Einfluss auf die Bundes-
Rn. 35 ff. Die ebenfalls die Länder stärkende Abweichungsgesetzgebung nach Art. 72 Abs. 3 GG ist vor allem im Bereich des Umweltrechts relevant. Zu ihr näher Uhle, in: Kluth (Fußn. 14), Art. 72, Rn. 47 ff. 26 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962. 27 Dazu kritisch Schenke (Fußn. 5), Rn. 21 f. 28 Übersicht zu den eine Zustimmungspflicht des Bundesrates begründenden Grundgesetzartikeln bei Stettner (Fußn. 19), Art. 77, Rn. 12. Das Gros der Fälle der Zustimmungspflicht beruhte bis zur Föderalismusreform auf Art. 84 Abs. 1 GG. Für die Zeit nach der Föderalismusreform ist von einem geringen Rückgang auszugehen. 29 Schenke (Fußn. 5), Rn. 33. 30 Zu Einzelheiten Bieback, in: Gagel (Hrsg.), SGB II/SGB II, Stand: 40. EGL 2010, Vorbemerkung zu §§ 1 ff. SGB II, Rn. 72 ff.; Robra, Organisation der SGB II-Leistungsträger, 2007; zur Neuordnung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 119, 331 ff.; dazu Kluth, ZG 2008, 292 ff.) siehe Zieglmeier, KommJur 2010, 441 ff. 31 Dazu näher Erbslöh, NVwZ 2007, 155 ff.; Marx, ZAR 2004, 275 ff.; Schmahl, ZAR 2004, 217 ff.; Hund, in: Kluth/Hund/Maaßen (Hrsg.), Handbuch Zuwanderungsrecht, 2007, § 5, Rn. 228 ff.
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gesetzgebung über den Bundesrat ist einer der Gründe, warum Landtagswahlen mit guten Gründen auch als „Bundesratswahlen“ bezeichnet werden können.32 Die Änderungsmöglichkeiten im Vermittlungsverfahren sind indes ihrerseits begrenzt. Dem Vermittlungsausschuss steht weder formal noch mittelbar über den Einigungsvorschlag ein Gesetzesinitiativrecht zu; das ist unbestritten.33 Damit ist der politische Verhandlungsspielraum im Vermittlungsverfahren durch die inhaltliche Reichweite der Beratungen im Bundestag beschränkt. Die Einzelheiten, wie eng die Beziehung zu dem im Deutschen Bundestag verhandelten und beschlossenen Gesetzentwurf sein müssen, sind jedoch umstritten.34 Dabei geht es vor allem um die Frage, wie eng der Sachzusammenhang zwischen der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Regelung und den vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Änderungen sein muss. Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner neueren Rechtsprechung davon aus, dass jeder Vermittlungsvorschlag inhaltlich35 und formal an den durch den Deutschen Bundestag vorgegebenen Rahmen gebunden ist.36 Es kommt entscheidend darauf an, dass auch der Vermittlungsvorschlag auf Grund der im Deutschen Bundestag geführten Debatte diesem Hauptgesetzgebungsorgan zugerechnet werden kann.37 Ob dies der Fall ist, soll neben der Bezugnahme auf den Gesetzentwurf anhand der im Gesetzgebungsverfahren eingeführten Anträge und Stellungnahmen der Abgeordneten, aber auch des Bundesrats, bestimmt werden.38 Somit ist auch die im Rahmen des ersten Durchgangs nach Art. 76 Abs. 2 GG abgegebene Stellungnahme des Bundesrats zu berücksichtigen.39 Es kommt nicht darauf an, ob und in welcher Form der Deutsche Bundestag die Anträge und Stellungnahmen in seinem Gesetzesbeschluss berücksichtigt hat.40 Was damit gemeint ist, hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen noch einmal unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Verhandlungsrecht der Abgeordneten verdeutlicht. Voraussetzung für das Aufgreifen eines Regelungsgegenstandes durch den Vermittlungsausschuss ist danach, „dass die betreffenden Anträge und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss bekannt gegeben wor32
Schenke (Fußn. 5), Rn. 51. BVerfGE 101, 297 (306); 120, 56 (74); 125, 104 (122); Schenke (Fußn. 2), S. 21; siehe auch Axer, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses – zwischen legislativer Effizienz und demokratischer Legitimation, 2010, S. 146 ff.; Kluth, Der Vermittlungsausschuß, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 60, Rn. 54 ff.; Koggel (Fußn. 4), § 19, Rn. 36. 34 Übersicht zum Meinungsstand bei Axer (Fußn. 33), S. 158 ff. 35 Zur inhaltlichen Bindung siehe auch Schenke (Fußn. 2) S. 50 f. 36 BVerfGE 101, 297 (307). 37 BVerfGE 120, 56 (76). 38 BVerfGE 101, 297 (307); 120, 56 (76); 125, 104 (122). 39 Zu dieser auch Schenke (Fußn. 5), Rn. 18. 40 BVerfGE 120, 56 (75); 125, 104 (122). 33
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den sind und die Abgeordneten die Möglichkeit hatten, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine Mehrheit im Parlament zu suchen.“41 Außerdem muss der (alternative, vom Deutschen Bundestag nicht berücksichtigte) Regelungsgegenstand in so bestimmter Form vorgelegen haben, „dass seine sachliche Reichweite dem Grunde nach erkennbar wird. Dies muss zwar nicht in Form eines ausformulierten Gesetzentwurfs erfolgen, eine allgemeine Zielformulierung genügt jedoch nicht.“42 Diese auf den ersten Blick konsistente Rechtsprechung wahrt zwar das Gesetzgebungsprimat des Deutschen Bundestages und das Verhandlungsrecht der Abgeordneten. Dies geschieht aber um den Preis einer Virtualisierung der Beratungen im Parlament, die ein mögliches späteres Vermittlungsverfahren antizipieren müssen. Will die Bundesratsmehrheit bei einem zustimmungspflichtigen Gesetz den Vermittlungsausschuss anrufen, so ist sie gehalten, ihre alternativen Gestaltungsvorschläge bereits in das Beratungsverfahren im Deutschen Bundestag einzuspeisen. Dies kann über die Stellungnahme des Bundesrats im ersten Durchgang oder durch Anträge der Oppositionsfraktionen erfolgen. Diese Vorschläge erfahren indes in der Praxis im Vergleich zu dem von der Parlamentsmehrheit getragenen Gesetzentwurfs nur eine sehr geringe Aufmerksamkeit und können insoweit zu einer Entwertung des Beratungsrechts führen. Die Verhandlungen im Bundestag müssten im Vorgriff auf das Vermittlungsverfahren geführt werden. Ob dies dem Anspruch an eine öffentliche parlamentarische Debatte im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens genügt, ist deshalb genauer zu prüfen. III. Die parlamentarische Beratung als Kernelement demokratischer Gesetzgebung 1. Eine Rückbesinnung zwischen Idealen der allgemeinen Staatslehre und verfassungsrechtlichem Realismus Gesetzgebung ist im demokratischen Verfassungsstaat unauflösbar mit prozedural geprägter Legitimationsvermittlung verknüpft.43 Weil die Verfassung nur einen weit gefassten Rahmen möglicher Gestaltungen der Rechtsordnung vorgibt44 und weil innerhalb der damit eröffneten Spielräume der politische Interessenausgleich seinen Ort zur Konkretisierung des Gemeinwohls findet, erweist sich das Verfahren der Gesetzgebung als materiell-rechtlich bedeutsam. Es ist der Ort, in dem Repräsentation ihre legitimierende Wirkung entfaltet.45 Das ist zugleich der Grund, warum der Öf41
BVerfGE 125, 104 (123) – Hervorhebungen hinzugefügt. BVerfGE 120, 56 (76); 125, 104 (123). 43 Dazu allgemeingültig Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 4. Aufl. 1997. 44 Zu diesem Verfassungsverständnis Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15, Rn. 61 ff. 45 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 42, Rn. 20. 42
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fentlichkeit des parlamentarischen Handelns eine so grundlegende Bedeutung zukommt. Denn nur ein vor den Augen des repräsentierten Volkes ablaufender Gesetzgebungsprozess kann dem Argwohn gegenüber der Verfolgung von geheimen Interessen vorbeugen und den Anspruch eines transparenten Ringens um das gemeine Wohl einlösen.46 Die Geschichte des Parlamentarismus ist vor diesem Hintergrund nach der Überwindung der Furcht vor einer strafrechtlichen bzw. politischen Verfolgung einer unliebsamen Meinungsäußerung in der parlamentarischen Debatte47, wie sie in den Anfangszeiten des englischen Parlamentarismus noch bestand48, durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen – wie es Art. 42 GG formuliert49 – geprägt. Diese ist konstitutiv für die drei parlamentarischen Grundfunktionen der Repräsentation, der Kontrolle und der Integration.50 Durch die öffentliche Verhandlung sollte die Verbindung zwischen den Repräsentierten und den Repräsentanten nachvollziehbar hergestellt werden.51 Der Wähler bzw. das Staatsvolk sollte sich in den in öffentlicher Debatte geäußerten und ggf. durch die Medien verbreiteten52 Argumenten wiederfinden und den schließlich gefundenen Ausgleich als Produkt eines fairen Verfahrens auch dann akzeptieren, wenn er nicht den eigenen Präferenzen entsprach. Dabei ermöglicht die Öffentlichkeit der Verhandlungen zugleich die „Oberaufsicht des Publikums“, auf deren Bedeutung schon Bentham hingewiesen hatte.53 Und schließlich ist mit Rudolf Smend davon auszugehen, dass die öffentliche Verhandlung Teil jenes prozessartigen Vorgangs der Einbeziehung des einzelnen Bürgers in den Staat ist, den man in einem staatsrechtlichen Sinne als Integration bezeichnen kann.54 Der „friedliche“ Vollzug des für die Demokratie prägenden und unverzichtbaren Mehrheitsprinzips55 im Parlament soll durch die Bürger nachvollzogen werden.56 Diese Funktionen kommen vor allem im Verfahren der Gesetzgebung zur Entfaltung. 46
Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, S. 97 ff. Dieser Gesichtspunkt kommt nebst Art. 46 Abs. 1 GG auch in Art. 42 Abs. 3 GG zum Ausdruck. 48 Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, 1976, S. 299 f. 49 Verhandeln bezeichnet als Oberbegriff den gesamten Prozess der Entscheidungsfindung einschließlich Debatte, Antragstellung und Beschlussfassung, BVerfGE 10, 4 (12); 89, 291 (303); Morlok (Fußn. 45), Art. 42, Rn. 22. 50 Kißler (Fußn. 48), S. 304 ff. 51 BVerfGE 125, 104 (124). 52 Zur Rolle der Medien siehe auch I. M. Pernice, Öffentlichkeit und Medienöffentlichkeit, 2000, S. 39 ff. 53 Siehe dazu den Nachweis bei Morlok (Fußn. 45), Art. 42, Rn. 20 mit Fußn. 38. 54 Siehe zu diesem Zusammenhang Kißler (Fußn. 48), S. 306 f. 55 Zu diesem in Art. 42 Abs. 2 GG in enger Beziehung zum Öffentlichkeitsgrundsatz verankerten Prinzip näher Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983; Hillgruber, AöR 127 (2002), 460 ff.; Morlok (Fußn. 31), Art. 42, Rn. 31. 56 G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 143 ff. 47
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2. Das Gesetz und seine Begründung in öffentlicher Debatte a) Das allgemeine Gesetz als Kernelement demokratischer Herrschaft Das Parlamentsgesetz stellt als allgemeines Gesetz, das in gleicher Weise für alle Bürger gilt und den Willen der demokratisch legitimierten Parlamentsmehrheit verbindlich zum Ausdruck bringt, den zentralen Baustein demokratischer Herrschaft dar.57 Jeder Akt der Gesetzesanwendung durch Exekutive und Gerichte erfährt seine Legitimation aus der parlamentarischen Entscheidung und dem zugrunde liegenden Entscheidungsprozess.58 Unter dem Grundgesetz sind rechtsstaatliche Gesetzesbindung und -anwendung sowie demokratische Legitimation demnach eng miteinander verzahnt.59 Es gibt aus dieser Perspektive kein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat, wie es in Debatten um mehr Bürgerbeteiligung zuweilen den Anschein hat. In der Allgemeinheit des Gesetzes spiegelt sich der grundsätzlich gleiche Rechtsstatus der Bürger bzw. Gesetzesadressaten.60 Um diesem Anspruch zu genügen, müssen die Gesetze nicht nur den Anforderungen der Verfassung, insbesondere dem allgemeinen Gleichheitssatz, entsprechen, sondern darüber hinaus auch einen befriedenden Interessenausgleich ermöglichen. Denn innerhalb des verfassungsrechtlich eröffneten Gestaltungsspielraums ist es vor allem Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers, solche Lösungen zu finden, die ein friedliches und produktives Zusammenleben und Zusammenwirken61 der Bürger ermöglich. Dies kann abstrakt auch mit dem Begriff der Integrationsleistung des allgemeinen Gesetzes umschrieben werden.
57 Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl. 2002, S. 22 ff.; bezogen auf die Ausrichtung am Gemeinwohl auch G. Kirchhof (Fußn. 56), S. 95 ff. 58 Zu den verschiedenen Funktionen der Begründung von Entscheidungen siehe Kischel, Die Begründung, 2003, S. 39 ff. und S. 106 ff. (zur Ableitung von Begründungspflichten aus dem demokratischen Prinzip). 59 Zu Vermittlung demokratischer Legitimation durch das Parlamentsgesetz siehe Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24, Rn. 21 f. – „sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation“. 60 G. Kirchhof (Fußn. 56), S. 114 ff. 61 Jede Gesellschaft ist auf die „Produktion“ von wirtschaftlichen und sozialen Gütern angewiesen. Der soziale Friede erhöht die Produktivität, da sich alle Mitglieder auf die Erbringung ihres Beitrags konzentrieren können und keine bzw. weniger Energien für die Konfliktbewältigung verwendet werden müssen.
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b) Begründungsanforderungen im Gesetzgebungsverfahren Die damit knapp umschriebenen hohen Ansprüche, die im demokratischen Verfassungsstaat62 an ein Gesetz und seine Wirkungen gestellt werden, setzen eine intensive Beschäftigung nicht nur mit den zugrunde liegenden Sach- und Rechtsfragen, sondern auch mit den möglichen Folgen des Gesetzesvollzuges voraus. Die Gesetzesfolgenabschätzung ist deshalb nach heutigem Verständnis ein wichtiger und unverzichtbarer Bestand verantwortungsbewußter Gesetzgebung.63 Ob ein Gesetz diesen Anforderungen entspricht, lässt sich nicht am nackten Normtext ablesen. Es ist Aufgabe der Gesetzesvorbereitung und -begründung, die entsprechenden Informationen und abwägenden Überlegungen und Wertungen zu vermitteln. Damit ist die Frage angesprochen, welche konkreten verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Anforderungen insoweit zu stellen sind. Bevor dieser Frage nachgegangen wird, bedarf es indes noch einiger terminologischer Klärungen. So ist strikt zwischen der nach § 76 Abs. 2 GO BT erforderlichen Begründung eines Gesetzentwurfs, der in den meisten Fällen von der Bundesregierung bzw. der Ministerialverwaltung ausgearbeitet wird64, und der sachlichen Begründung bzw. Rechtfertigung des letztlich verabschiedeten Gesetzes zu unterscheiden. Die Begründung des Gesetzentwurfs gehört zwar zusammen mit den Protokollen der Plenardebatten und den Ausschussprotokollen zu den Materialien, die bei der Auslegung des Gesetzes herangezogen werden können und müssen.65 Sie gibt aber nicht notwendigerweise und nicht in allen Punkten – wenn es zu Änderungen des Gesetzestextes im parlamentarischen Verfahren kommt – den Standpunkt der gesetzgebenden Körperschaft, des Deutschen Bundestages, wieder.66 Eine zweite Klarstellung bezieht sich auf Unterscheidung zwischen einem formellen Verständnis von Begründung, bei dem – wie bei der Begründung des Gesetzentwurfs – die Begründung schriftlich67 im Zusammenhang mit dem Gesetz fixiert wird, und einer materiellen
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Zu diesem spezifischen Zusammenhang G. Kirchhof (Fußn. 56), S. 258 ff. Dazu näher Kahl, Gesetzesfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsprüfung, in: Kluth/ Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2011, § 13, Rn. 6 ff.; Schulz, DÖV 2009, 1113 ff. 64 Zu Einzelheiten Maaßen, Gesetzesinitiativen der Bundesregierung, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung, 2011, § 8, Rn. 13 ff. Allgemein zum Initiativrecht Schürmann, Grundlagen und Prinzipien des legislatorischen Einleitungsverfahrens nach dem Grundgesetz, 1987. 65 BVerfGE 105, 135 (177 f.); Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band I: Grundlagen Öffentliches Recht, 9. Aufl. 2004, S. 84 ff. 66 Das hängt auch damit zusammen, dass es in der Regel durchaus mehrere und verschiedene Gründe für die Zustimmung zu einer Regelung geben kann. 67 Für das Verwaltungshandeln folgt unter anderem aus § 39 Abs. 1 VwVfG, dass eine Begründung grundsätzlich auf das schriftliche Handeln begrenzt ist. Es besteht aber nach § 37 Abs. 2 VwVfG ein Anspruch auf schriftliche Bestätigung eines mündlich erlassenen Verwaltungsaktes auf den sich dann auch die Begründungspflicht erstreckt. Zu Einzelheiten Kischel 63
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Begründung, also den Sachgründen, die dem Gesetzesbeschluss zugrunde liegen und die in den Verhandlungen in Plenum und Ausschüssen (öffentlich wahrnehmbar68) geäußert wurden. In der verfassungsrechtlichen Diskussion wird wohl überwiegend von einem ausschließlich formal geprägten Verständnis von Gesetzesbegründung ausgegangen69 und damit dem Motto gefolgt: der Gesetzgeber schuldet das Gesetz und nichts als das Gesetz.70 Diese Argumentation kann sich zwar darauf berufen, dass aus dem Wortlaut der Art. 76 ff. GG oder allgemeinen Verfassungsprinzipien71 ein formales Begründungserfordernis nicht abgeleitet werden kann. Dieser Befund entspricht insoweit der parlamentarischen Praxis, als in dieser nach dem Gesetzesbeschluss kein textlich zusammenhängende Darstellung der für die getroffene Regelung maßgeblichen Erwägungen verfasst wird, wie dies z. B. bei Rechtsverordnungen72 oder Satzungen73 der Fall ist, wenn diese begründet werden müssen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich unterschiedliche Aussagen zu einer Begründungspflicht von Parlamentsgesetzen ableiten. Dabei wird durchweg von einem über das rein formale Begründungserfordernis hinausgehenden Verständnis ausgegangen. Es geht also (lediglich) darum, dass sich aus den (Fußn. 58), S. 237 ff., dort auch S. 251 ff. zu den besonderen Regelungen des Prüfungsrechts in Bezug auf mündliche Prüfungen. 68 Eine solche öffentliche Wahrnehmbarkeit ist im Ergebnis auch gegeben, wenn die Protokolle von nichtöffentlichen Sitzungen zeitnah öffentlich zugänglich gemacht werden, wie dies bei den grundsätzlich nichtöffentlichen Ausschusssitzungen von Bundestag (§ 69 Abs. 1 GO BT) und Bundesrat (§ 37 Abs. 2 GO BR) der Fall ist, nicht aber bei den Sitzungen des Vermittlungsausschusses, die erst in der dritten Wahlperiode nach der betreffenden Sitzung zugänglich gemacht werden, BVerfGE 125, 104 (124). 69 Stellvertretend aus der neuen Literatur Hebeler, DÖV 2010, 754 ff.; Waldhoff, in: FS Isensee, 2007, S. 325 ff.; Kischel (Fußn. 58), S. 260 ff. jeweils m.w.N. Kritisch und mit der Tendenz zu einer Begründungspflicht Erbguth, JZ 2008, 1038 ff.; Groß, DÖV 2006, 856 (860). Für eine allgemeine Begründungspflicht Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987. Siehe auch Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 516 ff. 70 Die Formulierung geht zurück auf Geiger, Gegenwartsprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit aus deutscher Sicht, in: Berberich/Holl/Maaß (Hrsg.), Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141), und lautet im Original: „Der Gesetzgeber schuldet den Verfassungsorganen und Organen im Staat, auch den Verfassungsgerichten, nichts als das Gesetz. Er schuldet ihnen weder eine Begründung noch gar die Darlegung aller seine Motive, Erwägungen und Abwägungen.“ 71 Insoweit wird u. a. auf das demokratische Prinzip abgestellt, siehe die Ausführungen bei Kischel (Fußn. 58), S. 106 ff. 72 Zur einfachgesetzlichen Begründungspflicht von Rechtsverordnung siehe eingehend Trips, Das Verfahren der exekutiven Rechtsetzung, 2006, S. 195 ff. Zum verfassungsrechtlichen Diskussionsstand Kischel (Fußn. 58), S. 305 ff.; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Band 2, 2. Aufl. 2006, Art. 80, Rn. 46. Zum Einfluss des Parlaments auf Rechtsverordnungen siehe Uhle, Parlament und Rechtsverordnung, 1999. 73 Ein praktisch besonders bedeutsamer Fall der Begründungspflicht beim Erlass von Satzungen stellt der Bebauungsplan dar, vgl. § 9 Abs. 8 BauGB.
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Gesetzesmaterialien mit ausreichender Bestimmtheit die Sachgründe für die getroffene Regelungen herleiten lassen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Erhebung einschlägiger Judikate kann als Beleg für eine Negierung einer solchen Begründungspflicht auf eine Entscheidung zum Länderfinanzausgleich Bezug genommen werden, in der das Gericht ausdrücklich eine Pflicht zur Angabe der Gründe, die zu dem im Gesetz verankerten Wert geführt haben, verneint hat.74 Geradezu das Gegenteil liest man in einer später getroffenen Entscheidung, die sich ebenfalls auf den Finanzausgleich bezieht und bestimmte einseitige Belastungen nur dann für verfassungsrechtlich zulässig hält, wenn dafür eine Begründung gegeben wird.75 Für eine solche Pflicht des Gesetzgebers, die Gründe seiner Entscheidung offen zu legen, lassen sich viele weitere Belegstellen anführen, die von Klassikern wie dem Apothekenurteil76 über die inzwischen in der Sache korrigierte Entscheidung zu den Obergrenzen der Belastung mit Einkommens- und Gewerbesteuer77 bis zu den unlängst ergangenen Entscheidungen zur Pendlerpauschale78 und zur Bestimmung des Existenzminimums von Kindern79 reichen. Eine Analyse dieser Rechtsprechung lässt erkennen, dass es dem Gericht nicht um die abstrakte Statuierung einer Begründungspflicht geht, sondern auf die Begründung immer dann besonders abgehoben wird, wenn in Grenzbereichen besondere Belastungen und vor allem Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen sind und es deshalb einer Überprüfung von Abwägungs- und Vergleichsentscheidungen bedarf. Da das Bundesverfassungsgericht in diesen Verfahren nicht seine eigene Entscheidung an die Stelle der Entscheidung des Gesetzgebers setzt, ist es auf eine Kenntnis derjenigen Kriterien und Gründe angewiesen, die den Gesetzgeber bei seiner Entscheidung geleitet haben, damit diese auf ihre Vertretbarkeit und Plausibilität hin überprüft werden können. Es geht damit um eine allgemeine Gerechtigkeitskontrolle im weiten Bereich pluraler Plausibilitäten, wie sie vor allem die sozialer Gestaltung häufig anzutreffen sind.80 Eine solche Kontrolle setzt ein Mindestmaß an Rationalität gesetzgeberischen Handelns81 voraus, das sich aus der Begründung der getroffenen Entscheidung ableiten lässt und auf seine Folgerichtigkeit oder plausible Sachangemessenheit hin überprüft werden kann.82 74
BVerfGE 86, 148 (241). BVerfGE 101, 158 (224 f.). 76 BVerfGE 7, 377 (411 f.). 77 BVerfGE 115, 97 (116). In dieser Entscheidung nutzt das Gericht die Begründungspflicht als Ersatz für fehlende materielle Maßstäbe bei der Begrenzung der Steuerlast. 78 BVerfGE 122, 210 (236 f.) – hier stellt das Gericht auf eine sachlich nicht ausreichende Begründung ab und verlangt insoweit mittelbar eine solche Begründung. 79 BVerfG, NJW 2010, 505 (514). Siehe weiterhin BVerfGE 79, 311 (345); 93, 121 (148); 108, 1 (19) sowie die bei Hebeler, DÖV 2010, 754 (756 ff.) angeführten Beispiele. 80 Dazu näher Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, 2010, S. 222 ff. 81 Dazu vertiefend Schulze-Fielitz (Fußn. 69), S. 523 ff. 82 Dazu grundlegend Paul Kirchhof, in: Josef Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VIII, 3. Aufl. 2010, § 181, Rn. 209 ff. mit Nachweise zur Rechtsprechung. Früher 75
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Es bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner abschließenden Klärung, ob und in welchem Umfang der Gesetzgeber seine Entscheidungen begründen muss. Als anerkannten, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründeten und methodisch nachvollziehbaren Standard kann man aber jedenfalls annehmen, dass vor allem dort, wo es um Abwägungen und Ungleichbehandlungen in Grenzbereichen geht, der Rückgriff auf eine Begründung Voraussetzungen einer rationalen verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist und deshalb geschuldet wird.83 Das bedeutet aber zugleich, dass die Gründe erkennbar und damit offen zugänglich sein müssen. Daran bestehen Zweifel, wenn das Ergebnis im Vermittlungsausschuss als der Dunkelkammer des Gesetzgebungsverfahrens zustande gekommen ist. Abgerundet werden kann dieser Gedanke mit einer Bezugnahme auf die vielzitierte Formulierung, die Immanuel Kant in seinen Überlegungen „Zum ewigen Frieden“ vorgetragen hat und die auch das Verständnis über die Bedeutung der Öffentlichkeit parlamentarischen Verhandelns entscheidend geprägt hat. Danach gilt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“84 Fortgeschrieben und bezogen auf das Gesetzgebungsverfahren bedeutet dies, dass die Gründe für eine gesetzgeberische Entscheidung öffentlich vorgetragen und erkennbar sein müssen, um als gerecht zu gelten. IV. Rechtsvergleichende Betrachtungen zur Begründungspraxis und zum Vermittlungsverfahren in der Rechtsetzung der Europäischen Union 1. Rechtsvergleichung mit der Europäischen Union? Bevor aus diesen allgemeinen Maßgaben ein Vorschlag für eine publizitätsfreundlichere Ausgestaltung des Vermittlungsverfahrens abgeleitet wird, soll in einem Zwischenschritt zum Zweck der Inspiration ein Blick auf die Rechtsetzung in der Europäischen Union erfolgen, die in besonderem Maße durch Transparenz in Gestalt von Begründungspflichten und Öffentlichkeit geprägt ist.85 Vor einer solchen Bezugnahme muss jedoch die methodische Vorfrage angesprochen werden, ob und inwieweit die Rechtsetzung der Europäischen Union, die sich in einem deutlich anderen institutionellen Rahmen vollzieht, mit der Gesetzgebung nach dem Grundgesetz verglichen werden kann. Bereits der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht in Frage stellt, dass es sich beim Europäischen Parlament überwurde auch von Systemgerechtigkeit (siehe dazu Franz-Josef Peine, Systemgerechtigkeit, 1985) gesprochen, doch wurde diese Redeweise wegen des damit verbundenen überzogenen Anspruchs durch die weniger anspruchsvolle Formulierung der Folgerichtigkeit ersetzt. 83 Zur Wechselwirkung zwischen Begründung und Fremdkontrolle siehe auch Kischel (Fußn. 58), S. 48 ff. 84 Kant, Zum ewigen Frieden, 1795, Anhang, A 92 f. 85 Dazu näher Bröhmer (Fußn. 46), S. 319 ff.; Müller-Ibold, Die Begründungspflicht im europäischen Gemeinschaftsrecht und im deutschen Recht, 1990.
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haupt um ein Parlament handelt86 macht deutlich, dass es dabei durchaus um Grundsätzliches geht. Unbestreitbare Unterschiede bestehen zwischen beiden Rechtsetzungsverfahren in Bezug auf den institutionellen Rahmen87 und die Subjekte des Verfahrens. Bei der Europäischen Union handelt es sich nicht um einen Staat88 und in ihr ist auch nicht das Parlament das Hauptrechtsetzungsorgan, wie es auf den Deutschen Bundestag nach dem Grundgesetz zutrifft. Die Rechtsetzung in der Europäischen Union ist heute aber im Unterschied zu den Anfangszeiten und anders als bei den meisten übrigen Internationalen Organisationen als Mitentscheidungsverfahren – das nunmehr auch als ordentliches Gesetzgebungsverfahren bezeichnet wird89 – von Rat und Europäischem Parlament ausgestaltet.90 In dieser Konstellation wirken Rat und Europäisches Parlament gleichberechtigt am Zustandekommen der Rechtsakte mit. Die Rechtsakte selbst, insbesondere die Verordnungen und Richtlinien nach Art. 288 Abs. 2 und 3 AEUV, sind als allgemeine Gesetze zu qualifizieren, so dass im Hinblick auf die Substanz der getroffenen Regelungen kein Unterschied besteht.91 Eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen beiden Konstellationen der Rechtsetzung kann auch insoweit festgestellt werden, als sich ein direkt gewähltes Organ (EP) und ein aus Regierungsvertretern gebildetes Organ (Rat) gegenüberstehen. Natürlich sind auch gewichtige Unterschiede nicht zu übersehen. So gibt es zwischen der Mehrheit im Europäischen Parlament keine wirksame politische Verflechtung zum Rat, da sich dessen Verhalten nur sehr begrenzt parteipolitischen Ausrichtungen zuordnen lässt. Es fehlt deshalb auch an den für das Verhältnis von Deutschem Bundestag und Bundesrat typischen politischen Verflechtungen. Dieser Unterschied erweist sich aber auch als Vorteil, wenn man in der politischen Verflechtung einen Nachteil sieht und deshalb nach Modellen sucht, die eine Entflechtung ermöglichen. Gerade vor diesem Hintergrund erweist sich der Blick auf das Zusammenwirken von Rat und Europäischem Parlament als hilfreich. Bevor auf das Vermittlungsverfahren nach Art. 294 Abs. 10 bis 14 AEUV eingegangen wird, sollen die Anforderungen an die Begründung von Rechtsakten untersucht werden.
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BVerfGE 123, 267 (373). Dazu Kluth, ZAR 2009, 329 (333 ff.). Zu seiner Entwicklung nach dem Vertrag von Lissabon Ruffert, EUR Beiheft 1/2009, 31 ff.; Dann, Die politischen Organe, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht 2. Aufl. 2009, S. 346 ff. 88 Zu dieser Debatte im Einzelnen von Bogdandy, Grundprinzipien, in: ders./Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht 2. Aufl. 2009, S. 36 ff. 89 Siehe Art. 289, 294 Abs. 1 AEUV. 90 Zum aktuellen Befund und zur Entwicklung des Mitentscheidungsverfahrens siehe näher Kluth, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 294 AEUV, Rn. 9. 91 Dazu vertiefend G. Kirchhof (Fußn. 56), S. 386 ff. 87
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2. Normative Vorgaben und Praxis der Begründung von Rechtsetzungsakten Durch den Vertrag von Lissabon wurden die Anforderungen an die Begründung von Rechtsakten, insbesondere von allgemeinen Gesetzen (also Verordnungen und Richtlinien) deutlich erweitert. Der neue Art. 296 Abs. 2 AEUV schreibt nun ohne Ausnahme vor, dass Rechtsakte mit einer Begründung zu versehen sind und auf die in den Verträgen vorgesehenen Vorschläge, Initiativen, Empfehlungen, Anträge oder Stellungnahmen Bezug nehmen. Diese Regelung knüpft direkt an Art. I-38 des Entwurfs des Verfassungsvertrags an92 und verallgemeinert die bis zu diesem Zeitpunkt nur für bestimmte Rechtsakte bestehende Begründungspflicht.93 Die sachliche Reichweite der Begründungspflicht erschließt sich indes erst dann vollständig, wenn Art. 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt wird, der genauere Anforderungen an die Begründung von Gesetzgebungsakten im Anwendungsbereich der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit enthält.94 Neben dem normativen Befund als solchem ist für den Vergleich von besonderem Interesse, welche Zwecke mit der Begründungspflicht und ihrer deutlichen Erweiterung durch den Vertrag von Lissabon verfolgt werden. Hier werden unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH zu älteren Begründungsvorschriften die Zwecke der Selbstkontrolle, der Transparenz bzw. informierenden Funktion sowie die Ermöglichung der Fremdkontrolle durch anderen Organe und den EuGH angeführt.95 An die Begründung von Normativakten werden dabei weniger weitreichende Anforderungen gestellt als bei Exekutivakten. Aus ihnen muss sich die allgemeine Zielsetzung ableiten lassen und es müssen für die Adressaten die Gründe für den Erlass des Rechtsaktes erkennbar sein. Zudem muss nach der Rechtsprechung des EuGH die Be92
Dazu Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), VerfEU, 2006, Art. I-38, Rn. 1 ff. Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 296, Rn. 3. 94 Der Artikel hat folgenden Wortlaut: „Die Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten werden im Hinblick auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit begründet. Jeder Entwurf eines Europäischen Gesetzgebungsakts sollte einen Vermerk mit detaillierten Angaben enthalten, die es ermöglichen zu beurteilen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten wurden. Dieser Vermerk sollte Angaben zu den voraussichtlichen finanziellen Auswirkungen sowie im Fall eines Europäischen Rahmengesetzes zu den Auswirkungen auf die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Rechtsvorschriften, einschließlich gegebenenfalls der regionalen Rechtsvorschriften, enthalten. Die Feststellung, dass ein Ziel der Union besser auf Unionsebene erreicht werden kann, beruht auf qualitativen und, soweit möglich, quantitativen Kriterien. Die Entwürfe von Europäischen Gesetzgebungsakten berücksichtigen dabei, dass die finanzielle Belastung und der Verwaltungsaufwand der Union, der nationalen Regierungen, der regionalen und lokalen Behörden, der Wirtschaftsteilnehmer und der Bürgerinnen und Bürger so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen.“ 95 Siehe dazu weiterführend und mit Nachweisen Calliess (Fußn. 93), Art. 296, Rn. 10 ff. Dies ist auch das Ergebnis der Auswertung der Rechtsprechung des EuGH durch Müller-Ibold (Fußn. 85), S. 80 ff. 93
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gründung substantiierter ausfallen, je größer der Entscheidungsspielraum des Organs ist.96 Auch Ausnahmen von generellen Regelungen bedürfen einer besonderen Begründung.97 Diese Anforderungen an die Begründung von Normativakten entsprechen in der Sache in auffälliger Weise den aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ableitbaren Kriterien an die Pflicht des Gesetzgebers zur Begründung seiner Entscheidungen. Der Rekurs auf das Unionsrecht verleiht der zuletzt wegen angeblich fehlender verfassungsrechtlicher Begründbarkeit kritisierten98 Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine starke argumentative Unterstützung, die letztlich auf elementare Rationalitätsanforderungen verweist, die in einer gewaltenteilenden und transparenten Verfassungsordnung an Normativakte in Bereichen mit großen Gestaltungsspielräumen zu stellen sind. Es ist deshalb mit guten Gründen vertretbar, diese Anforderungen aus den Verfassungsprinzipien der Gewaltenteilung, der Demokratie und des Rechtsstaats abzuleiten, wie es auch auf Unionsebene praktiziert und begründet wird.99 3. Genese und Struktur des Vermittlungsverfahrens zwischen Rat und Europäischem Parlament Nachdem festgestellt wurde, dass die Entscheidungs- und Konfliktsituation zwischen Europäischem Parlament und Rat im Mitentscheidungsverfahren strukturell mit der Situation zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat nach Anrufung des Vermittlungsausschusses im Falle eines zustimmungspflichtigen Gesetzes verglichen werden kann, liegt auch der Vergleich der verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen nahe. Der EU-Vermittlungsausschuss ist ebenfalls paritätisch zusammengesetzt. Das Vermittlungsverfahren ist über die Bestimmungen der Absätze 10 bis 12 hinaus in seinen Einzelheiten in Art. 67 f. GO EP sowie in Art. 7 Abs. 5 GO des Rates geregelt.100 Weitere Regelungen finden sich in einer interinstitutionellen Vereinbarung vom 25. 10. 1993 über die „Modalitäten für die Abwicklung der Arbeiten des in Artikel 189 b EG-Vertrag vorgesehenen Vermittlungsausschusses“.101 Die Beteiligung der Kommission ist in Absatz 11 geregelt und ihr ist die Rolle eines Vermittlers mit dem Ziel einer Einigung zugewiesen. All dies entspricht auch deshalb den deutschen Regelungen, weil der Vermittlungsausschuss nach Art. 77 Abs. 2 GG als Vorbild gedient hat.
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Calliess (Fußn. 93), Art. 296, Rn. 24 m.w.N.; ders., in: FS Götz, 2005, S. 239 (251 ff.). Calliess (Fußn. 93), Art. 296, Rn. 30. 98 Hebeler, DÖV 2010, 754 ff. 99 Calliess (Fußn. 93), Art. 296, Rn. 10; Bröhmer (Fußn. 46), S. 97 ff., 146 ff., 242 ff. 100 Mähring, JA 2000, 386 ff. 101 ABl. 1993, Nr. C 329/141. 97
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Die Beratungen des Vermittlungsausschusses erfolgen auf der Grundlage der Standpunkte des EP und Rates aus der zweiten Lesung. Ein unter Umständen inzwischen vorliegender geänderter Vorschlag der Kommission ist nach dem eindeutigen Wortlaut der Fassung des Absatzes 10 nach dem Vertrag von Lissabon formal nicht zu berücksichtigen; seine Berücksichtigung im Rahmen der Verhandlungen ist damit jedoch nicht ausgeschlossen. Für die Beratungen stehen nach Absatz 12 sechs Wochen ab Einberufung zur Verfügung. Die Praxis versteht unter Einberufung die erste Sitzung.102 Ziel der Beratungen ist die Einigung über einen gemeinsamen Entwurf für den betreffenden Rechtsakt. In der Praxis werden bereits vor der förmlichen Einberufung des Vermittlungsausschusses Sondierungsgespräche über mögliche Kompromisslinien geführt (informelle Triloge). Kommt es dabei zu einer Verständigung, so tagt der Vermittlungsausschuss nur einmal, um dieses Ergebnis zu bestätigen.103 Da die Einigung auf der Grundlage der Standpunkte aus der zweiten Lesung zu erfolgen hat, sind der Änderung durch der Vermittlungsausschuss Grenzen gesetzt. Er darf die Ausgangsbasis des Verfahrens nicht in Frage stellen und den Anwendungsbereich des vorgeschlagenen Rechtsaktes nicht grundlegend ändern.104 Innerhalb dieses Rahmens ist auch die Aufnahme neuer Regelungselemente zulässig. Diese müssen aber der Lösung eines Streitpunktes dienen.105 Unzulässig ist die Aufnahme von Regelungen, die erkennbar der Durchsetzung von Vorstellungen dienen sollen, für die im bisherigen Verfahren die erforderlichen Mehrheiten fehlten oder sich auf andere Rechtsetzungsvorhaben beziehen.106 Die Entscheidung muss mit der qualifizierten Mehrheit der im Vermittlungsausschuss versammelten Mitglieder des Rates und der Mehrheit der Vertreter des EP erfolgen. Wird binnen sechs Wochen kein gemeinsamer Entwurf gebilligt, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt gem. Absatz 12 als nicht erlassen. Im Vermittlungsausschuss ist für die Annahme eines Einigungsvorschlags gem. Absatz 10 die Mehrheit der Mitglieder des EP im Ausschuss und der qualifizierten Mehrheit der Vertreter des Rates im Ausschuss erforderlich. Wird ein gemeinsamer Entwurf verabschiedet, so wird gem. Absatz 13 innerhalb von sechs Wochen eine dritte Lesung des EP und des Rates durchgeführt, um den betreffenden Rechtsakt entsprechend dem gemeinsamen Entwurf zu erlassen. An dieser Stelle des Verfahrens gibt es nun einen wesentlichen Unterschied zum Verfahren nach Art. 77 Abs. 2 GG. Nach Art. 69 Abs. 2 GO EP107 wird zu Beginn der 102
Rutschmann, Der europäische Vermittlungsausschuß, 2002, S. 120. Hetmeier, in: Lenz/Borchardt, Kommentar nach dem Vertrag von Lissabon, 5. Aufl. 2009, Art. 294, Rn. 16. 104 EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 46 ff. (IATA). 105 Hetmeier (Fußn. 103), Art. 294, Rn. 19. 106 EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 62 f. (IATA). 107 Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut: „(1) Wird im Vermittlungsausschuss eine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf erzielt, so wird der Gegenstand auf die Tagesordnung 103
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Lesung eine Erklärung zu dem gemeinsamen Entwurf abgegeben, dem ein Bericht beigefügt wird. Dadurch werden den Abgeordneten die Gründe für den gefundenen Kompromiss offenbart und auf dieser Grundlage eine Beratung im Plenum ermöglicht. Wie im Verfahren nach der GOVA ist eine Abänderung des vorgelegten Entwurfs auch im Europäischen Parlament nicht mehr möglich. Dabei reicht im EP die Mehrheit der abgegebenen Stimmen während eine im Rat eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Nimmt eines der beiden Organe den Rechtsakt in der Frist nicht an, so gilt er als nicht erlassen. 4. Vorzüge des Verfahrens Das in seinen Grundzügen identische Verfahren hat den entscheidenden Vorteil, dass durch die Erklärung über die Beweggründe des Einigungsvorschlags die Grundlage für eine echte Beratung durch die Abgeordneten eröffnet wird. Auch wenn dabei aus nachvollziehbaren systematischen Gründen Änderungen ausgeschlossen sind, wird durch diesen kleinen Unterschied eine erhebliche Veränderung der Qualität des Zustimmungsvorgangs erreicht. Diese ist ihrerseits die Basis dafür, die Gestaltungsspielräume des Vermittlungsausschusses zu erweitern und auf die Fiktion einer Vorwegnahme der parlamentarischen Beratung in den vorgelagerten Lesungen zu verzichten. V. Übernahme der EU-Regelung für das deutsche Vermittlungsverfahren Es gehört zu den Erfahrungen von Rechtsexport und Rechtsvergleichung, dass sich die exportierten Normen in einem anderen Umfeld nicht selten fortentwickeln und dabei an Qualität gewinnen. Dieses im Rahmen rechtsvergleichender Untersuchungen immer wieder anzutreffende Phänomen sollte den Exporteur durchaus zur Nachahmung anregen. Bezogen auf das Vermittlungsverfahren erscheint mir der Rezeptionsvorgang durch die Europäische Union durchaus geeignet, einen solchen Lernprozess anzuregen und die Übernahme der in Art. 69 Abs. 2 GO EP getroffenen Regelungen für das Vermittlungsverfahren vorzuschlagen, um auf diese Weise die Transparenz der im Vermittlungsverfahren beschlossenen Einigung zu erhöhen, sondern auch die anfür eine Plenarsitzung des Parlaments gesetzt, die innerhalb von sechs oder, im Falle einer Verlängerung, acht Wochen vom Zeitpunkt der Annahme durch den Vermittlungsausschuss an stattfindet. (2) Der Vorsitz oder ein anderes dazu bestimmtes Mitglied der Delegation des Parlaments im Vermittlungsausschuss gibt eine Erklärung zu dem gemeinsamen Entwurf ab, dem ein Bericht beigefügt wird. (3) Zu dem gemeinsamen Entwurf können keine Änderungsanträge eingereicht werden. (4) Der gemeinsame Entwurf insgesamt ist Gegenstand einer einzigen Abstimmung. Für die Annahme bedarf es der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. (5) Wird im Vermittlungsausschuss keine Einigung über einen gemeinsamen Entwurf erzielt, so gibt der Vorsitz oder ein anderes dazu bestimmtes Mitglied der Delegation des Parlaments im Vermittlungsausschuss eine Erklärung ab. Auf diese Erklärung folgt eine Aussprache.“
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schließende Lesung im Deutschen Bundestag in die Qualität einer echten parlamentarischen Verhandlung zu erheben. Konkret würde dies bedeuten, dass der Vermittlungsausschuss neben dem Einigungsvorschlag auch eine diesen begründende Erklärung verfassen und verabschieden müsste, die den Abgeordneten des Deutschen Bundestages vor der erneuten Befassung mit dem Gesetzentwurf und dem Einigungsvorschlag nach Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG zur Kenntnis zu bringen ist. Auf der Grundlage von Einigungsvorschlag und Begründung ist sodann eine Lesung durchzuführen, in der über den Einigungsvorschlag eine Aussprache erfolgen kann. Zwar sind dabei Änderungen ausgeschlossen. Es handelt sich aber gleichwohl um eine echte parlamentarische Beratung, die in ihrem Wert nicht hinter den Beratungen zur Umsetzung von völkerrechtlichen Verträgen nachsteht, bei denen ebenfalls Änderungen ausgeschlossen sind.108 Neben der verfahrensrechtlichen Änderung wäre damit die Grundlage für eine Neubestimmung des inhaltlichen Gestaltungsspielraums im Vermittlungsverfahren verbunden. Es müsste nicht mehr alleine auf die vorgelagerten Beratungen im Deutschen Bundestag abgestellt werden mit der Folge, dass in diesen Prozess zur Vorbereitung des Vermittlungsverfahrens Änderungsvorschläge vorsorglich eingespeist werden müssen. Durch die Ermöglichung der Aussprache über den begründeten Einigungsvorschlag reicht es vielmehr aus, dass sich die Änderungen im thematischen Rahmen des ursprünglichen Gesetzentwurfs halten und über sie beraten wird. Dass dabei nur eine binäre Entscheidungslogik zur Verfügung steht, liegt in der Natur der Sache und schmälert nicht den Wert der parlamentarischen Befassung. VI. Ausblick Wolf-Rüdiger Schenke hat auf die fehlende Transparenz in der Dunkelkammer des Vermittlungsausschusses mit der Forderung nach einer Begrenzung der Mitwirkungsrechte des Bundesrats im Gesetzgebungsverfahren reagiert. Diese Forderung konnte sich gegen die starken parteipolitischen Interessen an diesem zentralen Instrument der Einflussnahme der Opposition auf die Bundesgesetzgebung nicht durchsetzen. Deshalb ist es an der Zeit, die Lösung des Problems durch eine Erhöhung der Transparenz dieses Entscheidungsprozesses zu suchen. Die vorstehenden Überlegungen sollten zeigen, dass es dazu weder der Abschaffung des Vermittlungsverfahrens noch der Einführung öffentlicher Sitzungen bedarf. Notwendig ist vielmehr die Ermöglichung einer parlamentarischen Aussprache im Deutschen Bundestag über einen begründeten Einigungsvorschlag des Vermittlungsausschusses. Dieses kann 108 Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Gesetzgebung nach Art. 59 Abs. 2 GG als „Mitwirkung an einem Regierungsakt“ (BVerfGE 68, 1 [84 ff.]), ohne damit den genuinen Wert der demokratischen Legitimation in Frage zu stellen, die durch diese Mitwirkung gesichert wird. Dies wird noch deutlicher bei der in vielen Fällen materiell verfassungsändernden Mitwirkung des Deutschen Bundestages im Rahmen des Art. 23 GG, der einen absoluten Parlamentsvorbehalt begründet. Dazu näher Hufeld, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.), Systematischer Kommentar zu den Lissabon Begleitgesetzen, 2011, S. 26.
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durch eine entsprechende Änderung des Art. 77 Abs. 2 S. 5 GG erreicht werden, indem dort formuliert wird: „Schlägt der Ausschuss eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vor, so ist dieser Vorschlag zusammen mit einer Begründung dem Bundestag zuzuleiten und dort über die Zustimmung nach Aussprache Beschluss zu fassen.“
„Wir sind das Volk!“ – oder: Wie demokratisch ist die direkte Demokratie? Von Peter Cornelius Mayer-Tasch „Wir sind das Volk!“ Wie wir wissen, war dies die Parole, mit der in vielen Städten der ehemaligen DDR eine große Anzahl systemkritischer Bürger auf die Straße ging, um letztlich eine Wiedervereinigung mit der – als Land der Freiheit und des Wohlstands gesehenen – BRD zu erzwingen. Die Parole „Wir sind das Volk“ schien, soziologische gesehen, fast eine Selbstverständlichkeit zu sein, wenn man von der (keineswegs lupenreinen) Ubiquität dieser Protestbewegung einmal absehen will. Politikwissenschaftlich gesehen freilich war dies eine durchaus nicht selbstverständliche Wiederermächtigungsformel, zumal die Betonung unverkennbar auf dem „Wir“ lag. Was sich da auf den Straßen und Plätzen lautstark und entschieden artikulierte, war die Zurückweisung eines wenn nicht theoretischen, so doch faktischen Alleinvertretungsanspruchs von Partei- und Staatsführung – die Zurückweisung eines Demokratieverständnisses also, das Volksherrschaft als mehr oder minder vage Legitimationsformel für Diejenigen verstand, die den Volkswillen zu vertreten beanspruchten, ohne dem Volk die echte Möglichkeit zu geben, diesen Anspruch zu widerlegen. Als „demokratisch“ aber hatte sich auch dieser Staat in seiner offiziellen Bezeichnung erklärt – als „deutsche demokratische Republik“. Auch dann also, wenn man von der politischen Komponente einer partiellen Klassenherrschaft dieses angeblichen „Arbeiter- und Bauernstaats“ (in dem den Söhnen des einstigen gehobenen Bürgertums lange Zeit keine Möglichkeit eingeräumt wurde, ein akademisches Studium zu ergreifen) einmal absieht, gab es mithin Grund genug, in der Protestparole das „Wir“ hervorzuheben. Die DDR gibt es nun schon seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr. Längst wurde sie vom großen Atem der Geschichte hinweggefegt. Zu dessen Rhythmen freilich gehört nicht zuletzt die sich bald lethargisch entfaltende, bald rastlos stürmende Dialektik eines soziopolitischen Wir-da-unten – Ihr-da-oben. Und wer glaubt, dass die sich unmittelbar vor der Wiedervereinigung in der ehemaligen DDR lautstark artikulierenden Dissonanzen die Ausnahme, ein harmonisches Mit- und Ineinander aber die Regel darstelle, der braucht sich nur weltweit umzusehen. Und er braucht auch nicht weit zu gehen, um Derartiges im eigenen Lande zu beobachten. Nur wenige Monate nachdem der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber nicht zuletzt wegen seines „einsamen“ Regierungsstils gestürzt worden war, erklärte der in den eigenen Reihen zunehmend auf Kritik stoßende frühere SPDVorsitzende Kurt Beck allen Ernstes: „Die SPD muss begreifen, dass Führen in der
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Demokratie bedeutet: Einer führt, und die anderen wollen geführt werden. Da kann man nicht gleichzeitig gegen alles opponieren“ (LT v. 25.9.08). Dass auch er scheitern musste, dürfte niemanden erstaunt haben. Und dies, obwohl selbst in diesem – unter den Vorzeichen einer demokratisch inspirierten politischen Kultur kaum akzeptablen – Diktum mehr als nur ein Körnchen Wahrheit steckt. Es verweist nämlich auf ein Faktum, auf das schon Aristoteles in seiner Politik aufmerksam gemacht hat – auf das Desinteresse Vieler nämlich an der Übernahme von politischer Verantwortung. Der Soziologe Arnold Gehlen war es, der von der Entlastungsfunktion von Institutionen sprach. Und auch in sog. demokratischen Systemen kommt Führungsinstitutionen und Führungsfunktion eine Entlastungswirkung zu – jedenfalls für Diejenigen, die weder zu den amtierenden Machteliten noch zu den an politischer Mitwirkung interessierten potentiellen Gegeneliten zählen. Nicht zuletzt das bei vielen Bürgern beobachtbare Interesse an Entlastung sorgt auch in Gesellschaften von vergleichsweise hohem Wohlstands- und Bildungsniveau dafür, dass die indirekte und nicht die direkte Form der Volksherrschaft wenn nicht allgemeine, so doch weitgehende Billigung findet. In der indirekten oder repräsentativen Demokratie wird der Volkswille von den Repräsentanten nicht etwa wiedervergegenwärtigt (wie der insoweit verfehlte Begriff suggeriert) sondern überhaupt erst kreativ vergegenwärtigt, da er ja zuvor eben gerade noch nicht – oder allenfalls schemenhaft – gegenwärtig ist. Es dürfte wenige Repräsentativentscheidungen geben, die zuvor schon (wenn auch noch nicht in kollektiver Artikulation) gewissermaßen gegenwärtig sind – das Interesse an Steuersenkungen vielleicht oder das Desinteresse an einem erhöhten Afghanistan-Engagement der Bundeswehr. Und oft genug werden Repräsentativentscheidungen gegen den unverkennbaren Willen der Mehrheit des Volkes getroffen. Die Entscheidung für die Aufgabe der D-Mark etwa war eine solche, von zahllosen Bürgern auch heute noch bedauerte, Entscheidung. Die Parole „Wir sind das Volk“ kann im Rahmen einer indirekten oder repräsentativen Demokratie in der Regel nur in sehr rudimentärer Weise zum Ausdruck gebracht werden – zuvörderst in Wahlen nämlich. Und hier mag es dann ab und an eine deutliche Intonation des „Wir-Gefühls“ geben, ein Auftrumpfen gegenüber Jenen, die zuvor allzu selbstherrlich ihren Allein- oder Hauptvertretungsanspruch zum Ausdruck gebracht hatten. Die letzten bayerischen und baden-württembergischen Landtagswahlen dürften in einem solchen Zusammenhang gesehen werden. Zuweilen führt ein solches Auftrumpfen dann tatsächlich zu sog. Erdrutschsiegen oppositioneller Parteien. Zu sehr viel mehr „Demokratie“ führen solche Trotzreaktionen allerdings selten. Zumeist kommt es bald nach solchen Ereignissen zu einem politischen business as usual. Nur dass eben jetzt der – sagen wir einmal – Hauptvertretungsanspruch einer politischen Gruppierung durch den Hauptvertretungsanspruch einer anderen abgelöst wird. Und auch inhaltlich ändert sich zumeist wenig, da die – weitestgehend auf das Ziel des Wählerfangs ausgerichtete und sich deshalb auch auf ein multilaterales catch-as-catch-can konzentrierende – Wahlrhetorik zumeist schon sehr bald von der „normativen Kraft des Faktischen“ eingeholt oder auch über-
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holt wird. Und dies umso mehr, als die Macht der Politik, die Lebensverhältnisse zu gestalten, ohnedies zumeist völlig überschätzt wird (und die Repräsentanten oder Möchtegern-Repräsentanten auch im Interesse der Machtgewinnung oder des Machterhalts alles nur Mögliche tun, um dieser Überschätzung Vorschub zu leisten). Die Implikationen und Konsequenzen der gegenwärtigen Welt-Finanzkrise illustriert diesen Sachverhalt deutlich genug. Welche parteipolitisch und parteipolemisch gewürzten rhetorischen Steuersenkungsberge mussten etwa kreißen, um das Steuerentlastungsmäuslein einer Erhöhung des Freibetrags von 7660 auf noch nicht einmal 8000 Euro und einer Senkung des Eingangssteuersatzes von 15 % auf 12 % zu gebären! Symbolische Politik ohne Ende, bei der – nebenbei bemerkt – eine innige Kollusion zwischen den um den Allein-, Haupt- oder Mitvertretungsanspruch buhlenden und ringenden Prätendenten und den die rhetorischen Arabesken dieses Buhlens und Ringens in tausenderlei Gestalt zu eigenem Nutz und Frommen vermarktenden Medien zu beobachten ist. Je nach Einsichtsfähigkeit, Blickwinkel und Temperament mag man diesen Aspekt der Politik mit einer Haltung von moralischer Distance, zynischem Verve oder auch kühlem Gleichmut als Ausdruck eines sozialdarwinistischen survival of the fittest betrachten. Und dieses survival of the fittest, zu dem sämtliche von Niccolo Machiavelli im Principe genannten Komponenten des politischen Machtgewinnungs- und Machterhaltungsprozesses (außer der virt¾ also auch die qualit dei tempi, die occasione und die Gunst der fortuna) zählen, ereignet sich natürlich nicht nur im Rivalitätskampf der politischen Gruppierungen, sondern im Vorfeld auch innerhalb der um die Vertretungsmacht kämpfenden Gruppierungen – im Zeichen dessen also, was man euphemistischerweise als innerparteiliche Demokratie zu bezeichnen pflegt. All dies (und noch vieles mehr, was zu der Komplexität unserer Parteien-, Verbände- und Verwaltungsstaatlichkeit zu sagen wäre, wenn es nicht den Rahmen eines Artikels sprengen würde) ist mit zu bedenken, wenn man den Kernsatz der bundesrepublikanischen Volksstaatlichkeit zur Kenntnis nimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. So steht es in Art. 20 Abs. 2, S. 1 GG. Und diesem Satz ist auch schwerlich zu widersprechen. Schon bei der Lektüre von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 allerdings ist dann das bislang Gesagte mit zu bedenken, wenn es heißt: Sie (die Staatsgewalt) wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt. Die „Wahlen“ verweisen auf die Ermächtigungsmodalitäten der indirekten, die „Abstimmungen“ auf die Entscheidungsmodalitäten der direkten Demokratie. Während das Volk in der indirekten oder repräsentativen Demokratie also primär auf die theoretische Innehabung der Staatsgewalt verwiesen, deren Ausübung jedoch den in Wahlen benannten Repräsentanten überlassen ist, wird im Zeichen direkt-demokratischer Verfassungsformen das Volk auch durch Abstimmungen unmittelbar in politische Entscheidungsprozesse einbezogen. Diese Variante der unmittelbaren Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk wurde im Grundgesetz auf ein Mindestmaß begrenzt. Ein unmittelbares Mitspracherecht wurde der Stimmbürgerschaft nur im Hinblick auf die Neugliederung des Bundesgebietes eingeräumt, wie Art. 29 Abs. 1 GG zu entnehmen ist. Aktuell wäre Art. 29 GG bei der angestrebten, dann aber in der gleichzeitigen Volksbefragung
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vom 5. 5. 1996 am Votum Brandenburgs gescheiterten Vereinigung von Berlin und Brandenburg geworden, wenn dieser Fall nicht durch die lex specialis des Art. 18a GG geregelt worden wäre. Da es nach der deutschen Wiedervereinigung nur zu Neugründungen, nicht aber zu einer Neugliederung des Bundesgebietes kam, markiert Art. 29 GG nur noch eine Reminiszenz an die Frühzeit der Bundesrepublik. Dass das Grundgesetz keine weiteren Konkretisierungen des in Art. 20, Abs. 2, S.1 verankerten Grundsatzes ausdrücklich nennt, heißt nicht, dass der Bundesgesetzgeber nicht noch andere Anwendungsfälle begründen könnte – eine in der Rechtswissenschaft nicht völlig unbestrittene, nach dem Wortlaut des Grundgesetzes jedoch unabweisbare These. Da jedoch die Repräsentanten „die Bürger“ oder (neuerdings) „die Menschen“ zwar unaufhörlich im Munde führen, diese jedoch am liebsten als bloße „Wähler“ in ihr politisches Kalkül einbeziehen, führt diese Verfassungsoption ein bloßes Dornröschendasein. Ganz offensichtlich wird die potentiell unliebsame Entscheidungskompetenz und -konkurrenz der Stimmbürgerschaft von den Mehrheitsparteien aus unterschiedlichen Gründen gefürchtet, wobei Standardargumente wie der Hinweis auf die Unberechenbarkeit des Volkswillens in mancherlei Variationen vorgetragen werden. Und obwohl dem jeweiligen parteipolitischen Gegner oft mehr als nur Unberechenbarkeit unterstellt wird, bleibt man letztlich eben doch am liebsten unter sich – von den persönlichen Vorteilen einmal völlig abgesehen, die den Inhabern der politischen Entscheidungsgewalt eben doch auch zuzufließen pflegen. Zu politischem Leben erweckt werden könnte die direkt-demokratische Option des Grundgesetzes auf Bundesebene wohl nur, wenn demokratische Basisinitiativen wie etwa das Kuratorium „Mehr Demokratie e.V.“ bestimmenden Einfluss auf parlamentarische Mehrheiten gewinnen könnten, womit in absehbarer Zukunft schwerlich zu rechnen sein wird. Größere Bedeutung als auf der Bundesebene hat die direktdemokratische Dimension der Volksstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland auf Landes- und Gemeindeebene gewonnen. So kennen inzwischen alle Länderverfassungen – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – das Recht, ein Volksbegehren und (gegebenenfalls auch) einen Volksentscheid in die Wege zu leiten. Exemplarisch mag der Art. 74 Abs. 1 der Bayerischen Verfassung hervorgehoben werden: „Es ist ein Volksentscheid herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten den Antrag auf Erlass oder Änderung eines Gesetzes stellt.“ Zu den Erfordernissen dieses Verfahrens gehört allerdings ein aus dem Volke heraus vorgelegter, ausgearbeiteter Gesetzesentwurf. Auf dieser Ebene also besitzt das Volk ein Gesetzesinitiativrecht und die Gesetzgebungskompetenz. Zu erwähnen ist ferner die in §18 der Bayerischen Gemeindeordnung vorgesehene Bürgerversammlung, die zumindest einmal im Jahr vom Bürgermeister, dem Gemeinderat oder aus der Gemeinde heraus – unter der Voraussetzung eines Quorums allerdings – einberufen wird, und Empfehlungen an den Stadt- bzw. Gemeinderat aussprechen kann, die dieser binnen drei Monaten zu beraten hat. Größere Bedeutung erlangt haben auf kommunaler Ebene die ursprünglich nur in Baden-Württemberg gesetzlich eingeräumten, inzwischen aber – mit Ausnahme Berlins – in allen Bundesländern vorgesehenen Bürgerbegehren und Bürgerent-
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scheide. Deren Rahmenbedingungen freilich variieren erheblich von Land zu Land. Einen „Bürgerantrag“, mit dem verlangt werden kann, dass sich der jeweilige Gemeinderat mit einer bestimmten Angelegenheit zu befassen hat, kennt nur die Bayerische Gemeindeordnung. Obwohl die Quoren sehr unterschiedlich (und in einigen Ländern eher restriktiv) gefasst sind, zeigen die bisherigen Erfahrungen mit diesem „Mehr an Demokratie“, dass solche Empfehlungen und Anträge in vielen Fällen erheblich zur Verbesserung kommunaler Entscheidungen, zumindest aber zu einer Klarstellung des Bürgerwillens und damit auch oft zur Befriedung der „aufgewühlten Volksseele“ geführt haben. Dass nicht in allen europäischen Verfassungen mit derselben Konsequenz eine Entscheidung für die repräsentative Demokratie getroffen wurde – nicht nur die Schweiz, sondern auch Dänemark, Frankreich, Irland, Italien und Osterreich kennen den Volksentscheid –, wurde auch dem nicht staatsrechtlich gebildeten deutschen Bundesbürger spätestens offenbar als sich Dänemark in einer Volksabstimmung gegen die Einführung der Euro-Währung entschied und sich Frankreich, die Niederlande und auch Irland ebenfalls in Volksabstimmungen gegen die Annahme einer EUVerfassung entschieden. Zumeist jedoch sind die europäischen „Demokratien“ so verfasst, dass „das Volk“ de iure, zumindest aber (wie in Deutschland) de facto vom eigentlichen Prozess der Gesetzgebung und der Regierung ausgeschlossen bleibt. Die politische Willensbildung erfolgt durch Vermittlung der – die Wahlen weitgehend vorbereitenden und durchführenden – Parteien in den Organen der Gesetzgebung. Bei ihrer Tätigkeit in diesen Organen der Gesetzgebung können sich die gewählten Repräsentanten auf ein so genanntes freies Mandat berufen. Das Rechtsinstitut des freien Mandates bedeutet, dass die Repräsentanten sowohl von Weisungen der Partei, in deren Zeichen sie kandidieren, als auch von Weisungen ihrer – aufgrund des Prinzips der geheimen Wahl ohnedies nicht eindeutig bestimmbaren – Wählerschaft unabhängig sind (Art. 38 Abs. 1 5. 2 GG). Dass zumindest die Unabhängigkeit der Abgeordneten von den sie tragenden Parteien kaum mehr als ein frommer Wunsch sein kann, gehört zu den Grunderfahrungen der Politischen Soziologie. Aus der „Parteidisziplin“ ständig, mehrfach oder gar in einer für den Machtgewinn oder Machterhalt der jeweiligen Partei entscheidenden Frage ausscherende Abgeordnete werden bzw. würden kaltgestellt, hätten keine Chancen mehr auf einen parteiinternen Aufstieg oder müssten gar mit einem Parteiausschlussverfahren rechnen. Der ökologisch gesinnte spätere ÖDP-Gründer Herbert Gruhl hatte in den 70er-Jahren in der CDU keine Zukunft, die „Rebellin“ Pauli musste 2007 die CSU verlassen, dem für Atomenergie plädierenden früheren Wirtschaftsminister Clement und der nicht zur Wahllügnerin werden wollenden hessischen Landtagsabgeordneten Dagmar Metzger wurden 2008 der Austritt aus der SPD nahegelegt, der Linksabweichler Lafontaine hatte ihn schon geraume Zeit zuvor vollzogen. Ein besonders schönes Beispiel für die illusionäre Unabhängigkeit der Abgeordneten von ihren Parteien lässt sich aus dem Appell des italienischen Senators Roberto Calderoli von der Lega Nord an die Oppositionsparteien ablesen. Vor der Abstimmung des Senats über eine von Ministerpräsident Prodi gestellte Vertrauensfrage ermahnte er die
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Führer der Oppositionsparteien, dass sie „ihre eigenen … Senatoren streng beaufsichtigen“ müssten. Je mehr man von den zahlreichen Defiziten der indirekten Demokratie erfahren muss, desto dringlicher stellt sich die Titelfrage: Wie demokratisch ist die direkte Demokratie? Unzweifelhaft ist zunächst, dass nur dort, wo die Bürger unmittelbar über die Gestaltung von sie betreffenden Lebensverhältnissen entscheiden können – sei dies nun auf Gemeinde-, auf Landes- oder auf Bundesebene – der Begriff der Volksherrschaft wenigstens ansatzweise angebracht ist. Im Rahmen der indirekten Demokratie herrschen einzelne Bürger und Bürgergruppen im Namen des Volkes – nicht unbedingt in dessen Sinne, aber immerhin mit dessen pauschaler Ermächtigung. Einzuräumen ist freilich, dass sich auch dort, wo direktdemokratische Entscheidungsverfahren vorgesehen sind, in aller Regel nur ein Teil der Stimmbürgerschaft an den entsprechenden Volksentscheiden bzw. Referenden beteiligt. Eine Mindestzahl wird bei unseren Bürgerbegehren und Volksbegehren rechtlich vorausgesetzt. Nach Art. 18a BayGO variiert das Quorum bei Bürgerbegehren – je nach Größe der Gemeinde bzw. Stadt zwischen 10 % und 5 % und bei Bürgerentscheiden für Mehrheitsentscheidungen zwischen 20 % und 10 %. Nach Art. 74 BayVerf. beträgt das Quorum für Volksbegehren 10 % der Stimmbürgerschaft. Solche Quoren mögen niedrig erscheinen. Wer sich jedoch einmal mit Derartigem befasst hat, weiß, dass dies – gemessen an den Schwierigkeiten, die dem Zustandekommen solcher Quoren entgegenstehen – keineswegs der Fall ist. Auch wenn nur 10, 20 oder 30 % der Stimmbürgerschaft eine direkt-demokratische Entscheidung trägt, mag dies im Vergleich zur Zahl der an indirekt-demokratischen Entscheidungen Beteiligten sehr hoch erscheinen. Chancen, ein Bürgerbegehren, einen Bürgerentscheid, ein Volksbegehren und einen Volksentscheid erfolgreich durchzuführen und insoweit die direkt-demokratische Komponente der Verfassungswirklichkeit zu stärken, bestehen auf Landesebene letztlich nur dort, wo starke Interessengruppen, die zudem von Politischen Parteien direkt oder indirekt unterstützt werden, an einem Plebiszit interessiert sind. In Bayern hat es eine Reihe von Volksbegehren und Volksentscheiden gegeben, die diese Voraussetzungen erfüllt haben und deshalb auch (zumindest teilweise) erfolgreich waren. Ich erwähne in diesem Zusammenhang u. a. das Volksbegehren zugunsten der christlichen Gemeinschaftsschule (1968), der Rundfunkfreiheit (1973), eines „besseren Müllkonzeptes“ (1991) und der Einführung des kommunalen Bürgerentscheids (1995). Auf Gemeindeebene ist es inzwischen zu zahlreichen Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden gekommen. Dem Bürgerbegehrensbericht 2007 des Kuratoriums „Mehr Demokratie e.V.“ zufolge nimmt Bayern in dieser Hinsicht eine Spitzenstellung ein, was u. a. darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die bayerischen Quoren sich im Ländervergleich als die bürgerfreundlichsten darstellen. Von 1956 bis 2007 kam es in Deutschland zu insgesamt 4.587 direktdemokratischen Verfahren, von denen 2.226 in einen Bürgerentscheid mündeten. Fast 40 % dieser Verfahren fanden in nur 12 Jahren in Bayern statt – nämlich 1.753. Und von diesen mündeten dann 968 in einen Bürgerentscheid. Heute kommt es in Bayern zu durchschnittlich 75 gemeindlichen Bürgerentscheiden
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im Jahr. Am seltensten finden sie in Gemeinden unter 5.000 Einwohnern statt und am häufigsten in den Großstädten mit über 100.000 Einwohnern. Interessanterweise sind unter den Städten München und Augsburg die direkt-demokratisch aktivsten, unter den Bezirken (in dieser Reihenfolge) Oberbayern, Unterfranken und Schwaben, und unter den Landkreisen Rosenheim und Starnberg. Die Abstimmungsbeteiligung betrug im Durchschnitt der letzten 10 Jahre 50,2 %, wobei unverkennbar ist, dass sie mit zunehmender Einwohnerzahl sinkt. Auf Gemeindeebene können stark polarisierende Sachfragen auch dann erfolgreich zu Bürgerentscheiden geführt werden wenn keine starken Gruppen dafür eintreten. Zumal in kleineren Gemeinden, wo man sich kennt und an Stammtischen, in Vereinen und beim Einkauf austauscht, können Bürgerbegehren auf Initiative einiger sozialaktiver Bürger durchaus erfolgreich sein. Und dies keineswegs nur im formalen, sondern auch im inhaltlichen Sinne. Auch der Bürger – und nicht nur das Ratsmitglied – hat Sachkompetenz; er macht Erfahrungen mancherlei Art, und in diesem Sinne ist auch er (schon im Wortsinne) Experte (experiri, expertum). Gerade in seinem unmittelbaren gemeindlichen Umfeld weiß er, was er gerne leben und erleben und was er nicht gerne leben und erleben möchte. Viele Bürger jedenfalls wissen dies und wollen es auch zum Ausdruck bringen. Die wachsenden zivilisatorischen Belastungen führten ab Anfang der 70er Jahre zur Bürgerinitiativbewegung, die ihre sozialen und ökologischen Bedürfnisse immer nachdrücklicher zu artikulieren verstand und dabei vielfach aus der Triebkraft der Betroffenheit heraus beträchtlichen Sachverstand zu artikulieren wusste. Das Engagement, der Fleiß, die Findigkeit, das technische Know-how und das intellektuelle Niveau, mittels derer von manchen Bürgerinitiativen in mühseligen Voruntersuchungen und Erhebungen die Voraussetzungen, die Konsequenzen und die möglichen Alternativen einer bekämpften oder erstrebten Maßnahme oder Planung erarbeitet und vorgelegt wurden, hätte so mancher fachlich zuständigen Behörde (geschweige denn gewählten Gremien) zur Ehre gereicht. Dabei wurden nicht selten evident oder latent vorhandener Sachverstand sowie kreative Intelligenz und soziale Solidaritätsbereitschaft in einem Ausmaß aktiviert, das ohne diesen bürgerschaftlichen Partizipationswillen nicht erreichbar gewesen wäre. Es galt und gilt insoweit die überkommene Erkenntnis, dass von den unmittelbar Betroffenen oder Interessierten ein Höchstmaß an Sachkompetenz erwartet werden kann – eine Erkenntnis, die Carl Schmitt schon vor Jahrzehnten zu der paradox klingenden These animierte, Fachleuten ohne Eigeninteresse fehle die letzte und eigentliche Sachkompetenz. Initiativen, die – um aus der Fülle der möglichen Beispiele nur einige wenige zu nennen – durch private Probebohrungen Grundwasserverseuchungen nachweisen und auf diese Weise die zuständigen Behörden auf den Plan rufen, die im Rahmen von Genehmigungsverfahren durch Errichtung und Auswertung eigener Messstationen oder durch Vorlage wissenschaftlicher (Gegen-) Gutachten Fachbehörden (vom Range eines Landesamtes für Wasserwirtschaft) zur Revision ihrer eigenen Unbedenklichkeitsbestätigungen zwingen, die ihren Gemeinderäten in freiwilliger Freizeitarbeit entworfene Baugestaltungsverordnungen verabschiedungsreif vorlegen, die aus eigenem Antrieb die Gestaltung gemeindlicher Plätze
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und Grünflächen planen, die Grundstücke für dringend benötigte Kinderspielplätze oder Kindergärten ausfindig machen oder Sammlungen zur Finanzierung anderweitig nicht finanzierbarer gemeindlicher Einrichtungen veranstalten – solche Bürgerinitiativen erheben sich selbst in den Rang nicht nur von (Para-) Experten, sondern geradezu von supplementären und komplementären Gegenverwaltungen; sie leisten insoweit einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung der von der demokratischen Idee vorausgesetzten Regierung für das Volk und erhöhen die Effizienz der Volksstaatlichkeit. Wer ihre Bemühungen als „Mitregierung spirituell erleuchteter Aktivisten“ abtun will (wie dies der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis getan hat, der dann im Zeichen von Wyhl sein Damaskus erlebte), mag dies tun. Wem es jedoch um die Verwirklichung der Verfassungsziele geht, wird sich eine derartige – mit der Logik der Repräsentationsidee keinesfalls kollidierende – „Mitregierung“ gerne gefallen lassen. Bürger und Bürgerinitiativen, die ihre Erfahrung, ihr Wissen und ihr Engagement in den politischen Prozess einbringen, die mithin als Quasiexperten wirken, tun, was Neben- und Gegeneliten stets getan haben. Dass nicht alle Bürger in der Lage oder willens sind, in dieser Weise als Neben- oder Gegeneliten zu wirken, ist uns nur allzu bekannt. Eine Chance jedenfalls ist gegeben, öffentliche Planungs- und Gestaltungsprozesse auf solche oder ähnliche Weise zu optimieren. All dies gilt sicherlich in ganz besonderem Maße für die kommunale Ebene, legitimiert mithin schon im Ansatz und zumindest hypothetisch die Wahrnehmung der direkt-demokratischen Optionen auf dieser Ebene. Auch auf höheren Ebenen rechtlich-politischer Organisation ist dem Bürger aber eine gewisse Kompetenz nicht abzusprechen. Auch hier erfährt er Betroffenheit, wird er von finanz- und wirtschaftspolitischen, innen- und außenpolitischen, kultur- und umweltpolitischen Entscheidungen in seinen Lebensmöglichkeiten gefördert oder beschnitten. Und so gibt es denn auch auf diesen Ebenen durchaus zur Entscheidung anstehende Fragen, zu deren politischer Entscheidung die Stimmbürgerschaft „ein Wörtchen mitreden“ oder gar „das letzte Wort haben“ sollte, um eine soziopolitische Konfliktsituation zu befrieden und zudem eine vernünftige Lösung zu finden. Unverkennbar ist freilich, dass auf diesen höheren Ebenen staatlicher Organisation das Interesse der Bürgerschaft an einer Mitbestimmung deutlich abnimmt, wenn es sich nicht um Problemfragen von hoher und höchster Brisanz handelt. Besonders deutlich lässt sich dies am Beispiel des europäischen politischen Systems belegen, das dem Stimmbürger die ausgedehntesten direkt-demokratischen (Mit-) Entscheidungsmöglichkeiten einräumt. Auf Bundesebene sieht die schweizerische Verfassung sowohl ein obligatorisches Verfassungsreferendum bei Verfassungsänderungen (Art. 120/121) als auch ein obligatorisches Referendum für besonders wichtige Gesetze(sänderungen) vor (Art. 89). Überdies gibt es sowohl für die Bundes- als auch für die Kantonsebene ein sog. fakultatives Referendum (Art. 98, 2 SV). Jedes verabschiedete Gesetz muss eine Klausel enthalten, die dem Volk die Möglichkeit gibt, in einer Volksabstimmung hierüber zu entscheiden, sofern sich wenigstens 50.000 Bürger dafür aussprechen. Schließlich kann es auf Antrag von 100.000 Stimmberechtigten auch noch zu einer Volksinitiative kommen. Und auf kantonaler
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und kommunaler Ebene können sogar noch weitgehendere Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Dass diese vergleichsweise breiten direkt-demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten die schweizerische „Konkordanzdemokratie“ tragen, ist unverkennbar. Dass die meisten Repräsentativentscheidungen plebiszitär angefochten werden konnten, hat die Regierenden dazu gedrängt, zusammenzurücken und den repräsentativen Konsens zu suchen. Diese eher positiv einzuschätzende Erfahrung hat jedoch bemerkenswerte Konsequenzen. Nur 10 % der zu einer Volksabstimmung gebrachten Begehren haben Erfolg. angesichts der konkordanzdemokratischen Repräsentativentscheidungen bleiben oft nur Spezialinteressen übrig, die Begehren initiieren, jedoch keine breite Unterstützung (geschweige denn Zustimmung) finden. Polarisiert die Fragestellung sehr, finden sich zwar die nötigen Unterstützungsunterschriften, aber selten weitergehende Mehrheiten. Nähert sich eine Initiative jedoch allgemeineren Forderungen, so schwindet das Interesse. Und dies aus doppeltem Grunde. Zum einen gilt das schon von Mancur Olson in seiner „Logik des kollektiven Handelns“ thematisierte, später von Ernst Forsthoff auf die Formel „Je allgemeiner ein Interesse, desto geringer die Chance seiner Durchsetzung“ gebrachte Paradoxon, zum anderen lässt sich dieses Phänomen aber auch damit erklären, dass das schweizerische politische System bei seiner Betonung des direktdemokratischen Elements auf den informierten und interessierten homo politicus setzt, der die anstehenden Sachfragen kompetent beurteilen kann und dies auch tut. Dies jedoch geht an den Fakten vorbei. Und dies umso mehr, wenn Entscheidungen von hoher Komplexität anstehen. Solche Fragen können nur eine elitäre Kerngruppe der Gesellschaft interessieren. Es ist im Zweifel der gut ausgebildete und gebildete und zudem gut verdienende Städter, der hier angesprochen wird. Je mehr diese Attribute fehlen, desto geringere Kompetenz und desto geringeres Interesse darf vorausgesetzt werden. Falls solche Initiativen mithin nicht ohnedies mangels Unterstützung oder Zustimmung scheitern, ist in aller Regel nur eine kleine sozial aktive Elite, die ihren Informationsvorsprung zu nutzen weiß, Nutznießer solcher Initiativen – ein Aspekt, der sicher nicht stets auf der Habenseite der direkten Demokratie zu verbuchen ist, der aber u. a. in oecologicis et aestheticis sehr wohl positive Auswirkungen haben kann Völlig unabhängig von diesem Aspekt ist aber auch eine gewisse „Urnenmüdigkeit“ der Schweizer zu konstatieren. Die Häufigkeit, mit der sie zu Abstimmungen gerufen werden, entspricht dem Rückgang der dann tatsächlich Abstimmenden. Nur stark umstrittene Entscheidungen vermögen noch einen Großteil der Schweizer zur Stimmabgabe zu bewegen. Mit anderen Worten: Zumeist sind es nur noch dem eigenen Lebensumfeld entspringende, Emotionen provozierende Sachfragen, die die Schweizer zur Wahlurne treiben. Darüber hinaus aber ist häufig, wenn nicht zumeist, eine sowohl qualitative als auch quantitative direkt-demokratische Überforderung zu beobachten.
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Versucht man, die Titelfrage „Wie demokratisch ist die direkte Demokratie“ auf eine abgewogene Weise zu beantworten, so wird man im Lichte der deutschen wie auch der schweizerischen Erfahrungen das Folgende resümieren können: Im Prinzip ist die Integration direkt-demokratischer Elemente sicherlich zu begrüßen. Dies allerdings nur mit Einschränkungen. Auf kommunaler Ebene sollten Bürgerentscheide zwar nicht als Regelfall, aber doch immer dann angestrebt werden, wenn grundlegende Weichenstellungen der Gemeindepolitik anstehen oder eine den sozialen Frieden gefährdende Streitfrage geklärt werden muss. Auf Landesebene gilt im Prinzip dasselbe, nur mit geringerer Frequenz, da alles andere angesichts der mit gutem Grunde vergleichsweise restriktiven Modalitäten ohnedies kaum machbar ist oder aber zu ähnlichen Erscheinungen führen würde wie wir sie in der Schweiz erfahren können. Unter noch restriktiveren Bedingungen als auf Landesebene ist m. E. auch die Einräumung einer Referendumsmöglichkeit auf Bundesebene zu befürworten. In Schicksalsfragen (Krieg und Frieden, Atomkraft – Ja oder Nein, Aufgabe der Eigenstaatlichkeit, Änderung tragender Verfassungsprinzipien, Änderung des Wirtschafts- und Währungssystems etc., könnte die Einräumung einer Referendumsmöglichkeit der Stimmbürgerschaft nicht nur das Gefühl der Machtlosigkeit angesichts eines denkbaren Parteiengemauschels nehmen; die anstehenden Sachfragen würden dann voraussichtlich auch auf einer breiteren Ebene erörtert werden, was der Qualität der jeweiligen Entscheidung durchaus zuträglich sein könnte. Keine Chance allerdings ohne Risiko! Bei einer Aktivierung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 käme es nicht zuletzt auf die Ausgestaltung der Modalitäten an. Falls das Recht auf Volksinitiative eingeräumt würde – und nur dann hätte die Integration einer direkt-demokratischen Komponente auf Bundesebene „Biss“ – würde dies auch gewisse Anforderungen an die gesamte Politische Kultur der bundesrepublikanischen Gesellschaft stellen. Im negativen Sinne des Wortes „populistische“ Initiativen (z. B. in Ausländerfragen) könnten zwar sicher nicht gänzlich vermieden werden, müssten aber eben mit Augenmaß abgefangen werden. Angesichts der vergleichsweise ausgeglichenen Lebensverhältnisse wäre dies hierzulande wohl auch zu erwarten. Dass sich die Verhältnisse rasch ändern können, wird uns jedoch weltweit immer wieder vor Augen geführt. Am Ende meiner Überlegungen zum Thema „Wie demokratisch ist die direkte Demokratie?“ steht mithin ein „Ja, aber“.
Ämtervergabe durch Wahl Von Reinhard Mußgnug Wolf-Rüdiger Schenke verdanken wir eine Studie über „Die Auswahlentscheidung bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst“,1 die präzis und erschöpfend, aber dennoch übersichtlich über alles Auskunft erteilt, was man zum besseren Verständnis des Art. 33 Abs. 2 GG wissen muß. In dieser Studie versäumt Wolf-Rüdiger Schenke nicht, auch darauf hinzuweisen, daß im Schutzbereich des Art. 33 Abs. 2 GG eine Lücke klafft: Das in dieser Verfassungsnorm verankerte Prinzip der Bestenauslese – das Gebot, bei der Besetzung der öffentlichen Ämter stets dem „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung“ qualifiziertesten Bewerber den Zuschlag zu geben – gilt nicht für die Vergabe öffentlicher Ämter durch Wahl.2 Ich nehme mir die Freiheit, meinem Glückwunsch zu WolfRüdigers Schenkes 70. Geburtstag mit einigen Randbemerkungen zu diesem Befund Ausdruck zu verleihen. I. Die Lücke im Schutzbereich des Art. 33 Abs. 2 GG 1. Freie Wahl contra Bestenauslese Was das Amt des Bundestags- und des Landtagsabgeordneten angeht, so verwundert nicht weiter, daß bei ihnen die Berufung auf Art. 33 Abs. 2 GG nicht verfängt. In den Parlamentswahlen spricht das souveräne Volk, das seine Souveränität einbüßte, wenn ihm die Verfassung vorschriebe, wen es zu wählen hat. Aus diesem Grunde verdrängt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 die verfassungsrechtlichen Bindungen, die Art. 33 Abs. 2 GG für den Regelfall der staatlichen Ämtervergabe durch Behördenentscheid vorsieht, durch den nicht minder verbindlichen Grundsatz der freien Wahl. Der Wähler darf seine Stimme geben, wem er mag. Der alleinige Maßstab, an den er sich bei seiner Stimmabgabe zu halten hat, ist sein freier, an keine Vorgaben gebundener Wille. Über die Vergabe der Parlamentsmandate entscheidet der Wählerwille selbst dann in vollkommener Freiheit,3 wenn ihn verfassungsblinde Willkür lenkt: Wählt der 1
In FS Stober, 2008, 221 ff. AaO. (Fußn. 1), S. 229/30. 3 Die Beschränkungen, die sich aus der Bindung an die Wahlvorschläge der Parteien, aus dem Parteienprivileg des § 18 Abs. 1 BWahlG und aus der Reglementierung des passiven 2
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Bayer aus Prinzip keinen „Preußen“, selbst wenn dieser allen seinen bayrischen Mitbewerbern haushoch überlegen ist, so geht das ebenso in Ordnung wie die Stimmabgabe des bornierten Frauenfeindes, der grundsätzlich nur Männer wählt. Beide versündigen sich gegen den Geist und die Werteordnung des GG. Ein Verstoß gegen die Art. 3 Abs. 2 und 3 und 33 Abs. 1 und 2 GG ist ihnen jedoch nicht vorzuwerfen. Auch wenn sich die Wähler besser nicht von ihren Vorurteilen leiten lassen sollten, so dürfen sie sich von ihnen leiten lassen, und es entspricht der menschlichen Natur, daß sie das in großem Stil tun. Es ist ihnen erlaubt, weil das aktive Wahlrecht ein Recht zur Entscheidung nach Gutdünken ist. Eine Wahl ohne die Freiheit auch zur Willkür wäre keine freie Wahl. Wo die Verfassung eine Wahl vorsieht, gibt sie daher zugleich auch der Stimmabgabe nach unbedachter Laune und törichtem Vorurteil freie Bahn. Deshalb verträgt sich die Freiheit der Wahl nicht mit der Pflicht zur Bestenauslese. Die Freiheit der Wahl beherrscht keineswegs nur die Parlamentswahlen. Dem Wählen ist das Element des Votierens nach ungebundenem Gutdünken immanent. Das prägt das Wesen einer jeden Wahl. Daß es für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage gilt, stellt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 klar. Die Freiheit der Wahl überlagert das Prinzip der Bestenauslese aber auch bei den Wahlen, bei denen statt einer Vielzahl von Mandatsträgern nur eine Einzelperson zu wählen ist. Ob es sich dabei, wie bei den Bürgermeisterwahlen, um eine direkte Wahl durch das Volk handelt, oder, wie bei der Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung, des Bundeskanzlers durch den Bundestag oder der Richter des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte durch einen Richterwahlausschuß des Bundestags und den Bundesrat, um eine indirekte durch ein parlamentarisches oder sonstiges Gremium,4 fällt nicht ins Gewicht. Bei der Vergabe monokratisch besetzter Ämter durch ein in seiner Zusammensetzung überschaubares Gremium wäre eine Bindung an das Prinzip der Bestenauslese theoretisch zwar immerhin denkbar. Den Ausschlag geben jedoch auch hier die einschlägigen Rechtsnormen. Verlangen sie eine „Wahl“5 und ergibt ihre Auslegung, daß sie damit beim Wort genommen werden wollen,6 so ersetzen sie damit den Anspruch der Bewerber auf eine Auswahlentscheidung nach den Maßstäben des
Wahlrechts durch § 15 BWahlG ergeben, können im Rahmen der vorliegenden Überlegungen vernachlässigt werden. 4 Wie z. B. bei der Wahl der Universitätsrektoren, -präsidenten und Kanzler durch den Akademischen Senat. 5 Vgl. Art. 54 Abs. 1, 63 Abs. 1, 94 Abs. 1 Satz 2 GG. Bewußt anders Art. 95 Abs. 2 GG, der zwar auch von einem „Richterwahlausschuß“ spricht, diesen aber gerade nicht zur „Wahl“ der Richter der oberen Bundesgerichte, sondern zu ihrer „Berufung“, also zu einer an Art. 33 Abs. 2 GG gebundenen Entscheidung aufruft. 6 § 45 Abs. 1 Satz 1 GemO BW betont das für die Bürgermeisterwahl durch eine Aufzählung der Wahlgrundsätze einschließlich der Freiheit der Wahl.
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Art. 33 Abs. 2 GG durch den Anspruch der Kandidaten auf Chancengleichheit und korrekte Durchführung der Wahl.7 Wo im strengen Sinne dieses Begriffs „gewählt“ wird, muß daher der Bessere zurückstehen, wenn die Wählermehrheit einem weniger Geeigneten den Vorzug gibt. Das heißt nicht etwa, daß bei den Wahlen Popularität vor Qualität gehe; wer das behauptet, unterschätzt die staatsbürgerliche Vernunft der Wähler. Er ignoriert zudem die demokratietheoretische Bedeutung des Mehrheitsprinzips. Dennoch bleibt es dabei, daß für die Ämterwahl andere Maßstäbe gelten als für die Ämtervergabe durch die Exekutive: Auch bei ihr wird der „Beste“ ausgewählt. Aber der Beste im Sinne des Wahlrechts ist nicht der objektiv Geeignetste, sondern der, der die meisten Stimmen erhält. 2. Verdrängung der Konkurrentenklage durch die Wahlanfechtung Das hat eine wichtige prozessuale Folge: Dem bei einer Ämterwahl unterlegenen Bewerber steht nicht die Konkurrentenklage, sondern die Wahlanfechtung zu Gebote, wenn er sich durch Gesetzesverstöße oder unlautere Machenschaften um seinen Erfolg betrogen fühlt. Die Wahlanfechtung regeln die Kommunalwahlgesetze der Länder eingehend.8 Eine umfangreiche Rechtsprechung belegt, daß von ihr vor allem bei den Bürgermeisterwahlen reger Gebrauch gemacht wird. Die Wahlanfechtung ist aber auch ohne eine spezialgesetzliche Regelung zulässig, bei der Wahl des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers in der Form der verfassungsgerichtlichen Organklage, bei den Rektor- und Kanzlerwahlen der Universitäten in der Form der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage gegen die Feststellung des Wahlergebnisses. Eine Konkurrentenklage, die den Wählern vorwirft, sie hätten statt des Besten einen minder qualifizierten Kandidaten gewählt, scheidet indessen a limine aus. Sie scheitert daran, daß die Ämterwahl nur ein Recht auf Zulassung zur Kandidatur und einen Anspruch auf ein korrektes Wahlverfahren kennt, jedoch nicht auch das deutlich weitergehende Recht auf sachgerechte Beurteilung der Kandidaten durch 7
So Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl. 2009, § 36 Rn. 8. Vgl. z. B. die §§ 32 KomWG BW und 50 KomWG Hessen. Diese beiden Paragraphen unterscheiden sich dadurch von einander, daß der baden-württembergische nur „eine strafbare Handlung im Sinne der §§ 107, 107a, 107b, 107c, 108, 108a, 108b, § 108d Satz 2, § 240 des Strafgesetzbuches oder eine andere gegen ein Gesetz verstoßende Wahlbeeinflussung“ als Anfechtungsgrund anerkennt, während der hessische pauschal ”Unregelmäßigkeiten oder strafbare oder gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen“ genügen läßt. In der Praxis schlägt das allerdings nicht zu Buche, weil die baden-württembergischen Verwaltungsgerichte mit dem Anfechtungsgrund der „gegen ein Gesetz verstoßenden Wahlbeeinflussung“ derart großzügig umspringen, daß er präter propter auf das Gleiche hinausläuft wie der hessische der schlichten „Unregelmäßigkeit“. Dazu Quecke/Gackenholz/Bock, Das Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg 5. Aufl. 2009, § 32 Rn. 43 ff. mit breit ausholender Kasuistik. 8
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die Wähler. Da der Wähler wählen darf, wen er will, hat umgekehrt keiner ein Recht darauf, gewählt zu werden. Enttäuschte Hoffnungen reichen daher als Klagegrund nicht aus. Selbst wenn es gute Gründe gibt, den Wählern eine eindeutig falsche Wahl vorzuwerfen, widerspräche es dem Wesen der Wahl, dem Prozessieren gegen das Wählervotum Raum zu geben. II. Ämterwahl contra Ämtervergabe durch Kollegialentscheidung Näheres Hinsehen lehrt freilich, daß sich nicht hinter allem, was die einschlägigen Gesetze als Wahl bezeichnen, wirklich eine freie Wahl verbirgt. Es ist vielmehr sorgfältig zwischen der freien Ämterwahl und der rechtlich gebundenen Ämtervergabe durch Kollegialentscheid zu unterscheiden. 1. Die Richter-„Wahl“ Das lehrt der Vergleich des Art. 94 Abs. 1 Satz 4 GG, der die Wahl der Bundesverfassungsrichter regelt, mit Art. 95 Abs. 2 GG, der gemeinhin als die Grundlage der „Bundesrichterwahl“ bezeichnet wird, in Wahrheit aber nur einen Richterwahlausschuß vorsieht und diesem keineswegs das Recht der freien Wahl einräumt. Von einer „Wahl“ spricht nur Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG. Damit trägt er dem politischen Gewicht des Bundesverfassungsgerichts Rechnung. Daß er eine – jedenfalls rechtlich – freie Wahl meint, steht außer Zweifel.9 In Art. 95 Abs. 2 GG ist demgegenüber von einer „Wahl“ der Richter an den obersten Bundesgerichten keine Rede. Der dort angesprochene „Richterwahlausschuß“ wählt nicht; er „entscheidet“ über die Berufung der Bundesrichter, und selbst das tut er nicht aus eigener Machtvollkommenheit, sondern lediglich gemeinsam mit dem Bundesjustizminister. § 11 des Richterwahlgesetzes des Bundes zieht daraus die Konsequenz. Auch er läßt dem Richterwahlausschuß entgegen dessen irreführendem Namen nicht etwa freie Wahl. Er stellt ihm vielmehr die Aufgabe zu „prüfen, ob der für ein Richteramt Vorgeschlagene die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt besitzt.“10 Dabei gesteht er dem Ausschuß den gleichen Beurteilungsspielraum zu, den Art. 33 Abs. 2 GG einer jeden an einer Bewerberauswahl beteiligten Stelle offen hält. Von der Pflicht zur Bestenauswahl dispensiert er ihn indessen mitnichten. Aus 9
Politisch frei sind die Wahlen der Bundesverfassungsrichter schon deshalb nicht, weil die erforderliche 2/3-Mehrheit die Bundestags- und Bundestagsfraktionen zur wechselseitigen Rücksichtnahme zwingt (§§ 6 Abs. 5, 7 BVerfGG). 10 Damit reimt sich nicht recht, daß der Ausschuß gemäß § 12 BRichterwahlG „in geheimer Abstimmung“ entscheidet. Seine Beschränkung auf eine Eignungsprüfung verlangt eine offene Beratung, die mit einer in gleicher Weise offenen Abstimmung enden sollte. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß der Gesetzgeber dem Ausschuß nur die Geheimhaltung des Inhalts seiner Beratung und des Ausgangs seiner Abstimmung auferlegen wollte, aber die Begriffe „Beratungsgeheimnis“ und „geheime Abstimmung“ miteinander verwechselt hat.
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diesem Grunde handelt es sich bei der Entscheidung des Ausschusses nicht um eine Wahl. Wir haben es vielmehr mit einer Kollegialentscheidung zu tun, die jeden an ihr Beteiligten zur Beachtung aller für die Ämtervergabe gültigen rechtlichen Bindungen verpflichtet, und ohne Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle im Verfahren der Konkurrentenklage unterliegt.11 Es gelten zudem die Grundsätze des VwVfG über den Ausschluß von der Mitwirkung an der Entscheidung sowie die ungeschriebene, aber für alle Kollegialentscheidungen essentielle Regel, daß Stimmenthaltungen unzulässig sind und zur Ungültigkeit des Votums führen, wenn sie sein Ergebnis beeinflußt haben können. Wie die „Wahl“ der Bundesrichter, so sind auch die Richterwahlen in den Bundesländern Pseudowahlen. Daß auch sie an Art. 33 Abs. 2 GG zu messen sind und der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, steht außer Zweifel.12 Das Richtergesetz Berlins kehrt das besonders deutlich hervor. Es kennt ebenfalls einen Richterwahlausschuß. Auch dieser Ausschuß heißt freilich nur so, ist aber par tout nicht zum freien Wählen ermächtigt. Das ruft ihm § 13 Abs. 2 Satz 1 RichterG Bln. in Erinnerung, nach dem der Ausschuß zu entscheiden hat, „ob der zu Berufende nach seiner Persönlichkeit und seiner bisherigen Tätigkeit für das Richteramt geeignet ist und die Gewähr dafür bietet, daß er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes und Verfassung von Berlin eintritt.“ Dem Mißverständnis, daß die Berliner Richter nach freiem Gutdünken gewählt würden, beugt Satz 2 der gleichen Vorschrift zusätzlich vor. Er besagt: „Bei Berufungen und Beförderungen trifft der Richterwahlausschuß seine Auswahl … nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, sexuelle Identität, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, gewerkschaftliche Zugehörigkeit, Herkunft oder Beziehungen; dabei soll der Beste den Vorzug erhalten.“13 Wie ein Kollegialgericht, so stimmt also auch der Berliner Richterwahlausschuß zwar ab. Davon, daß er die Richter wähle, kann indessen
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Soweit bekannt ist davon bislang nur in einem Fall Gebrauch gemacht worden, in dem das OVG Schl. Holst. die Konkurrentenklage gegen die Ernennung des später in den Bundestag gewechselten Richters Nesˆkovic´ abgewiesen hat (NJW 2001, 3495; dazu kritisch Bertram, NJW 2001, 3167; Schulze-Fielitz, JZ 2002, 144). Der Beschluß des VGH BW in NJW 1996, 2525 betraf einen Richter am BGH, der sich bei der Besetzung eines 1996 vakant gewordenen Senats-Vorsitzes zu Unrecht übergangen fühlte; es ging also nicht um eine Berufung an den BGH, sondern um die Beförderung eines bereits an den BGH Berufenen, für die Art. 95 Abs. 2 GG nicht gilt. 12 BVerwGE 105, 89 (93). 13 Daß der Beste den Vorzug nur erhalten „soll“, ist m. E. so nicht gemeint. Der Annahme, daß § 13 Abs. 2 Satz 2 RichterG Bln. letzter Halbsatz Raum für Ausnahmen von der Bestenauswahl lassen will, steht entgegen, daß sich diese Vorschrift an die Art. 3 Abs. 2 und 3 sowie an Art. 33 Abs. 1 und 2 GG anlehnt, die allesamt keine Durchbrechungen zulassen. Das legt eine korrigierende Auslegung des § 13 Abs. 2 RichterG Bln. nahe, nach der dem Besten der Vorzug nicht etwa gegeben werden soll, sondern zu geben ist.
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ebensowenig die Rede sein, wie davon, daß die Kollegialgerichte nach Gutdünken unter den Alternativen wählen dürften, die sich ihnen für ihre Urteile anbieten.14 Zwischen der Ämtervergabe durch Wahl und der Personalentscheidung durch Kollegialbeschluß ist somit streng zu unterscheiden. Das gilt insbesondere im Gemeinderecht, das die Gemeinderäte einerseits zur Wahl der Beigeordneten ermächtigt15 und ihnen andererseits die Entscheidung „über die Ernennung, Einstellung und Entlassung der Gemeindebediensteten“ anvertraut.16 Daß die Gemeinderäte bei der Wahl der Beigeordneten auf deren Parteizugehörigkeit achten, geht in Ordnung; dazu halten sie die Gemeindeordnungen ausdrücklich an.17 Bei der Auswahl der Gemeindebediensteten ist ihnen das Entscheiden nach dem Partei- oder Gesangbuch dagegen streng verboten, was allerdings den Anzeichen zufolge den Hardlinern der Kommunalpolitik noch nicht tief genug in Fleisch und Blut übergegangen ist. 2. Das akademische Berufungsverfahren Auch das akademische Berufungsverfahren würde gründlich mißverstanden, wenn man es als ein Wahlverfahren deutete, in dem die Fakultäten ihre Wahl unter den Bewerber um eine vakante Professur nach freiem Belieben treffen dürften. Die Fakultäten haben vielmehr gestützt auf ihre Fachkunde die für die betreffende Vakanz geeignetsten Bewerber auszusuchen. Daß es dabei um ein besonderes der Wissenschaftsfreiheit und der Hochschulautonomie Rechnung tragendes Verfahren der Bestenauslese geht, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Fakultäten die in ihren Berufungsvorschlag aufgenommenen Bewerber – in der Regel drei18 – nach ihrer Qualifikation für die zu vergebende Stelle zu reihen und ausführlich zu begründen haben, was den Ausschlag für die Berücksichtigung der drei Vorgeschlagenen vor allen anderen Bewerbern und ihren jeweiligen Platz auf der Liste gegeben hat. Die Wahl des Dekans durch den Fakultätsrat, des Rektors oder Präsidenten und des Kanzlers durch den akademischen Senat sind dagegen echte Wahlen. Die Hochschulgesetze engen sie neuerdings zwar erheblich ein, indem sie die Fakultäten 14
Nicht ganz so deutlich, aber ebenfalls unmißverständlich § 58 Abs. 2 RichterG BW: „Der Richterwahlausschuß hat zu prüfen, ob der für ein Richteramt Vorgeschlagene überhaupt und unter den Bewerbern die besten fachlichen und persönlichen Voraussetzungen für dieses Amt besitzt.“ 15 So z. B. § 50 Abs. 2 GemO BW. 16 § 24 Abs. 2 GemO BW. 17 Vgl. § 50 Abs. 2 Satz 3 GemO BW: „Sieht die Hauptsatzung mehrere Beigeordnete vor, sollen die Parteien und Wählervereinigungen gemäß ihren Vorschlägen nach dem Verhältnis ihrer Sitze im Gemeinderat berücksichtigt werden.“ 18 Vgl. § 66 Abs. 4 Satz 6 UniG BW: „Die Berufungskommission stellt einen Berufungsvorschlag auf, der drei Namen enthalten soll.“ An die Stelle dieser Vorschrift ist mittlerweile § 48 des Landeshochschulgesetzes vom 1. 1. 2005 (GBl. 1) getreten. Ich ziehe es jedoch vor, als Referenzgesetz das UniG i. d. F. vom 1. 2. 2000 (GBl. S. 208) heranzuziehen. Mir ist die mediokre Terminologie des LHG zuwider, dessen § 15 das Rektorat zum „Vorstand“ und den Rektor zum „Vorstandsvorsitzenden“ verunstaltet hat.
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bei der Wahl des Dekans an einen Vorschlag des Rektors und den Senat bei der Wahl des Rektors und des Kanzlers an einen Vorschlag des Universitätsrats binden. Solange sie den Fakultäten und Senaten jedoch ein Wahlrecht zugestehen, belassen sie ihnen damit das Recht, die „von oben“ Vorgeschlagenen in freier Abstimmung abzulehnen und so neue, ihnen genehmere Vorschläge durchzusetzen. Der von manchen Hochschulpolitikern angestrebte Zwang zur Tyrannenwahl wird also noch eine Weile auf sich warten lassen müssen. III. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Ämterwahl Wo eine Ämtervergabe durch eine echte Wahl vorgesehen ist, führt Art. 33 Abs. 2 GG – wie gesagt – nicht daran vorbei, daß sie eine freie Wahl ist. Immerhin gibt Art. 33 Abs. 2 GG aber zu erkennen, daß das GG die Ämtervergabe durch freie Wahl nicht gerade favorisiert. Denn unter ihr leidet die Personalhoheit, die das Gewaltenteilungsprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG der Exekutive sichert.19 Sie durchkreuzt außerdem die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung für ihre Personalpolitik. Denn für das Fehlverhalten eines Mitarbeiterstabs, den sie nicht selbst aussuchen darf, sondern von regierungsfremden Wählerschaften zudiktiert bekommt, kann das Parlament sie nicht zur Rechenschaft ziehen. Sind statt des Parlaments oder ausschließlich von ihm eingesetzte und beherrschte Gremien außerparlamentarischer Instanzen zur Wahl aufgerufen, so durchtrennt die Ämterwahl auch die vom BVerfG für alle Staatsakte einschließlich der personalpolitischen geforderte „ununterbrochene Legitimationskette vom Volk über die von diesem gewählte Vertretung zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern“.20 Auch das verbietet eine allzu großzügige Verlagerung der Ämtervergabe in administrativ nicht steuerbare Wahlverfahren. Last not least vergißt, wer der Ämterwahl in basisdemokratischer Arglosigkeit das Wort redet, daß er damit den Zugang zu den öffentlichen Ämtern von der Wählerwillkür abhängig macht und den Bewerbern den Schutz abschneidet, den ihnen Art. 33 Abs. 2 GG materiell- wie prozeßrechtlich garantiert. Das alles belegt, daß die Ämtervergabe durch Wahl nicht zur Regel erhoben werden darf. Das Grundgesetz schließt sie zwar keineswegs aus. Aber es betrachtet sie als eine erklärungsbedürftige und – soweit es sie nicht selbst anordnet – als eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. Ihre Grenzen überschreitet die Ämterwahl jedenfalls, wenn sie auf die Kernbereiche von Verwaltung und Justiz zugreift. Die direkte Wahl des Sheriffs, des Marshalls und des District-Judges durch die Bevölkerung ihrer Amtsbezirke ist eine 19 BVerfGE 93, 37 (72), wo das Gericht darauf besteht, daß „die verbindliche Letztentscheidung stets einem gegenüber Volk und Parlament verantwortlichen Amtsträger vorbehalten“ bleibt. Zur Personalhoheit der Exekutive auch Schnapp, Der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43, 173 (196 f.). 20 BVerfGE 83, 60 (72 f.) – Ausländerwahlrecht; 93, 37 (66 ff.) – schl-holst. PersVertrG.
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Besonderheit der USA. Sie entspricht der amerikanischen Tradition, im Bereich des Verwaltungshandelns die Garantie für richtiges Entscheiden im demokratischen Mehrheitsentscheid zu suchen. Wo man in Amerika eher demokratisch vorgeht, denkt man in Deutschland eher rechtsstaatlich. Drum bevorzugt das deutsche Rechtssystem die rechtliche Bindung. Eine der amerikanischen Sheriff-Wahl vergleichbare freie Wahl des Polizeipräsidenten durch die Bevölkerung seiner Stadt wirkt daher für den deutschen Juristen per se fragwürdig. Sie gibt den Zuschlag nicht dem besten, sondern dem beliebtesten Bewerber. Das berücksichtigt die deutsche Rechtsordnung so gut wie lückenlos. Selbst in der außerparlamentarischen Diskussion der 68er Jahre spielte der Traum von der Demokratisierung des öffentlichen Dienstes durch die Wahl der Behördenleiter durch ihre Mitarbeiter nur eine Randrolle. Außerhalb der Kreise, die die diesen Traum geträumt haben, hat er kaum Beachtung gefunden. Deshalb fällt schwer, unter den real existierenden Ämterwahlen verfassungsrechtlich dubiose Grenzfälle zu finden. Wo es sich wirklich um freie Wahlen handelt, drängt sich ihre Rechtfertigung geradezu auf, und die a prima vista kritischen Fälle der Richterwahl, des akademischen Berufungsverfahrens und der Personalentscheidungen der Gemeinderäte sind – wie gezeigt – keine Wahlen, sondern rechtlich gebundene Kollegialentscheidungen, bei denen die eigentliche Entscheidung zudem bei dem zuständigen Minister liegt.21 1. Gerechtfertigte Ämterwahlen Daß die Abgeordneten des Bundestags und der Landtage gewählt werden, versteht sich von selbst. Sie repräsentieren das souveräne Volk. Also können sie ihre Legitimation nur von ihm beziehen. Die allgemeine, freie und unmittelbare Wahl der Parlamente durch das Volk in seiner Gesamtheit ist somit die conditio sine qua non der Demokratie. Die Wahl des Bundespräsidenten und der Ministerpräsidenten der Länder entspricht dem republikanischen Selbstverständnis des GG, das zumindest ihre indirekte Wahl und die auch mit ihr einhergehende zeitliche Begrenzung ihrer Amtsperioden verlangt. Mit der Wahl des Bundestagspräsidenten, seiner Stellvertreter und der Schriftführer tragen Art. 40 Abs. 1 GG und dessen Pendants in den Landesverfassungen der Parlamentsautonomie Rechnung. In ihr findet auch die Wahl des Wehrbeauftragten22 ihre Grundlage. Für die Wahl der Bundesverfassungsrichter sprechen, neben der hohen Bedeutung ihre Amtes, die überschaubare Zahl der für dieses Amt in Betracht kommenden Juristen und vor allem das Bedürfnis nach einer angemessenen Berücksichtigung aller relevanten politischen Richtungen, die bei der Bestelllung der Bundesverfas21
Bei der Richterwahl handelt der Minister „gemeinsam mit dem Richterwahlausschuß“; beim akademischen Berufungsverfahren ist er es, der den Ruf erteilt; auch die Gemeindebediensteten wählt der Gemeinderat „gemeinsam mit dem Bürgermeister“ aus. 22 § 13 WehrBeauftrG.
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sungsrichter durch die Bundesregierung nicht, jedenfalls nicht in gleicher Weise gesichert wäre. Davon abgesehen drängen das Erfordernis einer 2/3-Mehrheit sowohl im Richterwahlausschuß des Bundestages als auch im Bundesrat, sowie das Augenmerk, das die Öffentlichkeit dem Bundesverfassungsgericht widmet, auf eine dezidierte Orientierung am Prinzip der Bestenauswahl hin. Die Wahl der Gemeinde- und Kreisräte schreibt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich vor. Die Bürgermeister- und Landratswahlen erwähnt er dagegen nicht ausdrücklich.23 Damit läßt er Raum für ihre Mediatisierung durch eine Verlagerung in die Gemeinderäte und Kreistage.24 Was die Bürgermeisterwahl angeht, so sind freilich mittlerweile bis auf die drei Stadtstaaten alle Bundesländer zur Direktwahl übergegangen. Bei den Landräten ist die direkte Wahl ebenfalls im Vordringen begriffen.25Auch das findet seine Rechtfertigung zum einen in der von Art. 28 Abs. 2 GG garantierten Kommunalautonomie und zum anderen darin, daß die direkte Wahl der Gemeinde- und der Kreisspitze die kommunale Demokratie stärkt. Sachlich gerechtfertigt sind last not least auch die Wahl der Universitätsrektoren und -kanzler durch den Akademischen Senat sowie die Präsidenten-Wahlen in den berufsständischen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Auch sie wurzeln in der körperschaftlichen Autonomie, die ohne die freie Wahl der Leitungsorgane durch die Körperschaften selbst zu einem Muster ohne Wert verblaßte. Für die Universitäten, deren Autonomie die Voraussetzung ihrer Wissenschaftsfreiheit bildet, gilt das in besonderem Maße.26 Bei den öffentlichen Rundfunkanstalten gebietet die „Staatsferne“, die ihnen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auferlegt, die freie Wahl der Intendanten durch die Rundfunkräte. 2. Die nordrhein-westfälische Schulleiterwahl Daß es neben den verfassungsrechtlich einwandfreien Ämterwahlen immerhin einen verfassungsrechtlich bereits deutlich mehr als nur dubiosen Ausnahmefall gibt, ist dem nordrhein-westfälischen Schulgesetz27 zu verdanken. Nach dessen § 61 23 Das geschah aus Rücksicht auf die beim Erlaß des GG in Norddeutschland dominierende Ratsverfassung, die sich mit der unmittelbaren Wahl der Stadtverordneten begnügte und die Wahl des Bürgermeisters und des Oberstadtdirektors diesen überließ. 24 In E 118, 101 (104) hatte das BVerwGE Anlaß, das hervorzuheben, um klarzustellen, daß Art. 28 GG keine bundesrechtlichen und daher revisiblen Vorgaben für die Bürgermeisterwahlen zu entnehmen sind. 25 An der indirekten Wahl durch den Kreistag hält nur noch Baden-Württemberg fest (§§ 39 Abs. 5 LKrO BW). 26 Ob dem das Hochschulrecht der Gegenwart mit der u. a. in Baden-Württemberg eingeführten Bindung der Rektorwahl an einen vom Universitätsrat im Einvernehmen mit dem Wissenschaftsministerium zu erstellenden Vorschlag (§ 13 Abs. 5 UniG BW) noch hinreichend Rechnung trägt, steht auf einem anderen Blatt. 27 Vom 15. 2. 2005 (GV 102) i. d. F. des 2. Schulrechtsänderungsgesetzes vom 27. 6. 2006 (GV 278).
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Abs. 2 Satz 128 wählt die aus Lehrervertretern, Elternsprechern und Schülern zusammengesetzte Schulkonferenz den künftigen Leiter ihrer Schule „in geheimer Wahl“. Die Schulkonferenz ist zwar an einen Vorschlag der oberen Schulaufsichtsbehörde gebunden, der „möglichst mindestens zwei geeignete Personen“ benennen soll29 und dabei Art. 33 Abs. 2 GG ohne Zweifel zu beachten hat. Aber gerade darin zeigt sich die Fragwürdigkeit dieses Verfahrens: Bei zwei Kandidaten wird in aller Regel einer geeigneter sein als der andere. Gleichwohl darf die Schulkonferenz für den anderen votieren, ohne aufdecken zu müssen, warum sie das tut. Die Schulkonferenz hat die freie Wahl. Unter dem Schutz der geheimen Abstimmung kann sie schalten, wie es ihr beliebt. Den Ausschlag gibt das subjektive Gutdünken ihrer Mitglieder. Eine Orientierung an den Art. 3 und 33 GG verlangt § 61 Abs. 2 SchulG nicht von ihnen; sollte er sie wünschen, so gibt er das nicht zu erkennen. Er lädt daher zum Abstimmen nach Maßgabe der persönlichen Sympathie und der individuellen Vorlieben hinsichtlich des Geschlechts, der Konfession, der regionalen oder sozialen Herkunft der Bewerber, ihrer Partei-, Gewerkschafts- oder Vereinszugehörigkeit geradezu ein. „Gewählt und damit vorgeschlagen ist, wer die Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Stimmen erhält.“ So will es § 61 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW. Daß der Gewählte nur „vorgeschlagen“ sei, trügt. Ein Vetorecht räumt § 61 Abs. 4 SchulG lediglich dem Schulträger ein, also je nach Schulart der zuständigen Gemeinde oder dem zuständigen Landkreis. Verschweigt sich der Schulträger, so hat die Schulaufsichtsbehörde die von der Schulkonferenz „gewählte Bewerberin oder den gewählten Bewerber“ zu ernennen (§ 61 Abs. 5 SchulG).30 Auf diese Weise verbiegt das § 61 SchulG NRW das Gebot der Bestenauslese zu der Erlaubnis, sich mit dem Zweitbesten zu begnügen. Die Bestenauswahl schlägt um in die Auswahl des Genehmeren. Gründe, die das rechtfertigen könnten, sind nicht in Sicht. Die Schulen genießen anders als die Universitäten weder Lehrfreiheit noch Autonomie. Auch die Unab28 Ein Mammut-Paragraph aus sieben Absätzen und 628 Worten, der den verfassungsrechtlichen Fragwürdigkeiten der Schulleiter-Wahl mit übermäßig verkomplizierten Verfahrensregelungen zu entrinnen versucht. Um so klarer Pechstein, der im April 2006 in einem Rechtsgutachten über dieses legislatorische Ungetüm schon vor seiner Erhebung zum verbindlichen Gesetz zu dem Ergebnis kam: „Das Diktum der Verfassungswidrigkeit der Wahl des Schulleiters durch die Schulkonferenz ist unvermeidlich“, aber weder die Landesregierung noch die damalige Landtagsmehrheit umzustimmen vermochte. Das Gutachten ist im Internet mit Hilfe der Stichwörter „Matthias Pechstein Rechtswissenschaftliches Gutachten“ leicht zu finden. 29 § 61 Abs. 1 Satz 2 letzter Halbsatz. 30 Daß § 61 Abs. 4 SchulG den Schulträgern die Ausübung ihres Vetorechts nicht gerade erleichtert, wenn er ihnen eine Frist von acht Wochen setzt und einen mit 2/3-Mehrheit gefaßten Beschluß des Gemeinderats oder des an seiner Stelle zuständigen Gremiums verlangt, kommt hinzu.
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hängigkeit, die die Richterwahlen rechtfertigt, geht ihnen ab. Gleichwohl genießen die nordrhein-westfälischen Schulkonferenzen bei der Wahl des Schulleiters eine weit größere Freiheit als sie das Hochschulrecht den Universitäten bei der Berufung der Professoren und das Richterrecht den Richterwahlausschüssen bei der Vergabe der Richterämter zugesteht. Während das Letztentscheidungsrecht über die Berufung der Professoren und Richter dem zuständigen Minister verbleibt und den Universitäten nur ein Vorschlagsrecht zusteht, geht § 61 SchulG NRW umgekehrt vor: Er speist die Schulaufsichtsbehörde mit einem bloßen Vorschlagsrecht ab und läßt der Schulkonferenz bei der eigentlichen Entscheidung freie Hand. Damit beraubt § 61 SchulG NRW die Schulleiterwahl der auch bei ihr unerläßlichen demokratischen Legitimation. Denn die Schulkonferenz verdankt ihr Mandat lediglich einer schulinternen Wahl. Eine Legitimation durch das Volk in seiner Gesamtheit, wie sie das BVerfG für die Ausübung aller staatlichen Befugnisse einschließlich der Rekrutierung des öffentlichen Dienstes fordert,31 geht ihr ab. Gleichwohl verdrängt sie die Schulaufsicht aus ihrer parlamentarischen Verantwortung für die Besetzung der Schulleiter-Stellen. Die Schulaufsichtsbehörde muß ernennen, wen die Schulkonferenz wählt, auch wenn sie den Gewählten nur vorgeschlagen hat, um ihrer Pflicht zur Benennung von „möglichst mindestens zwei geeigneten Personen“ zu genügen, ihm aber nicht ausgewählt hätte, wenn die Letztentscheidung bei ihr läge. Damit überschreitet das Nordrhein-Westfälische Schulgesetz die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen. Sie verstößt gegen Art. 33 Abs. 2 GG und durchbricht die in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung. Das Land Nordrhein-Westfälsche täte gut daran, das mit einer Rückkehr zu dem Standard des in den anderen Bundesländern üblichen Verfahrens der Schulleiter-Ernennung in Ordnung zu bringen, der zwar eine Anhörung der Schulkonferenzen vorsieht, die eigentliche Entscheidung der zuständigen Schulbehörde beläßt.32 IV. Der Wahlbeamte Die Bürgermeister, Beigeordneten, Landräte, Universitätsrektoren und -kanzler werden in ihr Amt nicht nur gewählt. Sie erhalten mit ihrer Wahl auch den Status des Beamten auf Zeit.33 Das versetzt sie in eine eigenartige Zwitterstellung: Sie sind einerseits Repräsentanten ihrer Wähler und anderseits als Beamte in die staatliche Bürokratie eingegliedert. Darin unterscheiden sie sich von den Parlamentsabge31
s. o. Fußn. 20. Die in Nordrhein-Westfalen parallel mit der Schulleiterwahl eingeführte Herabsetzung der Schulleiter von Beamten auf Lebenszeit zu Beamten auf Zeit hat das BVerfG durch Beschluß vom 28. 5. 2008 (E 121, 205) bereits kassiert. Es steht zu vermuten, daß die Schulleiterwahl das gleiche Schicksal treffen wird, sobald sich ein Kläger findet, der auch sie vor Gericht bringt. 33 §§ 42 Abs. 2, 50 GemO BW; 37 Abs. 2 LKrO BW; 13 Abs. 2, 17 Abs. 1 UniG BW. 32
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ordneten, Regierungschefs und Ministern, die ein von den Bindungen des Beamtenrechts freies Amt bekleiden, das ihnen ein Selbstverständnis erlaubt, das sich ganz auf das ihnen von ihrer Wählerschaft übertragene Mandat konzentriert. Diese Freiheit genießen die Wahlbeamten nur mit einigen nicht unerheblichen Einschränkungen. 1. Einbindung in die Verwaltungshierarchie Aus dem Beamtenstatus der Wahlbeamten ergeben sich Beschränkungen ihres passiven Wahlrechts; sie können für ihr Amt nur kandidieren, wenn sie die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in das Beamtenverhältnis erfüllen. Der Wahlbeamte unterliegt ferner der beamtenrechtlichen Grundpflicht zur Unparteiischkeit, von der die per se parteiischen Parlamentsabgeordneten, Regierungsmitgliedern und Gemeinderatsmitgliedern aus guten Gründen befreit sind. Die Wahlbeamten sind zu amtsangemessenem Verhalten innerhalb wie außerhalb des Dienstes und zur Amtsverschwiegenheit verpflichtet. Für sie gelten die Regeln über die Haftpflicht der Beamten. Nebentätigkeiten sind ihnen lediglich in dem engen Rahmen des beamtenrechtlich Erlaubten gestattet. Bei Verletzungen ihrer Beamtenpflichten droht ihnen ein Disziplinarverfahren, das im Extremfall zu ihrer Entfernung aus dem Dienst noch vor Ablauf ihrer Wahlperiode führen kann. Anders als der Abgeordnete, der es mit sich selbst ausmachen muß, ob er sein Mandat nach einer Straftat oder einer anderen gravierenden Verfehlung weiter ausüben kann, nimmt dem Bürgermeister und dem Landrat die zuständige Rechtsaufsichtsbehörde diese Entscheidung ab; ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet und mit welchem Ziel es geführt wird, liegt bei ihr, nicht bei den Wählern.34 Das alles stellt § 92 LBG BW35 mit einem Pauschalverweis auf das BeamtenstatusG des Bundes klar.36 34
Das schlägt bei der Veruntreuung von Kommunalvermögen durch Verstöße gegen das Haushaltsrecht, dem häufigsten Grund der insgesamt nicht gerade häufigen Disziplinarverfahren gegen Bürgermeister, zu Buche. Auch wenn seine Wähler dem Schuldigen signalisieren, daß sie ihm seine Verstöße nicht verargen, und ihn bitten, weiter im Amt zu bleiben, rettet ihn das nicht vor dem Disziplinarverfahren und vor allem nicht vor dem automatischen Ende seines Beamtenverhältnisses gem. § 24 BeamtenstatusG. 35 „Für Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte sowie Amtsverweserinnen und Amtsverweser gelten die Vorschriften des Beamtenstatusgesetzes und dieses Gesetzes …“. Noch deutlicher das Bayrische Gesetz über kommunale Wahlbeamte i. d. F. v. 17. 8. 2009 (GVBl 478), das in seinen Art. 34 ff. alle Vorschriften des BeamtenstatusG und des LBG Bay über die Rechte und Pflichten der Beamten einschließlich der vor allem für die Bürgermeister wichtigen Residenzpflicht übernommen hat und jedem Zweifel an ihrer Geltung auch für die kommunalen Wahlbeamten vorbeugt. 36 Was sich freilich erübrigt hätte. Das BeamtenstatusG des Bundes gilt gemäß seinem § 1allemal auch für „die Beamtinnen und Beamten der Länder, Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der sonstigen der Aufsicht eines Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts.“ Es schadet daher nicht, daß wegen der akademischen Wahlbeamten weder das LBG BW noch das UniG BW auf das BeamtenstatusG verweisen; für sie gilt das BeamtenstatusG auch ohne landesrechtliche Bestätigung unmittelbar kraft Bundesrechts.
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Seine Erklärung findet das darin, daß die kommunalen wie die akademischen Wahlbeamten enger in die staatliche Verwaltung eingebunden sind, als das bei den übrigen Trägern von Wahlämtern der Fall ist. In den kreisfreien Städten und den Großen Kreisstädten nehmen die Bürgermeister neben den Aufgaben ihrer Stadt auch die Aufgaben der unteren staatlichen Verwaltungsbehörde wahr;37 in den kleinen Gemeinden fungieren sie als Leiter der Ortspolizeibehörde.38 Die Landräte leiten neben der kommunalen auch die staatliche Abteilung ihres Landratsamts. Die Rektoren und Kanzler erfüllen zusätzlich zu ihren Aufgaben in der akademischen Selbstverwaltung ebenfalls eine breite Fülle staatlicher Funktionen. Im Bereich dieser „übertragenen Aufgaben“ unterstehen die Wahlbeamten der staatlichen Fachaufsicht. Anders als im autonomen Bereich der „eigenen Aufgaben“ ihrer Gemeinde, ihres Kreises oder ihrer Universität sind sie daher an die Weisungen der ihnen übergeordneten staatlichen Aufsichtsbehörde gebunden. Das bedingt eine festere Inpflichtnahme als sie ansonsten im Zusammenhang mit den Wahlämtern einhergeht. 2. Das passive Wahlrecht des Wahlbeamten Daß die beamtenrechtlichen Bindungen der Wahlbeamten hin und wieder irritieren, erstaunt nicht weiter. Die Einsicht, daß der Bürgermeister als Leiter der unteren Verwaltungsbehörde auch Maßnahmen treffen muß, die dem Willen seiner Wähler und häufig genug auch seinem eignen Willen konträr zuwiderlaufen,39 setzt eine gewisse Vertrautheit mit den allgemein verwaltungsrechtlichen und kommunalrechtlichen Grundlagen seines Amtshandelns voraus, die der breiteren Öffentlichkeit abgeht. Das macht den Bürgermeistern das Leben schwer, wenn sie den Weisungen der Landesregierung folgen müssen, ohne ihrer wutbürgerlich protestierenden Stadt allzu ungeschminkt erklären zu können, wie ungern sie das tun, weil ihnen § 33 Abs. 2 BeamtenstatusG „Mäßigung und Zurückhaltung“ gebietet. Noch mehr Unverständnis lösen die Beschränkungen aus, die das BeamtenstatusG dem Zugang zu den Wahlämtern setzt. In der jüngeren Vergangenheit haben zwei Fälle für zumindest regionale Aufregung gesorgt: Der erste betraf zwei NPD-Mitglieder, die 2008 nicht zur Kandidatur bei den Landratswahlen für die mecklenburgvorpommerschen Landkreise Ludwigslust und Ostvorpommern zugelassen worden waren, weil ihre Parteimitgliedschaft und vor allem auch ihre politischen Aktivitäten Zweifel an ihrer Verfassungstreue begründet haben.40 Dabei hatten sich die beiden
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§ 15 Abs. 2 LandesverwaltungsG BW. § 62 Abs. 4 PolG BW. 39 §§ 44 Abs. 3 GemO BW: „Weisungsaufgaben erledigt der Bürgermeister in eigener Zuständigkeit, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“. 40 Auf diesen Fall hat die Schweriner Landtagsfraktion der NPD mit einem Rundschreiben aufmerksam gemacht, das sie mit der Bitte um „Befassung mit dieser Angelegenheit“ an die Mitglieder der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung versandt hat. Einem Bericht der FAZ vom 27. 02. 2010, S. 2 zufolge hat einer der beiden Abgewiesenen es zwei Jahre später, erneut 38
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Landkreise auf einen Runderlaß des mecklenburg-vorpommerschen Innenministers vom 28. Februar 2007 gestützt, der alle kommunalen Wahlorgane daran erinnerte, daß die Pflicht zur Verfassungstreue auch für die Wahlbeamten gilt, und daß aus diesem Grunde nicht zu den Bürgermeister- und Landratswahlen zugelassen werden könne, wer zu ernsten Zweifeln an seiner Bereitschaft zum Eintreten für die verfassungsrechtliche Grundordnung des GG Anlaß gebe.41 Im zweiten Fall ging es um die 2010 im Rhein-Neckar-Kreis Heidelberg fällige Landratswahl, bei der neben drei Volljuristen und zwei Diplom-Verwaltungswirten, die allesamt langjährige Erfahrung in der Praxis der Kommunalverwaltung mitbrachten, auch eine „staatlich anerkannte Erzieherin (BA), Diplom-Sozialpädagogin, Diplom-Diakoniewissenschaftlerin und geprüfte Public-Relations-Beraterin/-Referentin“ kandidieren wollte. Das Innenministerium wies ihre Bewerbung zurück, weil sie „aufgrund ihrer Vorbildung und ihres bisherigen Werdegangs nicht über die Voraussetzungen“ verfüge, „die zur Leitung eines Landratsamtes erforderlich“ seien. Die anderen fünf Bewerber hat es zur Kandidatur zugelassen.42 Daß diese beiden Fälle die Öffentlichkeit beunruhigt hätten, wäre übertrieben. Aber einige Kritiker sahen doch die Demokratie und das freie Wahlrecht in Gefahr, wenn die Landesregierungen ihnen unliebsame Bewerber kurz angebunden von den Bürgermeister- und Landratswahlen ausschlössen. In Mecklenburg-Vorpommern war davon die Rede, daß die NPD nicht verboten und damit zu allen Wahlen zugelassen sei. In Baden-Württemberg warf die Fraktion der Linken im Heidelberger Kreistag dem Innenminister vor, er schränke „das grundlegende Recht eines jeden Bürgers“ ein, „für ein politisches Amt zu kandieren“. Diese Sorgen sind freilich unbegründet. Die in Mecklenburg-Vorpommern erhobenen Vorwürfe lassen außer acht, daß sich die Bewerber um das Amt des Bürgermeisters und des Landrats um die Aufnahme in ein Beamtenverhältnis bewerben und deshalb die gesetzlichen Voraussetzungen für die Ernennung zum Beamten erfüllen. Sie müssen – die deutsche Staatsangehörigkeit oder die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU besitzen, – die Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes einzutreten, und – die nach Landesrecht vorgeschriebene Befähigung besitzen.43 ohne Erfolg, versucht, zur Kandidatur zu der Bürgermeisterwahl in Anklam zugelassen zu werden. 41 Diesen Erlaß hat die NPD dankenswerterweise mitversandt und damit die erbetene „Befassung mit dieser Angelegenheit“ wesentlich erleichtert, aber in eine ganz andere als die von ihr erwünschte Richtung gelenkt. Der Erlaß entkräftet den Protest der NPD durch eine einleuchtend begründete Darstellung der Rechtslage. 42 So der Bericht der Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg vom 12. 1. 2010, S. 10. 43 § 7 Abs. 1 BeamtenstatusG.
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Das verlangt deutlich mehr, als für eine Kandidatur um ein Parlaments- oder Gemeinderatsmandat gefordert wird. Aber es ist unumgänglich und, was die Pflicht zur Verfassungstreue und Befähigung für das angestrebte Amt angeht, auch indispensabel. Einige Länder heben das deutlicher hervor als Mecklenburg-Vorpommern, das in § 37 Abs. 4 Satz 2 seiner Kommunalverfassung44 lediglich festhält, daß der zum Bürgermeister Gewählte zum Beamten auf Zeit zu ernennen ist und nur damit klarstellt, daß er die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme in das Beamtenverhältnis erfüllen muß. Baden-Württemberg z. B. begnügt sich nicht mit einem solchen für Laien nicht ohne weiteres durchschaubaren Verweis auf das Beamtenrecht; in § 46 Abs. 1 seiner GemO hält es vielmehr ausdrücklich fest, daß „wählbar“ zum Bürgermeister nur ist, wer die Gewähr für seine Verfassungstreue bietet. Aber damit erweist sich das baden-württembergische Recht lediglich allgemeinverständlicher als das mecklenburg-vorpommersche. In der Sache indessen stimmt es nahtlos mit ihm überein. Wer die mecklenburg-vorpommerschen Behörden wegen ihres Bestehens auf dem Ausschluß verfassungsfeindlich eingestellter Bewerber vom passiven Wahlrecht bei den Bürgermeister- und Landratswahlen tadelt, liegt daher falsch; er übersieht, daß sich das passive Wahlrecht bei diesen Wahlen wegen der Verbeamtung der Gewählten wesentlich von dem bei den Parlaments- und Gemeinderatswahlen unterscheidet.45 Der Baden-Württembergische Fall ist anders gelagert. Hier geht das Innenministerium von der Ungeeignetheit der abgewiesenen Bewerberin aus, die nicht zu den in § 7 Abs. 1 BeamtenstatusG abschließenden aufgezählten Ernennungshindernissen gehört. Auch § 38 LKrO BW macht die Wählbarkeit zum Landrat lediglich vom Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, von einem Mindestalter von 30 sowie einem Höchstalter von 63 Jahren und von der Gewähr der Verfassungstreue abhängig,46 stellt jedoch keine besonderen Anforderungen an die Ausbildung und den beruflichen Werdegang der Kandidaten. Würde der Landrat auch in Baden-Württemberg von der Bevölkerung seines Landkreises gewählt, so folgte daraus, daß niemand allein deshalb von der Kandidatur ausgeschlossen werden dürfte, weil Zweifel an seiner persönlichen Eignung, seiner fachlichen Befähigung oder seiner physischen Leistungskraft und psychischen Leistungsbereitschaft bestehen. Wer für das Amt des Landrats die richtige Frau oder der richtige Mann ist, hätten auch in 44
I.d.F.v. 8. 6. 2004, GVOBl. 205. Streiten läßt sich daher lediglich darüber, ob die beiden zurückgewiesenen Bewerber der Vorwurf mangelnder Verfassungstreue zu Recht traf. Auch das scheint jedoch gesichert zu sein. Denn der Erlaß des Innenministers vom 28. 2. 2007 (Fußn. 40/41) folgt der Rechtsprechung des BVerfG und des BVerwG, nach der die Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Partei für sich allein nicht zwingend zum Ausschluß von der Aufnahme in das Beamtenverhältnis führen muß, sofern dem Betroffenen keine eigene Beteiligung an den verfassungsfeindlichen Aktivitäten seiner Partei zur Last fällt (BVerfGE 39, 334 [359], BVerwGE 61, 176 [182]); die Anzeichen sprechen dafür, daß die Kreiswahlausschüsse das bedacht haben. 46 Ähnlich § 46 Abs. 1 GemO BW, der für die Bürgermeister das Mindestalter auf 25 und das Höchstalter auf 65 Jahre festsetzt und von ihnen außerdem einen Wohnsitz in der Bundesrepublik fordert, im Übrigen aber mit § 38 LKrO BW übereinstimmt. 45
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Baden-Württemberg allein die Wähler zu entscheiden; das Innenministerium hätte ihnen nichts dreinzureden. In Baden-Württemberg wird der Landrat jedoch in indirekter Wahl vom Kreistag aus einer Vorschlagsliste gewählt, die ein von ihm eingesetzter Ausschuß gemeinsam mit dem Innenministerium erstellt.47 Es findet also eine Vorauswahl statt. Bei ihr muß sich das Innenministerium mit dem Wahlausschuß des Kreises auf „mindestens drei Bewerber“ einigen. Dabei darf es nicht nur auf die Eignung der Bewerber achten. Es ist vielmehr verpflichtet, ungeeignete Bewerber von der Kandidatur fernzuhalten. Denn darin liegt der Sinn des gestuften Wahlverfahrens. Dieses Verfahren verbindet die Bestenauslese in der Vorauswahl durch das Innenministerium mit der Freiheit der Wahl des Landrats durch den Kreistag, dem die Beteiligung seines Wahlausschusses an der Vorauswahl die parteipolitische Ausgewogenheit des Wahlvorschlags garantiert. Dem hat das Innenministerium bei der jüngsten Landratswahl des Rhein-NeckarKreises korrekt Rechnung getragen. Den Gründen, die es für Ablehnung der nur im sozialen Bereich ausgewiesenen, in der allgemeinen inneren Verwaltung und der Kommunalverwaltung aber offensichtlich ganz unerfahrenen Bewerberin ins Feld geführt hat, ist die Plausibilität nicht abzusprechen. Des Kunstgriffs, der Ämterwahl eine Vorauswahl vorauszuschicken, bei der auch die Eignung und Befähigung der zur Wahl stehenden Bewerber auf dem Prüfstand steht, bedient sich auch das Hochschulrecht bei der Rektor- und Kanzlerwahl.48 Auch bei ihr sind die akademischen Senate an einen Vorschlag gebunden, den hier der Universitätsrat gemeinsam mit einem Wahlvorbereitungsausschuß des Senats erstellt. Das ändert freilich nichts daran, daß der Senat den Rektor und den Kanzler wählt und damit die Letztentscheidung trifft. Deshalb kann dem Gewählten die Ernennung auch dann nicht verweigert werden, wenn zwischen der Wahl und der Ernennung Tatsachen bekannt werden, die Zweifel an seiner Eignung begründen. Ob die Kandidaten für akademische Leitungsämter geeignet sind oder nicht, ist bei der Vorauswahl zu prüfen. Was erst danach festgestellt wird,49 bleibt unerheblich. 3. Fachliche Anforderungen für Wahlbeamte Der Freiheit der Wahl zuliebe hält sich das Kommunalrecht mit fachlichen Anforderungen an die Bewerber um Wahlämter sehr zurück. Einige Gemeindeordnungen verlangen von den Großstadtbürgermeistern die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst.50 Aber das ist nicht die Regel. Anders das 47
§ 39 LKrO BW. §§ 13 Abs. 5, 17 Abs. 3 UniG BW. 49 Etwa bei der amtsärztlichen Einstellungsuntersuchung. 50 Das ist z. B. in Mecklenburg-Vorpommern der Fall, das von den Bürgermeistern von Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern die Befähigung zu Richteramt und von Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern die Befähigung zum gehobenen Verwaltungsdienst verlangt, aber 48
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Hochschulrecht, das z. B. in Baden-Württemberg zum Amt des Universitätsrektors nur zuläßt, „wer der Universität hauptberuflich als Professor angehört oder wer eine abgeschlossene Hochschulausbildung besitzt und auf Grund einer mehrjährigen beruflichen Tätigkeit, insbesondere in Wissenschaft, Wirtschaft, Verwaltung oder Rechtspflege, erwarten läßt, daß er den Aufgaben des Amtes gewachsen ist“ (13 Abs. 3 UniG); von seinen Universitäts-Kanzlern verlangt Baden-Württemberg nicht minder wortgewaltig „die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst … oder einen wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulabschluß und … mehrjährige berufliche Erfahrungen aus verantwortlicher Tätigkeit, insbesondere in der Verwaltung oder in der Wirtschaft“ (§ 17 Abs. 1 UniG.). Ansonsten aber stößt § 7 Abs. 1 Nr. 3 c BeamtenstatusG bei den Wahlbeamten mit seiner Forderung nach der „nach Landesrecht vorgeschriebene Befähigung“ in ein Vakuum. Denn Landesbeamtenrecht klammert die Wahlbeamten aus seinen Laufbahnvorschriften aus, und das Kommunalrecht begnügt sich bei ihnen mit der deutschen Staatsangehörigkeit, der Verfassungstreue, einem Mindest- und einem Höchstalter. Das Urteil über die Eignung und Befähigung der Wahlbeamten treffen daher ihre Wähler. Wer sie überzeugt und die Mehrheit der Stimmen erhält, gilt somit ipso iure als geeignet und befähigt. Er braucht seine Befähigung nicht mit Prüfungszeugnissen nachzuweisen. Es genügt, daß er die Wähler überzeugt. Umso mehr Gewicht besitzt das Wahlverfahren. Es muß gewährleisten, daß sich die Wähler ein ausgewogenes Urteil über die Kandidaten bilden können. Deshalb sieht das Kommunalrecht bei den Bürgermeisterwahlen öffentliche Kandidatenvorstellungen vor.51 Daß die Verwaltungsgerichte falsche Angaben der Kandidaten über sich oder ihre Konkurrenten als Wahlanfechtungsgründe bewerten, hat ebenfalls seinen guten Grund. Zur Ungültigkeit der Wahl führt insbesondere, wenn ein Kandidat mit unwahren Angaben über seinen Werdegang um Stimmen wirbt oder offenbarungspflichtige Tatsachen verschweigt, die seine Wahlchancen schmälern.52 Werden derartige Täuschungen bei der Wahlprüfung aufgedeckt, so zwingen sie dazu, die Wahl für ungültig zu erklären und ihre Wiederholung anzuordnen. § 11
darauf verzichtet, wenn der ranghöchste dem Bürgermeister nachgeordnete Beamte diese Qualifikation besitzt (§ 38 Abs. 9 Kommunalverfassung). 51 Vgl. § 47 Abs. 2 Satz 2 GemO BW. Daß er nur eine Kann-Vorschrift ist, erstaunt. Eine Soll-Vorschrift, die Ausnahmen in kleinen Gemeinden, in denen jeder die Kandidaten kennt, und in Großstädten zuläßt, wo die Kandidaten ihre Vorstellung in die eigene Hand nehmen, trüge der Bedeutung der Wählerinformation besser Rechnung. 52 Z. B. Vorstrafen, eine Stasi-Vergangenheit, die Mitgliedsschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung. Auch das Verschweigen einer die Amtsausübung erheblich behindernden Krankheit kommt als Anfechtungsgrund in Betracht; aber das ist ein Grenzfall, der zu einer schwierigen Abwägung zwischen dem Kandidatenrecht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Recht der Wähler zwingt, zu erfahren, ob der Kandidat, dem sie ihre Stimme geben, das erstrebte Amt wirklich ausüben kann.
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Abs. 1 Nr. 3 c BeamtenstatusG53 verknüpft diese Sanktion mit der beamtenrechtlichen Nichtigkeit der zwischenzeitlich erfolgten Ernennung. Das kompensiert den Verzicht auf fachliche Anforderungen an die Kandidaten. Das Wahlrecht setzt an ihre Stelle die Pflicht zur Ehrlichkeit im Wahlkampf. 4. Rücknehmbarkeit der Ernennung Die Wahlprüfung und die Wahlanfechtung sind freilich an kurze Fristen gebunden.54 Bei Regelverstößen, die erst nach Fristablauf bekannt werden, helfen sie daher nicht weiter. Diese Lücke schließt jedoch § 12 BeamtenstatusG. Nach dieser Vorschrift ist die Ernennung unabhängig von der Annullierung der zugrundeliegenden Wahl mit Wirkung ex tunc zurückzunehmen, „wenn sie durch Zwang, arglistige Täuschung oder Bestechung herbeigeführt wurde“. Bürgermeister und Landräte werden allerdings nicht ernannt. In Bayern erhalten sie den Status des Beamten ipso iure mit dem Beginn ihrer Wahlperiode.55 In BadenWürttemberg tritt ihre Vereidigung und Verpflichtung in einer öffentlichen Sitzung des Gemeinde- oder Kreistags an die Stelle der Ernennung.56 Es fehlt jedoch jeder Anhalt dafür, daß der Wegfall der Ernennung die Bürgermeister und Landräte, die ihre Wahl durch Nötigung oder Erpressung, durch Täuschung oder durch Bestechung ihrer Wähler erschlichen haben, vor dem Verlust ihres Amtes auf dem einfachen Weg der Rücknahme habe schützen wollen. In ihrem Fall spricht deshalb alles für eine analoge Anwendung des § 12 BeamtenstatusG, die an der Feststellung des Wahlergebnisses anknüpft. Der Ablauf der Fristen für die Wahlprüfung und die Wahlanfechtung steht dem nicht im Wege. Den Ausschlag gibt, zum einen, daß die § 12 BeamtenstatusG die Rücknahme der Ernennung unbefristet zuläßt und zum anderen, daß die Verbeamtung der Bürgermeister und Landräte nicht nur begünstigen, sondern sie voll und ganz in das Beamtenrecht eingliedern soll. 5. Der amtsunfähige Wahlbeamte Beamten, die ordnungsgemäß gewählt worden sind, sich aber, sei es schon vom Amtsantritt an oder erst im Verlauf ihrer Amtszeit, den Anforderungen ihres Amtes nicht gewachsen zeigen, bietet das Beamtenrecht die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand an. Willigen sie nicht aus eigener Einsicht in sie ein, so kann die vorzeitige Pensionierung auch gegen ihren Willen angeordnet werden. Das kommt allerdings nur in Betracht, wenn „ihr körperlicher Zustand oder gesundheitliche Gründe“ sie 53
„Die Ernennung ist nichtig, wenn … 3. zum Zeitpunkt der Ernennung … c) eine ihr zu Grunde liegende Wahl unwirksam ist.“ 54 Die Wahlprüfung ist innerhalb eines Monats abzuschließen; für die Wahlanfechtung bleibt nach Bekanntgabe des amtlichen Ergebnis nur eine Woche (§§ 30, 31 KommWG BW). 55 Art. 4 WahlbeamtenG, der ausdrücklich sagt „eine Ernennung entfällt“. 56 §§ 42 Abs. 6 GemO, 37 Abs. 4 LKrO.
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dauerhaft an der Erfüllung ihrer Dienstpflichten hindern. Die schlichte intellektuelle oder charakterliche Ungeeignetheit indessen reicht nicht aus. Untüchtigen Bürgermeistern und Landräten, die von ihren Wählern überschätzt worden sind, ist daher mit der Zwangspensionierung nicht beizukommen. Ihre Wähler haben sich mit ihnen vergriffen. Das beamtenrechtliche Prinzip der Ämterstabilität schützt sie jedoch ebenso wie die trotz manifester Unfähigkeit ernannten Karrierebeamten. In einigen Bundesländern erlaubt jedoch die Abwahl des Bürgermeisters oder Landrats den Wählern eine Korrektur ihrer Entscheidung.57 Baden-Württemberg, das nur die Abwahl der Universitätsrektoren kennt,58 geht indessen seinen eigenen, mit dem Beamtenstatus des Bürgermeisters besser harmonierenden Weg: § 128 GemO BW hält grundsätzlich an der Stabilität auch des Bürgermeisteramtes fest, erlaubt es aber in Fällen äußerster Not, die Amtszeit des Bürgermeisters vorzeitig „für beendet zu erklären“. Das setzt voraus, daß der Bürgermeister „den Anforderungen seines Amtes nicht gerecht“ wird und „dadurch so erhebliche Mißstände in der Verwaltung“ eintreten, daß eine Weiterführung des Amtes im öffentlichen Interesse nicht vertretbar ist“; es gilt zudem nur dann, wenn die herkömmlichen Interventionen der Kommunalaufsicht nicht mehr greifen. Erst dann wird der Weg zur Beendung der Amtszeit frei. Sie ist vom Regierungspräsidium zu beantragen; die Entscheidung trifft das Verwaltungsgericht. Der auf diese Weise abgesetzte Bürgermeister fährt besser als bei seiner vorzeitigen Pensionierung. Er behält sein Gehalt; er verliert lediglich die Aufwandsentschädigung. V. Schlußbemerkung Über die Ämtervergabe durch Wahl im Allgemeinen und den Wahlbeamten im Besonderen gäbe es noch eine Menge mehr zu berichten. Die Grenzen, die dem Umfang von Festschriftenbeiträgen gezogen sind, gebieten jedoch, hier einzuhalten in der Hoffnung, dargelegt zu haben, daß die Ämterwahl ebenso wie der Wahlbeamte verdienen, genauer untersucht zu werden, als es dieser kurze, allzu eklektische Beitrag vermochte.
57 58
Z. B. Nordrhein-Westfalen (66 GemO), Schleswig-Holstein (§ 57 d GemO). § 13 Abs. 6 UniG.
Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht Von Hans-Jürgen Papier* I. Freiheits- und Sicherheitszwecke des Verfassungsstaates „Der letzte Zweck des Staates ist nicht, zu herrschen noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht zu sein und zu wirken ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann. (…) Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“
Diese Worte aus dem im Jahre 1670 erschienenen „Theologisch-politischen Traktat“1 des großen niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza – eines Zeitgenossen von Thomas Hobbes und John Locke – benennen in einer sehr frühen Phase der Aufklärung das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Der Staat ist danach kein Selbstzweck, sondern er hat dienende Funktion – er dient im Letzten der Ermöglichung menschlicher Freiheit, indem er den Frieden gewährleistet und die Menschen durch Sicherheit von ihrer Furcht – insbesondere ihrer Furcht vor Gewalt, Verbrechen und Tod – befreit. Spinoza entwickelt diesen Gedanken in einem Abschnitt über die „Gedankenfreiheit“ und sieht ihn in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Art Gesellschaftsvertrag, der Notwendigkeit eines staatlichen Machtmonopols2, aber auch der Notwendigkeit freier Rede und Gedanken innerhalb des souveränen Staates3. Mit diesem Ansatz, der die Wechselbezüglichkeit von Freiheit und Sicherheit klar erkennt, begibt sich Spinoza ins Zentrum der auch heute noch aktuellen Problematik: Wie löst man das Paradox, dass der Staat im Interesse der Freiheitsrechte potentiell bedrohter Menschen seinerseits Freiheitseingriffe vornimmt?
* Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 30. Mai 2008 in der Politischen Akademie in Tutzing gehalten hat und der im Almanach „Glanzlichter der Wissenschaft 2009“ des Deutschen Hochschulverbands veröffentlicht ist. 1 Zwanzigstes Kapitel: „Die Gedankenfreiheit“ – Deutsche Ausgabe von Gawlick auf der Grundlage der Übersetzung von Gebhardt, 1976, S. 301. 2 A.a.O., S. 237 f. 3 A.a.O., S. 302 ff.
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1. Der moderne Verfassungsstaat ist aus einem sicherlich nicht reibungslos verlaufenden Wandel des absoluten Staates zum Rechtsstaat hervorgegangen (vgl. Isensee: „Drei teleologische Ebenen des Verfassungsstaates“4). Die Philosophie der Freiheit beispielsweise eines John Locke gewann allmählich die Oberhand über die Philosophie der Sicherheit von Thomas Hobbes. Sicherheit als Legitimationsprinzip des Staates hatte einst Thomas Hobbes für den absoluten Staat des 17. Jahrhunderts entworfen. Der Staat der Neuzeit hatte sich ursprünglich als Macht- und Friedenseinheit entwickelt, mit einem Gewaltmonopol des Staates und mit der Friedenspflicht seiner Bürger. Der Staat begegnete der Furcht vor wechselseitiger Gewalttätigkeit, vor Bürgerkrieg und vor äußeren Angriffen, er befriedigte das elementare Sicherheitsbedürfnis der Menschen gegenüber der Gewalt der Mitmenschen und gegenüber äußeren Einwirkungen. Der moderne Verfassungsstaat beruht auf einer eindrucksvollen Fortentwicklung dieser Sicherungszwecke des Staates. Es geht nunmehr auch um das Bedürfnis des Einzelnen nach Sicherheit gegenüber staatlichen Eingriffen, also um die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte als Freiheitsrechte gegen den Staat, der von der staatlichen Schutzmacht zur Unterdrückungsmacht zu werden drohte. Nicht der absolute Staat, der „Leviathan“, vielmehr der rechtsgebundene und machtbegrenzte Staat sichert den inneren und äußeren Frieden und damit die Sicherheit seiner Bürger. John Locke sah weiter als Thomas Hobbes, „weil er auf seinen Schultern steht“ (Josef Isensee)5. Nach der Wandlung des absoluten Staates zum Rechts- und Verfassungsstaat sieht sich der moderne Staat immer wieder mit weiteren, neuartigen Aufgaben konfrontiert. So galt es auf einer weiteren Entwicklungsstufe, der Furcht der Menschen vor den wirtschaftlichen und sozialen Risiken zu begegnen; der moderne Staat nahm auch dieses Verlangen nach sozialer Sicherheit auf.6 Er wandelte sich mit anderen Worten vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat. Man kann überdies weitere Entwicklungsstufen der sicherheitsorientierten staatlichen Zweckordnung und Aufgabenstellung beobachten. So geht es heute auch um die Erhaltung und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen.7 Im Angesicht der Furcht vor ihrer irreversiblen Zerstörung nimmt sich der moderne Verfassungsstaat auch dieser Sicherheitsbelange genauso an, wie er sich den vorgelagerten elementaren Sicherheitsbedürfnissen zu widmen hat. Anders ausgedrückt: Auch der moderne Sozialstaat und der Umweltstaat ersetzen nicht den Rechtsstaat in der eben umschriebenen Doppelfunktion als Garant von Freiheit und Sicherheit im engeren und elementarsten Sinne. Die neuartigen sozialen und umweltspezifischen Si4
Isensee, in: ders./ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V – Allgemeine Grundrechtslehren, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 32 – 36. 5 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 7. 6 Isensee (Fußn. 4), § 111 Rn. 34. 7 Isensee (Fußn. 4), § 111 Rn. 36.
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cherheitszwecke können jene elementaren rechtsstaatlichen Sicherheitszwecke nicht ersetzen, sie können sie nur ergänzen und bereichern. Die Erweiterung der staatlichen Zweckordnungen und Zweckdimensionen darf also in keinem Fall zur Aufgabe der elementaren Sicherungszwecke führen. Der Sozial- und Umweltstaat darf nicht gegen den Rechtsstaat ausgespielt werden; der Sicherheitszweck des Staates, der mit seinem Gewaltmonopol Frieden und Sicherheit zu gewährleisten hat, darf aber auch nicht gegen den liberalen, staatsbegrenzenden und freiheitsverbürgenden Zweck des Rechtsstaats ausgespielt werden. Das gilt umgekehrt selbstverständlich genauso. Ein Rechtsstaatsverständnis, das einseitig von der Gewährleistung der Sicherheit des Bürgers und nicht zugleich von der Staatsabwehrdoktrin beherrscht wird, gibt den Rechtsstaat selbst preis. Deshalb darf auch aufgrund einer die „hobbesianischen“ Sicherheitsbedürfnisse berührenden Furcht vor terroristischen Gewaltanwendungen von innen und von außen keinesfalls die verfassungsstaatliche Entwicklung in die Vergangenheit zurückgedreht, die verfassungspolitische Philosophie eines John Locke schrittweise zugunsten einer einseitigen staatlichen Zweckordnung und Zweckdimension im Sinne von Thomas Hobbes geopfert werden. 2. Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund terroristischer Bedrohungen spätestens seit dem 11. September 2001 wieder in neuer und drängender Form. Angesichts der seitdem anzutreffenden gesetzgeberischen Aktivitäten wird immer häufiger die Frage gestellt, ob die bürgerliche Freiheit vor dem Staat selbst ins Hintertreffen zu geraten droht. Die Geschichte zeigt dabei, dass gewonnene Standards jederzeit wieder verloren gehen können und dass gerade die Sicherung des Überlebens und die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung ebenso wenig selbstverständlich sind wie die Erhaltung grundrechtlicher Standards der Menschen gegenüber dem Staat. Zusätzlich und verstärkend zu neuen terroristischen Motivationen werden dabei auch Gefahren gesehen, die von der organisierten Kriminalität und von neuartigen technischen Instrumentarien ausgehen, derer sich die Täter bedienen können. Es werden Gegenmaßnahmen vorgeschlagen, streitig diskutiert und zum Anlass für staatliche Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte genommen. Genannt seien hier nur einige Beispiele der aktuellen Debatte, sowohl aus dem Bereich des Bundes (vornehmlich im Rahmen seiner Strafrechtskompetenz) als auch dem der Länder (im Rahmen ihrer präventiven Sicherheits-, Polizei- und Verfassungsschutzkompetenz): An erster Stelle ist hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten vom 2. März 2010 anzuführen.8 Sie betraf die auf der Richtlinie 2006/24/EG beruhende, im Telekommunikationsgesetz9 geregelte Pflicht der Telekommunikationsunternehmen zur sechsmonatigen Speicherung der bei ihnen anfallenden Telekommunikationsverkehrsda8
BVerfGE 125, 260 ff. Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen zu Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG v. 21. Dezember 2007, BGBl I S. 3198. 9
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ten. Zugleich waren in dem Gesetz bestimmte Zugriffsmöglichkeiten staatlicher Behörden auf diese Daten geregelt. In der Entscheidung wurde vor allem herausgestellt, dass eine flächendeckende, vorsorgliche Erfassung und Speicherung von Daten, die praktisch alle Aktivitäten des Bürgers rekonstruierbar machen, mit dem Grundrecht auf Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses nicht vereinbar seien.10 Zwar sei eine anlasslose Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten durch die Telekommunikationsdiensteanbieter für den Zeitraum von sechs Monaten von Verfassungs wegen möglich, weil sie eben nur die Verkehrsdaten, nicht aber die Inhalte der Kommunikation umfasste. Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung und der Regelungen über die Verwendung der so gespeicherten Daten wurde aber ein Verstoß gegen Art. 10 Abs. 1 GG festgestellt. Die maßgeblichen Vorschriften des einfachen Rechts wurden für nichtig erklärt.11 Eine gesetzliche Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung, die den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht, wird derzeit erwogen, ist aber politisch umstritten. Eine Weiterentwicklung hat der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), aus dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hergeleitet wird, durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum nordrhein-westfälischen Gesetz über die Online-Durchsuchung durch Verfassungsschutzbehörden des Landes erfahren.12 Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung, in der die betreffenden gesetzlichen Regelungen für nichtig erklärt wurden, allgemeine verfassungsrechtliche Vorgaben für gesetzliche Ermächtigungen zu sog. Online-Durchsuchungen aufgestellt und aus dem allgemeinen Grundrecht des Schutzes der Persönlichkeit das spezifische Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme entwickelt. Die mittlerweile auf Bundesebene für das Bundeskriminalamt in § 20k BKAG eingeführte Befugnis zur Online-Durchsuchung wird sich an diesen Vorgaben messen lassen müssen. In der Reihe dieser sicherheitsrechtlichen Entscheidungen steht schließlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. März 2008 zur KfZ-Kennzeichenerfassung.13 Die Verwaltungs- bzw. Polizeigesetze mehrerer Bundesländer ermächtigen zur anlass- und verdachtslosen automatisierten Erfassung einer Vielzahl von Kfz-Kennzeichen im Straßenverkehr zum Zwecke eines elektronischen Abgleichs mit den Fahndungsbeständen. Diejenigen Kfz- Kennzeichen, die in den Fahndungsdateien nicht genannt sind, sollen unverzüglich gelöscht werden. Gegen die entsprechenden hessischen und schleswig-holsteinischen Regelungen waren Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht erhoben worden, denen das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil stattgegeben hat. Die beanstandeten Regelungen genügten nicht dem Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit, da 10 11 12 13
BVerfGE 125, 260 (307 ff.). BVerfGE 125, 260 (307 ff.). BVerfGE 120, 274 ff. BVerfGE 120, 378 ff.
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sie weder den Anlass noch den Ermittlungszweck benannten, denen die Erhebung und der Abgleich der Daten dienen sollten. Darüber hinaus genügten die angegriffenen Vorschriften in ihrer unbestimmten Weite auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit nicht. Sie ermöglichten schwerwiegende Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. Im Folgenden sollen aus diesen – und weiteren14 – bereits ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit befassen, einige allgemeine Grundaussagen entnommen werden. II. Rechtsstaatliche Bindungen 1. Der Rechtsstaat ist eine verfasste Friedens- und Ordnungsmacht. Seine Sicherheit und der von ihm zu gewährleistende Schutz der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit sind Verfassungswerte, die im Verhältnis zu anderen hochwertigen Gütern durchaus gleichrangig sind.15 Sowohl Art. 2 Abs. 2 Satz 1 als auch Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes bilden die normativen Grundlagen der Schutzpflicht des Staates.16 Der Staat hat das Recht und die Pflicht, terroristischen Bestrebungen mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten. Das gilt in besonderem Maße in Bezug auf Planungen und Maßnahmen, welche „die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen“.17 2. Unter dem Grundgesetz ist der Staat aber auch auf diese rechtsstaatlichen Mittel beschränkt. „Das Grundgesetz enthält einen Auftrag zur Abwehr von Beeinträchtigungen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung unter Einhaltung der Regeln des Rechtsstaats“.18 Das Bundesverfassungsgericht hat es gerade als besondere Kraft des Rechtsstaats herausgestellt, dass er selbst mit seinen erklärten Gegnern nach den allgemein geltenden Grundsätzen verfährt19 und dass dies auch dann zu gelten hat, wenn und soweit die fundamentalen Staatszwecke der Sicherheit und des Schutzes der Bevölkerung verfolgt werden.20 Es sind verfassungsrechtlicher Auftrag und Verpflichtung des Gesetzgebers, eine angemessene Balance zwischen
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Zu nennen sind hier beispielsweise die Entscheidungen zum sog. großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279 ff.), zur Telekommunikationsüberwachung nach dem Niedersächsischen Gesetz über die öffentliches Sicherheit und Ordnung (BVerfGE 113, 348 ff.), zum Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115, 118 ff.) und zur Rasterfahndung (BVerfGE 115, 320 ff.). 15 BVerfGE 120, 274 (319). 16 BVerfGE 120, 274 (319). 17 BVerfGE 115, 320 (357). 18 BVerfGE 115, 320 (357 f.). 19 BVerfGE 115, 320 (358). 20 BVerfGE 115, 320 (358).
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Freiheit und Sicherheit herzustellen.21 Das Ziel absoluter Sicherheit kann dabei nicht verfolgt werden, eine solche wäre auch faktisch kaum, jedenfalls aber nur um den Preis einer Aufhebung der Freiheit zu erreichen.22 Aber auch die Verfolgung des Zieles, die nach den tatsächlichen Umständen größtmögliche Sicherheit herzustellen, unterliegt nach dem Grundgesetz rechtsstaatlichen Bindungen. Dazu gehört vor allem das Verbot unangemessener Eingriffe in die Grundrechte der Bürger als Rechte staatlicher Eingriffsabwehr.23 3. Auch Wahrnehmung und Erfüllung der Schutzpflichten des Staates finden in diesem Übermaßverbot ihre Schranken.24 Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, sie sollen die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt sichern.25 Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien und der sich daraus ergebenden Schutzpflichten soll ihre Geltungskraft als Freiheitsrechte verstärken, sie hat jedoch ihre Wurzeln in dieser primären Bedeutung der Grundrechte als Freiheitsrechte.26 Dem Staat und seinen Organen kommt bei der Erfüllung derartiger Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu. Die sich aus dem objektiven Gehalt der Grundrechte ergebenden staatlichen Schutzpflichten sind grundsätzlich unbestimmt, sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht von den Grundrechten als subjektiven Abwehrrechten.27 Wie die staatlichen Organe grundrechtlichen Schutzpflichten im Einzelnen nachkommen, haben sie prinzipiell eigenverantwortlich zu entscheiden.28 Das Bundesverfassungsgericht hat dies immer auch im Hinblick auf die Pflicht zum Schutz des menschlichen Lebens betont.29 Wegen der besonderen Hochrangigkeit gerade dieses Schutzguts kann sich zwar in besonders gelagerten Fällen die Möglichkeit der Auswahl der Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen, insbesondere wenn der Schutz von Leben anders nicht effektiv erreicht werden kann.30 In jedem Fall kann aber nur ein solches Mittel zum Einsatz kommen, das mit der Verfassung in Einklang steht.31 So kann auch unter Berufung auf die Schutzpflicht zugunsten des Lebens aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der Staat sich nicht über die Subjektstellung anderer unschuldiger Menschen in einer mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Weise hinwegsetzen und diese Menschen als „dingliche“ Teile einer Art 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 118 (160).
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„Tatwaffe“ gezielt töten.32 Die staatlichen Achtungspflichten aus Art. 1 Abs. 1 GG haben unbedingten Vorrang vor den grundrechtlichen Schutzpflichten, sie setzen ihrer Wahrnehmung und Erfüllung unüberwindbare Grenzen. 4. Bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten ist der Staat – wie erwähnt – auf solche Maßnahmen beschränkt, die mit der Verfassung in Einklang stehen.33 Der absolut geschützte Achtungsanspruch des Einzelnen auf Wahrung seiner Würde ist ungeachtet des Gewichts der betroffenen Verfassungsgüter zu respektieren.34 Aber auch vor dieser absoluten Verbotsgrenze ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Insbesondere die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verhindert, dass das Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe unter Berufung auf grundrechtliche Schutzpflichten leer läuft. Es darf nicht sein, dass allenfalls ungeeignete oder unnötige Eingriffe abgewehrt werden können.35 Es gibt also für den grundrechtsbeschränkenden Gesetzgeber – auch soweit er Schutzpflichten erfüllen will – im Wesentlichen zwei verfassungsrechtliche Schranken: Die eine – engere – folgt aus der Menschenwürdegarantie, sie gilt absolut und ist abwägungsfest. Die andere – weitere – folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, sie unterliegt einer Abwägung und wirkt daher relativ. a) Es gibt unter dem Grundgesetz einen Kernbestand unveräußerlicher Rechte, der absoluten Schutz genießt und auch für den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zur (abwägenden) Disposition steht. Von zentraler Bedeutung ist insbesondere die Menschenwürde, die sich als unverbrüchlicher Kernbestand auch in den meisten Einzelgrundrechten wiederfindet und von der Rechtsprechung in Fallgruppen konkretisiert wird. So führt der Menschenwürdegehalt des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) zu einem absoluten (also auch nicht mit hochrangigen Ermittlungsinteressen abwägbaren) Überwachungs- und Erhebungsverbot im Bereich des so genannten Kernbereichs privater Lebensgestaltung.36 Dieser Kernbereich hängt zunächst vom Inhalt der Gespräche ab. Weil aber die Privatwohnung (im Gegensatz zu Betriebs- und Geschäftsräumen) regelmäßig der Rückzugsbereich der privaten Lebensgestaltung sein soll, spricht eine Vermutung dafür, dass es bei Gesprächen, die den Bereich der Privatwohnung nicht verlassen, um diesen Kernbereich geht. Auch kommt es für den Kernbereich auf die Gesprächspartner an. Wenn mit Personen des höchstpersönlichen Vertrauens kommuniziert wird, insbesondere mit engsten Familienangehörigen, wird es regelmäßig um den Kernbereich privater Lebens-
32 33 34 35 36
BVerfGE 115, 118 (160). BVerfGE 115, 320 (358). BVerfGE 115, 320 (358 f.). BVerfGE 115, 320 (359). BVerfGE 109, 279 (310 ff.).
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gestaltung gehen. Aber auch im Gespräch mit seelsorgenden Geistlichen wird der Menschenwürdekern des Art. 13 Abs. 1 GG regelmäßig tangiert sein.37 Der Schutz des Fernmeldegeheimnisses nach Art. 10 des Grundgesetzes enthält gleichfalls einen Menschenwürdekern, dessen Verletzung nicht im Wege der Abwägung mit anderen Rechtsgütern gerechtfertigt werden kann.38 Allerdings sind die Bürger zur höchstpersönlichen Kommunikation auf die Telekommunikation nicht in gleicher Weise angewiesen wie auf eine Wohnung.39 Aus diesem Grund führt das Risiko, dass eine Abhörmaßnahme Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst, nicht per se zur Unzulässigkeit der Abhörmaßnahme. Das Bundesverfassungsgericht wendet also den Gedanken des Kernbereichs der Menschenwürde nicht schematisch an, sondern differenziert zwischen den einzelnen Grundrechten. Vom Gesetzgeber zu verlangen ist aber immer, dass er durch geeignete Vorschriften sicherstellt, dass die Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht gespeichert und nicht verwertet, sondern unverzüglich gelöscht werden.40 In seinem Urteil vom 27. Februar 2008 hat das Bundesverfassungsgericht aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme abgeleitet.41 Auch Eingriffe in dieses Grundrecht, etwa durch heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, haben einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, dessen Schutz sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt.42 Selbst überwiegende Gemeinwohlbelange können einen Eingriff in diesen Menschenwürdekern nicht rechtfertigen. Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kernbereich privater Lebensgestaltung gehört die Möglichkeit, „innere Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle sowie Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art ohne Angst zum Ausdruck zu bringen, dass staatliche Stellen dies überwachen“.43 Allerdings wird in dieser Entscheidung ausdrücklich betont, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung des Kernbereichsschutzes, je nach der Art der Informationserhebung und der durch sie erfassten Informationen, unterschiedlich sein kann.44 So wird sich gerade bei einer heimlichen Infiltration eines informationstechnischen Systems die Kernbereichsrelevanz der erhobenen Daten vor oder bei der Datenerhebung vielfach nicht klären lassen. Es ist hier daher praktisch unvermeidbar, Informationen zur Kenntnis zu nehmen, bevor ihr Kernbereichsbezug 37 38 39 40 41 42 43 44
Zum Ganzen BVerfGE 109, 279 (319 ff.). BVerfGE 113, 348 (390 f.). BVerfGE 113, 348 (391). BVerfGE 113, 348 (392). BVerfGE 120, 274 ff. BVerfGE 120, 274 (335). BVerfGE 120, 274 (335). BVerfGE 120, 274 (337 ff.).
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bewertet werden kann. Hinreichender Schutz muss dann in der Auswertungsphase gewährt werden. Insbesondere müssen aufgefundene und erhobene Daten mit Kernbereichsbezug unverzüglich gelöscht und ihre Verwertung ausgeschlossen werden. Neben den eben genannten Menschenwürdeaspekten der Grundrechte auf Schutz der Wohnung, des Fernmeldegeheimnisses und der Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme ist noch kurz das Verbot der Folter zu nennen. Unabhängig von Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG, der körperliche oder seelische Misshandlung festgehaltener Personen verbietet, handelt es sich hier um einen grundlegenden Aspekt der Menschenwürde, des tragenden Konstitutionsprinzips und obersten Verfassungswerts, der vom Staat auch im Interesse an sich schützenswerter Rechtsgüter Dritter nicht angetastet werden darf. Durch was sollte ein Mensch mehr zum bloßen Objekt staatlicher Ermittlungsinteressen und damit erniedrigt werden als durch Folter? Anknüpfend an die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus standen dem Grundgesetzgeber bei der ausdrücklichen Normierung des Menschenwürdeschutzes doch gerade der Schutz vor Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung und Ächtung vor Augen. In diesem Zusammenhang ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierte Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ebenfalls ein absolutes Folterverbot explizit normiert (vgl. Art. 3 EMRK), von dem auch im Staatsnotstand nicht abgewichen werden darf (vgl. Art. 15 Abs. 2 EMRK).45 Zwar hat die EMRK nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Wegen der Bindung aller staatlichen Stellen an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) sind aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Wertungen der EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes wie auch aller anderen deutschen Gesetze zu berücksichtigen.46 Auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte besteht die Pflicht, die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen. b) aa) Abgesehen von dem erwähnten absoluten Kernbereichsschutz, der aus der Menschenwürdegarantie folgt und der als essentieller Kern auch in andere Grundrechte quasi hineinwirkt, hat der in Grundrechte eingreifende Gesetzgeber in jedem Fall das Gebot der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Auch außerhalb eines – engen – Schutzes des Menschenwürdekerns stehen die Freiheitsrechte nicht zur unbeschränkten staatlichen Disposition. Sie dürfen durch den Gesetzgeber auch außerhalb des ohnehin unverrückbaren Kernbereichs nur insoweit angetastet werden, als es dafür einen wichtigen Grund des gemeinen Wohls gibt und der Grundrechtseingriff zur Erreichung eines solchen verfassungslegitimen Ziels geeignet, erforderlich und im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs noch angemessen ist. In dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz und der Wahrung der von der Verfassung verbürgten Freiheitsrechte hat der Gesetzgeber in abstrakter 45 46
Vgl. EGMR NStZ 2008, 699 (700). BVerfGE 111, 307 (317).
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Weise einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen vorzunehmen.47 Das kann bedeuten, dass Grundrechtseingriffe bestimmter Intensität nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter und erst bei Überschreitung bestimmter Verdachts- oder Gefahrenstufen vorgesehen werden dürfen.48 Die Pflichten des Staates zum Schutz anderer Rechtsgüter finden in dem Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe ihre Grenze. Der Gesetzgeber hat entsprechende Eingriffsschwellen zu normieren und zu gewährleisten.49 Aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar die vollständige Unzulässigkeit der Vornahme bestimmter Grundrechtseingriffe zu Zwecken persönlichkeitsbezogener Ermittlungen im Bereich der inneren Sicherheit folgen. „Ein Grundrechtseingriff von hoher Intensität kann bereits als solcher unverhältnismäßig sein, wenn der gesetzlich geregelte Eingriffsanlass kein hinreichendes Gewicht aufweist“.50 bb) So kann nach der – auch insoweit einschlägigen – Entscheidung zur „OnlineDurchsuchung“ der schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme durch die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können, nur gerechtfertigt sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegen, auch wenn sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in naher Zukunft eintritt.51 Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person, ferner sind überragend wichtig solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt.52 Jenseits solcher Bedrohungen existentieller Art, zum Schutz sonstiger Rechtsgüter des Einzelnen oder der Allgemeinheit sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eingriffe des Staates grundsätzlich unangemessen, durch die die Persönlichkeit des Betroffenen einer weitgehenden Ausspähung durch die Ermittlungsbehörde preisgegeben wird.53 In diesen Fällen hat sich der Staat auf seine allgemeinen Ermittlungsbefugnisse zu beschränken, die ihm das jeweilige Fachrecht – etwa Strafverfolgungsrecht, Polizeirecht – einräumt.54 Neuartige Grundrechtseingriffe des Gesetzgebers werden nicht selten damit begründet, angesichts neuer Gefährdungen müsse eine effektive Terrorismusbekämp47 48 49 50 51 52 53 54
BVerfGE 109, 279 (350); 115, 320 (346). BVerfGE 115, 320 (346). BVerfGE 115, 320 (346). BVerfGE 120, 274 (327). BVerfGE 120, 274 (326). BVerfGE 120, 274 (328). BVerfGE 120, 274 (328). BVerfGE 120, 274 (328).
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fung, etwa durch die Verfassungsschutzbehörden, sichergestellt werden. Ist allerdings die gesetzliche Regelung in ihrem Anwendungsbereich weder ausdrücklich noch als Folge des systematischen Zusammenhangs auf die Terrorismusbekämpfung begrenzt, bedarf sie einer Rechtfertigung im Hinblick auf ihr gesamtes Anwendungsfeld.55 Auch wenn die Schutzgüter einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung als solche hinreichend schwergewichtig erscheinen, stellt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besondere Anforderungen an die tatsächlichen Voraussetzungen des Eingriffs.56 Der Gesetzgeber hat insoweit zwischen der Art und Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und den zum Eingriff berechtigenden Tatbestandsvoraussetzungen andererseits ein ausgewogenes Verhältnis zu schaffen.57 Der Wahrscheinlichkeitsgrad und die tatsächlichen Anforderungen an die Gefahrenprognose müssen der Art und Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung entsprechen.58 „Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Eintrittswahrscheinlichkeit nicht verzichtet werden“.59 Die gesetzliche Eingriffsgrundlage beispielsweise für einen heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme muss vorsehen, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für die hinreichend gewichtigen Schutzgüter bestehen.60 Bloße Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze allein reichen nicht aus, um diesen Zugriff zu rechtfertigen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen festgestellt werden, die eine Gefahrenprognose vertretbar und plausibel erscheinen lassen.61 Dem Gewicht des Grundrechtseingriffs, der in dem heimlichen Zugriff auf informationstechnische Systeme liegt, wird nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn der tatsächliche Eingriffsanlass noch weitgehend in das Vorfeld einer im Einzelnen noch nicht absehbaren konkreten Gefahr für die zu schützenden Rechtsgüter vorverlegt wird. Ermittlungen dürfen keinesfalls „ins Blaue hinein“ erfolgen.62 cc) Eine Ermächtigung zum heimlichen Zugriff etwa auf ein informationstechnisches System muss ferner – gerade wegen der Heimlichkeit des Eingriffs – mit geeigneten gesetzlichen Vorkehrungen verbunden werden, um die grundrechtlich geschützten Interessen des Betroffenen verfahrensrechtlich abzusichern.63 Geht es um heimliche Ermittlungstätigkeiten des Staates und werden dadurch besonders geschützte Zonen der Privatheit berührt, so dass diese Eingriffe besonders intensiv sind, muss diesem Gewicht des Grundrechtseingriffs durch geeignete Verfahrensvorkeh55 56 57 58 59 60 61 62 63
BVerfGE 120, 274 (319). BVerfGE 120, 274 (327). BVerfGE 120, 274 (327). BVerfGE 120, 274 (327). BVerfGE 120, 274 (327). BVerfGE 120, 274 (328). BVerfGE 120, 274 (328). Vgl. BVerfGE 125, 260 (343). BVerfGE 120, 274 (331).
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rungen Rechnung getragen werden. Der Zugriff ist grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen.64 III. Resümee Neue Gefahren- und Bedrohungsszenarien werfen neue Fragen beim Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit auf. Der Gesetzgeber ist bei der Normierung von Eingriffsbefugnissen nicht zwingend an den überkommenen Gefahrenbegriff des Polizeirechts und die davon ausgehenden Eingriffsgrenzen gebunden. Er darf ohne Überschreitung verfassungsrechtlicher Grenzen die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen auf der Grundlage neuartiger oder veränderter Gefahrenlagen und Bedrohungssituationen fortentwickeln. Im Hinblick auf die Beurteilung und Bewertung derartiger neuer Situationen kommen dem Gesetzgeber auch ein gewisser Spielraum und eine Prärogative zu.65 „Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit darf vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte dürfen allerdings von ihm nicht grundlegend verschoben werden“.66 Das Grundgesetz anerkennt dabei die grundlegende staatliche Sicherheitsaufgabe auch und gerade im Interesse der Grundrechte der Bürger und geht insoweit von einer Schutzpflicht des Staates aus. Gleichzeitig verlangt das Grundgesetz aber von Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit gleichermaßen eine permanente Rückbesinnung auf die von ihnen zu verteidigenden Freiheitsrechte und die Herstellung und Wahrung einer angemessenen Balance. Dabei hat sich das Grundgesetz dagegen entschieden, sämtliche verbürgten Rechte abwägbar oder gar „wegwägbar“ zu machen. Die Menschenwürdegarantie sowie der Menschenwürdegehalt der speziellen Freiheitsrechte gehören zu diesem absolut geschützten Kernbestand. Außerhalb des Kernbestandes des Menschenwürdeschutzes besteht allerdings eine Bandbreite gleichermaßen möglicher Alternativen. Innerhalb des von der Verfassung gesetzten Rahmens sind die Lösungen, auch die für eine Balance von Freiheit und Sicherheit, nicht von vornherein durch Sachzwänge, durch den technischen Fortschritt oder durch historische Gesetzmäßigkeiten konkret vorgegeben. Nicht alles, was technisch machbar ist, muss auch rechtlich erlaubt sein. Von technischen Möglichkeiten auf normative Aussagen oder Postulate zu schließen, also von einem „Sein“ auf ein „Sollen“, wäre ein „naturalistischer Fehlschluss“ (Böckenförde)67. Die Lösungen müssen vielmehr unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch Abwägung herausgearbeitet werden. Dies geschieht in einer parlamentarischen Demokratie wie der unsrigen zuvörderst im Verfahren der parlamentari64
BVerfGE 120, 274 (331). BVerfGE 115, 320 (360). 66 BVerfGE 115, 320 (360). 67 Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip – die Grundrechte in der bioethischen Debatte, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, erweiterte Ausgabe 2006, S. 389 ff. (392). 65
Freiheit und Sicherheit aus verfassungsrechtlicher Sicht
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schen Gesetzgebung. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist seit jeher eine Herausforderung für den Gesetzgeber, aber gerade im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und individueller Freiheit kann es wegen der sich ständig wandelnden Sachverhaltsgestaltungen keine gleich bleibenden Lösungsstrategien geben. Die in der globalisierten Welt sich stellenden Anforderungen, auch solche europarechtlicher und völkerrechtlicher Art, verlangen Beachtung. Das Grundgesetz stellt hierbei – nicht zuletzt auch aufgrund historischer Erfahrungen – hohe Anforderungen. Dabei wäre ein Konzept, Menschen – auch wenn sie Täter oder Tatverdächtige sind – einfach aus der Rechtsgemeinschaft auszuschließen und als Feinde der Rechtsgemeinschaft rechtlos zu stellen, eine Kapitulation des Rechtsstaats. Gefahren für den Rechtsstaat und Beeinträchtigungen der Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung muss mit Mitteln des Rechtsstaats begegnet werden. Diesem hohen Anspruch der Verfassung müssen wir uns auch in Zukunft stellen, sonst bedroht man selbst genau das, was es zu schützen gilt. Der Gesetzgeber ist insoweit der „Erstinterpret“ der Verfassung (Paul Kirchhof)68. Aber zu unserer Verfassungsstaatlichkeit gehört eben auch, dass die dem Gesetzgeber dabei von Verfassungs wegen vorgegebenen Grenzen letztverbindlich vom Bundesverfassungsgericht interpretiert werden und deren Wahrung gegebenenfalls durchgesetzt wird. Das Wissen um dieses Phänomen, aber auch seine Akzeptanz in Politik und Gesellschaft, stellen offenbar einen ganz wesentlichen Faktor der staatlichen Integration und Einheitsbildung in Deutschland dar. IV. Schluss „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“69. Diese viel zitierten Worte des früheren Verfassungsrichters und Staatsrechtslehrers Ernst Wolfgang Böckenförde sollen an den Schluss gestellt werden, nicht ohne allerdings gewisse Zweifel anzumelden, ob der Satz in dieser Apodiktheit wirklich zutreffend ist. Er ist im Übrigen auch gar nicht so gemeint, wie er in der eben wiedergegebenen Kürze verstanden werden könnte. Die Entscheidung des Grundgesetzgebers für eine streitbare, wehrhafte Demokratie gibt dem Staat durchaus einige rechtliche Instrumente an die Hand, Voraussetzungen einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie in gewisser, sicherlich begrenzter Hinsicht zu sichern. Zu erinnern ist nur an die Möglichkeiten von Partei- und Vereinsverboten. Aber der Satz Böckenfördes ist sicher richtig, wenn und soweit darin zum Ausdruck gebracht wird, dass der Staat nicht alle seine existenzwichtigen Bedingungen selbst sichern und wahren kann. 68
Kirchhof, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 5 (16). 69 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1. Aufl. 1991, S. 92 ff. (S. 112 f.); vgl. im Übrigen auch Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts – Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 14, 1. Auflage 2004, S. 54 ff.
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So besteht für den Verfassungsstaat – mit den Worten Böckenfördes – das Dilemma, dass er einerseits nur bestehen kann, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und (…) in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“70. Der heutige Rechts- und Verfassungsstaat lebt also – um es schlagwortartig auszudrücken – von dem immer wieder hervorzubringenden und zu artikulierenden Willen seiner Bürger zur Freiheit, zur Freiheit in Verantwortung. Die zentrale Aufgabe des Staates dabei ist es, „Recht zu vermitteln, um Freiheit zu ermöglichen“ (Hermann Krings)71.
70
Böckenförde (Fußn. 69), S. 92 ff. (S. 112 f.). Vgl. Hermann Krings, Staat und Freiheit, in: ders., System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, 1. Auflage 1980, S. 185 ff. (196); s. auch Georg Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts – Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 14, 1. Auflage 2004, S. 54 ff. (56). 71
Traditionen des Rechtsstaates in Deutschland Von Gerd Roellecke I. Forderung, Norm und Begriff Kants Satz „Begriffe ohne Anschauung sind blind, Anschauung ohne Begriffe ist leer“ gilt besonders streng in der Geschichtswissenschaft. Was man in der Geschichte beobachtet, hängt von den Begriffen ab, die man verwendet. Wenn man unter „Rechtsstaat“ mit Kant (Metaphysik § 49) „den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“, dann betrachten wir „Rechtsstaat“ nicht als Beschreibung eines real existierenden Gemeinwesens, sondern als Idee, als politische Forderung. Nun ist Ideengeschichte legitim und wichtig. Aber politische Ideen haben von Hause aus einen problematischen Bezug zur Wirklichkeit: sie legitimieren oder delegitimieren reale politische Macht, weil sich die Politik darauf berufen kann. Beim Rechtsstaatsbegriff ist das eindeutig. Er war gegen den Absolutismus und den Wohlfahrtsstaat gerichtet. Kant und seine Nachfolger haben beides für ungerecht erklärt. Allerdings sagt die heutige Lehre, dieser Legitimationsstreit sei überwunden. Zum Rechtsstaat gehörten Grundrechte, Rechtsschutz, Gewaltenteilung und Gesetzmäßigkeit, und die seien bei uns verwirklicht, wie man dem Grundgesetz entnehmen kann. Nur, im Westen Deutschlands haben sich die Menschen zwar an den Rechtsstaat gewöhnt und sind leidlich zufrieden mit ihm. Aber die Menschen in den neuen Ländern finden den Rechtsstaat nicht besonders gerecht. Die Opfer des SED-Unrechts meinen, sie würden nicht ausreichend entschädigt und die Täter nicht ausreichend bestraft. Und die Täter sind der Ansicht, sie dürften überhaupt nicht bestraft und ihre wohlerworbenen Renten dürften ihnen nicht genommen werden. Beide Gruppen hätten lieber weniger Rechtsstaat und dafür mehr Sozialstaat. Ob die frühere DDR ein Unrechtsstaat war, hängt natürlich von den Maßstäben ab. Den grundgesetzlichen Merkmalen eines Rechtsstaates hat die DDR zweifellos nicht genügt, wie man mit der DDR-Verfassung von 1968/74 eindeutig belegen kann. Die DDR wollte auch kein bürgerlicher Rechtsstaat sein. Die Frage ist, ob sie deshalb ein Unrechtsstaat war. Wenn man unter Rechtsstaat in der Kantischen Tradition einen gerechten Staat versteht, müssen wir alle Nichtrechtsstaaten, also auch die DDR, als Unrechtsstaaten qualifizieren. Historisch führt das jedoch zu unangemessenen Ergebnissen. Das antike Rom, das mittelalterliche England und das friderizianische Preußen waren nach den Kriterien des Grundgesetzes zweifellos keine Rechtsstaaten. Sie Unrechtsstaaten zu nennen, also zum Beispiel mit dem NS-Regime zu vergleichen, wäre
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aber absurd. Der Rigorismus der deutschen Rechtsstaatslehre zwingt uns indessen dazu. Und rigoros muss die Rechtsstaatslehre sein, weil sie eine politische Forderung ist und deshalb nicht relativieren kann. Uns interessiert nicht Ideengeschichte, sondern Rechtsvergleichung, also nicht der Rechtsstaat als politische Legitimation, sondern als politische Form. Für die Darstellung der Form können wir die traditionellen Kriterien benutzen, wie sie auch das Grundgesetz verwendet: Grundrechte, Rechtsschutz, Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeit. Wir dürfen die Kriterien aber nicht rechtfertigend verwenden, sondern als mehr oder weniger zufällige, historisch gewachsene Organisationsnormen. Wir müssen uns also vorstellen, dass auch Staaten ohne Grundrechte, Rechtsschutz usw. gerecht sein und zufriedene Bürger haben können, und wir müssen den Gedanken verscheuchen, politische Geschichte schreite zu immer paradiesischeren Zuständen voran und habe ein Ziel, das nur Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Frankreich, USA oder Europäische Union heißen könne. Tatsächlich ist die Summe allen Glücks und Unglücks für alle Menschen zu allen Zeiten auch immer ungefähr gleich gewesen. Wenn wir den Rechtsstaat nicht normativ, sondern kognitiv beschreiben wollen, müssen wir zunächst den geographischen Rahmen und den Anfang und das Ende des Zeitraumes festlegen, den wir beobachten wollen. Geographischer Rahmen soll das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich sein. Österreich war bis 1806 die Führungsmacht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Schlusspunkt soll die Paulskirchenverfassung von 1849 sein. Wenn man diese Verfassung mit dem Grundgesetz von 1949 vergleicht, sieht man sofort, dass das Grundgesetz die Paulskirchenverfassung an Rechtsstaatlichkeit nicht übertroffen hat. Wie üblich in der Geschichte ist der Anfang schwieriger. Ohne Willkür geht es dabei nicht ab. Wir können nur einen Zeitpunkt wählen, in dem Deutschland mit Sicherheit noch kein Rechtsstaat, aber ebenso sicher ein rechtlich-politisch geformtes, begrifflich fassbares Gebilde war. Deshalb setzen wir mit der Goldenen Bulle ein, dem Kaiserwahlrecht von 1356. Die Methode ist einfach. Wir suchen die Politik zwischen 1356 und 1849 nach Ereignissen ab, die man als Elemente des Rechtsstaates begreifen kann. II. Religiöse Legitimation weltlicher Herrschaft Die Goldene Bulle – so genannt nach der goldenen Kapsel, die an den meisten der sieben Originalausfertigungen hing und in der das Siegel aufbewahrt wurde – beendete den mehrhundertjährigen Streit zwischen dem Papst in Rom und den deutschen Fürsten über die Mitwirkung des Papstes bei der Wahl des römisch-deutschen Kaisers. Sie war eine Vereinbarung zwischen Kaiser und Fürsten und legte fest, dass der Kaiser von sieben Kurfürsten gewählt, gekürt wird. Daher der Titel „Kurfürsten“. Wichtig ist sie vor allem dadurch, dass sie kein Wort über den Papst verliert. Gegolten hat sie 450 Jahre bis 1806.
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Machen wir uns zunächst die Ausgangslage klar. Der römisch-deutsche Kaiser stand an der Spitze des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Davon steht aber nichts in der Goldenen Bulle. Nach der Goldenen Bulle war der Kaiser weltliches Oberhaupt der Christenheit, also Spitze einer religiösen Einheit mit diffusen, jedenfalls nicht eindeutigen Grenzen. Der Kaiser hatte umfassende Befugnisse. Primär war er höchster Richter. Er übte auch gesetzgebende und vollziehende Gewalt aus. Also keine Gewaltenteilung. Alleinherrscher war der Kaiser indessen nicht. Seine Gewalt übte er auf Hof- und Reichstagen gemeinsam mit den Fürsten aus. Im Alten Reich war die Gewalt also nicht – wie wir seit Montesquieu denken – funktional nach Aufgaben, sondern personal nach Rang und Würden geteilt. Das setzte etwas Wichtiges voraus: dass die Fürsten eigene Rechte gegen den Kaiser hatten. Diese Rechte musste ihnen der Kaiser sofort nach der Wahl bestätigen. Dass diese Klausel in der Goldenen Bulle steht, war natürlich politische Klugheit der Kurfürsten. Die Kurfürsten wollten niemanden wählen, der ihnen nach der Wahl ihre Rechte nahm. Aber es war nicht nur politische Klugheit, sondern auch eine Überlebensfrage für das Alte Reich. Nur wenn die Kurfürsten eigene, über das Leben des Kaisers hinaus dauernde Rechte hatten, konnten sie den Reichskörper lebendig erhalten. Diese eigenen Rechte der Fürsten waren gewiss keine Grundrechte. Sie galten nicht von jeher, sondern waren verliehen. Sie beschränkten sich nicht auf Grundsätzliches, sondern waren abhängig von der politischen Entwicklung. Und sie standen nicht allen Untertanen des Kaisers in gleicher Weise zu, sondern nur wenigen politischen Führern. Aber in einem Punkt haben sie doch den Grundrechten den Weg bereitet: Sie waren im Wesentlichen Rechte gegen Kaiser und Reich. Das bedeutete, der Kaiser als Oberhaupt des Reiches war rechtlich gegenüber seinen Untertanen gebunden. Die Gerichtsbarkeit des Pfalzgrafen bei Rhein über den römischen König ist ein deutlicher Beleg, mag sie auch nicht praktiziert worden sein. III. Beginn der Gewaltenteilung Tun wir einen großen Schritt um nahezu 150 Jahre in das Jahr 1493. Dieser Schritt überbrückt eine schwere Zeit für Kirche und Reich. Die Kirche war gespalten und hatte zwei Päpste, einen in Rom, einen in Avignon. Dem Reich ging es nicht viel besser. Kaiser Friedrich III. von Habsburg ließ viel zu viel schleifen und regierte viel zu lange, nämlich von 1440 bis 1493. In immer neuen Kriegen und Fehden richteten sich die Hoffnungen schließlich auf eine große Reform des Reiches. Als Friedrich III. 1493 starb, nutzte die Reformpartei unter Berthold von Henneberg, Erzbischof und Kurfürst von Mainz, die Schwächephase des Thronwechsels, dem neuen Kaiser Maximilian I. den Ewigen Landfrieden von 1495 abzuringen, das zweite große Reichsgrundgesetz. Der Ewige Landfrieden verbietet alle Fehden und Selbsthilfeaktionen. Dieses Verbot ist aber nur sinnvoll, wenn – wie es bis heute noch in § 229 BGB heißt – obrigkeitliche Hilfe rechtzeitig zu erlangen ist, wenn der Staat bei Rechtsstreitigkeiten mindestens Schutz durch Gerichte gewährt. Nun gab es damals im Reich einen obers-
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ten Richter. Das war der Kaiser, der seine Gerichtsbarkeit durch sein Hof- und Kammergericht ausübte. Die kaiserlichen Gerichte funktionierten allerdings nicht gut. Ausschlaggebend war jedoch, dass der Kaiser viel zu oft in die reichsfürstlichen Streitigkeiten verwickelt war und dann Richter in eigener Sache wurde. Also trennte man das Kammergericht vom kaiserlichen Hof ab und bildete es mit der Reichskammergerichtsordnung von 1495 zum Reichskammergericht um. Dieses Reichskammergericht hatte – bei etwas großzügiger Betrachtung – ähnliche Zuständigkeiten wie heute das Bundesverfassungsgericht und hat bis 1806 bestanden, also immerhin 300 Jahre lang. Die Abtrennung vom kaiserlichen Hof bedeutete viererlei: 1. dass das Gericht einen eigenen Sitz hatte, zunächst in Frankfurt, dann in Speyer und schließlich in Wetzlar, eine eigene Geschäftsstelle erhielt, und dass es nicht mehr vom Kaiser, sondern im Wesentlichen von den Fürsten finanziert wurde, 2. dass das Gericht vom Kaiser und von den Ständen gemeinsam besetzt wurde – die Fürsten bestimmten ungefähr die Hälfte der Beisitzer oder Urteiler –, 3. dass das Gericht an das allgemeine Recht, besonders an die Beschlüsse des Reichstages gebunden war, und 4. dass das Gericht der Aufsicht des Reichstages unterlag. Ursprünglich war vorgesehen, dass eine Reichstagskommission das Gericht einmal im Jahr visitieren sollte; später wurden die Visitationen Anlässe für nicht enden wollende Streitigkeiten. Natürlich war das Reichskammergericht nicht so unabhängig wie ein modernes Gericht. Aber historisch war die relative Verselbständigung des Gerichtes eine echte Revolution, also eine Änderung der Legitimationsgrundlagen des alten Reiches. Denn die Rechtsprechung war der Kern der kaiserlichen und fürstlichen Gewalt. Kaiser und Fürsten waren ihrem Wesen nach Richter, nicht Gesetzgeber oder Regierungschefs. Deshalb hieß ihre Herrschaft auch jurisdictio. Sie bestand im Friedendurch-Gericht-halten. Und sie reichte genau so weit und so tief, wie ein Fürst seine Gerichtsbarkeit durchsetzen konnte. Aus diesem feudalen Zusammenhang wurde das Reichskammergericht gelöst. Es wurde entpersonalisiert und entpolitisiert. Und deshalb beginnt mit dem Reichskammergericht die Gewaltenteilung in Deutschland. Welche Schwächen das Gericht auch immer hatte, seine Lösung aus dem personorientierten ständischen Legitimationszusammenhang machte es zukunfts- und reformfähig, was man von den anderen Einrichtungen des Alten Reiches nicht gerade sagen kann. IV. Die Entdeckung des Subjektes in der Reformation Endgültig stellte die Reformation die Weichen in Richtung Rechtsstaat. An der Goldenen Bulle hatten wir gesehen, dass das Reich religiös legitimiert war. Die relative Verselbständigung des Reichskammergerichtes war ein erster tastender Versuch, diese Legitimation zu durchbrechen. Die Entpersonalisierung des Gerichtes bedeu-
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tete natürlich auch, dass das Gericht den Hauch des Sakralen einbüßte, der Kaiser und Fürsten umgab. Aber man weiß nicht, wie lange die Entkoppelung von Religion auf der einen und Recht und Politik auf der anderen Seite gedauert hätte, wenn nicht die Reformation dazwischen gekommen wäre. Denn wenn sich Recht und Politik von sich aus von der Religion getrennt hätten, hätte das ein schier unvorstellbares Risiko bedeutet: den Verlust der ewigen Seligkeit und die ewige Verdammnis. Diese Gefahr bestand praktisch nicht, wenn die Religion Recht und Politik aus sich entließ. Und genau das hat in Deutschland – aber genau genommen in ganz Europa – die Reformation geleistet. Nun war Martin Luther ein Revolutionär wider Willen. Er wollte keine neue Konfession stiften, sondern die katholische Kirche verbessern. Den politischen Apparat wollte er schon gar nicht ändern. Dafür hatte er auch kein Konzept. Dass er dann doch ein wilder Feind des Papstes und aller Pfaffen wurde, lag daran, dass der Religionsstreit ins Politische übergriff, eskalierte und Luther zu immer größerer Radikalität zwang. Die erste Lehre, die die katholische Kirche im Kern traf, war Luthers Zwei-ReicheLehre. In der Nachfolge des heiligen Augustinus unterscheidet Luther zwischen der Kirche Jesu Christi als dem Reich des Glaubens und der Nächstenliebe, in dem Recht und Gesetz überflüssig sind, und dieser Welt als dem Reich des Unglaubens, das einem Wirtshaus gleicht, in dem die Leute nach Belieben aus- und eingehen und in dem deshalb Recht und Gesetz Ordnung schaffen müssen. Die katholische Kirche als Organisation gehörte natürlich in das Reich dieser Welt, weil in ihr nicht der Glaube herrschte, sondern das Recht. Die Zwei-Reiche-Lehre traf aber auch und vor allem die weltlichen Herrscher. Im Namen Gottes konnten sie nicht mehr herrschen. Auch sie wurden religiös delegitimiert. Luther instrumentalisierte die weltliche Herrschaft aber für das Christentum. Politik sei ein absonderlicher Gottesdienst wie Bäckerei, Schumacherei und Schneiderei und habe den gleichen Sinn: den wahren Christen ein zivilisiertes und auskömmliches Leben in Frieden und Glauben zu ermöglichen. Diese Konsequenz ergab sich aus Luthers drei evangelischen Wahrheiten: 1. Alle Christen sind Priester. Das heißt, alle haben den gleichen Rang. Die Unterscheidung zwischen Klerikern, die Gott besonders nahe sind, und Laien ist unbiblisch. 2. Allein die Schrift enthält Wahrheit. Lehramtliche Verkündigungen sind unbiblisch. 3. Allein der Glaube verschafft die Gnade Gottes. Die Behauptung, man könne Gott mit guten Werken gnädig stimmen und den Erlass von zeitlichen Sündenstrafen erreichen, ist unbiblisch. Gnade gab es also nur für den Einzelnen. Luther leugnet die Möglichkeit von Vermittlungen zwischen Gott und Mensch. Er betrachtet den Menschen als isoliertes, selbstverantwortliches Individuum, das allein seinem Gott Rechenschaft schuldig
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ist. In dieser Sicht hat die Reformation das Subjekt entdeckt, auf das hin heute unser gesamtes Rechtssystem fokussiert ist. Die religiöse Delegitimation weltlicher Herrschaft führte naturgemäß zu erbitterten politischen Auseinandersetzungen. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte der Reichstag immer wieder, wie ein Konzil die konfessionellen Streitigkeiten beizulegen, so auch in Speyer 1529. Aber in Speyer konnte er sich wieder nicht einigen. Deshalb beschloss die katholische Mehrheit, den Streit auf den nächsten Reichstag zu vertagen und es bis dahin bei der alten Religion zu belassen. Damit konnten die evangelischen Fürsten nicht einverstanden sein. Sie protestierten gegen den Beschluss der katholischen Mehrheit – daher: Protestanten – mit der Begründung, „das in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott stehen und rechenschaft geben mus, also das sich des orts keiner auf ander minders oder mehrers [Minderheit oder Mehrheit] machen oder beschließen entschuldigen kann“. Sie kündigten also dem Reichstag unter Berufung auf ihr Gewissen in Religionssachen den Gehorsam auf und haben sich durchgesetzt. Ein Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit haben sie damit freilich nicht geschaffen, weil sie als führende Politiker agiert haben. Aber das zweite Merkmal eines Grundrechtes haben sie erfüllt. Sie haben einen ganzen Lebensbereich der Politik entzogen, nämlich die Religion. Natürlich haben die protestierenden Fürsten nicht im Traum daran gedacht, dass sie mit der Berufung auf ihr Gewissen an dem Ast sägten, auf dem sie saßen. Sie waren so progressiv und so von der neuen Lehre überzeugt, dass sie sich nicht vorstellen konnten, ihre Untertanen könnten sich jemals ihnen gegenüber auf ihr christliches Gewissen berufen, zumal es gegen Wahrheit bekanntlich keine Gewissensentscheidung gibt. Aber die Fürsten haben nicht bedacht, dass das Gewissen entscheiden muss, wenn zwei Wahrheiten aufeinander treffen, und das war immer der Fall, wenn Katholiken und Protestanten einander die Herrschaft streitig machten. Über die Religionsfrage kam es denn auch zu erbitterten Kriegen, in denen aber keine Seite die andere in die Knie zwingen konnte und die schließlich wegen allseitiger Erschöpfung der Kräfte in einem Patt endeten. Besiegelt wurde dieses Patt im Augsburgischen Religionsfrieden von 1555, und dort zeigte sich, dass sich die Berufung der protestantischen Fürsten auf ihr Gewissen gegen sie zu wenden begann. Zwar gesteht der Vertrag allen Landesherren das jus reformandi, also das Recht zu, für sich und ihre Untertanen die Religion zu wechseln. Aber § 23 verbietet die Zwangsbekehrung von Untertanen, und § 24 sichert den Untertanen, einschließlich der Leibeigenen, ein Abzugsrecht zu, wenn der Herr das Bekenntnis wechselte. Angesichts der traditionellen religiösen Legitimation von Herrschaft war auch das eine Revolution, umso mehr, wenn man bedenkt, dass mittelalterliche Herrschaft ein Band gegenseitiger Treue um Herrn und Untertan legte. Das Abzugsrecht sprengte dieses Band. Es galt allgemein. Man wird es deshalb als erstes echtes Grundrecht qualifizieren müssen. Mit der Abzugsfreiheit brach weder die Religionsfreiheit aus noch die Gerechtigkeit. Trotzdem brechen wir die Darstellung der Grundrechte hier ab. Die weitere Ent-
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wicklung wird wesentlich von einem Faktor bestimmt, den wir nicht mit darstellen können: vom ausländischen Einfluss, wir können auch sagen: von der gesamteuropäischen Entwicklung. Damit sind weniger Theoretiker wie Montesquieu, Rousseau, Hobbes oder Locke gemeint und mehr die Vernetzung zunächst nur regional bedeutsamer Entscheidungen. Nur ein Beispiel: Vom 17. Jahrhundert an war England in vielen Punkten moderner als die Staaten auf dem Kontinent. In einem Punkt waren die Deutschen den Engländern aber weit voraus. Das war die religiöse Toleranz. Der Grund leuchtet sofort ein, wenn man einmal auf ihn gestoßen ist. In beiden Ländern gab es Glaubenskonflikte, also den Kampf einander ausschließender Wahrheiten. In Deutschland existierten aber hunderte von kleinen und großen selbständigen Territorien, für die sich die Konfessionsfrage gesondert und unterschiedlich regeln ließ. Die Territorien mussten sich untereinander arrangieren und Kompromisse schließen. In England gab es keine vergleichbaren Territorien. Also musste dort die Religionsfrage einheitlich entschieden werden. Und das bedeutete: Ausschluss der Abweichler. V. Säkularisierung von Recht und Politik Aber der Augsburger Religionsfriede von 1555 ist für den Rechtsstaat unter einem noch viel grundsätzlicheren Aspekt wichtig geworden. Der Göttinger Zivilrechtslehrer Karl Michaelis lässt mit ihm den deutschen Rechtsstaat beginnen und bietet dafür eine schlagende Begründung. Der Reichstag war in Augsburg zusammen gekommen, um wieder einmal den Religionskonflikt zu verhandeln, und er konnte sich wieder nicht einigen. Kriegführen wollten die Religionsparteien aber auch nicht mehr. Sie waren zu erschöpft. Deshalb haben sie in § 10 vereinbart, „daß die Tractation dieses Articuls auf andere gelegene Zeit einzustellen“. Sie haben die Konfessionsfrage also wieder vertagt. Damit sie aber nicht wieder Krieg zu führen brauchten, haben sie sich in § 13 „verglichen, damit beyderseits Religionen, hernach zu vermelden, wissen möchten, weß einer sich zu dem andern endlich sich zu versehen“. In den folgenden Paragraphen wird dann ein rudimentäres Staatskirchenrecht entwickelt, das die Grundlage für alle weiteren Regelungen geworden ist, besonders für den Westfälischen Frieden von 1648. Insofern wirkt der Friede von 1555 bis heute fort, vor allem in der Vertagung. Kaiser Ferdinand I. hat einmal versucht, die Religionsfrage wieder auf die Tagesordnung zu setzen, ist damit aber unangenehm gescheitert. So ist es bis heute bei der Vertagung geblieben. Wenn man die Regelung des Staatskirchenrechts vor dem Hintergrund der Vertagung des Religionsstreites sieht, erkennt man, warum Michaelis meint, der Rechtsstaat habe mit dem Augsburger Religionsfrieden begonnen. Mit der Vertagung verzichtet das Staatskirchenrecht auf jede religiöse Legitimation. Es gilt rein als Recht. Seine Grundlage ist ausschließlich die Vereinbarung der Beteiligten. Daraus folgt, Grundlage der Reichspolitik war von nun an das Recht, nichts als das Recht. Und ein Gemeinwesen, in dem die Politik allein auf der Basis des Rechtes kommuniziert, ist eben ein Rechtsstaat. Insofern ist Michaelis zuzustimmen.
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Allerdings hat er übersehen, dass es neben der Religion noch einen weiteren wichtigen Legitimationsfaktor gibt. Die Tradition, die reine Gewohnheit, das pure Herkommen. Tradition und Gewohnheit hielten das Alte Reich weit mehr zusammen als das Recht. Aber in solchen Fällen muss man als Rechtshistoriker fragen: Wohin zeigt die Entwicklung? Und die Entwicklung zeigte eindeutig auf den modernen Rechtsstaat. Nachdem die Politik einmal auf die religiöse Legitimation verzichtet hatte, musste sie immer mehr Fragen mit positiven Rechtsnormen beantworten und sich selbst mit einer Verfassung organisieren. VI. Die Ablösung des Adels durch das Berufsbeamtentum Das Reich wurde indessen alt und müde. Es gab immer mehr Kräfte an die Territorien ab und verbrauchte sich. Die Territorien erscheinen daher aus heutiger Sicht als die jungen und kräftigen Staaten, aus denen sich später der deutsche Rechtsstaat entwickelt hat. „Staatsbiographisch“ ist das auch nicht falsch. Die Länder, die den Deutschen Bund von 1815 und das Deutsche Reich von 1871 vereinbart haben, waren früher Territorien des Alten Reiches und haben die Politik bestimmt. Unklar wird die Rolle der Territorien erst, wenn man fragt, inwieweit das Alte Reich in sie eingegangen ist. Eine knappe Antwort: Bis in das 17. Jahrhundert waren die Territorien „das Reich“ im Kleinen, waren sie ähnlich organisiert wie das Alte Reich. Es gab nur einen grundlegenden Unterschied. Der Kaiser wurde gewählt. Die Fürsten erhielten ihr Fürstentum in der Regel als quasi erbliches Lehen vom Kaiser. Sie mussten also nicht gewählt werden, weil sie reichsrechtlich legitimiert waren. Theoretisch waren Angriffe auf die Rechtsstellung eines Fürsten Angriffe auf das Reich. Da sich die Kaiser ihre Wahl praktisch erkaufen mussten, wurden die Kaiser immer ärmer und die Reichsfürsten immer reicher. Gegen Ende des Reiches hatten die Kaiser nicht mehr viel zu sagen, während die Landesherren, gestützt auf das Reichsrecht, den Landesadel so weit entmachten konnten, dass man schließlich vom landesfürstlichen Absolutismus sprach. Darin steckte freilich ein Problem, auf das es für unseren Zusammenhang ankommt. Wie auf Reichsebene hatte der Adel auch auf territorialer Ebene Verwaltungsaufgaben, nicht nur am fürstlichen Hof, auch auf dem flachen Land, zum Beispiel als Grundherr. Wenn der Adel entmachtet wurde, musste jemand anders seine Aufgaben erfüllen. Wichtig war das vor allem für Brandenburg-Preußen. Seine Landesteile lagen so weit auseinander, vom heutigen Ostpreußen ganz im Osten bis zum Herzogtum Kleve ganz im Westen, dass der Landesherr die Regierungsgeschäfte unmöglich persönlich wahrnehmen konnte. Er musste Macht delegieren. Hätte er die Verwaltung – wie es die Verhältnisse im Reich mindestens nahe legten – dem Adel in den Formen des Lehnsrechtes übertragen, wäre er die Gebiete bald wieder los gewesen. Also übertrug er die Verwaltung und das Gerichtswesen auf fachkundige Personen, meist Akademiker, die er aus seiner Schatulle für ihre Dienste bezahlt und die deshalb ganz und gar von ihm abhängig wurden, auf Berufsbeamte. Das war auch bequemer. Mit armen,
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mittellosen Studenten, Lizenziaten oder Doktoren ließ sich leichter regieren als mit reichen, aufmüpfigen Adligen. Wenn die Lizenziaten oder Doktoren nicht parierten, konnte man sie feuern und sie saßen auf der Straße. Wenn ein Adliger nicht parierte, musste man sich zweimal überlegen, was man gegen ihn unternahm, weil bei allen Maßnahmen die Gefahr bestand, dass man sich die ganze Adelsclique auf den Hals zog. Historisch wesentlich war freilich: Mit dem Einsatz von Berufsbeamten entledigte sich der Fürst ständischer Kriterien für die Auswahl seiner Verwaltung. Er brauchte auf adelige Abstammung, Familie, Vermögen, Gefolgschaft und territoriale Bindungen prinzipiell keine Rücksicht mehr zu nehmen. Die Leistung höherer Staatsdienste gegen kontinuierliche Bezahlung machte es vielmehr möglich: 1. die Bediensteten nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung, also nach Sozialisation, Entscheidungskraft und Sachkunde auszulesen, 2. das Personal funktional auszubilden, 3. die Verfahren an Gegenständen und nicht an Personen zu orientieren, 4. Akten personenunabhängig zu führen und damit 5. die Entscheider zu anonymisieren und auszutauschen, 6. eine künstliche Hierarchie aufzubauen, 7. die Verwaltung großräumig zu organisieren. Mit diesen Merkmalen hat Max Weber die moderne Bürokratie beschrieben. Das heißt, das Prinzip „Regierungsdienste gegen Geld“ erlaubte es, die Verwaltung zu bürokratisieren. Dadurch wurde ein wesentliches Merkmal des deutschen Rechtsstaates erst möglich: ein umfassender Rechtsschutz gegen Verwaltungsentscheidungen. Denn nur eine Bürokratie im Weberschen Sinne kann ihre Entscheidungen so verselbständigen und begründen, dass sie für sich anfechtbar und beurteilbar werden. Anders als auf Reichsebene gab es in Brandenburg-Preußen keine Ansätze für eine funktionale Gewaltenteilung. Der Kurfürst und König übertrug daher seine ungeteilte Gewalt an seine Beamten, also sowohl seine vollziehende wie seine rechtsprechende Gewalt. Meist machte man sich nicht einmal die Mühe, Verfahren und Einrichtungen zu unterscheiden. Deshalb dürfen wir uns nicht wundern, dass die preußischen Gerichte oft „Regierungen“ hießen. Zuständig war ohnehin immer der König. Der preußische Justizbediente entschied nicht aus eigenem Recht. Er war – jedenfalls rechtlich – an die Weisungen seines Herrn gebunden, er war gleichsam der verlängerte Arm des Herrn. VII. Der Justizbeamte und das Gesetz Das konnte auch das Verständnis des Gesetzes nicht unberührt lassen. Im Reich wurden Gesetze zwischen Kaiser und Reichsständen praktisch ausgehandelt. Ihre Rechtfertigungsmuster waren letztlich die dauernde Friedensordnung. Dieses Geset-
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zesverständnis herrschte zwar auch in den Territorien vor. Aber auf den Justizbedienten passte es nicht mehr. Der Justizbediente war in ganz anderer Weise auf das Recht angewiesen als der fürstliche Richter. Zwar sollte auch er Recht sprechen. Aber was Recht war, sagten ihm allein die Befehle seines Herrn. Im Verhältnis zum Justizbedienten war das Gesetz deshalb mehr genereller Befehl als Friedensordnung. Da man Friedensordnungen schlecht, Befehle aber leicht und schnell ändern kann, schuf das bürokratische Gesetzesverständnis die Möglichkeit, die Gesetze jederzeit zu ändern. Davon haben die preußischen Herrscher im 18. Jahrhundert reichlich Gebrauch gemacht. Sie glaubten, mit ihren Gesetzesänderungen ihren Einflussbereich erweitern, vor allem die Justiz kontrollieren zu können. In Wirklichkeit haben sie sich nur selbst gebunden und den Justizbedienten die Möglichkeit eröffnet, sich von ihren Herren zu emanzipieren, indem sie sich – wie im Müller-Arnold-Fall – gegen Einzelfallentscheidungen des Landesherrn auf dessen eigene Gesetze beriefen. Entwicklungsgeschichtlich haben die preußischen Herrscher praktiziert, was das moderne Recht modern macht: seine jederzeitige Änderbarkeit. Das konnten sie sich aber nur leisten, weil sie auf jede andere Legitimation verzichtet haben als auf die durch das positive Recht. Ein schönes Zeugnis dieses Vertrauens in das positive Recht ist § 80 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794: „Auch Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Oberhaupte des Staats, und seinen Unterthanen, sollen bey den ordentlichen Gerichten, nach den Vorschriften der Gesetze erörtert und entschieden werden“. Das ist nichts als die Rechtsschutzklausel des Art. 19 Abs. 4 GG. VIII. Der Rechtsstaat als Staat des positiven Rechts Als Zusammenfassung sei versucht, meine abstrakte Definition des Rechtsstaates mit der Beschreibung des Rechtsstaates, wie wir sie im Grundgesetz finden, auf einen Nenner zu bringen. Meine abstrakte Definition des Rechtsstaates lautet: Ein Gemeinwesen ist dann ein Rechtsstaat, wenn seine Politik allein auf der Basis des positiven Rechts kommuniziert, das heißt, allein durch positives Recht legitimiert ist. Diese Definition ist eine Abstraktion der historisch-empirisch feststellbaren Wirklichkeit. Die Kriterien des Grundgesetzes können sie erläutern. Die Grundrechte verbieten der Politik jede nichtrechtliche Selbstlegitimation. Der Rechtsschutz sorgt dafür, dass diese Grenzfrage als Rechtsstreit ausgehandelt wird. Die Gewaltenteilung ist eine Binnenstrukturierung des Rechtssystems, die es der Politik erlaubt, an der Grenze des Rechtssystems Probleme aufzunehmen und zu Rechtssätzen zu verarbeiten, und das Gesetzmäßigkeitsprinzip sorgt für die rechtsinterne Vernetzung. Wir betrachten diese komplexe Struktur als Gewinn. Das ist sie auch. Die Geschichte lehrt aber, dass dieser Gewinn nicht mit einer Ausweitung, sondern mit einer Selbstbeschränkung des Rechtes erreicht wurde.
Die Bundeswehr als „Parlamentsheer“ – und der Bundesrat? Von Michael Sachs I. Einleitung Zu den Bereichen des Staatsorganisationsrechts, mit denen der Name Wolf-Rüdiger Schenke in besonderer Weise verbunden ist, gehört das Recht der Verfassungsorgane und ihres Zusammenwirkens nach dem Grundgesetz.1 Im dort konstituierten parlamentarischen Regierungssystem wird der Bundesrat häufig als Störfaktor wahrgenommen,2 zumal wenn er aus parteipolitischem Blickwinkel von einer anderen Mehrheit dominiert wird als der Bundestag. Der Jubilar ist Versuchen, eine in solchen Fällen rasch beklagte Blockadepolitik des Bundesrats mangels Verfolgung spezifischer Länderinteressen als verfassungswidrig zu diskreditieren, überzeugend entgegengetreten,3 hat statt dessen für die verschiedenen Beteiligten und die unterschiedlichen kritischen Konstellationen des Konfliktfeldes behutsam Begrenzungen unter dem Aspekt der Verfassungsorgantreue herausgearbeitet.4 Die mit der Föderalismusreform 1 von 2006 erfolgte Änderung des Art. 84 Abs. 1 GG hat inzwischen die verfassungsrechtliche Hauptgrundlage der als zu weitgehend empfundenen Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen für den Regelfall (s. aber Art. 84 Abs. 1 S. 5, 6 GG 2006) beseitigt.5 Die neue Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung hat sich freilich auch auf diesem Gebiet noch zu bewähren. Durch die Qualifizierung der Bundeswehr als „Parlamentsheer“ hat das BVerfG schon 1994 etwaigen Störungen auf diesem Gebiet durch den Bundesrat weit effektiver vorgebeugt;6 indem ihm Mitwirkungsrechte völlig vorenthalten werden, besteht für die Akteure des parlamentarischen Regierungssystems, Bundestag und Bundesregierung, nicht einmal die Notwendigkeit treuebedingter Rücksichtnahme und Mä1
Dies belegt namentlich seine vielbeachtete Monographie: Die Verfassungsorgantreue, 1977. 2 Vgl. zum Ganzen bei unterschiedlicher Akzentuierung die Berichte von Dolzer und Sachs, VVDStRL 1999 (58), 7 ff. bzw. 39 ff., und die Aussprache, ebda, S. 81 ff. 3 W.-R. Schenke (Fußn. 1), S. 71 f. 4 W.-R. Schenke (Fußn. 1), S. 70 – 96. 5 Diese wurde aber erst durch die allzu oft auf Organisation und Verfahren der Landesbehörden erstreckte Gestaltung der Bundesgesetzgebung ausgelöst, auf die man offenbar nicht verzichten wollte; vgl. dazu schon P. Kirchhof, VVDStRL 1999 (58), 83 (84), und umgekehrt Hufen, ebda, S. 116 (117). 6 BVerfGE 90, 286 (381 ff.).
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ßigung. Überraschend ist dabei nicht nur, dass das BVerfG eine Beteiligung des Bundesrates7 nicht einmal in Erwägung zieht,8 sondern auch, dass sein Urteil in diesem Punkt9 weitgehend ohne kritische Resonanz10 geblieben ist.11 Inzwischen kann die den Bundesrat ausgrenzende Konzeption des Parlamentsheers schon zur ständigen Rechtsprechung des BVerfGs gezählt werden,12 die auch die gesetzliche Ausgestaltung der (alleinigen) Bundestagszustimmung13 bewirkt hat.14 Doch wird für die Autorität der Entscheidung insgesamt vielfach nur die nach Auffassung des BVerfG auf die tragenden Entscheidungsgründe erstreckte Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG genannt, während die Übereinstimmung mit dem Grundgesetz verbreitet angezweifelt wird.15 Da das BVerfG selbst keiner Selbstbindung an frühere Auffas7 Dieser hat sich im Gegensatz zu mehreren Landesregierungen (BVerfGE 90, 286 [335]) selbst in dem Organstreitverfahren zwischen Fraktionen und Abgeordnetenminoritäten des deutschen Bundestages gegen Bundesregierung und Verteidigungsminister vor dem BVerfGs in keiner Weise beteiligt, obwohl sogar die Voraussetzungen für einen Beitritt nach § 65 Abs. 1 BVerfGG vorgelegen haben; insbes. die institutionelle Interessenidentität, vgl. nur H. Bethge, in: Maunz u. a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand August 2010, § 65 (Juli 2002) Rn. 13, war gegeben, da das geltend gemachte Mitwirkungsrecht des Bundestages jedenfalls im Kontext des Art. 59 Abs. 2 GG, für den immerhin drei Richter die daraus folgenden Rechte des Bundestags für unmittelbar gefährdet hielten (BVerfGE 90, 286 [372]), möglicherweise aber auch darüber hinaus durch förmliches Bundesgesetz, damit notwendig unter Mitwirkung des Bundesrates, auszuüben sein konnte. 8 Auch die Abw. Meinung der Richter Böckenförde und Kruis, BVerfGE 90, 286 (390 ff.), sowie die teilweise referierten Standpunkte der unterlegenen drei Richter haben die Möglichkeit, dass auch der Bundesrat zu beteiligen sein könnte, jenseits des allerdings als von Verletzung bedroht erachteten Art. 59 Abs. 2 GG (Fußn. 7) nicht in Erwägung gezogen. 9 Die Reaktion insgesamt sieht Burkiszak, NVwZ 2008, 752 m.w.N., überwiegend zwischen „Verwunderung und Kritik“; s. auch ders., ZRP 2003, 82 (84) m.w.N.; Lutze DÖV 2003, 972 (973) m.w.N., registriert ganz überwiegend entschiedene Ablehnung; s. auch unten Fußn. 32. 10 Vgl. immerhin Sachs, VVDStRL 1999 (58), 39 (71); zustimmend Merten, ebda, 125 (127); ausdrücklich ferner Schroeder, JuS 1995, 398 (404); Cremer, in: Geiger (Hrsg.), Neuere Probleme der parlamentarischen Legitimation im Bereich der Auswärtigen Gewalt, 2003, S. 11 (22 Fußn. 70); ansatzweise schon Sachs, JuS 1995, 163 (165 f.); auch Schmidt-Radefeldt, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration, 2005, S. 153 mit Fußn. 60. 11 Den (bloßen) Parlamentsvorbehalt ausdrücklich billigend etwa Biermann, ZParl 2004, 607 (617, 625). 12 Vgl. bestätigend und zum Teil fortentwickelnd BVerfGE 100, 266 (269); 104, 151 (208); 108, 34 (42 ff.); 121, 135 (153 f.); 123, 267 (422 f.); 124, 267 (275 ff.); BVerfG, EuGRZ 2010, 343 (347 Rn. 51). 13 Vgl. das Gesetz über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz) v. 18. März 2005 (BGBl. I S. 775). 14 Vgl. schon BVerfGE 90, 286 (389 f.). 15 Eine Änderung des Grundgesetzes sehen etwa Roellecke, Der Staat 1995 (34), 415 (427); T. Stein/Kröninger, Jura 1995, 254 (262); Schultz, Die Auslandsentsendung von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz zum Zwecke der Friedenswahrung und Verteidigung, 1998, S. 436 f.; Epping, AöR 1999 (124), 423 (449); auch Wieland, NZWehrr 2006, 133 (138 f.); T. Stein, ZEuS
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sungen unterliegt, daher die Diskussion der Problematik auch für die Praxis nicht endgültig abgeschnitten ist, soll hier noch einmal angeregt werden, die Frage einer Mitwirkung auch des Bundesrates zu überdenken, bevor womöglich irgendwann die Bildung von nachkonstitutionellem16 Verfassungsgewohnheitsrecht17 zum Nachteil des Bundesrates behauptet wird. Zu diesem Zweck ist die Argumentation des AWACS/Somalia-Urteils zu rekapitulieren (II.), deren kritische Würdigung (III.) abschließend durch allgemeinere Überlegungen zu ergänzen ist (IV.). II. Die Argumentation des AWACS/Somalia-Urteils Nicht in Frage gestellt werden sollen in diesem Zusammenhang die Überlegungen des BVerfGs zur rechtlichen Grundlegung für Auslandseinsätze der Streitkräfte im Rahmen von UN-Mandaten in Art. 24 Abs. 2 GG, zur Vereinbarkeit dieser Annahme mit Art. 87a GG und zur Entbehrlichkeit einer weiteren vertrag(sgesetz)lichen Abstützung der fraglichen Einsätze nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG.18 Vielmehr geht es allein um die unter den genannten Prämissen aufgestellte These, dass „der Einsatz bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich der vorherigen konstitutiven Zustimmung des Bundestages“ bedürfe.19 Dabei kann sich die Betrachtung zunächst auf die Argumentation des AWACS/Somalia-Urteils beschränken; denn die späteren Entscheidungen zum Parlamentsvorbehalt fügen dem dort Gesagten insoweit kaum neue Aspekte hinzu.20 Zur allgemeinen Begründung der These wird dann weit ausgreifend darauf abgestellt, dass „die grundgesetzlichen Regelungen über die Wehrverfassung für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich eine Beteiligung des Parlaments“ vorsähen, dass sie „in den verschiedenen Stufen ihrer Ausformung“(?) stets darauf angelegt seien, „die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen, sondern als ,ParlamentsheerÐ in die demokratisch rechtsstaatliche Verfassungsord2009, 681 f.; für „Rechtsschöpfung“ kritisch etwa Baldus, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 87a Rn. 70; Ladiges, NVwZ 2010, 1075 (1076); zu ablehnenden Stimmen ferner unten Fußn. 32; wohl positiv für eine „rechtsschöpferische Leistung“ Bothe, FS Bernhardt, 1995, 755 (772); ebenso für einen „,erfundenen … Parlamentsvorbehalt“ Wiefelspütz, DÖV 2010, 73 (78); ders., ZParl 2008, 203 (204), sieht einen „Geniestreich“ durch „verfassungsänderndes Richterrecht“; ders., NVwZ 2005, 496, nimmt aber an, dies sei „ an sich Aufgabe … des Verfassungsgesetzgebers“ gewesen; im Ergebnis positiv auch Kress, ICLQ 1995 (44), 414 (425 ff.). 16 Gegen vorkonstitutionelles Verfassungsgewohnheitsrecht in diesem Kontext Niedzwicki, ThürVBl. 2006, 145 (146). 17 Dies nimmt „längst“ an Wiefelspütz, NZWehrr 2010, 177 (179); allgemein dazu nur Sachs, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Einf. Rn. 11 f. m.w.N. 18 BVerfGE 90, 286 (345 ff., 355 ff., 357 ff.). 19 BVerfGE 90, 286 (381). 20 Dazu noch unten IV.
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nung einzufügen, d. h. dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluß auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte zu sichern.“21 Die konkrete Absicherung beginnt mit einem Rekurs auf den 1956 in das Grundgesetz eingefügten Art. 59a GG, der „nach damaliger Auffassung“ bedeutet habe, „daß die Streitkräfte nur auf der Grundlage eines Parlamentsbeschlusses eingesetzt werden durften, …“. Dessen Aufhebung 1968 habe „jedoch ein Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers zu einer teilweisen Entparlamentarisierung des Streikräfteeinsatzes nicht zugrunde“ gelegen; „ – wie 1956 – (sei) auch 1968 ein militärischer Einsatz der Streitkräfte außerhalb … insbesondere des Art. 115a Abs. 1 GG … hinsichtlich der parlamentarischen Mitwirkung nicht regelungsbedürftig“ erschienen. Trotz der Aufhebung des Art. 59a GG sei daher der „Parlamentsvorbehalt für alle damals als möglich angesehenen Einsatzfälle aufrechterhalten“ worden. Für erst neuerdings in Betracht kommende Einsätze deutscher Streitkräfte sei „ein Parlamentsvorbehalt … lediglich nicht mehr ausdrücklich bestimmt;“ der Sache nach habe er nicht entfallen sollen.22 Der erneute Ansatz, „dem Grundgesetz das Prinzip eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts … für den militärischen Einsatz von Streitkräften … zu entnehmen“, beginnt mit der Feststellung: „Ein solcher Parlamentsvorbehalt entspricht seit 1918 deutscher Verfassungstradition“, wobei auf Art. 11 Abs. 2 RV 1871/1918 und Art. 45 Abs. 2 WRV hingewiesen wird. Für die grundgesetzliche Zeit sieht das Urteil eine Fortentwicklung im erwähnten Art. 59a GG und nimmt an: „Mit der Ersetzung des Rechtsbegriffs der Kriegserklärung durch die ,Feststellung, daß der Verteidigungsfall eingetreten istÐ, sei „(a)n die Stelle der von Art. 45 Abs. 2 WRV vorgeschriebenen Gesetzesfornm … ein einfacher, mit der Mehrheit des Art. 42 Abs. 2 GG zu fassender förmlicher Bundestagsbeschluß“ getreten.“23 Nach einem Exkurs zu Art. 45a, 45b und Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG, durch die das Grundgesetz „dem Parlament hinsichtlich der Streitkräfte … die Kontrolle und eine grundsätzliche Steuerung von Planung und Entwicklung vor(behalte)“,24 wendet sich das Urteil schließlich Bestimmungen des geltenden Grundgesetzes zu, die „dem Parlament hinsichtlich der Streitkräfte … auch konkrete Entscheidungen über deren Verwendung“ vorbehielten. Angeführt werden dafür die Feststellung des Verteidigungsfalles nach Art. 115a Abs. 1 GG mitsamt den Auswirkungen auf Art. 87a Abs. 3 sowie die negativen Einwirkungsmöglichkeiten nach Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG; sogar Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG wird genannt.25 Das aus dem Urteilsstil ausbrechende Resümee lautet dann: „Die hiernach in den Vorschriften des Grundgesetzes auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungstra21 22 23 24 25
BVerfGE 90, 286 (381 f.). BVerfGE 90, 286 (382 f.). BVerfGE 90, 286 (383 f.). BVerfGE 90, 286 (384 f.). BVerfGE 90, 286 (385 ff.).
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dition seit 1918 zum Ausdruck kommende Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle läßt ein der Wehrverfassung zugrundeliegendes Prinzip erkennen, nach dem der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt.“26 Abschließend formuliert das BVerfG ohne weitere Begründung „Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalt“, u. a., dass „über Einsätze bewaffneter Streitkräfte nach Maßgabe des Art. 42 Abs. 2 GG zu beschließen“ sei,27 bevor es nicht ohne lenkende Hinweise die nähere Ausgestaltung der parlamentarischen Mitwirkung dem Gesetzgeber überantwortet. III. Kritische Würdigung Die referierte Argumentation ist grundsätzlich angreifbar (unten 1.), aber vor allem auch in sich nicht überzeugend (unten 2.).28 1. Grundsätzliche Einwände a) Abstützung auf aufgehobene Verfassungsbestimmung Grundsätzliche Einwände richten sich zunächst dagegen, dass mit Art. 59a GG eine seit langem aufgehobene Regelung der Grundgesetzes den Dreh- und Angelpunkt der Argumentation bildet, während die Bestimmungen des geltenden Verfassungsrechts nur eine untergeordnete Rolle spielen. Zu Recht schreckt das Urteil immerhin davor zurück, Art. 59a GG als solchen als Grundlage des als zuvor verankert gesehenen umfassenden Parlamentsvorbehalts heranzuziehen.29 Die Annahme, eine Verfassungsbestimmung solle trotz Aufhebung als fortgeltend behandelt werden können, wäre auch allzu abseitig; denn Grundlage der Rechtsanwendung kann, auch wenn es um die Verfassung geht, nur die jeweils geltende Fassung sein. Kann der aufgehobene Art. 59a GG aber nicht die Rechtsgrundlage des Parlamentsvorbehalts sein, bleibt der Darlegung, er habe „der Sache nach … nicht entfallen“ sollen, nur die Bedeutung, dass die Aufhebung nicht als Absage an einen solchen Vorbehalt verstanden werden muss, wenn er sich anderweitig dem Grundgesetz entnehmen lässt. Dies wird durch den Aufbau der Argumentation des BVerfG bestätigt, die die Aufhebung des Art. 59a GG (dort zu 1.) behandelt, bevor es (dort zu 2.) daran geht, „dem Grundgesetz das Prinzip eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts zu entnehmen.“ 26
BVerfGE 90, 286 (387). BVerfGE 90, 286 (388). 28 Für eine gründliche Kritik (ohne maßgeblichen Bezug auf die Bundesratsbeteiligung, sonst in vielem ähnlich wie der folgende Text) s. Scherrer, Das Parlament und sein Heer, 2010, S. 69 ff. 29 Dagegen etwa Nolte, ZaöRV 1994 (54), 652 (674); Schaefer, Verfassungsrechtliche Grenzen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes, 2005, S. 121 f. 27
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b) Verselbständigte Bedeutung verfassungsrechtlicher Tradition Prinzipiell bedenklich ist auch, dass bei diesem Versuch die (dort zu 2. a]) zuerst behandelte verfassungsrechtliche Tradition argumentativ verselbständigt wird; während die historische Auslegung gerade im Verfassungsrecht fraglos ihre Berechtigung besitzt,30 ist sie doch als „Auslegung“ akzessorisch zu einem zu interpretierenden Verfassungstext. Ein solcher wird vom BVerfG aber – abgesehen vom auch hier eingesetzten, nicht mehr gültigen Art. 59a GG (dazu dort 1, 2. b] aa]) – nicht in Bezug genommen. c) Rückgriff auf nicht einschlägige Verfassungsbestimmungen Diese Lücke kann nicht durch den Rückgriff auf Bestimmungen des Grundgesetzes gefüllt werden, die sich nicht auf Entscheidungen über den Einsatz der Streitkräfte beziehen; so sehr es zutreffen mag, dass Art. 45a und b GG besondere Instrumente der Regierungskontrolle im Zusammenhang mit den Streitkräften darstellen und dass Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG eine grundsätzliche Steuerung von Planung und Entwicklung in diesem Bereich ermöglicht (dazu dort 2. b] bb]), sagen diese Bestimmungen doch selbst nichts über die Frage, wer über einen Streitkräfteeinsatz (mit) zu entscheiden hat.31 Sie könnten daher allenfalls im Rahmen systematischer Auslegung einschlägiger Vorschriften Bedeutung erlangen. Auch dies ist dem BVerfG offenbar bewusst, wenn es im Kontrast dazu (dort zu 2. b] cc]) dem Grundgesetz Fälle dem Parlament vorbehaltener konkreter Entscheidungen über die Verwendung der Streitkräfte entnehmen will. Dies ist, bezogen auf Fälle vorheriger Zustimmung des Bundestags, in der Tat der allein tragfähige Ansatz. Doch gehen auch die diesbezüglichen Hinweise der Urteils daneben, wie anschließend (unten 2.) zu zeigen ist. d) Fehlen jeder Diskussion einer Bundesratsbeteiligung Können sich die bisher aufgezeigten Bedenken schon gegen die Annahme eines Vorbehalts der Bundestagszustimmung überhaupt richten, die hier nicht weiter diskutiert werden soll,32 so ist im Hinblick auf eine Beteiligung des Bundesrates zu kri30
Vgl. nur Sachs, in: Sachs (Fußn. 17), Einf Rn. 41 m.w.N. Vgl. etwa Epping, AöR 1999 (124), 423 (446); skeptisch auch Blumenwitz, BayVBl 1994, 678 (680). 32 Dagegen schon vor dem Urteil Riedel, Der Einsatz deutscher Streitkräfte im Ausland – verfassungs- und völkerrechtliche Schranken, 1989, S. 247 ff.; ders., DÖV 1991, 305 ff.; danach etwa Dau, NZWehrr 1994, 177 (181 ff.); Roellecke, Der Staat 1995 (34), 415 ff.; T. Stein/ Kröninger, Jura 1995, 254 (261); Zimmer, Einsätze der Bundeswehr im Rahmen kollektiver Sicherheit, 1995, S. 138 ff., 220 f.; Epping, AöR 1999 (124), 423 (448 f.); Oeter, NZWehrr 2000, 89 (96); Scholz, FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 2001, 663 (674 f.); Niedzwicki, ThürVBl. 2006, 145 ff.; s. auch die o. Fußn. 15 Genannten; jedenfalls i. E. zustimmend Kokott, in: Sachs (Fußn. 17), Art. 87a Rn. 38. Gegen nicht der Verteidigung dienende 31
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tisieren, dass diese nicht einmal als Möglichkeit angesprochen, sondern mit der (bei Art. 59a GG) vorgenommenen Fokussierung auf einen nach Art. 42 Abs. 2 GG zu fassenden Bundestagsbeschluss ohne jede Begründung nur schlicht negiert wird. Möglicherweise hätte eine auf den Streitgegenstand konzentrierte Entscheidung tatsächlich eine Verletzung der Rechte des Bundestages feststellen können, ohne zu der Form der unterbliebenen Beteiligung und weiteren mitwirkungsberechtigten Organen Stellung zu nehmen. Bei der doktrinären Begründung der Stellung der Bundeswehr als „Parlamentsheer“ und der darauf gestützten näheren Ausformung der Parlamentsbeteiligung im Einzelnen durch das Urteil wäre es aber unabweisbar gewesen, eine Mitwirkung auch des Bundesrates zumindest in die Betrachtung einzubeziehen. Immerhin sollte die gänzliche Vernachlässigung der Problematik genügen, um in diesem Punkt eine auf die tragenden Entscheidungsgründe erstreckte Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 BVerfGG auszuschließen. 2. Immanente Schwächen der Argumentation a) Zur Aussagekraft des aufgehobenen Art. 59a GG Nicht überzeugen kann die Annahme des BVerfGs, Art. 59a GG habe während der Zeit seiner Geltung einen Beschluss des Bundestages für alle „damals als möglich angesehenen“ (militärischen) Einsätze der Streitkräfte (nach außen)33, also (wohl) auch solche jenseits des Verteidigungsfalles, verlangt. Der Wortlaut des Art. 59a Abs. 1 Satz 1 GG war jedenfalls allein auf die Feststellung bezogen, dass der Verteidigungsfall eingetreten ist. Dasselbe gilt für die weiteren Einzelbestimmungen der ersten drei Absätze des Artikels. Dabei wurde die Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 59a GG als – dem Verbot des Angriffskriegs nach Art. 26 GG entsprechend verkürztes – Äquivalent der früheren Kriegserklärungen verstanden.34 Abs. 4 wiederum betraf den Friedensschluss, der die Beendigung eines (Verteidigungs-) Kriegszustandes bedeutet. Damit fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass militärische Einsätze außerhalb des Verteidigungsfalles gemeint sein sollten. Dies gilt in besonderem Maße für Einsätze im Rahmen der Vereinten Nationen: Dass ein solcher Einsatz „mangels Mitgliedschaft 1956 noch nicht aktuell war“,35 kann sinnvollerweise doch nur bedeuten, dass er von Art. 59a GG eben (noch) nicht erfasst wurde. Das BVerfG versäumt zu begründen, wieso der „ParlamentsvorAuslandseinsätze der Bundeswehr etwa C. Arndt, DÖV 2005, 908 ff.; Bedenken auch bei E. Klein, FS Bothe, 2008, 157 (159 ff.). 33 Für die Inanspruchnahme der Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes verlangte Art. 143 GG Fassung 1956 die Regelung durch ein Gesetz, das die Erfordernisse des Art. 79 GG erfüllt, so dass jedenfalls der Bundesrat (maßgeblich) mitzuwirken hatte. 34 Vgl. etwa Weber (Berichterstatter), in: Sten. Ber., 155. Sitzung des Bundesrates, 16. März 1956, S. 76 (79B – 80 A); Roemer, JZ 1956, 193 (196); Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 1956, Erl. zu Art. 59a; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 1964, Art. 59 Anm. III 1, 3. 35 BVerfGE 90, 286 (382).
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behalt“ des Art. 59a GG für weitere Fälle des Einsatzes deutscher Streitkräfte hätte eingreifen sollen, die aufgrund der veränderten weltpolitischen Lage später erstmalig in Betracht kamen.36 Ganz sicher hat Art. 59a GG während seiner Geltung keinen diesbezüglichen Parlamentsvorbehalt „ausdrücklich bestimmt“.37 Dass für alle „als möglich angesehenen Einsatzfälle“ ein Parlamentsvorbehalt normiert war, erlaubt jedenfalls insoweit keine Rückschlüsse auf die Behandlung nicht als möglich angesehener Fälle, als diese von anderer Art als die des die möglichen Einsatzfälle abschließend bezeichnenden „Verteidigungsfalls“ (nach dem seinerzeitigen Verständnis), namentlich von jedem abzuwehrenden Angriff unabhängig, waren. Der vom BVerfG verwendete Ausdruck „Parlamentsheer“ wurde damals ausdrücklich als ungerechtfertigt verworfen.38 Richtig ist allerdings, dass der in Art. 59a GG nicht legaldefinierte Verteidigungsfall dahin verstanden wurde, dass auch der bewaffnete Angriff auf einen Bündnispartner nach den einschlägigen völkerrechtlichen Abkommen eingeschlossen war, insbes. nach dem NATO-Vertrag,39 dem die Bundesrepublik gerade beigetreten war. Doch hat Art. 115a Abs. 1 GG, dessen Entstehung das BVerfG nur schildert, ohne sie im hiesigen Zusammenhang argumentativ zu berücksichtigen, den Verteidigungsfall nicht nur enger, auf den bewaffneten Angriff auf das Bundesgebiet, also das Territorium der Bundesrepublik Deutschland, beschränkt, festgelegt;40 vielmehr wurde zugleich eine zwischenzeitlich im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagene Regelung bewusst verworfen, die auch für Bundeswehreinsätze im Bündnisfall und sogar für Verteidigungshilfe im UN-Auftrag als Varianten eines Verteidigungsfall ohne den Zustand der äußeren Gefahr einen Bundestagsbeschluss vorgeschrieben hätte.41 36
Die Berufung auf Stimmen der Literatur (BVerfGE 90, 286 [382]) vermag diese Lücke schon deshalb nicht zu schließen, weil diese Einsätze außerhalb des Verteidigungsfalles nicht in Betracht gezogen haben: W. Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, 1961, S. 174, bezieht sich nur auf die Feststellung des Verteidigungsfalls; ebenso v. Mangoldt/Klein (Fußn. 34), Art. 59a Anm. (offenbar zu ergänzen: III) 3; Willms, Parlamentarische Kontrolle und Wehrverfassung, Diss. Göttingen 1959, S. 160, verlangt für jede bewaffnete Aktion, auch schon die Drohung damit, die vorherige Feststellung des Verteidigungsfalls. 37 Dies sucht BVerfGE 90, 286 (382 f.), zu insinuieren, wenn es für die Zeit nach der Aufhebung des Art. 59a GG heißt, „ein Parlamentsvorbehalt (sei) für diese Fälle im Grundgesetz lediglich nicht mehr ausdrücklich bestimmt“ gewesen (Hervorhebung nicht im Original); zum fragwürdigen Umgang mit der durch Zeugenvernehmung aufgeklärten Entstehungsgeschichte s. Limpert, Auslandseinsatz der Bundeswehr, 2002, S. 48 ff. 38 Roemer, JZ 1956, 193 (196). Paulus, in: Weingärtner (Hrsg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2007, S. 81 (83), führt den Begriff auf den Paulskirchenabgeordneten Venedey zurück. 39 v. Mangoldt/Klein (Fußn. 34), Art. 59a Anm. III 3 Abs. 1, 4 c; Willms (Fußn. 36), auch für vertragsunabhängige Nothilfe; nach dem Bericht des 16. Auschusses, BT-Drs. II/2150, S. 4, war bei Art. 59a Abs. 1 GG vor allem an den „Eintritt einer Bündnisverpflichtung“ gedacht. 40 Robbers, in: Sachs (Fußn. 17), Art. 115a Rn. 1 – 3; der FDP-Entwurf, BT-Drs. V/2130, S. 8, hatte zu Art. 115a GG noch angenommen, dass überhaupt „der Verteidigungsfall nur den Fall bewaffneter Auseinandersetzungen auf dem Boden der Bundesrepublik“ meinen könne. 41 Vgl. zum Ganzen nur den Bericht in BVerfGE 90, 286 (296 f.).
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Angesichts der dabei aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten darüber, ob Art. 115a GG nicht trotz seines Wortlauts alle in Frage kommenden Einsatzfälle der Streitkräfte abdecke, und der Einschätzung des Rechtsausschusses, dass in Bezug auf den jetzt hier geregelten Verteidigungsfall „eine sachliche Änderung gegenüber dem bisherigen Recht nicht eingetreten“ sei,42 mag man gleichwohl daran denken können, den Anwendungsbereich des Art. 115a Abs. 1 GG über den eng definierten Verteidigungsfall hinaus auszudehnen;43 eine Handhabe, bei der Feststellung des Verteidigungsfalls (und ggf. zusätzlich einzuschließender Voraussetzungen eines sonstigen militärischen Streitkräfteeinsatzes) von den 1968 dafür festgelegten Modalitäten, also insbesondere der Notwendigkeit der Zustimmung des Bundesrates, abzuweichen, ist jedoch nicht erkennbar. b) Zur Aussagekraft der verfassungsgeschichtlichen Tradition Die in Bezug genommene verfassungsgeschichtliche Tradition seit 1918 gibt für einen Vorbehalt eines ohne Mitwirkung des Bundesrates zu fassenden Bundestagsbeschlusses als Voraussetzung für den militärischen Einsatz der Streitkräfte nichts her. Nach der Reichsverfassung von 187144 war nach Art. 11 Abs. 2 zur Erklärung des Krieges, wenn nicht schon ein Angriff gegeben war, allein „die Zustimmung des Bundesrathes“ erforderlich. Erst durch Verfassungsänderung in den letzten Tagen des Kaiserreiches45 wurde dann daneben auch die Zustimmung des Reichtages vorgeschrieben; zugleich wurde Art. 11 Abs. 3 RV 1871, der schon bisher für Verträge mit fremden Staaten über Gegenstände der Reichsgesetzgebung die Genehmigung auch des Reichstages als Gültigkeitsvoraussetzung gefordert hatte, dahingehend geändert, dass nunmehr auch Friedensverträge der Zustimmung des Bundesrats und des
42 Bericht, BT-Drs. V/2873, zu § 1 Nr. 9, S. 15 f.; vernachlässigt in BVerfGE 90, 286 (297), wo nur festgestellt wird, im Rechtsausschuss sei „die Aufhebung des Art 59a GG nicht diskutiert“ worden. 43 Vgl. BVerfGE 108, 24 (43), wo eine „sukzessive Verstrickung in bewaffnete Auseinandersetzungen dem offiziellen Kriegseintritt“ gleichgestellt wird, ohne dass aber die Rechtsfolgen des dann einschlägigen Art. 115a Abs. 1 GG aufgegriffen werden; auch Röben, Außenverfassungsrecht, 2007, S. 291, kommt bei erweiternder Auslegung des Art. 115a GG nur zum Parlamentsvorbehalt. Zur „Gefahr tiefgreifender Verwicklungen“ wohl unter Aspekten der Wesentlichkeit BVerfGE 123, 267 (360 f.). 44 Ebenso schon nach der Verfassung des Deutschen Bundes von 1870, B-GBl. S. 627, während Art. 11 Abs. 1 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, B-GBl. S. 1, die Kriegserklärung noch allein dem der Krone Preußens zustehenden Präsidium überlassen hatte. Die sonst gern als traditionsstiftend herangezogene Paulskirchenverfassung überließ es dem Kaiser, Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, § 76, und gab ihm die Verfügung über die bewaffnete Macht, § 83; eine Mitwirkung (beider Häuser) des Reichstages war nur beim Abschluss völkerrechtlicher Verträge, soweit in der Verfassung vorbehalten, vorgesehen, § 77. 45 Gesetz zur Abänderung der Reichsverfassung vom 28. Oktober 1918, RGBl. S. 1274, zu Nr. 1.
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Reichstags bedurften.46 Die Notwendigkeit der Zustimmung des Reichstags zu den Entscheidungen über Krieg und Frieden war damit 1918 erst gerade begründet, während die seit 1870 geforderte Zustimmung des Bundesrates daneben trotz des gleichzeitigen Übergangs zum parlamentarischen Regierungssystems weiterhin erforderlich blieb. Nach Art. 45 Abs. 2 WRV erfolgten dann Kriegserklärung und Friedensschluss „durch Reichsgesetz“. Nach Anschütz war damit „die Legislative – jetzt also der RT allein – … Herr des Geschäfts.“47 Das BVerfG ist dieser Gleichsetzung von Legislative mit dem Reichstag allein gefolgt. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass nach der Weimarer Verfassung zwar der Reichstag allein die Gesetze zu beschließen hatte (Art. 68 Abs. 2 WRV), dem Reichsrat aber nach Art. 74 Abs. 1 WRV die Möglichkeit des Einspruchs gegen die vom Reichtstag beschlossenen Gesetze offen stand. Anschütz, der den Reichsrat hier explizit „zu den gesetzgebenden Faktoren des Reichs“ zählte,48 stellt insoweit ausdrücklich fest, dass der Einspruch „auch gegen Kriegserklärungen und Friedensschlüsse (Art. 45 Abs. 2)“ möglich war.49 Auch wenn die Rechte des Reichsrates hinter dem früher für den Bundesrat vorgesehenen Zustimmungserfordernis zurückbleiben, ist die Länderkammer doch auch in dieser Zeit keineswegs gänzlich von der Mitwirkung ausgeschlossen; immerhin konnte sich der Reichstag allein nicht einmal mit Zweidrittelmehrheit gegen den Einspruch durchsetzen, sondern bedurfte dann der Mitwirkung des Reichspräsidenten oder eines Volksentscheids.50 Eine Verfassungstradition, die die Länderkammer ganz von der Mitwirkung an Entscheidungen über den militärischen Streitkräfteeinsatz ausgeschlossen hätte, hat es danach vor dem Grundgesetz nicht gegeben. c) Zur Aussagekraft der Bestimmungen des geltenden Verfassungsrechts Schon gegen den Hinweis auf Art. 115a Abs. 1 GG (dort unter 2. b] cc] [1]) lässt sich einwenden, dass damit nur mittelbar und allgemein auch über den Streitkräfteeinsatz entschieden wird.51 Die weiter (dort unter 2. b] cc] [2]) genannten Bestimmun46
(383). 47
Ungenau auch insoweit auf Art. 11 Abs. 2 RV 1871/1918 bezogen BVerfGE 90, 286
Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933 (hier: Nachdruck 1968), Art. 45 Anm. 5. 48 Anschütz (Fußn. 47), Art. 74 Anm. 1, erster Satz. 49 Anschütz (Fußn. 47), Art. 74 Anm. 2. 50 s. Art. 74 Abs. 3 Satz 4; bei nur einfacher Mehrheit setzte sich der Reichstag nach Art. 74 Abs. 3 Sätze 2, 3 WRV nur durch, wenn der Reichspräsident einen Volksentscheid anordnete und dieser im Sinne des Reichstags ausfiel. 51 Der dort noch genannte Art. 80a Abs. 3 GG betrifft den Streitkräfteeinsatz schon wieder gar nicht; er trägt damit zur Ableitung eines Parlamentsvorbehalts aus dem Grundgesetz nichts bei, wird nur als mögliches Gegenargument ausgeräumt.
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gen betreffen im Falle des Art. 87a Abs. 3 GG nochmals den schon genannten Art. 115a Abs. 1 GG, im Übrigen, also bei Art. 87a Abs. 4 und Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG, aber keine Erfordernisse vorheriger Zustimmung, sondern solche, in denen nur negative, auf die Einstellung des Streitkräfteeinsatzes gerichtete Einwirkungen vorgesehen sind. Wenn das Urteil sodann meint, dass „hiernach in den Vorschriften des Grundgesetzes“ eine „Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte“ zum Ausdruck komme,52 ist dies schon kaum nachvollziehbar, allenfalls wegen der Offenheit des Begriffs der Kontrolle nicht offensichtlich verfehlt. Dies gilt aber für die Behauptung, die vorgenannte Entscheidung lasse „ein der Wehrverfassung zugrundeliegendes Prinzip erkennen, nach dem der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt.“ Wie die konkrete, nur hinsichtlich der Qualität als „vorherig“ als Prinzip für Ausnahmen (bei „Gefahr im Verzug“) offene,53 sonst durchaus strikt verbindliche Konsequenz aus der erwähnten Entscheidung erkannt werden soll, bleibt jedenfalls im Hinblick darauf dunkel, dass allein der Bundestag zustimmen, der Bundesrat aber von der Mitwirkung ausgeschlossen sein soll. Denn der einzig zumindest mittelbar mit einem bewaffneten Bundeswehreinsatz im Bereich auswärtiger Konflikte befasste Art. 115a Abs. 1 GG sieht im Hinblick auf die mit der Konsequenz der Ermächtigung zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte verbundene Feststellung des Verteidigungsfalls „durch das Parlament“54 ausdrücklich vor, dass diese vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates zu treffen ist.55 Art. 87a Abs. 4 Satz 2 GG ermöglicht Bundestag und Bundesrat gleichermaßen, die Einstellung des Streitkräfteeinsatzes zu verlangen, nach Art. 35 Abs. 3 Satz 2 GG kann sogar nur der Bundesrat, nicht aber der Bundestag, die Aufhebung des Streitkräfteeinsatzes der Bundesregierung verlangen. Irgendeinen Hinweis darauf, dass es allein der Bundestag sein soll, der einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte ohne Mitwirkung des Bundesrates soll zustimmen müssen, ist den genannten geltenden Bestimmungen des Grundgesetzes daher nicht zu entnehmen. Weitere Bestätigung erfährt dies dadurch, dass der Bundestag auch für die Erklärung, dass der Verteidigungsfall beendet (und damit der Einsatz bewaffneter Streit52
BVerfGE 90, 286 (386). BVerfGE 90, 286 (388). 54 So BVerfGE 90, 286 (386), (zu [1]). 55 So ausdrücklich auch in BVerfGE 90, 286 (386), (zu [2]), im Kontext des Art. 87a Abs. 3 i. V. mit Art. 115a Abs. 1 GG angesprochen. Bemerkenswerter Weise bleibt der in Art. 87a Abs. 3 GG gleichwertig mit dem Verteidigungsfall angesprochene Spannungsfall unerwähnt, obwohl er in der Tat einen nach Art. 80a Abs. 1 GG allein vom Bundestag zu fassenden Beschluss voraussetzt; dazu unklar zuletzt BVerfG, EuGRZ 2010, 343 (347 Rn. 52): Für die innere Verwendung der Bundeswehr nach Art. 87a Abs. 3 GG „ergibt sich die Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften aus der vom Deutschen Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates gemäß Art. 115a Abs. 1 beziehungsweise Art. 80a Abs. 1 Satz 1 GG zu treffenden Feststellung des Verteidigungsfalles beziehungsweise des Spannungsfalles … “. 53
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kräfte auf dieser Grundlage nicht mehr möglich) ist, der Zustimmung des Bundesrats bedarf, Art. 115 l Abs. 2 Satz 1 GG; im Übrigen ist über den Friedensschluss nach Art. 115 l Abs. 3 GG durch Bundesgesetz, somit grundsätzlich unter Mitwirkung des Bundesrats,56 zu entscheiden. Was schließlich die allenfalls mittelbar einschlägigen Kontrollmöglichkeiten des Bundestages im Hinblick auf die Streitkräfte betrifft, die das BVerfG ebenfalls ins Feld führt (oben 1 c), ist daran zu erinnern, dass den spezifischen Instrumenten des Bundestags nach Art. 45a, 45b GG auf Seiten des Bundesrates das Zitierrecht nach Art. 53 Satz 1 GG und die Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach Art. 53 Satz 3 GG gegenüberstehen, die gerade auch in diesem Zusammenhang als politisch wirksame Instrumente eingesetzt werden können.57 Zum gleichfalls dort angeführten Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG ist festzuhalten, dass der Haushaltsplan, auch soweit er die verlangten Aussagen zu den Streitkräften enthält, nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird, an dessen Erlass der Bundesrat nach der besonderen Maßgabe des Art. 110 Abs. 3 GG mitwirkt. IV. Ergänzende Überlegungen 1. „Parlamentsvorbehalt“ und Bundesrat Die Vernachlässigung des Bundesrates durch das BVerfG und die einschlägige Diskussion erklärt sich – abgesehen von der prozessualen Ausgangssituation der einschlägigen Entscheidungen58 – teilweise59 auch daraus, dass Begriffe wie „Parlament“60 und „Legislative“ bewusst oder unbewusst äußerst unscharf verwendet werden61 und wurden.62 Insbesondere ist durchweg von Aufgaben oder Befugnissen des 56 Die Denk-Möglichkeit eines Friedensschluss-Gesetzes des Gemeinsamen Ausschusses (im Falle eines anderweitig begründeten Verteidigungsfalls) mag hier außer Betracht bleiben; ein Gesetz im Gesetzgebungsnotstand des Art. 81 GG kommt jedenfalls nur mit Zustimmung des Bundesrates (aber gegen den Willen des Bundestages) in Betracht. 57 Vgl. Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 35. 58 Oben Fußn. 7 und im Text nach Fußn. 32. 59 Teilweise wird der Bundesrat aber auch schlicht ausgeblendet, so wenn BVerfGE 121, 135 (153) formuliert: „Das Grundgesetz hat die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Deutschen Bundestag … anvertraut. Dies ist für die Feststellung des Verteidigungsfalls … ausdrücklich festgelegt (Art. 115a Abs. 1, …) …“. 60 Dabei wird hier vorausgesetzt, dass der Bundesrat seinerseits nicht als (Teil des) Parlament(s) aufzufassen ist, auch wenn er selbst gelegentlich Neigung zeigt, diesen Begriff auch auf sich selbst zu beziehen, etwa mit der Bezeichnung „Parlamentsmaterialien“ auf der eigenen Homepage (www.bundesrat.de). 61 Vgl. z. B. die Zusammenfassung der Begründung für den konstitutiven Parlamentsvorbehalt in BVerfG, EuGRZ 2010, 343 (347 Rn. 51): „Nach Art. 45 Abs. 2 WRV waren Kriegserklärungen … der Legislative vorbehalten; Art. 59a Abs. 1 GG … knüpfte daran an, indem die , … Entscheidung über Krieg und FriedenÐ … dem Deutschen Bundestag übertragen wurde, … . Dies findet im geltenden Recht seine Fortsetzung in Art. 115a Abs. 1 GG.“
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„Parlaments“ die Rede, obwohl es um den Erlass von (auch nur) förmlichen Bundesgesetzen geht,63 an dem im Normalfall64 – neben dem Bundestag – auch der Bundesrat mitwirkt; oder es wird umgekehrt die „Legislative“ bzw. der „Gesetzgeber“ schlichtweg mit dem Bundestag gleichgesetzt.65 Vor allem ist der Ausdruck „Parlamentsvorbehalt“66 seit der im Lichte der „Wesentlichkeitstheorie“67 geführten Diskussion um Reichweite und Inhalt des Vorbehalts des Gesetzes68 verbreitet dahingehend verwendet worden, dass er die Notwendigkeit eines (hinreichend bestimmten) förmlichen Gesetzes bezeichnete,69 obwohl solche Gesetze auf der Bundesebene70 nur nach Maßgabe der Regeln über die Mitwirkung des Bundesrates zustande kommen, Art. 78 GG. Bleibt der Bundesrat so gedanklich schon in den Zusammenhängen, in denen das Grundgesetz ihn explizit mitwirken lässt, ausgeblendet, kann er um so ungezwungener vernachlässigt werden, wo eine ausdrückliche Erwähnung fehlt. Würde man einen „Parlamentsvorbehalt“ auch im Wehrrecht auf die Wesentlichkeit der zu treffenden Entscheidungen stützen,71 wäre die Beteiligung des Bundesra-
62 Vgl. etwa schon für „parlamentarische(r) Zustimmung“ zu Art. 59 Abs. 2, 110 Abs. 2 GG Martens (Fußn. 36), S. 51, für Bestimmung des Bundestages „über Krieg und Frieden“, der „Legislative“ „über Beginn und Ende ihres [erg.: der Streitkräfte] Einsatzes“, ebda, S. 174. 63 Vgl. BVerfGE 90, 286 (357), wo nach zunächst richtig angesprochenen „Gesetzgebungsorganen“ später nurmehr das „Parlament“ und dann der „Bundestag“ genannt sind. 64 Also abgesehen von den Fällen des Gesetzgebungsnotstands, Art. 81 Abs. 2 GG, und der Gesetzgebung durch den Gemeinsamen Ausschuss nach Art. 115e GG. 65 Vgl. BVerfGE 90, 286 (337), wo sogar von Rechten „des Bundestages als verfassungsändernder Gesetzgeber“ (sic) die Rede ist; allgemein gegen diesen Sprachgebrauch in dem Urteil C. Arndt, NJW 1994, 2197 f. 66 Den Ausdruck „Parlamentsvorbehalt“ verwendet in der Verfassungsrechtsprechung wohl zuerst BVerfGE 49, 89 (125); aus der neueren Judikatur im Zusammenhang mit der Notwendigkeit formell-gesetzlicher Regelungen auf Bundesebene s. etwa BVerfGE 91, 148 (162); 101, 1 (33 f.); 111, 191 (216 f., 222); 123, 39 (78); 123, 186 (234); zur Landesebene BVerfGE 98, 218 (251 f.); 108, 282 (311); 120, 378 (408). Vom „Vorrang des Parlamentsgesetzes“ spricht BVerfGE 118, 277 (362). 67 Vgl. dazu im Übrigen nur BVerfGE 116, 24 (58) m.w.N. 68 Vgl. zur Gesamtproblematik näher Sachs (Fußn. 17), Art. 20 Rn. 86, 88, 116 ff. 69 Vgl. für die Bezugnahme auf das Parlament als Synonym für „den Gesetzgeber“ für die Bundesebene schon BVerfGE 40, 237 (249); aus neuerer Zeit ferner etwa BVerfGE 95, 267 (397). Einen vom Rechtssatzvorbehalt gelösten Parlamentsvorbehalt erwägt etwa März, Bundedswehr in Somalia, 1993, S. 70 m.w.N. 70 Für die Landesebene ist die Gleichsetzung von Gesetzgeber und Parlament, vgl. etwa BVerfGE 47, 46 (78 f.), nur insoweit bedenklich, als damit Möglichkeiten der Volksgesetzgebung ausgeblendet werden. 71 Dafür etwa Heun, JZ 1994, 1073 (1074); Nowrot, NZWehrr 2003, 65 (72); Paulus (Fußn. 38), S. 86; Kokott (Fußn. 32), Art. 87a Rn. 38 m.w.N. (mit dem Hinweis auf die implizierte Gesetzesform, also die Bundesratsmitwirkung); vorsichtig auch Wagner, Parlamentsvorbehalt und Parlamentsbeteiligungsgesetz, 2009, S. 31 ff., der die Nichtbeteiligung des Bundesrates dann daraus ableitet, dass es nicht um Gesetzgebung gehe.
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tes an der jedenfalls im Hinblick auf betroffene Grundrechtsbelange72 notwendigen Gesetzgebung ohnehin unvermeidlich.73 2. Zur wehrverfassungsrechtlichen Stellung des Bundesrates Dass der Bundesrat im Konzept des „Parlamentsheers“ so selbstverständlich vernachlässigt wird, ist auch nicht dadurch zu erklären, dass seine Beteiligung in diesem Rahmen nach der grundgesetzlichen Ausgestaltung seiner Stellung und seiner Befugnisse ausgeschlossen sein müsste. a) Die Entstehung des Art. 59a GG Dies wird schon dadurch belegt, dass bei Einfügung des ominösen Art. 59a GG keineswegs von vornherein klar war, dass allein der Bundestag den Verteidigungsfall sollte feststellen können. Vielmehr war vom Verteidigungsausschuss zunächst die Beteiligung des Bundesrates vorgeschlagen,74 dann allerdings vom federführenden Rechtsausschuss nicht empfohlen worden.75 So wurde beschlossen, dass die „schicksalsschwerste Entscheidung, die einem Verfassungsorgan aufgegeben sein kann, nur vom Bundestag als dem höchsten Organ getroffen werden könne.“76 Vom Bundesrat wurde kritisiert, dass er „bei dieser höchst bedeutsamen Entscheidung bewußt ausgeschaltet (wurde), ohne daß zwingende praktische Gründe dafür vorliegen“, man sah „das sorgfältig ausgewogene Gleichgewicht zwischen Bundestag und Bundesrat nicht unerheblich zum Nachteil des Bundesrates verschoben.“ Eine Minderheit nahm sogar einen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG an.77 Die Möglichkeit der Bundesratsmitwirkung wurde somit auch für einen etwa über den Verteidigungsfall hinausgehenden Anwendungsbereich des Art. 59a GG nicht als von vornherein ausgeschlossen angesehen. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass für die Feststellung des Verteidigungsfalls durch die Exekutivorgane bei Gefahr im Verzug die
72 Vgl. BVerfGE 123, 267 (360 f.): „Der Einsatz der Streitkräfte ist für individuelle Rechtsgüter der Soldatinnen und Soldaten sowie anderer von militärischen Maßnahmen Betroffener wesentlich und birgt die Gefahr tiefgreifender Verwicklungen.“ Deshalb explizit für eine materielle gesetzliche Regelung Voss, ZRP 2007, 78 (79 f.). 73 Gegen einen schlichten Parlamentsbeschluss bei unfreiwilligen Außeneinsätzen Wehrpflichtiger deshalb Kokott, DVBl. 1996, 937 (948); auch Schmidt-Radefeldt (Fußn. 10), S. 153, sieht in der Nichtbeteiligung des Bundesrats eine Schwäche der Begründung des Parlamentsvorbehalts aus der Wesentlichkeitstheorie. 74 Nach v. Mangoldt/Klein (Fußn. 34), Art. 59a Anm. III 4 b. 75 BT-Drs. II/2150. 76 So Roemer, JZ 1956, 193 (196); krit. dazu v. Mangoldt/Klein (Fußn. 34), Art. 59a Anm. III 3 b, „weil eine Beteiligung des BR. die Entscheidung des BT. weder beseitigen noch entwerten würde …“. 77 Weber (Fußn. 34), S. 79D – 80 A.
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vorherige Anhörung der Präsidenten des Bundestages und des Bundesrates vorgeschrieben war, Art. 59a Abs. 2 Satz 2 GG. b) Kein Ausschluss des Bundesrats durch Art. 50 GG Eine Beteiligung des Bundesrates an Entscheidungen über den militärischen Einsatz von Streitkräften scheitert nicht daran, dass eine solche Kompetenz nicht unter die Aufgabenbeschreibung des Art. 50 GG passen würde. Ohnehin dürfte dem Art. 50 GG eine limitative, andere Aufgaben ausschließende Bedeutung ebensowenig zukommen wie eine unmittelbar kompetenzbegründende Wirkung.78 Im Übrigen ist der Begriff „Verwaltung“ ebenso wie im ursprünglichen Text des Art. 1 Abs. 3 GG weit zu verstehen im Sinne der dort dafür gerade mit Rücksicht auf die Streitkräfte redaktionell klarstellend79 im Einklang mit Art. 20 Abs. 2, 3 GG eingesetzten „vollziehenden Gewalt“.80 Er schließt somit die Mitwirkung im Bereich auswärtiger und militärischer Angelegenheiten selbstverständlich ein.81 Dies bekräftigt der Vorbehalt des (nur formellen) Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG.82 c) Kein Ausschluss des Bundesrats mangels Länderrelevanz des Streitkräfteeinsatzes Der Bundesrat ist auch nicht deshalb von der Entscheidung über einzelne militärische Einsätze der Streitkräfte auszuschließen, weil es dabei nicht um gerade die Länder betreffende Fragen geht. Zum einen lassen sich die vielfältigen Kompetenzen, die das Grundgesetz dem Bundesrat zuweist, nicht sämtlich nur aus diesem Blickwinkel erklären,83 sondern sprechen ihn durchaus gerade in seiner gesamtstaatlichen Mitverantwortung an.84 Zum anderen sind von einem militärischen Streitkräfteeinsatz unmittelbar als Soldaten, unabhängig von der Mitwirkung Wehrpflichtiger, Menschen betroffen, die stets auch Angehörige eines Landes sind; außerdem haben militärische Einsätze der Streitkräfte, auch wenn es nicht um die existentielle Situation 78
Vgl. Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 8 s. nur Höfling, in: Sachs (Fußn. 17), Art. 1 Rn. 99; auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1320. 80 Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 29. 81 Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 35. 82 Schaefer (Fußn. 29), S. 181 ff., 186, sieht Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG als Paradigma für die Einbindung der Exekutive auch beim Streitkräfteeinsatz, zieht aber keine Folgerungen für die Mitwirkung des Bundesrats. 83 Nicht unproblematisch etwa BVerfG, NVwZ 2010, 1146 Rn. 143 m.w.N., auch Rn. 152, wo die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen „als Ausnahme und nur für Fälle einer besonders gewichtigen Berührung der föderalen Ordnung und des Interessenbereichs der Länder“ eingestuft wird. Im Übrigen hat der Bundesrat bei allen Gesetzgebungsverfahren ganz unabhängig von ihrem Gegenstand zumindest die Möglichkeit des Einspruchs. 84 Vgl. v. Mangoldt/Klein (Fußn. 34), vor Art. 50 Anm. III 2 d m.w.N.; Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 13. 79
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des Verteidigungsfalls geht, doch stets das Potential, weitreichende außenpolitische Folgen auszulösen, die dann auch die Länder in Mitleidenschaft ziehen können. d) Der Bundesrat als Element der Gewaltenteilung Gegen einen Ausschluss des Bundesrats von jeder Mitwirkung bei Entscheidungen über militärische Einsätze der Streitkräfte spricht schließlich seine Rolle als Element der Gewaltenteilung.85 Wenn es darum geht, dass „(d)er weit bemessene Gestaltungsspielraum der Exekutive im auswärtigen Bereich … mit der Anwendung militärischer Gewalt endet“,86 wäre dem jedenfalls durch die Einbeziehung auch des Bundesrates besonders wirkungsvoll Rechnung getragen. Die Bundestagszustimmung mag als „adäquate Organzuständigkeit gerade im Hinblick auf die Beteiligung der Opposition in freier parlamentarischer Debatte“ zu qualifizieren sein;87 im parlamentarischen Regierungssystem bleiben indes die Möglichkeiten der Opposition strukturell begrenzt, während die Beteiligung auch des Bundesrats ein effektives Verhinderungspotential im Sinne von „checks and balances“ bieten kann.88 Wenn ein „wesentliches Korrektiv für die Grenzen der parlamentarischen Verantwortungsübernahme im Bereich der auswärtigen Sicherheitspolitik“ geschaffen werden soll,89 ist der Blick von vornherein auf den Bundestag verengt, obwohl doch die Zustimmungsgesetzgebung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ausdrücklich beide „für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften“ selbst in diese begrenzte Verantwortungsübernahme einbezieht. Warum dies dann bei der stärkeren Einbindung der Exekutive im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt entfallen soll, ist mit Rücksicht auf die weitreichenden Folgen, die solche Einsätze haben können, unter dem Aspekt der Gewaltenteilung nicht nachvollziehbar. V. Schluss Der vom BVerfG entwickelte und in st. Rspr. praktizierte Vorbehalt einer vorherigen Zustimmung des Bundestages begegnet, sofern er überhaupt in Betracht kommt, jedenfalls in soweit Bedenken, als dadurch jede Mitwirkung des Bundesrates ausgeschlossen ist. Hierfür bieten weder die Verfassungstradition noch das geltende Verfassungsrecht eine Handhabe. Der in der Tat dahin gehende frühere Art. 59a GG ist seit 1968 aufgehoben, die Feststellung des Verteidigungsfalls ist seither gem. Art. 115a Abs. 1 GG nur mit Zustimmung des Bundesrats möglich. 85
Vgl. allgemein etwa Robbers (Fußn. 40), Art. 50 Rn. 11. BVerfG, EuGRZ 2010, 343 Rn. 58. 87 So BVerfGE 121, 135 (162), auch mit Blick auf die Bildung der öffentlichen Meinung. 88 Damit ist zugleich die Organadäquanz (vgl. BVerfGE 68, 1 [86]; 121, 135 [161 f.]; Sachs, in: Sachs (Fußn. 17), Art. 20 Rn. 81 m.w.N.) der Mitwirkung auch des Bundesrates in diesen Fragen belegt; gerade die hemmende Wirkung kann zur Richtigkeitsgewähr von Entscheidungen beitragen. 89 So BVerfG, EuGRZ 2010, 343 Rn. 58. 86
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Lässt sich Art. 115a Abs. 1 GG nicht über den dort enger als früher definierten Verteidigungsfall hinaus ausdehnen, enthält das Grundgesetz über die Kompetenzen anderer Verfassungsorgane zur Mitentscheidung bei entsprechenden militärischen Einsätze der Streitkräfte keine Regelung. Ob dies als eine Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Grundgesetzes zu bewerten ist, ist nach der Entstehungsgeschichte des Art. 115a GG (oben III. 2. a)) eher zweifelhaft.90 Nimmt man eine solche aber an, ist sie im Wege der Analogie nur zum geltenden Verfassungsrecht zu schließen. Regelungen eines konstitutiven bloßen Bundestagsbeschlusses,91 die sich auf diesen Fall ausdehnen ließen, kennt das Grundgesetz (seit 1968) indes nicht (mehr). Vielmehr ist zumal bei der Feststellung des Verteidigungsfalls, aber auch in sonstigen Fällen mit Bezug zu Streitkräfteeinsätzen durchweg der Bundesrat einbezogen. Davon muss auch jede Analogie oder Rechtsfortbildung ausgehen, die ein grundgesetzliches Gebot der Beteiligung anderer Organe bei der Entscheidung der Bundesregierung über den militärischen Einsatz der Streitkräfte annehmen will.92 Das möglicherweise sinnvollere Erfordernis der Zustimmung nur des Bundestages setzt eine Änderung des Grundgesetzes voraus.
90 Ausdrücklich ablehnend Roellecke (Fußn. ), 424; recht anders Wagner (Fußn. 71), S. 33 f. 91 Vgl. zu solchen Fällen Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 210 ff. Für das Gesetz als Regelform verbindlicher Regelungen Dau, NZWehrr 1998, 89 (98); H.H. Klein, FS Schmitt Glaeser, 2003, 245 (250), betont, dass die Regierung verpflichtende Beschlüsse des Bundestags sonst (!) ausdrücklich grundgesetzlich angeordnet sein müssen; kritisch auch T. Stein/Kröninger, Jura 1995, 254 (261); eine positive „Bescherung“ sieht Wiefelspütz, ZParl 2007, 3. 92 Vgl. aber Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010, S. 248, der annimmt, die Zustimmung zum Streitkräfteeinsatz erfolge nicht durch Gesetz, sondern „– wie die Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 115a Abs. 1 GG – in Gestalt eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses“, und gleichwohl die dort vorgesehene Zustimmung des Bundesrates übergeht. Mit der Verwendung von „Argumentationsmuster(n)“ der Analogie begnügt sich Schmidt-Radefeldt (Fußn. 10), S. 153 Fußn. 60 (nicht ganz klar zum Erst-Recht-Schluss).
Die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes in Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta Von Ralf P. Schenke Wenn Besucher zum ersten Mal das Mannheimer Haus meiner Eltern betreten, richtet sich der Blick zumeist auf das über der Tür zum Arbeitszimmer hängende Schild „Art. 19 IV“. Das Schild hat mein Vater von seinen Assistenten als „Wegweiser“ anlässlich eines Lehrstuhlausflugs geschenkt bekommen. Jeder, der sich etwas mit der Materie beschäftigt hat, wird darin übereinstimmen, dass es dort in Mannheim gut aufgehängt ist. So intensiv wie durch meinen Vater sind die vielen Facetten der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und des Verwaltungsprozessrechts wohl von nur ganz wenigen durchdrungen worden, was mich immer wieder mit Stolz, aber auch mit Bewunderung erfüllt, wenn wir gemeinsam über prozessuale Fragen diskutieren. Als mein Vater seine wissenschaftliche Arbeit begann, stand das Verwaltungsprozessrecht vor einem gewaltigen Umbruch. Die Verwaltungsgerichtsordnung, die 1960 die Verwaltungsgerichtsgesetze der Länder abgelöst hatte, war zwar schon einige Jahre alt. In den kommenden drei Jahrzehnten sollten jedoch entscheidende Impulse für die Fortentwicklung des Rechtsgebiets einerseits von der Kodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts1 und andererseits von der verfassungsrechtlichen Überformung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes2 ausgehen. Zu beiden zentralen Entwicklungen hat mein Vater wegweisende Beiträge geleistet. Der Wechselbeziehung zwischen Prozessrecht und Verfahrensrecht sind zahlreiche Aufsätze gewidmet, die u. a. Verbindungslinien zwischen der VwGO und dem Fehlerfolgenregime des VwVfG nachgezeichnet und die Diskussion auch dort nachhaltig beeinflusst haben, wo sich mein Vater im Ergebnis nicht durchsetzen konnte3. 1
Vgl. hierzu aus europarechtlicher Perspektive jüngst Kahl, 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – 35 Jahre Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, 2011, 449 ff. 2 Vgl. hierzu allgemein nur Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9 ff.; s. a. Wahl, Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 411 (414 ff.). 3 Vgl. etwa Schenke, Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen bei Wirtschaftverwaltungsakten, WiVerw 1982, 142 ff.; ders., Das Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VBlBW 1982, 313 ff.; ders., Der verfahrensfehlerhafte Verwaltungsakt gem. § 46 VwVfG, DÖV 1986, 305 ff.; ders., Die Umdeutung von Verwaltungsakten, DVBl. 1987, 641 ff.; ders., Das Nachschieben von Gründen im Rahmen der An-
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Für die Phase der Konstitutionalisierung des Verwaltungsprozessrechts steht seine Habilitationsschrift zum Rechtsschutz gegen normatives Unrecht, die die Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsschutzes gegenüber der Legislative neu ausbuchstabiert hat4. Gleichrangige Erwähnung verdient aber auch seine Kommentierung des Art. 19 Abs. 4 GG im Bonner Kommentar, deren dritte Bearbeitung er erst vor zwei Jahren abgeschlossen hat5. Anno 2011 steht das Verwaltungsprozessrecht erneut vor einem Konstitutionalisierungsschub, der auf die Europäisierung als dritte bestimmende Entwicklungslinie6 des deutschen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts zurückzuführen ist: Im Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon und mit ihm auch Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta in Kraft getreten. Nach Art. 47 Abs. 1 GrCh hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Welches Veränderungspotential der Vorschrift innewohnt, ist gegenwärtig ebenso wenig abzusehen wie seinerzeit die Entwicklung des Art. 19 Abs. 4 GG unter der Herrschaft des Grundgesetzes. Ziel des folgenden Beitrages ist es, in einer vergleichenden Perspektive zu Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK eine erste Zwischenbilanz der Debatte zu ziehen7. Um zu verdeutlichen, welchen Stellenwert die Rechtsweggarantie für die Staats- und Verwaltungsordnung haben kann, soll einleitend aber zunächst ein Seitenblick auf die Bedeutung der Rechtsschutzgarantie für das Verfassungsgefüge des Grundgesetzes geworfen werden. I. Die Bedeutung der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Die zentrale Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG8 erschließt sich erst beim zweiten Hinschauen. Indem Art. 19 Abs. 4 GG einen gerichtlichen Rechtsschutz garantiert, fechtungsklage, NVwZ 1988, 1 ff.; ders., Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit – Gedanken zu einem der Grundthemen des Wirtschaftsverwaltungsrechts, WiVerw 1988, 145 ff.; ders., Die verwaltungsbehördliche Aufhebung nachträglich rechtswidrig gewordener Verwaltungsakte, DVBl. 1989, 43 ff. 4 Vgl. Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979. 5 Schenke, in: Dolzer (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, 2009, Art. 19 Abs. 4 GG. 6 Vgl. nur Wahl (Fußn. 2), S. 422 ff. 7 Albers, in: Tettinger/Stern (Hg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 47 Rn. 1 ff.; Blanke, in: Callies/Ruffert, AEUV/EUV, 4. Aufl. 2011, Art. 47 GrCh Rn. 1 ff.; Eser, in: Meyer (Hg.), Charta der Grundrecht der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 47 Rn. 1 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte, 3. Aufl., 2010, Art. 47 Rn. 10; ders., Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nationale und EU-Gerichte, NJW 2011, 1393 ff.; Nowak, Recht auf effektiven Rechtsschutz, in: Heselhaus/ Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 51 Rn. 29 ff.; monographisch Last, Garantie wirksamen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Union, 2008. 8 Vgl. dazu nur Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 24 ff.
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begnügt sich das Grundgesetz nicht damit, fundamentale Freiheits- und Gleichheitsrechte als subjektive Rechte anzuerkennen, sondern gibt den Grundrechtsträgern auch ein schlagkräftiges Instrument an die Hand, diese Rechte zu verteidigen. Damit ist Art. 19 Abs. 4 GG ein Sinnbild für die Neugestaltung des Staat-Bürger-Verhältnisses nach 19499. Darüber hinaus ist die Vorschrift zugleich ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der gewaltenteilenden Funktionsordnung des Grundgesetzes. Durch die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die an die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung anknüpft, trifft das Grundgesetz eine Entscheidung gegen ein Modell der Verwaltungsgerichtsbarkeit als objektive Rechtskontrolle und für den Vorrang des Individualrechtsschutzes10. Damit muss sich die Verwaltung einer Kontrolle durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit unterwerfen, die durch die Träger subjektiver Rechte initiiert ist, wobei der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zweifel die Befugnis zur Letztentscheidung zukommt. Welche Gestaltungsmöglichkeiten der Verwaltung im Gesetzesvollzug bleiben, ist entscheidend vom Grad der Verrechtlichung und der Reichweite subjektiver Rechte bestimmt. Die Expansion subjektiver Rechte wird im Zusammenspiel mit einer Deutung des Art. 19 Abs. 4 GG, die ganz vom Topos der Rechtsschutzeffektivität bestimmt ist, nicht nur in allerjüngster Zeit mitunter kritisch oder doch jedenfalls differenzierend bewertet11. Den Warnungen vor einem unbeweglichen und hypertrophen Jurisdiktionsstaat ist zuzugeben, dass die starke Betonung der Rechtsschutzeffektivität auch Kehr- und Schattenseiten hat. Zu diesen gehören u. a. die Verluste an Rechts- und Planungssicherheit, die mit langwierigen Gerichtsverfahren verbunden sind. Zweifel sind auch daran erlaubt, ob das Grundgesetz nicht insgesamt von einer zu optimistischen Sicht der Problemverarbeitungskapazität der Judikative ausgeht. Es zeugt von der Responsivität des Rechtssystems, dass diese Einwände bei der Fortentwicklung des deutschen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts nicht ungehört verhallt sind, sondern aufgenommen wurden. Als Stichworte aus den Debatten der letzten Jahre und Jahrzehnte seien hier beispielhaft nur die Beschleunigungsgesetzgebung12, die normative Ermächtigungslehre13, die Mediation im Verwaltungs- und verwaltungsgerichtlichen Verfahren14 oder die Implementation des New Public Managements in die Justizverwaltung15 genannt. 9
Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 28 ff. Vgl. etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg), GG, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 19 Abs. 4 Rn. 8. 11 Vgl. etwa Knies, Auf dem Weg in den „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“?, Festschrift Klaus Stern, 1997, S. 1169 ff.; Wahl (Fußn. 2), S. 422 ff. 12 Hierzu kritisch Schenke, „Reform“ ohne Ende – Das 6. VwGOÄndG, NJW 1997, 81 ff. 13 Vgl. etwa Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2004, S. 75 f. 14 Schenke, Mediation und verwaltungsgerichtliches Verfahren, in: Seok/Ziekow (Hg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor, 2010, S. 155 ff. 10
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Ungeachtet oder gerade in Anbetracht dieser neueren Entwicklungen gehört die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG weiterhin zu den bedeutendsten rechtsstaatlichen Errungenschaften des Grundgesetzes. Das lässt sich etwa am Beispiel der vieldiskutierten Mediation im Verwaltungsprozessrecht16 aufzeigen. Denn Erfolg kann dieser alternative Konfliktlösungsmechanismus letztlich nur deshalb haben, weil im Falle seines Scheiterns der justizförmige Streitschlichtungsmechanismus bereit steht. II. Rechtsmethodische Vorbemerkungen Der Wortlaut des Art. 47 Abs. 1 GrCh weist Parallelen zu Art. 19 Abs. 4 GG auf. Bei der Auslegung des Art. 47 Abs. 1 GrCh vorschnell an die Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG anzuknüpfen, muss sich freilich aus einer ganzen Reihe von Gründen verbieten. So lehrt die Rechtsvergleichung, dass jede Rechtsnorm zunächst im Kontext ihres eigenen Rechtskreises ausgelegt werden muss17. Für diese Auslegungsregel, die auf die systematische Interpretation zurückführt, hat sich im Europarecht der Grundsatz der autonomen Interpretation eingebürgert18. Bei der Auslegung der Grundrechtecharta ist noch eine weitere Besonderheit zu beachten. Die Entstehung der Charta ist aufs Engste mit der EMRK verwoben, die dem Europäischen Konvent als Vorbild und Ausgangspunkt seiner Beratungen diente. Dies gilt auch für Art. 47 Abs. 1 GrCh, dessen erste Entwürfe nahezu wortgleich mit dem in Art. 13 EMRK verbürgten Recht auf eine wirksame Beschwerde übereinstimmten19. Auf Art. 13 EMRK haben zudem der EuGH und das EuG in ihrer Rechtsprechung zur Garantie eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes als allgemeinem Rechtsgrundsatz des Unionsrechts wiederholt Bezug genommen20. Da auf diese Rechtsprechung wiederum in den Erläuterungen der Charta verwiesen wird21, erschließt sich der Gewährleistungsgehalt des Art. 47 Abs. 1 GrCh in erster Linie vor dem Hintergrund des Art. 13 EMRK. Die folgenden Ausführungen werden gleichwohl zunächst von der deutschen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ausgehen. Damit soll aber nicht einer unkritischen Übernahme der deutschen Pro15 Vgl. Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 77i ff.; siehe auch R.P. Schenke, New Public Management in der Sozialgerichtsbarkeit, SDSRV 54 (2006), 81 ff. 16 Zuletzt Guggelberger, Einheitliches Mediationsgesetz auch für verwaltungsrechtliche Konflikte?, NVwZ 2011, 390 ff. 17 Vgl. nur Wahl, Verfassungsvergleichung als Kulturvergleich, in: Murswiek (Hg.), Festschrift Quaritsch, 2000, S. 163 (165 ff.). 18 Aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH vgl. etwa EuGH Urt. v. 15. 07. 1982 – C270/81 (Rickmers), Slg. 1982, 2771 Rn. 14; Urt. v. 19. 09. 2000 – C-287/98 (Linster), Slg. 2003, I-6916 Rn. 43. 19 Vgl. die Nw. bei Eser (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 7. 20 Vgl. EuGH Urt. v. 15. 05. 1986 – C-222/84 (Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary), Slg. 1986, 1651; Urt. v. 15. 10. 1987 – C-222/86 (Unectef/Heylens), Slg. 1987, 4097; Urt. v. 03. 12. 1992 – C-97/91 (Oleificio Borelli/Kommission), Slg. 1992, I-6313. 21 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/C 303/02), S. 18.
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zessrechtsdogmatik das Wort geredet werden. Vielmehr dient der Vergleich mit Art. 19 Abs. 4 GG lediglich als Kontrastfolie, um den Garantiegehalt des Art. 47 Abs. 1 GrCh auch im Vergleich zu Art. 13 EMRK umso deutlicher hervortreten zu lassen. III. Der Tatbestand Der Tatbestand des Art. 47 Abs. 1 GrCh lässt sich ausgehend von der Grundrechtsberechtigung (dazu 1.), dem verletzten Recht (dazu 2.) und der Verletzungshandlung (dazu 3.) systematisieren. 1. Berechtigte Die Grundrechtstheorie unterscheidet zwischen Staatsbürgerrechten und Menschenrechten, die allen Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zustehen22. Träger der deutschen Rechtsschutzgarantie und damit „jemand“ i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG können nicht sämtliche Rechtssubjekte, sondern nur Grundrechtsträger sein23. Diese Einschränkung hat zur Konsequenz, dass sich ausländische juristische Personen des Privatrechts im Grundsatz nicht auf Art. 19 Abs. 4 GG, sondern aufgrund der Wertung des Art. 19 Abs. 3 GG nur insoweit auf die Rechtsweggarantie berufen können, wie dies durch die unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote geboten ist24. Parallel ist die Frage der subjektiven Berechtigung in der EMRK geregelt. Das Recht auf eine wirksame Beschwerde steht jeder Person zu, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten verletzt ist. Damit hat auch Art. 13 EMRK akzessorischen Charakter, da das Beschwerderecht voraussetzt, dass sich der Beschwerdeführer auf die Konvention berufen kann. Dies können auch juristische Personen des Privatrechts, im Grundsatz hingegen nicht juristische Personen des öffentlichen Rechts sein25. In Art. 47 GrCh wird der Kreis der Berechtigten ebenfalls nicht auf Unionsbürger verengt. Vielmehr wird „jeder Person“ das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingeräumt, die in ihren durch das Recht der Union garantierten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist. Da die Grundrechtsberechtigung nicht mit dem verletzten Recht verwechselt werden darf, sind Träger der Rechtsschutzgarantie alle natürlichen 22
Zu dieser Unterscheidung nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl., 2010, Rn. 43 ff. Vgl. etwa Ramsauer, in: Denninger/u. a. (Hg.), Alternativkommentar, GG, Art. 19 IV Rn. 40; ausführlich Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 80 ff. 24 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 81; Ibler, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 8; a.A. Schulze-Fielitz (Fn. 10), Art. 19 IV Rn. 82, der unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG zu den Prozessgrundrechten (BVerfGE 12, 6, 8; 64, 1, 11) auch juristische Personen einbeziehen möchte. 25 Vgl. Ehlers, Allgemeine Lehren der EMRK, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 2 Rn. 34. 23
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Personen sowie private Personenvereinigungen. Juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich hingegen nur dann auf Art. 47 GrCh berufen, sofern sie ausnahmsweise grundrechtsberechtigt sind26. Damit ist die Grundrechtsberechtigung in allen drei Gewährleistungen gleichlaufend geregelt. 2. Das verletzte Recht Die Anforderungen an das verletzte Recht können anhand der Rechtsquellen (dazu a)), den Kriterien für die Annahme eines subjektiven Rechts (dazu b)) sowie den Anforderungen an die Plausibilität einer Rechtsverletzung (dazu c)) abgeschichtet werden. a) Die verteidigungsfähigen Rechtspositionen Bei der Bestimmung des Kreises der verteidigungsfähigen Rechte nimmt Art. 47 GrCh eine vermittelnde Position zwischen Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK ein. Ungeachtet der systematischen Stellung der Rechtsweggarantie am Ende des Grundrechtsabschnitts muss es sich bei dem verletzten Recht im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG nicht um ein Grundrecht handeln. Zwar sind die Grundrechte Prototyp des subjektiv-öffentlichen Rechts27. Nach dem unmissverständlichen Wortlaut des Art. 19 Abs. 4 GG wird die Rechtsweggarantie aber bei jeder Verletzung eines subjektiven Rechts aktiviert und zwar unabhängig davon, ob dieses durch die Verfassung, das einfache Gesetzesrecht, untergesetzliche Rechtsnormen oder etwa durch Vertrag oder sonstige Rechtsakte begründet wird28. Einen wesentlich engeren Schutzumfang hat das Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK. In der EMRK ist lediglich das Recht auf eine wirksame Beschwerde im Fall einer Verletzung der in der Konvention anerkannten Rechte oder Freiheiten garantiert. Im Unterschied zu Art. 19 Abs. 4 GG genügt also nicht die Geltendmachung eines irgendwie gearteten Rechts. Vielmehr muss sich der Beschwerdeführer auf eine wehrfähige Rechtsposition berufen, die ihm durch die EMRK oder ein Zusatzprotokoll verliehen worden ist29. Im Vergleich zu Art. 19 Abs. 4 GG weist Art. 13 EMRK damit erhebliche Lücken auf, da die EMRK bei Freiheitsverkürzungen kein Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbares Auffanggrundrecht30 kennt. Einen Mittelweg zwischen der umfassenden Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und einem prozeduralen Schutz der Konvention selbst schlägt die Grundrechtecharta ein. Art. 47 Abs. 1 GrCh begrenzt das Recht auf einen wirksamen ge26
Eser (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 10; Blanke (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 5. Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 429. 28 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 428 f.; s. auch BVerfGE 96, 110 (114 f.). 29 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 24 Rn. 161; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rn. 648. 30 BVerfGE 6, 32 (36 ff.); 80, 137 (167). 27
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richtlichen Rechtsbehelf nicht auf Verletzungen der in der Charta statuierten Grundrechte. Vielmehr aktualisiert sich die Rechtsweggarantie bei jeder Verletzung eines durch das Recht der Union garantierten Rechts. Neben den Europäischen Grundrechten und den Grundfreiheiten zählt hierzu auch das Europäische Sekundärrecht, soweit dieses subjektive Rechte begründet. Damit ist auf Unionsebene bei freiheitsverkürzenden Maßnahmen ein Schutz jedenfalls insoweit gewährleistet, wie die Grundrechtsgarantien der Charta reichen. Diese kennt zwar, ähnlich wie die EMRK, kein mit Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbares Auffanggrundrecht. Gleichwohl ist das Netz der grundrechtlichen Gewährleistungen so eng geknüpft, dass sich im Vergleich zum Grundgesetz nur geringe Schutzlücken ergeben31. b) Anforderungen an das subjektive Recht Die Voraussetzungen, unter denen von einem subjektiven und damit wehrfähigen Recht auszugehen ist, sind für den Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle von entscheidender Bedeutung. Bei Art. 19 Abs. 4 GG setzt ein subjektives Recht ein rechtlich geschütztes Interesse voraus, das dem Rechtsinhaber eine Rechtsmacht einräumt32. Unter dem Einfluss der Grundrechte kann auf die gesonderte Prüfung der Rechtsmacht verzichtet werden33, sodass von einem Recht i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG bereits auszugehen ist, wenn ein Rechtssatz zumindest auch dem Schutz des Klägers zu dienen bestimmt ist34. Konkretisiert werden diese Anforderungen durch die Schutznormtheorie. Nach dieser ist entscheidend, ob der Kläger nicht nur tatsächlich, sondern auch normativ vermittelt betroffen ist. Dies ist im Wege der Auslegung zu beantworten, wobei der Wille des Gesetzgebers nur ein Gesichtspunkt ist, der häufig hinter systematischen und teleologischen Gesichtspunkten zurückstehen muss35. Die diffizilen Probleme, inwieweit eine einfachgesetzliche Rechtsposition ein subjektives Recht begründet, können sich dagegen auf Ebene der EMRK von vornherein nicht stellen. Bei Art. 13 EMRK ist die Berufung auf eine einfachgesetzliche Rechtsverletzung nicht genügend, sodass der Beschwerdeführer zwingend die Verletzung eines Konventionsrechts geltend machen muss36. Soweit sich der Kläger bei Art. 47 GrCh auf eine Verletzung der Rechte der Charta selbst, aber auch auf eine Verletzung der Grundfreiheiten gem. Art. 28 ff. AEUV beruft, kann er eine eigene Rechtsverletzung geltend machen. Strukturell mit der deut31 Kritisch insoweit aber Lindner, Defizite und Fortschritte im EU-Grundrechtsschutz, ZRP 2007, 54 (56). 32 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 403; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 8 Rn. 1 ff. 33 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 416. 34 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 416. 35 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 443. 36 s. oben III. 2. b).
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schen Schutznormtheorie vergleichbare Fragen sind hingegen auf der sekundärrechtlichen Ebene zu beantworten. Der EuGH stellt auf die Schutzrichtung der Norm ab. Im Unterschied zum deutschen Prozessrecht geht er von einem eigenen Recht aber bereits bei einer nur tatsächlichen Betroffenheit aus. So steht der Rechtsweg u. a. bereits dann offen, wenn der Kläger Repräsentant eines Kollektivinteresses, wie beispielsweise der Volksgesundheit ist37. Ausreichend kann aber auch sein, dass der Kläger ein unmittelbares Interesse an der Befolgung der Norm hat38. In der Rechtsprechung des EuGH klingt deutlich an, dass die Subjektivierung einer Rechtsposition entscheidend davon abhängig ist, ob durch eine gerichtliche Kontrolle eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts sichergestellt werden kann39. Im Ergebnis kehrt sich der für das deutsche Verwaltungsprozessrecht charakteristische Zusammenhang zwischen subjektivem Recht und Klagebefugnis damit quasi um. Die Klagebefugnis besteht nicht deshalb, weil die Durchsetzung eines subjektiven Rechts gesichert werden soll. Vielmehr wird deshalb ein subjektives Recht angenommen, um die Klagebefugnis zu begründen und somit die gerichtliche Überprüfung als Garant für eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts zu ermöglichen40. c) Anforderungen an die Plausibilität der Rechtsverletzung Ob das geltend gemachte Recht tatsächlich verletzt ist, entscheidet sich bei allen drei Rechtsschutzgarantien erst im Rahmen der Begründetheit. Bereits die Zulässigkeit von der tatsächlichen Rechtsverletzung abhängig zu machen, würde bei Art. 19 Abs. 4 GG der das gesamte deutsche Prozessrecht prägenden Unterscheidung von Zulässigkeit- und Begründetheit widersprechen41. Dies hindert den Prozessrechtsgesetzgeber allerdings nicht daran, die Entscheidung über eine tatsächliche Rechtsverletzung im Rahmen der Begründetheit davon abhängig zu machen, ob die Behauptung einer Rechtsverletzung schlüssig vorgetragen ist oder diese möglich erscheint42. Auch im Rahmen des Art. 13 EMRK setzt der Anspruch auf eine wirksame Beschwerde keine tatsächliche Rechtsverletzung voraus. Ebenso wenig ausreichend ist eine bloße Verbalbehauptung, vielmehr bedarf es einer vertretbaren Behauptung einer Konventionsverletzung43. 37 EuGH Urt. v. 17. 10. 1991 – C 58/89 (Kommission/Deutschland), Slg. 1991, I-4983 Rn. 14 f. 38 EuGH Urt. v. 11. 07. 1991 – C-87/90 (Verholen), Slg. 1991, I-03757 Rn. 23. 39 EuGH Urt. v. 11. 07. 1991 – C-87/90 (Verholen), Slg. 1991, I-03757 Rn. 24. 40 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1996, S. 55 ff. 41 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 460. 42 Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 461. 43 Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2011, Art. 13 Rn. 5.
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Für die Anforderungen an die Plausibilität der Rechtsverletzung kann bei Art. 47 GrCh unmittelbar an Art. 13 EMRK angeknüpft werden. Garantiert ist der Rechtsschutz bereits dann, wenn die Rechtsverletzung nur in vertretbarer Weise behauptet wird44. Ob tatsächlich eine Rechtsverletzung vorliegt, ist hingegen erst im Rahmen der Begründetheit zu klären45. 3. Die Verletzungshandlung Die Verletzungshandlung muss von den Adressaten der Rechtsweggarantie unterschieden werden. Bei den Adressaten geht es darum, welche Gewalten durch die Rechtsschutzgarantien verpflichtet sind, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Frage nach der Verletzungshandlung zielt dagegen auf die Akteure, von denen Rechtsverletzungen ausgehen müssen, um den Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu aktualisieren. Der Wortlaut des Art. 47 GrCh und des Art. 13 EMRK sehen insoweit keine Einschränkung vor, sodass in ihnen auch ein umfassender Justizgewährleistungsanspruch normiert sein könnte. a) Der Akt öffentlicher Gewalt i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG Im Gegensatz hierzu setzt die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG eine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt voraus. Was unter öffentlicher Gewalt zu verstehen ist, ist auch über 60 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht abschließend geklärt46. Unstrittig ist allein, dass unter öffentlicher Gewalt jedenfalls die gesamte vollziehende Gewalt zu verstehen ist47. Sicher auch unter dem Einfluss der Arbeiten meines Vaters setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, dass die öffentliche Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG auch die Legislative einschließt48. Seit der 2003 gefällten Entscheidung des Großen Senats des BVerfG49 ist zudem die Diskussion in Bewegung geraten, ob Art. 19 Abs. 4 GG auch einen Rechtsschutz gegenüber der Rechtsprechung verbürgt50. Vom Bundesverfassungsgericht wird dies nunmehr jedenfalls der Sache nach bei einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG angenommen, wenngleich die Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Rechtsschutz gegen den Richter nicht Art. 19 Abs. 4 GG, son-
44
Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 11. Albers (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 25. 46 Vgl. umfassend Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 231 ff. 47 BVerfGE 103, 142 (156); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 43. 48 Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979, S. 28 ff.; Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 338 ff. 49 BVerfGE 107, 395 (406 f.). 50 Grundlegend hierzu Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993. 45
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dern rechtssystematisch verfehlt der allgemeine Justizgewährungsanspruch sein soll51. Der gerichtliche Rechtsschutz gegenüber Rechtsverletzungen, die nicht der hoheitlichen Gewalt, sondern Dritten zuzurechnen sind, wird hingegen nicht durch Art. 19 Abs. 4 GG, sondern durch den allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch garantiert, der seinerseits im Rechtsstaatsprinzip verankert ist52. b) Die Rechtsverletzung i.S.d. Art. 13 EMRK Abweichend von Art. 19 Abs. 4 GG bindet der Wortlaut des Art. 13 EMRK die Beschwerdemöglichkeit nicht an eine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt. Die Vorschrift im Sinne eines umfassenden Justizgewährleistungsanspruchs zu deuten, muss sich indes mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 S. 1 HS. 1 EMRK verbieten. Dort ist für „Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ („civil rights“) der Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht garantiert. Damit beschränkt sich der Anwendungsbereich des Art. 13 EMRK auf Rechtsverletzungen seitens der öffentlichen Gewalt53. Da Art. 13 EMRK nur ein Beschwerderecht, aber nicht notwendigerweise einen gerichtlichen Rechtsschutz garantiert, besteht in der Rechtsprechung des EGMR die Tendenz, den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK auszudehnen54. Dies ändert aber nichts daran, dass im Grundsatz zwischen zivilrechtlichen Streitigkeiten und dem Rechtsschutz gegenüber Hoheitsakten als Regelungsgegenstand des Art. 13 EMRK zu unterscheiden ist. Die Vertragsstaaten der Konvention sichern die in der EMRK geschützten Rechte und Freiheiten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Menschen zu (Art. 1 EMRK). Dabei kann es keine Rolle spielen, ob die Konvention seitens der exekutiven, der legislativen oder der judikativen Gewalt missachtet wird. Ansatzpunkte, den Anwendungsbereich des Rechts auf eine wirksame Beschwerde allein auf die Exekutive zu beschränken, bietet die EMRK nicht. Insbesondere steht der Einbeziehung der Legislative nicht entgegen, dass Art. 13 EMRK nach Auffassung des EGMR nicht zur Einführung eines Normenkontrollverfahrens verpflich-
51 BVerfGE 107, 395 (406 f.); kritisch hierzu Voßkuhle, Bruch mit einem Dogma: Die Verfassung garantiert Rechtsschutz gegen den Richter, NJW 2003, 2193 (2196). 52 Zur Abgrenzung zwischen Art. 19 Abs. 4 GG und dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 58 ff.; Ibler (Fn. 23), Art. 19 Abs. 4 Rn. 362. 53 Vgl. Grabenwarter (Fußn. 29), § 24 Rn. 169. 54 Vgl. Grabenwarter, Justiz- und Verfahrensrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 6 Rn. 37 m.w.N. zur Einbeziehung auch solcher öffentlich-rechtlicher Verfahren, die Auswirkungen auf Vertragsbeziehungen oder auf vermögenswerte Positionen haben können.
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tet55. Denn ein effektiver Rechtsschutz gegen normatives Unrecht verlangt nur in den seltensten Fällen nach einer prinzipalen Normenkontrolle56. Vielmehr lässt er sich im Grundsatz auch durch inzidente Normenkontrollen umsetzen, in denen die Missachtung von Konventionsrechten durch die Legislative Vorfrage für die Überprüfung von Einzelrechtsakten ist. Dementsprechend hat der EGMR in den Entscheidungen, in denen er es abgelehnt hat, in Art. 13 EMRK einen Anspruch auf eine prinzipale Normenkontrolle zu verankern, gleichwohl eine Inzidentkontrolle vorgenommen57. Ebenso unstreitig dürfte mittlerweile die Einbeziehung judikativer Rechtsverletzungen in den Schutzbereich des Art. 13 EMRK sein. Dies unterstreichen zahlreiche Entscheidungen, in denen der EGMRVerletzungen der Rechtsweggarantie unter dem Aspekt einer überlangen Verfahrensdauer bejaht hat58. c) Die Rechtsverletzung i.S.d. Art. 47 Abs. 1 GrCh Neben der horizontalen Dimension, d. h. der Frage, von welcher staatlichen Gewalt Rechtsverletzungen ausgehen müssen, hat die Schutzrichtung des Art. 47 Abs. 1 GrCh auch noch eine vertikale Dimension. Diese nimmt in den Blick, ob relevante Rechtsverletzungen nur von der Union oder auch von Seiten der Mitgliedstaaten ausgehen können. Ähnlich wie bei Art. 13 EMRK lässt sich dem Wortlaut der Charta keine Antwort auf diese Fragen entnehmen. Art. 47 Abs. 1 GrCh spricht insoweit nur von Rechtsverletzung, thematisiert aber nicht ausdrücklich, von wem diese ausgehen muss. Mittelbare Rückschlüsse lassen sich insofern aus der Regelung der Grundrechtsverpflichtung in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh ziehen. Demnach sind durch die Charta sämtliche Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union sowie die Mitgliedstaaten gebunden, sofern sie das Recht der Union durchführen. Wenn die Rechtsweggarantie der prozessualen Sicherung der Charta dient, müssen damit zumindest Rechtsverletzungen, die von durch Art. 51 Abs. 1 GrCh verpflichteten Hoheitsträgern ausgehen, relevante Rechtsverletzungen i.S.d. Art. 47 Abs. 1 GrCh sein. aa) Nach wohl h.M. können Rechtsverletzungen darüber hinaus auch von Privatpersonen ausgehen59. Diese Auffassung ist indes nicht mit der Entstehungsgeschichte 55
Grabenwarter (Fußn. 54), § 6 Rn. 71; EGMR Urt. v. 21.02.1986 – 8793/79 (James and Others/UK), 8793/79 Rn. 85; EGMR Urt. v. 08.06.1986 – 9006/80 (Lithogow and Others/UK), 9006/80, Rn. 206. 56 Vgl. hierzu Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 361; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig (Hg.), GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 94. 57 EGMR Urt. v. 21.02.1986 – 8793/79 (James and Others/UK), 8793/79 Rn. 86; Urt. v. 08.06.1986 – 9006/80 (Lithogow and Others/UK), 9006/80, Rn. 207. 58 Hierzu und zu den durch diese Rspr. begründete veränderte Auffassung des Gerichtshofs über das Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK in derartigen Fällen vgl. insbesondere EGMR, Urt. v. 26.10.2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), Rn. 147 ff. (insb. 152); Urt. v. 08.06.2006 – 75529/01 (Surmeli/Deutschland), Rn. 99. 59 Vgl. nur Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 10.
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der Charta vereinbar. Nach den Erläuterungen des Präsidiums sollte Art. 47 Abs. 1 GrCh dem Vorbild des Art. 13 EMRK und Art. 47 Abs. 2 GrCh dem Vorbild des Art. 6 Abs. 1 EMRK nachgebildet werden. Deshalb kann Art. 47 GrCh nicht als ein einheitliches Grundrecht der Rechtsweggarantie gedeutet werden60. Vielmehr normiert Art. 47 Abs. 2 GrCh einen Art. 6 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 EMRK entsprechenden allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch, wohingegen Art. 47 Abs. 1 GrCh allein den Rechtsschutz bei hoheitlichen Rechtsverletzungen zum Gegenstand hat. Der rechtsstaatliche Mehrwert dieser Differenzierung beruht auf der unterschiedlichen Interessenlage bei Rechtsverletzungen zwischen Privaten und solchen durch die öffentliche Gewalt. Während sich im ersten Fall Rechtssubjekte auf einer Ebene der Gleichordnung begegnen, besteht bei hoheitlichen Rechtsverletzungen ein erhöhtes Schutzbedürfnis, dem besser durch eine Sonderrechtsdogmatik des Art. 47 Abs. 1 GrCh Rechnung getragen werden kann, als beide Gefährdungslagen quasi „über einen Kamm zu scheren“. bb) Die Verpflichtung, einen tatsächlich wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, aktualisiert sich bei jeder hoheitlichen Rechtsverletzung unabhängig davon, welcher Gewalt diese zuzurechnen ist. Den Gesetzgeber auszunehmen61, überzeugt aus den gleichen Gründen wie bei der oben erörterten Parallelproblematik des Art. 13 EMRK nicht. Aus dem Umstand, dass gegenüber Rechtsverletzungen seitens der legislativen Gewalt keine prinzipale Normenkontrolle offensteht, kann nicht gefolgert werden, dass der Konvent einen Rechtsschutz gegenüber dem Gesetzgeber auch im Wege inzidenter Normenkontrollen ausschließen wollte62. cc) Von Behörden, Organen und Einrichtungen der Mitgliedstaaten können Rechtsverletzungen i.S.d. Art. 47 Abs. 1 GrCh hingegen nur ausgehen, wenn diese das Recht der Europäischen Union ausführen. Allein der Umstand, dass eine Norm des Unionsrechts für ein Rechtsverhältnis relevant wird, kann hierfür noch nicht ausreichen. Erfasst werden hingegen die Umsetzung von Richtlinien sowie das Verwaltungshandeln in Ausführung von Sekundärrecht. Die Einschränkung von Grundfreiheiten muss sich nur insoweit an der Charta messen lassen, als spezifisch die Grundrechtskonformität einer mitgliedstaatlichen Einschränkungsmaßnahme in Rede steht63.
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Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 10; Last (Fußn. 7), S. 56. So aber Eser (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 18. 62 So auch angedeutet bei Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 9. 63 Hierzu eingehend Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 51 Rn. 35 ff. 61
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IV. Der Gewährleistungsgehalt Um tatsächlich wirksam zu werden, sind Leistungsgrundrechte auf eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber angelegt64. Dies gilt in besonderer Weise für die Rechtsweggarantie. Ohne eine Gerichtsverfassung und ohne Verfahrensordnungen kann der Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz von vornherein nicht eingelöst werden. Für die Ausgestaltung des Rechtsschutzes enthält die Charta detaillierte Vorgaben: Art. 47 Abs. 1 GrCh garantiert einen gerichtlichen Rechtsbehelf nach Maßgabe der in Abs. 2 und 3 vorgesehenen Bedingungen. In der primärrechtlichen Verankerung eines gerichtlichen Rechtsschutzes ist im Vergleich zu Art. 13 EMRK ein wesentlicher Fortschritt zu sehen, weil die EMRK allein eine Beschwerdemöglichkeit garantiert, die aber nicht notwendigerweise in einem gerichtlichen Rechtsschutz bestehen muss. Art. 47 Abs. 2 S. 1 GrCh entspricht nahezu wortgleich den Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, auf den auch in den Erläuterungen des Konvents Bezug genommen wird65. Als Verfahrensgrundsätze festgeschrieben sind die Verhandlung vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, die Öffentlichkeit der Verhandlung, der Grundsatz der Verfahrensfairness sowie eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist66. Art. 47 Abs. 2 S. 2 GrCh geht hingegen über die EMRK hinaus, indem er ein Recht auf Beratung, Verteidigung und Vertretung festschreibt. Denjenigen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, sichert Art. 47 Abs. 3 GrCh einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu. Auch dieser Anspruch stützt sich auf Art. 6 EMRK, wenngleich er nicht unmittelbar im Wortlaut verankert ist, sondern durch den EGMR richterrechtlich entwickelt wurde67. In Art. 47 Abs. 1 GrCh nicht geregelt ist hingegen, an wen die Rechtsweggarantie gerichtet ist (dazu 1.), inwieweit Beeinträchtigung und Begrenzungen zulässig sind (dazu 2.) und inwieweit über den Sekundärrechtsschutz hinaus auch ein Primärrechtsschutz (dazu 3.) garantiert ist. Für die übrigen Einzelfragen des Gewährleistungsumfangs muss auf die einschlägige Literatur verwiesen werden68.
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Zur Normgeprägtheit des Art. 19 Abs. 4 GG und deren Bedeutung für die Konkretisierungsbedürftigkeit des sachlichen Schutzbereichs durch den Gesetzgeber vgl. etwa Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 379 m.w.N. 65 Erläuterungen (Fußn. 1), S. 30. 66 Vgl. etwa Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 31 ff.; Nowak (Fußn. 7), § 51 Rn. 34 ff. 67 EGMR Urt. v. 09.10.1979 – 6289/73 (Airey/Ireland), 6289/73 Rn. 26. 68 Vgl. die Nw. oben Fußn. 7.
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1. Adressaten Die Rechtsweggarantie kann nur im Zusammenwirken aller drei Staatsgewalten verwirklicht werden. Da weder das Grundgesetz, noch die EMRK oder die Charta Sonderregeln enthalten, muss auf die allgemeinen Regeln der Grundrechtsverpflichtung zurückgegriffen werden. a) Art. 19 Abs. 4 GG Für das Grundgesetz ist dies Art. 1 Abs. 3 GG, der den Gesetzgeber, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht bindet. Dies gilt auch für Art. 19 Abs. 4 GG, der dementsprechend an alle Träger öffentlicher Gewalt gerichtet ist69. Mit Rücksicht auf seinen Charakter als normgeprägtes Leistungsgrundrecht ist an erster Stelle der Gesetzgeber gefordert, den Zugang zu den Gerichten und die wirksame Kontrolle auszugestalten70. Die Judikative trifft die Verpflichtung, das geltende Prozessrecht unter Beachtung der Vorgaben der Justizgrundrechte der Art. 101 ff. GG anzuwenden und etwaige Rechtsschutzlücken unter unmittelbarem Rückgriff auf Art. 19 Abs. 4 GG zu schließen71. Zuletzt verpflichtet die Rechtsweggarantie die Exekutive dazu, das Verwaltungsverfahrensrecht rechtsschutzfreundlich auszulegen und auszugestalten72. b) Art. 13 EMRK Der Kreis der Verpflichteten ist in Art. 1 EMRK geregelt. Danach sichern die Vertragsstaaten die Rechte der Konvention allen ihrer Herrschaftsgewalt unterworfenen Personen zu. Herrschaftsgewalt ist umfassend zu verstehen und schließt alle Bereiche der Hoheitsgewalt ein73. Sie umfasst damit im Rahmen des Art. 13 EMRK gleichermaßen die exekutive, die judikative, aber auch die legislative Gewalt. Wenn die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einen Rechtsbehelf zur Verfügung zu stellen, mit dem im innerstaatlichen Recht eine Verletzung der Konvention festgestellt werden kann74, muss zunächst der Gesetzgeber tätig werden. Sieht das nationale Verfahrensrecht keine ausreichende Beschwerdemöglichkeit vor, kann es auch notwendig werden, ganz neue, bislang im nationalen Recht nicht vorgesehene Verfahrensarten zu schaffen. Praktisch relevant ist dies bislang vor allem in Verfahren ge-
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Vgl. Jarass (Fußn. 41), Art. 19 Rn. 33. Vgl. Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 111; Jarass (Fußn. 41), Art. 19 Rn. 33, 55. 71 Vgl. nur Schenke (Fußn. 5), Art. 19 Abs. 4 Rn. 110. 72 BVerfGE 61, 82 (110). 73 Vgl. EGMR Urt. v. 18.2.1999 – 24833/94, NJW 1999, 3107 Nr. 29 – Matthews/Vereinigtes Königreich; Urt. v. 30. 1. 1998, Recueil 1998 – I, S. 17 – 18, Nr. 29 Vereinigte Kommunistische Partei der Türken u. a./Türkei; Meyer-Ladewig (Fußn. 36), Art. 1 Rn. 6. 74 Meyer-Ladewig (Fußn. 36), Art. 13 Rn. 8. 70
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genüber der Türkei geworden. In diesen hat sich Art. 13 EMRK als Hebel zur Erzwingung von rechtsstaatlichen Beschwerde- und Kontrollmöglichkeiten erwiesen75. c) Art. 47 Abs. 1 GrCh Wie Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 13 EMRK lässt auch Art. 47 Abs. 1 GrCh offen, an wen die Rechtsweggarantie adressiert ist. Damit kann im Ausgangspunkt an Art. 51 Abs. 1 GrCh angeknüpft werden. Ähnlich wie bei der Verletzungshandlung ist zwischen der horizontalen und der vertikalen Dimension der Grundrechtsverpflichtung zu unterscheiden. aa) Die horizontale Dimension Art. 51 Abs. 1 GrCh bindet die Union an die Charta, wohingegen die Mitgliedstaaten nur gebunden sind, wenn sie das Recht der Union durchführen. Auch bei Art. 47 Abs. 1 GrCh setzt ein wirksamer Rechtsbehelf ein Zusammenwirken aller drei Gewalten voraus, die gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen sind. Entgegen einer verschiedentlich vertretenen Auffassung76 gilt dies auch für die gesetzgebende Gewalt und zwar sowohl auf Unionsebene wie auch auf Ebene der Mitgliedstaaten. Die gegenteilige Meinung verweist auf den durch Art. 47 Abs. 1 GrCh in Bezug genommenen Art. 47 Abs. 2 GrCh, wonach zu den vorgesehenen Bedingungen der Rechtsschutzgewährung ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht gehört. Demzufolge setze die Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs nach Art. 47 Abs. 1 GrCh die vorherige Errichtung eines entsprechenden Gerichts voraus. Fehle es daran, könnten nur die derzeit vorhandenen Gerichtsinstanzen angerufen werden. Dem ist nur insoweit zuzustimmen, als sich Art. 47 Abs. 1 GrCh kein Anspruch auf Ausweitung der im Primärrecht enthaltenen Rechtsschutzmöglichkeiten entnehmen lässt, d. h. der pouvoir constitu¦ nicht in der Pflicht steht. Diese Begrenzung ergibt sich bereits aus der Einheit des Unionsrechts77, die es verbietet, Art. 47 Abs. 1 GrCh einen Vorrang gegenüber Art. 251 ff. AEUV einzuräumen. Zusätzlich bekräftigt wird dies durch Art. 52 Abs. 2 GrCh, wonach die Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben nicht verändert. Die immer wieder erhobene
75 Vgl. EGMR Urt. v. 11.07.2000 – 432548/98 Nr. 36 (G.H.H. u. a./Türkei), Slg. 00-VIII; Meyer-Ladewig (Fußn. 36), Art. 13 Rn. 7 f.; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 140. 76 Eser (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 12; zustimmend Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 14; Jarass (Fußn. 7), NJW 2011, 1393 (1395). 77 Zur Einheit der Verfassung als Auslegungstopos nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl., 1999, Rn. 20, 71.
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Forderung nach Einführung einer europäischen Grundrechtsbeschwerde78 vermag damit in Art. 47 Abs. 1 GrCh keine Stütze zu finden. Jenseits dieser immanenten Schranken des Art. 47 Abs. 1 GrCh würde es hingegen einen deutlichen Rückschritt hinter den bereits vor Verbindlicherklärung der Charta erreichten Grundrechtsstandard bedeuten, wenn die Rechtsschutzgewährung von der „Schaffung eines entsprechenden Gerichts“ abhängig gemacht würde. Denn in der Rechtsprechung des EuGH war und ist weiterhin anerkannt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, für Abhilfe zu sorgen, sofern das Unionsrecht selbst keine ausreichenden Klagemöglichkeiten gewährt79. Die gegenteilige Auffassung unterschreitet darüber hinaus den Garantiegehalt des Art. 13 EMRK, aus dem sich, wie oben gezeigt wurde, auch Verpflichtungen dazu ergeben können, Lücken in einem defizitären Rechtsschutzsystem zu schließen80. Sofern es an einem zuständigen Gericht fehlt, haben folglich entweder die Union oder die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die Voraussetzungen für den gebotenen Rechtsschutz zu schaffen. Inwieweit diese Verpflichtung Einschränkungen unterliegt, ist im Anschluss an die vertikale Dimension zu untersuchen (s.u. 2.). bb) Die vertikale Dimension Die gemeinsame Inpflichtnahme wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis die Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts zueinander stehen. Hierauf gibt bereits Art. 51 Abs. 1 GrCh einen wichtigen Hinweis, indem er die Geltung der Charta für die Union unter den Vorbehalt des Subsidiaritätsprinzips stellt. Noch einmal konkretisiert wird dies durch Art. 51 Abs. 2 GrCh, wonach die Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt, keine neuen Zuständigkeiten oder neuen Aufgaben für die Union begründet sowie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben unverändert lässt. Daraus ergibt sich, dass europäische Gerichte im Bereich des indirekten Vollzugs nicht befugt sind, Rechtsakte der Mitgliedstaaten zu überprüfen. Art. 251 ff. AEUV räumt dem Europäischen Gerichtshof keine entsprechenden Kompetenzen ein, ebensowenig wie solche mit Rücksicht auf den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1 EUV) sekundärrechtlich geschaffen werden könnten. Beim indirekten Vollzug muss sich der Rechtsschutzauftrag der europäischen Gerichtsbarkeit folglich darauf beschränken, über die Vorfragen zu entscheiden, die im Vorlageverfahren des Art. 267 AEUV relevant werden. 78
Lindner, Defizite und Fortschritte im EU-Grundrechtsschutz, ZRP 2007, 54 (56); zur Diskussion s. auch Pache, Prozessuale Durchsetzung der Gemeinschaftsgrundrechte, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 8 Rn. 22. 79 EuGH Urt. v. 13. 03. 2007 – C-432/05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271, Rn. 38 ff. 80 Vgl. oben IV. 1. b).
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Umgekehrt ist es mitgliedstaatlichen Gerichten verwehrt, Rechtsakte der Union zum unmittelbaren Verfahrensgegenstand zu machen. Dem steht bereits entgegen, dass es für direkte Klagen gegen Unionsrechtsakte an der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit fehlt81. Möglich und durch Art. 47 Abs. 1 GrCh geboten sind hingegen Feststellungsklagen vor nationalen Gerichten, soweit nationale Behörden für die Durchführung zuständig sind82. Diese können bzw. müssen gegebenenfalls in Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV einmünden, die über die Sicherung des Individualrechtsschutzes hinaus zugleich der Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Unionsrechts sowie seiner einheitlichen und effektiven Anwendung dienen83. Soweit die Mitgliedstaaten das Recht der Union durchführen, ist Art. 47 Abs. 1 GrCh an alle drei Gewalten adressiert. In erster Linie steht der Gesetzgeber in der Pflicht, seine nationalen Prozessordnungen im Zusammenspiel mit Art. 267 AEUV so auszugestalten, dass die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht wird. Eine entsprechende Verpflichtung war bereits vor Ausarbeitung der Charta als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt84, macht aber nunmehr einen zentralen Kerngehalt des Art. 47 Abs. 1 GrCh aus. 2. Grenzen und Beschränkungsmöglichkeiten Bei der Umsetzung von Leistungsgrundrechten steht dem Gesetzgeber im Grundsatz ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der allein durch das Untermaßverbot beschränkt ist85. Im Bereich der Rechtsschutzgarantie bedarf es eines Rückgriffs auf das Untermaßverbot hingegen nicht, weil das „Untermaß“ der Rechtsschutzgewährleistung bereits durch die Garantie eines wirksamen Rechtsschutzes markiert wird. a) Der Ausgestaltungsspielraum des Art. 19 Abs. 4 GG Grenzen sind der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zunächst durch die Bereichsausnahmen der Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG, Art. 16a Abs. 2, Abs. 4 GG und Art. 44 Abs. 4 GG gesetzt. Darüber hinaus kann Art. 19 Abs. 4 GG nur durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden, wobei für den Ausgleich der konkur81 Burgi, Deutsche Verwaltungsgerichte als Gemeinschaftsgerichte, DVBl. 1995, 772 (776); s. ferner EuGH Urt. v. 22. 10. 1987 – C-314/85 (Foto-Frost/Hauptzollamt Lübeck-Ost), Slg. 1987, 4199 Rn. 15. 82 Gundel, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 21; ohne den einschränkenden Hinweis auf die Durchführung durch die zuständigen nationalen Behörden aber Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 14, Einl. Rn. 68. 83 Pache (Fußn. 78), § 8 Rn. 12. 84 Vgl. EuGH Urt. v. 13. 03. 2007 – C-432/05 (Unibet), Rn. 38 ff. 85 Zum Untermaßverbot vgl. etwa Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 17 Rn. 40.
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rierenden Rechtspositionen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten ist86. In diesen Grenzen steht dem Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum zu, der erst überschritten ist, sofern bei der Ausgestaltung ein tatsächlich wirksamer Rechtsschutz nicht mehr gewährleistet ist87. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts praktisch relevant geworden sind Einschränkungen der Rechtsschutzgarantie vor allem bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen. Bei diesen kann zumindest vorübergehend von der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotenen Information nach Abschluss der Maßnahme abgesehen werden, wenn dies den Untersuchungszweck oder hochrangige Rechte und Rechtsgüter gefährden würde88. b) Art. 13 EMRK Im Unterschied zu verschiedenen anderen Gewährleistungen der EMRK (u. a. Art. 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2 EMRK) sieht Art. 13 EMRK keine Beschränkungsmöglichkeiten vor. Zumindest zum Schutz von solchen Rechtsgütern, die ihrerseits unter dem Schutz der EMRK stehen, muss es aber auch bei Art. 13 EMRK in Kollisionslagen möglich sein, das Beschwerderecht einzuschränken. Relevant war dies vor Inkrafttreten der Charta insbesondere beim Rechtsschutz gegen Europol89. c) Art. 47 GrCh Abweichend vom Grundgesetz und der EMRK, die für die Zulässigkeit von Eingriffen jeweils grundrechtsspezifische Anforderungen aufstellen, sieht Art. 52 Abs. 1 GrCh einen allgemeinen, prima facie für alle Grundrechte geltenden Gesetzesvorbehalt vor. Danach setzt die Einschränkung der Ausübung der Rechte und Freiheiten der Charta eine gesetzliche Regelung voraus. Als Schranken-Schranken sind der Wesensgehalt des Grundrechts (Art. 52 Abs. 1 S. 1 GrCh) sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten90. Modifiziert wird die einheitliche Schrankenregelung durch Art. 52 Abs. 3 GrCh. Dieser legt als Mindestschutzniveau solcher Rechte der Charta, die denen der EMRK entsprechen, das Schutzniveau der EMRK zugrunde (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh). Ein weiterreichender Schutz durch die Charta wird dadurch nicht ausgeschlossen (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh). Vielmehr darf – wie in den Erläuterungen der Charta ausgeführt 86
BVerfGE 116, 1 (18); Schulze-Fielitz (Fußn. 10), Art. 19 Abs. 4 Rn. 140. BVerfGE 109, 279 (364). 88 Vgl. etwa R.P. Schenke, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 10 Rn. 162 m.w.N. 89 Zu entsprechenden Problemen im Kontext des Rechtsschutzes gegen Europol siehe etwa R.P. Schenke, Rechtsschutz gegen Europol, in: Wolter/u. a. (Hg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, S. 367 (392). 90 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung dürfte auch die Angemessenheit einschließen, obwohl in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh explizit nur die Geeignetheit und die Erforderlichkeit normiert sind (Jarass, Fußn. 7, Art. 52 Rn. 35 ff., 40). 87
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ist – lediglich „der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein“. Mit Rücksicht auf die „Transferklausel“ des Art. 52 Abs. 3 GrCh vermag es daher entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung nicht zu überzeugen, Einschränkungen des Art. 47 Abs. 1 GrCh allein unter Hinweis auf Art. 52 Abs. 1 GrCh für zulässig zu halten91. Da Art. 47 Abs. 1 GrCh ausweislich der Entstehungsgeschichte an Art. 13 EMRK anknüpft92, kommen Beschränkungen, die den Rechtsschutz ausschließen oder wesentlich erschweren, nur unter ganz eingeschränkten Bedingungen in Betracht. Wenn das durch Art. 47 Abs. 1 GrCh vorgegebene Niveau unterschritten werden soll, muss dies ausdrücklich gesetzlich geregelt werden, um die Abweichung von dem sonst üblichen Rechtsschutzstandard entsprechend Art. 52 Abs. 1 GrCh transparent zu machen und demokratisch zu legitimieren. Materiell muss die Beschränkung hochrangigen Zielen der Union oder dem Schutze hochrangiger Rechte und Freiheiten Dritter dienen und zudem zwingend erforderlich sein. 3. Primär- versus Sekundärrechtsschutz Die Macht- und Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit wird nicht nur durch die Zugangsvoraussetzungen bestimmt, sondern hängt auch davon ab, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem Kläger zur Durchsetzung eines verletzten Rechts verhelfen kann. a) Art. 19 Abs. 4 GG Der von Art. 19 Abs. 4 GG gebotene Rechtsschutz setzt gerichtliche Entscheidungsbefugnisse voraus, um drohende Rechtsverletzungen wirksam abwenden oder erfolgte Rechtsverletzungen beseitigen zu können93. Dass diesen Anforderungen ein bloßes „Dulde und Liquidiere“ keinesfalls zu genügen vermag, ist so selbstverständlich, dass es in der Kommentarliteratur nicht einmal mehr gesondert erwähnt werden muss. b) Art. 13 EMRK Bei der Ausgestaltung des Rechtsbehelfs steht den Konventionsstaaten ein Ermessensspielraum zu, der aber durch die Vorgabe der Wirksamkeit des Rechtsbehelfs begrenzt wird94. Dieser Forderung ist am weitestgehenden entsprochen, wenn die Konventionsverletzung mit Hilfe der Beschwerde abgewehrt werden kann. Dass dies ge-
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So aber Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 14. Vgl. oben III. BVerfGE 101, 106 (123); Schulze-Fielitz (Fußn. 10), Art. 19 Abs. 4 Rn. 138. Meyer-Ladewig (Fußn. 36), Art. 13 Rn. 11.
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boten ist, stellen verschiedene Judikate des EGMR klar95. In der Rechtsprechung des EGMR klingt aber auch vereinzelt an, dass der Forderung nach einer wirksamen Beschwerde im Einzelfall auch bereits dann Genüge getan sein kann, wenn der Beschwerdeführer eine Entschädigung geltend machen kann96. Anstatt des durch Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Primärrechtsschutzes wäre dann auch ein bloßer Sekundärrechtsschutz ausreichend97. c) Art. 47 Abs. 1 GrCh In die gleiche Richtung deutet die Entscheidung Les Vertes des EuG. In dieser hat es das Gericht bereits als ausreichende Rechtsschutzmöglichkeit angesehen, wenn dem Betroffenen der Weg einer Haftungsklage eröffnet ist98. Auch in der Literatur werden als gerichtliche Abhilfemöglichkeiten neben der Aufhebung und Änderung des angefochtenen Akts zum Teil auch die bloße Verhängung von Sanktionen genannt99. Richtigerweise fordert Art. 47 Abs. 1 GrCh indes einen Primärrechtsschutz100. Die gegenteilige Auffassung wäre mit einer einschneidenden Schwächung des effet utile des Unionsrechts verbunden. Eine Beschränkung auf einen Sekundärrechtsschutz liegt erkennbar zu dem Grundansatz des Unionsrechts quer, seine effektive Durchsetzung durch eine Subjektivierung von Rechtspositionen und damit verbundene Klagemöglichkeiten sicherzustellen. Den Kläger auf sekundäre Rechtsschutzmöglichkeiten zu verweisen, kommt daher nur dort in Betracht, wo das Unionsrecht mit Rücksicht auf primärrechtliche Begrenzungen keine vorrangigen, auf die Beseitigung der Beeinträchtigung gerichteten Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Die oben zitierte Entscheidung Les Vertes des EuG betraf einen derartigen Fall, weshalb aus ihr keine Rückschlüsse auf eine grundsätzliche Alternativität von Primär- und Sekundärrechtsschutz gezogen werden können. Dementsprechend hat der EuG auch in der Entscheidung J¦go-Qu¦r¦ unmissverständlich klargestellt, dass die Beschränkung auf einen Sekundärrechtsschutz weder den Anforderungen des Art. 13 EMRK noch denen des Art. 47 Abs. 1 GrCh gerecht wird101. Dem Sekundärrechts95 EGMR Urt. v. 19.3.1997 – 107/1995/613/701, ÖJZ 1998, 236 Rn. 40 – Hornsby/Griechenland. 96 EGMR, Urt. v. 25. 03. 1983 5947/72; 6205/73; 7052/75; 7061/75; 7107/75; 7113/75; 7136/75 (Silver u. a. ./. GB), EuGRZ 1984, 147 Rn. 115. 97 Vgl. Meyer-Ladewig (Fußn. 36), Art. 13 Rn. 11; s. a. Villiger (Fußn. 29), Rn. 651. 98 EuG Urt. v. 15. 01. 2003 – T-377/00 (Philip Morris International/Kommission), Slg. 2003 II-1, Rn. 123 f. 99 Eser (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 19; Jarass (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 47; Blanke (Fußn. 7), Art. 47 Rn. 1. 100 Vgl. auch Nowak (Fußn. 7), Art. 51 Rn. 35. 101 EuG Urt. v. 03. 05. 2003 – T-177/01 (J¦go-Qu¦r¦), Slg. 2002, II-2361, Rn. 47; der hieraus gezogene Schluss, der frühere Art. 230 Abs. 4 EG sei erweitert auszulegen, widerspricht freilich der bereits oben herausgearbeiteten Begrenzung des Art. 47 Abs. 1 GrCh durch das Pri-
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schutz kann damit allein eine Ergänzungsfunktion zukommen102. Relevant wird dies derzeit etwa noch beim Rechtsschutz gegenüber Europol. Da Art. 10 Abs. 1 des Protokolls Nr. 36 des Lissaboner Vertrages die Nichtigkeitsklage des Art. 267 Abs. 4 AEUV während einer Übergangsphase von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon für unanwendbar erklärt, bleibt innerhalb dieser Übergangsphase eine Rechtsschutzlücke, die auch nicht unter Hinweis auf Art. 47 Abs. 1 GrCh geschlossen werden kann103. V. Fazit und Ausblick auf die bleibende Bedeutung des Art. 19 Abs. 4 GG Die Garantie eines gerichtlichen Rechtsschutzes ist in der Rechtsprechung des EuGH bereits seit 1986 als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt104. In der Kodifizierung dieses Rechtsgrundsatzes durch Art. 47 Abs. 1 GrCh ist gleichwohl weit mehr als nur ein symbolischer Akt zu sehen: Einmal kommt der Rechtsschutzgarantie nunmehr eine erhöhte demokratische Legitimation zu, weil sie nicht länger auf Richterrecht, sondern auf Vertragsrecht beruht. Zudem ist die unionsrechtliche Rechtsschutzgarantie auf eine klare Grundlage gestellt worden, deren richterrechtliche Konkretisierung sich in Zukunft am Wortlaut und an der Systematik des Art. 47 GrCh zu orientieren hat. Inhaltlich ist mit Art. 47 Abs. 1 GrCh im Vergleich zu Art. 13 EMRK ein bedeutender rechtsstaatlicher Fortschritt verbunden. Denn ungeachtet aller Versuche des EGMR, den Rechtsschutzstandard des Art. 13 EMRK aufzuwerten105, bietet die Garantie eines gerichtlichen Rechtsschutzes eine deutlich höhere Gewähr dafür, eine Rechtsverletzung auch tatsächlich abwehren zu können, als eine bloße Beschwerdemöglichkeit. Gezeigt werden konnte, dass Art. 47 Abs. 1 GrCh einen Primärrechtsschutz erfordert und dem Sekundärrechtsschutz allein eine Ergänzungs- und Hilfsfunktion zukommt. Nicht zu folgen ist ferner der in der Literatur vertretenen Auffassung, Art. 47 GrCh stehe unter dem Vorbehalt einer zuvor gesetzlich normierten Rechtsschutzmöglichkeit. Vielmehr sind die Union wie die Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen zustehenden Kompetenzen verpflichtet, Lücken in ihrem Rechtsschutzsystem zu schließen. Auf Unionsebene sind dabei allerdings die dem Individualrechtsschutz durch Art. 263 Abs. 4 AEUV gezogenen Grenzen zu beachten, die an dieser märrecht. Folgerichtig hat der EuGH diesen Ansatz deshalb in seiner zweitinstanzlichen Entscheidung zurückgewiesen und den Kläger auf den Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten verwiesen (EuGH Urt. 01.04.2004 – C-263/02 (J¦go-Qu¦r¦), C-263/02, Rn. 31 ff., 38). 102 Vgl. auch Nowak (Fußn. 7), Art. 51 Rn. 35. 103 Vgl. dazu R.P. Schenke (Fußn. 89). 104 Vgl. die Nw. oben Fn. 20. 105 Vgl. dazu nur Grabenwarter (Fußn. 29), § 24 Rn. 173 ff.
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Stelle nicht im Einzelnen dargelegt werden konnten106. Ganz entscheidend zur Effektivität der unionsrechtlichen Rechtsschutzgarantie dürfte beitragen, dass der Rechtsschutz gegenüber der Union und gegenüber den Mitgliedstaaten gleichen Regeln unterworfen ist. Damit ist zu erwarten, dass die hohen Verfahrensstandards, die die Durchsetzung des Europarechts bislang gegenüber den Mitgliedstaaten geprägt haben, zukünftig in gleicher Weise relevant werden, wenn sich der Bürger gegen Maßnahmen der Union selbst wendet. Der hohe Rang, den das Unionsrecht dem gerichtlichen Rechtsschutz durch Art. 47 Abs. 1 GrCh einräumt, ist insofern folgerichtig, als die Europäische Union nach dem derzeitigen Integrationsstand immer noch in weiten Teilen darauf angewiesen ist, die Bürger gegen erhebliche Widerstände in den Mitgliedstaaten zur Durchsetzung des Unionsrechts zu mobilisieren. Welche Durchschlagskraft die Rechtsweggarantie des Art. 47 Abs. 1 GrCh zu entfalten vermag – und dem korrespondierend welche Rolle die dritte Gewalt im Verfassungsgefüge der Europäischen Union spielen wird – , ist ähnlich wie bei Art. 19 Abs. 4 GG auch davon abhängig, wie weit der Kreis der subjektiven Rechte gezogen ist. Insoweit erweist sich das Europarecht gegenwärtig noch als deutlich großzügiger als das deutsche Verwaltungsrecht. Ob sich dieser Trend unter dem Einfluss der Charta noch verstärken wird, bleibt abzuwarten. Indem Art. 47 Abs. 2 GrCh eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist garantiert, ist in die Grundrechtecharta aber bereits ein Korrektiv eingebaut, das einer weiteren Expansion subjektiver Rechte durch die begrenzte Problemverarbeitungskapazität der Rechtsprechung Schranken setzt. Auch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat nichts daran geändert, dass die gerichtliche Verteidigung subjektiver Rechte des Unionsrechts weiterhin primär eine Aufgabe der mitgliedstaatlichen Gerichte sein wird. In Deutschland muss sich dieser Rechtsschutz zukünftig vorrangig an Art. 47 GrCh messen lassen, ohne dass hierdurch aber von den Verfahrensgarantien des Art. 19 Abs. 4 GG dispensiert würde. Verdrängt wird Art. 19 Abs. 4 GG allein bei einer abweichenden Interessenbewertung des Unionsrechts, was insbesondere im vorläufigen Rechtsschutz zu beachten ist107. Im Übrigen kommt es zu einer „Meistbegünstigung“ der Rechtsschutzgarantien108, bei der Art. 19 Abs. 4 GG für die Ausgestaltung des nationalen Rechtsschutzes jedenfalls noch solange eine wichtige Rolle spielen wird, wie Art. 47 GrCh noch nicht höchstrichterrechtlich durch den EuGH konkretisiert worden ist. Relevanz erlangt Art. 19 Abs. 4 GG für die Wirksamkeit des Rechtsschutzes aber auch noch auf eine andere Weise: Durch den deutschen Zweig der Europarechtswissenschaft werden an die Rechtsschutzgarantie des Unionsrechts Fragen herangetra106 Vgl. dazu etwa Dörr, in: Sodan/Ziekow (Hg.), VwGO, 3. Aufl. 2010, EVR Rn. 44 ff.; sehr instruktiv auch der Überblick bei Kotzur, in: Geiger/Kahn/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 263 Rn. 18 ff. 107 s. auch Dörr (Fußn. 106), EVR Rn. 221. 108 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 10. 07. 1990 – C-217/88 (Tafelwein), Slg. 1990, I-2879, Rn. 25; Dörr (Fußn. 106), EVR Rn. 249.
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gen, die sich ursprünglich im Kontext des Art. 19 Abs. 4 GG gestellt haben und dort erstmalig beantwortet worden sind. Damit strahlt der bei Art. 19 Abs. 4 GG erreichte Stand der Grundrechtsdogmatik mittelbar auch auf die Grundrechtecharta aus. Bei der dogmatischen Fortentwicklung des Art. 47 GrCh wird die Europarechtswissenschaft in den Arbeiten meines Vaters zu Art. 19 Abs. 4 GG daher noch lange Zeit eine wertvolle Hilfe finden.
II. Polizei- und Strafrecht
Kriminalpräventives Strafrecht und polizeiliche Kriminalprävention Von Matthias Bäcker* Das Polizeirecht wie das Strafrecht werden seit geraumer Zeit, aber in stetig zunehmendem Ausmaß für eine einzelfallübergreifende Prävention in Dienst genommen. Der herkömmliche Ansatz, konkrete Gefahren für bestimmte Rechtsgüter nach Möglichkeit abzuwehren und dann, wenn es doch zu einer Rechtsgutsverletzung kommt, dafür eine Sanktion zu verhängen, wird für unzureichend gehalten, um neuartigen Risiken zu begegnen, die von komplexen und weitgehend unbekannten kriminellen Strukturen ausgehen. Stattdessen sollen die Kriminalbehörden1 bereits verhindern, dass es überhaupt zu einer krisenhaften Situation kommt, die sich möglicherweise nicht mehr beherrschen ließe. Dies gilt insbesondere für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des internationalen Terrorismus, von denen besonders große Schäden befürchtet werden. Der Wandel der staatlichen Sicherheitsgewähr zeigt sich zunächst im Verfahrensund Organisationsrecht: Damit die Kriminalbehörden ihre neuen Präventionsaufgaben erfüllen können, wurden in den letzten Jahren ihre Befugnisse stetig ausgebaut. Insbesondere wurden ihnen in zunehmendem Ausmaß heimliche Überwachungsmaßnahmen ermöglicht. Daneben wurden die Kriminalbehörden organisatorisch durch zentrale Einrichtungen wie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum und informationell durch Datenverbünde wie die Antiterrordatei immer weiter gehend vernetzt. In der Folge verschiebt sich der Schwerpunkt der kriminalbehördlichen Tätigkeit zumindest gegenüber bestimmten Kriminalitätsbereichen hin zu Maßnahmen der Datenerhebung und Datenverarbeitung. Da die betroffenen Daten in aller Regel gleichermaßen nützlich sind, um Straftaten zu verhindern wie um sie zu verfolgen, wird das Verhältnis von Repression und Prävention zunehmend unübersichtlich und ist mit hergebrachten Formeln2 kaum noch zu bewältigen. Der Jubilar hat sich mit den hier angerissenen Problemen in jüngerer Zeit – insbesondere im Rahmen der Tätigkeit des von ihm mitbegründeten Instituts für deutsches und europäisches Straf* Für Hinweise und Kritik danke ich Ulf Buermeyer, Charles von Denkowski und Lothar Kuhlen. 1 Mit diesem Begriff werden hier die Behörden bezeichnet, die Straftaten verhindern oder auf Straftaten reagieren sollen; er umfasst insbesondere Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften. 2 Vgl. zu den seit langem erörterten Rechtsschutzproblemen im Grenzbereich von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 419 ff.
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prozessrecht und Polizeirecht – wiederholt befasst.3 Sie sind auch sonst in der polizeiwie strafverfahrensrechtlichen Literatur vielfach erörtert worden.4 Weiter unterliegt auch das materielle Strafrecht einem gleichgerichteten Wandel. Nach herkömmlichem Verständnis ist das Strafrecht eine retrospektive Ordnung, die menschliches Verhalten auf der Grundlage eines abgeschlossenen Sachverhalts bewertet und gegebenenfalls sanktioniert, weil es zu einem unerwünschten Zustand – insbesondere einem Schaden oder einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgut – geführt hat.5 Demgegenüber nimmt seit geraumer Zeit die Zahl der Deliktstatbestände immer weiter zu, die ein Verhalten bei Strafe verbieten, weil ihm das Potenzial zugeschrieben wird, bei ungehinderter Entwicklung in der Zukunft zu einem unerwünschten Zustand beizutragen, ohne dass bereits die Schwelle zum Versuch genommen oder sonst eine akute Krisensituation entstanden wäre.6 Die Strafbarkeit soll so frühzeitig greifen, dass ein Schaden im Einzelfall mit strafrechtlichen Mitteln verhütet werden kann.7 Diese präventive Funktion des materiellen Strafrechts geht weit über die hergebrachten Strafzwecke der Spezial- und Generalprävention hinaus, nach denen das Strafrecht lediglich mittelbar über physischen Zwang oder psychische Einwirkung dazu beitragen soll, dass Schäden in anderen vergleichbaren Fällen ausbleiben.8 Wird das materielle Strafrecht teilweise zu einer präventiv ausgerichteten Ordnung umgestaltet, so wirkt sich dies auch auf das Polizeirecht aus. Während die Entwicklung zum Präventionsstrafrecht jedoch in der Strafrechtswissenschaft seit längerem zu den meistdiskutierten Fragen gehört,9 wird sie in der Polizeirechtswissen-
3 Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002; Wolter/Schenke/Rieß/Zöller (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen, 2003; Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008; daneben Schenke, JZ 2001, 997; ders., JZ 2006, 707. 4 Vgl. etwa Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989, S. 111 ff.; Albers, Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001, S. 92 ff., 203 ff., 252 ff.; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 147 ff.; Zöller, Informationssysteme und Vorfeldmaßnahmen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten, 2002, S. 59 ff.; Gärditz, Strafprozeß und Prävention, 2003, S. 91 ff.; Denninger, in: Lisken/ders., Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, Rn. E 192 ff. 5 Puschke, in: Hefendehl, Grenzenlose Vorverlagerung des Strafrechts?, 2010, 9 (24 ff.); Gärditz (Fußn. 4), S. 60 ff. 6 Überblicke bei Hamm, in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a. M., Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, 521 (529 ff.); Hefendehl, in: ders. (Fußn. 5), S. 89 (90 ff.). 7 Hassemer, ZRP 1992, 378 (381); Sieber, NStZ 2009, 353 (355); Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (121 f.); Puschke (Fußn. 5), S. 26. 8 Zu den verschiedenen „klassischen“ Straftheorien Roxin, Strafrecht AT, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 1 ff. 9 Vgl. etwa Jakobs, ZStW 97 (1985), 751; Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, 1991; Hassemer, ZRP 1992, 378; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Zieschang, Die Gefährdungsdelikte, 1998; Wohlers, De-
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schaft zumeist allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen.10 Der Beitrag soll zeigen, dass dieses Desinteresse nicht begründet ist. Der Wandel des materiellen Strafrechts birgt vielmehr das Potenzial, auch das Polizeirecht tiefgreifend umzugestalten, ohne dass dafür polizeirechtliche Normen geändert werden müssten. Diese These wird anhand des Teilbereichs des Präventionsstrafrechts entwickelt, der für das Polizeirecht am bedeutsamsten ist. Er wird hier als kriminalpräventives Strafrecht bezeichnet. Im Folgenden wird zunächst der Begriff des kriminalpräventiven Strafrechts geklärt und erläutert, welche Funktionen diese Straftatbestände im Strafverfahren haben (unten I.). Sodann wird dargelegt, dass das kriminalpräventive Strafrecht die polizeirechtlichen Befugnisnormen von innen her derart ausdehnen kann, dass ihre Steuerungskraft in Frage gestellt wird, was auch verfassungsrechtliche Bedenken weckt. Diesem Problem kann zwar polizeirechtsimmanent abgeholfen werden (unten II.). Jedoch kann eine rein polizeirechtliche Lösung nicht verhindern, dass das Strafverfahrensrecht als funktionales Äquivalent des Polizeirechts herangezogen wird, um weitgehende staatliche Überwachungsbefugnisse zu begründen. Um die verfassungs- und verfahrensrechtlichen Probleme zu bewältigen, die das kriminalpräventive Strafrecht aufwirft, ist eine übergreifende Perspektive erforderlich. Sie kann nur gewonnen werden, wenn Straf- und Staatsrechtswissenschaft das kriminalpräventive Strafrecht als gemeinsame Herausforderung angehen (unten III.). I. Begriff und innerstrafrechtliche Funktionen des kriminalpräventiven Strafrechts Mit dem Begriff des kriminalpräventiven Strafrechts werden hier Normen bezeichnet, die eine Handlung bei Strafe verbieten, weil sie in (weitere) Straftaten des Handelnden und/oder Dritter einzumünden droht. Ein kriminalpräventiver Straftatbestand verweist damit zumindest implizit auf eine Bezugstat, die zum Zeitpunkt der Tathandlung noch nicht begangen ist und zu der auch noch nicht unmittelbar angesetzt wurde. Hinsichtlich dieser Bezugstat kriminalisiert der kriminalpräventive Tatbestand das ansonsten straffreie Vorfeld des Versuchs und verlagert die Strafbarkeit insoweit vor.11
liktstypen des Präventionsstrafrechts, 2000; Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002; Heinrich, ZStW 121 (2009), 94; Hefendehl (Fußn. 5). 10 Vgl. etwa die knappen Ausführungen bei Albers (Fußn. 4), S. 32; Möstl (Fußn. 4), S. 130; Denninger, in: Lisken/ders. (Fußn. 4), Rn. E 19. 11 Ohne Belang ist für diesen Befund, ob sich noch ein Kollektivrechtsgut benennen lässt, das durch die tatbestandlich umschriebene Handlung verletzt oder unmittelbar gefährdet wird, vgl. beispielhaft zu der Diskussion um die durch §§ 129, 129a StGB geschützten Rechtsgüter Cancio Meli, in: Hefendehl (Fußn. 5), 47 (55 ff.), m.w.N., und wie hier Weißer, ZStW 121 (2009), 131 (136).
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Regelungsmodell des kriminalpräventiven Strafrechts – wie des Präventionsstrafrechts insgesamt – ist das abstrakte Gefährdungsdelikt.12 Solche Straftatbestände haben ein Verhalten zum Gegenstand, das für sich genommen Rechtsgüter weder verletzt noch konkret gefährdet, aber unter bestimmten Randbedingungen zukünftig in eine solche Verletzung oder konkrete Gefährdung münden kann. Abstrakte Gefährdungsdelikte sind ein heterogenes Phänomen, das sich nur mit Blick auf ein spezifisches Erkenntnisinteresse systematisieren lässt. Hier wird zudem mit den Vorfeldnormen des kriminalpräventiven Strafrechts nur ein Teilbereich betrachtet.13 Auf andere Typen abstrakter Gefährdungsdelikte lassen sich die folgenden Ausführungen ausdrücklich nicht ohne weiteres übertragen. Das kriminalpräventive Strafrecht wird im Folgenden anhand von zwei Parametern geordnet: zum einen der Rolle, die der Täter der Vorfeldstraftat bei der Bezugstat zu spielen zu droht (unten 1.), zum anderen der Nähe der kriminalisierten Vorfeldhandlung zu der Tathandlung der Bezugstat (unten 2.). Auf der Grundlage dieser Analyse werden seine Funktionen im Strafverfahren untersucht (unten 3.). In den folgenden Ausführungen werden zur Illustration Straftatbestände herangezogen, die zumindest primär auf die Kriminalitätsbereiche der organisierten Kriminalität oder des Terrorismus zugeschnitten sind. In der jüngeren Vergangenheit haben vor allem diese Bereiche die Diskussion um den Wandel staatlicher Sicherheitsgewähr angetrieben. Die hier erörterten Deliktstatbestände sind zudem für das Polizeirecht besonders bedeutsam, da sie häufig in Bezug genommen werden, um polizeirechtliche Eingriffstatbestände zu vervollständigen. Allerdings darf diese Beschränkung nicht dahingehend fehlinterpretiert werden, als stammten die Bezugsnormen des kriminalpräventiven Strafrechts nur aus bestimmten Feldern der Schwerkriminalität. Kriminalpräventive Vorfeldtatbestände finden sich vielmehr im Strafgesetzbuch an vielen Stellen, und sie haben auch weniger gewichtige Bezugstaten zum Gegenstand.14
12 Vgl. mit kritischer Stoßrichtung Hassemer, ZRP 1992, 378 (381): Das abstrakte Gefährdungsdelikt sei „die Deliktsform der Moderne“. 13 Umfassender angelegte Systematisierungen mit jeweils unterschiedlichen Kategorien bei Wohlers (Fußn. 9), S. 305 ff.; v. Hirsch/Wohlers, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, 2003, 196 (198 ff.); Roxin (Fußn. 8), § 11 Rn. 153 ff. 14 Als Beispiele für kriminalpräventive Vorfeldnormen aus unterschiedlichen Kriminalitätsfeldern und mit unterschiedlichem Gewicht seien nur genannt § 96 StGB (landesverräterische Ausspähung und Auskundschaften von Staatsgeheimnissen), § 149 StGB (Vorbereitung der Fälschung von Geld und Wertzeichen), § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB („Grooming“), § 202c StGB (Vorbereitung des Ausspähens und Abfangens von Daten – „Hacker-Paragraph“), § 265 StGB (Versicherungsmissbrauch durch Zerstörung oder Beiseiteschaffung einer versicherten Sache), § 310 StGB (Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens).
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1. Rolle des Täters bei der Bezugstat Nach der Rolle des Vorfeldstraftäters bei der Bezugstat können innerhalb des kriminalpräventiven Strafrechts drei Deliktsgruppen unterschieden werden. Sie werden hier als Anschließungs-, Kooperations- und Vorbereitungsdelikte bezeichnet.15 Bei Anschließungsdelikten schafft der Täter das Risiko von Bezugstaten Dritter, an denen er typischerweise nicht beteiligt ist. Er stellt diesen Dritten Gegenstände oder Informationen zur Verfügung, die dann zur Tatbegehung genutzt werden, oder trägt allgemeiner zu einer tatgeneigten Lage bei. Aus polizeirechtlicher Sicht von besonderem Interesse sind die Straftatbestände, die das Gesetz zur Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten16 geschaffen hat. Gemeinsame Bezugstat dieser Normen ist eine Straftat gegen das Leben oder gegen die persönliche Freiheit, die bestimmt und geeignet sein muss, einen Staat, eine internationale Organisation oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik erheblich zu beschädigen.17 Das Gesetz hat mehrere Anschließungstatbestände in das Strafgesetzbuch eingefügt: Strafbar macht sich, wer einem Terroristen Fertigkeiten vermittelt, die dazu dienen, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat zu begehen (§ 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB), wer Tatmittel einer solchen Tat verwahrt oder weitergibt (§ 89a Abs. 2 Nr. 2 und 3 StGB) oder wer Finanzmittel für die Begehung beschafft (§ 89a Abs. 2 Nr. 4 StGB). Ein Anschließungsdelikt enthält schließlich auch § 91 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Danach wird bestraft, wer eine Schrift18 verbreitet, die als Anleitung für eine schwere staatsgefährdende Gewalttat dienen kann, wenn dies nach den Umständen der Verbreitung die Bereitschaft Dritter zu einer solchen Gewalttat fördern oder wecken kann. Kooperationsdelikte kriminalisieren Handlungen, mit denen gemeinschaftliche Straftaten geplant oder vorbereitet werden. Indem der einzelne Täter sich mit anderen verabredet oder zusammentut, geht er Bindungen ein oder begünstigt gruppendynamische Prozesse, aufgrund derer sich das Risiko der geplanten oder vorbereiteten Straftaten erhöht. Zu nennen sind neben der Verbrechensverabredung nach § 30 StGB vor allem die Organisationsdelikte in §§ 129 ff. StGB. Diese Normen stellen die Gründung und Beteiligung an einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung unter Strafe. Dabei handelt es sich um organisatorisch verfestigte Zusammenschlüsse, die sich zum Ziel oder zumindest zum Zwischenziel19 gesetzt haben, Straftaten zu
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Die folgende Systematisierung lehnt sich teilweise an die Einteilung von Sieber, NStZ 2009, 353 (357 ff.) an, der allerdings von anderen Oberkategorien ausgeht. 16 Vom 30. Juli 2009, BGBl I S. 2437. 17 § 89a Abs. 1 Satz 2 StGB; näher und kritisch Backes, StV 2008, 654 ff.; Gazeas/GrosseWilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (594 f.); Weißer, ZStW 121 (2009), 131 (147 f.). 18 Vgl. § 11 Abs. 3 StGB. 19 BGHSt 27, 325 (326); 41, 47 (56).
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begehen. Der Unterschied zwischen kriminellen und terroristischen Vereinigungen liegt darin, welche Bezugstaten die Vereinigung begehen soll. Ob die Annahme plausibel ist, dass bereits die Existenz einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung die Wahrscheinlichkeit von Straftaten der Mitglieder dieser Vereinigung erhöht, hängt insbesondere davon ab, wie die Vereinigung organisiert ist und wie sie ihren Willen bildet.20 Insoweit stellt die Rechtsprechung hohe Anforderungen und fordert grundsätzlich,21 dass die Binnenstruktur der Vereinigung aufgeklärt wird. Diese Anforderungen haben zur Folge, dass einerseits streng hierarchisch gegliederte „quasi-militärische“ Organisationen, andererseits lockere Netzwerke aus dem Vereinigungsbegriff herausfallen.22 In der Folge erfassen die Vereinigungsdelikte in erster Linie politisch ausgerichtete Verbände,23 während Gruppierungen der organisierten Kriminalität praktisch nur selten als Vereinigungen im Sinne des § 129 StGB einzustufen sind.24 Vorbereitungsdelikte verlagern die Strafbarkeit hinsichtlich einer Bezugstat des Täters selbst vor, an der nicht notwendigerweise weitere Personen beteiligt sein sollen. Die Tatneigung des Täters hat sich dabei bereits objektiv in einer Planungs- oder Vorbereitungshandlung manifestiert, ohne dass jedoch die Schwelle zum strafbaren Versuch erreicht wäre. Ob es zu der Bezugstat letztlich kommt, hängt auch nach Vollendung des Vorbereitungsdelikts allein vom Willen des Täters ab, er hat den Geschehensablauf also auch nicht teilweise aus der Hand gegeben.25 Für das Polizeirecht besonders relevant sind die Vorbereitungstatbestände im Betäubungsmittel- sowie im Terrorismusstrafrecht. Der Drogenhandel gilt als ein zentrales Betätigungsfeld der organisierten Kriminalität.26 Angesichts der Aufklärungsschwierigkeiten, die den komplexen und abgeschotteten Strukturen krimineller Organisationen zugeschrieben werden, verwundert 20 Zu kurz greift es in jedem Fall, wenn diese Annahme von vornherein für unplausibel erklärt wird, so aber ohne jeden Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Erkenntnisse Jakobs, ZStW 97 (1985), 751 (765, Fußn. 19); vgl. im Überblick zu den maßgeblichen Einflussfaktoren Gilovich/Keltner/Nisbett, Social Psychology, 2011, S. 304 ff.; zu gruppendynamischen Prozessen innerhalb terroristischer Gruppierungen Wildfang, Terrorismus, 2010, S. 199 ff. 21 Eine Aufklärung der internen Willensbildungsmechanismen hält der Bundesgerichtshof neuerdings für entbehrlich, wenn die Mitglieder der Organisation ein gemeinsames (etwa ideologisches oder religiöses) Ziel verfolgen, das über die Begehung konkreter Straftaten hinausgeht, vgl. BGH, NJW 2010, 1979 (1983 f.). 22 Dessecker, NStZ 2009, 184 (187 f.). 23 So soll Al-Qaida auch nach der Lockerung der Organisationsstrukturen infolge der massiven Bekämpfung seit dem 11. September 2001 die Anforderungen erfüllen, so BGH, NJW 2009, 3448 (3459 f.); zweifelnd Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 519 f. 24 Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, 2004, S. 164 ff.; Maletz, Kriminalistik 2010, 428 (431 f.); vgl. auch BGH, NJW 2010, 1979 (1984). 25 Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (125). 26 Vgl. in rechtspolitischer Perspektive Hoffmann-Riem, Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, 2000, S. 92 ff.
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es nicht, dass sich im Betäubungsmittelstrafrecht bereits seit langem zahlreiche kriminalpräventive Straftatbestände finden. Vor allem ist das Verbot des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln aus § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG zu nennen. Die Rechtsprechung legt den Begriff des Handeltreibens als „zentralen Begriff des Betäubungsmittelstrafrechts“27 extensiv aus und versteht darunter jede eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit.28 Danach sind in weitem Umfang Handlungen als vollendetes Handeltreiben strafbar, die lange vor dem Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln liegen.29 Im Terrorismusstrafrecht hat das Gesetz zur Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten mehrere Vorbereitungstatbestände geschaffen. § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB verbietet es, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, die dazu dienen, eine schwere staatsgefährdende Gewalttat zu begehen. Die Gesetzesbegründung hat dabei in erster Linie den Besuch eines „Terrorcamps“ im Auge,30 tatbestandlich erfasst sind jedoch auch etwa das Selbststudium oder der Erwerb äußerlich neutralen Wissens von einem gutgläubigen Lehrer.31 Daneben werden Erwerb und Herstellung von Gegenständen unter Strafe gestellt, die zur Tatbegehung dienen (§ 89a Abs. 2 Nr. 2 und 3 StGB). § 89b StGB verbietet es, Kontakt mit einer terroristischen Vereinigung in der Absicht aufzunehmen, sich in der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat unterweisen zu lassen. Nach § 91 Abs. 1 Nr. 2 StGB wird bestraft, wer sich eine Schrift verschafft, die als Anleitung zu einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat dienen kann, um eine solche Tat zu begehen. 2. Nähe zwischen Vorfeld- und Bezugstat Quer zu der Frage nach der Rolle des Täters bei der Bezugstat liegt die weitere Frage, welche Nähe die Tathandlung des Vorfelddelikts zu der Bezugstat aufweist. Dieses Kriterium gibt den Grad der Vorverlagerung der Strafbarkeit an. Je weitergehend der Vorfeldtatbestand die Strafbarkeit vorverlagert, desto mehr tritt für die Strafbegründung das tatbestandlich umschriebene Verhalten als äußerer Anlass der Strafbarkeit gegenüber der Gefährlichkeit der Person zurück, die sich in diesem Verhalten manifestiert.32
27 28
(256).
Rahlf, in: MüKo-StGB, 2007, § 29 BtMG Rn. 233. BGHSt 6, 246 (247); 25, 290 (291); 28, 308 (309); 29, 239 (240); 30, 359 (360); 50, 252
29 Ausführlich zu den Erscheinungsformen des Handeltreibens Weber, BtMG, 3. Aufl. 2009, § 29 Rn. 327 ff. 30 BT-Drucks. 16/12428, S. 15. 31 Backes, StV 2008, 654 (657); Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (597). 32 Hefendehl (Fußn. 5), S. 89 (96); Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (117); vgl. auch Paeffgen, FS Amelung, 2009, 81 (109 ff.). Zu § 89a StGB affirmativ Bader, NJW 2009, 2853 (2855): Die Dezentralisierung der Strukturen des islamistischen Terrorismus „bis hin zu Einzeltätern, motiviert unter anderem durch Terrorvideos und Handlungsanleitungen im Internet, führt dazu,
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Die Nähe zur Bezugstat ist nicht allein zeitlich-räumlich zu verstehen, sondern für sie sind drei Gesichtspunkte bedeutsam: die Konkretisierung der Bezugstat, Zahl und Art der Zwischenakte von der kriminalisierten Handlung bis zu der Bezugstat sowie der äußerlich erkennbare deliktische Sinngehalt der Vorfeldhandlung. Zunächst kann ein kriminalpräventiv ausgerichteter Vorfeldtatbestand unterschiedlich hohe Anforderungen an die Konkretisierung der Bezugstat stellen, die verhindert werden soll. Möglich ist, dass die Bezugstat nach Art, Gegenstand, Ort und Zeit bereits deutlich konturiert sein muss. Die Vorfeldnorm zielt dann darauf ab, einen bestimmten absehbaren Geschehensablauf zu verhindern. Zu nennen sind etwa die Kooperationstatbestände des § 30 StGB.33 Die hier untersuchten Normen des Terrorismus- und Betäubungsmittelstrafrechts errichten hingegen allesamt deutlich weitmaschigere Anforderungen: Sowohl die Organisationsdelikte in §§ 129 ff. StGB als auch die Vorfeldnormen, die das Gesetz zur Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten geschaffen hat, fordern lediglich, dass die Bezugstat in groben Zügen umrissen ist.34 § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG soll nach der Rechtsprechung Vorbereitungshandlungen zum Umsatz mit Betäubungsmitteln selbst dann erfassen, wenn sie einen solchen Umsatz im konkreten Fall nicht einmal fördern.35 In solchen Fällen pönalisiert auch diese Norm vor allem die äußerlich manifestierte Bereitschaft des Täters, Betäubungsmittel zu vertreiben.36 Die weitere Frage nach Zahl und Art weiterer Zwischenakte dient dazu, die kriminalisierte Vorfeldhandlung in den Geschehensablauf einzuordnen, der schließlich in eine strafbare Rechtsgutsverletzung einzumünden droht. Ein Vorfeldtatbestand verlagert die Strafbarkeit besonders weit vor, wenn im Anschluss an die kriminalisierte Handlung noch zahlreiche weitere Handlungen und erheblicher Aufwand erforderlich sind, bis der Täter zu der Bezugstat ansetzen kann. Eine faktisch sehr weitgehende Vorverlagerung der Strafbarkeit sehen etwa § 89b und § 91 StGB vor. Diese Nor-
dass von den Tätern bereits im Vorbereitungsstadium ein nicht kalkulierbares bzw. kaum beherrschbares Risiko ausgeht“. 33 Näher Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 30 Rn. 6, m.w.N. 34 Vgl. zu § 129 StGB BGHSt 27, 325 (328); zu § 89a StGB die Gesetzesbegründung, BTDrucks. 16/12428, S. 14. 35 Vgl etwa BGHSt 29, 239 (241) – erfolglose Absatzbemühungen; BGHSt 50, 252 (256 ff.) – erfolglose Verhandlungen über den Absatz von Betäubungsmitteln. 36 Affirmativ Weber, JR 2006, 139 (143): Angesichts des Überangebots von Drogen auf dem deutschen Markt werde „jeder, der ernsthafte Kauf- oder Verkaufsverhandlungen über Rauschgift aufnimmt oder der erkennen lässt, den Umsatz von Betäubungsmitteln in anderer Weise zu fördern oder zu unterstützen, für das Drogenverteilungssystem interessant und damit zu einer Gefahrenquelle für die durch das BtMG geschützten Rechtsgüter“. Kritisch Endriß/ Kinzig, NJW 2001, 3217 (3219): Die weite Interpretation des Handeltreibens berge die Gefahr, „dass die Würfel über die Strafbarkeit nicht mehr infolge der Subsumtion unter einen Tatbestand fallen, sondern danach, ob sich der Beschuldigte in der Szene bewegt“.
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men stellen die „Vorbereitung der Vorbereitung“37 einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat unter Strafe, an die sich noch zahlreiche Folgehandlungen des Täters anschließen müssen, bis es zu der Gewalttat kommen kann. In faktischer Hinsicht weit geht auch § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG, da auch Anbahnungshandlungen verboten sind, denen noch weitere Beschaffungs- und Vertriebsmaßnahmen folgen müssen, bis Drogen in den Verkehr gebracht werden können. Schließlich können strafbare Vorfeldhandlungen in unterschiedlichem Maß einen äußerlich erkennbaren Bezug zu späteren Straftaten aufweisen. So beschreiben einige Deliktstatbestände Handlungen, die von vornherein nur mit Blick auf die Bezugstat erklärbar sind. Dies gilt etwa für die Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung. Am anderen Ende der Skala stehen Normen, die ein äußerlich unauffälliges Verhalten unter Strafe stellen, dessen deliktischer Sinngehalt sich ausschließlich aus den Motiven des Handelnden ergibt.38 Insbesondere die durch das Gesetz zur Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten geschaffenen Straftatbestände verlagern nach diesem Kriterium die Strafbarkeit teilweise erheblich vor. Bereits die Tatbestände des § 89a Abs. 2 StGB erfassen in weitem Umfang auch äußerlich neutrales Verhalten.39 Als extrem weit vor die Bezugstat verlegter Tatbestand ist § 91 StGB anzusehen. Bei den Schriften, deren Verbreitung und Bezug verboten wird, kann es sich auch um neutrale Texte wie etwa wissenschaftliche Dokumente handeln, so dass erst der böse Wille des Täters das Verbot begründet. Zudem reicht in der Verbreitungsalternative bereits bedingter Vorsatz aus, um die Strafbarkeit zu begründen.40 § 91 Abs. 2 StGB stellt dementsprechend Veröffentlichungen zu sozialadäquaten Zwecken in weitem Umfang straffrei. 3. Strafprozessuale Funktionen kriminalpräventiver Straftatbestände Kriminalpräventive Straftatbestände zielen darauf ab, zum einen im Einzelfall schadensträchtige Geschehensabläufe bereits vor dem Schadenseintritt zu unterbrechen, zum anderen über den Einzelfall hinaus kriminelle Strukturen aufzuklären und zu zerschlagen. Diese präventiven Ziele scheinen im Widerspruch zu dem retrospektiven und einzelfallbezogenen Ansatz des Strafverfahrens zu stehen. Jedoch knüpft 37
Weißer, ZStW 121 (2009), 131 (151); ähnliche Formulierungen bei Backes, StV 2008, 654 (658); Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (601); Sieber, NStZ 2009, 353 (362); Zöller, GA 2010, 607 (616). 38 Plastisch Sieber, NStZ 2009, 353 (360): „Der subjektive Tatbestand begrenzt oder konkretisiert das Unrecht in diesen Fällen nicht, sondern schafft es erst“; vgl. auch Hefendehl (Fußn. 6), S. 92. 39 Vgl. im Einzelnen die Analysen bei Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (595 ff.); Zöller (Fußn. 23), S. 565 ff.; Backes, StV 2008, 654 (657 ff.); Sieber, NStZ 2009, 353 (361 f.). 40 Kritisch Sieber, NStZ 2009, 353 (363); Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling, NStZ 2009, 593 (602 f.); Backes, StV 2008, 654 (659).
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das Strafprozessrecht an das materielle Strafrecht an und verändert sich mit ihm. Die Vorfeldtatbestände des kriminalpräventiven Strafrechts verleihen sowohl dem Ermittlungsverfahren als auch der strafgerichtlichen Verurteilung ein präventives Gepräge. a) Ermittlungsfunktion Die Ermittlungsfunktion des kriminalpräventiven Strafrechts folgt daraus, dass sich mit der materiellen Strafbarkeit auch die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden vorverlagert. Diese Behörden haben in der Folge strafprozessuale Ermittlungs- und Zwangsbefugnisse bereits im Vorbereitungsstadium, das ansonsten allenfalls auf der Grundlage polizeirechtlicher Regelungen überwacht und beeinflusst werden könnte. Dabei ermöglicht die Strafprozessordnung zum Teil auch höchst eingriffsintensive Maßnahmen, um dem Verdacht nachzugehen, dass ein kriminalpräventiver Vorfeldtatbestand verwirklicht wurde. Insbesondere gilt dies für die hier untersuchten Bereiche des Terrorismus- und Betäubungsmittelstrafrechts.41 Knüpfen strafrechtliche Ermittlungen an einen Vorfeldtatbestand an, so verflüchtigt sich der retrospektive Ansatz des Strafverfahrens. Strafprozessuale Ermittlungsbefugnisse dienen im Allgemeinen dazu, ein Geschehen aufzuklären, das zum Zeitpunkt der Ermittlungen in der Vergangenheit liegt. Dies gilt auch für solche Ermittlungsmaßnahmen, die sich – wie Telekommunikations- oder Wohnraumüberwachungen – auf Ereignisse beziehen, die zum Zeitpunkt ihrer Anordnung in der Zukunft liegen: Aus den überwachten Handlungen soll auf die bereits begangene Straftat geschlossen werden. Bereits dieses hergebrachte retrospektive Ermittlungsziel erhält jedoch durch einige kriminalpräventive Vorfeldnormen wie insbesondere die Organisationsdelikte der §§ 129 ff. StGB ein prospektives Element. Diese Normen beschreiben nicht einen Zwischenschritt in einem linearen Geschehensablauf, der zu einem bereits konkret absehbaren Schadensereignis zu führen droht, sondern verbieten Handlungen, mit denen der Täter sich in kriminelle Strukturen integriert. Solche Handlungen lassen sich nur bewerten, wenn diese Strukturen aufgeklärt werden.42 In der Folge richtet sich das strafrechtliche Ermittlungsinteresse fast zwangsläufig auch auf Gegenwart und Zukunft.43 Zudem geraten in aller Regel Dritte in den Blick der Strafverfolgungsbehörden, so dass die Ermittlungen sachlich wie zeitlich ausgedehnt werden. Möglich ist auch, dass während der Ermittlungen (weitere) Straftaten beobachtet werden. Das Ziel einer Überwachungsmaßnahme erweitert sich so laufend und schließt nach einiger Zeit Handlungen ein, die noch in der Zukunft lagen, als die Maßnahme beschlossen wurde. 41 Vgl. etwa § 112a Abs. 1 Satz 1 StPO (besonderer Haftgrund); § 100a Abs. 2 Nr. 1 a und d, Nr. 7 StPO (Telekommunikationsüberwachung); § 100c Abs. 2 Nr. 1 a und b, Nr. 4 StPO (Wohnraumüberwachung). 42 Siehe oben bei Fußn. 21. 43 So ausdrücklich aus polizeipraktischer Perspektive Maletz, Kriminalistik 2010, 428 (432).
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Noch einen Schritt weiter geht die strafverfahrensrechtliche Praxis, wenn sie Überwachungsmaßnahmen von vornherein mit dem Ziel anordnet, zukünftige Ereignisse zu beobachten, ohne dass dies unmittelbar dazu dienen würde, ein Geschehen in der Vergangenheit aufzuklären. Eine solche „proaktive“ Nutzung des Strafverfahrensrechts ist in mehreren empirischen Studien insbesondere für Telekommunikationsüberwachungen im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität festgestellt worden.44 So wird ein typischer Ermittlungsablauf wie folgt beschrieben: „Über eine [Telekommunikationsüberwachung] in einem anderen Verfahren wird die Telefonnummer eines [Betäubungsmittel]-Zulieferers bekannt. An diesen wird eine [Verbindungsperson] oder ein [verdeckter Ermittler] herangeführt, man kommt ins Geschäft, der Händler wird in größerem Umfang [Betäubungsmittel] liefern. In der Folgezeit wird dessen Kommunikation überwacht, man wartet auf die große Lieferung und damit die Hintermänner, die unter Überwachung der Telekommunikation und Observation bei der Übergabe auch ankommen. Sodann werden die Beschuldigten festgenommen, die Betäubungsmittel sichergestellt“.45
Eine solche Ermittlungstaktik nutzt eine bestimmte Vorfeldstraftat, die für sich genommen möglicherweise auch ohne eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen aufgeklärt werden könnte, als Sprungbrett, um das weitere Geschehen fortlaufend zu beobachten. Im Extremfall ist Ziel der Überwachung in erster Linie, Strukturen auszuleuchten und letztlich umfassend zu zerschlagen, die der Anlasstat zugrunde liegen, aber zu dem Zeitpunkt, in dem über die Überwachungsmaßnahme entschieden wird, noch weitgehend unbekannt sind. Anlass und Zweck der Überwachung werden damit zumindest teilweise voneinander abgekoppelt. Zwar erscheint zweifelhaft, ob diese Praxis den Befugnisregelungen der Strafprozessordnung entspricht.46 Sie wird jedoch durch das materielle Recht begünstigt, da kriminalpräventive Straftatbestände oftmals einerseits die Tathandlung als Teilakt eines übergreifenden kriminellen Geschehens beschreiben, andererseits aber die zukünftige Entwicklung weitgehend offenlassen. Das kriminalpräventive Strafrecht bildet so ein Einfallstor für strategische Überwachungen auf strafprozessualer Grundlage, die primär nicht der einzelnen Tat oder auch nur dem einzelnen Täter gelten, sondern vielmehr kriminelle Milieus und Organisationen möglichst weitwinklig erfassen sollen.
44 Vgl. Kinzig (Fußn. 24), S. 456 ff., 795 ff.; ders., StV 2004, 560 (563 f.); Albrecht/ Dorsch/Krüpe, Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen, 2003, S. 160 ff.; Krüpe-Gescher, Die Überwachung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO in der Rechtspraxis, 2005, S. 45 ff.; vgl. ferner zur akustischen Wohnraumüberwachung MeyerWieck, Der Große Lauschangriff, 2005, S. 175 f. 45 Krüpe-Gescher (Fußn. 44), S. 46. 46 Kinzig (Fußn. 24), S. 456 f.; vgl. auch BVerfGE 113, 29 (52); 124, 43 (61).
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b) Sicherungs- und Beweiserleichterungsfunktion Das spezifisch präventive Ziel des kriminalpräventiven Strafrechts zeigt sich weiter auch dann, wenn die hier untersuchten Normen zu einer strafgerichtlichen Verurteilung führen:47 Zum einen kommt kriminalpräventiven Vorfeldtatbeständen eine Sicherungsfunktion zu. Wenn sie mit einer hinreichend hohen Strafandrohung bewehrt werden,48 ermöglichen sie es, „Gefährder“49 mit Hilfe des Strafrechts über längere Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Die Strafe wird so zum funktionalen Äquivalent einer langfristigen Präventivhaft,50 die bereits vor Art. 2 Abs. 2 GG kaum bestehen könnte, in jedem Fall aber gegen Art. 5 EMRK verstieße.51 Zum anderen begegnen einige Vorfeldtatbestände Beweisschwierigkeiten. Auf ihrer Grundlage können Personen wegen bestimmter Unterstützungshandlungen oder allgemeiner wegen ihrer Beteiligung an komplexen kriminellen Strukturen selbst dann strafrechtlich belangt werden, wenn nicht nachzuweisen ist, dass sie sich an einzelnen strafbaren Schädigungshandlungen beteiligt haben. Dies dient dazu, solche Strukturen umfassend und nachhaltig zu zerschlagen. So hat der Bundesgerichtshof seine weite Interpretation des Handeltreibens in § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG gerade auch mit Beweisschwierigkeiten gerechtfertigt.52 Auch den Vorfeldtatbeständen des Gesetzes zur Verfolgung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten wird in der Gesetzesbegründung eine Beweiserleichterungsfunktion zugeschrieben.53
47 Es greift daher zu kurz, den Sinn des kriminalpräventiven Strafrechts auf seine Ermittlungsfunktion zu reduzieren, so jedoch tendenziell Backes, StV 2008, 654 (660); Cancio Meli (Fußn. 11), S. 51; Zöller, GA 2010, 607 (620). 48 Vgl. etwa § 89a StGB – Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren; § 129a StGB – Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren; § 29 Abs. 3 BtMG – Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünfzehn Jahren für gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln. 49 Nach einer Arbeitsdefinition der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2004 ist „Gefährder“ eine Person, „bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a [StPO], begehen wird“, vgl. BT-Drucks. 16/3570, S. 6. Der hier untechnisch benutzte Begriff ist weiter zu verstehen und umfasst auch Personen aus dem Milieu der organisierten Kriminalität. 50 Sieber, NStZ 2009, 353 (354 f.); ähnlich Hefendehl (Fußn. 6), S. 96; Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (122). 51 EGMR (Große Kammer), Urteil vom 19. Februar 2009, A. u. a. gegen Vereinigtes Königreich, No. 3455/05, §§ 171 f. 52 BGHSt 50, 252 (261 f.). 53 BT-Drucks. 16/12428, S. 12.
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II. Kriminalpräventives Strafrecht und polizeirechtliche Befugnistatbestände Die Vorfeldtatbestände des kriminalpräventiven Strafrechts wirken auf das Polizeirecht bereits über den Verweisungsbegriff der öffentlichen Sicherheit, zudem auch über polizeirechtliche Straftatenkataloge54 ein. Die öffentliche Sicherheit umfasst neben Rechtsgütern des Einzelnen oder der Allgemeinheit auch die gesamte Rechtsordnung.55 Ein Verstoß gegen eine Verbotsnorm des kriminalpräventiven Strafrechts stört also die öffentliche Sicherheit. Dementsprechend ist eine Situation, in der ein solcher Verstoß mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bevorsteht, polizeirechtlich eine konkrete Gefahr. Die Polizei könnte daher imperativ einschreiten, um zu verhindern, dass eine Vorfeldstraftat begangen wird. In manchen Fällen mag ein solcher Zugriff auch sinnvoll erscheinen, etwa wenn ein einzelner „Gefährder“ an der Abreise zu einem „Terrorcamp“ gehindert werden soll. In der Regel wird jedoch eine Gefahrenabwehr mit Befehl und Zwang polizeitaktisch unklug sein: Sie würde den Betroffenen und sein Umfeld typischerweise warnen, bevor die Polizei dieses Umfeld genauer kennt. Die polizeirechtlichen Zwangsbefugnisse sind zudem überwiegend darauf zugeschnitten, akute Krisensituationen kurzfristig zu beenden, nicht aber komplexere bedrohliche Geschehensabläufe dauerhaft zu beeinflussen – ein Platzverweis wird die Gründung (und spätere Straftaten) einer terroristischen Vereinigung letztlich ebenso wenig verhindern können wie die Sicherstellung eines Rechners, mit dem Bombenbauanleitungen aus dem Internet heruntergeladen werden sollen, ein wirksames Mittel gegen einen terroristischen Anschlag darstellt. Nachhaltige Maßnahmen wie insbesondere eine längerfristige Freiheitsentziehung, mit denen (Bezugs-)Straftaten des Betroffenen dauerhaft verhindert werden könnten, finden hingegen im Polizeirecht keine Stütze. Da das kriminalpräventive Strafrecht gerade den Zweck verfolgt, strafrechtliche Sanktionen greifen zu lassen, bevor es zu einem Schaden oder auch nur einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgut kommt, kann in der Regel vielmehr abgewartet werden, bis die Vorfeldstraftat begangen ist. Anschließend kann auf sie mit den weit schärferen56 Sicherungsmaßnahmen und Sanktionen des Strafrechts reagiert werden. Das kriminalpräventive Strafrecht wirkt sich vielmehr in erster Linie auf Befugnisregelungen aus, die der Polizei heimliche Ermittlungsmaßnahmen ermöglichen. Im Folgenden wird dargelegt, wie die Vorfeldnormen des kriminalpräventiven Strafrechts diese Befugnisregelungen teilweise von innen her umgestalten (unten 1.). Dadurch verlieren die polizeirechtlichen Eingriffstatbestände an Steuerungskraft, was teilweise auch verfassungsrechtliche Bedenken weckt (unten 2.). Ein polizeirechtsimmanenter Ausweg besteht darin, kriminalpräventive Vorfeldtatbestände zumindest
54 55 56
Vgl. etwa Art. 30 Abs. 5 bayPAG. Schenke (Fußn. 2), Rn. 58. Heinrich, ZStW 121 (2009), 94 (127).
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aus Befugnisnormen zu verbannen, die eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen ermöglichen (unten 3.). 1. Auswirkungen kriminalpräventiver Straftatbestände auf polizeiliche Ermittlungsbefugnisse Welche Folgen kriminalpräventive Straftatbestände für den Befugniskreis der Polizei haben, hängt von dem Eingriffstatbestand der jeweils betrachteten Befugnisnorm ab. Insoweit ist zu differenzieren zwischen Normen, die Ermittlungsmaßnahmen zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit ermöglichen, und Vorschriften, die polizeiliche Befugnisse zur Verhütung bestimmter Straftaten eröffnen. a) Befugnisse zur Gefahrenabwehr Wie weit das kriminalpräventive Strafrecht den Anwendungsbereich von Befugnisregelungen erweitert, die der Polizei Ermittlungsmaßnahmen zur Abwehr einer konkreten Gefahr ermöglichen, hängt von den Anforderungen ab, die an den Zusammenhang von Ermittlungsanlass und Ermittlungszweck gestellt werden. Es steht zu befürchten, dass die gesetzlichen Beschränkungen in der Praxis nicht durchweg beachtet werden. Die Normen des kriminalpräventiven Strafrechts verlagern mit der Strafbarkeit auch den polizeirechtlichen Gefahrtatbestand vor: Wenn bereits eine Vorfeldhandlung zu einer strafbaren Rechtsgutsverletzung verboten ist, kann Gegenstand einer polizeilichen Gefahrprognose auch diese Vorfeldhandlung sein. Jedoch trägt die Prognose der Vorfeldhandlung nicht zwingend auch die Prognose der späteren Bezugstat. Wenn der Vorfeldtatbestand einen frühen Schritt eines mehraktigen Geschehens verbietet oder ein äußerlich neutrales Verhalten zum Gegenstand hat, werden sich vielfach die Randbedingungen, unter denen die Vorfeldhandlung in die Bezugstat einzumünden droht, nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostizieren lassen. Stellt der Vorfeldtatbestand zudem nur niedrige Anforderungen an die Konkretisierung der Bezugstat, so wird oftmals eine solche Bezugstat in dem Zeitpunkt, in dem die strafbare Vorfeldhandlung prognostiziert werden kann, noch nicht hinreichend konturiert sein, um ein Gefahrurteil zu erlauben.57 Hat beispielsweise jemand nach Auskunft eines Informanten angekündigt, demnächst ein „Terrorcamp“ zu besuchen, so mag dies die Prognose einer Straftat nach § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB tragen. Ob und welche Gewalttaten diese Person zu begehen droht, lässt sich aufgrund dieser Information jedoch nicht angeben. Die Vorverlagerung des Gefahrtatbestands verändert auch die Tatsachengrundlage, auf welche die Polizei ihre Gefahrprognose stützt. Die Polizei muss nicht alle relevanten Umstände berücksichtigen, die dafür und dagegen sprechen, dass es zu der 57 Zu den Mindestanforderungen an die Konkretisierung des drohenden Schadensereignisses Poscher, Die Verwaltung 41 (2008), 345 (363 ff.).
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Bezugstat kommt.58 Vielmehr muss sie Vorfeldhandlungen prognostizieren, in denen sich in erster Linie die Gefährlichkeit des Handelnden manifestiert. Dementsprechend rücken Persönlichkeit und Vorverhalten des Betroffenen ins Zentrum. Die Gefahrprognose wird von einem umfassenden Wahrscheinlichkeitsurteil tendenziell zu einer dispositionellen Aussage59 umgestaltet, der Störer wird zum „Gefährder“. Der täterbezogene Ansatz des kriminalpräventiven Strafrechts setzt sich so im Polizeirecht fort. Eine polizeiliche Maßnahme der Gefahrenabwehr muss jedoch weiter dazu dienen, gerade die Gefahr abzuwehren, die den Eingriffstatbestand verwirklicht.60 Wegen dieser Koppelung von Anlass und Zweck der Maßnahme bleibt letztlich weitgehend folgenlos, dass das kriminalpräventive Strafrecht den Gefahrtatbestand aufweicht. Die Polizei wird nämlich in aller Regel kein Interesse daran haben, gerade die drohende Vorfeldstraftat zu verhindern, und daher auch nicht mit diesem Ziel ermitteln wollen. Es wird ihr vielmehr darum gehen, entweder die Bezugstat abzuwenden oder strategisch die kriminellen Strukturen auszuleuchten, die der drohenden Vorfeldstraftat zugrunde liegen. Diese Erkenntnisinteressen werden von einer Norm zur Gefahrenabwehr nicht gedeckt: Ermittlungen mit dem Ziel, die Bezugstat des Vorfeldtatbestands zu verhindern, setzen die Gefahr dieser Bezugstat voraus; besteht eine solche Gefahr, so ist die Konstruktion einer Gefahr des Vorfelddelikts entbehrlich. Umfassende strategische Überwachungen lassen sich nicht unter das punktuelle Ziel subsumieren, eine konkrete Gefahr im Einzelfall abzuwehren. Allerdings lässt die strafverfahrensrechtliche Praxis befürchten, dass auch im präventivpolizeilichen Bereich Anlass und Zweck der Ermittlungen in rechtlich zweifelhafter Weise voneinander abgekoppelt werden könnten, um ein übergreifendes strategisches Erkenntnisinteresse zu bedienen. Das kriminalpräventive Strafrecht begründet auch hier das Risiko, dass Befugnisregelungen ausgedehnt werden und hergebrachte Begrenzungsmechanismen verloren gehen. b) Befugnisse zur Verhütung von Straftaten Alle Polizeigesetze enthalten neben Befugnissen zur Gefahrenabwehr Normen, die der Polizei Ermittlungsmaßnahmen zur Verhütung von Straftaten ermöglichen. Wie solche Befugnistatbestände formuliert werden sollten, um einen ermittlungstaktisch sinnvollen und rechtsstaatlich angemessenen Einsatz polizeilicher Ressourcen
58 Zum Erfordernis einer vollständigen Beurteilungsgrundlage Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 43 ff.; Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen, 1983, S. 57 f.; Poscher, Die Verwaltung 41 (2008), S. 345 (363). 59 Zu dieser Unterscheidung Darnstädt (Fußn. 58), S. 62 ff.; ferner Paeffgen, FS Amelung, 2009, 81 (109). 60 Vgl. zu polizeilichen Ermittlungen Poscher, Gefahrenabwehr, 1999, S. 132 ff.
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zu gewährleisten, ist trotz intensiver Diskussion61 immer noch weitgehend ungeklärt.62 In den Polizeigesetzen finden sich dementsprechend zahlreiche unterschiedliche Tatbestandsfassungen solcher Befugnisnormen, deren Verhältnis zueinander wie zum Gefahrbegriff nicht immer klar ist.63 Wie sich eine Vorfeldnorm des kriminalpräventiven Strafrechts auf eine Befugnisregelung zur Straftatenverhütung auswirkt, hängt von der Tatbestandsstruktur der jeweiligen Befugnisnorm ab. Eine umfassende Analyse für alle möglichen Formulierungen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es lassen sich aber Typen von Befugnistatbeständen angeben, für die im Folgenden die Auswirkungen kriminalpräventiver Vorfeldstraftatbestände verdeutlicht werden sollen. Die engsten Befugnisnormen zur Verhütung von Straftaten reformulieren den Gefahrbegriff: Sie verlangen die Prognose einer nach Art, Ort, Zeit und Beteiligten zumindest in den Grundzügen konturierten Straftat auf der Grundlage aller relevanten Umstände, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erkennbar sind. Zudem ermöglichen sie die geregelte Ermittlungsmaßnahme ausschließlich zu dem Zweck, diese Straftat zu verhindern. Eingriffsermächtigungen dieses Typs dienen nicht dazu, den Befugniskreis der Polizei gegenüber der Gefahrenabwehr zu erweitern, sondern schneiden bestimmte Befugnisse gezielt auf einen Teilbereich der Gefahrenabwehr zu.64 Häufig enthalten solche Befugnisnormen einen Katalog von Straftaten, die verhütet werden sollen. Enthält dieser Katalog auch kriminalpräventive Vorfeldtatbestände,65 so müsste die Befugnisnorm insoweit faktisch weitgehend leerlaufen, da die Polizei in der Regel nicht ermitteln wird, um eine Vorfeldstraftat zu verhindern. Allerdings steigt das schon oben angesprochene Risiko extensiver Normanwendung: Wenn die gesetzliche Regelung ausdrücklich auf eine strafrechtliche Vorfeldnorm verweist, liegt es besonders nahe, Anlass und Zweck der Ermittlungen zu entkoppeln. Andere Befugnisnormen zur Verhütung von Straftaten ermöglichen der Polizei hingegen Ermittlungen im Vorfeld konkreter Gefahren. Die Auswirkungen des kriminalpräventiven Strafrechts auf solche Eingriffstatbestände hängen davon ab, wie weitgehend die polizeirechtliche Regelung das Gefahrvorfeld für polizeiliche Ermitt61 Vgl. aus jüngerer Zeit etwa Möstl, DVBl 2007, 581; ders., DVBl 2010, 808; Poscher, Die Verwaltung 41 (2008), S. 345; Trute, Die Verwaltung 42 (2009), 85; Volkmann, NVwZ 2009, 216. 62 Dies zeigt sich auch daran, dass das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren wiederholt Befugnisnormen zur Verhütung von Straftaten als verfassungswidrig verworfen hat, vgl. BVerfGE 110, 33; 113, 348; 120, 274; 120, 378; BVerfG, NJW 2010, 833. 63 Vgl. beispielhaft zu verschiedenen Tatbestandsfassungen im BKA-Gesetz Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt, 2009, S. 66 ff. 64 Käß, BayVBl 2010, 1 (8); Möstl, DVBl 2010, 808 (811). Daher können Befugnisnormen der Straftatenverhütung nicht undifferenziert dem Gefahrvorfeld zugeschlagen werden, so aber tendenziell Albers (Fußn. 4), S. 252 ff.; Appel, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, 1165 (1184). 65 So etwa § 33a Abs. 1 Nr. 2 c bbgPolG, der auf § 100a Abs. 2 Nr. 1 a StPO und damit auch auf § 89a StGB verweist.
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lungen freigibt und welche Grenzen sie der Polizei setzt. Dabei sind zwei Typen von Vorfeldregelungen zu unterscheiden, die hier als Verdachtsgewinnungsbefugnisse und als Dispositionsnormen bezeichnet werden: Eine Norm, die der Polizei eine Verdachtsgewinnungsbefugnis einräumt, stellt im Vergleich zu einer Regelung der Gefahrenabwehr niedrigere Anforderungen an die Konkretisierung des drohenden Schadensereignisses. Sie lässt polizeiliche Maßnahmen in einer allgemeinen Bedrohungslage66 zu, in der sich dieses Schadensereignis lediglich unspezifisch beschreiben lässt, aber noch keine hinreichenden Konturen aufweist, um Gegenstand einer polizeilichen Gefahrprognose zu werden. Die Ermittlungen sollen dann den Sachverhalt klären, um überhaupt beurteilen zu können, ob eine Gefahrlage besteht, in der die Polizei einschreiten kann.67 Die Vorfeldtatbestände des kriminalpräventiven Strafrechts fügen solchen Befugnisnormen nichts hinzu. Bestehen – auch nur vage – Anhaltspunkte dafür, dass jemand eine strafbare Handlung vorbereitet, durch die Rechtsgüter verletzt würden, so begründet dies eine allgemeine Bedrohungslage, einerlei ob auch die Vorbereitung als solche verboten ist oder nicht. Gewichtige Auswirkungen können die strafrechtlichen Vorfeldtatbestände hingegen auf eine andere Gruppe von polizeirechtlichen Vorfeldnormen haben, die hier als Dispositionsnormen bezeichnet werden. Dispositionsnormen zur Straftatenverhütung ermöglichen polizeiliche Ermittlungen, wenn von dem Betroffenen Straftaten erwartet werden. Die Polizei muss damit nicht ein Schadensereignis im Einzelfall aufgrund aller relevanten Umstände prognostizieren, sondern ein (Wahrscheinlichkeits-)Urteil über die gefährliche Disposition desjenigen treffen, gegen den ermittelt werden soll.68 Wie weit Dispositionsnormen den Ermittlungsanlass ins Gefahrvorfeld verlegen, hängt davon ab, welche Anforderungen sie an die Beurteilungsgrundlage stellen, von der auf eine gefährliche Disposition des Betroffenen geschlossen werden kann. Knüpft eine Dispositionsnorm etwa lediglich allgemein an Persönlichkeit und Vorverhalten an, so kann die Polizei die Maßstäbe der Dispositionsprüfung weitgehend selbst bestimmen. Ein solcher Eingriffstatbestand begründet das Risiko, dass knappe Ermittlungsressourcen vergeudet und Personen überwacht werden, die dafür keinen hinreichenden Anlass gegeben haben. Derartig weit gefasste Dispositionsnormen können daher zumindest eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen wie Telekommunikationsüberwachungen69 oder den heimlichen Einsatz von Überwachungstechnik70 nicht rechtfertigen. Soweit die Polizeigesetze solche Maßnahmen 66
Zum Teil auch als „allgemeine Gefahrenlage“ bezeichnet, so etwa Poscher, Die Verwaltung 41 (2008), S. 345 (356 ff.); kritisch Albers (Fußn. 4), 2001, S. 41 ff. 67 Vgl. etwa Art. 33 Abs. 2 Satz 1 bayPAG, der längerfristige Observationen oder Bildaufzeichnungen außerhalb von Wohnungen „zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe“ zulässt, ohne den Ermittlungsanlass näher zu beschreiben. 68 Grundlegend zu dieser Kategorie von behördlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen Darnstädt (Fußn. 58), S. 70 ff., 133 ff. 69 Vgl. BVerfGE 113, 348 (378 f., 388 f.). 70 Vgl. beispielhaft zu den Befugnisregelungen des BKA-Gesetzes Bäcker (Fußn. 63), S. 70 ff.
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auf der Grundlage von Dispositionsnormen erlauben, errichten sie daher zumeist qualifizierte Anforderungen sowohl an die Tatsachen, auf denen die Einschätzung des Betroffenen als gefährlich beruht, als auch an die Randbedingungen, unter denen es zu Straftaten zu kommen droht. Wenn allerdings derartige qualifizierte Dispositionsnormen auf strafrechtliche Vorfeldtatbestände verweisen, werden die Qualifikationen teilweise wieder zunichte gemacht. Beispielhaft lassen sich die Auswirkungen kriminalpräventiver Vorfeldtatbestände auf qualifizierte Dispositionsnormen an § 34a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 thürPAG zeigen. Diese Norm erlaubt der Polizei eine Telekommunikationsüberwachung „bei einer Person zur Verhütung einer Straftat, wenn konkrete Planungs- und Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen die begründete Annahme rechtfertigen, dass eine [Katalog-]Straftat … begangen werden soll“.
Die Vorschrift enthält weiter eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für die maßgeblichen Anknüpfungstatsachen. § 34a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 thürPAG ist als Dispositionsnorm anzusehen. Gegenstand des Wahrscheinlichkeitsurteils, das der Tatbestand der Norm fordert, ist lediglich die Absicht des Betroffenen, eine Straftat zu begehen; es wird gerade nicht gefordert, dass der Betroffene eine Straftat begehen „wird“. Auf diese Absicht wird aus bestimmten Handlungen des Betroffenen geschlossen. Der Beispielskatalog bestätigt diese Interpretation der Vorschrift. Danach kann Grundlage der Ermittlungen etwa sein, dass der Betroffene „sich zur Begehung einer solchen Straftat ernstlich bereit erklärt“, „ein mögliches Tatobjekt einer solchen Straftat auskundschaftet“ oder „sich zur Begehung einer solchen Straftat schulen ließ oder lässt“. Solche Handlungen deuten auf den Willen hin, eine Straftat zu begehen, nicht aber ohne weiteres auf die Fähigkeit, diesen Willen auch umzusetzen. Weiter geht die Vorschrift über eine Befugnis zur Gefahrenabwehr auch insoweit hinaus, als sie es ermöglicht, Anlass und Zweck der Überwachung voneinander abzukoppeln. Die Überwachung muss lediglich der Verhütung „einer“ Straftat dienen, also nicht notwendigerweise gerade der Straftat, die begangen werden soll. Allerdings erweitert § 34a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 thürPAG den polizeilichen Befugniskreis dann nur in geringem Ausmaß, wenn die geplante Straftat eine unmittelbar schädigende Handlung zum Gegenstand hat. Die Norm verlagert zwar den Fokus des polizeilichen Wahrscheinlichkeitsurteils von der drohenden Straftat zu dem potenziellen Straftäter. Gleichwohl muss die geplante Straftat auch aus der Sicht Dritter bereits zumindest ansatzweise konturiert sein. Anderenfalls könnte das Verhalten des Betroffenen nicht als „konkrete Planungs- oder Vorbereitungshandlung“ eingestuft werden. Die Telekommunikationsüberwachung knüpft damit an einen bereits in Gang gesetzten konkreten Geschehensablauf an, nicht lediglich allgemein an die Gefährlichkeit des Betroffenen. In einem solchen Fall wird sich im Übrigen die Entkoppelung von Eingriffsanlass und Eingriffszweck kaum auswirken, da es der Polizei in aller Regel darum gehen wird, gerade die geplante Straftat zu verhindern.
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Jedoch verweist der von § 34a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 thürPAG in Bezug genommene Straftatenkatalog in § 31 Abs. 5 thürPAG auch auf die Organisationsdelikte in § 129 und § 129a StGB sowie auf das Verbot des (gewerbsmäßigen) Handeltreibens mit Betäubungsmitteln. Wird das polizeiliche Dispositionsurteil auf den Plan bezogen, solche Straftaten zu begehen, so werden die tatbestandlichen Qualifikationen konterkariert: Zum einen wird die Tatsachengrundlage des Dispositionsurteils vage. Da bereits die strafrechtlichen Vorfeldtatbestände ein Verhalten zum Gegenstand haben, in dem sich in erster Linie der Wille manifestiert, eine Bezugstat zu begehen, liegt es nahe, annähernd jede andere Manifestation eines solchen Willens als „Planungs- oder Vorbereitungshandlung“ der Vorfeldstraftat zu begreifen. Als Grundlage der Telekommunikationsüberwachung reicht dann weitgehend bereits die Erkenntnis, dass sich der Betroffene in einschlägigen Kreisen bewegt und verdächtig verhält. Zum anderen wirkt sich die Entkoppelung von Anlass und Zweck der Überwachung aus, wenn die Vorbereitung einer Vorfeldstraftat den Anlass bildet. Die Telekommunikationsüberwachung kann dann damit begründet werden, dass spätere Bezugstaten verhütet werden sollen, selbst wenn diese Taten noch nicht ansatzweise absehbar sind. Im Zusammenwirken mit den Vorfeldtatbeständen des kriminalpräventiven Strafrechts ermöglicht § 34a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 thürPAG daher strategische Überwachungen, die nicht einen bestimmten, ansatzweise bereits absehbaren Geschehensablauf beobachten und letztlich unterbrechen, sondern eine verdächtige Gruppe oder Szene ausleuchten sollen, um irgendwann einmal einzuschreiten, wenn dies opportun erscheint. 2. Steuerungsverluste im Polizeirecht durch kriminalpräventives Strafrecht Das kriminalpräventive Strafrecht ist für das Polizeirecht ein Problem, weil es die Steuerungskraft der gesetzlichen Eingriffstatbestände vermindert. Dies begründet teilweise auch verfassungsrechtliche Bedenken. Im Bereich der Gefahrenabwehr ermöglichen die strafrechtlichen Vorfeldnormen bei strikter Interpretation überwiegend Maßnahmen, an denen polizeitaktisch kein Interesse besteht. Es bleibt der polizeilichen Opportunität überlassen zu vermeiden, dass knappe Ermittlungsressourcen vergeudet werden. Zugleich werden Anreize gesetzt, die Grenzen der gesetzlichen Befugnisregelungen zu überdehnen. Dies gilt insbesondere für Befugnisnormen zur Verhütung von Straftaten, die tatbestandlich den Gefahrbegriff reformulieren, zugleich aber auf strafrechtliche Vorfeldtatbestände verweisen. Wo bereits das Polizeirecht einen Eingriffsanlass im Vorfeld der konkreten Gefahr beschreibt, verdoppeln die strafrechtlichen Vorfeldnormen die Vorverlagerung. Dadurch laufen qualifizierende Anforderungen des Polizeirechts teilweise leer, die eingriffsintensiven Ermittlungsmaßnahmen Grenzen setzen sollen. Die Erosion des Eingriffstatbestands schafft weiten Spielraum für eine Selbststeuerung der Polizei, die gesetzlich kaum noch angeleitet wird. Dies ist verfassungsrechtlich unter rechtsstaatlichen wie demokratischen Gesichtspunkten problematisch.
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Rechtsstaatlich ist zu beanstanden, dass das Gesetz das insbesondere im Gefahrvorfeld erhebliche Risiko kaum noch abschirmt, Ermittlungen gegen Personen zu richten, die dafür keinen hinreichenden Anlass gegeben haben. Hingegen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung den Geboten der Normenbestimmtheit71 und Verhältnismäßigkeit72 entnommen, dass präventivpolizeiliche Ermittlungsermächtigungen gerade auch diesem Risiko durch begrenzende Tatbestandsmerkmale und qualifizierte Eingriffsschwellen begegnen müssen. Ein Verweis auf Normen des kriminalpräventiven Strafrechts kann dazu führen, dass eine polizeirechtliche Befugnisregelung diese Anforderungen verfehlt, obwohl ihr Tatbestand für sich genommen nicht zu beanstanden ist. Zudem steht eine Regelungstechnik, die weitreichende polizeiliche Überwachungsbefugnisse in dem Verweis auf strafrechtliche Vorfeldtatbestände gewissermaßen versteckt, einer offenen Diskussion darüber entgegen, welche Ermittlungsmaßnahmen der Polizei unter welchen Voraussetzungen eingeräumt werden sollen. Die Debatte über polizeiliche Maßnahmen im Gefahrvorfeld muss zwangsläufig vor allem auf der abstrakt-generellen Ebene der gesetzlichen Eingriffsermächtigungen ansetzen: Im konkreten Einzelfall ermittelt die Polizei in aller Regel heimlich. Auch im Nachhinein werden Zahl, Anlass, Ablauf und Ergebnisse solcher Ermittlungen zumeist73 nicht so umfassend und detailliert bekannt, dass sie herangezogen werden könnten, um der Auseinandersetzung wesentliche Impulse zu geben. Vielmehr geht aus amtlichen Stellungnahmen von Polizeibehörden oftmals hervor, dass die Polizei sogar gegenüber anderen staatlichen Stellen74 die Deutungshoheit über Erfolge und Misserfolge im Einzelfall wegen ihres überlegenen Wissens weitgehend für sich beansprucht. Angesichts dessen ist ein hoher Bestimmtheitsgrad polizeirechtlicher Vorfeldermächtigungen nicht nur eine rechtsstaatliche, sondern auch eine grundlegende demokratische Forderung. Anders als möglicherweise in anderen Rechtsbereichen75 ist hier kein Raum dafür, diese Forderung abzuschwächen, um politische Kompromisse und eine effektive exekutive Problemlösung zu ermöglichen.76 71
BVerfGE 100, 313 (359 f., 372); 110, 33 (52 ff.); 113, 348 (375 ff.); 120, 274 (315 ff.); 120, 378 (407 ff.). 72 BVerfGE 100, 313 (375 f.); 113, 348 (382 ff.); 115, 320 (345 ff.); 120, 274 (318 ff.); 120, 378 (427 ff.); BVerfG, NJW 2010, 833 (837 ff.). 73 Zumindest beim derzeitigen Stand allenfalls begrenzte Abhilfe versprechen die Berichtsund Evaluationsregeln, die in jüngerer Zeit in einige Sicherheitsgesetze für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen eingefügt wurden, vgl. Albers, in: dies./Weinzierl, Menschenrechtliche Standards in der Sicherheitspolitik, 2010, 25 (33 ff.). 74 Beispielhaft sei auf die kaum überprüfbaren Ausführungen des Bundeskriminalamts gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zu den Ergebnissen der Rasterfahndung nach terroristischen „Schläfern“ nach dem 11. September 2001 verwiesen, zusammengefasst in BVerfGE 115, 320 (339 f.); vgl. daneben die erkennbare Verärgerung des Gerichts darüber, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten wurden, in BVerfGE 120, 274 (277). 75 Vgl. Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 (38 ff.). 76 Im Ergebnis wie hier Masing, in: Hoffmann-Riem (Fußn. 64), 467 (487 ff.), der allerdings allein auf rechtsstaatliche Gesichtspunkte abstellt und zudem nicht hinreichend zwischen
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3. Möglichkeiten einer polizeirechtsimmanenten Lösung Das Problem, dass strafrechtliche Vorfeldtatbestände die Steuerungskraft der polizeirechtlichen Befugnisregelungen vermindern, lässt sich polizeirechtsimmanent bewältigen. Hierzu sind zwei Wege denkbar: Präventivpolizeiliche Ermittlungsmaßnahmen könnten zunächst nur mit dem Ziel zugelassen werden, eine konkrete Gefahr für bestimmte Rechtsgüter abzuwehren. Auf diese Weise würde der polizeirechtliche Befugnistatbestand vollständig vom Einfluss des materiellen Strafrechts freigehalten.77 Eine solche Befugnisnorm wäre durchaus praxistauglich, da der Gefahrbegriff flexibel genug ist, um in Verdachtslagen heimliche Ermittlungsmaßnahmen bereits dann zu ermöglichen, wenn ein konkretes Schadensereignis noch nicht in allen Konturen abzusehen ist.78 Unschärfen weist dieser Ansatz allerdings auf, soweit Ermittlungen auch ermöglicht werden sollen, um Kollektivgüter zu schützen, die durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „Bestand oder Sicherheit des Bundes oder eines Landes“79 bezeichnet werden. Derartige allgemeine Formeln mögen sich anbieten, um äußerste verfassungsrechtliche Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums abzustecken. Sie eignen sich jedoch kaum dazu, in einer polizeirechtlichen Norm das polizeiliche Handeln im Einzelfall zuverlässig anzuleiten. Dies gilt umso mehr, als angesichts der Heimlichkeit der geregelten Maßnahmen und der geringen Fallzahlen80 nicht damit zu rechnen ist, dass der genaue Gehalt dieser Formeln in absehbarer Zeit gerichtlich geklärt wird. Auch die rechtspolitische Diskussion über das wünschenswerte Maß polizeilicher Überwachungsbefugnisse wird in eine wenig zielführende Richtung gelenkt, wenn zunächst langwierig über die richtige Bezeichnung der schutzbedürftigen Kollektivgüter gestritten werden muss. Daher erscheint der zweite Weg vorzugswürdig, die polizeirechtlichen Eingriffstatbestände auf die Kriminalprävention zuzuschneiden, indem die jeweilige Befugnisnorm auf ausgewählte Straftatbestände verweist und die zulässigen und erforderlichen Anknüpfungstatsachen der polizeilichen Prognose hinreichend eng fasst.81 Die polizeirechtlichen Straftatenkataloge müssen allerdings nach spezifisch polizeirechtlichen Kriterien zusammengestellt werden. Sie können nicht unreflektiert an strafallgemeinen datenschutzrechtlichen Fragen und den spezifischen Problemen heimlicher Ermittlungsmaßnahmen differenziert, weshalb er zu überschießenden Schlussfolgerungen gelangt. 77 Hierfür hat sich insbesondere das Bundesverfassungsgericht in seinem VorratsdatenUrteil ausgesprochen, vgl. BVerfG, NJW 2010, 833 (841). 78 Näher Bäcker (Fußn. 63), S. 67 f.; vgl. als Fallbeispiel für die Flexibilität des Gefahrbegriffs BGH, NJW 2009, 3448 (3455). 79 BVerfG, NJW 2010, 833 (841); ähnlich BVerfGE 120, 274 (328). 80 Beispielsweise hat die rheinland-pfälzische Polizei zwischen 2004 und 2009 auf der Grundlage des Polizeigesetzes lediglich eine Wohnraumüberwachung durchgeführt und 28 Telefonabschlüsse abgehört, näher rpLT-Drucks. 15/4615, S. 4 f., 5 ff. 81 Insoweit wie hier Möstl, DVBl 2010, 808 (812).
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rechtliche Kategorien wie den gesetzlichen Strafrahmen82 oder an die Straftatenkataloge des Strafprozessrechts anknüpfen. Vielmehr sind Vorfeldtatbestände des kriminalpräventiven Strafrechts unabhängig davon, inwieweit sie für sich genommen kriminalpolitisch sinnvoll oder gar erforderlich sind, in präventivpolizeilichen Ermittlungsermächtigungen als Fremdkörper anzusehen. III. Das kriminalpräventive Strafrecht als Herausforderung für Straf- und Staatsrechtswissenschaft Selbst wenn die Vorfeldnormen des kriminalpräventiven Strafrechts aus polizeirechtlichen Ermittlungsermächtigungen verbannt werden, erweitern sie allerdings staatliche Überwachungsbefugnisse erheblich. In jedem Fall bleiben Maßnahmen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren möglich, das durch kriminalpräventive Vorfeldtatbestände ein prospektives und präventives Element erhält. Dabei dehnt die Praxis die strafprozessualen Befugnisnormen zusätzlich aus und lässt auf ihrer Grundlage einzelfallübergreifende strategische Überwachungen zu. Sind die begehrten Erkenntnisse auf diesem Weg einmal erlangt, bestehen keine hohen Hürden dafür, sie zu präventiven Zwecken zu nutzen.83 Schließlich werden Zwangsmaßnahmen ohnehin eher auf der Grundlage des schärferen und nachhaltigeren Strafrechts getroffen werden. Das Strafverfahrensrecht steht so als funktionales Äquivalent des Polizeirechts bereit, um Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen zu ermöglichen, die das Polizeirecht nicht deckt. Die rechtsstaatlichen und demokratischen Probleme solcher Vorfeldmaßnahmen bleiben indes bestehen, zumal die strafrechtlichen Vorfeldtatbestände auch die Befugnisnormen des Strafprozessrechts von innen her umgestalten. Die oben vorgeschlagene polizeirechtliche Antwort auf die spezifisch polizeirechtlichen Probleme des kriminalpräventiven Strafrechts kann daher lediglich ein Baustein eines umfassenderen Lösungskonzepts sein. Da die Veränderungen im materiellen Strafrecht, im Strafprozessrecht und im Polizeirecht miteinander verzahnt sind, müssen diese Gebiete in einer übergreifenden Perspektive betrachtet werden, um diese Veränderungen zur Gänze zu erfassen. Auch auf der verfassungsrechtlichen Ebene müssen Maßstäbe entwickelt werden, die dieser Verzahnung Rechnung tragen. Mit Blick auf die hier erörterten Auswirkungen des kriminalpräventiven Strafrechts stellen sich neben den polizeirechtlichen Problemen vor allem zwei Fragen, die jeweils nur in einer gebietsübergreifenden Perspektive bewältigt werden können: Zunächst muss auf der Ebene des materiellen Rechts angesetzt werden. Kriminalpräventives Strafrecht kann nur insoweit zu verfahrensrechtlichen Problemen führen, als es solches Strafrecht überhaupt geben darf. Zu fragen ist daher, welche Grenzen 82
Dafür aber Möstl, DVBl 2010, 808 (813). Vgl. dazu die Beiträge von Hilger, Weßlau, Paeffgen, R. P. Schenke, W.-R. Schenke und Würtenberger, in: Wolter/Schenke/Rieß/Zöller (Fußn. 3). 83
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das Grundgesetz84 kriminalpräventiven Vorfeldtatbeständen setzt. Neben der Bestimmtheit wirft insbesondere die Verhältnismäßigkeit einiger dieser Normen Fragen auf, die noch weitgehend ungeklärt sind. Zwar sieht die Strafrechtswissenschaft es gemeinhin als eine ihrer Hauptaufgaben an, Kriterien für die Legitimität von Straftatbeständen zu entwickeln.85 Bereits der Begriff der Legitimität bleibt jedoch vielfach in der Schwebe; insbesondere wird oft nicht klar, ob er allein als rechtspolitische Forderung oder auch als (verfassungs-)rechtliche Kategorie zu verstehen sein soll.86 Wo ausdrücklich auf das Grundgesetz verwiesen wird, befremden die Lösungsansätze der Strafrechtswissenschaft aus Sicht des Staatsrechtlers oftmals. Dies gilt insbesondere für die wohl noch vorherrschende sogenannte Rechtsgutslehre,87 die grundrechtsdogmatisch kaum anschlussfähig ist88 und materiell strafrechtsphilosophische Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts fortschreibt,89 die an einen demokratisch legitimierten Gesetzgeber schwerlich herangetragen werden können.90 Andererseits unterscheiden sich einige Verbotsnormen91 des kriminalpräventiven Strafrechts möglicherweise so erheblich von den geläufigen präventiven oder repressiven Verboten des Verwaltungsrechts, dass sie nicht in schon vorhandene Rechtfertigungsmuster eingepasst werden können. Insoweit stellen die strafrechtlichen Vorfeldtatbestände eine Herausforderung für das Verfassungsrecht dar, die bisher nicht hinreichend angenommen wurde.92 Dabei könnte der jüngere Ansatz in der Strafrechtswissenschaft auch für die Grundrechtsdogmatik fruchtbar sein, für die Legitimation von Straftatbeständen vor allem auf die Deliktsstruktur und damit auf die Zurechnungskriterien 84 Die gleichfalls zu stellenden Fragen, welche Grenzen sich aus der EMRK sowie – soweit kriminalpräventives Strafrecht auf EU-rechtlichen Vorgaben beruht – aus der EU-Grundrechtscharta ergeben, können an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise erörtert werden. 85 Überblick über die angebotenen Ansätze bei Wrage, Grenzen der staatlichen Strafgewalt, 2009, S. 9 ff. 86 Kritisch bereits Appel, Verfassung und Strafe, 1998, S. 310 f. Vgl. als Beispiel aus jüngerer Zeit die unscharfe Grenzziehung bei Roxin, FS Hassemer, 2009, 573 (584 ff.). Auf nochmals anderer Ebene verortet das Problem Schulz, in: Engel/Schön, Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 136 (137): Bei der Legitimität gehe es um eine „außerjuristisch fundierte“ „(individual)ethische oder moralische Erfüllungspflicht“ gegenüber der Norm. 87 Dazu die Beiträge in Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.) (Fußn. 13), sowie Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 11 ff.; Hefendehl, GA 2007, 1; Roxin, FS Hassemer, 2009, 573. 88 Appel (Fußn. 86), S. 372 ff.; Lagodny (Fußn. 9), S. 146 f., 424 ff.; kritisch auch Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331 (362). 89 Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln der Rechtsgutslehre Swoboda, ZStW 122 (2010), 24 (25 ff.). 90 Appel (Fußn. 86), S. 387 ff.; Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331 (346 ff., 351 ff.); (nur) insoweit zutreffend auch BVerfGE 124, 224 (241 f.). 91 Zu der Differenzierung von Verbots- und Sanktionsnorm Lagodny (Fußn. 9), S. 77 ff.; Appel (Fußn. 86), S. 431 ff.; kritisch Hörnle (Fußn. 87), S. 27 ff. 92 Ähnlich Gärditz, Der Staat 49 (2010), 331 (359). In diesem Punkt greift insbesondere die als Kritik der Begrenzungskonzepte, die in der Strafrechtswissenschaft entwickelt wurden, schlagende Studie von Appel zu kurz, vgl. Appel (Fußn. 86), S. 571 ff.
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abzustellen, aufgrund derer eine bestimmte Vorfeldhandlung auf ein drohendes unerwünschtes Ereignis bezogen wird.93 Vor allem zwei Normtypen des kriminalpräventiven Strafrechts sind grundrechtlich zumindest erörterungsbedürftig: zum einen Vorbereitungstatbestände, die einen Teilakt eines Geschehens verbieten, dessen Fortgang weiterhin ausschließlich in der Hand des Täters liegt; zum anderen solche Anschließungsdelikte, die ein äußerlich neutrales und teilweise nicht einmal besonders schadensträchtiges Verhalten allein deshalb untersagen, weil es nach der Vorstellung des Täters in die Straftat eines anderen einmünden soll oder kann. Da es weder verfassungsrechtlich geboten noch kriminalpolitisch sinnvoll ist, kriminalpräventive Vorfeldtatbestände vollständig aus dem Strafrecht zu verbannen, müssen weiter die verfahrensrechtlichen Folgen des (verbleibenden) kriminalpräventiven Strafrechts bearbeitet werden. Dazu müssen Polizeirecht und Strafverfahrensrecht aufeinander abgestimmt werden. Wesentlich ist dabei zunächst, die rechtsstaatlichen und demokratischen Grenzen der Ermittlungsfunktion kriminalpräventiver Straftatbestände auch für das Strafverfahrensrecht auszuloten. Es ist hier ebenso wenig wie im Polizeirecht hinnehmbar, wenn weitreichende strategische Überwachungen auf Befugnisregelungen gestützt werden, die in erster Linie enger zugeschnittenen Maßnahmen dienen, aber mit dem Wandel des materiellen Rechts an Kontur verlieren. Stattdessen muss über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit und kriminalistische Erforderlichkeit solcher Überwachungen offen verhandelt werden. Dann erst können Regelungsansätze entwickelt werden, um die verfahrensrechtlichen Probleme zu bewältigen, die mit ihnen verbunden sind, von der Frage der Verortung im Polizei- oder Strafverfahrensrecht über die Formulierung des Eingriffstatbestands bis zu prozeduralen Sicherungen. Es ist eine Aufgabe der Rechtswissenschaft, den Wandel des Sicherheitsrechts zu beschreiben, zu bewerten und kritisch zu begleiten. Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn Straf- und Staatsrechtswissenschaft sich auf eine Zusammenarbeit einlassen, die es erfordern wird, auch liebgewonnene Fachtraditionen auf den Prüfstand zu stellen.
93 Vgl. etwa die – durchaus unterschiedlichen – Ansätze bei Wohlers (Fußn. 9), S. 305 ff.; Hefendehl (Fußn. 9), S. 147 ff.; Frisch, in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Fußn. 13), 215 (227 ff.); v. Hirsch/Wohlers, in: Hefendehl/dies. (Fußn. 13), 196 (200 ff.); Hörnle (Fußn. 87), S. 176 ff.; Sieber, NStZ 2009, 353 (357 ff.).
Bekämpfung der Piraterie als Polizeiaufgabe Von Kurt Graulich I. Piraterie als Problem des Rechts Piraterie ist seit der Antike immer wiederkehrend vor allem in Europa, Afrika und Asien aufgetreten. Regelmäßig ist sie mit Entführungen von Menschen, Erpressung und dem Raub sowie der Zerstörung von Sachen verbunden. Thukydides berichtet, dass schon König Minos sich mit Seeräubern auseinander gesetzt habe1. In jüngeren Lebensjahren wurde Cäsar ihr Opfer2, während sein späterer Partner und Gegner Pompeius sie im Mittelmeer bekämpfte und besiegte3. China kam mit Ausweitung seiner Schifffahrt im 11. Jahrhundert auch mit der Seeräuberei in Südostasien in Kontakt, und vom 14. bis 17. Jahrhundert stellten Japaner den Hauptteil der gegen China aktiven Piraten4. Seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts müssen Regierungen, Reedereien und auch Schifffahrtsgesellschaften feststellen, dass die Zahl der Piratenüberfälle auf Handelsschiffe steil nach oben geht und in einigen Regionen der Welt die Gefahr eines Angriffs durch Piraten aktuell wie nie zuvor ist5. Denn Brennpunkte sind heute vor allem die Küstengewässer Somalias und der Golf von Aden. Aber auch in den Gebieten Südostasiens, Westafrikas, der Karibik und Südamerikas ist Piraterie weiter ein akutes Thema6. Seit 1984 wurden weltweit über 5.000 Überfälle von Piraten, Seeräubern und Terroristen auf Handelsschiffe gezählt. Im Jahresbericht 2009 des IMB (International Maritime Bureau) stehen insgesamt über 406 gemeldete Zwischenfälle von Piraterie oder bewaffnetem Raub. Mehr als 400 Zwischenfälle wurden letztmalig im Jahr 2003 registriert, damit stieg die Zahl der Übergriffe 2009 zugleich das dritte Jahr in Folge. Im Jahr 2009 wurden weltweit 153 Schiffe geboardet, 49 entführt, auf 84 Schiffe fand ein Angriff statt, der vereitelt werden konnte und auf weitere 120 Fahrzeuge wurde das Feuer eröffnet. Insgesamt wurden 1052 Besatzungsmitglieder gefangen genommen. 68 Crewmitglieder wurden verletzt und 8 getötet, dabei ist eine deutliche Zunahme der Gewalt gegen die Crews während eines Überfalls zu verzeichnen, was auch an Hand der Zahl der Verletzten deutlich wird. In 240 Fällen im Jahr 2009 wurden Feuerwaffen benutzt, die Art 1
Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, Buch 1 [4]. Meier, Caesar, 2. Aufl. 1982, S. 141. 3 Christ, Pompeius, 2004, S. 56 ff. 4 Gernet, Die chinesische Welt, 1997, S. 354 ff., S. 397 ff. 5 Zur Entwicklung von Piraterie und Terror auf See seit 1970 vgl. Stehr, JBÖS 2006/2007, 569 ff. 6 Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 241. 2
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der Waffen reichte dabei von Pistolen über automatische Waffen bis hin zu Rocket Propelled Grenades (RPG)7. Wie jede Form von Delinquenz gegen das Vermögen hängen die Ursachen der Seeräuberei mit ungleichen sozialen und ökonomischen Verhältnissen zwischen Tätern und Opfern zusammen. Ohne Auflösung dieses Zusammenhangs ist ein dauerhafter Erfolg gegen Piraterie deshalb nicht zu erzielen. Rein sicherheitstechnische Lösungen werden die Situation auf den Weltmeeren nicht nachhaltig verbessern. Denn Einsätze von Marineeinheiten oder Polizeien bringen vorübergehend zwar mehr Sicherheit für den Schiffsverkehr in bestimmten Gegenden, andererseits aber veranlassen sie die Piraten, neue Angriffsstrategien zu entwickeln und sich neue Beuteregionen zu suchen. Langfristig werden nur eine funktionierende Staats- und Rechtsform sowie wirtschaftliche Stabilität an Land die grundsätzlichen Rahmenbedingungen schaffen, um Menschen von kriminellen Handlungen abzuhalten8. Humanitäre Hilfe, einheitliche Rechtsprechung, stabile politische Verhältnisse sowie eine Verbesserung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen in den betroffenen Gebieten sind nötig, um die Seefahrt wieder friedlich und sicher zu machen9. Aufgabe des Rechts in diesem Zusammenhang ist es, einen Rahmen für internationale und nationale Vorgehensweisen gegen Piraterie zu definieren. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich, dass die Bedingungen des nationalen Rechts komplizierter beschaffen sind als diejenigen des Völker- und Europarechts10 ; die Schwierigkeiten spitzen sich insbesondere bei der Frage zu, ob nicht besser die Bundespolizei als die Bundesmarine Vollzugsorgan staatlichen Handelns gegen Seeräuber sein müsste. Zur Erörterung der einschlägigen Rechtsfragen wird als Anwendungsfall überwiegend auf die Operation „Atalanta“ der Europäischen Union vor Somalia zurückgegriffen. II. Internationales Recht und Piraterie Im internationalen Recht enthalten insbesondere verschiedene Seerechts-Übereinkommen völkerrechtliche Regeln zur Bekämpfung der Piraterie. Aufgrund der europäischen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gibt es aber auch einen wachsenden Fundus an unionsrechtlichen Normen über operative und juristische Bekämpfung von Seeräuberei. Als Frucht dieser Anstrengungen zum Opferschutz treten zwangsläufig Fragen zum Täterschutz auf, die sich insbesondere an der EMRK festmachen, sobald ein Seeräuber auf frischer Tat ertappt und festgenommen worden ist. 7
Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 257 „Die Bekämpfung der Piraterie auf See vor Somalia wird nach wie vor flankiert durch Bemühungen um den Wiederaufbau des somalischen Staates und die Bekämpfung der Ursachen der Piraterie an Land. Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg ist Somalia ein gescheiterter Staat.“ (BT-Drs. 17/3691 S. 6). 9 Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 243. 10 Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 211 ff. 8
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1. Völkerrecht a) Seerechtsübereinkommen (SRÜ) Das Seerechtsübereinkommen von Montego Bay vom 10. 12. 1982 (United Nations Convention on the Law of the Sea – UNCLOS –) wird in Deutschland als Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) bezeichnet und ist durch Vertragsgesetz vom 14. 9. 199411 zum 16. 11. 1994 in Kraft getreten. Gegenstand und Absicht des Regelungswerkes sind umfassend und nach der Präambel darauf gerichet, „alle das Seerecht betreffenden Fragen im Geiste gegenseitiger Verständigung und Zusammenarbeit zu regeln, und eingedenk der historischen Bedeutung dieses Übereinkommens als eines wichtigen Beitrags zur Erhaltung von Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt für alle Völker der Welt“. Sicherheitsrechtlich ist von Belang, dass es in Art. 101 SRÜ eine Definition der Seeräuberei enthält, und außerdem einen Rechtsrahmen für ihre Bekämpfung absteckt. Die Art. 100 – 107 SRÜ berechtigen die Staatengemeinschaft lediglich zu seepolizeilichen Maßnahmen, nicht aber zur strafrechtlichen Verfolgung, die auf hoher See den einzelnen Staaten unterliegt und auf der Basis ihres nationalen Rechts erfolgt. Das Manko des SRÜ ist, dass sich aus ihm keine unmittelbaren strafrechtlichen Sanktionen ergeben. Art. 100 SRÜ ermächtigt die Staaten lediglich, die erforderlichen Strafnormen zu erlassen. Somit hängt die Strafbarkeit einer Tat allein davon ab, ob es eine entsprechende innerstaatliche Norm gibt12. b) Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt (SUA) Nach dem Zwischenfall auf der „Achille Lauro“ im Jahr 1985, bei dem Entführer einen amerikanischen Passagier auf dem im Mittelmeer fahrenden Kreuzfahrtschiff ermordeten, wurde 1988 die Convention for the Suppression of Unlawful Acts Against the Safety of Maritime Navigation (SUA) geschlossen, die in Deutschland unter der Bezeichnung Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt Gesetz geworden ist13. In dem Übereinkommen werden verschiedene, auf Hoher See begangene Straftaten aufgelistet, die von den Vertragsstaaten unter Strafe zu stellen und zu verfolgen sind. Dadurch werden nicht neue Formen von Seeräuberei, sondern eigenständige Straftatbestände unter Beachtung des völkerrechtliche definierten Begriffs der Seeräuberei kodifiziert14. Nach Art. 4 Abs. 1 SUA findet dieses Übereinkommen Anwendung, wenn das Schiff in Gewässer einfährt, Gewässer durchfährt oder aus Gewässern kommt, die jenseits der seewärtigen Grenze des Küstenmeers eines einzelnen Staates oder 11 12 13 14
BGBl. II 1994, 1798. Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 244. BGBl. 1990 II S. 494. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 54 Rn. 16.
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jenseits der seitlichen Grenzen seines Küstenmeers zu angrenzenden Staaten liegen, oder wenn der Fahrplan des Schiffes dies vorsieht. Oder gem. Art. 4 Abs. 2 in Fällen, in denen dieses Übereinkommen nicht nach Abs. 1 Anwendung findet, ist es dennoch anzuwenden, wenn der Täter oder der Verdächtige im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats als des in Abs. 1 bezeichneten Staates aufgefunden wird. Damit deckt dieses Übereinkommen ein wesentlich größeres Territorium als das SRÜ ab, denn das Schiff kann sich zum Zeitpunkt der illegalen Handlung überall auf dem Meer aufhalten. Die SUA liefert – anders als das SRÜ – auch eine rechtliche Grundlage, Piraten strafrechtlich zu verfolgen. So verpflichtet Art. 7 Abs. 1 SUA die Vertragsparteien, Tatverdächtige, die sich auf ihrem Gebiet aufhalten, vorläufig in Gewahrsam zu nehmen oder sonstige Maßnahmen zu treffen, um eine Flucht zu verhindern. Das gilt so lange, bis Straf- oder Auslieferungsverfahren eingeleitet werden. Außerdem muss gemäß Art. 7 Abs. 2 SUA unverzüglich eine vorläufige Untersuchung durchgeführt werden, um den Sachverhalt festzustellen. Art. 10 SUA verpflichtet die Mitgliedsländer zur Auslieferung und Strafverfolgung. Bei der konkreten Ausgestaltung und Durchführung der Strafverfolgung gilt jedoch das jeweilige nationale Recht15. 2. Europäisches Unionsrecht Die Wirkungsweise europäischen Unionsrechts bei der Bekämpfung von Piraterie lässt sich am derzeit größten Marineeinsatz vor der Küste Ostafrikas durch die Operation „Atalanta“ zeigen. Auf Hoher See dürfen Kriegsschiffe aller Staaten ein Piratenschiff oder ein durch Piraterie erbeutetes und in der Gewalt von Piraten stehendes Schiff aufbringen, die Personen an Bord des Schiffes festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte beschlagnahmen. Dies ergibt sich sowohl aus Art. 105 des VN-Seerechtsübereinkommens von 1982 als auch aus dem Völkergewohnheitsrecht. Mit seiner Resolution 1816 (2008)16 vom 2. 6. 2008 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese Befugnis für Schiffe derjenigen Staaten, die mit der Übergangsregierung von Somalia bei der Bekämpfung der Piraterie zusammenarbeiten, auf die Küstengewässer von Somalia ausgedehnt und mit der Resolution 1883 (2008) vom Juni und Oktober 2008 bekräftigt. In Durchführung dieser Resolutionen erließ der Rat der EU am 10. 11. 2008 die Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP17 über die Mi-
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Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 244 ff. „7. Decides that for a period of six months from the date of this resolution, States cooperating with the TFG in the fight against piracy and armed robbery at sea off the coast of Somalia, for which advance notification has been provided by the TFG to the SecretaryGeneral, may: (a) Enter the territorial waters of Somalia for the purpose of repressing acts of piracy and armed robbery at sea, in a manner consistent with such action permitted on the high seas with respect to piracy under relevant international law;….“. 17 Rat der Europäischen Union, Gemeinsame Aktion 2008/851/GASP vom 10. November 2008, Abl. L 301 v. 12. 11. 2008, 33 ff: 16
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litäroperation der EU als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias. Sie trägt den Namen „Atalanta“18. Diese Gemeinsame Aktion im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU ist gemäß Art. 14 Abs. 3 EU-Vertrag für die Mitgliedstaaten verbindlich. Unter der Verantwortung des Rates der EU nimmt das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) die politische Kontrolle und strategische Leitung der Militäroperation wahr. Das PSK erhält vom Vorsitzenden des Militärausschusses der EU (EUMC) regelmäßig Berichte über die Durchführung von „Atalanta“ (Art. 6)19. Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts erfolgt die Teilnahme der Bundesmarine an der Mission „Atalanta“ nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 des Grundgesetzes20. 3. Europäische Menschenrechtskonvention Die mögliche Bedeutung der EMRK bei der Bekämpfung von Piraterie ist in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit getreten, seitdem die Bundesmarine an der EU-Mission EU NAVFOR/Operation Atalanta vor Somalia teilnimmt, die zuletzt durch den Rat der Europäischen Union bis zum 12. 12. 2012 verlängert worden ist21. Allein bis März 2010 sind dabei 27 mutmaßliche Piraten von deutschen Soldaten in Gewahrsam genommen worden, von denen anschließend 23 Behörden der Republik Kenia übergeben und vier frei gelassen worden sind. Die an Kenia übergebenen Personen befinden sich dort in Untersuchungshaft22. Art. 105 Satz 1 SRÜ gibt den an der Atalanta-Mission teilnehmenden Soldaten die völkerrechtliche Befugnis zur „Festnahme“ (i. e. „arrest“), setzt aber weder menschenrechtliche Standards noch die Geltung deutschen Verfassungsrechts (insbesondere Art. 104 GG) und die Beschuldigtenrechte der StPO außer Kraft. Das Verbringen von Piraterieverdächtigen an Bord eines Marineschiffes – ggfs. auch schon das Betreten des Schiffes, auf „Art. 1 (1) Die Europäische Union (EU) führt eine Militäroperation zur Unterstützung der Resolutionen 1814 (2008), 1816 (2008) und 1838 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (VN-Sicherheitsrat) im Einklang mit der genehmigten Aktion im Fall von seeräuberischen Handlungen in Anwendung der Artikel 100 ff. des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen, unterzeichnet am 10. Dezember 1982 in Montego Bay (nachstehend „VNSeerechtsübereinkommen“ genannt) und im Rahmen insbesondere von mit Drittstaaten eingegangenen Verpflichtungen, nachstehend „Atalanta“ genannt, durch […] (2) Die zu diesem Zweck entsandten Truppen handeln bis zu 500 Seemeilen vor den Küsten Somalias und der Nachbarländer gemäß dem politischen Ziel einer Marineoperation der EU, wie es in dem vom Rat am 5. August 2008 gebilligten Krisenmanagementkonzept festgelegt ist.“ 18 Amtsblatt 2008, L 301/33. 19 Hummer, Wiener Zeitung vom 26. 11. 2008. 20 BT-Drs. 17/3691, S. 2. 21 Ratsdok. 11022/10 v. 14. 06. 2010, S. 9 f. 22 Esser/Fischer, JR 2010, 513.
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dem sich die Verdächtigen aufhalten – stellt für diese eine Freiheitsentziehung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c) EMRK/Art. 9 Abs. 1 IPBPR wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat (§ 316c StGB) dar und löst die strengen Festnahmeinformations- und Vorführpflichten gem. Art. 5 Abs. 2, Abs. 3 EMRK/Art. 9 Abs. 2, Abs. 3 IPBPR aus. Während die Vorgaben der EMRK und des IPBPR bei den bisherigen Festnahmen Piraterieverdächtiger auf Hoher See eingehalten worden sein dürften, sind die Vorgaben des deutschen Verfassungsrechts aus Art. 104 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 GG deutlich strenger und bei Festnahmen auf Hoher See in aller Regel schon aus tatsächlichen Gründen derzeit nicht umsetzbar23. III. Deutsches Recht und Bekämpfung der Piraterie 1. Verfassungsrecht Bei Maßnahmen gegen die Piraterie spielt das Grundgesetz unter zwei Gesichtspunkten eine Rolle, nämlich einmal – kompetentiell – beim Einsatz von Sicherheitskräften, insbesondere bzgl. der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Marineverbände der Bundeswehr eingesetzt werden können oder ob die Bundespolizei zuständig ist, und zum anderen bei der Festnahme von Piraten; bei letzterem steht die Frage im Vordergrund, ob und inwieweit sie sich auf Gewährleistungen der Deutschen Verfassung berufen können. Denn nicht für alles, was völker- und europarechtlich erlaubt ist, besteht auch zugleich eine verfassungsrechtliche Kompetenz. Weder die Bundesmarine noch die Bundespolizei können einfach im Ausland oder auf Hoher See eingesetzt werden, ohne dass das Grundgesetz dies ermöglichen würde24. Generell handelt es sich bei Piraterie um eine Beeinträchtigung der Seesicherheit. Deshalb ist zu fragen, welche Zuständigkeiten und Regeln für ihre Wahrung und Wiederherstellung nach der Bundesverfassung bestehen. a) Verbandskompetenz für Seesicherheit? Das Grundgesetz weist die Aufgabe der Seesicherheit weder Bund noch Ländern en bloc zu. Aspekte davon werden vielmehr von einer Fülle verfassungsrechtlicher Kompetenznormen erfasst. Im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen sind die Länder grundsätzlich im Rahmen ihrer Kompetenz für das allgemeine Polizeirecht zuständig. Viele Teilaspekte des Rechts der Seesicherheit werden jedoch von speziellen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes erfasst. Zu nennen sind insbesondere die seespezifischen Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes: der nautische Katalog der Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG sowie die Zuständigkeit im Bereich der Fischerei (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG), die jeweils auch eine gefahrenabwehrrechtliche Dimension haben. Dazu kommen die ausdrücklichen Gefahrenabwehrkompetenzen für den 23 24
Esser/Fischer, JR 2010, 513, 526. Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 52.
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Grenz- und Zollschutz (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG), die jeweils auch an den deutschen Seegrenzen Anwendung finden, sowie die Bundeszuständigkeit für die Verteidigung nach Art. 73 Abs. 1 Satz 1 GG. Von seinen Gesetzgebungskompetenzen mit Seebezug und Sicherheitsaspekten hat der Bund etwa im Seeaufgabengesetz (z. B. § 1 Nr. 2 SeeAufgG), im BPolG (§§ 2, 6 BPolG), im Zollverwaltungsgesetz (§ 1 ZollVG), im Bundeswasserstraßengesetz (§ 24 WassStrG) oder im Seefischereigesetz (§§ 6, 7 SeeFiG) Gebrauch gemacht25. Die militärischen Befugnisse sind noch den Kompetenzen des Bundes hinzu zu rechnen. b) Vollzugskompetenz für Seesicherheit? Im Bereich der Vollzugskompetenzen sind die Länder gem. Art. 30 GG für den Vollzug „ihres“ Landesrechts zuständig, nach dem Grundsatz des Art. 83 Abs. 1 GG aber auch für den Vollzug des Bundesrechts. Das Grundgesetz sieht jedoch für wichtige Teilaspekte des Rechts der Seesicherheit Ausnahmen von diesem Grundsatz vor. Zu nennen sind die Bundeskompetenzen für die Verteidigung (Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG), die Zollverwaltung (implizit in Art. 108 GG) sowie die fakultative Bundeskompetenz für den Grenzschutz (Art. 87 Abs.s 1 Satz 2 GG). Die Zentralnorm des Rechts der Seesicherheit ist jedoch Art. 89 Abs. 2 GG, der in seinem Satz 1 die Bundesverwaltung der Bundeswasserstraßen anordnet und in Satz 2 den Aufbau einer Bundesschifffahrtsverwaltung ermöglicht – genutzt vor allem durch Erlass des Seeaufgabengesetzes und das Binnenschifffahrtsaufgabengesetzes. Demzufolge ist auch der Vollzug der beiden seespezifischen Polizeiaufgaben, nämlich Strompolizei und Schifffahrtspolizei Bundessache. Beide bilden Ausnahmen vom Grundsatz der Polizeihoheit der Länder. Über Art. 89 Abs. 2 GG hinausgehend nimmt die Staatspraxis ferner auch eine Bundesverwaltungskompetenz für die Fischereiaufsicht sowie – verfassungsrechtlich problematisch – eine allgemeine Polizeizuständigkeit des Bundes für die Gefahrenabwehr außerhalb des deutschen Küstenmeeres an (vgl. § 1 Nr. 3 Buchs b) SeeAufgG). Die komplexen Regeln über die Aufteilung der Verbandskompetenzen zwischen Bund und Ländern werden – jedenfalls im Bereich der Bundesverwaltung – durch ungewöhnlich verworrene Zuweisungen von Organkompetenzen ergänzt. Die speziellen, nicht seespezifischen Gefahrenabwehraufgaben Verteidigung, Grenzschutz und Zollschutz hat der Bund jeweils eigenen Behörden zugewiesen, nämlich der Marine der BPol und dem Zoll. Für die Überwachung der Seefischerei jenseits deutscher Hoheitsgewässer ist als Organ die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernähung zuständig26. Die Realität der Organisation von Sicherheit der Seeschifffahrt in Deutschland ist geprägt durch eine diffizile Verschränkung von Zuständigkeiten im Föderalismus. Dies betrifft die Ebene der Gesetzgebung ebenso wie diejenige der Verwaltung. Und die Verwaltungspraxis hängt nicht nur an dem entsprechenden Geflecht von Län25 26
Möllers, Wörterbuch der Polizei, 2. Aufl. 2010, Stichwort „Seesicherheit“. Möllers, Wörterbuch der Polizei, 2. Aufl. 2010, Stichwort „Seesicherheit“.
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der- und Bundesrecht – von denen § 6 BPolG nur eine Norm ist –, sondern auch an internationalem und europäischem Recht, das in der operativen Praxis von den Sicherheitsbehörden zu berücksichtigen und anzuwenden ist. Derzeit teilen sich fünf Bundesministerien (BMI: Bundespolizei, BMVBW: Wasser und Schifffahrtsverwaltung/Havariekommando, BMF: Zoll, BMVEL: Fischereischutz, BMV: Marine), mehrere Landesministerien und weitere Polizei- und Sonderordnungsbehörden die Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der Sicherheit in den verschiedenen Seesicherheitsbereichen. Im Küstenmeer (Hoheitsgebiet) erstrecken sich diese Befugnisse parallel dazu auf mehrere Landesressorts. Die Zuständigkeiten der verschiedenen Bundes- und Landesbehörden auf dem Gebiet des Küsten- und Meeresschutzes werden in zahlreichen Regelwerken normiert, und seit September 2005 gibt es aufgrund einer Verwaltungsvereinbarung das „Maritime Sicherheitszentrum“ zur Koordination und Kooperation der verschiedenen Behörden von Bund und Ländern27. c) Zur Geltung der Grundrechte bei der Bekämpfung der Piraterie Ansatzpunkt für die Beantwortung der Frage nach der räumlichen Geltung von Art. 104 GG ist Art. 1 Abs. 3 GG, der den Geltungsumfang der Grundrechte im allgemeinen bestimmt. Aus dem Umstand, dass diese Vorschrift eine umfassende Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte vorsieht, ergibt sich allerdings noch keine abschließende Festlegung der räumlichen Geltungsreichweite der Grundrechte. Das Grundgesetz begnügt sich nicht damit, die innere Ordnung des deutschen Staates festzulegen, sondern bestimmt auch in Grundzügen sein Verhältnis zur Staatengemeinschaft. Insofern geht es von der Notwendigkeit einer Abgrenzung und Abstimmung mit anderen Staaten und Rechtsordnungen aus. Zum einen ist der Umfang der Verantwortlichkeit und Verantwortung deutscher Staatsorgane bei der Reichweite grundrechtlicher Bindungen zu berücksichtigen […]. Zum anderen muss das Verfassungsrecht mit dem Völkerrecht abgestimmt werden. Dieses schließt freilich eine Geltung von Grundrechten bei Sachverhalten mit Auslandsbezügen nicht prinzipiell aus. Ihre Reichweite ist vielmehr unter Berücksichtigung von Art. 25 GG aus dem Grundgesetz selbst zu ermitteln. Dabei können je nach den einschlägigen Verfassungsnormen Modifikationen und Differenzierungen zulässig oder geboten sein28.
27 Bericht der Gemeinsamen Kommission von BT und BR zur Modernisierung der BundLänder-Finanzbeziehungen, 2010, S. 324 ff. 28 BVerfGE 100, 313, 362 f.
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2. Recht der Gefahrenabwehr a) Seeaufgabengesetz Das Seeaufgabengesetz i. d. F. d. Bek. vom 26. 7.200229 i. d. F. von Art. 4 des Gesetzes vom 2. 6. 2008 (BGBl. II S. 520) und Art. 11 Abs. 2 zuk. in Kraft nach Maßgabe d. Art. 13 Abs. 7 des Gesetzes vom 30. 10. 200830 legt die Aufgaben fest, die der Bund im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Nr. 21 GG auf dem Gebiet der Seeschifffahrt hat. Neben der Pflicht zur allgemeinen Förderung der deutschen Handelsflotte (§ 1 Nr. 1 SeeAufgG) sind hier besonders die Aufgaben der Schifffahrtspolizei zu nennen, unter der die Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs sowie die Verhütung der von der Schifffahrt ausgehender Gefahren und Umwelteinwirkungen zu verstehen sind (§ 1 Nr. 2 SeeAufgG). Die Aufgaben der Schifffahrtspolizei und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gelten in erster Linie bis zur 12-Seemeilengrenze, aber auch darüber hinaus, z. B. in der Deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) und auf dem deutschen Festlandsockel, soweit das Völkerrecht dies zulässt (§ 1 Nr. 3 SeeAufgG). Die Deutsche AWZ ist durch Proklamation der Bundesregierung vom 11. November 1994 festgelegt worden31. Eine solche gesetzliche Regelung für die Schifffahrtspolizei des Bundes war erforderlich, weil das Grundgesetz die Aufgaben der Polizei grundsätzlich den Ländern zuweist, aber in Art. 83 GG eine andere Regelung zulässt. Auf der Grundlage von Art. 87 GG i.V.m. Art. 89 Abs. 2 Satz 2 GG hat der Bund gem. § 3 SeeAufgG die bundeseigene Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) eingerichtet. Die WSV ist gem. § 3 und § 4 SeeAufgG zu den notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr gegenüber dem Störer, dem Inhaber der tatsächlichen Gewalt oder auch dem ehemaligen Eigentümer im Falle einer herrenlosen Sache berechtigt32. b) Bundespolizeigesetz Nach § 6 BPolG hat die Bundespolizei auf See außerhalb des deutschen Küstenmeers unbeschadet der Zuständigkeit anderer Behörden oder der Streitkräfte die Maßnahmen zu treffen, zu denen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist. Dies gilt nicht für Maßnahmen, die durch Rechtsvorschriften des Bundes anderen Behörden oder Dienststellen zugewiesen oder die ausschließlich Kriegsschiffen vorbehalten sind. § 6 BPolG bestimmt die Bundespolizei nicht nur zu Maßnahmen auf Hoher See, sondern auch zu Maßnahmen „auf See außerhalb des deutschen Küstenmeers“. Diese Änderung der Zuständigkeitsbeschreibung der BPol trägt den neueren Entwicklungen im Seerecht Rechnung, wonach auch Maßnahmen in ausländischen Küstengewässern in Betracht kommen können: So sieht 29 30 31 32
BGBl. I 2002, S. 2876. BGBl. I 2008, S. 2130. BGBl. II 1994, S. 3769. Jenisch, NordÖR 1999, 170 ff.
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das Seeaufgabengesetz seit 1985 vor, dass bestimmte Regelungen nicht nur für den Bereich der Hohen See, sondern generell „seewärts der Begrenzung des Küstenmeers“ erlassen werden können. Ferner sollen nach Artikel 17 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen auch polizeiliche Maßnahmen in ausländischen Küstengewässern mit Zustimmung des Küstenstaates zulässig sein33. § 6 BPolG hat den Charakter einer Auffangnorm für Regelungen, die Aufgaben auf See betreffen. Der Anwendungsbereich der Vorschrift muss daher den in den Spezialgesetzen geregelten Zuständigkeitsgrenzen auf See entsprechen. Die Bezugnahme der Kompetenzausübung des Bundespolizeigesetz auf das Völkerrecht stellt sicher, dass die Aufgabenwahrnehmung durch die Bundespolizei außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets durch da Völkerrecht begrenzt wird34. 3. Strafrecht und Strafverfahrensrecht In Art. 101 SRÜ wird Piraterie als „rechtswidrige Gewalttat“ bezeichnet, die zu „privaten Zwecken“ begangen wird. Das unterscheidet Piraterie beispielsweise von Terrorismus, der staatsgerichtet ist35. Das deutsche Strafrecht kennt keinen Tatbestand der „Piraterie“. Die im Zusammenhang mit einem Piratenangriff typischerweise vorkommenden Tatbeiträge lassen sich aber mühelos unter die vorhandenen Tatbestände von Schwerem Raub (§ 250 StGB), räuberischer Erpressung (§ 255 StGB), Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), Geiselnahme (§ 239b StGB), § 316c StGB (Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr) fassen, möglicherweise auch verschärfen im Fall der Begehung als Mitglied einer Bande oder einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) oder einer terroristischen Vereinigung (§ 129a bzw. § 129b StGB). An der Geltung des deutschen Strafrechts für typische Piraterieakte auf Hoher See dürfte schon aus dem zweifachen Grund kein Zweifel bestehen, weil Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr (§ 316c StGB) zu den verfolgbaren Auslandstaten gegen international geschützte Rechtsgüter nach § 6 Nr. 3 StGB gehören und Art. 10 des Übereinkommens zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschifffahrt (SUA) die Mitgliedsländer wie die Bundesrepublik Deutschland zur Auslieferung und Strafverfolgung verpflichtet, was wiederum die Voraussetzungen von § 6 Nr. 9 StGB erfüllt36. Die StPO findet auf die Festnahme
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BR-Drucks. 418/94, S 41. BR-Drucks. 418/94, S 41. 35 Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 50. 36 „Das deutsche Strafrecht gilt weiter, unabhängig vom Recht des Tatorts, für folgende Taten, die im Ausland begangen werden: […] 3. Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr (§ 316c); […] 34
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von Piraterieverdächtigen durch deutsche Marinesoldaten im hoheitsfreien Raum der Hohen See ebenso Anwendung wie auf das sich daran anschließende Verfahren. Für Handlungen der Deutschen Marine auf Hoher See folgt dies unmittelbar aus § 4 Abs. 1 SeeAufgG. Danach gelten seewärts der Begrenzung des Küstenmeers bei der Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten oder zur Wahrnehmung völkerrechtlicher Befugnisse die Vorschriften der StPO und des OWiG entsprechend37. Auf der Grundlage der wenigen der Öffentlichkeit zugänglichen Quellen zum Verfahren im Anschluss an eine Festnahme Piraterieverdächtiger im Zuge der Atalanta-Mission wird vermutet, dass die auf deutschen Marineschiffen stattfindenden Befragungen der Festgenommenen als vernehmungsähnliche Situationen behandelt werden, bei denen aufgrund der regelmäßig bereits zu diesem Zeitpunkt begründeten Beschuldigteneigenschaft der Festgenommenen die Belehrungspflichten aus § 136 Abs. 1 StPO entsprechend angewandt werden38. IV. Bekämpfung der Piraterie durch deutsche Sicherheitskräfte Im Vordergrund rechtlicher Erörterungen zur Bekämpfung der Piraterie durch deutsche Sicherheitskräfte steht der Einsatz von Marineeinheiten der Bundeswehr. Daran hat auch der weit gediehene, aber schließlich abgebrochene Befreiungsversuch der „Hansa Stavanger“ durch Mitglieder der GSG 9 im Jahr 2009 vor Somalia39 nichts geändert. Dies hängt vorrangig mit der Beteiligung von Bundeswehrschiffen an der Mission Atalanta der Europäischen Union und dabei auftretenden Fragen zusammen. Wird dagegen ergebnisoffen überlegt, welche Sicherheitskräfte nach nationalem Recht vorzugsweise einzusetzen wären, überwiegt das Votum für die Bundespolizei. Denn Piraterie und Terror auf See sind kriminelle Akte und ihre Abwehr und Verfolgung sind eine polizeiliche Aufgabe40 ; zumindest aber wird die Bundespolizei auf See neben anderen Behörden oder den Streitkräften als dafür zuständig angesehen41. Dagegen spricht nicht, dass es aufgrund der konkreten bundesrepublikanischen Verhältnisse von Recht und Ausstattung deutsche Einsätze vollständig ohne die Streitkräfte wohl auch in Zukunft nicht geben wird42. Es sollte aber versucht werden, die jeweiligen Vorzüge von Bundespolizei und Bundesmarine zu verbinden. 9. Taten, die auf Grund eines für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden.“ 37 Esser/Fischer, JR 2010, 513, 518 ff. 38 Esser/Fischer, JR 2010, 513, 521. 39 vgl. SPIEGELONLINE, 2. 5. 2009, 8.56 h, „Berlin stoppt Befreiungsaktion der GSG 9“; FAZ.NET 12. 7. 2010 „Jagd auf hoher See“. 40 Stehr, JBÖS 2006/2007, S. 569, 585; von Arnauld, JBÖS 2010/2011, 97, 114; FischerLescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243, 1246; Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 53, 55. 41 Wiefelspütz, JBÖS 2010/2011, 41, 54; Glawe, NZWehrR 2009, 221, 234 ff. 42 Brinkmann (BMVg) zit. nach Möllers, JBÖS 2008/2009, 661, 668.
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1. Einsatz der Bundesmarine gegen Piraten Die Aufgabe der Bundesmarine zur Piratenbekämpfung wird nach Verfassungsrecht und Völkerrecht unterschiedlich und zum Teil kontrovers hergeleitet. a) Einsatz der Bundesmarine zur Verteidigung (Art. 87a Abs. 2 GG) Die Bundesmarine als Teilstreitkraft der Bundeswehr darf gem. Art. 87a Abs. 2 GG außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. An dem von Art. 87a Abs. 2 GG unterstellten Territorialbezug eines Angriffs auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fehlt es im Fall des Einsatzes zur Piratenbekämpfung vor Somalia offensichtlich43. Auf die Beantwortung der Frage, ob es neben dem unilateralen Einsatz der Bundeswehr zur Verteidigung im Inland und dem multilateralen Einsatz innerhalb eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Ausland als weiteren Anwendungsfall von Art. 87a Abs. 2 GG noch den „Verteidigungsauftrag zur Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürger“ im Ausland gibt44, kommt es – ungeachtet des zutreffenden Einwandes, dass ein Piratenangriff auf ein unter deutscher Flagge fahrendes Schiff keinen Verteidigungsfall nach Art. 115a GG darstellt45 – im Falle des Atalanta-Einsatzes vor Somalia nicht an. Im Ergebnis erlaubt das Grundgesetz einen Einsatz – worunter auch die Pirateriebekämpfung fällt – im In- und Ausland nur zur Verteidigung oder aufgrund ausdrücklicher Zulassung durch das Grundgesetz. Da es sich im bei den Maßnahmen im Rahmen von „Atalanta“ nicht um eine Verwendung zu Verteidigungszwecken handelt, bedarf es einer ausdrücklichen Zulassung46. Als Fälle, in denen das Grundgesetz den Einsatz „ausdrücklich zulässt“, kommen die Art. 24 Abs. 2 GG oder die völkerrechtliche Nothilfe in Betracht – eher weniger – Art. 25 GG. b) Verwendung im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG) Der Bund kann sich gem. Art. 24 Abs. 2 GG zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen. Diese Regelung ermöglich nicht nur die Einordnung in ein solches System, sondern – nach der Blauhelm-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – auch die damit verbundene Übernahme typischer Pflichten wie z. B. die Eingliederung von Streitkräften in integrierte Verbände des Systems unter dessen militärischem Kommando47. Im Rahmen von Systemen kol43
Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 52 ff. So aber Glawe unter Bezugnahme auf das Weißbuch 2006 der Bundeswehr in NZWehrR 2009, 221, 222 – 225. 45 Vgl. insoweit Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 212 ff. 46 Braun/Plate, DÖV 2010, 203, 206. 47 BVerfGE 90, 268, 351. 44
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lektiver Sicherheit ist der Einsatz der Bundeswehr nicht auf Maßnahmen der Verteidigung beschränkt, sondern kann auch auf präventive Maßnahmen zur Friedenserhaltung erstreckt werden48. Der Deutsche Bundestag hat am 19. 12. 2008 dem Antrag der Bundesregierung zur Beteiligung der Bundeswehr im Rahmen der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias zugestimmt49. Die Operation soll danach die vor der Küste von Somalia operierenden Piraten abschrecken und bekämpfen und dabei zum einen die durch Piratenüberfälle gefährdete humanitäre Hilfe für die für die notleidende somalische Bevölkerung sicherstellen. Zum anderen soll die Operation den zivilen Schiffsverkehr auf den dortigen Handelswegen sichern, Geiselnahmen und Lösegelderpressungen unterbinden und das Völkerrecht durchsetzen. Dieser Einsatz – wenngleich er nicht unter Führung von NATO oder VN, sondern der EU stattfindet – kann als von Art. 24 Abs. 2 GG gedeckt angesehen werden50. Denn bei der Europäischen Union bzw. der ESVP handelt es sich um ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Nach Art. 11 EUV gehört zu den Zielen der Europäischen Union u. a. die „Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit entsprechend den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen“. Das für ein System kollektiver Sicherheit erforderliche militärische Element findet sich in den Petersberg-Erklärungen und in den für ihre Umsetzung geschaffenen Institutionen51. c) Nothilfe Für einen unilateralen Einsatz der Bundeswehr kommt der Angriff eines Piratenschiffs auf ein unter deutscher Flagge fahrendes Schiff zwar nicht unter dem Gesichtspunkt des Verteidigungsfalls i.S.v. Art. 115a GG in Betracht. Denn die Flaggenhoheit stellt keinen Fall der Territorialhoheit dar, sondern eine eigenständige Form staatlicher Souveränität. Schiffe unter deutscher Flagge sind als „geschützte Außenpositionen“ nicht Teil des deutschen Bundesgebietes. Da die Piratenangriffe vor der somalischen Küste keinem Staat zugerechnet werden können, handelt es sich auch nicht um einen „bewaffneten Angriff“, der das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta auslöst. Der Angriff auf ein im Golf von Aden befindliches Schiff eines NATO-Bündnispartner löst auch nicht den Bündnisfall des Art. 5 NATO-Vertrag aus, da sich das betreffende Schiff nicht im Hoheitsgebiet der NATO-Staaten befindet. Die Marine kann allerdings nach Art. 98 SRÜ Nothilfe leisten, wenn Personen auf See in Lebensgefahr schweben. Die Pflicht zur Hilfeleistung besteht nur, soweit dies ohne ernstliche Gefährdung von Schiff, Besatzung und Fahrgästen möglich ist. Bei der Nothilfe ist die Marine auf die Abwehr der angreifenden Piraten beschränkt und kann sie weder verfolgen noch festnehmen52. 48 49 50 51 52
Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 217 m.w.N. BT-Drs. 16/1137. Fischer-Lescano, NJW 2009, 1243, 1245 ff.; Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 218 ff. Vgl. Braun/Plate, DÖV 2010, 203, 208 m.w.N. Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 214 ff.
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d) Einsatz nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG)? Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes. Es wird die Ansicht vertreten, ein solcher Anwendungsfall seien die Regeln des Völkergewohnheitsrechts, und dazu gehöre die Bekämpfung der Piraterie. Dies gelte unabhängig davon, ob es sich um Nothilfe zugunsten eines gerade angegriffenen Handelsschiffs handele oder ob das Handelsschiff schon länger in der Hand der Seeräuber sei. Wegen Art. 25 GG seien solche völkergewohnheitsrechtlichen Regeln deutsches Recht und gingen danach sogar einfachen Gesetzes vor. Da das Völkergewohnheitsrecht die Festnahme von Piraten durch das Militär erlaube – vgl. Art. 107 SRÜ –, bestehe beim Einsatz der Bundesmarine zur Abwehr und Verfolgung von Piraten kein Problem53. Dem wird allerdings zu Recht der Einwand eines Zirkelschlusses entgegen gehalten, denn Art. 107 SRÜ erlaube nur solchen staatlichen Schiffen ein Aufbringen wegen Seeräuberei, die hierzu befugt sind, weshalb diese Norm des Völkerrechts gerade nicht zur Ableitung einer Einsatzbefugnis der Bundesmarine nach Art. 25 GG herangezogen werden könne54. Selbst wenn diese völkerrechtliche Ermächtigung zu den allgemeinen Regeln zählt, die nach Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind, enthält sie keine Aussage über die verfassungsrechtliche Aufgabenverteilung zwischen der Bundeswehr und der Polizei55. Im Übrigen kommt den inkorporierten Regeln des Völkerrechts kein Verfassungsrang zu, sondern die Normen des Grundgesetzes behalten ihren Vorrang Deshalb stellt Art. 25 GG keine verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage für den Auslandseinsatz der Bundesmarine im Golf von Aden dar56. 2. Einsatz der Bundespolizei gegen Piraten a) Sachliche und räumliche Zuständigkeit der Bundespolizei Die Bundespolizei See nimmt innerhalb der Hoheitsgewässer, d. h. der Küssengewässer und des Küstenmeers und seewärts der Begrenzung des Küstenmeeres, d. h. der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) und der Hohen See die ihr übertragenen originären Grenzschutzaufgaben wahr und hat sich insofern – innerbehördlich – allenfalls zu den landgestützten Ämtern der Bundespolizei abzugrenzen, die an den offiziellen Grenzübergangsstellen in den Häfen für den Schiffsverkehr zuständig sind. Innerhalb der AWZ sind der Bundespolizei See – und dem Seezoll – darüber hinaus auf der Grundlage des BPolG und des SeeAufgG weitere begrenzte Aufgaben übertragen worden, und zwar Maßnahmen entsprechend der StPO, soweit Taten auf 53 54 55 56
Frowein zit. nach Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 53. Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 53. Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 215 ff. FN. 173. Braun/Plate, DÖV 2010, 203, 206.
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Schiffen unter deutscher Flagge bzw. bestimmte, dem Völkerrecht unterliegende Taten unter ausländischer Flagge begangen werden. Unter Beachtung des Völkerrechts könnten in der AWZ auch schifffahrtspolizeiliche Gefahrenabwehr- bzw. Überwachungsmaßnahmen durchgeführt werden57. Auf hoher See, außerhalb der deutschen Küstengewässer, trifft die BPol nach § 6 BPolG die der Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht zustehenden Maßnahmen, soweit nicht die deutschen Streitkräfte, also die Deutsche Marine, mit ihren Kriegsschiffen oder andere Behörden zuständig sind58. Zu den einschlägigen Regelwerken zählt beispielsweise das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ). Das normierte Völkerrecht und Völkergewohnheitsrecht regeln zwar, welche hoheitlichen Maßnahmen Staatsschiffe auf hoher See vornehmen dürfen, sie können aber nicht die jeweiligen innerstaatlichen Zuständigkeiten bestimmen. Die vorhandenen Regelungen des deutschen Rechts über Zuständigkeit und Aufgabenverteilung im Bereich der Seesicherheit sind jedoch lückenhaft und unvollständig, so dass § 6 BPolG als Auffangtatbestand die Zuständigkeit der BPol festlegt. Speziellere Regelungen gehen ggfs. vor59. Die meisten Aufgaben jenseits des Küstenmeeres sind in speziellen Rechtsvorschriften geregelt und weisen der Bundespolizei ebenso wie anderen Behörden und Verwaltungen Aufgaben auf der Hohen See zu. Ein großer Teil aller Piratenangriffe erfolgt in Küstenmeeren, innerhalb der Territorialgewässer und der ausschließlichen Wirtschaftszone. In diesen Bereichen gelten die Ermächtigungen des SRÜ nicht ohne Weiteres. Fehlen anderweitige internationale Regelungen, sind für die Verfolgung von Piraten das Gewaltmonopol und die Souveränität des jeweiligen Staats entscheidend60. Somalia selbst hat nur begrenzte Möglichkeiten staatlicher Gewalt zur Pirateriebekämpfung, hat sich allerdings mit der Bekämpfung der Piraterie in seinen Küstengewässern durch Drittstaaten wiederholt ausdrücklich einverstanden erklärt61. Dabei sind – polizeitypisch – Aufgaben der Gefahrenabwehr von solchen der Strafverfolgung zu unterscheiden. Die Gefahrenabwehr wird als Aufgabe in § 6 BPolG nicht ausdrücklich erwähnt, obwohl sie dem Sinnzusammenhang nach „Gefahrenabwehr in der Schifffahrt“ heißen müsste. Sie ergibt sich aber rückbezüglich aus den durch dritte Regelungen begründeten Aufgaben und Befugnissen. Insofern kann auf die Definition in Art. 2 Nr. 5 Verordnung (EG) Nr. 725/2004 abgestellt werden, wonach „Gefahrenabwehr in der Schifffahrt“ die Kombination vorbeugender Maßnahmen zum Schutz des Seeverkehrs und von Hafenanlagen vor einer Bedrohung durch vorsätzliche rechtswidrige 57
Guninski, Die Polizei 2003, 279. Schütte, Die Polizei 2002, 309, 311. 59 Guninski, Die Polizei 2003, 278, 280. 60 Flottenkommando Jahresbericht 2010, S. 249. 61 Vgl. die Resolutionen 1814 (2008) vom 15. 5. 2008, 1816 (2008) vom 2. 6. 2008, 1838 (2008) vom 7. 10. 2008, 1846 (2008) vom 2. 12. 2008 und 1851 (2008) vom 16. 12. 2008 des VNSicherheitsrates. 58
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Handlungen ist. Wesentliche Zuständigkeiten der Bundespolizei für die Gefahrenabwehr seewärts der Begrenzung des deutschen Küstenmeers ergeben sich aus der Seeschifffahrtsaufgaben-Übertragungsverordnung (SeeSchAÜV)62 und betreffen u. a. unaufschiebbare Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für den Schiffsverkehr oder für das Wasser, die von Schiffen unter der Bundesflagge ausgehen, nach pflichtgemäßem Ermessen und die Erfüllung völkerrechtlicher oder zwischenstaatlicher Verpflichtungen oder zur Wahrnehmung völkerrechtlicher oder zwischenstaatlicher Befugnisse der Bundesrepublik Deutschland (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 SeeSchAÜV). b) Strafverfolgung Von größerer Bedeutung ist die Möglichkeit der Bundespolizei im Rahmen der Strafverfolgung. Bei der Piraterie handelt es sich um Straftaten, und für deren Verfolgung und Aufklärung ist eine Polizei besser ausgebildet als eine militärische Einheit. Dazu kommt, dass die Befugnisse des Strafverfahrensrechts auf die Polizei zugeschnitten sind und nicht auf Einheiten der Bundeswehr. Wird ein Seeräuber auf frischer Tat betroffen, indem er ein fremdes Schiff geentert, Leute bedroht oder Waffen eingesetzt hat, dürfte kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass er als Verdächtiger oder Beschuldigter zu behandeln ist und nicht als bloß informatorisch zu befragende, weil am Tatort anwesende Person. Letzteres würde ihn sonst in zweifelhafter Weise um seine – besseren – Beschuldigtenrechte bringen. Besteht ein Anfangsverdacht, sind aber die Vernehmungsvorschriften der § 136 Abs. 1 bzw. § 163a Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 StPO zu beachten. Die Befugnis zur förmlichen Vernehmung nach § 136 Abs. 1 StPO steht aber neben Richtern und Staatsanwälten lediglich „Beamten des Polizeidienstes“ (§ 163a Abs. 4 Satz StPO) zu sowie – in engen Grenzen – sonstigen, durch spezialgesetzliche Regelungen dazu befugten Amtsträgern. Weder Feldjäger noch Rechtsberater der Bundeswehr gehören zu diesem Personenkreis. Insbesondere sind Feldjäger weder (Militär-)Polizisten noch Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft63. c) Maßnahmen auf hoher See (§ 6 BPolG) und zur Rettung von Personen aus gegenwärtiger Gefahr (§ 8 Abs. 2 BPolG) Nach § 6 BPolG hat die Bundespolizei auf See außerhalb des deutschen Küstenmeers die Maßnahmen zu treffen, zu denen die Bundesrepublik Deutschland nach dem Völkerrecht befugt ist. Hierzu zählen in erster Linie die seit Jahren stark an Bedeutung gewinnenden Aufgaben des Gewässerschutzes und des Umweltschutzes im Allgemeinen. Dies bezieht sich aber auch auf die Bekämpfung der Seepiraterie, wie sie in Art. 101 SRÜ definiert ist; allerdings steht polizeilich nicht die Pirateriebekämpfung an sich in Rede, sondern ausschließlich die Abwehr konkreter Gefahren 62 63
Zuletzt i. d. F. vom 21. 6. 2005, BGBl. I 2005, 1818. Esser/Fischer, JR 2010, 513, 519.
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und die Befreiung der Schiffsbesatzungen aus der Hand ihrer Geiselnehmer64. Die Aufgabenzuweisungsnorm des § 6 BPolG überschneidet sich mit der Verwendungsnorm des § 8 Abs. 2 BPolG. Die Bundespolizei kann nämlich ferner im Einzelfall zur Rettung von Personen aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben im Ausland verwendet werden (§ 8 Abs. 2 Satz 1 BolG). Die ausschließliche Zuweisung des Polizeieinsatzes im Ausland durch § 8 BPolG an die Bundespolizei lässt sich kompetenzrechtlich – ähnlich wie die Installierung des Bundesnachrichtendienstes – damit begründen, dass man einen solchen Polizeieinsatz im Ausland gem. Art. 73 Nr. 1 und Art. 87 GG zum Bereich der „auswärtigen Angelegenheiten“ zählt und auch hier – wie bei der Eisenbahn- und Luftverkehrsverwaltung – eine Annexkompetenz annimmt, die es erlaubt, von Bundes wegen für Polizeihilfe im Ausland zu sorgen. Die „auswärtige Gewalt“ des Bundes ist demnach in der Lage, unter den Voraussetzungen des § 8 BPolG Polizei im Ausland einzusetzen65. Die Regelungen der § 6 und § 8 Abs. 2 BPolG begründen übereinstimmend die Möglichkeit zum Einsatz der Bundespolizei gegen Piraterie auf Hoher See. 3. Kombinierter Einsatz von Material der Bundesmarine und Personal der Bundespolizei? Verfassungsrechtlich sind die Aufgaben der Bundeswehr auf der einen und der Polizei auf der anderen Seite getrennt, und dies erweist sich häufig als problematisch, wenn die Bundeswehr bei Einsätzen funktional sowohl polizeiliche als auch militärische Aufgaben wahrnimmt. Im Fall der Piratenbekämpfung vor Somalia führte die Trennung zu der politisch als unbefriedigend empfundenen Situation, dass die Bundeswehr im Rahmen der VN-Operation Enduring Freedom im Golf von Aden stationiert war, die Piraten jedoch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verfolgen und festnehmen durfte. Die hierfür zuständige Bundespolizei war hingegen nicht vor Ort66. Die Abgrenzung zwischen polizeilicher und militärischer Zuständigkeit ist nicht zuletzt deshalb von Gewicht, weil der Einsatz der Bundeswehr eines Parlamentsbeschlusses bedarf, der Einsatz von Bundespolizei hingegen nicht; lediglich bei der Mitwirkung der Bundespolizei an internationalen Maßnahmen kann der Bundestag nach § 8 Abs. 1 Satz 5 BPolG eine Beendigung verlangen, während es an einer vergleichbaren Kompetenz bei Einzelmaßnahmen nach § 8 Abs. 2 BPolG fehlt. Für den Einsatz des dem Verteidigungsministerium unterstehenden Kommandos Spezialkräfte (KSK) wäre im Falle der Befreiungsaktion der Hansa Stavanger ein Bundestagsmandat erforderlich gewesen, für den Einsatz der dem Bundesinnenministerium
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Glawe, NZWehrR 2009, 221, 227. Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, C Rn. 168; Baldus, Transnationales Polizeirecht, 2001, S. 278 ff.; Wiefelspütz, JBÖS 2006/2007, 255, 262; Glawe, NZWehrR 2009, 221, 229. 66 Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 215 FN 173. 65
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zugeordneten GSG 9 war es es hingegen nicht67. Die Bekämpfung der Piraterie vor Somalia durch deutsche Sicherheitskräfte könnte rechtlich und operativ verbessert werden durch Verbindung der unterschiedlich weit reichenden Befugnisse und Fähigkeiten von Bundeswehr und Bundespolizei. Die in dem EU-Mandat enthaltenen Polizeibefugnisse können nicht nur ebenso gut, sodern sogar besser als von Bundeswehrsoldaten nach deutschem Recht durch die Bundespolizei oder das Bundeskriminalamt wahrgenommen werden68. Dies macht es erforderlich, sich die negativen und positiven Schnittmengen militärischer und polizeilicher Kompetenzen klar zu machen. a) Die negative Schnittmenge militärischer und polizeilicher Kompetenzen Einerseits ist die Bundespolizei instrumentell für einen derartigen Einsatz nicht gerüstet. Die nichtmilitärischen Sicherheitsbehörden des Bundes verfügen im Raum von Nord- und Ostsee zwar über rund 30 Schiffe und Boote sowie 7 Hubschrauber. Es fehlt ihnen aber an fest montierten Waffensystemen; effektive Rohrwaffensysteme zur Gefahrenabwehr sind nicht vorhanden69. Eine theoretisch denkbare Aufoder Nachrüstung dieser Flotte für die hochseetaugliche Piratenbekämpfung erscheint schon aus praktischen Gründen nicht überzeugend angesichts der bei der Marine bereits vorhandenen „robusten“ Ausrüstung; der Aufbau von Doppelstrukturen wäre fiskalisch kaum vermittelbar. Andererseits handelt es sich rechtlich bei der „Piratenjagd“ durch die Bundesmarine um eine Improvisation mit ungeeignetem Personal, weil die Soldaten nach internationalem und nationalem Recht über zu geringe Befugnisse für eine angemessene polizeiliche Gefahrenabwehr und effektive Strafverfolgung verfügen. Wie bereits ausgeführt, kann die Marine zwar völkerrechtlich nach Art. 98 SRÜ Nothilfe leisten, wenn Personen auf See in Lebensgefahr schweben; sie ist jedoch durch die Maßgabe beschränkt, dass dies ohne ernstliche Gefährdung von Schiff, Besatzung und Fahrgästen möglich ist. Rein tatsächlich ist die Nothilfe der Marine somit auf die Abwehr der angreifenden Piraten reduziert, ohne sie verfolgen oder zum Zwecke der Strafverfolgung festnehmen zu können70. Außerdem sind die strafprozessualen Befugnisse bei Festnahme, Vernehmung und Ermittlung nicht auf Marinesoldaten, sondern Beamte des Polizeidienstes zugeschnitten71. Beim Versuch des Aufbaus einer „stellvertretenden Strafverfolgung“ – zur Schließung der Strafverfolgungslücke – ergeben sich daraus entweder schwierige Kooperationsmodelle mit anderen Staaten wie z. B. Kenia und den Seychellen oder aber Pro-
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Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 215 FN 173; deshalb wird die Einsatzmöglichkeit von Spezialkräften der Bundeswehr im Ausland überschätzt (so aber Brinkmann zit. in Möllers, JBÖS 2008/2009, 661, 668). 68 Braun/Plate, DÖV 2010, 203, 209. 69 Einzelheiten vgl. Stehr, JBÖS 2006/2007, 569, 585 ff. 70 Schiedermair, AöR 135 (2010), 185, 214 ff. 71 Esser/Fischer, JR 2010, 513, 519.
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bleme wegen drohender Grundrechts- und Menschenrechtsverstöße wegen zu langer Festnahmezeiten ohne richterliche Entscheidung72. b) Begrenzungsgebot statt Trennungsgebot beim Einsatz von Bundeswehr und Polizei Nach den voranstehenden Erörterungen sind sowohl die Bundesmarine als auch die Bundespolizei nach jeweils getrennten rechtlichen Regimes zur Bekämpfung der Piraterie befugt. Allerdings wird einem gemeinsamen Einsatz ein aus Art. 87a Abs. 2 GG abgeleitetes Trennungsgebot entgegen gehalten. Nach dieser Auffassung darf die Bundeswehr nicht zu Polizeimaßnahmen herangezogen werden73. Fraglich ist allerdings, ob von einem generellen „Trennungsgebot“ in diesem Zusammenhang ausgegangen werden kann, oder ob der betroffene Sachverhalt nicht mit einem anderen Rechtsbegriff besser zu erklären ist. Ein verfassungsrechtlich begründetes Trennungsgebot für behördliches Handeln hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen gesehen, ohne dass es zu einem allgemeinen Dogma ernannt wurde. Bekannt ist der Fall eines – aus Verfassungsgründen notwendigen – einzelgesetzlichen Trennungsgebotes in § 15 Abs. 1 VZG 198774. Das Rechtsstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und der Schutz der Grundrechte können es verbieten, bestimmte Behörden miteinander zu verschmelzen oder sie mit Aufgaben zu befassen, die mit ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung nicht vereinbar sind. Anerkannt hat das Bundesverfassungsgericht vor diesem Hintergrund ein Trennungsgebot für einen Teil der in Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen sonderpolizeilichen Behörden des Bundes. So dürfen die Zentralstellen für Zwecke des Verfassungsschutzes oder des Nachrichtendienstes – angesichts deren andersartiger Aufgaben und Befugnisse – nicht mit einer Vollzugspolizeibehörde zusammengelegt werden75. Diese Fälle des Trennungsgebotes sind in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts speziell und nicht verallgemeinerungsfähig hinsichtlich des Verhältnisses sämtlicher deutscher Sicherheitsbehörden zueinander. Die Aussage, „aus diesem Trennungsgebot, das die Etablierung eines Staatssicherheitsdienstes mit Universalzuständigkeit verhindern soll, ergibt sich, dass polizeiliche Maßnahmen durch die Polizei und militärische Maßnahmen durch das Militär ausgeführt werden müssen“76, ist deshalb unzutreffend.
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Esser/Fischer, JR 2010, 513, 514 ff. Fischer-Lescano, NordÖR 2009, 49, 54; Fischer-Lescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243, 1246; Braun/Plate, DÖV 2010, 203, 208. 74 BVerfG, NJW 1987, 2805 Rn. 9. 75 Vgl. schon „Polizeibrief“ der westalliierten Militärgouverneure vom 14. 4. 1949 (BVerfGE 97, 198 Rn. 79 m.w.N.). 76 Fischer-Lescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243, 1246. 73
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Art. 87a Abs. 2 GG lässt sich zwar ein Begrenzungsgebot für den Einsatz der Bundeswehr u. a. zu polizeilichen Zwecken entnehmen, aber keinesfalls ein Trennungsgebot für ihren Einsatz zusammen mit der Polizei. Dies ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach werden vom Bund nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG Streitkräfte zur Verteidigung aufgestellt. Zu anderen Zwecken („Außer zur Verteidigung“) dürfen sie gemäß Art. 87a Abs. 2 GG nur eingesetzt werden, soweit es das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. Diese Regelung, die im Zuge der Einfügung der Notstandsverfassung in das Grundgesetz durch das Siebzehnte Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. 6. 1968 (BGBl I S. 709) geschaffen worden ist, soll verhindern, dass für die Verwendung der Streitkräfte als Mittel der vollziehenden Gewalt „ungeschriebene … Zuständigkeiten aus der Natur der Sache“ abgeleitet werden77. Maßgeblich für die Auslegung und Anwendung des Art. 87a Abs. 2 GG ist daher das Ziel, die Möglichkeiten für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern durch das Gebot strikter Texttreue zu begrenzen78. Und diese Begrenzung setzt sich bei der Auslegung von Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG fort, wo es um den Einsatz der Streitkräfte bei einer Naturkatastrophe oder einem besonders schweren Unglücksfall geht. Die Ausrichtung auf diese Aufgabe im Zuständigkeitsbereich der Gefahrenabwehrbehörden der Länder bestimmt notwendig auch die Art der Hilfsmittel, die beim Einsatz der Streitkräfte zum Zweck der Hilfeleistung verwandt werden dürfen. Sie können nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass die Streitkräfte, wenn sie nach Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG auf Anforderung eines Landes „zur Hilfe“ eingesetzt werden, zwar die Waffen verwenden dürfen, die das Recht des betreffenden Landes für dessen Polizeikräfte vorsieht. Militärische Kampfmittel, beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, dürfen dagegen nicht zum Einsatz gebracht werden79. Dies wird durch die Entstehungsgeschichte von Art. 35 GG bestätigt, wonach die Streitkräfte aber nach dem ausdrücklichen Wortlaut einer ursprünglich beabsichtigten Regelung lediglich „als Polizeikräfte“ zur Verfügung gestellt werden sollten können. Die Bundesregierung wollte auf diese Weise sicherstellen, dass die Streitkräfte allein für polizeiliche Aufgaben und nur mit den polizeirechtlich vorgesehenen Befugnissen gegenüber dem Staatsbürger eingesetzt werden können80. Das schließt die Aussage ein, dass die Verwendung spezifisch militärischer Bewaffnung beim Einsatz der Streitkräfte im Aufgabenbereich der Länder ausgeschlossen sein sollte81. Das Begrenzungsgebot bei der polizeilichen Verwendung der Bundeswehr gilt nicht nur für das Verhältnis zu den Länderpolizeien, sondern auch zur Bundespolizei. Sie darf in diesen Fällen nicht mit militärischen Waffen Polizeiaufgaben verrichten, 77 So der Bundestagsrechtsausschuss in seinem Schriftlichen Bericht zum Entwurf einer Notstandsverfassung, BTDrucks V/2873, S. 13. 78 BVerfGE 115, 118 Rn. 90 unter Hinweis auf BVerfGE 90, 286, 356 f. 79 BVerfGE 115, 118 Rn. 104. 80 Vgl. BT-Drucks V/1879, S. 23 zu Art. 91 Abs. 2. 81 BVerfGE 115, 118 Rn. 105.
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und zwar auch im Auslandseinsatz. Zu Recht wird – gerade von den Befürwortern eines Trennungsgebotes – auf bereits vorhandene Einsatzfälle der Bundeswehr mit wiederkehrenden Überschneidungen und Mischmandaten seitens der VN und der EU zwischen beiden Bereichen hingewiesen82. Aus deutschem Verfassungsrecht folgt allerdings, dass bei Polizeieinsätzen unter gemischter Verwendung von Soldaten und Polizeibeamten nur polizeiliche Bewaffnung verwendet werden darf. Es schließt aber nicht die Möglichkeit von gemischten Einsätzen an sich aus. c) „Materialleihe“ statt „Trennungsgebot“ Im Falle der versuchten Befreiung der Hansa Stavanger war das Kommando der GSG 9 von dem US-amerikanischen Hubschrauberträger USS Boxer als Operationsplattform aus gestartet. Dem Vernehmen nach wurde die Aktion abgebrochen, weil die eingetretenen Bedingungen an Bord des gekaperten Schiffes als zu riskant angesehen wurden83. Dennoch erscheint das Modell der gewählten Vorgehensweise als ausbaufähig, um die vorgeschlagene Optimierung beim Einsatz der deutschen Sicherheitskräfte zu erreichen. Es wurden nämlich militärische und polizeiliche Fähigkeiten kombiniert. Für den Einsatz von dem amerikanischen Marineschiff aus vorgesehen waren nicht Soldaten der KSK der Bundeswehr, sondern Polizeibeamte der GSG 9 der Bundespolizei. Es ist zu erwägen, ob die entsprechende Verbindung auch unter rein deutscher Beteiligung rechtlich zulässig wäre, wenn nämlich ein Schiff der Bundesmarine als Plattform für eine Operation der Bundespolizei dienen würde, wobei allerdings die militärischen Bewaffnung nicht eingesetzt würde. Im Grundgesetz, dem einfachen Recht und in der langjährigen Verwaltungspraxis der Sicherheitsbehörden finden sich sogar schwerwiegendere Beispiele der Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden, an die angeknüpft werden kann. Der Bundesverfassung sind Fälle der Unterstellung polizeilicher Fähigkeiten unter wechselnde Befehlshoheit im Fall von Gefahren für den Bestand des Bundes oder der Länder bekannt (Art. 91 GG). Entsprechende Regelungen bestehen in den Art. 115 f und 115i GG für den Verteidigungsfall. § 7 BPolG vollzieht dies einfachgesetzlich nach. Es geht also beim gemeinsamen Einsatz von unterschiedlichen Polizeien in Notstandsfällen nicht um „Trennung“, sondern um gesetzesgebundene „Verbindung“. Der Küstenwache des Bundes stehen für die Luftüberwachung bis zu sieben Hubschrauber der BPol und zwei Flugzeuge vom Typ Dornier DO-228 zur Verfügung, die im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) von Besatzungen der Bundeswehr – verantwortlich ist das Marinefliegergeschwader drei – geflogen werden und zum Aufspüren von Gewässerverschmutzungen – insbesondere Ölverschmutzungen – in der Nord- und Ostsee eingesetzt werden84. Soweit man sich am Vorbild der Einsatzhilfe durch das US-Schiff „USS Boxer“ orientiert, 82 83 84
Fischer-Lescano/Tohidipur, NJW 2009, 1243, 1246. Glawe, NZWehrR 2009, 221, 224. Schütte, Die Polizei 2003, 8, 10.
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käme im Verhältnis von Bundesmarine und Bundespolizei schlichte Amtshilfe in Betracht. D.h. die in einem Hochseegebiet eingesetzte Bundesmarine würde der mit einem Einsatz gegen Piraten beauftragten Bundespolizei im Wege der Amtshilfe Platz auf einem ihrer Schiffe einräumen und diese ggfs. mit nichtmilitärischen Waffen unterstützen. Dazu könnten auch Hubschrauber gehören, sofern sie keinen militärischen Einsatz fliegen. Denkbar wäre aber auch, dass die Bundespolizei von vornherein eigene Infrastrukturteile auf solchen Schiffen der Bundesmarine vorhält, auf die im Bedarfsfall zurückgegriffen werden könnte. Angesichts der Größe und Dauer der Operation Atalanta, der Vielzahl der beteiligten Staaten und insbesondere des betriebenen Aufwandes an technischen Mitteln, Schiffen und eingesetzten Soldaten wird in Zukunft zusätzlich aus Gründen des Strafverfahrensrechts zu überlegen sein, der Mission einen justiziellen Unterbau zu geben, z. B. einen richterlichen Bereitschaftsdienst, der entweder eingeschifft oder an verschiedenen Orten an Land in der Umgebung des mandatierten Seegebiets stationiert ist, so dass ein Richter innerhalb der durch die EMRK bzw. durch das GG vorgegebenen Fristen erreicht werden kann. Je länger der Einsatz dauert, desto höher dürften die vor dem EGMR zu überwindenden Hürden für die Annahme einer die Überschreitung der Höchstfristen rechtfertigenden Sondersituation werden85. Es geht also nicht um einen Fall der „Organleihe“, sondern der „Materialleihe“.
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Esser/Fischer, JR 2010, 513, 526.
Zur Gefahrenabwehr bei Gefahrguttransporten Von Klaus Grupp Dass es nach der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 mit der Wirtschaft schon alsbald wieder aufwärts ging, war – wie man im August 2010 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ entnehmen konnte – „auf deutschen Autobahnen zu besichtigen. Die Lastwagen sind zurück.“1 Nach einer Phase der Schrumpfung hat der Güterkraftverkehr auf dem deutschen Straßennetz wieder zugenommen und es ist wahrscheinlich, dass er noch weiter wachsen wird. Allein mit den in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen betrug er bereits im Jahr 2003 (für das noch detaillierte statistische Angaben vorliegen) mehr als 229 Mio. Fahrten mit Ladung2 ; hinzu kommt eine überaus große Zahl ausländischer Lastkraftfahrzeuge3, weil die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer geografischen Lage eines der wichtigsten Transitländer für den Straßenverkehr innerhalb der Europäischen Union ist. Inzwischen werden für jeden Bundesbürger mehr als 45 Tonnen Fracht jährlich bewegt4, ein Teil davon in einer Form, deren amtliche Bezeichnung bereits erkennen lässt, dass sie in nicht geringem Maße risikobehaftet sind – Gefahrguttransporte, deren Gefährlichkeit Anlass zu Überlegungen gibt, wie Schäden verhindert werden können. I. Tatsächliche Voraussetzungen Vom gesamten Straßen-Güterkraftverkehr sind zwar nur ca. 4 % Gefahrguttransporte, aber auch das waren im Jahr 2003 schon rd. 8,7 Mio. Fahrten5 mit einer Ladung, die bei einem Verkehrsunfall mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zu einem größeren Schaden hätte führen können, angefangen bei den vielfach sehr erheblichen Verkehrsstörungen, die nach Unfällen bei dem Transport gefährlicher Güter auftreten, bis hin zu möglichen negativen Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Allerdings war die Zahl der Straßenverkehrsunfälle mit Personenschaden, an denen Gefahrgüter1
Bünder, Die Lastwagen sind zurück, FAZ vom 9. August 2010, S. 9. Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), 5. Lagebild Gefahrgut, Juli 2005, S. 41 (Anlage zu Kapitel 1, Bild 1). 3 Insoweit sind statistische Angaben nicht zugänglich, doch lässt schon das Ergebnis der auf der Straße durchgeführten Kontrollen von Gefahrguttransporten eine Zunahme ausländischer Fahrzeuge erkennen (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 24). 4 Bünder (Fußn. 1), aaO. 5 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 41 (Anlage zu Kapitel 1, Bild 1). 2
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Kraftfahrzeuge beteiligt waren, mit 218 im Jahre 20036 vergleichsweise gering, und an Unfällen mit schwerwiegendem Sachschaden waren in jenem Jahr nur 97 Gefahrgüterfahrzeuge beteiligt7; zudem waren lediglich in 51,2 % dieser Unfälle die Gefahrgut-Fahrzeuge Hauptverursacher des Schadens8. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass nach einem schweren Gefahrgutunfall in Herborn im Sommer 1987 unterschiedliche Maßnahmen getroffen wurden, um die nachteiligen Folgen eines Unfalls bei dem Transport gefährlicher Güter zu verringern9, beispielsweise – die Einführung eines zusätzlichen Schutzes bei Tankfahrzeugen (wie Ausrüstung des Tanks mit Verstärkungselementen, z. B. inneren Trennwänden), – Maßnahmen zur Erhöhung der Kippsicherheit von Tankkraftfahrzeugen, – die Einführung fahrzeugtechnischer Anforderungen für Tankfahrzeuge im Bereich der Bremsen (Retarder und automatischer Bremsnachsteller) sowie – die Einführung von Geschwindigkeitsbegrenzern; darüber hinaus wurden etwa die Anforderungen an die Schulung und Prüfung der Fahrzeugführer verschärft sowie die Bestimmungen über die Kontrollen von Gefahrguttransporten auf der Straße verbessert und auch die Häufigkeit dieser Kontrollen wurde erhöht10. Dennoch geschehen immer wieder Unfälle von Gefahrguttransportern, die weniger auf technischen Mängeln als vielmehr auf fehlerhaftem Verhalten der Fahrzeugführer beruhen, indes zumindest erhebliche Folgen für den Verkehrsfluss auf den jeweiligen Straßen nach sich ziehen: Insbesondere die Missachtung von Abstandsvorschriften und die Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit führen teilweise zu schweren Unfällen11. Angesichts dessen liegt die – in Teilen der Straßenverkehrsverwaltung angestellte – Erwägung nahe, die derzeit vorhandenen technischen Möglichkeiten einer Überwachung des Fahrzeugführer-Verhaltens zu nutzen, um derartigen Unfällen vorzubeugen und damit in einem speziellen Bereich zur Gefahrenabwehr – mit deren rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen Wolf-Rüdiger Schenke sich noch
6 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 9. 7 Ebd. 8 Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 50 Bild 11. 9 Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 37. 10 So wurden im Jahr 2009 bei Straßenkontrollen nahezu 26.000 Fahrzeuge überprüft und dabei in knapp 10 % aller Fälle Mängel und Verstöße festgestellt (vgl. Bundesamt für Güterverkehr, Kontrollstatistik. Detaillierte Ergebnisse aus dem Bereich Gefahrgut (http:// www.bag.bund.de/cln_010/DE/Navigation/Verkehrsaufgaben/Statistik/Kontrollstatistik/details_gefahrgut.html). 11 Siehe auch Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Güterverkehr (Hrsg.), aaO, S. 50 Bild 11.
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in neuerer Zeit grundlegend befasst hat12 – durch telematische Begleitung der Fahrzeuge beizutragen. Der Nutzfahrzeugbereich bietet bereits seit einigen Jahren ausgereifte Techniken zur Bereitstellung von Informationen über die aktuelle Position und die gefahrene Route. Technisch möglich ist außerdem die Erschließung von Daten der so genannten Fahrerassistenzsysteme. Beispielsweise wird über „Adaptive Cruise Control (ACC)“ auf der Grundlage von Messdaten der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug konstant gehalten; die derzeit gegebenen Möglichkeiten reichen von der dauernden Kontrolle der Geschwindigkeit bis zur externen Überwachung des Reifendrucks; darüber hinaus ermöglicht eine Kombination des satellitengesteuerten Global Positioning System (GPS) mit dem Mobilfunkstandard GSM (Global Systems of Mobile Communications) die jederzeitige Lokalisierung eines Fahrzeugs13. Würden etwa die relevanten Daten über das Fahrverhalten des Fahrzeugführers nicht lediglich diesem oder dem jeweiligen Transportunternehmen, sondern zugleich z. B. der Verkehrspolizei unmittelbar übermittelt, könnte evtl. eingegriffen werden, um konkrete Gefahrensituationen zu entschärfen; vor allem aber würde die Kenntnis des Fahrzeugführers von der Übermittlung der Daten an die Polizei zweifellos präventive Wirkung entfalten, indem sie ihn zu einem verkehrsgerechten Verhalten veranlassen würde. Freilich existieren schon in größerem Umfang Vorschriften für die Kontrolle von Gefahrguttransporten, so dass zunächst zu überprüfen ist, ob und inwieweit hiernach eine Übermittlung der maßgeblichen Daten in Betracht käme oder die bestehenden Bestimmungen ergänzt werden müssten; insoweit bleibt indessen zu berücksichtigen, dass eine derartige telematische Begleitung der Gefahrguttransporte im Hinblick auf den Datenschutz bedenklich sein könnte. II. Die geltenden Rechtsgrundlagen Der Transport gefährlicher Güter auf der Straße unterliegt schon seit mehreren Jahrzehnten einer teilweise eingehenden Regulierung mit dem Ziel, die Sicherheit der Beförderung zu erhöhen. Die Bestimmungen über den Transport gefährlicher Güter sind sehr unterschiedlicher Natur – es handelt sich um völkerrechtliche ebenso wie um europarechtliche und nationale Normen. In den einschlägigen Vorschriften sind zwar teilweise weitgehende Kontrollen vorgesehen, aber sie enthalten jedenfalls keine ausdrückliche Ermächtigung zur telematischen Begleitung von Gefahrguttransporten. 1. Überstaatliches Recht Die Bundesrepublik Deutschland ist Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße 12 Vgl. nur sein beeindruckendes Lehrbuch zum Polizei- und Ordnungsrecht, das in 6. Auflage 2009 erschienen ist. 13 Vgl. Weichert, DuD 1996, 77 (78).
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(ADR) vom 30. September 195714, dessen Regeln weitgehend die Grundlage für den Gefahrguttransport bilden. Dieser völkerrechtliche Vertrag besitzt innerstaatlich Gesetzeskraft und enthält in seinen Anlagen A („Allgemeine Vorschriften und Vorschriften für gefährliche Stoffe und Gegenstände“) und B („Vorschriften für Beförderungsmaterialien und für die Beförderung“) zum einen Beförderungsverbote für bestimmte gefährliche Güter und zum anderen Transportbedingungen für die im einzelnen benannten Gegenstände und Stoffe (u. a. explosive Stoffe, verdichtete Gase, entzündbare flüssige und feste sowie selbstentzündliche Stoffe, giftige und ansteckungsgefährliche Stoffe sowie radioaktive und ätzende Stoffe). Ausgehend von diesem Übereinkommen hatte der Rat der Europäischen Union die Richtlinie 94/55/EG vom 21. November 1994 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für den Gefahrguttransport auf der Straße15 erlassen, deren erklärtes Ziel es war, die Bedingungen für die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße innerhalb der Europäischen Union zu harmonisieren, weil durch die Zunahme des Gefahrgutverkehrs auf der Straße das Unfallrisiko größer geworden war; sie wurde mit Wirkung vom 1. Juli 2009 durch die Richtlinie 2008/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 2008 über die Beförderung gefährlicher Güter im Binnenland16 ersetzt u. a. aus der Erwägung, dass von der Beförderung gefährlicher Güter eine erhebliche Unfallgefahr ausgeht und daher Maßnahmen getroffen werden sollten, um zu gewährleisten, dass diese Beförderungen unter den bestmöglichen Sicherheitsbedingungen erfolgen; zugleich sollte jeder Mitgliedstaat auch künftig das Recht haben, aus anderen Gründen als der Sicherheit der Beförderung, z. B. aus Gründen der nationalen Sicherheit oder des Umweltschutzes, die Beförderung gefährlicher Güter auf seinem Hoheitsgebiet zu regeln oder zu untersagen. Dementsprechend legt Art. 1 Abs. 5 fest: „Die Mitgliedstaaten können ausschließlich aus Gründen, die nicht mit der Sicherheit der Beförderung in Zusammenhang stehen, die Beförderung gefährlicher Güter in ihrem Hoheitsgebiet regeln oder untersagen.“
Darüber hinaus bestimmt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie indes ausdrücklich: „Die Mitgliedstaaten können aus Gründen der Sicherheit der Beförderung strengere Vorschriften, mit Ausnahme von Bauvorschriften, auf die innerstaatliche Beförderung gefährlicher Güter mit Fahrzeugen, Eisenbahnwagen und Binnenschiffen anwenden, die in ihrem Hoheitsgebiet zugelassen oder in Betrieb genommen werden.“
14 Zustimmungsgesetz vom 18. August 1969 (BGBl. II S. 1489); in Kraft getreten am 1. Januar 1970, nunmehr in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. November 2003 (BGBl. II S. 1743), zuletzt geändert nach Maßgabe der 21. ADR-Änderungsverordnung vom 7. Oktober 2010 (BGBl. II S. 1134). 15 ABl. L 319 vom 12. Dezember 1994, S. 7; zuletzt geändert durch Richtlinie 2003/28/EG der Kommission vom 7. April 2003 (ABl. L 90 vom 8. April 2003, S. 45). 16 ABl. L 260 vom 30. September 2008, S. 13, zuletzt geändert durch Richtlinie 2010/61/ EU der Kommission vom 2. September 2010 (ABl. L 233 vom 2. September 2010, S. 27).
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In der Anlage I zu dieser Richtlinie wird das Europäische Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR) für anwendbar erklärt, in dessen Anlage AVorschriften über die gefährlichen Stoffe und Gegenstände statuiert sind, insbesondere welche gefährlichen Güter von der internationalen Beförderung auf der Straße ausgeschlossen und welche unter bestimmten Bedingungen zugelassen sind; in dessen Anlage B sind Bestimmungen für die Beförderungsmittel und die Beförderung aufgenommen. Ergänzend zu den materiellen Regelungen hat der Rat der Europäischen Union die Richtlinie 95/50/EG des Rates vom 6. Oktober 1995 über einheitliche Verfahren für die Kontrolle von Gefahrguttransporten auf der Straße17 erlassen, um durch eine Harmonisierung der Kontrollverfahren die Überprüfung der Einhaltung der in den Gefahrguttransport-Richtlinien enthaltenen Sicherheitsvorschriften wirksamer zu gestalten. Nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie gilt sie „für Kontrollen der Mitgliedstaaten von Gefahrguttransporten auf der Straße, die mit Fahrzeugen durchgeführt werden, die in ihrem Gebiet am Straßenverkehr teilnehmen oder aus einem Drittland in ihr Gebiet einfahren“.
Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, „daß ein repräsentativer Anteil der Gefahrguttransporte auf der Straße den in dieser Richtlinie vorgesehenen Kontrollen unterzogen wird, um zu überprüfen, ob die Vorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße eingehalten werden“;
die Kontrollen werden nach Art. 4 Abs. 2 „im Stichprobenverfahren durchgeführt“ und dürfen, wie Art. 4 Abs. 5 festlegt, „eine angemessene Zeitdauer nicht überschreiten“. Eine Abweichung von diesen einheitlichen Bestimmungen ist nach Art. 1 Abs. 2 nur möglich bei Gefahrguttransporten mit Fahrzeugen, die nicht unter diese Richtlinie fallen18. 2. Nationales Recht Schon vor dem Erlass der Richtlinien der Europäischen Union hatte der Bundesgesetzgeber das Gesetz über die Beförderung gefährlicher Güter (Gefahrgutbeförderungsgesetz – GGBefG)19 beschlossen, das in der Folgezeit zugleich der Umsetzung der europäischen Richtlinien dient und nach seinem § 1 Abs. 1 Satz 1 auch für die 17
ABl. EG Nr. L 249 vom 17. Oktober 1995, S. 35, zuletzt geändert durch Richtlinie 2008/ 54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 (ABl. Nr. L 162 vom 21. Juni 2008, S. 11). 18 Die Richtlinie findet nach ihrem Art. 2 Anwendung auf „jedes zur Teilnahme am Straßenverkehr bestimmte vollständige oder unvollständige Kraftfahrzeug mit mindestens vier Rädern und einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von mehr als 25 km/h sowie seine Anhänger, mit Ausnahme von Schienenfahrzeugen, land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen sowie allen Arbeitsmaschinen“. 19 Vom 6. August 1975 (BGBl. I S. 2121); neu gefasst durch Bekanntmachung vom 7. Juli 2009 (BGBl. I S. 1774, 3975).
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Beförderung gefährlicher Güter mit Straßenfahrzeugen gilt. Durch § 3 Abs. 1 Satz 1 dieses Gesetzes wird das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung u. a. ermächtigt, „mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften über die Beförderung gefährlicher Güter zu erlassen, insbesondere über 4. die Beförderungsbehältnisse und die Fahrzeuge, einschließlich deren a) Bau, Beschaffenheit, Ausrüstung, Prüfung und Kennzeichnung, 5. das Verhalten während der Beförderung, 6. die Auskunfts-, Aufzeichnungs- und Anzeigepflichten, 7. …
soweit dies zum Schutz gegen die von der Beförderung gefährlicher Güter ausgehenden Gefahren und erheblichen Belästigungen erforderlich ist.“ Darüber hinaus sieht § 3 Abs. 2 Satz 1 GGBefG vor: „Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften nach Absatz 1 können auch zur Durchführung oder Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften und zur Erfüllung von Verpflichtungen aus zwischenstaatlichen Vereinbarungen erlassen werden.“ Nach Absatz 1 des § 9 GGBefG unterliegt die Beförderung gefährlicher Güter der Überwachung durch die zuständigen Behörden und Absatz 2 Satz 1 dieser Norm schreibt vor: „Die für die Beförderung gefährlicher Güter Verantwortlichen … haben den für die Überwachung zuständigen Behörden und deren Beauftragten die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Auskünfte unverzüglich zu erteilen.“ Aufgrund der Ermächtigung im Gefahrgutbeförderungsgesetz hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung u. a. zur Umsetzung der Richtlinie 2008/68/EG die Verordnung über die innerstaatliche und grenzüberschreitende Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, mit Eisenbahnen und auf Binnengewässern (Gefahrgutverordnung Straße, Eisenbahn und Binnenschifffahrt – GGVSEB)20 erlassen, die nicht nur in ihrem § 1 Abs. 3 Nr. 1 und 2 die Geltung der Anlagen A und B zu dem Europäischen Übereinkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR) vom 30. September 1957 anordnet, sondern in § 3 generell festlegt, welche gefährlichen Güter überhaupt befördert werden dürfen. Darüber hinaus schreibt § 4 Abs. 1 Satz 1 GGVSEB auch für die Unternehmen, die gefährliche Güter befördern, vor: „Die an der Beförderung gefährlicher Güter Beteiligten haben die nach Art und Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um Schadensfälle zu verhindern und bei Eintritt eines Schadens dessen Umfang so gering wie möglich zu halten.“ Weiterhin ist in § 35 Abs. 2 GGVSEB bestimmt, dass gefährliche Güter grundsätzlich auf Autobahnen zu befördern sind, sofern nicht deren Benutzung (1.) unzumutbar ist, insbesondere wenn die Entfernung bei Benutzung der Autobahn mindestens dop20 Vom 17. Juni 2009 BGBl. I S. 1389 (Nr. 33); zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. August 2010 (BGBl. I S. 1139).
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pelt so groß ist wie die Entfernung bei Benutzung anderer geeigneter Straßen, oder (2.) nach den Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung oder der Ferienreiseverordnung ausgeschlossen oder beschränkt ist. Die Straßenverkehrs-Ordnung21 sieht in § 41 die Anordnung eines Verbots der Benutzung von Straßen für kennzeichnungspflichtige Kraftfahrzeuge mit gefährlichen Gütern durch Zeichen 261 vor und lässt weiterhin ein Benutzungsverbot für Fahrzeuge mit wassergefährdender Ladung durch Zeichen 269 zu. Im Übrigen verpflichtet § 2 Abs. 3a StVO die Führer kennzeichnungspflichtiger Kraftfahrzeuge mit gefährlichen Gütern bei einer Sichtweite unter 50 m, bei Schneeglätte oder Glatteis jede Gefährdung anderer auszuschließen und, wenn nötig, den nächsten geeigneten Platz zum Parken aufzusuchen. Schließlich enthält die Ferienreiseverordnung22 ein Verkehrsverbot für Lastkraftwagen mit einem zulässigen Gesamtgewicht über 7,5 Tonnen sowie Anhänger hinter Lastkraftwagen auf – erfahrungsgemäß stark genutzten – Abschnitten von Autobahnen und Bundesstraßen in nahezu sämtlichen Bundesländern an allen Samstagen vom 1. Juli bis 31. August jeden Jahres jeweils in der Zeit von 7.00 Uhr bis 20.00 Uhr; diese Regelung schließt selbstverständlich auch Gefahrguttransporte ein. Ergänzend statuiert § 35 Abs. 3 GGVSEB: „Der Fahrweg außerhalb der Autobahnen wird von der Straßenverkehrsbehörde für eine einzelne Fahrt oder bei vergleichbaren Sachverhalten für eine begrenzte oder unbegrenzte Zahl von Fahrten innerhalb einer bestimmten Zeit von höchstens drei Jahren schriftlich bestimmt. Die Fahrwegbestimmung kann auch durch Allgemeinverfügung erfolgen, die öffentlich und auch ohne Befristung bekannt gegeben werden kann. Bei Sperrungen dürfen die ausgewiesenen Umleitungsstrecken ohne Fahrwegbestimmung benutzt werden. Die Fahrwegbestimmung ist vom Beförderer, Absender, Verlader, Befüller oder Empfänger bei den zuständigen Straßenverkehrsbehörden zu beantragen. Der Beförderer darf die gefährlichen Güter nur befördern, wenn eine Fahrwegbestimmung erteilt ist. Er hat dafür zu sorgen, dass der Bescheid über die Fahrwegbestimmung dem Fahrzeugführer vor Beförderungsbeginn übergeben wird. Der Fahrzeugführer muss die Fahrwegbestimmung beachten und sie während der Beförderung mitführen und zuständigen Personen auf Verlangen zur Prüfung aushändigen.“ Neben diesen Vorschriften gilt selbstverständlich subsidiär das allgemeine Gefahrenabwehrrecht der Länder, das den Gefahrenabwehr- und Polizeibehörden die Aufgabe zuweist, Gefahren für die öffentliche Sicherheit (oder Ordnung) abzuwehren, und sie in seiner Generalklausel damit auch ermächtigt, bei Verkehrsunfällen von Gefahrguttransporten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. 21
Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) vom 16. November 1970 (BGBL. I S. 1565, berichtigt BGBl. I 1971 S. 38), zuletzt geändert durch Verordnung vom 1. Dezember 2010 (BGBl. S. 1737). 22 Verordnung zur Erleichterung des Ferienreiseverkehrs auf der Straße (Ferienreiseverordnung) vom 13. Mai 1985 (BGBl. I S. 774), zuletzt geändert durch Verordnung vom 5. August 2009 (BGBl. I S. 2631).
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Zur Umsetzung der Richtlinie 95/50/EG ist auf der Grundlage von § 3 Abs. 1 GGBefG eine Verordnung über die Kontrollen von Gefahrguttransporten auf der Straße und in den Unternehmen (GGKontrollV)23 ergangen, die für Kontrollen auf der Straße in § 3 Abs. 1 Satz 1 anordnet: „Die oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte oder nach Landesrecht zuständige Stelle stellt sicher, dass in ihrem Gebiet ein repräsentativer Anteil der Gefahrguttransporte auf der Straße den in dieser Verordnung vorgesehenen Kontrollen unterzogen wird, um zu überprüfen, ob die Vorschriften für die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße eingehalten werden.“ Um dies zu erreichen, werden regelmäßig Kontrollen durchgeführt, allerdings nicht umfassend, sondern nach § 3 Abs. 4 Satz 1 GGKontrollV – entsprechend der Vorgabe in Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 95/50/EG – im Stichprobenverfahren. III. Genehmigungserfordernisse und -erteilungspraxis Die Beförderung gefährlicher Güter erfordert nach den einschlägigen Vorschriften in großem Umfang spezifische Genehmigungen, die indes nicht unmittelbar den Transport betreffen, sondern in erster Linie die zu befördernden Gegenstände oder Stoffe. Im vorliegenden Zusammenhang sind lediglich die Fahrwegbestimmungen nach § 35 Abs. 3 GGVSEB bedeutsam, aufgrund deren gefährliche Güter auch auf anderen Straßen als Autobahnen befördert werden dürfen. Die Genehmigung von Gefahrguttransporten außerhalb der Autobahnen durch die zuständigen Straßenverkehrsbehörden ist unumgänglich angesichts der Tatsache, dass weder die Transportunternehmer noch die Absender gefährlicher Gegenstände und Stoffe noch deren Empfänger über eine unmittelbare Zufahrt zur Autobahn verfügen und deshalb nicht auf die Benutzung anderer Straßen als Autobahnen verzichten können. Diese Genehmigungen können, je nach Lage des Einzelfalles, für einmalige ebenso wie für regelmäßig wiederkehrende Fahrten erteilt werden, wobei eine Befristung vorgesehen ist und die Geltungsdauer höchstens drei Jahre betragen darf, doch können Fahrwege auch auf bestimmte Straßen bezogen unbefristet durch Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz 2 VwVfG im Wege öffentlicher Bekanntmachung nach § 41 Abs. 4 VwVfG festgelegt werden (beispielsweise um die zu benutzenden Straßen zwischen einer Autobahn-Anschlussstelle und einem Chemieunternehmen unabhängig von einzelnen Transportunternehmen generell zu bestimmen); in der Praxis wird von diesen unterschiedlichen Möglichkeiten durchaus Gebrauch gemacht. IV. Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge Wie sich aus den spezifischen Regelungen über den Gefahrguttransport auf der Straße ergibt, soll damit ganz überwiegend Gefahren vorgebeugt werden, die abstrakt 23 Vom 27. Mai 1997 (BGBl. I S. 1306) in der Fassung der Bekanntmachung vom 26. Oktober 2005 (BGBl. I S. 3104) und geändert durch Verordnung vom 31. 10. 2006 BGBl. I S. 2407).
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von gefährlichen Gütern generell und ihrer Beförderung auf öffentlichen Straßen ausgehen, selbst wenn die Fahrzeugführer sich verkehrsgerecht verhalten. Wird indes berücksichtigt, dass nicht unerhebliche Schäden durch verkehrswidriges Verhalten verursacht werden können, so wird eine Lücke bei der Gefahrenabwehr erkennbar: Zwar genügt die polizeiliche Generalklausel als rechtliche Grundlage für die Abwehr konkreter Gefahren, es fehlt aber an hinreichenden Möglichkeiten, tatsächlich bestehende Gefahrensituationen rechzeitig zu erkennen und einen momentan noch nicht unmittelbar drohenden Schadenseintritt wirksam zu verhindern, Eine telematische Begleitung von Gefahrguttransporten könnte hingegen ein verkehrswidriges, insbesondere gegen die einschlägigen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften verstoßendes Verhalten der Fahrzeugführer erfassen und damit präventive Wirkung entfalten: Der Fahrzeugführer, dessen Verhalten bei der Beförderung gefährlicher Gegenstände und Stoffe überwacht wird, dürfte aller Voraussicht nach jedenfalls insoweit die Straßenverkehrsbestimmungen (d. h. die Abstands- und Geschwindigkeitsvorschriften) einhalten, als dies ständig kontrolliert wird. Die telematische Begleitung könnte sich so als ein Mittel erweisen, mit dem das Entstehen abstrakter Gefahren bei Gefahrguttransporten zumindest verringert werden kann. Als mögliche Maßnahmen zur Gefahrenvorsorge24 unter Nutzung der Telematik käme nach dem gegenwärtigen Stand der Technik wohl vor allem die Überwachung der Geschwindigkeit und des Abstandes zum voranfahrenden Fahrzeug sowie der Beachtung geltender Verkehrsverbote in Betracht; darüber hinaus könnte auch die Übermittlung der Information über Druckverlust in den Reifen geeignet sein, etwaigen Unfällen vorzubeugen. Die einschlägigen Daten, die derzeit im Rahmen von Fahrerassistenzsystemen den Fahrzeugführern – und u. U. auch den Unternehmen, für die sie tätig sind – zur Verfügung stehen, müssten unmittelbar, d. h. zeitgleich, und uneingeschränkt, d. h. ohne dass die Betroffenen darauf Einfluss nehmen könnten, der Verkehrspolizei oder einer anderen für zuständig erklärten Behörde dauernd übermittelt werden, damit gefährliche Situation sofort erkennbar sind und konkrete Gefahren noch wirksam vereitelt werden können, bevor ein Schaden eintritt. Voraussetzung für diese Form der telematischen Begleitung von Gefahrguttransporten ist zum einen, dass die relevanten Daten von den Gefahrguttransport-Fahrzeugen direkt an die Verkehrspolizei oder eine sonst für zuständig erklärte Stelle übermittelt werden, und zum anderen, dass die technischen Möglichkeiten geschaffen werden, ständig die übermittelten Daten zu empfangen und auszuwerten sowie bei Vorliegen einer gefährlichen Situation durch den sofortigen Einsatz von Streifenwagen der Verkehrspolizei, insbesondere der Autobahnpolizei, zu reagieren oder auf andere Weise die Fahrzeugführer zu warnen bzw. zu einem verkehrsgerechten Verhalten zu veranlassen. Das erfordert nicht nur die Einrichtung einer entsprechenden zentralen Stelle in jedem Bundesland und ihre technische Ausstattung, sondern auch und vor allem den Einbau von Datenübermittlungsgeräten in die Gefahrguttransport24 Sie gehört zur – staatlichen – Aufgabe der Gefahrenabwehr (so zutreffend auch Schenke (Fußn. 12), Rn. 10).
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Fahrzeuge. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Aufbau eines derartigen Systems telematischer Begleitung von Gefahrguttransporten – nicht in erster Linie, aber auch wegen der damit verbundenen Kosten für die technische Ausrüstung und das Personal in der zentralen, die Daten empfangenden Stelle – allein dann eine taugliche Gefahrenvorsorgemaßnahme darstellt, wenn prinzipiell sämtliche Fahrzeuge, die gefährliche Gegenstände oder Stoffe befördern, einbezogen werden. Das verlangt grundsätzlich die Ausrüstung aller Gefahrguttransport-Fahrzeuge mit einem Fahrerassistenzsystem und mit einer Vorrichtung zur Übermittlung der relevanten Daten an die zentrale Stelle. Schon die finanziellen Lasten, die den Haltern von Gefahrguttransport-Fahrzeugen hierdurch aufgebürdet würden, und mehr noch die Verpflichtung zur Übermittlung von Daten, die vor allem Auskunft über das Verkehrsverhalten der Fahrzeugführer geben, bieten Anlass zu der Prüfung, ob die telematische Überwachung von Gefahrguttransporten einer eigenen rechtlichen Grundlage bedarf. V. Rechtliche Grenzen einer telematischen Begleitung Während die Pflicht zur Datenübermittlung in erster Linie Fragen zur Vereinbarkeit mit nationalem Recht aufwirft, berührt die – faktisch vorrangige – Verpflichtung zur Schaffung der technischen Voraussetzungen für die Übermittlung der Daten insbesondere auch europarechtliche Normen. 1. Die Pflicht zur technischen Ausstattung von Gefahrguttransport-Fahrzeugen Da den mit der Beförderung von gefährlichen Gegenständen und Stoffen auf öffentlichen Straßen verbundenen Gefahren, die auf dem Verhalten der Fahrzeugführer beruhen, durch eine telematische Überwachung der Gefahrguttransporte nur effektiv vorgebeugt werden kann, wenn sämtliche in Betracht kommenden Fahrzeuge durch die Kontrolle erfasst werden, ist deren Ausstattung mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten unumgänglich. Anders als bei der Entrichtung der Autobahnmaut für schwere Nutzfahrzeuge, die außer durch ein automatisiertes System auch auf manuellem Wege erfolgen kann25, ist eine nicht automatisierte Übermittlung der relevanten Daten über das Fahrverhalten ausgeschlossen, zumal da die Überwachung nur wirksam sein kann, wenn die Daten fortlaufend übermittelt werden. 25
Vgl. §§ 4 f. der Verordnung zur Erhebung, zum Nachweis der ordnungsgemäßen Entrichtung und zur Erstattung der Maut (LKW-Maut-Verordnung – LKW-MautV) vom 24. Juni 2003 (BGBl. I S. 1003), geändert durch Verordnung vom 20. November 2008 (BGBl. I S. 2226) und ergangen auf der Grundlage von § 4 Abs. 3 Satz 3 des Gesetzes über die Erhebung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen (Autobahnmautgesetz für schwere Nutzfahrzeuge – ABMG) vom 5. April 2002 (BGBl: I S. 1234) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3122), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. Mai 2009 (BGBl. I S. 1170).
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a) Die Kollision mit europarechtlichen Bestimmungen Würde auf nationaler Ebene eine Rechtspflicht zur Ausstattung von Gefahrguttransport-Fahrzeugen mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten statuiert, so würde damit eine von der Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union abweichende Norm erlassen. Es besteht bisher keine gemeinschaftliche Rechtsvorschrift, die die telematische Überwachung von Gefahrguttransporten auf öffentlichen Straßen mit dem Ziel der Gefahrenvorsorge umfasst. Wegen der in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Sonderbestimmung wäre es ausländischen Gefahrguttransport-Fahrzeugen ohne die vorgeschriebene Ausrüstung verwehrt, das deutsche Straßennetz zu nutzen, und nicht entsprechend ausgestattete Fahrzeuge ausländischer Produktion könnten in Deutschland nur erschwert verkauft werden. Die divergierende Verpflichtung würde somit die ungehinderte Erbringung von Verkehrsdienstleistungen gemäß Art. 58 Abs. 1 i. V. m. Art. 90 ff. AEUV26 sowie den freien Verkehr von Waren i. S. v. Art. 28, 34 f. AEUV beeinträchtigen und daher gegen vorrangiges europäisches Recht verstoßen. Dem steht auch nicht entgegen, dass Art. 30 AEUV einschränkende Regelungen u. a. aus Gründen der öffentlichen Sicherheit sowie zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen zulässt; denn dies würde allenfalls die Beschränkung der Freiheit des Warenverkehrs rechtfertigen. Eine Pflicht zur Ausstattung von Gefahrguttransport-Fahrzeugen mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten würde jedoch in erster Linie die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs behindern, für den der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine Ausnahmeregelung enthält. Eine derartige rechtliche Verpflichtung müsste vielmehr eine Grundlage im Gemeinschaftsrecht finden, damit die Kohärenz mit anderen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft sowie eine ausreichende Harmonisierung gewährleistet wäre und auf diese Weise der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr so weit wie möglich erleichtert und zugleich die Sicherheit im innerstaatlichen ebenso wie im grenzüberschreitenden Verkehr gefördert würde. Darüber hinaus bleibt es den Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 4 Lit. a der Richtlinie 2008/68/EG nur erlaubt, Sicherheitsvorschriften über die innerstaatliche und grenzüberschreitende Beförderung gefährlicher Güter zu erlassen, soweit diese nicht von der Richtlinie erfasst sind. Im Übrigen bestimmt Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie, dass Regelungen zur Beförderung gefährlicher Güter durch die Mitgliedstaaten ausschließlich aus Gründen zulässig sind, die nicht mit der Sicherheit in Verbindung stehen, und Art. 5 Abs. 1 untersagt die Anwendung strengerer Bauvorschriften aus Gründen der Sicherheit für die Beförderung gefährlicher Güter mit Fahrzeugen in ihrem Hoheitsgebiet. 26
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vom 25. März 1957 (BGBl. II 1957 S. 766) in der Fassung des Vertrages von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 (BGBl. 1998 II S. 387 in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. April 1999 (BGBl. II S. 296)), zuletzt geändert durch Art. 2 Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 (ABl. Nr. C 306 S. 1, ber. ABl. 2008 Nr. C 111 S. 56 und ABl. 2009 Nr. C 290 S. 1).
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Zulässig ist demnach die Bestimmung in § 2 Abs. 3a StVO, wonach die Führer kennzeichnungspflichtiger Kraftfahrzeuge mit gefährlichen Gütern, falls die Sichtweite durch Nebel, Schneefall oder Regen weniger als 50 m beträgt, oder bei Schneeglätte oder Glatteis sich so zu verhalten haben, dass eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist, und, wenn nötig, den nächsten geeigneten Platz zum Parken aufsuchen müssen; ebenso verstößt die Vorschrift des § 35 Abs. 2 und 3 GGVSEB über die Bestimmung des Fahrwegs für Gefahrguttransporte nicht gegen europarechtliche Vorgaben. Dagegen wäre es mit dem höherrangigen Gemeinschaftsrecht unvereinbar, wenn in der Bundesrepublik Deutschland aus Gründen der Transportsicherheit die Ausstattung von Gefahrguttransport-Fahrzeugen mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten vorgeschrieben würde. Auch im Interesse des Umweltschutzes könnte nicht die Beförderung sämtlicher gefährlichen Stoffe und Gegenstände einer derartigen Pflicht unterworfen werden, sondern eine einschränkende Ausrüstungsregelung dürfte nur im Hinblick auf einzelne ausgewählte Gefahrgüter getroffen werden. Selbst für inländische Fahrzeuge wäre es der Bundesrepublik Deutschland untersagt, für die Konstruktion der Fahrzeuge die für eine telematische Überwachung erforderliche Ausstattung anzuordnen. b) Das Fehlen einer Rechtsgrundlage Eine Verpflichtung, vorhandene Gefahrguttransport-Fahrzeuge mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten auszustatten, würde den Schutzbereich des Grundrechts der Halter dieser Fahrzeuge auf Eigentum gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG berühren: Die durch die Rechtspflicht ausgelöste finanzielle Belastung griffe in das geschützte Vermögen der Fahrzeughalter ein; würde die vorgeschriebene Ausstattung nicht vorgenommen, verlöre das Fahrzeug an Wert, weil es nicht mehr für Gefahrguttransporte nutzbar wäre. Zwar kann der Gesetzgeber nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen und könnte auf dieser Grundlage auch die Nutzung von vorhandenen Fahrzeugen zugunsten der Vorbeugung gegen Gefahren für Leben und Gesundheit von Menschen sowie für die Umwelt begrenzen, aber dafür muss eine gesetzliche Regelung getroffen werden, die bisher bezüglich der Ausstattung von Gefahrguttransport-Fahrzeugen mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten fehlt. Weiterhin stellte die Verpflichtung zu einer derartigen Ausstattung der Fahrzeuge eine Einschränkung der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit der Fahrzeughalter dar, die freilich nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung – und damit verfassungsgemäßer Gesetze27 – gewährleistet ist. Eine gesetzliche Regelung, die der Vorbeugung gegen Gefahren für Leben und Gesundheit von Menschen sowie dem Schutz der Umwelt dient, könnte dieser Anforderung jedenfalls genügen, ist aber bisher nicht getroffen worden.
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Vgl. nur BVerfGE 6, 32 (37 f.).
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Allerdings wird das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung durch § 3 Abs. 1 Nr. 4 und 7 GGBefG u. a. ermächtigt, für den Bau, die Beschaffenheit und Ausrüstung der Gefahrguttransport-Fahrzeuge sowie deren Betreiben und Verwenden Aufzeichnungs- und Anzeigepflichten durch Rechtsverordnungen zu regeln und Auskunfts-, Aufzeichnungs- und Anzeigepflichten festzulegen, aber diese Bestimmungen beziehen sich nur auf die Abwehr von Gefahren, die abstrakt von gefährlichen Gegenständen und Stoffen generell und von ihrer Beförderung auf öffentlichen Straßen bei verkehrsgerechtem Verhalten des Fahrzeugführers ausgehen. Die Vorschriften des Gefahrgutbeförderungsgesetzes erstrecken sich – wie die Regelung über Ordnungswidrigkeiten in seinem § 10 belegt – nicht auf die Einhaltung straßenverkehrsrechtlicher Normen, beispielsweise der Abstands- oder Geschwindigkeitsregeln, und stellen deshalb auch keine Grundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung dar, die die technischen Voraussetzungen für eine Kontrolle des Verhaltens im Straßenverkehr betrifft. Dementsprechend lässt sich auch aus der in § 4 Abs. 1 Satz 1 GGVSEB statuierten allgemeinen Sicherheitspflicht der an der Beförderung gefährlicher Güter Beteiligten, „die nach Art und Ausmaß der vorhersehbaren Gefahren erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um Schadensfälle zu verhindern und bei Eintritt eines Schadens dessen Umfang so gering wie möglich zu halten“,
keine Verpflichtung zur Ausstattung der Gefahrguttransport-Fahrzeuge mit Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten herleiten. Die hiernach bestehende Schadenvermeidungspflicht stellt vielmehr lediglich eine Verpflichtung zu polizeimäßigem Verhalten in dem Sinne dar, dass die Adressaten der Norm die bei der Beförderung von gefährlichen Gegenständen und Stoffen generell auf öffentlichen Straßen bestehenden abstrakten Gefahren abwehren müssen, und umfasst nicht die Pflicht, die Kontrolle des Verkehrsverhaltens des Fahrzeugführers zu ermöglichen. In Übereinstimmung damit sieht auch die Verordnung über die Kontrollen von Gefahrguttransporten auf der Straße und in den Unternehmen keine Überwachung des Fahrerverhaltens vor: Kontrolliert wird hiernach die Beachtung der spezifischen Regelungen über den Transport gefährlicher Güter auf öffentlichen Straßen, nicht die Einhaltung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften. Es fehlt daher eine Rechtsgrundlage für die Verpflichtung, durch die technische Ausstattung der GefahrguttransportFahrzeuge die Voraussetzungen für eine telematische Überwachung des Verhaltens der Fahrzeugführer zu schaffen. 2. Die Verpflichtung zur Datenübermittlung Ebenso wie eine Pflicht zur Ausstattung der Gefahrguttransport-Fahrzeuge bedarf auch eine Verpflichtung zur Übermittlung von Daten über das Verkehrsverhalten des Fahrzeugführers einer gesetzlichen Grundlage.
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a) Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung Die mit einer telematischen Überwachung des Verkehrsverhaltens von Fahrzeugführern notwendig verbundene Übermittlung relevanter Daten an eine zentrale Stelle im Land, die diese Informationen auswertet und erforderlichenfalls den Einsatz der Verkehrspolizei veranlasst, um einen Verkehrsunfall zu verhindern, greift in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 198328 erstmals nachdrücklich betont hat, schützt Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Einzelnen und damit seine aus dem Gedanken der Selbstbestimmung29 folgende Befugnis, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden sollen. Individuelle Selbstbestimmung setzt hiernach – insbesondere auch unter den Bedingungen moderner Informationstechnologien – voraus, dass der Einzelne frei drüber entscheiden kann, wie er sich verhalten will, und die Möglichkeit hat, sich entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten30. Allerdings hat das Gericht zugleich betont, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährt ist, der Einzelne vielmehr im überwiegenden Allgemeininteresse Einschränkungen hinnehmen muss31. Sofern es sich demnach bei den im Rahmen einer telematischen Überwachung von Gefahrguttransporten zu übermittelnden Informationen über das Fahrverhalten um personenbezogene Daten handelt, fallen sie in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Dabei ist nicht allein auf die Art der Informationen abzustellen; entscheidend sind vielmehr ihre Nutzbarkeit und Verwendungsmöglichkeit32. Informationelle Selbstbestimmung erstreckt sich auf alle eine Person betreffenden Daten, ihre persönlichkeitsrechtliche Bedeutung ergibt sich einzig aus dem jeweiligen Verwendungszusammenhang33. Die zur Vorsorge gegen Verkehrsunfälle bei Gefahrguttransporten relevanten Informationen über Geschwindigkeit und Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug sowie über die Einhaltung von Verkehrsverboten durch Lokalisierung sind für sich genommen nicht personenbezogener Natur, werden es jedoch in dem Moment, in dem über das polizeiliche Kennzeichen des 28
BVerfGE 65, 1 (41 ff.). Die Herleitung aus dem durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Recht auf Selbstdarstellung wird z. B. hervorgehoben bei Di Fabio, in: Maunz/ Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 1958 ff., (Stand: Januar 2011), Art. 2 Abs. 1 Rn. 175, und Horn, in: Stern/ Becker (Hrsg.), GrundrechteKommentar, 2010, Art. 2 Rn. 50. 30 BVerfGE 65, 1 (43); s. auch BVerfGE 120, 378 (397); ausführlich dazu beispielsweise Di Fabio (Fußn. 29), Art. 2 Abs. 1 Rn. 173 ff. m. w. N. 31 BVerfGE 65, 1 (43 f.). 32 Vgl. nur BVerfGE 65, 1 (45). 33 BVerfG, ebd.; s. auch BVerfGE 120, 378 (398 f.); Di Fabio (Fußn. 29), Art. 2 Abs. 1 Rn. 174. 29
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Fahrzeugs und den Zeitpunkt der Datenerhebung feststellbar wird, wer jeweils der Führer eines Gefahrguttransport-Fahrzeugs ist34. Eine Verknüpfung der erhobenen Daten zumindest mit dem polizeilichen Kennzeichen des Fahrzeugs ist indes unumgänglich, wenn in gefährlichen Situationen ein Eingreifen der Polizei erfolgen soll; die Möglichkeit der Verknüpfung ist überdies unverzichtbar, wenn die Übermittlung der Daten an eine zuständige Behörde präventiv wirken und den Fahrzeugführer zu einem verkehrsgerechten Verhalten veranlassen soll. Die im Rahmen einer telematischen Überwachung von Gefahrguttransporten erhobenen Daten über das Fahrverhalten35 sind deshalb zunächst nicht personenbezogen, aber personenbeziehbar36 und fallen somit vom Beginn der Erhebung an in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung37. b) Das Erfordernis gesetzlicher Regelung Wie das Bundesverfassungsgericht betont hat38, ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht schrankenlos gewährleistet. Grundsätzlich müsse der Einzelne vielmehr Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Derartige Beschränkungen bedürften nach Art. 2 Abs. 1 GG jedoch einer (verfassungsmäßigen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen deutlich und für den Betroffenen erkennbar ergäben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspräche. Selbst die automatisierte – und damit zwangsweise erfolgende – Erhebung von personenbezogenen Daten ist daher nicht von vorn herein unzulässig39. Die Gefahrenvorsorge bei Gefahrguttransporten auf öffentlichen Straßen vermag durchaus ein überwiegendes Allgemeininteresse zu begründen: Der Schutz von Leben und Gesundheit sowie der Umwelt rechtfertigt prinzipiell eine Einschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung40, die freilich von erheblichem Gewicht ist, weil sie wegen der ständigen Datenübermittlung während des Transports eine dauernde Überwachung darstellt41. 34 Vgl. BVerfGE 120, 378 (400); s. auch Schieder, NVwZ 2004, 778 (780 m. w. N.); Weichert, DuD 2000, 662 (663). 35 Darunter fällt nur in eingeschränktem Maße die Information über Druckverlust in den Reifen, weil sie über das Verhalten des Fahrzeugführers erst dann Aufschluss gibt, wenn diese Anzeige von ihm ignoriert wird und er den Druckverlust nicht wieder ausgleichen oder den Reifen bei Defekt auswechseln lässt. 36 Begriff bei Weichert, DuD 1996, 77 ff. (78). 37 Vgl. BVerfGE 120, 378 (400 f.); Weichert, DuD 2000, 663. 38 BVerfGE 65, 1 (44), std. Rspr.; s. etwa BVerfGE 120, 378 (401). 39 Vgl. insoweit auch BVerfGE 120, 378 (403 f.) zur automatisierten Kennzeichenerfassung. 40 Bedenken gegen eine umfassende dauernde Überwachung bei Weichert, DuD 1996, 81. 41 Zum „Gefühl des Überwachtwerdens“ vgl. auch BVerfGE 107, 299 (328); 115, 320 (354 f.); 120, 378 (402).
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Als Grundlage für die telematische Begleitung von Gefahrguttransporten genügt freilich weder das Bundesdatenschutzgesetz noch das Datenschutzrecht der Länder mit den lediglich allgemeinen Datenschutzbestimmungen, erforderlich ist vielmehr eine bereichsspezifische Regelung, in der der Verwendungszweck präzise festgelegt wird und aus der ersichtlich ist, dass die zu erhebenden Daten für den vorgesehenen Zweck notwendig sind42 ; darüber hinaus muss die Zweckbindung der Daten sichergestellt sein. Weiterhin muss das Gesetz gewährleisten, dass der Fahrzeugführer bei regelgerechtem Verhalten nicht identifiziert wird, und es dürfen nicht mehr Daten erhoben werden, als zur konkreten Erfüllung der Gefahrenvorsorge-Aufgabe unbedingt erforderlich sind43. Schließlich muss gesichert sein, dass die Daten über das Verkehrsverhalten der Fahrzeugführer nicht generell gespeichert werden44, sondern höchstens im Einzelfall dann, wenn ein Eingreifen der Polizei zur Verhinderung eines Verkehrsunfalls nötig wurde oder ein erheblicher Verstoß gegen die Normen des Straßenverkehrsrechts geahndet werden soll. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass eine Datenübermittlungspflicht ebenso diejenigen Fahrzeugführer träfe, die keinen ihnen zurechenbaren Anlass zur Datenerhebung geben, weil sie sich verkehrsgerecht verhalten45. Demnach genügt als Grundlage für die telematische Überwachung von Gefahrguttransporten insbesondere die Bestimmung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 GGBefG nicht, wonach das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsvorschriften u. a. über „das Verhalten während der Beförderung“ gefährlicher Güter erlassen darf, weil diese Ermächtigung weder dem Bestimmtheitsgebot genügt46 noch eine Regelung über die automatisierte Erhebung der Daten, deren Verwendungszweck, die Dauer der Speicherung usw. aufweist. Von Verfassungs wegen ist vielmehr eine hinreichend konkrete gesetzliche Normierung der telematischen Überwachung von Gefahrguttransporten erforderlich, die wegen ihrer Auswirkungen über die Grenzen eines Bundeslandes hinaus nur bundeseinheitlich gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 22 GG vom Bundesgesetzgeber vorgenommen werden könnte. Der Mangel einer gesetzlichen Grundlage für die technische Ausstattung der Gefahrguttransport-Fahrzeuge und für die Verpflichtung zur Datenübermittlung kann auch nicht dadurch teilweise ausgeglichen werden, dass die im Rahmen der Mauterhebung für die Benutzung von Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen anfallenden Daten für die telematische Überwachung von Gefahrguttransporten genutzt werden: § 4 Abs. 2 Satz 4 ABMG lässt die Verarbeitung und Nutzung dieser Daten 42 Vgl. BVerfGE 65, 1 (46); 110, 33 (70); 113, 29 (51); 115, 320 (365); 120, 378 (408). Weichert, DuD 1996, 81. 43 Weichert, ebd. 44 Vgl. BVerfGE 120, 378 (399 f.). 45 Vgl. zu diesem Aspekt etwa BVerfGE 100, 313 (376, 392); 107, 299 (320 f.); 109, 279 (353); 113, 29 (53); 113, 348 (383); 115, 320 (354); 120, 378 (402). 46 Vgl. dazu BVerfGE 100, 313 (359 f.); 110, 33 (52 ff.); 113, 348 (375 ff.); 120, 378 (407 ff.).
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ausschließlich zum Zweck des Betriebs des Mauterhebungssystems zu und Satz 5 bestimmt ausdrücklich, dass die Übermittlung, Nutzung oder Beschlagnahme dieser Daten nach anderen Rechtsvorschriften unzulässig ist. Eine Änderung dieser Vorschriften, die die Zweckbindung erweitern würde, ist zwar möglich, dürfte aber politisch nur schwer durchsetzbar und im Übrigen mit der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge47 nicht vereinbar sein, die die Erfassung von Fahrzeugdaten allein für die Erhebung von Maut- und Benutzungsgebühren vorsieht. So bliebe schließlich nur noch der Rekurs auf die polizeiliche Generalklausel, die bei Gefahrguttransporten zu Maßnahmen bei Vorliegen einer konkreten Gefahr ermächtigt, aber als Grundlage für eine telematische Überwachung nicht genügt, weil sie – auch in Verbindung mit den polizeirechtlichen Vorschriften über die elektronische Informationsverarbeitung – keine bereichsspezifischen Regelungen für die Datenerhebung, -nutzung sowie -übermittlung und -speicherung enthält und zudem keine Ermächtigung für den Einbau von Fahrerassistenzsystemen und Datenübermittlungsgeräten in Gefahrguttransport-Fahrzeuge darstellt. Der Transport von Gefahrgut auf den Straßen wird deshalb, wie nicht zuletzt der vergangene Winter 2010/11 gezeigt hat, weiterhin mit dem Risiko behaftet bleiben, dass durch nicht verkehrsgerechtes Verhalten der Fahrzeugführer erhebliche Schäden eintreten, eine Gefahrenabwehr kann aber wohl aus rechtsstaatlichen Gründen nach wie vor nur mit konventionellen – wenngleich lückenhaften – Mitteln erfolgen.
47 Vom 17. Juni 1999 (ABl. Nr. L 187 S. 42), zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/103/EG des Rates vom 20. November 2006 (L 363 344).
Die „Schwere“ des Informationseingriffs Von Christoph Gusy1 Das Recht der Informationsverarbeitung und des Datenschutzes befindet sich gegenwärtig in einer Grundsatzdiskussion,2 deren Ausgang noch völlig offen ist. Ihr geht es nicht um weniger, sondern um besser strukturierten und daher effektiveren Grundrechtsschutz. Die Debatten berühren nahezu sämtliche Zentralfragen der Materie mit dem Ziel, Auswege aus einigen Sackgassen von Rechtssetzung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu finden. Hier soll ein Beitrag zu einem der anstehenden Themen geleistet werden. I. Fragestellung Im Polizei- und Ordnungsrecht des Bundes und der Länder hat sich die Zahl der informationellen Befugnisse in den vergangenen 20 Jahren überproportional erhöht.3 Auch wenn das Polizeirecht deshalb noch längst nicht zum Polizeiinformationsrecht geworden ist:4 Parallel zur Erhöhung der Zahl der Normen stieg die Zahl der Gerichtsentscheidungen und der rechtsdogmatischen Streitfragen, welche der Aufarbeitung harrten – und zu einem erheblichen Teil noch harren. Erschwert wurde sie durch den Umstand, dass die tradierten Regelungen des Gefahrenabwehrrechts Tatbestandsmerkmale wie „Gefahr“ oder „Störung“ voraussetzen. In terminologischer Hinsicht folgte ihnen die Generation der neueren Regelungen zur Informationserhebung, wobei anfangs bisweilen übersehen wurde, dass es diesen Normen doch gerade 1 Der Jubilar hat meine Bemühungen seit 35 Jahren geleitet und begleitet. Als Student (ich war Hörer in einer seiner ersten Bochumer Vorlesungen), als wissenschaftlicher Mitarbeiter und als Kollege durfte ich von seinem Wissen und seinem Engagement profitieren. Wahrscheinlich war ich kein „Schüler“, wie er ihn sich vorgestellt und gewünscht hat. Aber er ist mir stets mit Toleranz und Wohlwollen begegnet. Nach einer seiner Lehrveranstaltungen setzte sich die Diskussion in seinem Dienstzimmer fort. Irgendwann rief seine Frau an und fragte (wahrscheinlich), ob er zum Abend noch nach Hause kommen werde. Er entschuldigte sich damit, er sei noch im Gespräch mit einem Studenten. Diese Ehre hatte ich im Studium nur einmal. Dafür möchte ich danken – und noch für sehr Vieles mehr! 2 Ein gewichtiger Auslöser bei Hoffmann-Riem, AöR 123 (1998), 513. Überblicke und Zwischenbilanzen u. a. bei Albers, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts (GVwR) II, 2008, § 22; Bull, Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2009. 3 Überblick bei Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. A., 2009, Rn. 175 ff. Monumental Petri, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. A., 2007; Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998. 4 So insbesondere Möstl, DVBl. 2007, 581; dagegen wie hier Volkmann, JZ 2004, 70.
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erst darum ging, diejenigen Informationen zu beschaffen, welche ein Gefahrurteil überhaupt ermöglichen können. Dann allerdings erschien es sinnlos, als Tatbestandsvoraussetzungen zu normieren, was – bestenfalls – ein Ziel der neuen Regelung sein konnte. Diese Lücke ist frühzeitig von der Rechtswissenschaft erkannt und zunächst auf dogmatischem Wege geschlossen worden.5 Das geschah freilich unter gewissen Modifikationen des Gefahrbegriffs, welche – jedenfalls für die tradierten Bestände des Gefahrenabwehrrechts – als „Auflösung“ bzw. „Bedeutungsverlust“ erscheinen konnten.6 Damit schienen manche Errungenschaften in Gefahr, welche seit dem Kreuzberg-Urteil des Preußischen OVG7 als unangefochten gegolten hatten. Potenziert wurde das Diskussionspotential in Fallkonstellationen, in denen das Polizeirecht z. T. weit in das Feld der Informationsvorsorge hineinreichte (etwa durch „Verdachtsgewinnungseingriffe“ oder „Gefahrgewinnungseingriffe“ bzw. „Verdächtigtengewinnungseingriffe“8 oder „Gefährdergewinnungseingriffe“). Die tradierte Polizeirechtsdogmatik kam und kommt hier an ihre Grenzen. Sie wird partiell vom Informations(-verarbeitungs-)recht überlagert.9 Hier soll es nicht ein weiteres Mal um die Frage nach den Polizeiaufgaben im sog. Vorsorgebereich gehen (s. dazu etwa 19 ff. BWPolG; §§ 1 Abs. 1; 5; 11 ff. NRWPolG).10 Es soll auch nicht darum gehen, unter welchen Bedingungen staatliche Datenverarbeitung als Grundrechtseingriff verstanden werden kann oder muss. Vielmehr setzen die folgenden Ausführungen den Grundrechtseingriff bereits voraus. Wenn es um die Schwere des Informationseingriffs geht, so ist das gedachte Gegenstück zum schweren nicht der fehlende, sondern der weniger schwerwiegende Eingriff. Die Relevanz unserer Fragestellung ergibt sich also nicht aus der Suche nach den rechtlichen Anforderungen an die staatliche Informationserhebung mit Grundrechtsrelevanz. Sie ergibt sich vielmehr aus der Frage danach, ob bzw. inwieweit für schwerwiegende Eingriffe im Informationsrecht andere Voraussetzungen gelten als für weniger schwerwiegende. Diese Fragestellung setzt die Suche nach Kriterien zur Bestimmung der Eingriffsschwere voraus.
5 Schon sehr früh Vahle, Polizeiliche Aufklärungs- und Observationsmaßnahmen, Diss. 1983; Kickartz, Ermittlungsmaßnahmen zur Gefahrerforschung und einstweilige polizeiliche Anordnungen, Diss. 1984. 6 Zusammenfassend Kugelmann, DÖV 2003, 781. 7 Zum diesem zuletzt Schoch, Der Staat 43 (2004), 347. 8 Terminologie nach BVerfGE 115, 320 (355). 9 Dazu allgemeiner Überblick bei Vesting/Ladeur/Albers/Gusy/Holznagel/v.Bogdandy/ Britz, in: Hoffmann-Riem u. a. (Hg.), GVwR (Fußn. 2), §§ 20 ff. 10 Dazu grundlegend bereits Weßlau, Vorfeldermittlungen, 1989; Wolter (Hg.), Datenübermittlungen und Vorfeldermittlungen, 2003; Aulehner (Fußn. 3).
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II. Schwerwiegende Informationseingriffe: Zur Entwicklung der Rechtsprechung Dass dem Grad der Eingriffsschwere grundsätzliche Bedeutung für die Suche nach den rechtlichen Maßstäben der Zulässigkeit eines Eingriffs zukommen kann, ist allgemein anerkannt. Außerhalb des Informationsrechts zählen die dabei verwendeten Formeln zu den Basiserkenntnissen von Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft. Offenkundig ist dies im Rahmen des Übermaßverbots. Hier ist abzuwägen zwischen denjenigen Belangen, welche einen Eingriff rechtfertigen können, und denjenigen, welche von dem Eingriff betroffen sein können.11 Je schwerwiegender solche Wirkungen sind, desto schwerer muss gleichfalls der sie rechtfertigende Belang wiegen. Die Eingriffsschwere determiniert so zwar nicht alle, aber doch einzelne Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Maßnahme. Jedenfalls nach der relativen Auslegung der Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG würden jene Grundsätze auch auf die Auslegung dieser Bestimmung „durchschlagen“.12 Ganz Ähnliches gilt auch in anderem Zusammenhang: Hinsichtlich des Bestimmtheitsgebots für Gesetze zählt zu den Standardformeln der Rechtsprechung der Satz: Je schwerwiegender der Eingriff, desto bestimmter muss das ihn rechtfertigende Gesetz sein.13 Die Bestimmtheitsanforderungen an die Eingriffsermächtigung lassen sich demnach also nicht ohne Gewichtung der Eingriffsschwere feststellen. Schließlich werden auch bestimmte verfahrensrechtliche Grundrechtssicherungen an die Eingriffsschwere geknüpft: „Bei einem Grundrechtseingriff von besonders hohem Gewicht … (ist) die Maßnahme grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen.“14 Hier können die Einzelheiten zum Richtervorbehalt nicht ein weiteres Mal referiert und diskutiert werden. Doch bleibt festzuhalten: Auch für die Frage der Notwendigkeit der gesetzlichen Statuierung eines Richtervorbehalts wird u. a. auf die Eingriffschwere abgestellt.15 Es sind also maßgeblich Fragen der Bestimmtheit der Eingriffsermächtigungen und des Übermaßverbots, welche die Rechtsprechung zur Schwere des Informationseingriffs geprägt haben. Dabei ist vorab festzustellen, dass die Entscheidungspraxis von einem vergleichsweise hohen Maß an Kontinuität und Konsens beim BVerfG ge11 Zusammenfassend Schlink, in: Badura/Dreier (Hg.), 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II, 2001, S. 445. 12 Dazu BVerfGE 58, 300 (348); wenig eindeutig BVerfGE 80, 367 (373); BVerwGE 84, 375 (381); s. a. BVerfGE 109, 133 (156); 117, 71 (96). 13 BVerfGE 86, 288 (311); 93, 213 (238); 102, 254 (337); 109, 133 (188); 110, 33 (55). 14 BVerfGE 120, 274 (332); BVerfG, NJW 2010, 833 (844) (Nachw.). Vertiefend Gusy, NStZ 2010, 353; s. schon ders., GA 2003, 672; ders., JZ 2001 1033. 15 Gewiss, es gibt noch weitere Anknüpfungspunkte, welche dafür sprechen, dass das Kriterium der Eingriffsschwere zugleich die rechtlichen Maßstäbe seiner Zulässigkeit beeinflussen kann, etwa der Vertrauensschutz. Doch sind sie bislang in der Rechtsprechung zu (polizeilichen) Informationseingriffen nicht tragend geworden und sollen deshalb hier nicht weiter verfolgt werden. Vollständigkeit der Darstellung für alle denkbaren Eingriffsformen ist hier also weder notwendig noch angestrebt.
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prägt war. Dass und wann ein Eingriff „schwerwiegend“ sei, wurde in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle einhellig und einheitlich festgestellt. Dies galt in der einschlägigen Rechtsprechung schon bei der Frage nach der Beurteilung der Volkszählung 1983.16 Eine ausschlaggebende Rolle spielte das Kriterium allerdings erst seit dem Urteil zum „Großen Lauschangriff“, wo infolge des Menschenwürde- und Wohnungsbezuges des Eingriffs sein Charakter als „schwerwiegend“ konsentiert war.17 Insoweit nichts Anderes enthielt auch das abweichende Votum, welches das Gewicht sogar noch höher ansetzte und aus genau diesem Grunde die Rechtfertigungsfähigkeit der Wohnungsüberwachung grundsätzlich verneinte.18 In der Terminologie unseres Themas formuliert bedeutete dies: Dass der Eingriff als schwerwiegend einzustufen sei, wurde allgemein bejaht; umstritten war nur, wie schwer er denn wiege. Als „schwerwiegend“ wurden in der Folge auch Beschränkungen des Post- und Telekommunikationsgeheimnisses angesehen, und zwar grundsätzlich ohne Rücksicht darauf, ob durch Abhörmaßnahmen der Inhalt von Gesprächen zur Kenntnis genommen wurde19 oder aber durch sonstige Aufzeichnungen allein die Umstände des Kommunikationsvorganges, namentlich die sog. Verbindungsdaten, registriert wurden.20 Hier wurden zwar durchaus Abstufungen hinsichtlich der Eingriffsintensität gesehen. Sie führten aber nicht dazu, die Bedeutung der verbindungsbezogenen Aufzeichnungen als „schwerwiegend“ zu verneinen. Gleichfalls als „schwerwiegend“ wurde daher auch die Beschlagnahme eines Handys, auf welchem Verbindungsdaten gespeichert waren, jedenfalls unter der Voraussetzung eingestuft, dass die Kenntnisnahme gerade dieser Verbindungsdaten das Ziel der Maßnahme darstelle.21 Konsens bestand auch hinsichtlich des hohen Gewichts eines Eingriffs, welcher das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant zu betreffen geeignet sein könne.22 In vergleichbarer Weise wurden auch Abfragen von Kontostammdaten – nicht: Kontoständen – bei Banken als „Grundrechtseingriffe von großem Gewicht“ eingestuft.23 Eine weitere vergleichbare Kategorie bildete die elektronische Privatsphäre auf der eigenen Fest-
16 s. näher BVerfGE 65, 1 (44 ff.), wo allerdings das Wort „schwerwiegend“ vermieden, sondern auf andere Kriterien („Zwang“) abgestellt wird. 17 BVerfGE 109, 279 (353) („besonders schwerwiegender Grundrechtseingriff“). 18 BVerfGE 109, 382 ff., allerdings unter Verzicht auf explizite Nennung des Kriteriums der „Schwere“. 19 BVerfGE 110, 33 (53); s. a. BVerfGE 113, 348 (382); 124, 43 (54); NJW 2010, 833, Rn. 189 ff. Schon früher BVerfGE 85, 386 (403); 100, 313 (358 ff.). 20 BVerfGE 113, 348 (364 f.); 115, 166 (183); 120, 274 (307). Eher herabstufend BVerfGE 112, 304 (315 f., 318 f.) (GPS); 124, 43 (62), wonach „der Inhalt der Kommunikation in höherem Maße als Kommunikationsdaten schutzwürdig ist.“ 21 BVerfGE 115, 166 (197) („erheblicher Eingriff“), s. a. BVerfG, NJW 2005, 1637. 22 BVerfGE 113, 29 (46 ff.); s. a. BVerfG, NJW 2007, 2752. Zum Vertraulichkeitsschutz der Presse BVerfGE 117, 244 (260). 23 So jedenfalls für bestimmte Fallkonstellationen BVerfGE 118, 168 (186). Anders für bestimmte andere Datensammlungen der Finanzbehörden BVerfGE 120, 351 (366 ff.).
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platte, welche gegen Ausforschung mittels des Netzes in ähnlicher Weise geschützt sei wie gegen Beschlagnahme des Gerätes und nachfolgende Kenntnisnahme.24 Die große Zahl der genannten Entscheidungen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums deutet auf ein hohes Maß an Konsens im Gericht bei der Einschätzung der Eingriffsschwere hin. Das gilt jedenfalls bei der Bejahung der Eingriffsschwere. Auffällig ist demgegenüber, dass es keine vergleichbare Entscheidungstradition gibt, welche die Eingriffsschwere verneint.25 Aber auch wenn das BVerfG einen Grundrechtseingriff als „schwerwiegend“ bezeichnet, so bedeutet dies keineswegs automatisch, dass er deshalb unter allen Umständen verfassungsrechtlich unzulässig sei. Im Gegenteil: Dieser Schluss ist bislang in keiner einzigen Entscheidung gezogen worden, noch nicht einmal im Lauschangriffsurteil. Vielmehr sind die rechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit der Maßnahme je nach den Umständen des Einzelfalles mal höher, mal weniger hoch angesetzt worden. Und je nach der Ausgestaltung der gesetzlichen Eingriffsermächtigung waren diese in einzelnen Fällen erfüllt, in anderen hingegen nicht. Daraus resultierte dann die Beurteilung der Eingriffsmaßnahme oder der Eingriffsnorm im Einzelfall. Festzuhalten bleibt also bis hierher: Die Einstufung eines Informationseingriffs als „schwerwiegend“ entscheidet nicht (allein) über seine Zulässigkeit oder Unzulässigkeit. Vielmehr entscheidet sie über die in der jeweiligen Fallkonstellation anwendbaren Zulässigkeitsvoraussetzungen. III. Vom Ende der Gewissheit? Neuere Rechtsprechung Das soeben beschriebene vergleichsweise hohe Maß an Konsens ist durch mehrere neuere Entscheidungen in die Diskussion geraten. Hier kam es zu öffentlich ausgetragenen Kontroversen teils innerhalb, teils außerhalb des Gerichts. Ihren Ausgangspunkt nahmen sie sämtlich im Polizei- und Ordnungsrecht; ein Umstand, welcher unserer Fragestellung für diese Materie besondere Bedeutung zukommen lässt.
24 BVerfGE 120, 274 (322) („Grundrechtseingriffe von hoher Intensität“). Die in diesem Zusammenhang erstmals benutzte Formel vom „Grundrechtsschutz der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme“ ist für unsere Untersuchung ohne eigenständige Bedeutung und braucht hier deshalb auch nicht näher thematisiert zu werden. s. dazu etwa T. Böckenförde, JZ 2008, 925; Britz, DÖV 2008, 411; Bull, Vorgänge 185, 2008, 11; ders., in: Möllers/van Ooyen (Hg.), Jahrbuch öffentliche Sicherheit 2008/2009, 2008, S. 317; Eifert, NVwZ 2008, 521; Hoffmann-Riem, JZ 2008, 1009; Gusy, DuD 2009, 33; Hirsch, NJW 2008, 822; Hoeren, MMR 2008, 365 f.; Lepsius, in: Roggan (Hg.), Online-Durchsuchungen, 2008, S. 21; Sachs/Krings, JuS 2008, 482; Volkmann, DVBl. 2008, 590. 25 s. in diese Richtung immerhin BVerfGE 118, 168 (185) (für bestimmte Fallkonstellationen); 120, 378 (404). Dies könnte damit erklärbar sein, dass in solchen Fällen wegen vermeintlichen Bagatellcharakters des Eingriffs die Annahme zur Entscheidung schon im Vorfeld abgelehnt wird und derartige Konstellationen daher nicht zur Senatsentscheidung gelangen.
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1. Rasterfahndung – Privatsphäre oder Öffentlichkeitssphäre? Im Beschluss zur Verfassungsmäßigkeit der präventiv-polizeilichen Rasterfahndung26 traten innerhalb des Senats Meinungsverschiedenheiten zutage. Der Senat qualifizierte den Charakter der Informationseingriffe als „von erheblichem Gewicht“,27 und zwar auch angesichts des Umstands, dass die Daten des Beschwerdeführers nur innerhalb des Rasters abgeglichen, gegen ihn also keine weiteren polizeilichen Eingriffsmaßnahmen durchgeführt wurden. Dafür maßgeblich sei zunächst die hohe Zahl der von der Rasterfahndung Betroffenen, welche ganz überwiegend aus Personen bestehe, welche weder die abzuwehrende Gefahr noch einen gegen sie bestehenden Gefahrverdacht noch aber auch die konkrete Rasterung veranlasst hätten. Sodann werden auch die individuellen Eingriffswirkungen gegen die Betroffenen angeführt. Da sei zunächst der Inhalt der gerasterten Daten: So würden nicht nur allgemein zugängliche Daten wie Namen, Anschrift, Geburtstag und -ort gerastert, sondern auch andere Daten wie etwa die Glaubensüberzeugung, denen eine hohe Relevanz für den individuellen Vertraulichkeitsschutz zukomme. Hinzu trete die gesetzlich wenig geregelte Verwendungsmöglichkeit der Daten. Sie betreffe nicht nur Duldungspflichten mit geringem Eingriffspotential, sondern berge auch das Risiko, Gegenstand staatlicher Ermittlungsmaßnahmen zu werden, welche über das allgemeine Risiko hinausgehe, einem unberechtigten Verdacht ausgesetzt zu sein. Hinzu kämen fehlende verfahrensrechtliche Garantien wie die Heimlichkeit der Maßnahme und der fehlenden Benachrichtigung der meisten Betroffenen. Schließlich wurde noch der überindividuelle Aspekt angeführt, dass das Risiko einer Umgehung des „strikten Verbots der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat“ entstehe. Zur Begründung der Eingriffsschwere wird also eine erhebliche Zahl an Argumenten angeführt. Passagenweise wirken die Ausführungen wie eine zitatengestützte Zusammenfassung vorangegangener Rechtsprechungsgrundsätze des BVerfG. Dieser argumentative Aufwand war wohl nicht zuletzt den zugrunde liegenden Diskussionen im Senat geschuldet.28 Doch führten die vielen Gründe im Senat nicht zum Konsens; im Gegenteil: „Wenn die Senatsmehrheit raumgreifend eine Vielzahl einzelner Umstände der Datenverwertung meint anführen zu müssen, um die besondere Intensität des Eingriffs zu begründen, so dürfte dies wohl den Schluss erlauben, dass auch die Senatsmehrheit der Überzeugungskraft der einzelnen Argumente nicht ganz vertraut.“29 Das abweichende Votum bestreitet u. a. die Schwere des Informationseingriffs:30 Dass er eine hohe Streubreite aufweise, sei rechtlich irrelevant; maßgeblich sei vielmehr die Ein26
Zu ihr näher Gusy, KritV 2002, 474, dort aber ohne verfassungsrechtliche Stellungnahme. BVerfGE 115, 320 (347 ff.). 28 Die Entscheidung ist passagenweise mit 6:2 Stimmen ergangen. 29 Abw. Votum Haas, in: BVerfGE 15, 320 (371 ff.). 30 Dies ist nur ein Argument der Dissenterin. Den meisten Raum nimmt im abweichenden Votum die Abwägung des Eingriffs mit den Belangen der öffentlichen Sicherheit ein. Diese Frage ist für unser Thema nicht von zentraler Relevanz und bleibt hier daher unerwähnt. 27
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griffsschwere für den Einzelnen, nicht hingegen für andere Personen.31 Aber auch für die Einzelnen wirke der Eingriff nicht besonders schwer, da „nur bereits vom Betroffenen offenbarte und in Dateien gespeicherte Daten erfasst und abgeglichen werden dürften“. Dies gelte auch für die Religionszugehörigkeit, da „auch gelebte Glaubensüberzeugung vom Betroffenen regelmäßig öffentlich gemacht werde“, ebenso öffentlich wie der Gebrauch der Sprache oder das Geschlecht.32 Beide Argumente sind vor dem Hintergrund der vorausgesetzten informationellen Selbstbestimmung möglicherweise nicht ganz zu Ende gedacht: Dass die gerasterten Informationen bereits bei Behörden registriert sind, schließt den Eingriffscharakter ihrer Heranziehung jedenfalls dann nicht aus, wenn sie vom Betroffenen nicht freiwillig, sondern aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen, oder aber zu anderen Zwecken als denen der Rasterfahndung angegeben worden sind. Und dass die Religionsausübung auch öffentlich geschieht, ist jedenfalls für die Mehrheit der Betroffenen nur dann zutreffend, wenn sie ihre Glaubensüberzeugung auch öffentlich leben würden. Ob dies wirklich – oder vielleicht nur für die eigentlich gesuchten „Fundamentalisten“ – zutrifft, ist keineswegs unzweifelhaft. Und wenn eine Person ihren Glauben in der Öffentlichkeit lebt, ist sie dort noch nicht für Jedermann – auch nicht für staatliche Funktionsträger – namentlich identifizierbar. Dies ist vielmehr ein weiterer Akt der Entprivatisierung, welcher – jedenfalls, wenn er vom Staat vorgenommen wird – einen Eingriff darstellt. Doch sind solche Detailargumente hier weniger von Belang. Sie zeigen vor allem, dass die Diskussion um die „Schwere“ des Eingriffs dazu geführt wurde, um die nachfolgende Abwägung mit kollidierenden Belangen vorzubereiten. Dafür ist das Gewicht des Eingriffs allerdings eine wichtige Vorfrage. Und diese geriet in der viel diskutierten Entscheidung33 erstmals in einen grundsätzlichen Streit. 2. Videoüberwachung von Verkehrsdaten – grundrechtsneutral oder einschüchternd? Eine Fortsetzung fand jene Auseinandersetzung zwar nicht innerhalb, wohl aber außerhalb des Gerichts in den Entscheidungen um die Verfassungsmäßigkeit der Videoüberwachung des Straßenverkehrs.34 Hier wurde das „Gewicht“ des Eingriffs als gering angesehen, weil die Rasterung die Kfz-Kennzeichen betreffe, welche gerade zum Zweck der Kennzeichnung und Identifizierung angebracht würden.35 Strittiger als diese Frage war diejenige nach dem Eingriffscharakter der Maßnahme selbst unter 31
Haas (Fußn. 29), S. 373 f. Haas (Fußn. 29), S. 372 f. 33 Zur Diskussion etwa Volkmann, Jura 2007, 132; ders., JZ 2006, 918; Schewe, NVwZ 2007, 174; Kirchberg, CR 2007, 10; Robrecht, SächsVBl. 2007, 80; Brenneisen/Bock, DuD 2006, 685; s. a. Petri, StV 2007, 266; Bull, Informationelle Selbstbestimmung (Fußn. 2), S. 74 f. 34 BVerfGE 120, 378. 35 BVerfGE 120, 378 (398); differenzierend aber später aus den Verwendungskontexten, s. S. 401 ff. 32
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einem Aspekt, welcher zuvor bei der Beurteilung der Rasterfahndung keine eigenständige Rolle gespielt hatte. Wie – so lautete die Frage – sei die Erhebung, Registrierung und Verarbeitung von Daten zu qualifizieren, welche ausschließlich automatisch verlaufe, zu einem Negativergebnis führe und danach spurlos gelöscht würde? Hier wurde die bisherige Rechtsprechung fortentwickelt: Danach „begründen Datenerfassungen keinen Gefährdungstatbestand, soweit Daten unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, ausgesondert werden. Zu einem Eingriff in den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung kommt es daher in den Fällen der elektronischen Kennzeichenerfassung dann nicht, wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden.“36 Ein Grundrechtseingriff liege damit erst vor, „wenn ein erfasstes Kennzeichen im Speicher festgehalten wird und ggf. Grundlage weiterer Maßnahmen werden kann.“ Auch wenn diese Ausführungen vielleicht nicht ganz zur später betonten Streubreite des Eingriffs und seiner potentiellen Einschüchterungswirkung37 passen mögen – diese geht ja gerade davon aus, dass die überwachten Verkehrsteilnehmer ex ante nicht wissen, ob ihr Kennzeichen automatisch oder manuell erfasst, sofort spurenlos gelöscht oder aber Grundlage weiterer Maßnahmen werden kann -, so findet sich hier doch eine Fortentwicklung zum Eingriffskonzept, welche auch auf die Schwere der Maßnahme Rückwirkungen haben kann. Möglicherweise hätte eine Heranziehung dieser Formel im früheren Rasterfahndungsbeschluss die dortige Diskussion entschärft. Die Kritik38 richtete sich hier zentral gegen einen Aspekt, welcher sowohl für die „Eingriffsschwere“ wie für die Qualifikation nach dem Übermaßverbot bedeutsam werden kann. Das BVerfG stellte dazu u. a. auf den in der Gesellschaft entstehenden „Eindruck ständiger Kontrolle“, das „Gefühl des Überwachtwerdens“ und die daraus möglicherweise resultierenden „Einschüchterungseffekte“ ab. Aber genau dies wirft die Frage auf: Geht es beim Datenschutz um Rechtsschutz oder um Gefühlsschutz? Können Einschüchterungseffekte bei heimlichen Informationseingriffen überhaupt entstehen? Und wie sollen diese Gefühle ermittelt und gewichtet werden? Es geht also um Fragen, welche bei der Beurteilung der „Eingriffsschwere“ vorher und nachher als maßgebliche Kriterien herangezogen wurden und werden. Wegen dieser Passagen wird der Konnex zu den hier zuvor und hernach dargestellten Entscheidungen überhaupt herstellbar. Auf den Urteilstenor selbst blieben jene Ausführungen allerdings ohne Auswirkung.39 36
BVerfGE 120, 378 (399). BVerfGE 120, 378 (402). 38 Zusammengefasst bei Bull, Informationelle Selbstbestimmung (Fußn. 2), S. 62 (93, 96 f.); ders., NJW 2009, 3279. s. a. Rossnagel, NJW 2008, 2547; Breyer, NVwZ 2008, 824. 39 Das Gericht rügte insbesondere die weite und unbestimmte Fassung der Eingriffsermächtigung, hinter welcher die Landesbehörden partiell schon selbst zurückgeblieben waren, um die Verfassungskonformität ihrer Maßnahmen zu begründen; s. BVerfGE 120, 378 (386 f., 37
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3. Vorratsdatenspeicherung – schwerwiegend oder Bagatelleingriff? Zuletzt wurde die Eingriffsschwere im Urteil über die Vorratsdatenspeicherung40 diskutiert. Die Senatsmehrheit ging von einem „besonders schweren Eingriff“ aus. Hierfür wurden sowohl individuelle, auf den einzelnen Grundrechtsträger bezogene Gründe als auch gesamtgesellschaftliche Aspekte herangezogen. Ausgangspunkt ist der Eingriffsgehalt in den Schutzbereich des Art. 10 Abs. 1 GG, welcher nicht nur die Kommunikationsinhalte, sondern auch deren Umstände schütze und dadurch auch die Verbindungsdaten erfasse.41 Erstere knüpften an den Umstand an, dass ein Alltagshandeln aufgezeichnet werde, welches keinerlei zurechenbar vorwerfbares Handeln darstelle. Telekommunikation schaffe für sich noch nicht einmal eine abstrakte Gefahr oder eine „sonst qualifizierte Situation“. Sie ist vielmehr gesellschaftlich erwünscht und rechtlich geschützt. Zudem gebe es für die Bürger keine „reguläre Ausweichmöglichkeit“. Die Möglichkeit einer speicherungsfreien Alternative sollte durch die Regelungen zur Vorratdatenspeicherung gerade aufgehoben werden. Der Gesetzgeber versuche damit, alle Fernsprechverbindungen zu erfassen, um die Nutzer bei Bedarf möglichst flächendeckend ermitteln zu können. In diesem Kontext findet sich dann auch erneut die Formel von der „außerordentlichen Streubreite“ des Eingriffs.42 Unmittelbar hieran knüpfen die gesamtgesellschaftlich-politischen Aspekte an. Deren Ausgangspunkt liegt in der Heimlichkeit der Speicherung von Gesprächen, die ihrerseits unter dem Schutz und der Erwartung von Vertraulichkeit geführt werden. Deren annähernd flächendeckende anlasslose Speicherung sei geeignet, ein „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann“. Offenbar sollen beide Aspekte gemeinsam die Eingriffsschwere begründen. Die im Vergleich zu den zuvor referierten Entscheidungen eher knappe Begründung deutet kaum darauf hin, dass es im Senat zu tiefgreifenden Diskussionen um die Eingriffsschwere gekommen wäre. Zugleich wird aus diesem Merkmal auch hier nicht unmittelbar auf die Unzulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung geschlossen. Viel-
409 ff.). Eine eher kuriose Fortsetzung fand das Urteil durch einen Beschluss des BVerfG, NJW 2009, 3293, welcher eine eigentlich sehr einfache Frage zum Gegenstand hatte: Darf eine Videoaufzeichnung, welche nicht von der Polizei und nicht zu den gesetzlich vorgesehenen Ermittlungs- oder Präventionszwecken und ohne gesetzliche Grundlage hergestellt worden war, zur Grundlage eines Bußgeldbescheides gemacht werden? Diese schon nach den Grundregeln des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung leicht zu beantwortende Einzelfrage wurde Gegenstand eines Kammerbeschlusses, welcher sich zu Recht nicht zur Eingriffsschwere äußerte. Die dagegen geäußerte Kritik von Bull, NJW 2009, 3279, betrifft wohl eher Grundsatzfragen und eine (zu) weit ausgreifende Formulierung der Kammer. Auch Bull ebd., 3282, verneint nämlich ähnlich dem BVerfG einen Grundrechtseingriff, „wenn gesichert ist, dass die Aufzeichnung nach kurzer Zeit gelöscht wird und nur Daten über die Personen aufbewahrt und weiter verwendet werden, die einen Rechtsverstoß begangen haben …“. 40 BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 210 ff. 41 BVerfG ebd., Rn. 189 f. 42 BVerfG ebd., Rn. 213.
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mehr werden aus ihm lediglich besondere verfassungsrechtliche Anforderungen an deren Zulässigkeit begründet. Jener Eindruck von der scheinbaren Unstreitigkeit der Eingriffsschwere wird allerdings durch die Sondervoten korrigiert.43 Danach soll der Vorratsdatenspeicherung eben jenes Gewicht eines „besonders schwerwiegenden Eingriffs“ nicht zukommen. Ausgangspunkt ist offenbar die Differenzierung zwischen dem Schutz der Telekommunikationsinhalte und demjenigen der Verbindungsdaten. Die Speicherung letzterer erwiese sich „im Vergleich zu inhaltsbezogenen Überwachungsmaßnahmen als von deutlich geringerer Schwere“. Diese Gewichtung wird also insbesondere aus dem Schutzbereich des Art. 10 GG hergeleitet, eine Argumentation, die auf das positive Verfassungsrecht zurückführt und in der Rechtsprechung des Gerichts früher bisweilen thematisiert worden ist.44 Daneben werden aber auch Fragen der besonderen Modalität des Eingriffs angesprochen: Sie erfolge zwar heimlich, aber immerhin aufgrund publizierten Gesetzes gegenüber nahezu Jedermann. Die Nutzer könnten sich also darauf einstellen, ihnen gegenüber werden nichts verheimlicht. Zudem erfolge die Speicherung nicht durch den Staat und seine Sicherheitsbehörden, sondern durch die Anbieter, welcher der Kunde selbst gewählt habe und denen er hinsichtlich der Zuverlässigkeit ihres Umgangs mit seinen Daten vertraue. Für ein Gefühl des „ständigen Überwachtwerdens“ oder der „diffusen Bedrohlichkeit“ bestehe daher keine objektivierbare Grundlage. Hier bleibt allerdings der zentrale Aspekt, dass die Träger dieses Vertrauens verpflichtet wurden, die von ihnen erhobenen und gespeicherten Daten fortan der öffentlichen Hand für bestimmte Zwecke zur Verfügung zu stellen, ohne dass sie für die Rechtmäßigkeit und die Vertrauenswürdigkeit einer solchen Nutzung verantwortlich seien, außen vor. 4. Zusammenfassung Es ist vielleicht kein Zufall, dass sämtliche drei referierten Entscheidungen im Formenkreis der Materie einer „anlassunabhängigen“ Informationserhebung bzw. -speicherung durch die Sicherheitsbehörden ergingen. Sie verlassen das Terrain des weitgehend etablierten Informationsverarbeitungs- und Datenschutzrechts. Hier bestand und besteht nach wie vor erheblicher Klärungsbedarf. Dies zeigt sich bereits daran, dass schon das Eingriffskonzept im Verkehrsüberwachungsurteil diskutiert und differenziert wurde. Auch wird immer wieder das allgemeine Verbot einer „Datenerhebung auf Vorrat“ betont; zugleich aber festgestellt, dass Anlassunabhängigkeit damit nicht gleichzusetzen sei. Das vorausgesetzte strikte Verbot einer Datensammlung auf Vorrat45 erstrecke sich also nicht notwendig auch auf jede Form der anlassunabhängigen Datenerhebung. Im Gegenteil: Letztere wird in allen drei re43 Insbesondere Sondervotum Schluckebier zu BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 310 ff., insbes. Rn. 311 ff. 44 Nachw. bei Gusy, in: vMKS, GG I, 6. A., 2010, Art. 10 Rn. 45. 45 Seit BVerfGE 65, 1 (46 f.); zuletzt BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 205 (Nachw.).
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ferierten Entscheidungen für grundsätzlich zulässig oder jedenfalls rechtfertigbar angesehen. Viel spricht dafür, dass es sich hier tatsächlich um Rechtsfragen handelt, welche durch die neu entstehenden Formen der automatischen bzw. elektronischen Datenverarbeitung hervorgebracht werden, welche vom BVerfG bereits im Volkszählungsurteil als verfassungsrechtlich erheblich qualifiziert worden waren. Zugleich sollten und brauchten sie dort aber auch nicht „erschöpfend erörtert“ zu werden.46 Hier findet sich also ein weiteres Feld der informationsrechtlichen Rechtsfortbildung, welche durch den technischen Fortschritt, neue Bedrohungspotentiale und neuartige Bemühungen der öffentlichen Hände um wirksame Prävention oder jedenfalls Ahndung von Straftaten motiviert ist. IV. Verfassungsrechtliche Kriterien zur Bestimmung der Eingriffsschwere Elementare Voraussetzung für die Diskussion der Eingriffsschwere ist die Frage danach, ob es sich bei der jeweiligen staatlichen Maßnahme überhaupt um einen Grundrechtseingriff handelt. Diese Frage berührt die aktuellen Tendenzen um eine grundsätzliche Neubestimmung und Konkretisierung des grundrechtlichen Datenschutzes, also der Redimensionierung von „informationeller Selbstbestimmung“ und „Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Diese Diskussion kann hier nicht einmal ansatzweise nachgezeichnet werden. Sie berührt nahezu sämtliche Fragen des Grundrechtsschutzes. Wann ist eine Information personenbezogen? Gibt es Informationen, deren Schutz trotz Personenbezug herabgesetzt sein kann, gibt es also mehr und dann auch weniger „belangvolle“ Daten?47 Und wie ist deren Schutz zu redimensionieren in einer Rechtsordnung, deren Funktionsfähigkeit die Gedanken von Kommunikation, Kooperation und Vernetzung voraussetzt, in der also nicht mehr (bloß) jede unterlassene Kommunikation eine datenschutzkonforme Kommunikation darstellt. Zugespitzt und damit leicht polemisch angehaucht geht es um die Frage danach, ob Datenschutz eher durch Quantität (von Gesetzen, Behörden und Verwaltungsmaßnahmen) oder eher durch Qualität von Verfahren, technischen Programmen und Systemen zu leisten ist. Erschwerend kommt noch hinzu, dass diese Fragen möglicherweise für unterschiedliche Dimensionen des Datenschutzes unterschiedlich zu beantworten sein könnten. Wenn dem so sein sollte, dann wird dabei allerdings das Kriterium der Eingriffsschwere eine nicht unerhebliche Bedeutung einnehmen.48
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So BVerfGE 65, 1, 42 (44) (Zitate). Grundsätzlich BVerfGE 65, 1 (45): „… gibt es unter den Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung kein „belangloses“ Datum mehr.“ 48 Überblicksdarstellung bei Petri, in: Lisken/Denninger (Fußn. 3), Rn. 36 ff. 47
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Nach herkömmlichem Verständnis setzt der Grundrechtseingriff jedenfalls eine Entprivatisierung49 personenbezogener Informationen durch deren Erhebung oder Verarbeitung, namentlich durch nachträgliche Zweckänderung, voraus. Dies ist nicht der Fall, wenn Daten unmittelbar nach der (automatischen) Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, ausgesondert werden.50 1. Schutzbereichsbezogene Kriterien: Eingriff in ein besonders geschütztes Grundrechtsgut Das erste Kriterium zur Bestimmung der Eingriffsschwere ist praktisch unumstritten. Es grenzt danach ab, ob der Eingriff den „allgemeinen“ Vertraulichkeitsschutz des Grundgesetzes oder aber eine durch ein besonderes Grundrecht geschützte Vertraulichkeitsdimension betrifft. Dies ist naheliegend für Akte der Informationserhebung, welche in die Garantien aus Art. 13 GG51 oder Art. 10 GG52 eingreifen. Aber auch für besonders geschützte Dimensionen des Art. 2 Abs. 1 GG (ggf. iVm Art. 1 Abs. 1 GG) wird dies zu Recht angenommen.53 Zu dieser Fallgruppe zählt auch der Eingriff in ein grundrechtlich geschütztes besonderes Vertrauensverhältnis, soweit ein solcher Grundrechtsschutz anerkannt und rechtlich ausgeformt ist.54 Weniger geklärt ist die Frage nach den Auswirkungen des besonderen Grundrechtsschutzes auf das Recht der Informationsverwendung. Denn diese findet regelmäßig nicht in der Wohnung oder innerhalb eines laufenden Telekommunikationsvorganges55 statt. Hier neigen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zu der Annahme des fortwirkenden Grundrechtsschutzes: Wenn schon die Erhebung in ein besonderes Grundrechtsschutzgut eingreift, so stellt die Verwendung der so erhobenen Daten eine Fortsetzung jenes Eingriffs dar und ist damit gleichfalls an dem ursprünglich beeinträchtigten Grundrecht zu messen.56 Dabei soll nicht verkannt werden, dass diese Schutzdimension umso schwieriger durchsetzbar wird, je mehr die ursprünglich 49
Hier stellen sich Fragen, wenn die Überwachung primär auf Kommunikationsinhalte, hingegen nicht (zentral) auf die Ermittlung der Kommunikationspartner gerichtet sein soll; dazu BVerfGE 100, 313 (366). 50 BVerfGE 120, 378 (399), unter Hinweis auf BVerfGE 100, 313 (366); 107, 299 (328); 115, 320 (343). 51 BVerfGE 109, 279 (353 u. ö.). 52 BVerfGE 110, 33 (52 f.); 107, 299 (319 f.); NJW 2010, 833, Rn. 189 ff. (210 ff.). 53 Zu der nach wie nicht vollständig geklärten Lehre vom „Kernbereich“ der Privatsphäre BVerfGE 109, 279 (312 ff.); Warntjen, Heimliche Zwangsmaßnahmen und der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2007. 54 Beispiel: BVerfGE 113, 29 (46 ff.); s. a. BVerfG, NJW 2007, 2752. Zum Vertraulichkeitsschutz der Presse BVerfGE 117, 244 (260); Überblick bei Gusy, in: Wolter/Schenke (Hg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei verdeckten Ermittlungsmaßnahmen, 2002, S. 149. 55 Zu diesen Grenzen des Schutzbereiches aus Art. 10 GG BVerfGE 115, 166 (197). 56 Dieser Gedanke ist jedenfalls für Eingriffe in das Grundrecht aus Art. 10 GG allgemein anerkannt; grundlegend BVerfGE 100, 313 (366); 107, 299 (313); 113, 348 (365).
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erhobenen Informationen nicht mehr als solche, sondern in überprüfter, angereicherter, verarbeiteter oder durch weitere Informationen fortentwickelter Form gespeichert werden, wie dies etwa bei polizeilichen Fahndungsdaten der Fall ist. Solange alle zu diesem Zweck herangezogenen Daten demselben Grundrechtsschutz unterliegen, ist die Qualifikation unproblematisch. Doch wird genau dies in der Praxis nicht der Regelfall sein: Informationen aus abgehörten Telefonaten werden bei der Polizei eben nicht nur mit Informationen aus anderen Abhörmaßnahmen, sondern auch mit den Ergebnissen von Vernehmungen, Durchsuchungen, eigenen Wahrnehmungen und Wissensbeständen, freiwilligen Meldungen Dritter und Daten sonstiger Herkunft abgeglichen. Für die so veränderten und z. T. neu generierten Informationen ist der Grundrechtsschutz jedenfalls nicht eindeutig bestimmbar: Die Lehre von den fruits of the poisenous tree ist jedenfalls weder im Strafprozess- noch im Polizeirecht allgemein anerkannt.57 Das hier genannte Kriterium hat den Vorteil, unmittelbar aus dem Grundgesetz und seinen Einzelnormen herleitbar zu sein. Auch wenn Einzelfragen der Schutzbereiche nach wie vor umstritten und klärungsbedürftig sein mögen: Hier stellen sich lösbare Aufgaben für Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. 2. Eingriffsbezogene Kriterien: Was bleibt vom Grundrechtsschutz? Diese Gruppe von Kriterien ist bereits deutlich weniger konkretisiert als die zuvor genannte. Sie werden in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft auch unter ganz heterogenen Begrifflichkeiten angesprochen. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, was nach dem Eingriff von dem tangierten Grundrecht und dem in ihm verbürgten Freiheitsschutz noch verbleibt. Maßstäblich ist also die Frage nach „Restfreiheit“ nach Abzug der Eingriffsnorm bzw. der Eingriffshandlung. Eingriffsbezogen ist zunächst das Kriterium der mittelbaren Eingriffsfolgen. Unzulässig ist insbesondere eine Ausforschung des unantastbaren Kernbereichs der Privatsphäre,58 die Rundumüberwachung jeglicher Lebensäußerung59 wie aber auch die Erstellung eines Persönlichkeitsprofils60 bzw. eines umfassenden Bewegungsbildes.61 Solche Eingriffe stellen in jedem Fall schwerwiegende Eingriffe dar. Das gilt auch für Maßnahmen, die unmittelbar auf die Gewinnung konkreter Einzelinformationen gerichtet sind, mittelbar aber eine derart umfassende Überwachung ermöglichen oder begünstigen können. Je umfassender die erhobenen Informationen verwendet, zusammengeführt oder ausgewertet werden können, desto höher wiegt das Gewicht 57 Ansätze einer Differenzierung bei Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. A., 2009, Rn. 215. 58 Dazu schon o. 1. 59 BVerfGE 109, 279 (323); 112, 304 (319); 120, 378 (407). 60 BVerfGE 112, 304 (319). 61 s. dazu der Sache nach BVerfGE 120, 378 (418 f., 424).
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des einzelnen Eingriffs. Das gilt erst recht bei einer Kombination unterschiedlicher Eingriffsmaßnahmen und den daraus zu erzielenden Summeneffekten.62 Diese Kriterien werden fortgeführt mit der Überlegung, ob der Eingriff für Betroffene alternativlos ist oder ob es für sie rechtmäßige und zumutbare Möglichkeiten gibt, ihm oder seinen Folgen auszuweichen.63 Besteht die Möglichkeit, sich im Rahmen der Freiheitsgarantie so zu verhalten, dass man den Eingriff oder seine Wirkungen vermeiden kann, so ist dessen Gewicht ein geringeres. Hier hängt also die Möglichkeit der Eingriffsminimierung nicht nur vom Staat, sondern auch vom Betroffenen ab. Es ist insoweit auch an ihm, ob der Eingriff schwerer oder leichter wiegt. Regelmäßig wird hier auch der Gedanke eingeführt, ob der Betroffene den Eingriff durch eigenes Verhalten veranlasst hat oder aber diese anlassunabhängig stattfand.64 Dabei ist nicht maßgeblich, ob der Eingriff überhaupt einen Anlass hatte:65 Vielmehr kommt es darauf an, ob dieser Anlass von außen an den Betroffenen herangetragen worden ist – er kommt an einer Gefahrenstelle vorbei, ohne die Gefahr selbst (mit-)verursacht zu haben – oder aber ob er an der Entstehung dieses Anlasses selbst mitgewirkt hat. Wer durch eigenes Verhalten den Verdacht einer Straftat begründet hat, hat regelmäßig keinen grundgesetzlichen Anspruch darauf, von Aufklärungs- oder Ahndungseingriffen verschont zu bleiben. Nicht maßgeblich für das gewicht des Eingriffs ist hingegen, ob staatliche Überwachungsmaßnahmen und Aufklärungsbefugnisse theoretisch umgangen werden können oder nicht. Kriminelle, rechtswidrige Handlungsweisen oder ein Verhalten, das ausschließlich einzelnen Experten möglich ist, mindern das Gewicht des Eingriffs nicht.66 Damit eng zusammen hängt das Kriterium, ob der Einzelne den Eingriff rechtmäßig und zumutbar abwehren kann.67 Findet der Eingriff offen statt, können ggf. Rechtsmittel eingelegt werden, welche den Eingriff selbst oder jedenfalls seine Folgen minimieren. Findet er hingegen heimlich oder verdeckt statt, so bemerkt der Betroffene ihn nicht und kann deshalb auch zu seiner Überprüfung oder gar Abwehr nicht initiativ werden.68 Die allgemeine Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde gegen die Eingriffsermächtigung zu erheben, reicht als zumutbare Abwehrmöglichkeit nicht aus: Sie ist ihrerseits regelmäßig erst zulässig, wenn Rechtsbehelfe gegen Vollzugsmaßnahmen unzulässig, unmöglich oder unzumutbar sind (§ 90 Abs. 2 BVerfGG). 62
Zu solchen „additiven“ Grundrechtseingriffen BVerfGE 112, 304 (319 f.). BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 210. 64 Dazu BVerfGE 100, 313 (376, 392); 107, 299 (320 f.); 109, 279 (353); 113, 29 (53); 113, 348 (383); 115, 320 (354); 120, 378 (402). 65 Ein solcher ist für Grundrechtseingriffe oberhalb der Bagatellschwelle stets erforderlich; s. MVVerfG, DVBl. 2000, 71 ff.; BWVGH, NVwZ 2004, 498. 66 BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 210. 67 BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 212 (247 ff.). 68 BVerfGE 113, 348 (383 f.); 118, 168 (197 f.); 120, 378 (403). Ob sich das besondere Gewicht eines solchen Eingriffs aus dem Persönlichkeitsschutz oder aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ergibt, kann an dieser Stelle offen bleiben. 63
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3. Rechtsfolgenbezogene Kriterien: Informationserhebung und Informationsverwendung Als weiteres Kriterium für die Eingriffsschwere können die möglichen Folgen einer Informationserhebung bzw. -verarbeitung gelten. Können die Informationen zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen – etwa: Einleitung von Strafverfahren – führen, so wirkt nicht nur deren Einleitung, sondern schon die vorgelagerte Informationsverarbeitung schwer.69 Insoweit gibt es rechtlich eine Verknüpfung von Verarbeitungsvorgang und Verarbeitungszweck. Sie bezieht auch die der Verarbeitung vorgelagerte Informationserhebung ein: Die technischen und rechtlichen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und -verwendung sind demnach geeignet, auch das Gewicht des Erhebungseingriffs zu erhöhen.70 Daraus folgt zugleich: Rechtliche Regelungen über die Verwendung der erhobenen Informationen bestimmen die Schwere des Informationseingriffs mit. Je eindeutiger einzelne mögliche Folgen der Datenverarbeitung ausgeschlossen sind, desto eher kann eine vorgelagerte Informationserhebung oder -verarbeitung zulässig sein. Dabei können namentlich im Polizeirecht auch noch so ausgeklügelte Normen die allgemeinen Risiken der oft noch defizitären Sachverhaltsfeststellung, der Prognose und möglicher Irrtümer nie ganz ausschließen: Das allgemeine Risiko, zu Unrecht einer Straftat oder als Urheber einer Gefahr verdächtigt zu werden, ist danach kein spezifisches Risiko der Verarbeitung personenbezogener Daten. Erst wenn diese das allgemeine Risiko weiter steigert, liegt ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vor.71 Vorausgesetzt ist dabei allerdings stets, dass Verwendungsregeln überhaupt in Kraft sind und hinreichend bestimmte Aussagen über die Frage enthalten, zu welchen Zwecken die Informationen erhoben bzw. verarbeitet werden dürfen. Je grundrechtssensibler iSd zuvor genannten Kriterien ein Erhebungsvorgang ist, desto klarer, bestimmter und transparenter müssen nicht nur die Erhebungs-, sondern auch die Folgeregelungen sein. Dies bezieht sich auf die Tatbestands- wie auch die Rechtsfolgenseite: Je intensiver der Grundrechtseingriff, desto höher und eindeutiger müssen die Eingriffsschwellen geregelt sein.72 Völlig unklare, unzulängliche oder unübersichtliche Folgeregelungen begründen eine erhebliche Eingriffsschwere auch für solche Maßnahmen, welche „für sich“ eher peripherer Natur sein mögen.73 Dies schließt allgemeine Regeln zum Zweck der Datenverarbeitung und des Datenschutzes zwar nicht völlig aus. Auch Generalklauseln sind nicht stets unzulässig. Grenzen sind aber erreicht, wo die verarbeiteten Informationen besonders grundrechtssensibel iSd hier genannten Kriterien 1. und 2. sind und deshalb ein bereichsspezifisches Datenschutzrecht geboten ist. Sie sind ferner dort erreicht, wo die Ma69 70 71 72 73
BVerfGE 118, 168 (197); 120, 378 (403). BVerfGE 100, 313 (376); 113, 348 (382); 115, 320 (347); 118, 168 (197). BVerfGE 107, 299 (321); 115, 320 (351); 118, 168 (197). BVerfGE 120, 378 (428) (Nachw.). BVerfGE 110, 33 (54 ff.); 115, 351; 120, 407 f.
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terie gänzlich unbestimmt, intransparent und nur noch für einzelne Experten überschaubar geregelt ist.74 Die im Datenschutzrecht allerorten ausgeprägte Tendenz, Informationsverarbeitungsregelungen auf den Verarbeitungszweck und die Erforderlichkeit für diesen Zweck zu beschränken, wird jedenfalls in dieser Allgemeinheit von der Verfassungsrechtsprechung nicht mehr gebilligt.75 Darin liegt nicht der Ruf nach mehr, sondern nach einem anderen und besseren Informationsverarbeitungsrecht. 4. Die gesellschaftliche Dimension des Datenschutzes: Freie Bürger in einer freien Gesellschaft Die hier zu diskutierende Dimension der Eingriffsschwere stellt das umstrittenste Kriterium überhaupt dar. Es geht dabei um die Frage, inwieweit Maßnahmen der Informationserhebung und -verarbeitung Wirkungen nicht nur gegenüber unmittelbar Betroffenen, sondern auch gegenüber Dritten erlangen können. Denn die Grundrechte garantieren nicht nur die Freiheit des Einzelnen, sondern darüber hinaus die Freiheit der Gesellschaft als Trägerin der Demokratie. Diese wird beeinträchtigt, wenn Überwachungsmaßnahmen eine einschüchternde Wirkung erlangen können,76 welche nicht nur Betroffene selbst, sondern auch Andere von der Ausübung anderer Grundrechte, etwa der Ausübung der Versammlungsfreiheit,77 der Meinungsfreiheit oder der Freizügigkeit, abhalten könnten. In der Rechtsprechung nimmt die Formel vom Schutz vor „Einschüchterung“, „Gefühl der Bedrohung“ bzw. dem Gefühl des Überwachtseins inzwischen einen weiten Raum ein.78 Die wichtige und daher überaus ernst zu nehmende Kritik geht in zweierlei Richtung. Eine Kritik79 geht dahin, dass das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung ein Individualgrundrecht sei und daher des individuellen Trägers bedürfe. Für die Bestimmung des Gewichts des Eingriffs sei daher allein die Betroffenheit des Einzelnen, nicht hingegen diejenige Dritter oder aber der Gesellschaft insgesamt maßgeblich. Dabei wird möglicherweise übersehen, dass Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung sich gerade nicht allein auf Bereiche beziehen, in welchen der Einzelne mit sich allein und der Kenntnisnahme Anderer völlig entzogen ist. Im Gegenteil: Datenschutz ist wesentlich Schutz vertraulicher Kommunikation, welche Kommunikationsvorgänge und Kommunikationspartner voraussetzt. Dass diese Kommunikation auch in die Öffentlichkeit hineinreichen kann, schließt sie vom Datenschutz jedenfalls nicht vollständig aus. Und wenn freie gesellschaftliche Kommu74
BVerfGE 110, 33 (53 ff., 64 ff.); 120, 378 (407 ff.). BVerfGE 118, 168 (197). 76 BVerfGE 107, 299 (328); 115, 320 (354 f.); 120, 378 (402); BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 212 (241 ff.). 77 So schon BVerfGE 69, 315 (349), für „exzessive Observationen und Registrierungen“. Die hier möglicherweise entstehende Frage, welches das im Einzelfall beeinträchtigte Grundrecht sein kann, muss hier außen vor bleiben. 78 Zuletzt BVerfG, NJW 2010, 833, Rn. 213 (242). 79 Bull, Informationelle Selbstbestimmung (Fußn. 2), S. 18 f. (62 f., 77 f.). 75
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nikation durch den Staat unmöglich gemacht bzw. wesentlich erschwert würde, so bliebe dieses umgekehrt auch nicht ohne Rückwirkung auf die Möglichkeit der Freiheitsausübung Einzelner. Insoweit können auch derartige, möglicherweise lediglich „mittelbare“ Eingriffsfolgen in die Abwägung einbezogen werden. Grundrechtstheoretisch ist dies schon frühzeitig erkannt worden: Die Grundrechte sind eben nicht nur (Abwehr-)Rechte der Einzelnen, sondern zugleich gesellschaftliche Ordnungselemente für alle Bereiche des Gemeinwesens.80 Als solche sind sie auch in die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Maßnahmen einzubeziehen. Eine andere Frage kann hingegen sein, ob diese Grundrechtsdimension im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden darf. Hier kann die prozessual zu begreifende Antragsbefugnis („…seine Grundrechte…“) möglicherweise enger gefasst sein als die materiellen Grundrechtsdimensionen. Diese Frage muss hier aber offen bleiben. Die andere Kritikrichtung geht dahin, dass der Schutzbereich des Grundrechts die informationelle Selbstbestimmung und deren Beeinträchtigung erfasse, nicht hingegen Gefühle wie etwa das „Gefühl des ständigen Überwachtwerdens“ bzw. der „diffusen Bedrohlichkeit“.81 Tatsächlich ist der rechtliche Schutz von (Sicherheits-)Gefühlen nicht unumstritten.82 Unterhalb dieser grundsätzlichen Diskussionsebene stellt sich aber eine wesentlich praktischere Frage:83 Darf der Staat ein Verhalten nicht verbieten, dann darf er auch kein Überwachungsverhalten zeigen, welches den Einzelnen dazu veranlasst, wegen der erkennbaren oder noch nicht erkennbaren nachteiligen Folgen „freiwillig“ auf seine Freiheit zu verzichten. So richtig und wichtig dieser Grundgedanke ist, so bleibt er in der Praxis an mindestens zwei Punkten schwer zu konkretisieren. (1) Der eine ist die Frage nach der Kausalitätskette, also der Frage, unter welchen Voraussetzungen welche staatliche Maßnahmen in beschreibbarer Weise den Effekt aufweisen können, die Ausübung der Freiheit zu verhindern oder wesentlich zu erschweren. Solche monokausalen Erklärungen sind um so schwieriger, als die individuelle Entscheidung über die Art der Freiheitsausübung oder -nichtausübung regelmäßig von einem komplexen Informations-, Motiv- und Bewusstseinsbündel abhängt.84 Dann allerdings sind die tatsächlichen Anforderungen an einen derartigen Grundrechtsschutz kaum anders als intuitiv zu ermitteln. (2) Der andere ist die Notwendigkeit einer typisierenden Betrachtung. Jenes Motivbündel, das der Einzelne seinen Entscheidungen zugrunde legt, ist auch subjektiv durch Erlebnisse, Erfahrungen und Befindlichkeiten geprägt. Ob der Einzelne also von seiner Entscheidungsfreiheit diesen oder jenen Gebrauch macht, lässt sich regelmäßig nicht einfür allemal ermitteln, sondern ist von individuellen Umständen geprägt. Mutige Menschen werden dies anders sehen als ängstliche; wer etwas zu verliere hat, mag dies 80
BVerfGE 7, 198 (205 f.), mit der heute umstrittenen Formel von der „Wertordnung“. Schluckebier, Sondervotum (Fußn. 43), Rn. 313; Bull, Informationelle Selbstbestimmung (Fußn. 2), S. 61 ff.; ders., in: Möllers/van Ooyen (Hg.) (Fußn. 24), S. 317 (325 ff.). 82 Zusammenfassend Schewe, Das Sicherheitsgefühl und die Polizei, 2009. 83 Zum Folgenden Gusy, KritV 2010, 119 f. 84 Dazu – unter allerdings ganz anderem Aspekt – Meyer, in: Augsberg u. a. (Hg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, 2008, S. 111 (113 ff.). 81
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anders sehen als Personen, die nichts zu verlieren haben; und wer nicht weiß, wie mutig er ist oder was er zu verlieren haben könnte, mag dies noch wieder anders sehen. Rechnet man zudem die empirischen Befunde über das Sicherheitsgefühl hinzu, so zeigt sich: Allgemeine und allgemein gültige Normen lassen sich so kaum aufstellen; es bleibt immer eine typisierende Betrachtungsweise eines notwendig abstrakten „Normmenschen“, welche die notwendigen individuellen Bedingungen von Freiheitsausübung oder -nichtausübung im Einzelfall höchstens zufällig beschreiben kann. Demnach gilt: Der Grundgedanke einer freien Gesellschaft und ihres Schutzes durch die Grundrechte ist anerkennenswert. Doch auch wer die Prämissen eines Einschüchterungsverbots teilt, kann sie nur schwer in allgemein gültige Handlungs- und Entscheidungsnormen umsetzen.85 Dies mindert nicht ihre rechtliche Relevanz, erschwert allerdings die Rationalisierbarkeit von Ableitungen und die Legitimation von Entscheidungen.86 Von daher ist es einleuchtend, dass hier das umstrittenste Kriterium der Eingriffsschwere liegt. V. Schluss: Ende oder Wende des Datenschutzrechts? Eine Ausarbeitung dieser Art könnte dazu reizen, der Frage nachzugehen, wie die umstrittenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einzuordnen wären. Doch möchte ich darauf hier verzichten, zumal die neuere Diskussion wesentliche Grundlagen und Weichenstellungen gerade der Rechtsprechung dieses Gerichts zu danken hat. Doch bleibt festzuhalten: Das allgemeine Datenschutzrecht ist gegenwärtig in einer Grundsatzdiskussion. Ob und inwieweit diese auch das bereichsspezifische Datenverarbeitungsrecht der Sicherheitsgesetze betrifft, ist daher allenfalls umrisshaft zu erkennen. Insbesondere bei Eingriffen in besondere Grundrechte zum Schutz der Privatsphäre und bei der Verwendung der Informationen zur (möglichen) Vorbereitung weiterer Grundrechtseingriffe sind qualifizierte Sonderregelungen notwendig. Umgekehrt zeichnet sich ein allgemeines Informationsverkehrsrecht namentlich bei weniger sensiblen Daten ab. Darin liegt keine Schwächung und erst recht keine Abkehr vom Gedanken des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung, sondern zeit- und sachgerechte Fortentwicklung. Es ist notwendig, die Konzepte aus den 80er Jahren auf ihre Sinnhaftigkeit und ihre inhaltliche Ausrichtung zu überprüfen. Was damals weitgehend noch auf Prognosen basierte, ist inzwischen partiell eingetreten, partiell aber auch nicht. Von solchen Entwicklungen kann das Recht nicht unberührt bleiben. Das gilt auch für die Rechtswissenschaft. Deren Aufgabe geht über 85 Dies schließt umgekehrt nicht von vornherein aus, einzelne Dimensionen des Sicherheitsgefühls durch besondere Rechtsnormen zu schützen, wie es etwa in § 241 StGB (Bedrohung) oder § 238 StGB (Verbot des Nachstellens, sog. „stalking“) geschehen ist. Zu den rechtlichen Anforderungen an solche Normen s. näher Schewe (Fußn. 82), S. 258 f. 86 Dazu zuletzt Schuppert u. a. (Hg.), Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, 2010.
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Kritik an Gesetzen und Gerichtsurteilen weit hinaus. Es geht auch um begründete Anregungen für jene Neuorientierung. Wer Qualität fordert, muss auch zur Klärung der Frage beitragen, worin diese liegt und was ihre Maßstäbe sein können. Dazu sollte hier ein kleiner Versuch geliefert werden.
Die polizeiliche Überwachung von entlassenen Straftätern Von Dieter Lorenz Zu den Problemkreisen, mit denen sich Wolf-Rüdiger Schenke schon in seinen frühen Arbeiten und auch später immer wieder beschäftigt hat, gehört das Verhältnis zwischen Polizeirecht und Strafrecht, zwischen präventivem und repressivem staatlichem Handeln.1 Diese Thematik hat eine neue Aktualität durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gewonnen, der die nachträgliche Sicherungsverwahrung (in einem weiteren Verständnis) als konventionswidrig beanstandete und dadurch für erhebliche Unruhe in der Strafgerichtsbarkeit sorgte. Sie bringt gravierende Auswirkungen auf die polizeiliche Aufgabenerfüllung mit sich2 und hat inzwischen auch die Verwaltungsgerichte erreicht.3 I. Die Rechtsprechung des EGMR zur Sicherungsverwahrung und ihre Folgen Zum Schutz der Allgemeinheit vor besonders gefährlichen Straftätern kann das Gericht gemäß § 66 StGB bei der Verurteilung auch die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen. Sie war ursprünglich auf zehn Jahre begrenzt (§ 67d Abs. 3 StGB a. F.), wird aber nunmehr gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n. F. nach Ablauf dieser Frist (nur dann) für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr erheblicher Straftaten des Untergebrachten mit schweren seelischen oder körperlichen Schädigungen der Opfer besteht. Diese Neuregelung war durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 1. 19984 eingeführt worden und gemäß Art. 1a Abs. 3 EGStGB a. F. – beziehungsweise ist nunmehr gemäß § 2 Abs. 6 StGB n. F. – auch anwendbar, wenn die Tat vor Verkündung und Inkrafttreten des Gesetzes begangen und abgeurteilt worden war. Das BVerfG 1
Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsschutz gegen Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei, VerwArch 60 (1969), 332; ders., Rechtschutz bei strafprozessualen Eingriffen von Staatsanwaltschaft und Polizei, NJW 1976, 1816; ders., Probleme der Übermittlung und Verwendung strafprozessual erhobener Daten für präventivpolizeiliche Zwecke, in: Festgabe für Hilger, 2002, S. 225. 2 Vgl. Amann/Steinle, Kriminalistik 2011, 23. 3 Vgl. OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris); VG Freiburg, B. v. 29. 12. 2010 (juris); VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris). 4 BGBl I S. 160.
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hatte diese nachträgliche Verlängerung der Freiheitsentziehung, einer Maßnahme präventiver Sicherung, mit Urteil vom 4. 2. 2004 als verfassungsgemäß erklärt.5 Demgegenüber verwarf der EGMR in seiner Entscheidung vom 17. 12. 20096 die Differenzierung zwischen repressiver und präventiver Freiheitsentziehung und sah in der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die Dauer von zehn Jahren hinaus eine Verletzung der Art. 5 Abs. 1; 7 Abs. 1 EMRK. Auf der Grundlage dieser Entscheidung, die nicht nur den weiteren Maßregelvollzug in dem konkreten Fall unzulässig machte, sondern als maßgebliche Leitlinie auch allgemein bei der Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts zu beachten ist (Art. 1, 46 EMRK),7 erklärten eine Reihe von Oberlandesgerichten8 eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung in Altfällen für unzulässig und ordneten – ungeachtet des erheblichen Gefährdungspotentials der Betroffenen – deren Entlassung an. Andere Oberlandesgerichte sowie der 5. Strafsenat des BGH bejahten weiterhin die rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F.9 Auch das BVerfG lehnte den Erlass einstweiliger Anordnungen (§ 32 BVerfGG) zugunsten von Beschwerdeführern ab, denen, ungeachtet der Entscheidung des EGMR eine sofortige Entlassung verweigert worden war.10 Durch Urteil vom 4. Mai 201111 erklärte es jedoch die Sicherungsverwahrung in ihrer gegenwärtigen Ausgestaltung insgesamt für verfassungswidrig, aber nicht nichtig, machte aber ihren weiteren – rückwirkenden – Vollzug vom Vorliegen einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten sowie der Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK und damit einer psychischen Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 TherapieUG abhängig (Rn. 156). Mit der Freilassung der weiterhin hochgradig gefährlichen Untergebrachten öffnete sich erneut die Lücke im strafrechtlichen System präventiver Sicherung, die durch das Gesetz vom 26. 1. 1998 gerade hatte geschlossen werden sollen. Um sie zu überbrücken, wurden die potentiellen Rückfalltäter unter ständige polizeiliche Bewachung gestellt, die von bis zu fünf Polizeibeamten täglich 24 Stunden wahrgenommen wird12 (im Folgenden: Polizeiliche Dauerüberwachung). Diese Substitution strafrechtlicher Sicherung ist nicht nur mit einem immensen personellen und finan-
5
BVerfGE 109, 133 (167 ff., 180 ff.). EGMR, NJW 2010, 2495 = EuGRZ 2010, 25; vgl. auch U. v. 13. 1. 2011, DÖV 2011, 280. 7 Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Art. 46, Rn. 6 ff., 9; Grabenwarter, JZ 2010, 857; BVerfGE 111, 302 (319). 8 Vgl. die Aufzählung bei BGH (5. Strafsenat), B. v. 9. 11. 2010, NJW 2011, 240; ferner OLG Rostock, B. v. 20. 1. 2011 (juris); ebenso BGH (4. Strafsenat), B. v. 12. 5. 2010, NStZ 2010, 567, zu § 66b Abs. 1 StGB a. F. 9 Vgl BGH, Anfrage-B. v. 9. 11. 2010, NJW 2011, 240, und die dortige Aufzählung; ferner OLG Koblenz, B. v. 2. 12. 2010 (juris); OLG Celle, B. v. 17. 1. 2011 (juris); HambOLG, B. v. 24. 1. 2011 (juris). 10 BVerfG (K), B. v. 19. 5. 2010, NJW 2010, 2501; B. v. 30. 6. 2010, EuGRZ 2010, 536. 11 2 BvR 2333/08 u. a.(juris). 12 Vgl. Amann/Steinle, Kriminalistik 2011, 21; VG Freiburg, B. v. 29. 12. 2010 (juris). 6
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ziellen Aufwand verbunden, sondern begegnet auch tiefgreifenden rechtlichen Bedenken. Diese sind nicht im Hinblick auf die überschaubare Zahl der konkreten Einzelfälle zu vernachlässigen, und sie erledigen sich auch nicht mit der Aufrechterhaltung der geltenden Unterbringungsregelung durch das BVerfG bis zum 31. 5. 2013, zumal diese ja noch deutlich eingeengt wurde. Denn sie betreffen das grundsätzliche Problem des Verhältnisses zwischen polizeirechtlicher Prävention und strafrechtlicher Sicherung, das bereits bei der landesrechtlichen Straftäterunterbringung13 deutlich geworden war. Es stellt sich auch bei der nachträglichen Unterbringung von Gewaltund Sexualverbrechern gemäß § 66b Abs. 1, 2 StGB (a. F.), die inzwischen vom EGMR ebenfalls beanstandet14 und durch Gesetz vom 22. 12. 201015 aufgehoben wurde – im Grunde in allen Fällen, in denen eine materiell gerechtfertigte Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus formellen Gründen unterbleibt16 und deshalb zum unerlässlichen Schutz der Allgemeinheit polizeiliche Aushilfe geboten erscheint. II. Die polizeiliche Handlungsbefugnis Die polizeiliche Dauerüberwachung ist darauf gerichtet, die Verletzung hochrangiger persönlicher Rechtsgüter durch schwerste Straftaten zu verhindern, und entspricht damit in einem allgemeinen Sinn der klassischen polizeilichen Aufgabenstellung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Sie beeinträchtigt die Rechtssphäre des Betroffenen in Form eines Eingriffs, zumindest in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG),17 und bedarf deshalb einer gesetzlichen Grundlage. Hierfür kommt auf den ersten Blick die jeweilige landesrechtliche Ermächtigung zu längerfristiger Observation18 in Betracht.19 Ihre äußeren gesetzlichen Merkmale – planmäßige Beobachtung einer Person, die entweder durchgehend mehr als 24 Stunden dauern oder an mehr als zwei Tagen/während mehr als eine Woche erfolgen soll20 – sind im Fall einer ständigen Bewachung fraglos erfüllt. Gleichwohl erheben sich Zweifel, ob diese in der vorliegenden Konstellation auf die genannte Ermächtigung gestützt werden kann. 13
BVerfGE 109, 190. EGMR, U. v. 13. 1. 2011, 6587/04 (juris); vgl. auch BVerfG (K), B. v. 22. 10. 2008, NJW 2009, 980. 15 Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen (SichVNOG), BGBl I S. 2300. 16 Vgl. BVerfGE 109, 190 (230 f.). 17 Vgl. Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 537 ff. 18 Vgl. § 8c Abs. 2 Nr. 1 MEPolG; § 22 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG; § 28 saarlPolG; ebenso § 28 Abs. 2 Nr. 1 BPolG. 19 Vgl. OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris); VG Freiburg, B. v. 29. 12. 2010 (juris). 20 Zur variierenden Begriffsbildung vgl. Rachor und Petri, in: Lisken/Denninger, HdBPolR, 4. Aufl. 2007, Rn. F 326 ff.; H 224. 14
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1. Polizeiliche Datenerhebung a) Längerfristige Observation Die längerfristige Observation ist ausweislich der gesetzlichen Zuordnung ein besonderes Mittel der Datenerhebung. Sie dient der Beschaffung von Einzelangaben sachlicher oder persönlicher Art über den Betroffenen (§ 3 Abs. 1 BDSG)21 zur Aufklärung eines Sachverhalts (vgl. § 8c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 MEPolG) als Grundlage und Voraussetzung sachgerechter polizeilicher Maßnahmen zur unmittelbaren Gefahrenabwehr.22 Die Erhebung personenbezogener Daten erfolgt also nie isoliert als Selbstzweck, sondern ist funktional auf deren (weitere) Verarbeitung ausgerichtet und durch die mit dieser verbundene Zwecksetzung bestimmt. Insofern erscheint sie als Vorphase für die eigentliche Verwendung der gewonnenen Erkenntnisse,23 wenngleich diese nicht begriffswesentlich für eine Datenerhebung ist.24 Dies gilt auch für die längerfristige Observation.25 Durch sie sollen – wie sich auch aus dem legislativen Kontext mit weiteren Ermittlungsinstrumenten ergibt (§ 8c Abs. 2 MEPolG) – Informationen erlangt werden, die zur Wahrnehmung gesetzlich im einzelnen festgelegter polizeilicher Aufgaben erforderlich sind. Infolge ihrer zeitlichen Nachhaltigkeit stellt sie einen besonders intensiven Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG)26 dar.27 Dementsprechend ist ihre Anwendung an engere sachliche Voraussetzungen gebunden und unterliegt verfahrensmäßigen Sicherungen (vgl. § 8c Abs. 1 Satz 2 MEPolG). b) Polizeiliche Dauerüberwachung Gegenüber diesem Informationsinstrument weist die polizeiliche Dauerüberwachung grundlegende finale und modale Unterschiede auf, die sie als andersartige Maßnahme erscheinen lassen und der Anwendung der für jene bestehenden gesetzlichen Ermächtigung entgegenstehen.28 Sie dient nicht nur mittelbar vorbereitend der Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit, sondern ist unmittelbar auf deren Schutz vor hoch gefährlichen Straftätern gerichtet, gegen die eine (weitere) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht angeordnet wurde, obwohl deren materielle Voraussetzungen kraft gerichtlicher Feststellung (§ 67d Abs. 3 Satz 1 StGB) gegeben sind. Sie tritt damit an die Stelle des vorliegend nicht verfügbaren strafrechtlichen Instru21
Ebenso die Landesdatenschutzgesetze, vgl. z. B. § 3 Abs. 1, 2 Satz 2 Nr. 1 bwLDSG. Würtenberger/Heckmann (Fußn. 17), Rn. 538. 23 Vgl. Gola/Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz, 10. Aufl. 2010, § 3 Rn. 24; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 182. 24 Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 5. Aufl. 2003, § 3 Rn. 112. 25 Vgl. Rachor, in: HdBPolR (Fußn. 20), Rn. F 325. 26 Vgl. BVerfGE 65, 1 (45); 110, 33 (56); 115, 320 (342). 27 Petri, in: HdBPolR (Fußn. 20), Rn. H 225. 28 Andeutungsweise Zweifel auch bei OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris), Rn. 23 ff. 22
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ments direkten präventiven Schutzes und soll diesen in vergleichbarer Weise mit polizeilichen Mitteln gewährleisten.29 Die ununterbrochene Überwachung ermöglicht bei Eintritt einer konkreten Gefahrensituation den jederzeitigen Zugriff zur Verhinderung der drohenden Rechtsverletzung30 und minimiert allein schon durch ihre Existenz, die dem Betroffenen bekannt ist und auch Dritten nicht verborgen bleibt, die Gelegenheit zur und das Risiko der Begehung einer Straftat. Die Dauerüberwachung richtet sich damit nicht auf eine, der substantiellen polizeilichen Tätigkeit vorausliegende, diese bloß vorbereitende Datenerhebung, sondern stellt unmittelbar die Schutzmaßnahme selbst dar. Die Beobachtung des Betroffenen führt freilich naturgemäß zur Kenntnisnahme seiner persönlichen und sachlichen Verhältnisse. Äußerlich gesehen geht mit ihr deshalb im formalen Sinn des allgemeinen Datenschutzrechts eine Erhebung personenbezogener Daten einher.31 Diese werden indes nicht als solche ermittelt („erhoben“). Sie ergeben sich vielmehr zwangsläufig aus der Beobachtung als tatsächliche Voraussetzung der unmittelbar auf den materiell-inhaltlichen Erfolg des potentiellen Zugriffs gerichteten Amtstätigkeit, und sie sollen auch nicht über diese hinaus, beginnend mit einer Speicherung, weiter verwendet („verarbeitet“) werden. Die Möglichkeit der tatsächlichen Verwendung solcher Daten für (weitere) polizeiliche Zwecke steht auf einem anderen Blatt. Sie unterfällt den bereichsspezifischen Regelungen über die polizeiliche Datenverarbeitung (vgl. §§ 10a ff. MEPolG), lässt aber den eigenständigen materiellen Charakter der Überwachung selbst unberührt, die folgerichtig von der auf die (bloße) Datenerhebung gerichteten Regelung nicht umfasst wird. 2. Persönlichkeitsschutz und Freiheitsbeschränkung Der Anwendung der gesetzlichen Ermächtigung für eine längerfristige Observation auf die polizeiliche Dauerüberwachung stehen jedoch auch grundrechtliche Hindernisse entgegen. Die Beobachtung einer Person, zumal wenn sie systematisch und ohne zeitliche Begrenzung erfolgt, beeinträchtigt fraglos deren Privatsphäre. Sie stellt damit einen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) dar,32 der durch die – bewusste – Störung sozialer Kommunikation besonders nachhaltig ist.33 Indes beschränkt sich die Tätigkeit der Polizei vorliegend nicht auf eine schlichte (wenn auch lang andauernde) Observation. Die Überwachung erfasst den gesamten Lebensablauf und klammert lediglich die Vorgänge innerhalb des engsten räumlichen 29
VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 267. Vgl. VG Aachen U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 241. 31 Vgl. Simitis (Fußn. 24), § 3 Rn. 108; vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 179. 32 Vgl. BVerfGE 54, 148 (153); 65, 1 (42, 45); 88, 87 (97); 101, 361 (382). 33 Vgl. OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris), Rn. 69; VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 47. 30
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Persönlichkeitsbereichs der Privatwohnung (Art. 13 GG)34 aus. Diese ständige Beschattung durch Polizeibeamte schließt die Zielperson virtuell35 in einen eng begrenzten, mobilen Raum permanenter Verfügbarkeit ein und beeinträchtigt faktisch die Entscheidungsfreiheit für einen Ortswechsel als Vorstufe körperlicher Bewegung in solchem Maße, dass diese selbst eingeschränkt ist.36 Wer auf Schritt und Tritt hoheitlich bewacht wird, verliert den „Spielraum zur körperlichen Bewegung innerhalb des Lebenskreises … als Ausdruck unmittelbarer Beliebigkeit“.37 Damit schlägt der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) in eine Beschränkung der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) um. Der Betroffene ist zwar physisch nicht gehindert, sich frei zu bewegen und beliebige Orte aufzusuchen.38 Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die körperliche Bewegungsfreiheit39 jedoch nicht nur gegen deren völlige Entziehung (Art. 104 Abs. 2 GG), so durch Haft oder Unterbringung, sondern auch gegen sonstige Arten einer Beschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG). Dabei ist maßgeblich auf die Integrität des grundrechtlichen Schutzbereichs abzustellen. Eingriffe in die persönliche Freiheit liegen deshalb, entgegen einer verbreiteten Meinung,40 auch vor, wenn die freie Entscheidung, einen Ort zu verlassen oder aufzusuchen, ohne (drohenden) unmittelbaren physischen Zwang41 und als bloß faktische negative Auswirkung eines auf andere Ziele gerichteten staatlichen Handelns42 beeinträchtigt oder aufgehoben ist. 3. Gesetzesvorbehalt Als Eingriff in die Freiheit der Person bedarf die Dauerüberwachung der Ermächtigung in einem förmlichen Gesetz, Art. 2 Abs. 2 Satz 3; 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Dabei ist dem hohen Rang des Freiheitsgrundrechts Rechnung zu tragen,43 das Einschränkungen nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Ge34
Vgl. BVerfGE 109, 279 (309 ff.). Vgl. Wittreck, in: HdBStR, Band VII, 3. Aufl. 2009, § 151 Rn. 9, allerdings für die Bestimmung des Schutzbereichs. 36 Ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Komm. zum Grundgesetz, Band 1, 6. Aufl. 2010, Art. 2 II Rn. 197; Niedzwicki, NdsVBl 2005, 257, für elektronische Fußfessel. 37 Zitat Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 99. 38 Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 229; Gusy, NJW 1992, 457. 39 BVerfGE 94, 166 (198); 105, 239 (247); Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 10. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 112. 40 Vgl. Degenhart, in: Sachs, Grundgesetz (Fußn. 38), Art. 104 Rn. 4; Jarass/Pieroth (Fußn. 39), Art. 2 Rn. 114; Schulze-Fielitz (Fußn. 37), Art. 2 II Rn. 101, 104. 41 So deutlich Starck (Fußn. 36), Art. 2 II Rn. 197; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Komm. zum Grundgesetz, Band 3, 6. Aufl. 2010, Art. 104 Abs. 1 Rn. 18; Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 25. Aufl. 2009, Rn. 443; Wittreck (Fußn. 35), § 151 Rdnr. 9. 42 Vgl. allgemein BVerfGE 105, 252; 105, 279. 43 Vgl. BVerfGE 10, 302 (322); 65, 317 (322); 117, 71 (95); Wittreck (Fußn. 35), § 151 Rn. 6 f. 35
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währleistungen zulässt.44 Solche Schutzvorkehrungen verfahrensrechtlicher Art können in einem Richtervorbehalt bestehen,45 wie er für nachhaltige Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, etwa eine strafprozessuale (§ 163 f Abs. 3 StPO)46 oder die Verlängerung einer bundespolizeilichen Observation über einen Monat hinaus (§ 28 Abs.3 BPolG), vorgesehen ist. Hierüber hat jedoch der Gesetzgeber zu entscheiden. Will man in der Dauerüberwachung, vergleichbar der elektronischen Aufenthaltsbestimmung (Fußfessel),47 eine Freiheitsentziehung sehen,48 so greift bereits der verfassungsrechtliche Richtervorbehalt ein. Demgegenüber ist die längerfristige Observation polizeigesetzlich lediglich als Persönlichkeitseingriff geregelt und deshalb nicht an weitergehende Voraussetzungen zum effektiven Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2; 104 Abs. 1 GG) geknüpft. Auch aus diesem Grund bietet diese Ermächtigung damit keine Rechtsgrundlage für eine polizeiliche Dauerüberwachung. Erst recht kann sie nicht auf die polizeiliche Generalklausel gestützt werden.49 Zwar sind Grundrechtseingriffe auf ihrer Grundlage nicht prinzipiell ausgeschlossen.50 Indes ergibt sich schon systematisch aus der Zulassung der längerfristigen Observation durch eine Spezialermächtigung, dass dann eine solche für den weit intensiveren Eingriff der Dauerüberwachung nicht entbehrlich sein kann. Vor allem aber verlangt deren grundrechtliche Relevanz eine hinreichend klare und bestimmte Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers nicht nur über die Modalitäten, insbesondere die Dauer des Eingriffs, sondern zu allererst schon darüber, gerade diese spezifische Ausprägung einer Freiheitsbeschränkung zuzulassen.51 III. Die bundesstaatliche Problematik Das normimmanente Defizit des Mangels einer gesetzlichen Ermächtigung wird überlagert durch die bundesstaatliche Problematik, die in der präventiven Sanktionierung einer Straftat durch das Landesrecht liegt. Die polizeiliche Dauerüberwachung steht mit der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in engem systematischem und sachlichem Zusammenhang.52 Die44
BVerfGE 86, 288 (326); 117, 71 (95). Ebenso VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 159 ff. 46 Vgl. BVerfG (K), B. v. 2. 7. 2009, 2 BvR 1691/07 (juris). 47 Vgl. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB; Kinzig, NJW 2011, 177. 48 So Niedzwicki, NdsVBl 2005, 257. 49 Vgl. Schenke (Fußn. 31), Rn. 72, 187. Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2008, § 14 Rn. 104; Gusy (Fußn. 41), Art. 104 Rn. 26. Demgegenüber als Hilfserwägung aber OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris), Rn. 61 ff.; großzügiger auch Degenhart (Fußn. 40), Art. 104 Rn. 11. 50 BVerfGE 54, 143; BVerwGE 115, 189. 51 Vgl. Gusy (Fußn. 41), Art. 104 Abs. 1 Rn. 25. 52 Vgl. auch VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 214 ff. 45
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ser wird hergestellt einerseits durch die übereinstimmende präventive Zielsetzung des Schutzes der Allgemeinheit vor verurteilten und weiterhin gefährlichen Straftätern, andererseits durch die wechselseitige Substitution der freiheitsbeschränkenden Instrumente in Form einer hier räumlichen, dort mentalen, „virtuellen“ körperlichen Einschließung des Betroffenen. Dabei antwortet die polizeiliche Maßnahme nicht isoliert auf eine (wie auch immer festgestellte) Gefährlichkeit eines mutmaßlichen künftigen Rechtsbrechers als solche, sondern auf die durch die Anlasstat(en) und eine negative Sozialprognose begründete Befürchtung der Begehung neuer Straftaten. Die polizeiliche Überwachung des Verurteilten im Anschluss an dessen Entlassung aus staatlichem Gewahrsam tritt an die Stelle der formal nicht (mehr) möglichen Unterbringung und übernimmt deren Schutzfunktion auf einer Stufe geringerer Eingriffsintensität53 und Effektivität; denn eine selbst umfassende und dichte Überwachung kann nicht, wie die reale Einschließung, absolut gewährleisten, dass eine Rechtsverletzung verhindert wird. Sie knüpft damit ausschließlich an Umstände von strafrechtlicher Relevanz an: eine Verurteilung, mit der wegen des Gewichts der Straftat(en) materiell die Anordnung der Unterbringung einhergehen kann (§§ 67d Abs. 3; 66; 66b StGB), die fortdauernde, durch gerichtlich eingeholte Gutachten festgestellte Gefährlichkeit des Verurteilten (§ 463 Abs. 3 StPO)54 sowie das Unterbleiben einer (weiteren) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Jene weitere Folge der Straftat(en) stellt sich damit als staatliche Reaktion auf diese dar. Sie ist dem Gebiet des Strafrechts im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzurechnen und fällt in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, von der dieser abschließend Gebrauch gemacht hat.55 Der Konsequenz,56 dass damit eine landesrechtliche Zulassung der polizeilichen Dauerüberwachung verfassungswidrig ist (Art. 70 Abs. 1; 72 Abs. 1 GG), steht nicht entgegen, dass die genannte Anknüpfung der polizeilichen Maßnahme nicht ausdrücklich als deren rechtlich verbindliche Voraussetzung normiert ist. Denn der freiheitliche Rechtsstaat wird nur durch diese Indizien überhaupt zur Überprüfung einer Gefährlichkeit seiner Bürger und darauf beruhender Freiheitsentziehung,57 aber auch zu einer nachhaltigen Freiheitsbeschränkung der vorliegenden Art legitimiert. Die Polizei ist nicht befugt, vorsorglich für gefährlich gehaltene Personen zu beschatten, ohne dass diese durch Straftaten und darauf beruhender – verlässlicher – Prognose hierfür Anlass gegeben hätten. Die polizeilichen Maßnahmen sind damit nicht bloß tatsächlich, sondern auch rechtlich auf Straftäter beschränkt. Obwohl nach dem bloßen, rein formalen Gesetzeswortlaut ein Vorgehen auch gegen andere Perso53
Vgl. OVGSaarl, B. v. 16. 12. 2010 (juris), Rn. 77 ff. Vgl. dazu und zur Verwertbarkeit im Verwaltungsverfahren VG Aachen, U. v. 24. 1. 2011 (juris), Rn. 220. 55 BVerfGE 109, 190 (212 ff., 218 f.). 56 Vgl. BVerfGE 102, 99 (115); 109, 190 (230). 57 Vgl. näher BVerfGE 109, 190 (220). 54
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nen als möglich erscheint, ist in diesem Sinn das Vorliegen einer gravierenden Anlasstat „notwendige Bedingung“58 für diese Art polizeilicher Überwachung, für die andernfalls ein rechtsstaatlich zureichender Grund gar nicht bestünde. Unerheblich ist auch, dass die polizeiliche Maßnahme nicht als solche gesetzlich geregelt ist, sondern auf die allgemeinere Ermächtigung für die Datenerhebung (beziehungsweise der Generalklausel) gestützt wird, die ihrerseits unter bundesstaatlichem Aspekt neutral und deshalb unbedenklich ist. Denn diese gewinnt durch ihre konkretisierende Anwendung als Rechtsgrundlage der fraglichen Maßnahme eben diesen Rechtsgehalt, mit dem sie in die bundesrechtliche Regelungskompetenz übergreift.59 Schließlich verfängt auch nicht das Argument, dass die polizeiliche Dauerüberwachung – anders als im Fall der landesrechtlichen Straftäterunterbringung60 – keiner präventiven strafrechtlichen Sanktion inhaltsgleich ist. Denn die bundesstaatliche Kompetenzsperre für die Landesgesetzgebung (Art. 72 Abs. 1 GG) hindert diese auch am Erlass ergänzender Regelungen.61 Genau betrachtet verstößt die polizeiliche Dauerüberwachung in der hier vorliegenden Ausgestaltung sogar gegen geltendes Bundesrecht. Denn es handelt sich um eine Überwachungsmaßnahme zur präventiven Sicherung, die an einen freiheitsentziehenden Maßregelvollzug anschließt und damit in Zielsetzung wie Anlass mit der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht gemäß § 68 StGB übereinstimmt.62 Die verschiedenen, hierfür zur Verfügung stehenden Instrumente (§ 68b StGB) sind bundesrechtlich in einer abschließenden Liste63 festgelegt, die den Ländern keinen Raum für ergänzende Regelungen belässt. Sie wurde durch Gesetz vom 22. 12. 201064 um die elektronische Aufenthaltsüberwachung erweitert (§ 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 12 StGB), und es bedürfte eines erneuten bundesgesetzlichen Tätigwerdens, um auch die Dauerüberwachung des entlassenen Straftäters als intensivste „Freiheitsbeschränkung in Freiheit“ und Unterbringungssurrogat zu etablieren. Die grundrechtliche Unbedenklichkeit müsste sich dann allerdings erst noch erweisen. IV. Ausblick Die strafrechtliche präventive Sanktionierung schwerster Straftaten schließt den ergänzenden Schutz der Allgemeinheit „in konkreten Gefahrensituationen … mit den situationsbezogenen Instrumenten des Polizeirechts“ nicht aus.65 Diese gewähr58 59 60 61 62
Rn. 3. 63 64 65
BVerfGE 109, 190 (217). Vgl. auch Schenke (Fußn. 31), Rn. 49, für die polizeiliche Generalklausel. Vgl. dazu BVerfGE 109, 190 (219). Vgl. BVerfGE 102, 99 (115); 109, 190 (230); Degenhart (Fußn. 40), Art. 72 Rn. 33. Vgl. Stree, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 68 Vgl. Stree (Fußn. 62), § 68b Rn. 4. Vgl. oben Fußn. 15. BVerfGE 109, 190 (220); Hervorhebung nur hier.
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leisten weithin effektiven, wenngleich keinen absoluten und auch durch föderalistische Kompetenzgrenzen eingeschränkten Schutz. Soweit danach eine Sicherheitslücke verbleibt, wie sie durch die Entscheidungen des EGMR vom 17. 12. 2009 und vom 13. 1. 2011 sowie deren innerstaatliche judikative Umsetzung entstanden ist, muss ein aus der bundesrechtlichen Gesetzeslage resultierendes Risiko akzeptiert werden.66 Es ist im Zuge der schrittweisen Ausdehnung des Anwendungsfeldes strafrechtlicher Maßregeln (§ 61 StGB), insbesondere der Sicherungsverwahrung67 und der Führungsaufsicht, verringert worden, kann aber unter der Geltung des Freiheitsprinzips nie völlig ausgeschlossen werden.68 Kann es dem Staat nicht erlaubt sein, zur Verhinderung künftiger schwerer Straftaten etwaige diesbezügliche Dispositionen seiner Bürger aus geringfügigem (oder gar ohne) Anlass zu eruieren und vorsorgliche Maßnahmen gegen jene zu treffen,69 so muss andererseits um der Freiheitlichkeit willen ein Risiko hingenommen werden, das lediglich auf der Basis manifester persönlicher Veranlagung („infolge seines Hanges“) als Ergebnis einer Prognose erkennbar wird. Das dem allgemeinen Polizeirecht zugrunde liegende Prinzip der Verantwortlichkeit als Voraussetzung für die Inanspruchnahme als Störer70 lässt ein Einschreiten gegen den entlassenen Straftäter allein wegen dessen Rückfallgefährdung ohne konkrete Hinweise auf die Begehung einer erneuten Rechtsverletzung nicht zu. Denn damit würde die bloße Existenz eines Menschen mit einer bestimmten negativen Disposition als Störung eingeordnet und dessen sozialer Wert- und Achtungsanspruch (Art. 1 Abs. 1 GG)71 in Frage gestellt. Gefährdungen, die aufgrund seiner Persönlichkeit von ihm ausgehen, können deshalb nicht als polizeiliche Gefahr im herkömmlichen Sinn erfasst werden. Ihnen ist vielmehr durch objektive Schutzvorkehrungen zu begegnen, die unabhängig von Verschulden und persönlicher Verantwortlichkeit bereits im Vorfeld einer Gefahr Vorsorge gegen deren Entstehung treffen.72 Auch sie fallen grundsätzlich in den polizeilichen Aufgabenbereich präventiver Gefahrenabwehr, bedürfen aber über diese allgemeine Zuweisung hinaus einer spezifischen gesetzlichen Grundlage und werden praktisch weitgehend durch das strafrechtliche Instrumentarium von Maßregeln der Besserung und Sicherung gegenüber dem früheren Straftäter ausgefüllt. Auch in der vorliegend erörterten Problematik kann eine Lösung nicht vom Polizeirecht erwartet werden. Die Verantwortung liegt vielmehr bei den Strafgerichten 66 Vgl. auch BVerfGE 109, 190 – Abw. Meinung der Richter Broß, Osterloh, Gerhardt, S. 244 (250). 67 Vgl. dazu Schöch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 3. Band, 12. Aufl. 2008, Vor §§ 61 ff. Rn. 18. 68 Zum Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit vgl. etwa Möstl, (Fußn. 23), S. 37 ff. 69 BVerfGE 109, 190 (220). 70 Vgl. Schenke (Fußn. 31), Rn. 228; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2009, § 6 Rn. 2; Pieroth/Schlink/Kniesel (Fußn. 49), § 9 Rn. 1 f. 71 Vgl. dazu BVerfGE 45, 187 (227); 109, 133 (149); 117, 71 (89). 72 Vgl. Schenke (Fußn. 31), Rn. 10, 71; Möstl (Fußn. 23), S. 158 ff.
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und vor allem beim Gesetzgeber, der die notwendigen Sicherungsinstrumente schaffen und entsprechend den verfassungsgerichtlichen Vorgaben gestalten muss. In diesem Sinn hat das BVerfG in seinem Urteil vom 4. 5. 2011 (Rn. 87) das bestehende strafrechtliche Sicherungssystem europarechtskonform vorläufig aufrechterhalten. Gleichwohl verbleibende Sicherheitsdefizite durch die Existenz bekannter wie (noch) unerkannter potentieller Straftäter müssen im freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat hingenommen werden.
Prozessuale Zwischenlösungen bei der Vorratsdatenspeicherung? Verfassungsgerichtliche Nichtigkeits-Erklärung und Strafprozeß Von Hans-Ullrich Paeffgen* I. Problemansprache Das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich die Normen der §§ 113a und b des TKG in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG1,2 sowie den dabei gleichfalls novellierten § 100g Abs. 1 S. 1 StPO für verfassungswidrig erklärt.3 Der folgende kleine Diskussionsbeitrag will sich auch nicht lange mit dem „Ceterum censeo“ aufhalten, daß die Regelungsmaterie der für verfassungswidrig erklärten Normen vorrangig präventiv-polizeilicher Natur ist – und deswegen eigentlich in einem Bundesgesetz nichts zu suchen hat.4 * Bei meiner ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiterin, Frau Alexandra Kießling, darf ich mich auch hier für eine anregende Diskussion und bei meinem Kollegen Klaus F. Gärditz für eine kritische Durchsicht bedanken. 1 Ges. v. vom 21. 12. 2007, BGBl I, 3198; im Folgenden: Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung. 2 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 03. 2006 (ABlEU Nr. L 105 v. 13. 04. 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG). 3 BVerfGE 125, 260 ff. (BGBl I 2010, 272) (= EuGRZ 2010, 85 ff. = HRRS 2010 Nr. 134 ff. [je: Vollabdruck]). 4 Anders aber leider, schon immer, der Jubilar: jüngst etwa: Schenke, PolR6 (2009), Rn. 11, 30, und schon ders., JZ 2006, 707 ff. (zu BVerwG JZ 2006, 727 ff.), und mit ihm die h.M. – Nach wie vor der h.M. widersprechend: Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 328, 331, 359, 429; Paeffgen, Vorüberlegungen (1986), S. 138 (141 ff.); ders., JZ 1991, 437 (441 ff.); SKStPO-Paeffgen (2010), Vor § 112 Rn. 14 ff., 17 ff.; § 112a Rn. 4; Vor § 126a Rn. 1 f., jeweils m.z.Nw. Das war auch mal die Sicht mehrerer Landesverfassungsgerichte, etwa BayVerfGH NVwZ 1996, 166 ff. (Datenerhebung und -verarbeitung durch Polizei); BrandenbVerfG LKV 1999, 450 (451 ff.) (Brandenb PolG); MeckVPVerfG LKV 2000, 345 (346 ff.) („großer Lauschangriff“ aufgrund PolR); SächsVerfGH LKV 1996, 273 (275) (sächs. PolG) (dazu zust. Paeffgen, NJ 1996, 454 ff. und, ausführl., Paeffgen/Schumer, Das sächsische Polizeigesetz vor dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (1997), S. 8 ff. und passim); die ursprünglich einmal herrschende Sicht (vgl. BVerwGE 11, 181; 26, 169; 66, 202; BVerwG NJW 1989, 2640 [Speicherung/Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen]; vgl. auch
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Hier soll vielmehr der Focus auf Anschluß-Entscheidungen gerichtet werden, die die Strafjustiz fällte, nachdem das BVerfG gesprochen hatte. Natürlich konnten geplante Datenerhebungen, die nach dem Tag der Verkündung des Verfassungsgerichtsurteils hätten durchgeführt werden sollen, nicht mehr auf die Regelungen der §§ 113a, b TKG und § 100g StPO gestützt werden. Interessant erscheint hingegen die Frage, die deshalb nachfolgend auch erörtert werden soll, was mit den sog. ,AltdatenÐ ist, die vor der Urteilsverkündung „eingefahren“ worden waren? Dürfen sie in der vom Gesetz intendierten Weise, trotz der verfassungsgerichtlichen Verwerfung der Erhebungsnorm, benutzt werden? Dabei spielt sicher eine zentrale Rolle, daß das BVerfG bereits 2008 eine einstweilige Anordnung erlassen hatte,5 in der die Speicherung und sogar die Übermittlung von entsprechenden Daten an die Strafverfolgungsbehörden unter nur noch eingeschränkten Voraussetzungen weiterhin gestattet worden sind, nämlich, „wenn Gegenstand des Ermittlungsverfahrens gemäß der Anordnung des Abrufs eine Katalogtat i.S. des § 100a II StPO ist und die Voraussetzungen des § 100a I StPO vorliegen. In den übrigen Fällen des § 100g I StPO ist von einer Übermittlung der Daten einstweilen abzusehen. Der Diensteanbieter hat die Daten zu speichern. Er darf die Daten nicht verwenden und hat sicherzustellen, dass Dritte nicht auf sie zugreifen können.“6 Diese einstweilige Anordnung wurde dann später noch verlängert und überdies verschärft.7 Der BGH trug keine Bedenken, über die Verwendbarkeit von solchermaßen – also ex post: aufgrund von für verfassungswidrig erklärten Normen – erhobenen Daten genauso zu entscheiden8: Alles legal! In einem Fall von zahlreichen Einbruchsdiebstählen in Kindergärten, Schulen oder kirchlichen Einrichtungen sowie von Computer-Betrügereien (mit den bei jenen Taten erbeuteten Scheckkarten) und Schäden von 3420,66 E bzw. insgesamt 19730,21 E waren die Telephonverbindungsdaten bei den Ermittlungen genutzt worden. BVerwG NJW 1990, 2768 [= JZ 1991, 471 m. Anm. Paeffgen S. 437] [Änderung des Verwendungszwecks gespeicherter personenbezogener Daten]); den Gedanken immer noch hochhaltend: Denninger in: Lisken/Denninger HdBPolR4 (2007), E Rn. 176 (grundsätzlich, vgl. aber u., Fußn. 68); Knemeyer, Rudolf-FS (2001), S. 485 (492 {Ausschließlich Kompetenzbereich der Länder}; Pieroth/Schlink/Kniesel, PolR6 (2010), § 5 Rn. 4 ff. ; Würtenberger/ Heckmann, PolR Baden-Württemberg6 (2005) Rn. 181 ff. Auch in der polizeirechtlichen Literatur fand diese Sicht einmal verbreiteten Anklang: Drews/Wacke/Vogel/Martens I9 (1986), § 9, 1 (S. 132); Götz, PolR14 (2008), § 17 Rn. 22 ff.; Merten/Merten, ZRP 1991, 213 (217); in der Sache wohl auch noch Gusy, PolR7 (2009), Rn. 150: „Materiell-rechtlicher Ausgangspunkt aller Maßnahmen zur Aufklärung und Verfolgung von Straftaten ist der ,AnfangsverdachtГ (Herv. i. Orig.). 5 BVerfG Beschl. v. 11. 03. 2008, BVerfGE 121, 1 ff. (BGBl I 2008, 659). 6 BVerfG NVwZ 2008, 543, sub 1. 7 BVerfG B. v. 28. 10. 2008, BVerfGE 122, 120 (BGBl I 2008, 2239). Dort hat es diese einstweilige Anordnung noch insoweit erweitert, als auch von § 113b S. 1 Nr. 2 und 3 TKG bis zur Hauptsacheentscheidung nur mit Einschränkungen Gebrauch gemacht werden durfte. Vgl. dazu etwa Bär MMR 2009, 35 f. 8 BGH BeckRS 2011, 718 (vollständig) (= NJW 2011, 467 [in wesentlichen Teilen]).
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II. Genese Betrachten wir die einzelnen Schritte, einmal auf der Ebene des Verfassungsgerichts, zum anderen auf der der ordentlichen Gerichte. 1. Einstweilige Anordnung Das BVerfG (Kammer) hatte in dem Fall einer Massen-Verfassungsbeschwerde von über 30.000 Bf.n, wie gesagt, eine einstweilige Anordnung erlassen. Es hatte, der üblichen Suada entsprechend: „streng“, zwischen den Rechtwirkungen bei Erlaß einerseits und bei Nicht-Erlaß einer entsprechenden Anordnung andererseits abgewogen,9 und kam zu dem Resultat eines bereichsweisen Außer-Kraft-Setzens des Gesetzes. – Jedoch blieben die TK-Anbieter zur Speicherung der fraglichen Daten zunächst einmal (aufgrund der zunächst ergangenen10 und später noch einmal wiederholten11 einstweiligen Anordnung) weiterhin verpflichtet.12 Angesichts des nur peripheren Gefährdungsgrades für den individuellen Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechtes, den die „bloße“ Datenspeicherung als solche erreicht (sie ist i. d. R. jedenfalls nicht unumkehrbar), erschien dem Gericht wohl ein Rückgriff auf seine latenten Interventionsvorbehalte zur Überprüfung von EU-Akten an dem GG nicht geboten.13 Insoweit sah sich das BVerfG entscheidungsberufen und prüfte deshalb, hier schon im Rahmen einer vorläufigen Folgenabwägung, ob die Nachteile für den Betroffenen durch einen Verkehrsdatenabruf mit Eingriff in dessen Grundrecht aus Art. 10 GG gegenüber den Nachteilen für das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafverfolgung überwögen, soweit kein Verdacht einer schweren Straftat i.S.d. § 100a Abs. 2 StPO vorliege. Im letztgenannten Fall, also bei Katalogtaten i.S.v. § 100a Abs. 2 StPO, schien ihm der Strafverfolgungs-Vorrang hingegen wohl evident.14
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BVerfGE 121, 1 ff. (BGBl I 2008, 659). BVerfG B. v. 11. 03. 2008, BVerfGE 121, 1 ff. (BGBl I 2008, 659). 11 BVerfG B. v. 28. 10. 2008, BVerfGE 122, 120 (BGBl I 2008, 2239). Dort hat es diese einstweilige Anordnung noch insoweit erweitert, als auch von § 113b S. 1 Nr. 2 und 3 TKG bis zur Hauptsacheentscheidung nur mit Einschränkungen Gebrauch gemacht werden durfte. Vgl. dazu etwa die Anm. von Bär MMR 2009, 35 f. 12 Vgl. BVerfGE 121, 1 (Rn. 146 ff.). 13 Vgl. dazu BVerfG B. v. 22. 10. 1986, 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 ff. (Solange II); BVerfG B. v. 07. 06. 2000, 2 BvL 1/1997, BVerfGE 102, 147 ff. (Bananenmarktordnung); BVerfG U. v. 18. 07. 2005, 2 BvR 2236/04, BVerfGE 113, 273 ff. (BGBl I 2005, 2300) (Nichtigkeit des EuropHaftbefehlGes.); BVerfG U. v. 30. 06. 2009, 2 BvE 2/08, BVerfGE 123, 267 (329 ff.) (BGBl I 2009, 2127) (Lissabon); vgl. aber auch die, nachfolgend noch einmal aufgespießte, freiwillige Selbstabdankung des BVerfG aus allfälligen Prüfungsmöglichkeiten in: BVerfG, B. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06, NJW 2010, 3422 ff. (Honeywell). 14 Vgl. BVerfGE 121, 1 (23 ff.). 10
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2. Hauptsache-Entscheid Hernach hat das BVerfG die Gesetzesregelungen für verfassungswidrig und damit nichtig erklärt.15 Dabei ließ es erkennen, daß es nicht etwa jede Form von Vorratsdatenspeicherung in der vom Gesetzgeber konzipierten Weise für mit dem GG unvereinbar hält.16 Auf eine Auseinandersetzung mit der EU und dem EuGH ließ es sich vorsichtiger-, aber wohl auch sachgerechterweise17 nicht ein, sondern überprüfte nur den nationalen ,ÜberhangÐ. Insoweit die §§ 113a f. TKG die EG-Richtlinie RL 2006/ 24/EG in nationales Recht transformieren, ist die Prüfungskompetenz des BVerfG modellhaft eigentlich eingeschränkt. Nur soweit die Richtlinie den Mitgliedsstaaten einen Ausgestaltungs-Spielraum eröffnet, bleibt auch ein Raum für eine Überprüfung am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts. Soweit § 113a TKG nur die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung aus Art. 3 und die Typen der zu speichernden Daten aus Art. 5 der RL 2006/24/EG übernommen hatte, hätte sich das BVerfG hinter dem EU-Recht verschanzen können (und aus Sicht der EU: auch müssen). Gleichwohl hat es im Hauptsacheverfahren die Norm, wegen der Unvereinbarkeit der § 113b S. 1 Nr. 1 TKG i.V.m. § 100g StPO, § 113b S. 1 Nr. 2 und 3 TKG und § 113b S. 1 HS. 2 TKG mit Art. 10 Abs. 1 GG gleichfalls für verfassungswidrig erklärt. Soweit das deutsche Recht jedoch über die Grenzen der Richtlinie hinausgegangen ist oder dort eröffnete Umsetzungs-Spielräume ausschöpft, verbleibt es bei der Prüfungszuständigkeit des BVerfG. Da nach Art. 1 Abs. 1 der RL die gespeicherten Daten „zum Zweck der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten“ zur Verfügung stehen sollen, ging die Regelung des § 100g Abs. 1 StPO zur ,Verwendung der Verkehrsdaten bei Straftaten von erheblicher BedeutungÐ über den Regelungsgehalt der RL hinaus, – wobei die Auslegung des Begriffs „schwere Straftat“ nach der RL offengeblieben war. 3. Rechtsfolgen von Hauptsache-Verfahren und einstweiliger Anordnung Jenes Resultat (Ermächtigungsnormen verfassungswidrig) gebietet, den Blick auf die Folgen derartiger Entscheidungen (einstweilige Anordnungen und endgültige Für-nichtig-Erklärungen) zu werfen. a) Betrachten wir zunächst die Hauptsache-Entscheidung: Bei einer Feststellung, eine Gesetzesnorm sei unvereinbar mit der Verfassung, hat sich das BVerfG frei15
BVerfGE 125, 260 ff. (BGBl I 2010, 272). A.a.O., Rn. 206. Vgl. auch schon zuvor BVerfG i.R.d. einstweiligen Anordnung: etwa BVerfGE 121, 1 (14 [Rn. 135 f.], 18 [Rn. 144 f.]). 17 Zum einen war eine rechtlich fundierte deutsche Linie zu diesem Fragenkreis alles andere als klar – trotz der Gesetzesregelungen. Zum anderen wollte man sich sicher nicht die Blöße geben, dem Gericht, dem man noch vor nicht allzu langer Zeit kräftig vors Schienbein getreten hat (Lissabon-Urteil), die psychologische Aufwertung eines Vorlageverfahrens zuteil werden zu lassen. 16
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händig und freigiebig einen ganzen Kanon von Reaktionsmöglichkeiten zurecht gelegt18 : Neben der Nichtigerklärung i.S.v. § 78 BVerfGG kennt die BVerfG-Judikatur noch die Unvereinbarkeitserklärung19, die Weitergeltungsanordnung (der an sich nichtigen [!] Norm [!])20, die „Appellentscheidung“ und die normvertretende Übergangsregelung.21 Soweit die Norm jedoch für „nichtig“ erklärt wird, geht die h.M. von einer von selbst eintretenden Nichtigkeit von Anfang an aus.22 Die h.M. 18 Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 395 f.: Es habe sie „contra legem“ „erfunden“. Unter Berufung auf dieses Dictum Schlaichs auch Heun, BVerfG-FS I (2001), S. 615 (634). Tatsächlich waren mehrere der jetzt in § 31 Abs. 2 Satz 2, § 79 Abs. 1 BVerfGG genannten Optionen (wie etwa die „Unvereinbarkeits-Erklärung“) im ursprünglichen BVerfGG nicht vorgesehen, sondern erst nachträglich – als Folge der verfassungsgerichtlichen Selbstermächtigung – in das Gesetz vom Gesetzgeber hineingeschrieben worden. Graf Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 20 Rn. 17: Der Gesetzgeber habe sich „von der präterlegalen Rechtsprechung des BVerfG überrollen lassen und sie nur dilettantisch übernommen“. Vgl. zur früheren Textierung etwa Leibholz/Rupprecht, BVerfGG1 (1968), § 79 (S. 230). Seine erste Fassung stammte vom BVerfGG v. 12. 02. 1951, BGBl. I, 243. 19 In dem Fall, wo der ungeregelte Zustand noch weiter von dem verfassungsrechtlich Sachgerechten entfernt wäre als das nunmehr ausdrücklich Geregelte oder wenn sich verschieden Möglichkeiten darbieten, wie die durch eine Nichtig-Erklärung gerissene Gesetzeslücke geschlossen werden könnte. Zu letzterem vgl. etwa: BVerfGE 28, 227 (242 f.) (Privilegierung der Landwirte bei Grundstücksveräußerungs-Gewinnen); 82, 60 (97) (Steuerfreiheit des Existenzminimums); 93, 165 (178) (= NJW 1995, 2624) (Einheitswert und Erbschaftsteuer). – Dennoch bleibt an den Appell von Korioth zu erinnern: Das Gericht möge sich bei Unvereinbarkeits-Erklärungen über deren Folgen äußern, Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 422 a.E. 20 Exemplarisch etwa: BVerfGE 37, 217 (261) (Kinderstaatsangehörigkeit); 92, 53 (73) (Sozialversicherungsbeiträge für einmalig gezahltes Arbeitsentgelt); 109, 191 (Keine Länderkompetenz zur Regelung der Straftäterunterbringung); 110, 33 (46) (Brief- und Telefonüberwachung durch das Zollkriminalamt); zust. die h.L.: Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht (1985), S. 190 f.; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt (1980), S. 109, 213; Lechner/Zuck, BVerfGG6 (2011), § 78 Rn. 9; krit.: Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 396. 21 Nomenklatur in Anlehnung an den Begriffsgebrauch des Gerichts, hernach eingefügt in § 79 Abs. 1 BVerfGG; knapp zusammengefaßt etwa bei Lechner/Zuck, BVerfGG6 (2011), § 78 Rn. 1a ff. Vgl. auch Häberle, JöR n.F. Bd. 45 (1997), S. 89 (127). 22 BVerfGE 1, 14 (36) (Südweststaat-Urteil); 7, 377 (387) (Apotheken-Urteil); 8, 51 (71) (steuerliche Absetzbarkeit von Parteispenden); Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG (71. EL/2008), § 31 Rn. 142; Heun, BVerfG-FS I (2001), S. 615 (633); Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt (1980), S. 69 ff., 159 ff.; Jarass/Pieroth, GG11, (2011), Art. 20 Rn. 33; Kreutzberger, Die gesetzlich nicht geregelten Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts (2007), S. 46 ff.; Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 114, 120; Pietzker, AöR 101, (1976), 374 (380 f.); Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 382 f. (krit.); Wieland in: Dreier (Hrsg.), GG III2 (2008), Art. 94 Rn. 25; z. T. wird diesem Prinzip sogar Verfassungsrang beigelegt: Battis, Der Verfassungsverstoß und seine Rechtsfolgen, HStR VII (1992), § 165 Rdn. 30; BK-Stern (Zweitbearbeitung, 1982), Art. 93 Rn. 271; Heun, BVerfG-FS I (2001), S. 615 (633); Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 114, 120. – Anders die österreichische Rechtstradition, dazu etwa Korinek, VVDStRL Heft 39 (1981), S. 7 (37 ff.) – und schon Art. 140 Abs. 4 B.VG i. d. F. der Bundesverfassungsnovelle von 1929 (Ex-nunc-Wirkung mit Wiederherstellung des status quo ante) wie auch schon die maßgeblich von Kelsen beeinflußte B.VG und dort Art. 140 Abs. 3 B.VG (Ex-nunc-
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entnimmt ihre Lesart den §§ 78 S. 1 und 95 Abs. 3 BVerfGG und Art. 100 Abs. 1 GG.23 – Nun ist die rückwirkende Vernichtung von Gesetzesnormen durch ein Judikat des BVerfG ihrerseits keineswegs unumstritten: Manche halten dafür, daß die Nichtig-Erklärung nur ex nunc bzw. pro futuro gelten könne.24 Bezeichnenderweise stützt sich die Gegenposition für ihre gegenteilige Meinung auf die nämlichen Normen.25 Gerade weil das BVerfG bisweilen auch selbst ,an sichÐ „nichtige26“ Normen für eine Übergangszeit für verbindlich erklärt,27 sprechen durchaus starke Wirkung, es sei denn, der VerfGH räumt eine bis zu 6 Monate währende Übergangszeit ein) (dazu Froehlich/Merkl/Kelsen, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 [1922], S. 260). Vgl. i.ü. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 30 (45 f.). 23 BVerfGE 107, 150 (185) (Sorgerecht bei nichtehelichen Kindern); 116, 229 (242 Rn. 48 ff.) (Schmerzensgeld für Asylbewerber/Lebensunterhalt); Bethge in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (71. EL/2008) § 31 Rn. 142. 24 C. Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze (1966), S. 111 ff., 275 ff.; Gärditz, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, (Januar 2011), Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaat) Rn. 99 ff.; Grzeszick, Rechte und Ansprüche (2002), S. 79 ff.; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 115 ff.; Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht (1988), S. 102 ff.; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle (1977), S. 125 ff.; Lippold, Der Staat 29 (1990), S. 185 (204 ff.); Graf Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 20 Rn. 15; Söhn, Anwendungspflicht und Aussetzungspflicht bei festgestellter Verfassungswidrigkeit von Gesetzen (1974), S. 43. 25 H. Götz, NJW 1960, 1177 ff.; G.Hoffmann, JZ 1961, 193 ff.; Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960), S. 275; Graf Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 20 Rn. 16, 18 (der dies aus der NichtigErklärung nach § 78 S. 1 BVerfGG folgert, z. B., – und weil Art. 100 GG nur von „unwirksam“/ „wirksam“ spreche); ders., BVerfG-FG (1976), S. 519 (522: Nicht-Wiederaufleben des durch das für nichtig erklärte Gesetz verdrängten früheren Gesetzes). Vgl. auch Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 409 ff.: Das Nichtigkeitsdogma der h.L. könne die Ausnahmen von der Ipso-iure-Nichtigkeit (gleichheitswidriger Begünstigtenausschluß und sog. rechtliches Chaos) schwerer begründen. Auch zur „Schonung des Gesetzgebers“ (S. 409) sei von einer „hic-et-nunc“-Entscheidung, durch welche er in seinem Gestaltungsspielraum eingeschränkt würde, abzusehen. Gerichtsentscheidungen blieben vielmehr von der Nichtigerklärung unberührt (Ausnahmen: anfechtbare bzw. Strafurteile). Ein Durchschlagen der Nichtigkeit einer Norm wäre mit der Betrachtung von Einzelentscheidungen unter Gesichtspunkten der Bestands- und Rechtskraft unvereinbar. „Möglichkeiten einer intertemporal differenzierenden Rechtsfolge, d. h. die situations- und interessengerechte Festlegung des Aufhebungszeitpunktes, die Belastungswirkungen der Norm mildern“ (S. 412), seien zu wählen. – Abl. gegenüber der M.M., aber m. w. Nw., Kreutzberger, Die gesetzlich nicht geregelten Entscheidungsvarianten des Bundesverfassungsgerichts (2007), S. 46 ff. 26 Um die Merkwürdigkeit des dann Folgenden etwas zu bemänteln, spricht man dann freilich nur von „Unvereinbarkeit“ mit dem GG, vgl. die Nw. von Blüggel, Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht (1998), S. 96 mit Fußn. 477 und der Aufzählung der 14 Fälle bis 1997. 27 So in Fällen, in denen das Budget- oder Sozialversicherungs-Recht betroffen war: BVerfGE 87, 153 (178 ff.) (steuerlich zu verschonendes Existenzminimum); 93, 121 (148 f.) (Einheitswert und Vermögensteuer); 105, 73 (134) (= NJW 2002, 1103) (Gleichbesteuerung von Beamtenpensionen und Renten); 117, 1 (70) (Verfassungswidrigkeit des Erbschaftssteuerrechts); 120, 125 (167 f.) (Einkommensteuerrechtliche Berücksichtigung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung). Begonnen hatte diese dilemmatische Judikatur wohl mit
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Gründe für die Vernichtbarkeitslehre. Andererseits würde diese Sicht, wie schon Bettermann herausgestellt hat,28 ein Auseinanderfallen von handlungsanleitender Norm (namentlich für den Amtswalter) und Kontrollnorm für eben dieses Verhalten implizieren, weswegen auch einige Gründe für die h.M. sprechen. Tendenziell sei hier gleichwohl die Sympathie für jene, in der Literatur im Vordringen begriffenen Sicht nicht verschwiegen, die sich gegen eine rückanknüpfende Aufhebung der Norm ausspricht: Da infolge des Verwerfungsmonopols des BVerfG das die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in Zweifel ziehende Gericht die Norm nicht einfach als inexistent behandeln kann, erscheint die These von der Wirksamkeit der Rechtsregel bis zum endgültigen Entscheid des BVerfG plausibler. Zudem „erklärt“ das BVerfG die Norm „für verfassungswidrig“, was eine Aussage pro futuro gleichfalls näher legt.29 – Doch mag auch dies letztlich offengelassen bleiben, um zügiger zu des „Pudels Kern“ vorzustoßen. Deshalb, weil sich gerade auf der Basis der h.M. mit ihrer Ex-tunc-Nichtigkeits-Möglichkeit die hier interessierenden Probleme in besonderer Schärfe stellen, sei die Richtigkeit der h.M. (sog. Nichtigkeitslehre) einfach einmal als maßgeblich unterstellt. b) Nun zur einstweiligen Anordnung: Den formalen Voraussetzungen für deren Erlaß war unzweifelhaft Genüge getan. Jedoch sind auch deren Rechtsfolgen alles andere als klar. Eine wohl herrschende Meinung30 geht von einer gesetzesgleichen Wirkung auch einer einstweiligen Anordnung i.S.d. § 32 BVerfGG aus.31 Z.T. wird ihr die Fähigkeit zur ,nurÐ materiellen Rechtskraft beigelegt.32 Teilweise wird das BVerfGE 37, 217 (262) (Kinderstaatsangehörigkeit). Vgl. zum ganzen etwa Schlaich/Korioth, BVerfG8 (2010), Rn. 419 ff. 28 Bettermann, Eichenberger-FS (1982), S. 593 (598); zust. Bethge in: Maunz/SchmidtBleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (71. EL/2008) § 31 Rn. 142; Heun, BVerfG-FS I (2001), S. 615 (633 m. Fußn. 161); Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 114. 29 Gärditz, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG (Januar 2011), Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaat) Rn. 99; H. Götz, NJW 1960, S. 1177 (1178 ff.); G. Hoffmann, JZ 1961, S. 192 (195); Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle (1977), S. 123. 30 Graßhof in: Maunz u. a., BVerfGG (21. EL/2002), § 32 Rn. 190: „Wenn das Nebenverfahren der einstweiligen Anordnung die Durchsetzbarkeit eines Hauptsacheverfahrens sichern soll, das mit Gesetzeskraft über die Wirksamkeit von Gesetzen entscheidet, so muss das Nebenverfahren – zeitlich befristet – dieselben Wirkungen haben können, soweit dies zur Sicherung erforderlich ist.“; so auch: Berkemann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG2 (2005), § 32 Rn. 368 der aber die Parallele zu § 31 Abs. 1 ablehnt); krit.: Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 224. 31 Das BVerfG entzieht sich der methodischen Kategorisierung; doch dürfte man ihm kein Unrecht tun, wenn man es zu der erstgenannten Gruppe schlägt, da es die normhemmenden einstweilige Anordnungen gleichfalls im BGBl. publizieren läßt, wie hier erneut in den Fällen der beiden Anordnungen, BVerfGE 121, 1 ff. (BGBl I 2008, 659) bzw. BVerfGE 122, 120 (BGBl I 2008, 2239). 32 Graßhof in: Maunz u. a., BVerfGG (21. EL/2002), § 32 Rn. 40; Graf Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 18 Rn. 27. Ähnl. Berkemann , in: Umbach/Clemens, BVerfGG2 (2005), § 32 Rn. 245; krit.: E.Klein in: Benda/Klein, Verfassungsprozeßrecht2 (2001), Rn. 1228; abl. Geiger, BVerfGG (1952), § 32 Anm. 7 (S. 120).
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auch bestritten,33 ebenso wie die vergleichbare Bindungswirkung analog § 31 Abs. 1 BVerfGG.34 Dafür gibt es bekannte Fälle: Wenn etwa eine Wahl durchgeführt würde, aber bestimmte Normen oder deren Handhabung in verfassungsrechtliche Zweifel gezogen werden können, so drohte bei unveränderter Durchführung der Wahl wie geplant, etwa bei Ausdehnung der kommunalen Wahlberechtigung auch auf bestimmte Ausländergruppen, ein irreparabler Schaden in der Bestimmung des Verfassungssouveräns „Wahlvolk“.35 Trotzdem: Berkemann formuliert – mit Recht – vorsichtig, wenn er meint, daß „Anordnungen, die den Gesetzesvollzug zum Inhalt haben, Gesetzeskraft (besäßen) oder sie dieser zumindest ähnlich“ seien.36 c) Die vorherrschende Sicht wäre freilich denn doch vorab einmal genauer auf ihre methodologische Stichhaltigkeit zu hinterfragen: In § 32 BVerfGG findet sich dazu nicht der geringste textliche Anhalt. Im Gegenteil, dessen Abs. 3, die Eröffnung eines Widerspruchs gegen die einstweilige Anordnung, verbietet an sich jedwede Parallelisierung zu § 31 Abs. 2 S. 1 BVerfGG. Denn gegen welches Gesetz dürfte man nach nationalem Recht Widerspruch einlegen? Aber auch gesetzessystematisch erscheint jene Überlegung keineswegs zweifelsfrei: In der Methodenlehre galt an sich und lange Zeit der Grundsatz: Singularia non sunt extendenda (Ausnahmen sind nicht ausdehnungsfähig).37 Daß ein Gericht – mit Gesetzeskraft – eine Entscheidung der Volksvertretung, also in einer Demokratie: der Repräsentanz des Allgemeinwillens, aushebeln kann, ist eine Ungewöhnlichkeit, die nun wahrlich singulär ist. Einen solchen Rechtssatz entsprechend anwenden zu dürfen, setzte nach strengem methodischem Verständnis unbedingt eine entsprechende Ermächtigung des Gesetzgebers, wenn nicht gar des Verfassungsgesetzgebers, voraus. So praktisch, in vielerlei Hinsicht, das selbst zusammengepflückte Bukett von Entscheidungsoptionen für das BVerfG auch sein mag, auch dieses Gericht unterliegt gewissen metho-
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Lechner/Zuck, BVerfGG6 (2011), § 32 Rn. 30 i.V.m. § 31 Rn. 13; Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 224. 34 Lechner/Zuck, BVerfGG6 (2011), § 32 Rn. 30, unter Berufung auf BVerfGE 4, 110 (113). 35 Vgl. etwa BVerfGE 81, 53 (56 ff.) (Erlass einer einstweiligen Anordnung bzgl. der Aussetzung des Vollzugs des SchlHGKWahlG v. 21. 02. 1989 [Aussetzung des Wahlrechts für Ausländer bei Kommunalwahlen]); 82, 353 (370) (Bejahung der Verfassungswidrigkeit eines Ausländerkommunalwahlrechts nach SchlHGKWahlG). 36 Berkemann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG2 (2005), § 32 Rn. 347. 37 BVerfGE 30. 1 (25) (Abhörurteil); ÖsterrOGH JBl 1976, 200; RGZ 153, 23; BGHZ 2, 244; 4, 222; 11, 143; BSG NJW 1959, 168; Horn, Rechtstheorie4 (2006), Rn. 35; relativierend: Larenz, Methodenlehre4 (1979), S. 343 f. (immerhin bejahend für „Ausnahmen der Sache nach“, S. 344) ; ablehnend: Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff (1982), S. 440; ebenfalls krit.: Engisch, Einführung in das juristische Denken7 (1977), S. 151 f.; Engisch/Würtenberger, Einführung10 (2005), S. 151 f.; F. Müller/Christensen, Juristische Methodik I10 (2009), Rn. 370, 373.
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dologischen und axiologischen Schranken.38 – Aber selbst wenn man, mit der in der Methodenlehre heute wohl vorherrschenden Sicht, keine Scheu vor Analogien zu (auch extremen) Ausnahmenormen mehr entwickelt, wirken auch die materiellen Parallelisierungs-Erwägungen nicht übermäßig überzeugend: Auch über den Umweg des § 35 BVerfGG wird aus der h.M. noch kein tragfähiges Konstrukt für den Inhalt jener These: Es wird sicher jedermann einleuchten, daß das BVerfG dann, wenn ein streitgegenständlicher Sachverhalt, namentlich die Anwendung einer Norm, gravierende Nachteile für den Normbetroffenen nach sich zu ziehen droht, eine Regelung treffen können muß, wie sie § 32 BVerfGG vorsieht, damit eine weitere Gefahrenkonkretisierung erst einmal hinausgezögert werden kann. Man muß also nicht erst das „Kind in den Brunnen fallen lassen“, um es dann mühselig und mit gebrochenen Knochen daraus wieder zu bergen. Diesen plausiblen Gehalt hat § 32 BVerfGG. Daß entsprechende Entscheidungen des BVerfG dann auch von Exekutive und Judikative befolgt werden müssen, versteht sich nachgerade von selbst. Was sich freilich nicht von selbst versteht, ist, dieser Regelung auch noch die gleiche (oder zumindest eine vergleichbare) Rechtsqualität wie dem endgültigen Entscheid des Gerichts nach § 31 BVerfGG zu vindizieren. Das BVerfG hat sich im Laufe seiner langen Spruchtätigkeit schon manche Befugnis beigelegt, die ein seriöser Analytiker von Verfassungs- und Gesetzestexten sich nicht ohne weiteres hätte beifallen lassen.39 Das ist sicher eine der ständig lauernden Gefahren für ein Höchstgericht, – in dem Wissen zu judizieren: Mir kann keener!40 – Freilich ist diese alte Freiheit nunmehr im europäischen Mehrebenen38 Daß das BVerfG – als ein Gericht (vgl. Art. 92 HS. 2 GG) – gleichfalls dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt, sollte als Axiom in Erinnerung behalten bleiben, so zutr. u. a.: Gärditz, NVwZ 2004, 693 ff.; ders., in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, (Januar 2011), Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaat) Rn. 179; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG (1985), S. 199; J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt (1980), S. 241 ff.; H. P. Schneider, NJW 1994, S. 2590 (2593 f.) Anders demgegenüber das BVerfG, das sich etwa in re Länderregelung für Straftäterunterbringung, BVerfGE 109, 190 (235 ff.), zur interimistischen Aufrechterhaltung grundrechtswidriger Gesetze für befugt hielt. Daß diese Vorgehensweise nicht mit dem Nichtigkeitsdogma ex tunc des Gerichts zusammenpaßt, hatte auch schon Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG (71. EL/2008), § 78 Rn. 52 – mit Bezug auf BVerfGE 98, 265 (318 f.), gerügt. 39 So etwa, wenn es (BVerfGE 19, 342 [349 ff.]) den § 112 Abs. 3 StPO, entgegen dem klar erklärten gesetzgeberischen Willen eine „verfassungskonforme“ Deutung unterschiebt, die der Gesetzgeber nicht wollte und die in dem Gesetzeswortlaut keine Stütze fand, dafür aber ihrerseits völlig diffus war (und ist) – und die „nebenbei“ auch noch gegen die Unschuldsvermutung verstößt; dazu abl. (Ultra-vires-Entscheidung) Paeffgen, Vorüberlegungen einer Dogmatik des U-Haftrechts (1986), S. 119 ff.; zust. Fezer, StrProzR2 (1995), 5/14; zuletzt: SKStPO/Paeffgen(2010), § 112 Rn. 43 ff. 40 Das führt dann bisweilen zu solch erschütternden Äußerungen wie in dem berüchtigten Inzest-Urteil, BVerfGE 120, 224 ff. (= JR 2008, 469 = NJW 2008, 1137 = NStZ 2008, 614) (m. krit. Bespr. Hörnle, NJW 2008, 2085 ff.; m.abl.Bespr. Zabel, JR 2008, 453 ff.; m.krit.Anm. Ziethen, NStZ 2008, 617 ff.), in dem sich das Gericht nicht zu schade war, eine gutachtliche Äußerung des MPI entgegen ihrem klaren Wortlaut im Sinne der Mehrheitsmeinung umzudeuten: Die Plausibilität der Annahme von familien- und sozialschädliche Wirkungen des
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Rechtsverbund gleich von mehreren Seiten durch die nämliche Attitüde anderer Höchstgerichte bedroht, zum einen, was die EU anlangt, durch den EuGH, zum anderen, soweit es um Menschenrechts-Schutz geht, durch die Judikatur des EGMR. Zu ersterem vgl. etwa – u. a. – die von der gleichen Sichtweise beseelten Zuständigkeitsusurpationen bzw. Entscheidungen ultra vires durch den EuGH la Pupino oder Mangold.41 Bzgl. des EGMR hat das BVerfG gerade die Scherben des M.(ücke)/ Geschwisterinzests seien durch das Gutachten des MPI belegt, S. 1139, Rn. 44, S. 1140 Rn. 49, ist eine ebenso erschütternde, wie nachgerade beschämende Tatsachen-Verdrehung, wie man sie dem höchsten deutschen Gericht bisher nicht zugetraut hätte. Bezeichnenderweise ist die von der Mehrheit herausgestrichene Eugenik als Schutzgut (treffend dagegen Hassemer S. 1143 Rn. 82 ff.) vorgeblich selbst dann noch hinreichende Legitimations-Grundlage für eine solche Norm, wenn sich die Zeugungsunfähigkeit eines der Beteiligten (und sei es durch Sterilisation künstlich herbeigeführt) herausstellt, dagegen mit allem Recht (und nur geringer Ironie, wo platter Hohn angebracht gewesen wäre): Hassemer, S. 1145 Rn. 112. Scharf, wie hier, dagegen: NK3-Paeffgen (2010), Vor § 32 Rn. 12 mit Fußn. 31. 41 EuGH Rs. C-105/03, U. v. 16. 06. 2005, Slg. 2005, I-5285 (Maria Pupino): Ohne Grundlage in den Verträgen wurde eine unionsrechtliche Pflicht für Mitgliedstaaten und deren Rechtsanwendungsinstanzen kreiert, das nationale Recht i.R.d. Auslegung – also bei bestehendem Auslegungsspielraum – „so weit wie möglich“ an Wortlaut und Zweck des Rahmenbeschlusses auszurichten, um das mit ihm angestrebte Ergebnis zu erreichen (sog. rahmenbeschlusskonforme Auslegung); dazu die krit. Bespr. von Gärditz/Gusy, GA 2006, 225 ff.; mit Recht scharf abl. Anm. Hillgruber, JZ 2005, 841 ff. Demgegenüber wohlwollend: Wehnert, NJW 2005, 3760 ff. – Zu einer nicht enden wollenden Kette weiterer Fälle der Jurisdiktionserstreckung ohne EU-rechtliche Ermächtigung (also mehr oder minder starker KompetenzUsurpation) vgl. u. a. etwa: EuGH Rs. C-453/99, U. v. 20. 09. 2001, Slg. 1963, 3 (van Gend & Loos); EuGH Rs. C-6/64, U. v. 15. 07. 1964, Slg. 1964, 1253 (Costa/E.N.E.L.); EuGH Rs. 22/ 70, U. v. 31. 03. 1971, Slg. 1971, 263 (AETR); EuGH Rs. C-6/72, U. v. 21. 2. 1973, Slg. 1973, 215 (Continental Can Company und Europemballage/Kommission der EG); EuGH Rs. C-41/ 74, U. v. 04. 12. 1974, Slg. 1974, 1337 (van Duyn); EuGH Rs. C-3/76, U. v. 14. 07. 1976, Slg. 1976, 1279 (Kramer); EuGH Rs. C-6/90 u. 9/90 C-6/64, U. v. 19. 11. 1991, Slg. 1991, I5357 (Frankovich u. a./ Italienische Republik) ( m.krit. Bespr. Hailbronner, JZ 1992, 284 ff.; Nettesheim, DöV 1992, 999; Ossenbühl, DVBl 1992, 993 ff.; weniger krit.: Prieß, NVwZ 1993, 118 ff.]); aus neuerer Zeit vgl. z. B. EuGH Slg. 1998, I-2691 (Martnez Sala); EuGH Rs. C-170/ 96, U. v. 12. 05. 1998, Slg. 1998, I-2763 (Kommission/Rat – Transit auf Flughäfen); EuGH Rs. C-184/99, U. v. 20. 09. 2001, Slg. 2001, I-6193 (Grzelczyk/Centre public dÏaide sociale dÏOttignies-Louvain-la-Neuve); EuGH Rs. C-413/99, U. v. 17. 09. 2002, Slg. 2002, I-7091 (Baumbast/Secretary of State for the Home Department); EuGH (GK) Rs. C-292/04, U. v. 07. 09. 2004, Slg. 2004, I-7477 (Manninen); EuGH (GK) Rs. C-434/02, U. v. 14. 12. 2004, Slg. 2004, I-11825 (Tabakrichtlinie); EuGH (GK) Rs. C-144/04, U. v. 22. 11. 2005, Slg. 2005, I9981 R (Rn. 55 ff.) (Mangold/Helm) (m. abl. Bespr. Gas, EuZW 2007, 713 ff.; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165 ff.; mit Recht vernichtend: Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009), S. 17 ff.: „Kompetenzüberschreitung“ und „freieste Rechtsschöpfung“, „Entwertung des Sekundärrechts“, „Aushebelung der Gewaltenteilung“, vgl.: http://archiv.jura.uni-saarland.de/projekte/Bibliothek2/text.php?id=530&show]: Obwohl die Frist zur Umsetzung der einschlägigen EG-Richtlinie in Deutschland noch nicht abgelaufen war, hielt die Große Kammer dies für unbeachtlich, weil das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters als ein im Gleichbehandlungsgrundsatz wurzelnder allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anzusehen sei); EuGH (GK) Rs. C-217/04, U. v. 02. 05. 2006, Slg. 2006, I-3771 (ENISA) (m. zutr. abl. Anm. von Ohler EuZW 2006, 372); EuGH (GK) Rs. C-372/04, U. v. 16. 05. 2006, Slg. 2006, I-4325 (Watts); EuGH Rs. C-380/03 , Slg. 2006, I-11573 (Tabakwerbung II); EuGH Rs. C-97/05, U. v. 14. 12. 2006, Slg. 2006, I-
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D-Judikats42 aus dem Weg zu fegen.43 Zum nämlichen Problem habe ich mich im Rahmen der Justizgrundrechte im Verhältnis zwischen EU, EVV-E und EMRK ausführlich geäußert.44 Die dort vertretene Sicht hatte durch das Lissabon-Urteil des BVerfG45 noch zusätzlichen Auftrieb erhalten, in dem das BVerfG sich die Kompetenz beilegte, die Judikatur des EuGH an der Elle des deutschen Verfassungsrechts und der Verträge zu messen. Entgegen einer weit verbreiteten Kritik namentlich aus dem europarechtlichen Schrifttum46 ist dieser Tendenz vollauf beizutreten.47 Leider war das BVerfG mit dem Lissabon-Urteil als Tiger losgesprungen, um wenig später als Bettvorleger zu landen: Ohne starken Grund, in der Sache klein beizugeben,48 hat 11917 (Gattoussi) (m.zutr.abl. Bespr. Hailbronner, NVwZ 2007, 415 ff.); EuGH (GK) Rs. C318/07, U. v. 27. 01. 2009, Slg 2009, I-359 (Persche); EuGH (GK) Rs. C-301/06, U. v. 10. 02. 2009, Slg 2006, I-4722 (Irland/Europäisches Parlament – Vorratsdatenspeicherung) (m. abl. Bespr. Braum, ZRP 2009, 174 ff., und Simitis, NJW 2009, 1782 ff.). Vgl., ähnl. krit. etwa Murswiek, NVwZ 2009, 481 ff.; Wieland, NJW 2009, 1841 ff. – Vgl. demgegenüber die „Integrationszeloten“ (Isensee ZRP 2010, 33 [36]) aus dem europarechtlich vorherrschenden Schrifttum, wie etwa v. Bogdandy NJW 2010, 1 ff.; Classen, JZ 2009, 881; Oppermann, EuZW 2009, 473. Differenziert: P. M. Huber, EuR 2008, 190 ff.; Kingreen, EuR 2010, 338 ff. – Vgl. ferner: EuGH Rs. C-54/07, U. v. 10. 7. 2008, Slg. 2008, I-5187 (Feryn) (m. krit. Bespr. Lindner, NJW 2008, 2750); EuGH (GK) Rs. C-303/06, U. v. 17. 7. 2008 Slg. 2008, I-5603 (Coleman) (dazu ebenfalls, diesmal zust., Lindner, NJW 2008, 2750]). Insges. krit. hierzu auch Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275 ff. sowie SK-StPO/Paeffgen (2011), Art. 1 Rn. 50 ff. – Während Mangold aber „nur“ eine Interimsphase betroffen hatte, stellten und stellen Entscheide des EuGH wie die in re Pupino (o. Fußn. 41) das Gesamtrechtsgefüge zwischen EU und Mitgliedsstaaten in Frage. 42 EGMR – M.(ücke)/ D, v. 17. 12. 2009, 19359/04 Rn. 87, 95 (m.zust.Bespr. Kinzig, NStZ 2010, 233 ff. und m.zust.Bespr. H. E. Müller, StV 2010, 207) (betreffs nachträglich angeordneter Sicherungsverwahrung), gegen BVerfGE 109, 133 (m.tw.abl.Anm. Kinzig, NJW 2004, 911 ff.]). 43 Vgl. jetzt das anhängige Verfahren BVerfG, in dem vor kurzem (am 08. 02. 2011) die mündliche Verhandlung stattfand, BVerfG, Sicherungsverwahrung I (2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10), Sicherungsverwahrung II (2 BvR 2333/08, 2 BvR 571/10, 2 BvR 1152/10). 44 Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275 ff. 45 BVerfG v. 30. 06. 2009, 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267 (353 ff.). 46 v. Bogdandy, NJW 2010, 1 ff.; Everling, EuR 2010, 91; Franz C. Mayer, NJW 2010, 714 ff.; Schwarze, EuR 2010, 108 ff. 47 Vgl. ebenso Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872 ff.; Isensee, ZRP 2010, 33 ff. (die dort erwogene Anregung, dem 2. Senat den Karlspreis zu verleihen, sollte man allerdings schnellstens wieder vergessen, siehe das Nachfolgende); Schorkopf, EuZW 2009, 718 ff.; in der Sache so schon tendenziell: Paeffgen, ZStW 118 (2006), 275 (327 ff.). 48 Sieht man von der sehr pragmatischen Sicht ab, wegen einer solchen Bagatelle, noch dazu im tatsächlichen Zuständigkeitsbereich der EU und des EuGH, keinen ,Kampf bis aufs MesserÐ mit jenem europäischen Höchstgericht anzutreten. Dabei bleibt freilich auf der Strecke, daß sich Rechtsgebilde – wie die EU –, aber auch stark an der Verfassung ausgerichtete Staaten, wie die BRD, nur als durch das Recht gesteuerte Funktions-Einheiten denken lassen und modellhaft auch nur innerhalb ihres vorgegebenen Rahmens wirken können. Verlassen sie die Bahnen des ihnen vorgegeben Rechts, bedarf es der Möglichkeit der institutionellen Zurückweisung jener Exzedenten in ihre rechtlichen Schranken – gerade so, wie in der Gesellschaft der natürlichen Personen.
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es die – wiederholten – Rechtsprechungs-Exzesse der Luxemburger Richter, diesmal im Fall-Typus des Mangold-Urteils,49 approbiert,50 – und darüber hinaus sich der Luxemburger Judikatur grundsätzlich ausgeliefert: BVerfG in re Altersdiskriminierung (Res „Honeywell“51).52 Man erweitert Entscheidungsspielräume für die eigene Judikatur also nicht folgenlos! Erst recht beschneidet man sie nicht folgenlos! Umgemünzt auf die hier diskutierte Frage über die Rechtsfolgen einer Verfassungswidrig-Erklärung von Normen: Wenn man sich die Rechtsmacht beilegt, Gesetzgebungsakte ex ovo zu verwerfen, hat das methodisch Konsequenzen, – und wenn man davon, bereichsweise, Abstriche macht, gleichfalls. Schon um deswillen erscheint es unverzichtbar, daß sich das BVerfG dezidiert über die Rechtsfolgen betreffs der jedenfalls nahe liegenden Konstellationen äußert. Um die Probleme der h.M. in angemessener Kürze darzustellen, wird hier, um es zu wiederholen, dem BVerfG gefolgt, das in Fällen der Nichtigerklärung eine Ex-tunc-Vernichtung für möglich und sachgerecht hält.
49 EuGH (GK) Rs. C-144/04, U. v. 22. 11. 2005, Slg 2005, I-9981-10042 (Mangold) (m.abl.Anm. Reich EuZW 2006, 21]; [dazu: Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165 ff.); zust.: Haltern, Europarecht2 (2007) Rn. 776; Temming, NJW 2008 3404. – Demgegenüber abl.: Gas, EuZW 2005, 737; Preis, NZA 2006, 401; Waas, EuZW 2007, 359) vgl. dazu i.Ü. – monographisch zust. – Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht (2008) S. 163; krit. Gerken/ Rieble/G.Roth/Stein/Streinz, Das Mangold-Urteil des EuGH, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009), S. 3 ff.; Kreße, ZGS 2007, 215 ff. – trotz der dortigen rückwirkenden Rechtsprechung – ohne eine Rechtsgrundlage im Europäischen Recht, die erst später in Kraft trat. Vgl. auch, das Entscheidungs- und Verwerfungsmonopol des BVerfG in Fällen allfälliger – gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung nach nationalem Recht betonend – nach der Kücükdeveci-Entscheidung des EuGH (EuGH Rs. C-555/07, U. v. 19. 01. 2010 (Kücükdeveci), EuGRZ 2010, 62 (= EuZW 2010, 177 [m. ausf. Anm. v. Schubert, EuZW 2010, 180] = NJW 2010, 427 = NZA 2010, 85) durch Wackerbarth/Kreße Das Verwerfungsmonopol des BVerfG – Überlegungen nach der Kücükdeveci-Entscheidung des EuGH, EuZW 2010, 252 ff. – Das FehlJudikat des EuGH in re Mangold kann man nicht besser klassifizieren, als es Landau in seinem Dissent des BVerfG-Urteils in re Altersdiskriminierung (BVerfG v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/ 06, DVBl 2010, 1229 ff. in Rn. 106 getan hat: „Die Erwägungen, mit denen der Gerichtshof sich über den fehlenden Ablauf der Umsetzungsfrist hinweggesetzt hat, stellen sich nicht mehr als noch vertretbare Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts dar, sondern als ausdehnende Auslegung der Verträge, die einer unzulässigen autonomen Vertragsänderung gleichkommt.“ 50 Derartiges ist um so bitterer, als der EuGH in dem Urteil „Mangold II“ (EuGH Rs. C-555/ 07, U. v. 19. 01. 2010 [Kücükdeveci]) das, aus der vielfach kritisierten Mangold-Entscheidung destillierte, ungeschriebene primärrechtliche Verbot der Altersdiskriminierung nunmehr sogar als einen „allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts“ hypostasiert und es damit quasi in den Vertrag von Lissabon importiert hat, vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV; mit Recht krit. (wenngleich im Grundsatz dem EuGH zust.): Preis/Temming, NZA 2010, 185 ff. 51 EuGH Rs. C-300/03, U. v. 20. 01. 2005 (Honeywell Aerospace GmbH/Hauptzollamt Gießen). 52 BVerfG Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06, DVBl 2010, 1229 ff. = NJW 2010, 3422 ff. (Altersdiskriminierung/Honeywell). Zutr. hingegen der Dissent von Landau ab Rn. 94 ff.; scharf abl., mit Recht, auch Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009), S. 17 ff.
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d) Schließlich zu dem Urteil des BGH: Gemäß einem Beschluß des AG Münster vom 16. 01. 2009 wurde gegen die Beschuldigten wegen des Verdachts schwerer Bandendiebstähle gem. § 244a StGB ermittelt; diese Straftat ist eine Katalogtat gem. § 100a Abs. 2 Nr. 1 lit. j StPO. I.ü. stützt sich der BGH auf zwei Pfeiler in seiner Argumentation: Zum einen entspreche es der herrschenden Meinung in der Literatur zur Auslegung von § 32 BVerfGG, daß das BVerfG sog. normvertretendes Übergangsrecht schaffen dürfe, das von einem allfälligen späteren Verbot der angegriffenen Norm unberührt bleibe.53 So sieht es an sich auch das BVerfG selbst.54 4. Frage der Rechtsfolgen jener einstweiligen Anordnung im Strafverfahren a) Aber selbst wenn man im Windschatten der h.M. mit rudert, sich also von jenen, kurz angerissenen, grundsätzlichen Überlegungen abwendet, so stellt sich, namentlich, aber nicht nur, im Strafprozeß, die Frage, wie mit jener Handlungsermächtigung der einstweiligen Anordnung im Verfahrensrecht umzugehen ist. Die Kammer des BVerfG gab zwar schon ziemlich detaillierte Handlungsanweisungen, welche Verbindungsdaten auch weiterhin in der promulgierten Form – und unter welchen Voraussetzungen – erhoben werden durften. Wurden diese Regularien eingehalten, besteht kein Zweifel55, daß die Daten in zulässiger Weise erhoben wurden. Eine Klage wegen Amtspflichtverletzung etwa, weil die Verbindungsdaten erhoben worden seien, hätte folglich auch nach der Nichtig-Erklärung des Gesetzes in der Hauptsache keinerlei Aussichten auf Erfolg.56 b) Nur scheinbar klar ist jedoch die Folge, die sich für die Verwertung der solchermaßen gewonnenen Beweismittel im Prozeß ergibt. Soweit allerdings durch die Verbindungsdaten strafrechtserhebliche Kontakte zu Dritten, z. B., zutage gefördert wurden, sind diese Neuspuren weiter verfolgbar und prozessual verwertbar. Insoweit
53 Vgl. dazu Berkemann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG2 (2005), § 32 Rn. 369 f.; Graßhof, in: Maunz, BVerfGG (21. EL/2002), § 32 Rn. 8. Den Regelungen kommt nach h.M. Gesetzeskraft zu, analog § 31 Abs. 2 BVerfGG, so Berkemann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG2 (2005), § 32 Rn. 347; Graßhof, in: Maunz, BVerfGG (21. EL/2002), § 32 Rn. 190; Graf Pestalozza, VerfProzR3 (1991), § 18 Rn. 28. – A.A.: Ipsen Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt (1980), S. 242 u. Fußn. 152. 54 BVerfGE 39, 1 ff. (Schwangerschaftsabbruch). 55 Zwar könnte man Zweifel hegen, ob das BVerfG für einen so langen Zeitraum als Ersatzgesetzgeber fungieren kann. Aber rechtspraktisch bedurfte es einer Handlungsanweisung für die Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, wie in einschlägigen Fällen zu verfahren sei. Und eine solche Regelung durfte nicht im Ungefähren stehen bleiben. Denn dies hätte eine Flut von Anfechtungsklagen im Verwaltungsrecht und von Rechtsmitteln und -behelfen im Strafprozeß geführt. 56 Daß dies für eine allfällige Klage auf Löschung der solchermaßen erhobenen Daten nicht mit gleicher Zwangsläufigkeit gilt, sei nur kurz erwähnt, aber hier nicht weiterverfolgt.
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gilt im deutschen Prozeßrecht nicht57 die angelsächsische Maxime der Fruit-of-thepoisonous-tree-Doctrine.58 – Undeutlicher werden die Verhältnisse, insoweit es um die Beweisführung durch eben diese Verbindungsdaten selbst geht: Die h.M. hat hier methodologisch schon beträchtliche Schwierigkeiten, wenn es sich um rechtswidrig erhobene Daten handelte. Doch ruht sich jene „h.M.“ im deutschen Strafprozeßrecht seit langem auf einem Axiom aus, daß die Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung nicht notwendig zur Rechtswidrigkeit der Beweisverwertung führt.59 Nebenbei bemerkt, eine wenig logische Aussage: So wie der Satz: Ex nihilo nihil fit, seit alters her gilt, ist auch die Paroemie: Ex iniuria ius numquam (oder: non) oritur, sehr alt. Daß solche schlichte Einsichten im Recht nicht durchweg gelten, ist eine der Ursachen dafür, wieso sich die sogen. Jurisprudenz (die sich besser Juriseffizienz nännte) dem Normalbürger so sehr entfremdet. Statt dessen erklärt man – mit Rücksicht auf das unbestreitbar bedeutsame Ziel einer effektiven Strafverfolgung – auch vitiöses Beweismaterial60 grundsätzlich für verwendbar.61 Eine Rückausnahme gilt nach jener h.M., von den wenigen, in der StPO ausdrücklich positivierten Beweisverwertungsverboten abgesehen, nur dann, wenn ein Eingriff in den Kernbereich von Grundrechten, namentlich der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) vorliegt.62 Ansonsten wägen wir munter ab. Sofern die Strafverfolgungsinteressen überwiegen, dürfen wir verwerten. Man muß dankbar dafür sein, daß die h.M. nicht die gleichen Maximen für die strafprozessuale Rechts„bewährung“ praktiziert, die 57
Str., so aber die herrschende Praxis, BGHSt 32, 68 (betreffs § 100a StPO); BGH NJW 2006, 1361 (1363) (grds.); gelegentliche „Ausreißer“ wie BGHSt 29, 244 (m. zust. Anm. Riegel, JZ 1980, 757 ff.) (betreffs § 7 G10-G) vermögen dieses Urteil nicht ernsthaft zu relativieren; in diesem Sinne demzufolge auch die h. L.: Baumann, GA 1959, 33 (42); Meyer-Goßner53 Einl. Rn. 57. 58 US Supreme Court EuGRZ 1978, 221; Erdmann Die Ausdehnung der strafprozessualen Garantien der US-Bundesverfassung auf den Strafprozeß der Einzelstaaten (1969), 137 f., 2001 ff; Kühne, StrProzR8 (2010) § 54 Rn. 912. Dort auch zu Relativierungen dieser Maxime, die in der deutschen Diskussion tatsächlich z. T. etwas undifferenziert wahrgenommen wurde; insoweit auch krit.: Bradley, GA 1985, 99 (101); Herrmann, JZ 1985, 602 (608 f.). 59 BVerfG NJW 2000, 3557; BVerfG NStZ 2006, 46. So jüngst wieder BVerfG NJW 2009, 3225 (Verwertbarkeit von bei rechtswidriger Durchsuchung gemachtem Zufallsfund); MeyerGoßner53 Einl Rn. 55; früh schon: Rogall, ZStW 91 (1979), 1 ff.; fortgeschrieben bei Wolter, BGH-FG Bd. IV (2001), S. 965 (1001 ff.); krit.: Kühne, StrProzR8 (2010), § 54 Rn. 907.4; Roxin/Schünemann, StrVerfR26 (2009), § 24 Rn. 13, 21 ff. 60 Zu dem Problem der unrechtlich generierten CD mit Steuer„sünder“-Dateien vgl. u. a.: Paeffgen, Bonner Rechtsjournal 2010, 12 ff.; aber auch Gössel, Puppe-FS (2011), S. 1377 ff. 61 BVerfG (3. Kam., 2. Sen.) NStZ 2000, 489; BGHSt 19, 325 (331); 42, 15 (21); 44, 243 (248 ff.); 47, 172 (179). 62 Wobei dieser Schutz des „Persönlichkeitskerns“ nicht einmal vor intimsten Äußerungen in persönlichstem Rahmen (Tagebuch) als tauglichem Relativierungssubstrat im Rahmen einer sog. „Abwägung“ halt macht, vgl. BVerfGE 80, 146 ff. (zu BGHSt 34, 397) (2. Tagebuchentscheidung); mit Recht krit. hierzu: Amelung, NJW 1990, 1753 ff.; Geis, JZ 1991, 112 ff. Allgemein zu der Verwendung von Tagebüchern im Strafprozeß: Amelung, NJW 1988, 1002 ff. – Wenn man Worte ernst nimmt, bedeutet „Abwägen“, daß man überprüfbare, einheitlich bleibende Maßgewichte hat!?
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sie bei der Strafzumessung nicht selten für geboten hält,63 etwa indem sie auch rechtswidrig erlangte Informationen über Schwarzfahrer o. ä. nicht um der Eindruckskraft des Geltungsanspruchs strafrechtlicher Tatbestände und der Effektivität der Strafverfolgung willen für verwertbar erklärt. c) Hier haben wir freilich die umgekehrte Situation: Wie oben festgestellt, war die Erhebung der Verbindungsdaten rechtmäßig – praemissis praemittendis. Getreu der soeben noch einmal rekapitulierten h.M. könnte man fast zu fragen geneigt sein: Wo liegt das Problem? Wenn schon rechtswidrig erlangte Beweismittel allenfalls in Ausnahmefällen unverwertbar sind, müssen doch rechtmäßig erhobene – erst recht – verwertbar sein! Das ist denn auch das Resultat des BGH64 und einiger Obergerichte.65 Doch hier liegen meine – dem Jubilar zu offenbarenden – Schwierigkeiten: Sie sind in dem merkwürdigen Zusammenspiel von – vorläufiger – Regelung und der Ex-tunc-Wirkung der Nichtig-Erklärung durch das BVerfG begründet. aa) Wenn nämlich, wie es das BVerfG in seinem einschlägigen Judikat in Befolgung der Nichtigkeitsdoktrin unterstellt, die Verwerfung der §§ 113a, b TKG, § 100g Abs. 1 eine Ex-tunc-Nichtigkeit der Eingriffs-Ermächtigungen bedeutet, dann entsteht das beschriebene Dilemma: Rechtmäßig erhobene Daten können nicht nur verwertet werden, sondern zu einer zentralen Stütze im Beweisgebäude gegen den Angeklagten erwachsen. Und das soll möglich sein, obwohl das BVerfG die Norm, auf die sich die Beweisgewinnung stützt, für verfassungswidrig erklärt hat? (1) Nun hatte das BVerfG gemeint, eine „sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten durch private Diensteanbieter, wie sie die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 03. 2006 (ABlEU Nr. L 105 vom 13. 04. 2006, S. 54; im Folgenden: Richtlinie 2006/24/EG) vorsieht, ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar“.66 Hier fällt dem an Effektivtäts-Argumenten orientierten Strafprozessualisten sofort eine beliebte Argumentationskrücke ein, mittels derer er sich aus formalen 63
So wie man bei notorischen Schwarzfahrern gerne mal – zur Abschreckung – eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt, oder auch bei Rückfalldieben, trotz geringfügiger Beute, vgl. etwa, besonders abschreckend, BayObLG JZ 1989, 696 (mit abl. Anm. Köhler) – in dem Fall eines Bagatelldiebstahls durch eine ältere Frau als Wiederholungstäterin, der mit einer sehr hohen Freiheitsstrafe endete. Vgl. auch die – allerdings wenigstens in der Revision korrigierten – Fälle des AG Wittmund (4 Monate Freiheitsstrafe gegen einen 74 Jahre alten Angeklagten für einen Diebstahl von Waren im Wert von 5,08 E), aufgehoben durch das OLG Oldenburg StraFo 2008, 297; oder: AG Brandenburg (wegen Erschleichens von Leistungen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten), auf Berufung: LG Potsdam (fünf Monate und zwei Wochen),aufgehoben durch OLG Brandenburg BeckRS 2009, 05973 (mit sacherechter Begründung); oder: OLG Hamm NStZ-RR 2009, 73 (ohne Nennung der Vorinstanz: Einzelfreiheitsstrafen von 3 Monaten wg. Beförderungserschleichung, Gesamtstrafe 5 Monate) aufgehoben. 64 BGH BeckRS 2011, 718. 65 OLGe Hamm BeckRS 2010, 12105; München BeckRS 2010, 19914. 66 1. Leitsatz und BVerfGE 125, 260 (288) (BGBl I 2010, 272).
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Zwängen des schnöden Gesetzeswortlautes oder gar von den ideellen Fesseln der ansonsten, bei Feiertagen oder in universitären Überblicksdarstellungen, monstranzartige vorneweggetragenen Leitideen des Strafprozeßrechts befreit: der hypothetisch rechtmäßige Ersatzeingriff.67 Diese – durchaus dubiose – pseudo-kausalistische Überlegung (der prozedurale Fehler belaste den Betroffenen nicht, weil das Beweisergebnis auch auf prozeßordnungsgemäßem Wege hätte gewonnen werden können68) wird zwar mit Fleiß, wie man in Bayern zu sagen pflegt, in der Behandlung prozessualer Fehler eingesetzt, namentlich bei Verstößen gegen Beweiserhebungsverbote. Auf der Ebene des Verfassungsrechts, soweit es um die Nichtigkeit von Gesetzgebungsakten geht, hat die Hypothesen-Gestattung aber nichts zu suchen – und hat bisher, soweit ersichtlich, auch noch keinen Eingang gefunden. Denn jenseits des Zuständigkeitsmangels ist keine Regelung vorstellbar, in der der Gesetzgeber nicht auch eine materiell verfassungskonforme Regelung hätte prästieren können. Dann aber wäre die ,hypothetisch verfassungsgemäße ErsatzregelungÐ eine Argumentationsfigur, die das Nichtigkeitsdogma von Anfang an paralysierte. (2) Doch ließe sich weiterhin einwenden, daß die inkriminierte Norm gar nicht die Eingriffsgrundlage gewesen sei, sondern die mit den höheren Weihen juristischer Einsicht und Kompetenz gesalbte Verhältnismäßigkeits-Betrachtung des BVerfG in seiner einstweiligen Anordnung. – Aber auch diese Replik vermag schwerlich zu überzeugen: Auch wenn das BVerfG in der einstweiligen Anordnung erheblich an den Normen der §§ 113a f. TKG, § 100 g StPO herumgestutzt hat, – Ausgangspunkt und Streitgegenstand bleiben die legiferierten Gesetzesbestimmungen. Um ihren Inhalt sub specie verfassungsrechtliche Legitimierbarkeit ging es – im Verfahren 67 Für ihn, natürlich, die h.M., BGHSt 24, 125 (130 f.); NStZ 1989, 375; Beulke, StrProzR11 (2010), Rn. 483; ders., ZStW 103 (1991), 657 ff.; Grünwald, Das Beweisrecht der Strafprozeßordnung (1993), S. 161 f.; Jäger, GA 2008, 494 (497); Meyer-Gossner, StPO53, Einl Rn. 57c; SK-StPO4-Rogall (2011), § 136a Rn. 119 f. und ders., NStZ 1988, 385 (390 ff.); Wolter, Anm. zu BGHSt 32, 68, NStZ 1984, 276 (277, sub 5 b); mit Recht krit. Jahn/Dallmeyer, NStZ 2005, 297 ff.; Roxin/Schünemann, Lb26, § 24 Rn. 62; Wohlers, Fezer-FS (2008), S. 311 ff. Der 57. DJT hatte immerhin noch eine allgemeine Anerkennung dieser Maxime mehrheitlich abgelehnt, Beschluß Nr. II 5c, ee. 68 Erstaunlicherweise ist in Zeiten, in denen einem auf zwei Dritteln einer eigenen Arbeit Fremdzitate ,unterlaufenÐ können, ohne daß sie als solche kenntlich gemacht worden wären, dies aber als kein Fall von Täuschungsabsicht, wohl aber von Sorgfaltsmangel deklariert werden kann, dazu u. a. Hannes Hintermeier, Grundsätze der Union. Im Land der Wettertannen, FAZ 23. 02. 2011 (http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/ Doc~E3C87D27B5EFD4C0F826E8398FA0E581E~ATpl~Ecommon~Scontent.html), oder Jürgen Kaube, Plagiats-Affäre. Vgl. auch Guttenberg 2009, FAZ 21. 02. 2011 (http://www.faz. net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~EFD4E1E1 A128C4 A388760 CEE978C4 A7 A1~ATpl~Ecommon~Scontent.html), noch niemand auf die Idee gekommen, diesem Einwand auch im Prüfungsbereich Beachtlichkeit einzuräumen: Motto: Ich hätte es auch so gewußt – und bedurfte des Spickzettels gar nicht … Irgendwie merkwürdig intransigent in diesem Punkt allerdings etwa VGH Baden-Württemberg, B. v. 13. 10. 2008, 9 S 494/08, NVwZ-RR 2009, 285: LS 2: „Auf den Umfang der abgeschriebenen Stellen sowie auf die Frage, ob die Arbeit auch ohne das Plagiat noch als selbständige wissenschaftliche Arbeit hätte angesehen werden können, kommt es grundsätzlich nicht an.“
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betreffs der einstweiligen Anordnung wie im Hauptsacheverfahren. Selbst wenn man also mit der obigen h.M. von der Gesetzes-Gleichwertigkeit des Ausspruchs der einstweiligen Anordnung ausgeht, adelte dies nur denjenigen Grundrechtseingriff, der sich auf sie stützt. (3) Damit ist man aber wieder auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen: Verschafft die einstweilige Anordnung dem Eingriff endgültige Legitimität? Da die einstweilige Anordnung, wie ihr Name schon besagt, nur eine vorläufige Regelung darstellt, schafft sie eine Legitimation nur für die Zeit und für den Anlaß und in der Funktion, für den sie erlassen wurde. Demzufolge waren die auf ihrer Grundlage getroffenen Maßnahmen rechtmäßig (namentlich Datenerhebung und -verwaltung). Mit der h.M. hält Löwer69, infolge des § 79 BverfGG, zwar die aufgrund der alten Norm ergangenen Urteile im Bereich des Strafrechts im Fall einer Norm-Kassation für wiederaufnahmefähig.70 Jenseits dessen, betont er aber, also namentlich im Zivilund Verwaltungsrecht, sei – mangels entsprechender Normen eine Rechtskraft- bzw. Bestandskraft-Durchbrechung nicht vorgesehen. § 79 Abs. 2 S. 4 BVerfGG sehe sogar ausdrücklich einen Ausschluß von Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung vor. So entnimmt er, mit dem BVerfG,71 dem Abs. 2 des § 79 BVerfGG die Generalregel, daß nachteilige Wirkungen von auf verfassungswidrigen Gesetzen aufruhenden, existenten Rechtsakten nicht ausgeräumt würden; lediglich für die Zukunft sollten derartige Folgen verhindert werden. – Zu der strafprozeßrechtlichen Dimension des Themas nimmt er leider nicht explizit Stellung. III. Conclusio Was sollte nun hier gelten? Trotz der interimistischen Legitimations-Unterschiebung durch die einstweilige Anordnung bleiben die mit der Ursprungsnorm verfolgten Wege der Datenerhebung und -weitergabe dennoch: verfassungswidrig. Wenn aber der Rechtsrahmen und -grund, innerhalb und aufgrund dessen die Daten erhoben, weitergegeben und verwertet wurden, als mit dem Grundgesetz unvereinbar eingestuft wurde, so sollte man sich doch eigentlich genieren, darauf gestützt jemanden ins Gefängnis zu schicken oder ihm auch nur eine Geldstrafe aufzuerlegen. Mit dem endgültigen Urteil ist gleichsam die „Geschäftsgrundlage“ für die einstweilige Anordnung entfallen. Ein „bißchen verfassungswidrig“ gibt es m. E. genauso wenig wie ein bißchen schwanger. Die Ex-tunc-Wirkung der Unvereinbarkeits-Erklärung macht die einstweiligen Anordnungen zwar nicht ungeschehen und auch nicht rechtswidrig. Aber der Schleier des Nichtwissens, der zu dem Zeitpunkt ihres 69
Löwer, HStR III3 (2005), § 70 Rn. 118 f. Unter Verweis auf BVerfGE 15, 309 (312). 71 BVerfG 97, 35 (48) (Verfassungswidrigkeit des Ausschlusses nichtvollbeschäftigter, aber rentenversicherungspflichtiger Arbeitnehmer von der zusätzlichen Altersversorgung); BVerfGE 98, 365 (402) (BGBl I 1998, 3430) (= NJW 1999, 841) (Partielle Verfassungswidrigkeit des Bayerischen Schwangerenhilfeergänzungsgesetzes). 70
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Erlasses noch über der Beurteilung der zentralen Rechtsfragen lag, ist nunmehr fortgezogen, die Rechtslage ist nunmehr klar: Die Normen sind verfassungswidrig. Dann ist aber das Normgerüst, auch wenn es das BVerfG zwischendurch notdürftig nachgeschient hat, um im bautechnischen Bilde zu bleiben, nicht mehr weiter (rechtlich) tragfähig – jedenfalls auf der Basis einer sich selbst ernst nehmenden Extunc-Nichtigkeits-Sicht. Dies müßte jedenfalls für neue, den Normadressaten treffende nachteilige Folgen gelten.72 Ähnlich wie beim aggressiven Notstand des § 904 BGB der außenstehende Dritte den Eingriff des Bedrohten in seine Rechtssphäre dulden muß, mußten allfällige Betroffene jene Datenerhebung und, ggfls. -weitergabe interimistisch (als rechtmäßig) hinnehmen. Während sie in jener Norm aber immerhin liquidieren dürfen, sollten sie sich hier gegen die Beweisverwertung wie auch gegen die weitere Archivierung und datentechnische Nutzbarkeit der – eben nur zwischenzeitlich statthafterweise – gewonnenen Daten wehren können dürfen. Das aber heißt, daß – entgegen dem BGH und einigen Obergerichten73 – die Verbindungsdaten prozessual nicht verwertet werden durften.74 Das heißt weiterhin, daß man, wenn in der Übergangszeit bei einem Strafverfahren, dessen verurteilendes Erkenntnis sich u. a. auf derartige Verbindungsdaten gestützt hat, bereits Rechtskraft eingetreten ist, gegen dieses Urteil mit Erfolg auf Wiederaufnahme nach § 359 StPO angetragen können muß. Hier liegt nicht nur eine gewisse Parallele zu § 79 Abs. 1 BVerfGG (Wiederaufnahmemöglichkeit bei für nichtig erklärten Strafgesetzen) nahe, sondern – noch stärker – eine solche zu § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG: In letzterem wird eine Vollstreckung aus einer an sich nicht mehr anfechtbaren Entscheidung verboten („ist unzulässig“), die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen. Zwar geht es bei der Verwertung von Beweismitteln im Strafprozeß nicht um Verwaltungsakte oder ähnliches, die bestandskräftig werden können. Wohl aber liegt eine Ähnlichkeit insoweit vor, als ein zeitweilig für rechtmäßig erklärtes und damit im Eingriffs-Zeitpunkt „rechtmäßiges“ Amtswalterverhalten aus der Vergangenheit nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann und soll, dieses aber noch weiterhin Wirkungen zeitigt. – Noch deutlicher wird die Ähnlichkeit im Fall der Datenaufbewahrung. Soweit damit Daten für eine zukünftige Straftat-Verfolgung bereitgestellt werden sollen, ist die Ressortierung der Norm ja ohnehin einem, freilich verfassungsgerichtlich abgesegneten, „Taschenspielertrick“ zuzuschreiben, nämlich ohne eine wirkliche materielle Gesetzgebungs-Zuständigkeit und entgegen Art. 70 GG diese Materie der „Verbrechensvorbeugung“ dem Strafverfahrensrecht zuzu72 Hierzu wären, nach den Prinzipien des Volkszählungs-Urteils, BVerfGE 65, 1 ff., auch die fortdauernde Aufbewahrung von, aus der Ex-post-Sicht: verfassungswidrig erhobenen Daten zu zählen. 73 Vgl. o., Fußn. 64 und 65. 74 Richtig insoweit das LG Verden StV 2011, 13 (die in BeckRS 2011, 00329 abgedruckte Entscheidung läßt zu dem angegebenen LS nicht ein Wort der Begründung verlauten). Vorsichtig tentativ in diese Richtung auch Volkmer, NStZ 2010, 318 ff.
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schlagen. Solange kein Tatverdacht vorliegt, kann es – rational betrachtet – kein Strafverfahren geben.75 Ordnete man derartiges Asservierungsverhalten, sachrichtig, dem Polizeirecht zu, so würde die Sachrichtigkeit der hier vertretenen Lösung noch deutlicher. Denn es handelte sich dann – je nach den Umständen – um einen (bestandskräftigen) Verwaltungsakt, dessen Folgen ohne weiteres beseitigt werden könnten. 75
Vgl. u. a. Dreier, JZ 1987, 1009 ff.; Gärditz, Strafprozeß und Prävention (2003), S. 112 f., 358 f.; Kastner, VerwArch 92 (2001), 216 (235) ; Knemeyer, Pol-/OrdR11 (2007), Rn. 179; Kniesel, Der Kriminalist 1989, 5 (7); ders., Neue Polizeigesetze contra StPO?, ZRP 1987, 377 (380); ders., Die Polizei 1991, 185 (188); Paeffgen, JZ 1991, 437 (443); ders., in: Wolter, Zur Theorie und Systematik des Strafprozeß (1995), S. 13 (14 ff.); ders., Das sächsische Polizeigesetz… (1996), S. 8 f. und passim; Paeffgen/Gärditz, KritV 2000, 65 (73); Pieroth, VerwArch 1997, 568 (574); Riegel, BundespolizeiR (1985), § 5 BKAG Anm. 1c; Vogel in: Drews/Wacke/ Vogel/Martens, Gefahrenabwehr I9 (1986), S. 132 ff.; Walden, Zweckbindung und -änderung präventiv erhobener Daten (1996), S. 165; Weßlau, Vorfeldermittlungen (1989), passim; in bezug auf das kompetenziell vergleichbar liegende Problem der Straftäterunterbringungsgesetze der Länder Bayern und Sachsen-Anhalt noch einmal: Gärditz, NVwZ 2004, 693 ff.; Goll/ Wulf, ZRP 2001, 284; Peglau, ZRP 2000, 147 (148); SK-StPO4-Paeffgen (2011), Art. 5 EMRK Rn. 33e ff.; Trute, JeandÏHeur-GS (1999), S. 403 (407); Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 (1202 f.). – Für die Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen als Verwaltungsaufgabe die längste Zeit auch h.M. im Verwaltungsrecht: BVerwGE 11, 181 (= NJW 1961, 571); BVerwG 1989, 2640; vgl. i.ü. auch zu parallelen Konflikten BVerwGE 26, 169 (= DVBl 1967, 778 = JZ 1967, 532 = NJW 1967, 1192) (Befugnis zur Aufbewahrung erkennungsdienstlicher Unterlagen); 66, 202 (= DÖV 1983, 381 = NJW 1983, 1338) (gleiche Thematik, gleiches Ergebnis; so auch noch etwa Gusy, PolR4 (2000), Rn. 388; a.A. aber wohl jetzt: Gusy, PolR7 (2009), Rn. 244, 246 ff. (freilich vor dem Hintergrund der nunmehr eingeführten §§ 483 f. StPO); und schon immer (a.A.): Denninger in: Lisken/Denninger, HdB PolR4 (2007), E Rn. 177: Vorbereitung auf die Verfolgung zukünftiger Straftaten falle unter Repression – und damit in die Bundeszuständigkeit (man mag durchaus sagen, daß sie nicht der „Prävention“ diene; aber zukünftige Repression ist keine „Repression“ i.S.d. StPO [Stichwort: „Tatverdacht“] – und fällt damit qua Art. 30 GG immer noch in die Länderkompetenz. (Denningers Resultat ist um so verblüffender, als er 2 Noten zuvor [Rn. 175] ausdrücklich noch einmal Götz [NVwZ 1984, 212] u. a. sekundiert, die eine „erschöpfend[e] und abschließend[e] Regelung der polizeilichen Eingriffsbefugnisse im Ermittlungsverfahren in der StPO geregelt habe bzw. regeln wolle); vgl. auch, i.S.d. h.M.: Rachor in: Lisken/Denninger HdB PolR4 (2007), F Rn. 161 ff., 169 ff. (was diesen nicht daran hindert, Rn. 23 f., 293, 340, eine polizeiliche Zuständigkeit für „operative“ Verbrechensbekämpfung hinzunehmen, obschon er sie selbst mit vorbeugenden Straftatbekämpfung synonymisiert); Schoreit, CuR 1986, 224 ff.; SK-StPO-Rogall (2006), § 81 g Rn. 1; Wolter, StV 1989, 358 ff.; so leider auch schon seit längerem der Jubilar, vgl. zuletzt: Schenke, PolR6 (2009), Rn. 11, 30. Dabei können sich die Letztgenannten bedauerlicherweise auf den (erneut) freihändigen Umgang des BVerfG mit Kompetenz-Argumenten berufen, der seinen mißlichen Ursprung bereits bei der G 10-Entscheidung genommen hat: BVerfGE 30, 1 (29), – was natürlich sofort auf Zustimmung aus der Strafverfolger-Szene stieß, etwa Keller/Grießbaum, NStZ 1990, 416 (418) (verräterisch die dortige Wortwahl: „In diesen Fällen erscheint aber eine bereits im Vorfeld des Anfangsverdachts angesiedelte explorative Tätigkeit zur Ermittlung von Straftaten im Interesse eines wirksamen Rechtsgüterschutzes erforderlich.“ (Herv.: H.-U.P); dagegen immerhin noch, durchschlagend, aber folgenlos: Graf Pestalozza, in: v.Mangoldt/Klein, GG3 (1996), Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 132 Fußn. 209; immerhin reserviert auch Oeter, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, GG6 (2010), Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 25. Aus jüngerer Zeit aber erneut i.S.d. h.M.: BVerfGE 113, 349 (384 ff.) (§ 33a Abs. 1 Nr. 2, 3 NdsSOG/vorbeugende Telephonüberwachung).
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Alles andere erschiene mir doch mehr eine hohle Form von „Begriffsjurisprudenz“ in einer eher karikierenden Sichtweise. Ich hoffe selbstredend, mit der These und ihrer Unterfütterung auch auf eine gewisse Zustimmung des Jubilars zu stoßen, jedenfalls mich gegenüber seinen stets scharfsinnigen Einwänden einigermaßen gewappnet zu haben. – Vor allem aber hoffe ich, daß er noch viele Jahre mit seinen Publikationen die wissenschaftliche Landschaft aufzumischen beabsichtigt – und daß ihm die hierfür erforderliche Gesundheit und Lebensfreude noch lange erhalten bleibt: Ad multos bonos annos!
Kampfmittelbeseitigungsrecht – ein Sonderfall des Gefahrenabwehrrechts Von Franz-Joseph Peine I. Einleitung Der Jubilar ist der Verfasser eines der am weitesten verbreiteten Lehrbücher zum Polizei- und Ordnungsrecht der Gegenwart und ferner Verfasser einer Vielzahl weiterer Abhandlungen zum Gefahrenabwehrrecht1. Das Recht der Altlasten ist Teil dieses Rechtsgebiets; der Jubilar hat es angesprochen im Zusammenhang mit dem Bodenschutzrecht2. Das Recht der militärischen Altlasten/Rüstungsaltlasten wiederum ist ein Teilgebiet des „allgemeinen“ Altlastenrechts. Die Verschmutzung des Bodens durch „Kampfmittel“ und ihre Beseitigung bildet ein Teilgebiet der Materie „militärische Altlasten/Rüstungsaltlasten“. Es wird in der Literatur kaum behandelt3 ; es bildet in ihr eher ein Randproblem. Vielleicht kann dieser Beitrag dabei mithelfen, dem Thema „Kampfmittelbeseitigung“ ein wenig mehr Interesse zu schenken. Denn es ist wegen seiner großen Umweltrelevanz und auch wegen seiner finanziellen Dimension von sehr großer praktischer Bedeutung – auch aktuell4. Die große Bedeutung der Verschmutzung des Bodens durch Kampfmittel5 sei an zwei Beispielen demonstriert: Westlich von Berlin befindet sich das riesige Gebiet „Döberitzer Heide“. Es war bis nach 1990 militärisches Übungsgelände, zuletzt der Truppen der Sowjetunion. Das Gebiet darf heute nur auf wenigen ausgewählten Wegen, die nicht verlassen werden dürfen, betreten werden. Die Besucher sollen auf 1 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., 2009; Schenke/Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2006, S. 171 ff.; Schenke, FS Friauf, 1996, 455 ff.; Schenke/Ruthig, VerwArch 1996 (87), 329 ff. 2 Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 265 ff. 3 Donner/Fischer, NuR 1990, 385 ff.; Peine, DVBl. 1990, 733 ff.; Becker, DVBl. 1991, 346 ff.; Schütz, Verantwortlichkeit und Haftung für militärische Altlasten im deutschen öffentlichen Recht, in: Thom¦-Kosmiensky (Hrsg.), Management zur Sanierung von Rüstungsaltlasten, 1992, S. 183 ff. (188); Lünsmann, Rechtsfragen der Rüstungsaltlastenproblematik, in: Brandt/Ristau (Hrsg.), 1994, S. 39 f.; Flotho, Ordnungsverfügungen zur Dekontamination von Rüstungsaltlasten aus der Sprengstoffproduktion nach dem Montan-Schema, 1995; Knopp, Rüstungsaltlasten aus rechtlicher Sicht, in: Martinez/Rippen (Hrsg.), Handbuch Rüstungsaltlasten, 1996, S. 62 ff.; Jorczyk, Rüstungsaltlasten in Deutschland: Ein Überblick über den Stand der aktuellen rechtlichen Situation, 1998; Peine, NuR 2005, 151 ff.; Schröder, DVBl. 2008, 93 ff. 4 van den Berg, NuR 2010, 778 ff. 5 Eine Definition des Begriffs findet sich unten unter II. 1.
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diese Weise vor explodierender Munition, die sich im oder auf dem Boden befindet, geschützt werden. Die Sanierung des Bodens schreitet wegen der enormen Kosten nur langsam voran. – Nicht nur, aber insbesondere in Berlin und Brandenburg werden wohl wöchentlich bei Bauarbeiten so genannte Blindgänger (= nicht explodierte Bomben) aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden6. Besonders hart von Blindgängerfunden betroffen ist die nördlich von Berlin gelegene Stadt Oranienburg. Nach einem Gutachten sollen im Boden dieser Stadt noch mindestens 320 Blindgänger vorhanden sein7. Blindgänger können jederzeit explodieren. Die von ihnen ausgehenden Gefahren sind nicht abschätzbar. Die Gefahren betreffen Leib und Leben, Sachgüter und die Umwelt. II. Kampfmittelbeseitigungsrecht 1. Begriffsbestimmung Der Begriff militärische Altlast/Rüstungsaltlast wird wie folgt bestimmt: „Unter einer Rüstungsaltlast werde ein Grundstück verstanden, auf dem zur Ausrüstung der Kampfverbände des deutschen Reichs Kampfmittel jeder Art hergestellt, erprobt sowie gelagert oder diese Kampfmittel sowie ihre Vor-, Neben-, Zwischen- oder Abfallprodukte beseitigt wurden, wenn von diesen Stoffen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht“8. Die Literatur versteht unter Kampfmitteln „die fachtechnische Bezeichnung für Gegenstände militärischer Herkunft […], die herrenlos geworden sind und Explosionsstoffe oder Kampfstoffe wie etwa Giftgas enthalten, so z. B. Patronen, Granaten, Bomben, Zünder, Minen, Sprengmittel, Treib- und Zündmittel“9. Eine Legaldefinition dieses Begriffs fehlt. Die gerade vorgestellte Definition ist heute allgemein akzeptiert. Sie findet sich beispielsweise in einem Vorschlag für eine Neufassung der Kampfmittelverordnung des Landes Brandenburg wieder10. Nach dieser Definition sind „Blindgänger“ Kampfmittel. 6 Nach dem Bericht der „FAZ“ vom 4. 6. 2010, S. 7: „Tödliche Routine“ werden jährlich bis zu 5500 Bomben gefunden. Jede siebte bis zehnte Bombe, die die Westmächte während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland abwarfen, explodierte nicht. Der Betriebsleiter der Kampfmittelräumfirma Tauber, Andreas Heil, berichtet in „Der Spiegel“ vom 7. 6. 2010, S. 99: „Die Dinger funktionieren noch“, dass es in Deutschland noch mehr als 100.000 Blindgänger gibt. 7 Bericht „Der Tagesspiegel“ vom 3. 6. 2010, S. 7: „Zeitbomben“. 8 Peine, DVBl. 1990, 733 (734). 9 Peine, Bodenschutz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band II, 1. Teilband, 2003, S. 1271 (1292), Frenz, Bundes-Bodenschutzgesetz, 2000, § 3 Rn. 62. 10 Kampfmittel im Sinne dieser Verordnung sind gewahrsamslos gewordene, zur Kriegsführung bestimmte Gegenstände militärischer Herkunft und Teile solcher Gegenstände aus der Zeit des 1. und 2. Weltkrieges sowie der sowjetischen Streitkräfte aus der Zeit von 1945 (GSBTD) bis 1994 (WGT), die 1. Explosivstoffe oder Rückstände dieser Stoffe enthalten oder aus Explosivstoffen oder deren Rückständen bestehen (beispielsweise Gewehrpatronen, Granaten, Bomben, Zünder, Minen, Spreng- und Zündmittel), 2. laborierte Kampf-, Nebel-, Brandund Reizstoffe oder Rückstände dieser Stoffe enthalten oder 3. Munition oder Teile von Mu-
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2. Gesetzeslage a) Fehlendes Bundesrecht Das Recht der Kampfmittelbeseitigung kennzeichnet, dass es ein diese Materie speziell regelndes Parlamentsgesetz des Bundes nicht gibt. Festzuhalten ist, dass das „Gesetz zum Schutz des Bodens vor schädlichen Bodenveränderungen und zur Sanierung von Altlasten – Bundes-Bodenschutzgesetz – BBodSchG“11 die Problematik nicht erfasst. Dieses Resultat ergibt sich aus § 3 Abs. 2 Satz 2 BBodSchG. Nach dieser Vorschrift gilt das BBodSchG nicht für das Aufsuchen, Bergen, Befördern, Lagern, Behandeln und Vernichten von Kampfmitteln. b) Spezielles Recht der Länder Für den Umgang mit Kampfmitteln existiert ein spezielles Recht: das Kampfmittelbeseitigungsrecht. Es ist Länderrecht. Diese haben das Kampfmittelbeseitigungsrecht unterschiedlich geregelt. aa) Regelung durch Gesetz Als einziges Bundesland hat Bremen zum Regelungsinstrument „Parlamentsgesetz“ gegriffen. Das Land hat das „Gesetz zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel“ vom 8. Juli 2008, BremGBl. S. 229 erlassen. bb) Regelung durch Rechtsverordnung Eine Reihe von Bundesländern versucht, das Problem „Kampfmittelbeseitigung“ mithilfe einer Rechtsverordnung zu lösen: Brandenburg: Ordnungsbehördliche Verordnung zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel vom 23. November 1998, GVBl. II S. 633; Hamburg: Verordnung zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel vom 13. Dezember 2005, HambGVBl. S. 557; Mecklenburg-Vorpommern: Landesverordnung zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel vom 8. Juni 1993, GVOBl. M-V 1993, S. 575; Sachsen: Polizeiverordnung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel vom 4. Februar 1994, SächsGVBl. S. 97; Sachsen-Anhalt: Gefahrenabwehrverordnung zur Verhütung von Schäden durch Kampfmittel vom 27. April 2005, GVBl. LSA 2005, S. 240; Schleswig-Holstein: Landesverordnung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch Kampfmittel vom 17. Januar 2005, GVOBl. 2005, S. 44; Thüringen: Ordnungsbehördliche Verordnung über die Abwehr nition sind und keine Explosivstoffe enthalten (insbesondere Zünder und Zündsysteme, Exerziermunition, Granaten- und Bombenkörper ohne Füllung) oder 4. Kriegswaffen und wesentliche Teile von Kriegswaffen sind, die nicht dem Anwendungsbereich des Waffengesetzes oder des Kriegswaffenkontrollgesetzes unterliegen. 11 Vom 17. 3. 1998, BGBl. I S. 502.
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von Gefahren durch Kampfmittel vom 26. September 1996, ThürStAnz Nr. 42/1996, S. 194. cc) Verwaltungsvorschriften Die übrigen Bundesländer äußern sich zur Problematik nicht in der Gestalt formellen Rechts, sondern – wenn überhaupt – durch Verwaltungsvorschriften; diese sind teilweise nicht auffindbar. Verwaltungsvorschriften ergänzen im Übrigen auch das Recht in den zuvor aufgezählten Bundesländern. Das Land Brandenburg kennt beispielsweise den Erlass vom 26. März 2004 zur Auflösung des Staatlichen Munitionsbergungsdienstes; dessen Aufgaben überträgt der Erlass dem Zentraldienst der Polizei nach § 72 Abs. 2 BbgPolG. Sachsen kennt die Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums des Innern über die Beseitigung von Kampfmitteln vom 7. März 2000. dd) Überblick über den Inhalt der Regelungen Inhalt des formellen Rechts ist nicht durchgängig die Begründung der Zuständigkeit einer Behörde für die Erledigung der Aufgabe „Kampfmittelbeseitigung“, sondern teilweise ausschließlich Gefahrenabwehrrecht. Die BbgKampfmV, erlassen auf der Grundlage von § 25 BbgOBG, regelt Begriffsbestimmungen und ihren Anwendungsbereich, Anzeigepflichten, Verbote, Anzeigepflichten bestimmter Unternehmen sowie Ordnungswidrigkeiten. Die tatsächliche Beseitigung von Blindgängern obliegt in der Regel besonderen Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung. Sie sind in einem „Dienst“ organisiert, der den Namen „Kampfmittelbeseitigungsdienst (KMBD)“ trägt. Für Brandenburg war die Rechtsquelle bereits genannt worden, die dem KMBD die Aufgabe der tatsächlichen Beseitigung überträgt. Für die anderen Länder mit formellem Recht12 gilt: In Bremen ist nach § 1 Abs. 6 die Polizei Bremens zuständig. In Hamburg ist nach § 5 Abs. 1 Satz 1 für das Sondieren und Freilegen eines Kampfmittels ein geeignetes Unternehmen, nach § 3 Abs. 2 für alle anderen Tätigkeiten eine von der zuständigen Behörde beauftragte Stelle zuständig (wer zuständige Behörde und wer beauftragte Stelle ist, regelt eine [mir nicht zugängliche] Verwaltungsvorschrift). In MecklenburgVorpommern ist nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 der staatliche Munitionsbergungsdienst zuständig; dessen Rechtsstellung lässt sich der Verordnung nicht entnehmen; nach § 3 sind für die Gefahrenabwehr zuständig die örtliche Ordnungsbehörde und das Landesamt für Katastrophenschutz als Sonderordnungsbehörde; dieses Landesamt ist nach § 4 auch Fachaufsichtsbehörde. In Nordrhein-Westfalen sind nach § 3 „Stellen“ zuständig, die die Bezirksregierung mit der Beseitigung der Kampfmittel beauftragt hat. In Sachsen sind nach Nr. 1.b) der erwähnten Verordnung die allgemeinen Polizeibehörden zuständig; diesen leistet nach Nr. 1.d) der bei der Landespolizeidirektion Zentrale Dienste eingerichtete Fachdienst Kampfmittelbeseitigung Amtshilfe. In Sachsen-An12
Siehe zuvor unter bb).
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halt ist nach §§ 1 Abs. 3, 4 zuständig das Technische Polizeiamt Sachsen-Anhalt. In Schleswig-Holstein ist nach § 1 Abs. 3 Satz 1 zuständig das Innenministerium als Landesordnungsbehörde; nach Satz 4 nimmt seine Aufgabe wahr das Amt für Katastrophenschutz. In Thüringen sind nach § 4 Abs. 1 ausschließlich beauftragte Unternehmen zuständig; sie werden im Staatsanzeiger bekannt gegeben. 3. Zuständigkeit Die Frage, ob der KMBD Gefahrenabwehrbehörde ist – also zuständig ist für den Erlass von Verfügungen, die der Gefahrenabwehr dienen – ist nach jedem Landesrecht gesondert zu beantworten13. Beispielsweise gilt für Brandenburg: Der KMBD ist Teil des Zentraldienstes der Polizei des Landes Brandenburg. Dieser Dienst ist eine dem Innenministerium des Landes Brandenburg nachgeordnete Dienststelle mit Serviceaufgaben. Der Zentraldienst der Polizei ist nach § 72 Abs. 2 BbgPolG eine so genannte Polizeieinrichtung. Eine Polizeieinrichtung ist keine Polizeibehörde; denn nach § 72 Abs. 1 BbgPolG ist Polizeibehörde das Polizeipräsidium. Für die Polizeibehörde regelt das BbgPolG ihre örtliche und sachliche Zuständigkeit, §§ 75 ff., 78 ff. Sie hat insbesondere Eingriffsbefugnisse. Dieses Resultat ergibt sich daraus, dass sie nach § 78 Abs. 1 Satz 2 BbgPolG für die Aufgabe der Gefahrenabwehr zuständig ist und zur Erfüllung dieser Aufgabe nach § 10 Abs. 1 BbgPolG die notwendigen Maßnahmen treffen kann, um eine im Einzelfall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die Zuständigkeit für die Gefahrenabwehr besitzt der Zentraldienst der Polizei nicht. Seine Aufgabe ist gesetzlich nicht festgelegt. Er kann (schon) deshalb Eingriffsbefugnisse nicht besitzen. Der KMBD als Teil des Zentraldienstes der Polizei besitzt keine Eingriffsbefugnisse. Es muss nicht besonders hervorgehoben werden, dass der Zentraldienst der Polizei keine Sonderordnungsbehörde im Sinne des § 11 BbgOBG ist; ihm ist durch Gesetz oder Verordnung eine bestimmte Aufgabe der Gefahrenabwehr nicht zugewiesen worden. Das bedeutet: Soweit eine Handlung als eine Rechtshandlung mit Eingriffsqualität zu qualifizieren ist – also rechtlich ein Verwaltungsakt14 bzw. dessen actus contrarius ist –, kommt eine Zuständigkeit des KMBD zur Anordnung dieser Handlung nicht in Betracht, weil er keine Eingriffsbefugnisse besitzt. Mit Blick auf den Mittelpunkt der Kampfmittelbeseitigung – die Durchführungsmaßnahme – ist festzuhalten: Die örtlich und sachlich zuständige Behörde müsste für die Durchführung primär den so genannten Störer oder Verantwortlichen in Anspruch nehmen, also regelmäßig den 13
Die weiteren Ausführungen sind durchweg am Landesrecht Brandenburg orientiert. Zu den Rechtshandlungen mit Eingriffsqualität als Verwaltungsakt siehe Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2008, Rn. 359 ff. 14
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Grundstückseigentümer. Dieses darf sie bei der Kampfmittelbeseitigung aber nicht: Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BbgKampfmV ist es „jedermann“ verboten, nach Kampfmitteln zu sondieren, entdeckte Kampfmittel zu berühren, ihre Lage zu ändern oder sie in Besitz zu nehmen. Ein Verstoß gegen dieses Verbot wird nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 BbgKampfmVals Ordnungswidrigkeit geahndet. Ein Verwaltungsakt, der eine natürliche Person aufforderte, nach einem Kampfmittel zu sondieren, verstieße gegen die BbgKampfmV und wäre nach § 1 Abs. 1 BbgVwVfG i.V.m. § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfGBund nichtig, weil er die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangte, die einen Bußgeldtatbestand verwirklicht. Deshalb muss an sich die Durchführungsmaßnahme von Mitarbeitern der zuständigen Behörde selbst vorgenommen werden. Das aber verbietet die BbgKampfmV ebenfalls: Von ihrem Anwendungsbereich ist nach § 1 Abs. 3 ausgenommen zwar die Polizei, aber nicht die Ordnungsbehörde. Wenn deren Mitarbeiter eine Kampfmittelbeseitigungsmaßnahme durchführen, begehen sie deshalb eine Ordnungswidrigkeit. Es ist aber festzuhalten: Die örtlich und sachlich zuständige Ordnungsbehörde muss die Maßnahmen nicht selbst durch ihre Mitarbeiter durchführen lassen = Ersatzvornahme in Form der Selbstvornahme (im vorliegenden Fall darf sie das sogar nicht), sondern kann andere mit der Durchführung der Maßnahme beauftragen = Ersatzvornahme in Form der Fremdvornahme15. Ein solcher „anderer“, der im Wege der Fremdvornahme beauftragt werden kann, ist der KMBD (weitere „andere“ sind zugelassene Unternehmen nach § 4 BbgKampfmV). Der KMBD muss den Auftrag kraft der ihm durch Erlass zugewiesenen Aufgaben annehmen und erfüllen. Man kann sagen, dass der KMBD mit Blick auf die tatsächliche Erkundung und Beseitigung der Kampfmittel anstelle der gesetzlich für die Gefahrenabwehr – auch im Zusammenhang mit Kampfmitteln – zuständigen Behörde tätig wird; dieses ist die Ordnungsbehörde, § 1 BbgOBG. Diese darf aber als Folge der BbgKampfmV ihre Mitarbeiter nicht nach Kampfmitteln suchen und sie beseitigen lassen – wenn eine ordnungsbehördliche Verordnung ein Parlamentsgesetz inhaltlich – Reduktion einer Zuständigkeit – ändern darf. Das halte ich wegen des nach Art 20 Abs. 3 GG geltenden Prinzips vom Vorrang des Gesetzes für ausgeschlossen16. Die gesetzliche Regelung der Zuständigkeit für die Erfüllung der Aufgabe Gefahrenabwehr kann nicht durch untergesetzliches Recht partiell geändert werden. Der Behörde kann aber vorgeschrieben werden, zur partiellen Erfüllung ihrer Aufgabe sich der Hilfe von Spezialisten zu bedienen. Welche Rangstufe diese Bedienungsverpflichtung besitzt, ist bedeutungslos, da sie die Zuständigkeit nach dem BbgOBG nicht verändert17. 15
Siehe zum Vorstehenden Gusy, Polizeirecht, 6. Aufl. 2006, Rn. 442. Siehe Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 14), Rn. 136. 17 Eine solche Regel könnte im Land Brandenburg folgenden Text haben: „Zuständigkeiten, Aufgaben und Befugnisse des Kampfmittelbeseitigungsdienstes (1) Der Kampfmittelbeseitigungsdienst des Landes Brandenburg beim Zentraldienst der Polizei ist eine Einrichtung im Geschäftsbereich des Ministers des Innern. (2) 1Zuständig für die Durchführung dieser Verordnung ist die örtliche Ordnungsbehörde. 2Diese ist verpflichtet, im Falle einer durch Kampfmittel nach § 2 Absatz 1 verursachten Gefahrenlage sich der Technischen Dienste des 16
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Unabhängig davon: Die Zuweisung bestimmter Aufgaben an den KMBD ist nicht gesetzlich vorgenommen und in der Folge ist die Aufgabe der Ordnungsbehörde gesetzlich nicht reduziert worden. Deshalb bleibt die primäre Zuständigkeit der Ordnungsbehörde als Gefahrenabwehrbehörde im Zusammenhang der von Kampfmitteln ausgehenden Gefahren erhalten. Der KMBD wird auch nicht im Wege der Vollzugshilfe nach §§ 2 BbgOBG i.V.m. §§ 50 – 52 BbgPolG tätig; denn dieses setzt die Anwendung unmittelbaren Zwangs voraus. Darum geht es bei der Kampfmittelbeseitigung nicht. Nach alldem ist die rechtliche Situation des KMBD in Brandenburg rechtlich „ein wenig“ unsicher: 1. Er ist nicht Gefahrenabwehrbehörde; er besitzt keinerlei gesetzlich zugewiesene Eingriffsbefugnisse. 2. Er handelt aufgrund eines Ministerialerlasses. Dieser ändert indes nicht die Zuständigkeit der Ordnungsbehörde für die Erfüllung der Aufgabe Gefahrenabwehr. Diese Zuständigkeit ist auch nicht durch eine ordnungsbehördliche Verordnung eingeschränkt. 3. Die Zuweisung der Aufgabe tatsächliche Kampfmittelbeseitigung an den KMBD kollidiert mit übergeordnetem Recht nur dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass der KMBD auf der Grundlage eines Auftrags der an sich zuständigen Behörde tätig wird (Ersatzvornahme in Gestalt der Fremdvornahme), weil die sachliche Zuständigkeit der örtlichen Ordnungsbehörde für die Erfüllung der Aufgabe Kampfmittelbeseitigung nicht aufgehoben ist. 4. Materiell-rechtliche Fragen a) „Blindgängergefahr“ als Gefahrverdacht Ausgangspunkt aller Betrachtungen zum Vorliegen einer Gefahr muss die konkrete Gefahr sein. Konkrete Gefahr ist eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr. Das ist eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit zu einem Schadenseintritt führt18. Dem steht es gleich, wenn ein Schaden bereits eingetreten ist und die hinreichende WahrKampfmittelbeseitigungsdienstes zur Beseitigung der Gefahr zu bedienen. (3) 1Unbeschadet der Befugnisse der örtlichen Ordnungsbehörden auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr obliegt dem Kampfmittelbeseitigungsdienst die Kampfmittelbeseitigung. 2Zu diesem Zweck hat er innerhalb des Geltungsbereichs dieser Verordnung insbesondere 1. Kampfmittelverdachtsflächen zu ermitteln, 2. Kampfmittelbelastungen auf Flächen und in Gewässern zu beseitigen, 3. Einzelfundstellen von Kampfmitteln zu räumen und 4. einen lückenlosen Nachweis über Kampfmittelverdachtsflächen, von Kampfmitteln geräumte Flächen, geräumte Einzelfundstellen sowie über geborgene Kampfmittel zu führen.“ 18 Siehe Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 69; Gusy (Fußn. 15), Rn. 107, 125.
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scheinlichkeit besteht, dass er sich bei ungehindertem Ablauf in absehbarer Zeit vertieft oder verschlimmert. Von einer Gefahr ist allerdings dann nicht mehr zu sprechen, wenn der Schaden im vollen denkbaren Umfang eingetreten ist, so dass er nicht mehr schlimmer werden kann. Die Möglichkeit des Schadens muss sich auf eine bestimmte oder bestimmbare Person oder Personengruppe und einen wirklich vorliegenden Sachverhalt konkretisiert haben. Schaden ist die objektive, nicht unerhebliche Minderung eines vorhandenen Bestands an materiellen oder immateriellen Rechtsgütern19. Die konkrete Gefahr hat in der rechtswissenschaftlichen Literatur und partiell auch in Gesetzen Steigerungen unter dem Aspekt der zeitlichen Nähe, der Qualität des gefährdeten Rechtsguts und einer Kombination von beidem erfahren. Die erste Steigerung ist die unmittelbar bevorstehende Gefahr oder dringende Gefahr. Von einer Gefahr in diesem Sinne ist auszugehen, wenn der Schaden schon eingetreten ist oder dieser Eintritt in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht20. Diese Merkmale beschreiben eine besondere zeitliche Nähe eines potentiellen Schadens und eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit seines Eintritts. Sodann gibt es zweitens die Gefahr im Verzug. Vom Vorliegen einer Gefahr in diesem Sinne ist auszugehen, wenn der Schadensfall ebenfalls unmittelbar bevorsteht21. Zu bedenken ist aber, dass dieser Begriff nur mit Blick auf die Zuständigkeit relevant ist22. Es geht darum, dass die Polizei anstelle der zuständigen Behörde handeln darf, weil ohne sofortiges Eingreifen der Polizei der drohende Schaden eintreten würde23. Er kann deshalb im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen. Die dritte Steigerungsform ist die gegenwärtige Gefahr; hier geht es um wichtige Rechtsgüter, denen große Schäden unmittelbar drohen müssen24. Der Begriff „akute Gefahr“ ist wohl mit dem Begriff gegenwärtige Gefahr inhaltlich deckungsgleich. Er kann auch im Sinne von Gefahr im Verzug verstanden werden. Er wird hier nicht verwandt, weil er beispielsweise im BbgOBG nicht vorkommt und die polizeirechtliche Literatur ihn nicht erwähnt25. Ohne zeitliche Relevanz ist der Begriff der erheblichen Gefahr; sie umschreibt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass Schäden gravierenden Ausmaßes entstehen
19
Zum Vorstehenden siehe Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 69; Gusy (Fußn. 15), Rn. 106. Siehe BVerfGE 17, 232 (251); 32, 54; BVerwGE 47, 31 (40); Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Gusy (Fußn. 15), Rn. 127. 21 Siehe Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Gusy (Fußn. 15), Rn. 128. 22 Ebenda. 23 VGH Mannheim, DVBl. 1990, 1045. 24 Nachweis Fußn. 21. 25 Siehe beispielsweise Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Gusy (Fußn. 15), und Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2004. 20
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oder sich vertiefen26. Bei Gefahr für Leib und Leben ist davon auszugehen, dass der mögliche Schaden in der Tötung eines Menschen oder seiner körperlichen Verletzung bestehen kann27. Von den differenten Gefahrbegriffen ist der Gefahrverdacht zu trennen. Aufgrund einzelner Tatsachen kann einerseits ein begründeter Verdacht für das Vorliegen einer Gefahr bestehen, obwohl andererseits bei verständigem Würdigen der vorhandenen Fakten noch keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für das Bevorstehen oder die Vertiefung eines Schadens vorliegt, sondern begründete Zweifel bestehen bleiben28. Dieser Unsicherheiten ist sich die Behörde bewusst. Sie hält weitere Ermittlungen für erforderlich, bevor ihr ein endgültiges Urteil möglich ist. Der Behörde ist folglich bei einem Gefahrverdacht die Entscheidung über die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erschwert29. Wann es zu einer Selbstdetonation eines Blindgängers kommen wird, ist unvorhersehbar. Deshalb fehlt es an einer konkreten Gefahr im Sinne des Polizei-/Ordnungsrechts. Denn bei dieser Gefahr muss es in absehbarer Zeit zu einem Schaden kommen – regelmäßig ist aber, wie gesagt, der Zeitpunkt einer Selbstentzündung nicht absehbar. Deshalb spielen die weiteren Schadensbegriffe, soweit sie eine zeitliche Komponente enthalten, im Folgenden keine Rolle. – Wenn es bei einer Selbstdetonation zu einem Schaden kommt, wird es ein Schaden am Eigentum, für die Umwelt und/ oder für Leib oder Leben sein. Wo überall in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs Bomben niedergegangen sind, ist bekannt. Regelmäßig unbekannt ist, wo noch Blindgänger in der Erde sind. Deshalb kann man nicht generell davon ausgehen, dass für Orte, an denen Bomben niedergegangen sind, ein Gefahrverdacht vorliegt. Von einem Gefahrverdacht mit Blick auf Blindgänger darf man ausgehen, wenn ein Ort während des Zweiten Weltkriegs sehr schwer unter Bombenabwürfen leiden musste. Das sind neben den Großstädten wie beispielsweise Berlin oder Dresden solche Orte, an denen sich so genannte kriegsrelevante Ziele wie beispielsweise Rüstungsbetriebe befanden – in der schon erwähnten Stadt Oranienburg befand sich ein Betrieb zur Herstellung von Flugzeugen. In diesem Ort ist unter dem Aspekt des Gefahrverdachts nicht das „Ob“ offen, sondern nur das „Wo“. Wenn man so will, kann man, obwohl es in der polizeirechtlichen Literatur nicht üblich ist, von einem erheblichen Gefahrverdacht sprechen. Der Gefahrverdacht ist eine Gefahr im Sinne des § 13 Abs. 1 BbgOBG, aber keine konkrete Gefahr. Der Gefahrverdacht bezieht sich nach den vorangegangenen Feststellungen auf Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs. 1 BbgOBG liegen vor. Die zuständige Behörde kann deshalb die 26 27 28 29
Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Knemeyer (Fußn. 25), Rn. 94. Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Knemeyer (Fußn. 25), Rn. 94. Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 83; Gusy (Fußn. 15), Rn. 193 ff. Schenke, POR (Fußn. 1), Rn. 78; Poscher, NVwZ 2001, 141.
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Maßnahmen treffen, die notwendig sind, um die Gefahr zu erkennen und, wenn in der Tat eine Gefahr vorliegt, sie auch zu beseitigen. Mit Blick auf das Aufsuchen einer Bombe ist von folgendem Szenario auszugehen: 1. Gegen jeden potentiellen Nutzer eines zu untersuchenden Grundstücks ist eine Untersagung der Nutzung des Grundstücks während der Zeit seiner Untersuchung und einer eventuellen Entschärfung/Sprengung eines Blindgängers auszusprechen – Nutzungsverbotsverfügung; mit dieser Maßnahme wird das Grundstück „frei gemacht“ von Personen, die bei einem Unglück im Zusammenhang mit einer Bombenentschärfung einen Körperschaden erleiden könnten; 2. gegen die „Berechtigten“ eines Grundstücks (Eigentümer, Erbbauberechtigte, öffentliche Sachherren), ist zu verfügen, dass sie alle nach den Regeln der Technik notwendigen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Suche nach einer Bombe zu dulden haben – Duldungsverfügung; mit diesem Schritt werden die rechtlichen Voraussetzungen für die Suche nach einer Bombe und im Falle einer erfolgreichen Suche ihrer Entschärfung geschaffen; 3. das zu untersuchende Grundstück ist abzusperren (also gegen die untersagte Nutzung zu sichern), damit entsprechend den Regeln der Technik nach der Bombe gesucht werden kann – Sicherungsmaßnahme; mit diesem Schritt wird einerseits das zu untersuchende Grundstück vor störenden Dritten gesichert, anderseits Dritte vor einem möglichen Schaden bewahrt; 4. die Untersuchung ist durchzuführen: Suchen / Freilegen / Bergen; bei Fund einer Bombe ist diese vor Ort zu entschärfen oder zu sprengen und/oder zu einem Sprengplatz zu transportieren – Durchführungsmaßnahme; dieser Schritt ist der Mittelpunkt im Gesamtvorgang Kampfmittelbeseitigung; 5. die für die Suche notwendigen erdbaulichen Maßnahmen sind rückgängig zu machen – Grundstückssanierungsmaßnahme; in diesem Schritt wird nach getaner Arbeit der ursprüngliche Zustand des Grundstücks wiederhergestellt – dieser Schritt kann, wie unmittelbar einsichtig ist, auch als letzter innerhalb des Szenarios vorgenommen werden; 6. die getroffenen Verfügungen sind aufzuheben – rechtliche Nutzungsfreigabe; 7. die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen sind aufzuheben – tatsächliche Nutzungsfreigabe. Reaktionen auf einen Gefahrverdacht sind nach alldem Nutzungsverbotsverfügungen und Duldungsverfügungen sowie ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Sicherung der Gefahrstellen. Sie dienen der Gefahrerkundung/Gefahrerforschung und der Gefahrbeseitigung, falls eine Gefahr erkannt wird. Damit ist das Ergreifen aller oben genannten Maßnahmen von § 13 Abs. 1 BbgOBG gedeckt. b) Die Pflicht zur Vornahme gefahrerforschender Maßnahmen Die Generalklausel des § 13 Abs. 1 BbgOBG räumt der zuständigen Behörde mit Blick auf das „Ob“ einer zu ergreifenden Maßnahme und mit Blick darauf, welche Maßnahme sie ergreift, wenn sie tätig werden will, Ermessen (Entschließungsund Auswahlermessen) ein.
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Eine Rechtspflicht zum Ergreifen gefahrerforschender Maßnahmen könnte sich aus der Schutzpflicht des Staats ergeben. Das Bundesverfassungsgericht geht durchgehend davon aus, dass dort, wo menschliches Leben oder die menschliche Gesundheit bedroht sind, durch wen oder was auch immer, der hohe Wert des Grundrechts den Staat verpflichtet, zugunsten des Lebens und der Gesundheit schützend einzuschreiten30. Diese Schutzpflicht gilt auch im Rahmen des Gefahrenabwehrrechts. Man kann ohne Weiteres sagen, dass das Gefahrenabwehrrecht eine frühe Konkretisierung des Gedankens von der Schutzpflicht des Staats ist. In der Folge des hier grundrechtlich abgeleiteten Ergebnisses vertritt die polizeirechtliche Literatur die These, dass eine Rechtspflicht zum Ergreifen gefahrerforschender Maßnahmen besteht, wenn der Verdacht einer Gefahr für Leib und Leben besteht31. Die erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen sind nach dem Amtsermittlungsgrundsatz des § 1 BbgOBG i.V.m. § 24 VwVfGBund selbständig durchführen, um festzustellen, ob eine Gefahrensituation besteht32. Wenn, wie bei dem hier dargestellten Beispiel, nur noch der Ort der Gefahr unsicher ist, nicht aber die Gefahr als solche, dann sind gefahrerforschende Maßnahmen zu ergreifen, um den Ort der Gefahr zu erkunden und bei Erfolg die Gefahr zu beseitigen. Das bedeutet für Orte, die sehr schwer unter Bombenabwürfen gelitten haben: Die in ihrer Verwaltung zuständigen Abteilungen müssen grundsätzlich gefahrerforschende Maßnahmen ergreifen. Diesem Resultat kann nicht entgegen gehalten werden, dass das – schlagwortartig formuliert – „Funktionieren der Stadt“ höher zu bewerten sei oder zumindest mit dem „Recht auf Leben“ in einen Abwägungsprozess eingebracht werden müsste. Dieser Argumentation steht entgegen, dass das Recht auf Leben das höchste von der Verfassung erfasste Recht ist; das Recht auf Leben geht sogar der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 1 GG vor, weil ohne einen lebenden Menschen seine Würde nicht zu schützen ist (was nicht ausschließt, dass auch der Verstorbene noch Menschenwürde besitzt). Wenn es kein höher zu bewertendes Schutzgut als das Leben des Menschen gibt und das Leben eines Menschen im Einzelfall durch eine Selbstdetonation einer Bombe gefährdet ist, dann ist die Pflicht zur Gefahrerforschung im Grundsatz nicht relativierbar. Es ist ferner festzuhalten, dass in diesem Fall die zuständige Behörde sich bei der Ausübung ihres Ermessens nicht auf den Standpunkt zurückziehen kann, die Abwehr von Gefahren, die von einem Grundstück ausgehen, sei Sache des Grundstückseigentümers. Wie dargestellt, ist diesem unter Androhung eines Bußgelds nach § 3 BbgKampfmV untersagt, nach Kampfmitteln zu sondieren und sie zu bergen. Eine Privatperson darf insoweit nicht tätig werden. Die Behörde darf Gefahrerforschungs30 BVerfGE 39, 1 (42); seitdem ständige Rechtsprechung. Umfangreiche Nachweise bei Pieroth/Schlink, Grundrechte / Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, Rn. 95. 31 Knemeyer (Fußn. 25), Rn. 96 mit umfangreichen Nachweisen in Fußn. 47. 32 OVG Koblenz, DVBl. 1991, 1376; Petri, DÖV 1996, 443.
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maßnahmen nicht dem Grundstückseigentümer auferlegen. Dieses Ergebnis wird unten noch näher begründet. c) Gefahrerforschung und Verhältnismäßigkeit – Reihenfolge der Untersuchungen Mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit, dass an bestimmten Stellen einer Stadt, die schwer unter Bombenabwürfen gelitten hat, Bombenblindgänger zu finden sein werden (nämlich dort, wo früher rüstungsrelevante Betriebe sich befanden), geht die einschlägige technische Literatur von einer Art Prioritätenliste aus. Für bestimmte Stellen ist der Fund eines Blindgängers höchstwahrscheinlich, für bestimmte Stellen vollkommen unwahrscheinlich. Diese Stellen werden mit der Art ihrer Nutzung in eine Korrelation gebracht; die Art der Nutzung bezieht sich auf die Frequentierung der Fläche durch Menschen. Es entsteht eine Gefahren-Wirkung-Matrix mit Kennziffern von 1 bis 10; die Zahl 10 markiert die höchste Gefahr für Leib und Leben. Das bedeutet für das Schutzgut Leben und Gesundheit des Menschen in Abhängigkeit vom Aufenthaltsort in einer im Sinne dieser Abhandlung betroffenen Stadt einen unterschiedlichen Grad von Gefahrverdacht: Dieser ist an bestimmten Stellen höher als an anderen Stellen. Die Gefahrerforschung kostet enorme Mengen an Geld. Sie ist extrem aufwändig. Sie wird für eine unbestimmte Zeit den Ort, an dem Gefahrerforschungsmaßnahmen stattfinden, stilllegen. Weil deshalb nicht an allen gefährlichen Plätzen gleichzeitig nach Gefahren geforscht werden kann, liegt es auf der Hand, die gefährlichen Stellen in einer bestimmten Reihenfolge „abzuarbeiten“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der für jedes staatliche Handeln Bedeutung besitzt, ist der einzige ersichtliche Rechtsmaßstab, der mit Blick auf die Beantwortung der Frage zum Einsatz kommen kann, ob nach einem „Prioritätenprinzip“ gearbeitet werden darf. Nach diesem Maßstab muss die vorgeschlagene Reihenfolge der Abarbeitung geeignet zur Problemlösung sein. Es ist unmittelbar einsichtig, dass der Maßstab geeignet ist. Gleichzeitig ist zu erkennen, dass ein anderer, gleich geeigneter Maßstab nicht vorhanden ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Maßstab sowohl erforderlich als auch verhältnismäßig im Sinne des hier relevanten Grundsatzes ist. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Vornahme der Gefahrerforschung nach dem oben näher beschriebenen Maßstab Gefahren-Wirkung-Matrix rechtmäßig ist. d) Die Inanspruchnahme von Störern Das Ordnungsrecht kennt den Handlungsstörer (Verhaltensverantwortlichen), den Zustandsstörer (Zustandsverantwortlichen) und die Inanspruchnahme des so genannten Nichtstörers, vgl. §§ 16 – 18 BbgOBG.
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aa) Handlungsstörer Die Blindgänger sind im Boden vorhanden als Folge des Abwurfs von Bomben im zweiten Weltkrieg. Es bleibe offen, ob die Personen, die in den Kampfflugzeugen saßen, als Störer im Sinne des BbgOBG bezeichnet werden dürfen. Jedenfalls sind sie unbekannt. Schon deshalb ist diese Möglichkeit nicht weiter zu verfolgen. bb) Zustandsstörer/Gefahrerforschende Maßnahmen Zu untersuchen ist, ob dem Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück – das ist dessen Eigentümer, Erbbauberechtigter oder Pächter – gefahrerforschende Maßnahmen auferlegt werden können. Nach den BbgOBG muss der Inhaber der tatsächlichen Gewalt dafür sorgen, dass sich das Grundstück in einem gefahrlosen Zustand befindet. Wenn der Inhaber der tatsächlichen Gewalt mit der Möglichkeit rechnen muss, dass sein Grundstück potentiell gefährlich ist, muss er Gefahrerforschungsmaßnahmen ergreifen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus der so genannten materiellen Polizeipflicht. Die materielle Polizeipflicht beinhaltet die für jedermann bestehende Pflicht, Gefahren und Störungen für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen, die durch sein Verhalten entstanden sind oder von einer unter seiner Obhut stehenden Person oder Sache ausgehen. Die Pflicht mit diesem Inhalt hat das Preußische Oberverwaltungsgericht (PrOVG) entwickelt. Sie ergibt sich heute aus den Gefahrenabwehrgesetzen, ist also eine „ex lege“ bestehende Pflicht. Der so genannte Polizeiverwaltungsakt legt lediglich die Modalitäten der Erfüllung dieser Pflicht fest33. Die materielle Polizeipflicht beinhaltet deshalb weit mehr als die sog. Nichtstörungspflicht34. Der Umfang der materiellen Polizeipflicht ist mit Blick auf das Sondieren/Suchen von Kampfmitteln sowie diese betreffende weitere Handlungen begrenzt. Nach § 3 BbgKampfmV dürfen nur bestimmte Personen Kampfmittel suchen; anderen ist das Suchen verboten. Demnach sind dem „Bürger“ – das sind hier diejenigen Personen, die keine Erlaubnis zum Suchen von Kampfmitteln besitzen – im Zusammenhang mit Kampfmitteln nur solche Handlungen erlaubt, die nicht „suchen“ im Sinne der Verordnung sind. Gegen diese Beschränkung könnte eingewandt werden, die BbgKampfmVals unterhalb des BbgOBG stehende Norm dürfe nicht gegen das Parlamentsgesetz BbgOBG verstoßen. Schon oben war festgestellt worden, dass die BbgKampfmV in Einklang mit dem BbgOBG stehen müsse und dieses nicht ändern könne. Das sei aber der Fall, weil sie eine aus dem BbgOBG folgende Pflicht, die ihrerseits 33
Siehe zum Vorstehenden Czeczatka, Der Einfluss privatrechtlicher Rechtsverhältnisse auf Erlaß und Inhalt polizeilicher Hoheitsakte, Frankfurt am Main 1978, S. 55, 58. 34 Ausführliche Diskussion mit Nachweisen bei Waechter, Polizei- und Ordnungsrecht, 2000, S. 274 ff.; Lindner, Die verfassungsrechtliche Dimension der allgemeinen polizeirechtlichen Adressatenpflichten: zugleich ein Beitrag zur Entwicklung einer funktionalen Adressatendogmatik, 1997, S. 18 ff.; Peine, DVBl. 1980, 948.
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nicht begrenzt sei, einschränke. Dieses Argument wäre stichhaltig, wenn man „lex“ in diesem Zusammenhang als ein formelles Gesetz, also als ein Parlamentsgesetz verstehen müsste. Als das PrOVG die Lehre von der materiellen Polizeipflicht als richtig akzeptierte, bestand das in Preußen geltende Polizeirecht aus dem Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz (PrPVG) und einer Vielzahl von Rechtsverordnungen (so genannte Polizeiverordnungen). Aus der Summe der in diesen Gesetzen im materiellen Sinn enthaltenen Aussagen ergaben sich die so genannten Polizeipflichten. In keiner Entscheidung hat das PrOVG festgestellt, dass für die Bestimmung des Inhalts der materiellen Polizeipflicht allein das PrPVG entscheidend sei. Folglich ist der formulierte Einwand nicht durchschlagend. Heute ergibt sich deshalb der Inhalt der materiellen Polizeipflicht aus dem BbgOBG sowie aus den auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen. Deshalb kann die BbgKampfmVohne Weiteres die Pflichten des „Bürgers“ bei der Suche nach Kampfmitteln inhaltlich festlegen. Von Bedeutung ist deshalb, was „sondieren“ im Sinne der BbgKampfmV bedeutet. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet „sondieren“ erkunden, ausforschen. „Sondieren“ bedeutet also „Suchen“. „Suchen“ ist ganz allgemein das Finden einer Antwort auf eine bestimmte Frage. Im hier relevanten Zusammenhang lautet die Frage: Befindet sich ein Blindgänger auf einem bestimmtem Grundstück. Das Finden einer Antwort erfordert Tathandeln. Dieses verbietet § 3 BbgKampfmV. Fraglich ist, ob jedes Tathandeln verboten sein soll. Davon kann meines Erachtens nicht ausgegangen werden. Es sind Sinn und Zweck der BbgKampfmV zu bedenken und nur solche Tathandlungen als verboten zu betrachten, die mit Sinn und Zweck der Verordnung nicht zu vereinbaren sind. Der Inhalt der Verordnung ist folglich teleologisch reduziert zu verstehen. Sinn und Zweck der BbgKampfmV ist es, Gefahren, die beim Entdecken eines Kampfmittels entstehen können, von der einzelnen Person, die im Umgang mit Kampfmitteln nicht geschult ist, ebenso fernzuhalten wie von anderen Personen, die sich im Umfeld des Suchenden befinden und deshalb genauso wie dieser bei einer Explosion einen Schaden erleiden können. „Sondieren“ bedeutet deshalb hier jedes Tun auf einem Grundstück, welches darauf abzielt, einen Blindgänger zu finden. Da sich die Blindgänger nicht auf der Erdoberfläche befinden, sondern im Erdreich, bedeutet das erwähnte „Tun“ jedes zielgerichtete Handeln, welches zum Finden eines Blindgängers führt, wenn er vorhanden ist. „Sondieren“ im Sinne der BbgKampfmV ist in der Folge jedes zielgerichtete Handeln in diesem Sinne. Alle Maßnahmen, welche allein das Vorfeld dieses „Suchens“ betreffen – beispielsweise das Auswerten von Fotographien, die Analyse von Einsatzbefehlen betreffend den Bombenabwurf – sind unter dem Gesichtspunkt der Gefahrerforschungsmaßnahme vom Grundstücksberechtigten vorzunehmen. Voraussetzung ist aber, dass er im Besitz von Fotographien und anderer relevanter Dokumente ist und diese fachgerecht auswerten kann. Das dürfte regelmäßig nicht der Fall sein. Wenn ein Bürger im Besitz solcher Dokumente ist, muss er diese dem KMBD überlassen, damit dessen Fachleute die Dokumente auswerten können.
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Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein Grundstück solche Dokumente dem KMBD überlassen muss, die Aufschluss über die Existenz von Blindgängern auf seinem Grundstück liefern können. cc) Zustandsstörer/Duldungspflichten Den Inhaber der tatsächlichen Gewalt über ein potentiell mit Kampfmitteln belastetes Grundstück trifft von der zuvor dargelegten Pflicht abgesehen keine Pflicht zur Gefahrenaufklärung. Allerdings können die jeweiligen Ordnungskräfte von Personen bestimmte Verhaltensweisen verlangen, wenn diese unumgänglich sind, damit die Ordnungskräfte ihrer Untersuchungs- und Aufklärungspflicht nachkommen können. Die Ermächtigungsgrundlage hierfür bilden die Eingriffsnormen, die dann, wenn die Existenz einer Gefahr feststeht, auch Grundlage der Gefahrenabwehrmaßnahmen bilden35. Zu eng ist jedoch die immer wieder zu lesende Behauptung, der Adressat sei nur zur Duldung, nie aber zu aktivem Handeln verpflichtet36. Diese Aussage ist insoweit richtig, als die bloße Duldungsverfügung gegenüber der Handlungsverfügung das mildere Mittel und darum regelmäßig vorzuziehen ist. Auch reicht in den typisch ordnungsbehördlichen Fällen, insbesondere im Bereich der Boden- und Gewässerverschmutzung, in der Regel eine Duldungsverfügung aus. In manchen Fällen setzt aber die Gefahrerforschung voraus, dass eine Person auch etwas tut (z. B. Einlass gewähren, den Ort verlassen, Auskünfte geben). Soweit die Handlungen für die Gefahrerforschung unerlässlich sind, können sie dem Adressaten aufgegeben werden. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass der Zustandsstörer alle zur Gefahrerforschung notwendigen behördlichen Maßnahmen dulden muss, soweit sie rechtmäßig sind. dd) Zustandsstörer/Gefahrenbeseitigung Der Inhaber der tatsächlichen Gewalt darf infolge der BbgKampfmV gefahrenbeseitigende Maßnahmen nicht ergreifen. Daraus könnte geschlossen werden, dass der Inhaber der tatsächlichen Gewalt jedenfalls insoweit nicht Störer sein kann. Da eine unterschiedliche Behandlung einer Person in Bezug auf dasselbe Grundstück – einmal Störer, einmal Nichtstörer – nicht vorstellbar erscheint, könnte in den hier relevanten Fällen der Inhaber der tatsächlichen Gewalt als Störer vollständig entfallen. Dieser Schluss ist indes unrichtig. Es entspricht allgemeiner polizeirechtlicher Auffassung, dass auch eine Person, die aus welchen Gründen auch immer eine Gefahr nicht persönlich beseitigen kann, dann Störer ist, wenn sie rechtmäßig eine andere Person mit der Gefahrenbeseitigung beauftragen kann. Im Falle des Verdachts, dass ein Kampfmittel auf einem Grundstück vorhanden ist, kann der Grundstückseigentümer den KMBD oder ein zur Kampfmittelbeseitigung zugelassenes Unternehmen beauftragen. Deshalb kann der Grundstückseigentümer Zustandsstörer sein.
35 36
OVG NRW, NVwZ 1993, 1000. BVerwGE 49, 41.
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e) Die Qualität der Gefahrenbeseitigung Die Qualität der Suche nach den Blindgängern und im Falle des Findens eines Blindgängers seine Unschädlichmachung müssen dazu führen, dass von dem untersuchten Gebiet nur noch eine „Gefahr“ des Umfangs ausgeht, die dem allgemeinen Lebensrisiko entspricht. Der Aufenthalt in einer besonders betroffenen Stadt im Sinne dieser Abhandlung darf – mit anderen Worten – nicht gefährlicher sein als der in einer beliebigen Stadt in Deutschland. Dieser Zustand wird mit dem Wort „Allgemeingefahr“ nicht zutreffend umschrieben. Denn unter „Allgemeingefahr“ bzw. „allgemein bestehender Gefahr“ versteht man, dass in bestimmten Lebenslagen eine konkrete Gefährdung der polizeilichen Schutzgüter zu erwarten ist37. Genau dieser Zustand ist durch die Beräumung zu überwinden. 5. Finanzielle Fragen der Kampfmittelbeseitigung a) Gefahrerforschungsmaßnahmen Im Normalfall ist der Störer zugleich Träger der Kosten, die zur Beseitigung der Störung bzw. des Schadens entstehen. Der Störer trägt die Kosten direkt, wenn er selbst die Störung beseitigt oder durch einen Dritten beseitigen lässt, oder sie werden ihm von der öffentlichen Hand in Rechnung gestellt, wenn diese beispielsweise im Wege der Ersatzvornahme tätig wird. Im Falle des Gefahrverdachts trägt der Grundstückseigentümer die Kosten in jedem Fall dann nicht, wenn sich der Verdacht als unbegründet erweist38. Der immer wieder gemachte Vorbehalt, der Grundstückseigentümer habe die verdachtsbegründenden Umstände zu verantworten, ist im Falle der Blindgänger nicht vorstellbar. b) Gefahrbeseitigungsmaßnahmen Die in den Ländern für die Bombenbeseitigung zuständigen Behörden – in Nordrhein-Westfalen das Innenministerium als Aufsichtsbehörde über die Regierungspräsidenten, bei denen der KMBD angesiedelt ist –, verbreiten die Rechtsansicht, dass die Entschärfung der Bombe als solche der Staat bezahle, weil er dazu nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 AKG39 verpflichtet sei, die übrigen Kosten der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über das Grundstück oder dessen Eigentümer tragen müsse40. 37
Knemeyer (Fußn. 25), Rn. 99, S. 68. BGH, DVBl. 1992, 1158 ff.; Bürmann, Der Gefahrverdacht. Kostentragung in der Eingriffsverwaltung, 2002. 39 Gesetz zur allgemeinen Regelung durch den Krieg und den Zusammenbruch des Deutschen Reiches entstandener Schäden (Allgemeines Kriegsfolgengesetz), BGBl. III, Gliederungsnummer 653 – 1. Die Norm lautet: „Ansprüche (§ 1), die auf einer sonstigen Beeinträchtigung oder Verletzung des Eigentums oder anderer Rechte an einer Sache oder an einem Recht beruhen, sind nur dann zu erfüllen, 1. wenn die Erfüllung des Anspruchs zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leben oder Gesundheit erforderlich ist […]“. 38
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Die Aussage, dass die öffentliche Hand die eigentlichen/engeren Kosten der Entschärfung der Bombe trägt, wird als richtig akzeptiert und hier nicht weiter diskutiert41. Es geht deshalb im Folgenden „nur noch“ um die Kosten, die aufzubringen sind dafür, dass der KMBD die Bombe überhaupt entschärfen kann: „Freimachen“ des Grundstücks, Schutzmaßnahmen, Produktionseinstellung. Mit Blick auf die Verantwortlichkeit für den Zustand eines Grundstücks haben Rechtsprechung und Literatur die so genannten Opferfälle als eine besondere Gruppe der Zustandsverantwortlichkeit separiert42. Dieser Gruppe ordnet man Ereignisse zu, die zu einer Zustandshaftung führen, für die der nach dem Polizei- oder Ordnungsbehördengesetz Haftende unter keinen denkbaren Umständen verantwortlich ist: die Tankwagenunfälle (ein Tankwagen stürzt auf ein Grundstück und das auslaufende Öl verseucht Boden und Grundwasser); die Flugzeugabsturzfälle; die so genannten Altlastenfälle; bislang literarisch nicht aufgearbeitet, aber hier relevant: die Blindgängerfälle (gelegentlich als Weltkriegsfälle bezeichnet). Die unbeschränkte Haftung der Zustandsverantwortlichen betrachten heute alle mit der Problematik Befassten als unbillig43. Da eine gesetzliche Lösung fehlt, haben Literatur und Rechtsprechung unterschiedliche Lösungsmodelle entwickelt. Diese Lösungen können hier aus Raumgründen nicht vorgestellt werden. Dem Verfasser erscheint folgendes Ergebnis akzeptabel44: Die Zustandsverantwortlichkeit sollte in den Opferfällen auf eine Duldungspflicht begrenzt werden. Dieses Resultat entspricht der überwiegenden Interpretation einer in diesem Zusammenhang relevanten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts45. Das Gericht versteht die Zustandshaftung des Polizeirechts in den Opferfällen im hier angenommenen Sinne. In der Folge entfällt eine finanzielle Belastung des Zustandsverantwortlichen. 40 Siehe beispielsweise den Runderlass des Innenministeriums des Landes NordrheinWestfalen vom 9. 11. 2007 — 75 – 54.01. Der Erlass beruft sich für die Kostentragungspflicht des Inhabers der tatsächlichen Gewalt über das Grundstück auf dessen Eigenschaft als Zustandsstörer, was das OVG NRW bestätigt habe: Entscheidung vom 3.6.1997 – 5 A 4/96, unveröffentlicht. 41 Siehe Peine, DVBl. 1990, 733 ff. 42 Hingewiesen sei auf die ausführliche Darstellung dieses Problems durch Tollmann, Die umweltrechtliche Zustandsverantwortlichkeit: Rechtsgrund und Reichweite – Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung der Zustandsverantwortlichkeit gesicherter Kreditgeber –, 2007, S. 161 ff. 43 Siehe statt vieler Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl., 2009, S. 77. 44 Siehe Peine, Die Kostentragung für die Blindgängerbeseitigung, in: Nachdenken über Eigentum. Festschrift für Alexander von Brünneck, hgg. von Peine/Wolff, 2011, S. 211 ff. 45 BVerfGE 102, 1 ff. Literatur zu dieser Entscheidung: Bickel, NJW 2000, 2562 f.; Ginsky, DVBl. 2003, 169 ff.; Huber/Unger, VerwArch 2005, 139 ff.; Klüppel, JURA 2001, 26 ff.; Knoche, GewArch 2000, 448 ff.; Knopp, BB 2000, 1373 ff.; Lepsius, JZ 2001, 22 ff.; Müggenborg, NVwZ 2001, 39 ff.; Papier, FS Maurer, S. 255 ff.; Radke/Herrmann, JA 2000, 925; Sachs, JuS 2000, 1219 ff.; Scherer-Leydecker, EWiR 2000, 655 f.; Schwartmann, DStR 2000, 1364; Spieth/von Oppen, ZUR 2002, 257 ff.; Tollmann, DVBl. 2008, 616 ff.; ders. (Fußn. 42), S. 136.
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c) Praxis der Kostentragung Die hier gefundenen Resultate entsprechen einem Runderlass des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen46: Für Maßnahmen im Vorfeld der Kampfmittelbeseitigung (also das Erlassen der notwendigen Verfügungen und das Treffen von Sicherungsmaßnahmen) ist die zuständige Ordnungsbehörde Kostenträger. Die Kosten für die Gefahrerforschung und die Gefahrenbeseitigung trägt das Land, soweit es sich um Eigentum des Landes oder der Kommunen handelt; alle Maßnahmen auf dem Eigentum des Bundes trägt dieser. Eine Kostenbeteiligung des privaten Grundstückseigentümers als Zustandsstörer erscheint dem Minister theoretisch möglich, wenn sich auf dessen Grundstück ein Kampfmittel findet oder wenn er Anlass für die Suche nach einem Kampfmittel gegeben hat (dieser Fall erscheint indes kaum vorstellbar); in der Praxis findet eine finanzielle Inanspruchnahme des Inhabers der unmittelbaren Gewalt als Zustandsstörer aber nicht statt47. III. Schlussbemerkung Die vorangegangenen Ausführungen konnten das Recht der Kampfmittelbeseitigung in seinen Grundzügen darstellen, aber nicht wirklich vollständig und vertiefend präsentieren. Die genauere Durchdringung von Detailproblemen bleibt notwendig. Es sollte ein Anstoß gegeben werden. Vielleicht ist es gelungen, Interesse für dieses wichtige praktische Problem zu wecken.
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Siehe Fußn. 41. Nachweise der Rechtsprechung zur Kampfmittelbeseitigung bei Schröder (Fußn. 3).
Der Gesetzesvorbehalt für die Zahl und die Standorte von Polizeidirektionen* Von Bodo Pieroth Wer bestimmt die Zahl und die Standorte von Polizeidirektionen: das Parlament oder die Regierung? Diese einfach klingende Frage führt zu verfassungsrechtlichen Normen und Instituten, die komplex und voraussetzungsvoll sind: Institutioneller oder organisationsrechtlicher Gesetzesvorbehalt, Zugriffsrecht des Parlaments und Organisationsgewalt der Regierung sind nach Begründung, Umfang, Tragweite und gegenseitiger Abgrenzung immer wieder umstritten. Ein derartiger Streitfall wird im Folgenden geschildert (I.); nach Erörterung der einschlägigen Maßstäbe im gemeindeutschen und Thüringer Verfassungsrecht (II.) wird eine Lösung für die Ausgangsfrage in Thüringen erarbeitet, die zugleich in den anderen Flächenländern der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht ist (III.). I. Der nicht entschiedene Rechtsstreit In Thüringen wurde seit 2004 im Innenministerium mit der Projektgruppe OPTOPOL intensiv an der OPTimierung der Organisationsstruktur der POLizei gearbeitet1. Nach längeren politischen Auseinandersetzungen wurde am 12. März 2008 das Thü* Diesen Beitrag zur Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke beizusteuern, habe ich außer der persönlichen Verbundenheit mit ihm vor allem folgenden fachlichen Anknüpfungspunkt: Die Frage der Reichweite des Gesetzesvorbehalts hat Wolf-Rüdiger Schenke immer wieder beschäftigt. So hat er für eine (nur) partielle Erstreckung des Gesetzesvorbehalts auf staatliche Leistungen plädiert; vgl. seine Aufsätze „Gesetzesvorbehalt und Pressesubventionen“, in: Der Staat, 1976, S. 553 – 570, und „Subventionen und Gesetzesvorbehalt“, in: Gewerbearchiv 1977, S. 313 – 321. In seinem Aufsatz „Rechtsprechung zum Landesstaatsorganisationsrecht (einschließlich Berufsbeamtentum)“, in: Starck/Stern (Hrsg.), Landesverfassungsgerichtsbarkeit, Teilband III, 1983, S. 1 – 90 (13 ff.), ist er zu Recht Vorstellungen einer umfassenden Organisationsgewalt der Regierung entgegengetreten und hat für außenwirkende Organisationsakte einen Rechtssatzvorbehalt reklamiert. Dass ich diesen Gedanken hier im Polizeiorganisationsrecht weiterentwickle, trifft sich mit seinem Arbeitsschwerpunkt im Polizei- und Ordnungsrecht, bestens dokumentiert in seinem diesbezüglichen Lehrbuch, das 2009 in 6. Aufl. erschienen ist und das ich bei der Arbeit an dem von mir mit verfassten Lehrbuch zum selben Gegenstand immer wieder gern zu Rate ziehe. – Der Beitrag beruht auf meinem Schriftsatz als Prozessbevollmächtigter der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag an den Thüringer Verfassungsgerichtshof (VerfGH 1/09). 1 Vgl. den zusammenfassenden Bericht in: Thüringer Landtag, Drs. 4/2943; M. König, Bildung, Errichtung und Einrichtung von Behörden – am Beispiel des Thüringer Polizeiorganisationsgesetzes –, VerwArch 2009, 214 (214 f.).
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ringer Gesetz zur Vorbereitung der Neustrukturierung der Polizei verabschiedet2, das gem. seinem Art. 3 am 1. Mai 2008 in Kraft trat. Besonders umstritten waren hierbei die Zahl und die Standorte der Polizeidirektionen. Bis zu der Neuregelung von 2008 legte § 6 Abs. 2 des Thüringer Polizeiorganisationsgesetzes (POG)3 folgende räumliche Gliederung fest: „Polizeidirektionen sind 1. die Polizeidirektion Erfurt, 2. die Polizeidirektion Gera, 3. die Polizeidirektion Gotha, 4. die Polizeidirektion Jena, 5. die Polizeidirektion Nordhausen, 6. die Polizeidirektion Saalfeld und 7. die Polizeidirektion Suhl.“ Durch die Neuregelung erhielt § 6 Abs. 2 POG folgende Fassung: „Die Errichtung der Polizeidirektionen im Einzelnen obliegt der Landesregierung.“ Diese Bestimmung fügt sich in folgenden systematischen Zusammenhang ein: Gem. § 6 Abs. 1 POG nehmen die Polizeidirektionen „alle polizeilichen Aufgaben wahr, soweit nicht besondere sachliche Dienstbereiche anderen Behörden der Polizei zugewiesen sind. Die Polizeidirektionen sind dem für die Polizei zuständigen Ministerium unmittelbar nachgeordnet.“ Sowohl das für die Polizei zuständige Ministerium als auch die Polizeidirektionen sind gem. § 4 Abs. 1 POG Behörden der Polizei. Gem. § 4 Abs. 2 POG ist das für die Polizei zuständige Ministerium oberste Landesbehörde, während die Polizeidirektionen untere Landesbehörden sind. Unverändert durch die Neuregelung von 2008 blieb auch § 6 Abs. 3 POG: „Den Polizeidirektionen sind einzelne Dienststellen (Inspektionen und, soweit erforderlich, Stationen) nachgeordnet. Für bestimmte Dienstbereiche können besondere Inspektionen und Stationen gebildet werden.“ Für die Zuständigkeit dieser Inspektionen und Stationen enthielt das bis zum 30. April 2008 geltende Recht eine Verordnungsermächtigung in § 13 POG: „Das für die Polizei zuständige Ministerium wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung Zuständigkeiten von Polizeidienststellen (Inspektionen und Stationen) zu regeln.“ Dieser § 13 POG ist durch die Neuregelung von 2008 komplett aufgehoben worden. Die Neuregelung von 2008 wurde von der Landesregierung als „grundlegende Weiterentwicklung der Strukturen der Polizei“ wie folgt begründet: „Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mit den gravierendsten Auswirkungen auf die Behördenstrukturen zählt die demografische Entwicklung in Thüringen. Seit Jahren ist die Bevölkerungsentwicklung rückläufig. (…Daher) kommt auch die Polizei nicht umhin, die Relation von Polizeibeamten zur Einwohnerzahl kritisch zu überprüfen.“4 Diese allgemeine Begründung erklärt aber noch nicht die Änderungen der Rechtsformen durch den neuen § 6 Abs. 2 POG und den Wegfall des alten § 13 POG, d. h. die Begründung von Zuständigkeiten der Landesregierung zum einen für Zahl und Standorte der Polizeidirektionen statt ihrer gesetzlichen Festschreibung und zum anderen für die Inspektionen und Stationen statt des Rechtsverordnungsvorbehalts. Hierzu 2 3 4
GVBl. S. 56. In der Fassung der Neubekanntmachung vom 6. Januar 1998 (GVBl. S. 1). Thüringer Landtag, Drs. 4/2943, S. 1.
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heißt es in der Begründung der Landesregierung nur: „Mit dem Thüringer Polizeirechtsänderungsgesetz (vom 27. November 1997, GVBl. S. 422) wurde in § 6 Abs. 2 eine Aufzählung der bereits seit Erlass der Anordnung der Landesregierung und Verordnung des Innenministers über die Errichtung von Behörden und Einrichtungen des Landes Thüringen vom 18. Juni 1991 (GVBl. S. 188) bestehenden sieben Polizeidirektionen in das Gesetz aufgenommen. Diese Regelung hatte keine konstitutive Wirkung. Die Neuregelung des Absatzes 2 bringt die bereits aus Art. 90 S. 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen folgende Zuständigkeit der Landesregierung für die Errichtung der staatlichen Behörden im Einzelnen klarstellend zum Ausdruck.“5 Die durch den neuen § 6 Abs. 2 POG erfolgte Ausschaltung des Parlaments wurde von der damaligen Opposition heftig bekämpft. Die SPD-Fraktion im Thüringer Landtag erhob hiergegen eine gem. Art. 80 Abs. 1 Nr. 4 der Verfassung des Freistaats Thüringen (ThürLVerf) i.V.m. § 42 des Thüringer Verfassungsgerichtshofgesetzes (ThürVerfGHG) zulässige abstrakte Normenkontrolle beim Thüringer Verfassungsgerichtshof6. Zu der beabsichtigten Terminierung einer mündlichen Verhandlung im Zeitraum April/Mai 2010 kam es dann aber nicht mehr. Nach den Landtagswahlen am 31. August 2009 war nämlich eine Regierungskoalition aus CDU und SPD zu Stande gekommen. Im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 hieß es auf S. 47: „Über eine Strukturreform der Polizei entscheidet der Thüringer Landtag in dieser Legislatur durch oder auf Grund eines Gesetzes. Die SPD sichert zu, die diesbezüglich anhängige Klage vor dem Thüringer Verfassungsgerichtshof zurückzunehmen.“ So geschah es, und der Thüringer Verfassungsgerichtshof beschloss am 17. Februar 2010: „Das Verfahren wird eingestellt.“ II. Die einschlägigen Maßstäbe 1. Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt Der Begriff des Gesetzesvorbehaltes umschreibt denjenigen Bereich des Staatshandelns, der der gesetzlichen Grundlage bedarf. Er definiert einen Kernbereich der Legislative, der der Exekutive von Vornherein verschlossen ist7. Ursprünglich verlangte der Gesetzesvorbehalt nur, dass überhaupt eine gesetzliche Ermächtigung vorliegen musste, aber nicht, wie die gesetzliche Ermächtigung auszusehen hatte. Der traditionelle Gesetzesvorbehalt hat lediglich zum Inhalt, dass bestimmte Eingriffe in Freiheit und Eigentum einer autonomen Regelung der Verwaltung und der Regierung entzogen sind; er ließ aber auch Regelungen unterhalb der Ebene des formellen (Parlaments-)Gesetzes zu.
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Thüringer Landtag, Drs. 4/2943, S. 10. VerfGH 1/09. 7 Vgl. etwa H. Butzer, Zum Begriff der Organisationsgewalt, Die Verwaltung 1994, S. 156 (165 f.); T. Kuhl, Der Kernbereich der Exekutive, 1993, S. 64 ff. 6
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Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzesvorbehalt mit der so genannten Wesentlichkeitstheorie unter bestimmten Voraussetzungen zum Parlamentsvorbehalt fortentwickelt8. Danach muss der Gesetzgeber „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit dieser staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst (…) treffen“9. Der Parlamentsvorbehalt beinhaltet damit ein Delegationsverbot10 : Wesentliche Entscheidungen sind dem Parlament vorbehalten und müssen daher in Form eines förmlichen Gesetzes getroffen werden. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt durch den Bezug auf „grundlegende normative Bereiche“ auch von seiner ausschließlichen Orientierung an den Grundrechten im Sinne der klassischen Formel von „Freiheit und Eigentum“ gelöst. Diese Erweiterung wird unter den Begriffen des institutionellen oder organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalts diskutiert. Die Entwicklung des Gesetzesvorbehaltes zum Parlamentsvorbehalt hat auch zu einer Erweiterung der Vorbehaltsdiskussion insgesamt geführt: „Die bisherige Diskussion um die Vorbehaltsproblematik wurde von dem Frageansatz ausgeführt, was die Exekutive aus eigener Machtvollkommenheit darf und wozu sie eine formalgesetzliche Ermächtigung benötigt. Demgegenüber wird in der neueren Vorbehaltsdiskussion danach gefragt, welche Regelungen das Parlament selbst treffen muss und demzufolge auch nicht auf die Exekutive übertragen darf. (…) Mit dem Begriff des Parlamentsvorbehalts sollen die Gegenstände umrissen werden, die zu den ausschließlichen Parlamentskompetenzen gehören.“11 Der Parlamentsvorbehalt bewirkt damit „das Recht des Gesetzgebers, sich mit einer Frage nicht nur auch als erster, sondern ausschließlich als erster zu befassen, und das Verbot an die Exekutive, sich mit ihr zu befassen, ehe der Gesetzgeber sie gesetzlich geregelt hat“12. Der Parlamentsvorbehalt unterscheidet sich daher im Wesentlichen dadurch vom Gesetzesvorbehalt, dass die Gegenstände, die vom Parlamentsvorbehalt umfasst werden, überhaupt nicht an die Exekutive delegiert werden dürfen. Der Gesetzesvorbehalt lässt dagegen eine solche Delegation grundsätzlich zu, verlangt dafür aber wenigstens eine gesetzliche Ermächtigung und die Form eines Rechtssatzes (Rechtsver8 Vgl. zur Entwicklung etwa C.-E. Eberle, Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt, DÖV 1984, S. 485 ff.; Kuhl (o. Fußn. 7), S. 87 ff.; B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, Rn. 271 ff. 9 BVerfGE 61, 260 (275); 88, 103 (116). 10 W. Erbguth, Die nordrhein-westfälische Braunkohlenplanung und der Parlamentsvorbehalt, Verwaltungsarchiv 1995, S. 327 (340); H.-U. Erichsen, Die sog. unbestimmten Rechtsbegriffe als Steuerungs- und Kontrollmaßgaben im Verhältnis von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, DVBl. 1985, S. 22 (27); W. Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 109. 11 F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl. 2007, § 101 Rn. 14 f.; vgl. auch J. Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 1986, S. 236 ff. 12 R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Art. 20 V Rn. 86 (Bearbeitung: September 1980).
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ordnung oder Satzung), wie sich aus Art. 80 GG und den entsprechenden Normen der Landesverfassungen ergibt. Insofern kann man den Gesetzesvorbehalt auch als Rechtssatzvorbehalt bezeichnen: „Während der Parlamentsvorbehalt Regelungen „durch (förmliches) Gesetz“ fordert, lässt der bloße Rechtssatzvorbehalt auch Regelungen „auf Grund eines Gesetzes“ zu.13 Wichtig ist das „auch“, weil der organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalt eine Regelung durch Gesetz „mit umfasst“14. 2. Zugriffsrecht des Parlaments Auch dort, wo das Parlament für eine bestimmte Materie nicht ausschließlich kompetent ist und sie daher nicht regeln muss (weil es an einem entsprechenden Gesetzesvorbehalt fehlt), sondern die Kompetenz eines anderen Organs, insbesondere der Regierung, besteht, eröffnet die rechtsstaatlich-demokratische Verfassung dem Parlament eine Regelungsbefugnis, das so genannte Zugriffsrecht. Diese Unterscheidung wird heute allgemein im Anschluss an die Münsteraner Habilitationsschrift „Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung“ von Ernst-Wolfgang Böckenförde getroffen15. Beispielsweise heißt es bei Klaus Stern: „Danach existiert heute ein verfassungsrechtlich festgelegter parlamentarischer Vorbehaltsbereich und ein darüber hinausgehender Zugriffsbereich des Parlaments.“16 Während der institutionelle Gesetzesvorbehalt wie dargelegt eine ausschließliche Kompetenz begründet, die im staatsorganisationsrechtlichen Zusammenhang regelmäßig auch eine Regelungspflicht beinhaltet17, geht es beim Zugriffsrecht der Legislative um die fakultative Befugnis des Gesetzgebers, unter bestimmten Voraussetzungen im Bereich der Organisationsgewalt der Regierung tätig zu werden. Beim Zugriffsrecht der Legislative entsteht die Frage, wo ihre Grenzen im Verhältnis zum so genannten Kernbereich der Exekutive verlaufen; es geht also nicht um die Festlegung exklusiver legislativer Kompetenzen, sondern um die Möglichkeiten und Grenzen gesetzlicher Regelung im Bereich der Regierungs- und Ministerialorganisation18.
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Ossenbühl (o. Fußn. 11), § 101 Rn. 16. J. Hopfe, in: Linck/Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen. Kommentar, 1994, Art. 90 Rn. 7; Wissenschaftlicher Dienst des Thüringer Landtags, Gutachtliche Stellungnahme zum Erfordernis der Normierung der Anzahl und Standorte der Polizeidirektionen durch ein Gesetz vom 2. Juli 2007, S. 4. 15 1. Aufl. 1964, 2. unveränderte Aufl. 1998; darin besonders S. 104 ff., 286 ff. 16 Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Aufl. 1984, S. 1003; vgl. auch G. Hermes, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 64 Rn. 21 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisation zwischen parlamentarischer Steuerung und exekutivischer Organisationsgewalt, in: Festschrift H.P. Ipsen, 1977, S. 333 (349 ff.). 17 Vgl. R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, 1983, S. 332. 18 Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 286 ff.; G.C. Burmeister, Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, 1991, S. 130 ff. 14
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Im Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive im demokratisch-gewaltengeteilten Verfassungsstaat sind danach drei Bereiche zu unterscheiden19: – der Vorbehaltsbereich der Legislative, der durch den Vorbehalt des Gesetzes markiert wird und in dem die Exekutive gar nicht (Parlamentsvorbehalt) oder nur auf Grund bestimmter gesetzlicher Ermächtigung durch Rechtsverordnung oder Satzung („einfacher“ Gesetzesvorbehalt oder Rechtssatzvorbehalt) handeln darf; – der Vorbehaltsbereich der Exekutive, der gemeinhin als „Kernbereich“ bezeichnet wird, der der Legislative verschlossen ist20, und – der Bereich des legislativen Zugriffsrechts, in dem die Legislative handeln darf (weil es sich nicht um den Vorbehaltsbereich der Exekutive handelt), aber nicht handeln muss (weil der Vorbehaltsbereich der Legislative nicht betroffen ist). In diesem Bereich können also Parlament und Regierung aus eigenem Recht Organisationsmaßnahmen treffen; der parlamentarische Zugriff genießt hier grundsätzlich nicht mehr als den Vorrang des förmlichen Gesetzes21. Reichweite und Grenzen des Zugriffsrechts der Legislative müssen im vorliegenden Zusammenhang nicht näher bestimmt werden, weil der Gesetzgeber gerade nicht zugegriffen hat: § 6 Abs. 2 POG n.F. ist das Gegenteil eines legislativen Zugriffs, weil der Bereich der Errichtung der Polizeidirektionen im Einzelnen der Landesregierung überlassen wird. Relevant ist diese Frage allerdings für die rechtliche Beurteilung der Begründung der Landesregierung für die angegriffene Vorschrift. Danach soll § 6 Abs. 2 POG a.F. „keine konstitutive Wirkung“ bzw. nur „klarstellenden“ Charakter gehabt haben, weil die dort mit ihrem Sitz genannten sieben Polizeidirektionen bereits in einem früheren Erlass der Landesregierung vom 18. Juni 1991, als die Thüringer Verfassung noch nicht existierte, genannt worden waren22. Ist die Vorstellung, dass dem demokratischen Gesetzgeber gegenüber vorverfassungsmäßigen Regierungserlassen keine rechtlich verbindliche Wirkung zukommen soll, schon reichlich befremdlich, so erweist sie sich unter Berücksichtigung des eben dargelegten als schlicht falsch. 19 Vgl. B. Pieroth, Die Kompetenz des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten zur Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium, in: Festschrift K. Ipsen, 2000, S. 755 (763); ebenso J. Linck, Schriftliche Stellungnahme vom 20. August 2007 zum Regierungsentwurf „Thüringer Gesetz zur Vorbereitung der Neustrukturierung der Polizei“ (Drs. 4/2943), Thüringer Landtag Zuschrift 4/871, S. 1. 20 W. Krebs, Verwaltungsorganisation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 3. Aufl. 2007, § 108 Rn. 100, spricht von einem „Bereich konkurrierender Zuständigkeiten von Gesetzgebung und Verwaltung“ für die Verwaltungsorganisation; der Wissenschaftliche Dienst (o. Fußn. 14), S. 13 spricht von einer „neutralisierenden Zwischenzone, in der das Parlament ein konkurrierendes Zugriffsrecht besitzt“. 21 Schmidt-Aßmann (o. Fußn. 16), S. 349. 22 Thüringer Landtag, Drs. 4/2943, S. 10 im Anschluss an M. Brenner, Rechtsgutachten zur Frage der Abgrenzung von Art. 90 S. 2 und 3 ThürVerf und zur Auslegung von § 6 Abs. 2 ThürPOG vom 6. April 2007, S. 16 ff.; vgl. auch M. Brenner, Die Polizeireform im Freistaat Thüringen im Lichte der Organisationsgewalt der Landesregierung, ThürVBl. 2008, 97 ff.
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Richtigerweise hat nämlich der Gesetzgeber mit § 6 Abs. 2 POG a.F., wenn er nicht schon durch den organisatorischen Gesetzesvorbehalt zu dieser Regelung verpflichtet gewesen wäre, jedenfalls von seinem legislativen Zugriffsrecht Gebrauch gemacht. Grenzen des legislativen Zugriffsrechts zeigen sich eher gegenüber der Regierung als gegenüber der Verwaltung23; daher ist auch regelmäßig von einem „Kernbereich der Regierung“ die Rede. Selbst dort will aber z. B. Böckenförde ein „Rahmen- oder ,ModellÐ-Gesetz über die Organisation der Ministerien“ zulassen24; andere erstrecken das legislative Zugriffsrecht weiter auf „die Grobstruktur der Bundesregierung oder sogar die Zahl der Ministerien und ihre Aufgabengebiete“25. Weiter als gegenüber der Regierung reicht das legislative Zugriffsrecht bei der Verwaltung. Insoweit ist zusätzlich zwischen Organisationsregelungen und Sachregelungen mit Zuständigkeitszuweisungen zu unterscheiden26; bei ersteren ist das legislative Zugriffsrecht noch weitergehend als bei letzteren, denn „das Zugriffsrecht beinhaltet nicht die Befugnis, indirekt und unkontrollierbar, d. h. auf dem Wege über den Gesetzesvorrang punktueller Zuständigkeitsbestimmungen in Sachgesetzen, die Organisationsgewalt der Regierung fortschreitend zu binden und der Sache nach auf die Legislative zu verlagern“27. Insoweit ist festzuhalten, dass § 6 Abs. 2 POG a.F. eine reine Organisationsregelung enthielt; die Sachregelung mit Zuständigkeitszuweisung war und ist in § 6 Abs. 1 POG enthalten. Folgerichtig ermächtigt das legislative Zugriffsrecht nach Böckenförde zu „konkreten, ,gezieltenÐ Organisationsregelungen“28; § 6 Abs. 2 POG a.F. ist ohne weiteres als eine solche anzusehen. Nach anderer Auffassung müssen gesetzliche Organisationsregelungen „mit konkreten Sachregelungen im Zusammenhang stehen“29 ; auch das ist bei § 6 Abs. 2 POG a.F. offensichtlich der Fall. Daher hat der Gesetzgeber keine „nur klarstellende“, deklaratorische, sondern eine konstitutive Regelung getroffen. Die Richtigkeit dieser Aussage ergibt sich überdies aus folgender Überlegung: Hätte der Gesetzgeber mit § 6 Abs. 2 POG a.F. – wie die Gesetzesbegründung der Landesregierung annimmt – nicht von seinem legislativen Zugriffsrecht Gebrauch gemacht, dann wäre die Regelung als verfassungswidriger Eingriff in den Kernbereich der Exekutive zu charakterisieren; denn die Einschlägigkeit des Gesetzesvorbehalts gem. Art. 90 S. 2 ThürLVerf kommt nach der Gesetzesbegründung der Landesregierung gerade nicht in Betracht. Das heißt aber, dass § 6 Abs. 2 POG a.F. verfassungswidrig und nichtig gewesen wäre – ein abwegiges Ergebnis, auf das bisher zu Recht noch niemand gekommen ist. 23
Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 290; ebenso Burmeister (o. Fußn. 8), S. 136, 140 f. Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 292 f. 25 Hermes (o. Fußn. 16), Art. 64 Rn. 23. 26 Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 295 ff. 27 Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 299 f. 28 Böckenförde (o. Fußn. 15), S. 287 unter Berufung auf A. Köttgen, Die Organisationsgewalt, in: VVDStRL 1958, S. 154 (171). 29 Burmeister (o. Fußn. 18), S. 143. 24
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Die Tatsache, dass die Begründung der Landesregierung für die angegriffene Norm falsche Behauptungen enthält, führt natürlich noch nicht zu ihrer Verfassungswidrigkeit (wenngleich sie misstrauisch macht). Entscheidend kommt es insofern auf den speziellen Gesetzesvorbehalt des Art. 90 S. 2 ThürLVerf an30, auf den nunmehr eingegangen werden soll. 3. Art. 90 S. 2 ThürLVerf im innerdeutschen Rechtsvergleich Art. 90 ThürLVerf lautet: „Die Verwaltung des Landes wird durch die Landesregierung und die ihr unterstellten Behörden ausgeübt. Aufbau, räumliche Gliederung und Zuständigkeiten werden auf Grund eines Gesetzes geregelt. Die Errichtung der staatlichen Behörden im einzelnen obliegt der Landesregierung. Sie kann einzelne Minister hierzu ermächtigen.“ Die Bedeutung dieser Vorschrift ist zunächst im Vergleich mit organisationsrechtlichen Bestimmungen in den anderen deutschen Verfassungen zu klären. a) Kein ausdrücklicher Gesetzesvorbehalt Gem. Art. 86 S. 2 GG regelt die Bundesregierung, „soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, die Einrichtung der Behörden“. Diese Vorschrift bestimmt also weder einen der Legislative vorbehaltenen Bereich noch einen solchen der Exekutive, sondern überlässt die Einrichtung der Behörden dem Zugriffsrecht der Legislative31. Für die Fragen eines einerseits dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereichs und andererseits eines der Exekutive vorbehaltenen Bereichs bei der Organisation der Verwaltung ist mit dieser Norm also nichts gewonnen. Dasselbe gilt für die Verfassungen von Bremen, Hessen und Rheinland-Pfalz, die diesbezüglich keine Regelungen enthalten. Es ist aber anzumerken, dass hieraus keinesfalls geschlossen werden kann, die Organisation der Verwaltung sei allein Sache der Exekutive. Denn gem. Art. 107 Abs. 1 S. 2 der bremischen Verfassung wird sogar die Zahl der Senatoren, also der Mitglieder der Landesregierung, „durch Gesetz bestimmt“. Gem. Art. 104 Abs. 2 S. 1 der hessischen Verfassung hat der Gesetzgeber ein Zugriffsrecht auf die Zuständigkeit der einzelnen Minister. Wegen der Ressortabhängigkeit der nachgeordneten Behörden wirkt diese Regelung auch für die Organisation der Verwaltung32.
30 Demgegenüber spricht König (o. Fußn. 1) der Norm „nur allgemeine Aussagekraft“ (S. 218) zu und will den Streit nach der Wesentlichkeitslehre (S. 218 ff.) und dem Bestimmtheitsgebot (S. 222 ff.) entscheiden; danach sei die „konkrete Standortentscheidung“ der Exekutive zu überlassen (S. 224). 31 M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 86 Rn. 37. 32 K.F. Arndt, Verwaltungsorganisation, in: Meyer/Stolleis (Hrsg.), Hessisches Staats- und Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, S. 61 f.
Gesetzesvorbehalt für Zahl und Standorte von Polizeidirektionen
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b) Gesetzesvorbehalt für die Organisation der Verwaltung Einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt, der sich aber allgemein auf die Organisation der Landesverwaltung bezieht, enthalten folgende Landesverfassungen: Art. 77 Abs. 1 S. 1 der bayerischen Verfassung, Art. 96 Abs. 1 S. 1 der brandenburgischen Verfassung, Art. 70 Abs. 2 S. 1 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern, Art. 77 S. 1 der nordrhein-westfälischen Verfassung, Art. 112 S. 1 der saarländischen Verfassung und Art. 45 Abs. 2 der Verfassung von Schleswig-Holstein. Bezugspunkt ist mal die „allgemeine Staatsverwaltung“ (Bayern, Saarland), mal die „staatliche“ (Brandenburg) oder „allgemeine Landesverwaltung“ (Nordrhein-Westfalen), mal die „öffentliche Verwaltung“ (Mecklenburg-Vorpommern), mal auch nur die „Verwaltung“ (Schleswig-Holstein) oder „Bezirksverwaltung“ (Berlin). Diese Unterschiede sind im vorliegenden Zusammenhang nicht wesentlich, erklären sie sich doch durchweg aus dem Charakter eines Stadtstaats sowie aus der Entgegensetzung von staatlich und kommunal. Ebenso wenig stellt es einen im vorliegenden Zusammenhang relevanten Unterschied dar, dass dieser organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalt mal nur „durch Gesetz“, mal „durch oder auf Grund eines Gesetzes“ umschrieben wird. Die erste Variante findet sich in den Verfassungen von Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig-Holstein; die zweite Variante in den Verfassungen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die Erklärung hierfür hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich die beiden Varianten nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung unterscheiden. Wie bereits beschrieben verlangte der Gesetzesvorbehalt früher nur, dass überhaupt eine gesetzliche Ermächtigung vorliegen musste, aber nicht, wie die gesetzliche Ermächtigung auszusehen hatte; vielmehr ließ er auch Regelungen unterhalb der Ebene des formellen (Parlaments-) Gesetzes zu. Erst im Verlauf der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich dieser Gesetzesvorbehalt zum Parlamentsvorbehalt, so dass diese beiden Formen auch in den neueren Landesverfassungen Ausdruck finden. Der organisationsrechtliche Gesetzesvorbehalt in Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Schleswig Holstein hindert also nicht grundsätzlich eine Delegation an den Verordnungsgeber. Noch viel weniger hindert die Formulierung „auf Grund eines Gesetzes“ den Gesetzgeber an einer eigenen Regelung33. In allen diesen Ländern außer Berlin steht dem ausdrücklichen, sich allgemein auf die Organisation der Landesverwaltung beziehenden Gesetzesvorbehalt die Befugnis der Landes- oder Staatsregierung zur „Einrichtung der (staatlichen) Behörden“ gegenüber, nämlich in Art. 77 Abs. 1 S. 2 der bayrischen Verfassung, Art. 96 Abs. 2 der brandenburgischen Verfassung, Art. 70 Abs. 3 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern, Art. 77 S. 2 der nordrhein-westfälischen Verfassung, Art. 112 S. 2 der saarländischen Verfassung und Art. 45 Abs. 3 der Verfassung von Schles33 H. Fibich, Das Verhältnis zwischen Landtag und Landesregierung nach der Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993, 2001, S. 118 f.
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wig-Holstein. In den meisten dieser Länder ist die Einrichtung der Behörden durch den Zusatz „im einzelnen“ eingeschränkt (Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Saarland). In allen diesen Ländern (wiederum mit Ausnahme Berlins) kann die Landesregierung diese Befugnis an die einzelnen Minister delegieren. Aus dieser Gegenüberstellung ist in der ganz herrschenden Ansicht in Wissenschaft und Staatspraxis geschlossen worden, dass sich der Gesetzesvorbehalt auf die Organisationsfragen „von allgemeiner und grundlegender Bedeutung“ bezieht: „Nicht alle Organisationsmaßnahmen eines bestimmten Verwaltungsbereichs, sondern bestimmte (grundlegende) Organisationsmaßnahmen in allen Bereichen werden dem Gesetzgeber vorbehalten.“34 Mit der Einrichtung der Behörden sind demgegenüber konsequenterweise die weniger bedeutsamen Maßnahmen gemeint. Selbst unter der Geltung dieser allgemeinen organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalte wurde aber diskutiert, ob nicht „die Bestimmung von Sitz und Bezirk einer Behörde“ unter den Gesetzesvorbehalt fällt35. c) Spezieller organisationsrechtlicher Gesetzesvorbehalt für die „räumliche Gliederung“ Diese Variante hat wie gezeigt Thüringen gewählt. Auch in folgenden anderen Ländern wird die räumliche Gliederung der Verwaltung dem Gesetzesvorbehalt unterstellt: Art. 70 Abs. 1 S. 1 der baden-württembergischen Verfassung, Art. 56 Abs. 2 der niedersächsischen Verfassung, Art. 83 Abs. 1 S. 1 der sächsischen Verfassung und Art. 86 Abs. 2 der Verfassung von Sachsen-Anhalt. „Gliederung und Aufbau der Verwaltung“ stellt auch Art. 57 S. 1 der hamburgischen Verfassung unter Gesetzesvorbehalt. Auch hier findet sich wie bei den landesverfassungsrechtlichen allgemeinen organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalten der Unterschied, dass nur das Gesetz genannt wird (Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen) oder von einer Regelung „auf Grund eines Gesetzes“ die Rede ist (Thüringen); wie dargelegt ergibt sich daraus kein rechtlich relevanter Unterschied. Auch hier wird diesem speziellen Gesetzesvorbehalt in den meisten Fällen eine Befugnis der Regierung zur Regelung der Einrichtung der Behörden im Einzelnen gegenübergestellt (Baden-Württemberg, Hamburg und Sachsen); eine entsprechende Regelung fehlt allerdings in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt; inhaltlich wird auch hier die Einrichtung der Behörden im Einzelnen auf die weniger bedeutsamen Maßnahmen beschränkt36.
34 Schmidt-Aßmann (o. Fußn. 16), S. 342 mit umfassenden Nachweisen aus der Landes(verfassungs)rechtlichen Literatur und der Rechtsprechung. 35 Schmidt-Aßmann (o. Fußn. 16), S. 343. 36 Schmidt-Aßmann (o. Fußn. 16), S. 348.
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4. Abgrenzung von Satz 2 und Satz 3 des Art. 90 ThürLVerf Gem. Art. 90 S. 2 ThürLVerf unterfällt als erstes der „Aufbau“ der Verwaltung des Landes dem organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt. Unter diesem Begriff wird gemeinhin „die Bildung neuer Behördentypen und -arten, die Festlegung des Stufenaufbaus (Instanzenzugs) und die damit verbundene Über- und Unterordnung der einzelnen Stufen“ verstanden37. Das entspricht dem, was in den Landesverfassungen mit einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt für die Organisation der Verwaltung gemeint ist. Mit dem Vorbehaltsbereich der „räumlichen Gliederung“ geht die Thüringer Verfassung ebenso wie die Verfassungen von Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen darüber hinaus. Da Normtexte grundsätzlich so auszulegen sind, dass ihnen ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zukommt, muss auch der Vorbehaltsbereich für die „räumliche Gliederung“ über den für die Organisation der Landesverwaltung hinausgehen. Über den Stufenaufbau der Verwaltung hinaus müssen durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes „Festlegungen über die Bezirke der staatlichen Verwaltungsbehörden“38 getroffen werden. Wenn Eberhard Schmidt-Aßmann in diesem Zusammenhang bemerkt, der Gesetzesvorbehalt für die räumliche Gliederung zwinge den Gesetzgeber nicht dazu, die Bezirke der Behörden „parzellenscharf“ zu beschreiben39, dann bestätigt das die getroffene Feststellung. Denn die Grenzziehung eines Amtes, Kreises oder Bezirks im Einzelnen geht über den Begriff der räumlichen Gliederung hinaus. Diese umfasst nämlich die Zahl und die Namen von Ämtern, Kreisen oder Bezirken in dem jeweils durch andere Rechtsakte und tatsächliche Gegebenheiten bestimmten Umfang bzw. Grenzverlauf. In diesem Sinne legte § 6 Abs. 2 POG a.F. nicht die Grenzen der dort genannten Polizeidirektionen im Einzelnen fest, sondern bestimmte Zahl und Raum im Wesentlichen, d. h. unabhängig von der Grenzziehung zwischen den dort genannten Räumen im Einzelnen. Diese und andere Einzelheiten sind gem. Art. 90 S. 3 ThürLVerf Sache der Landesregierung. Das ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut, der von der Errichtung der staatlichen Behörden „im einzelnen“ spricht. Zwar unterscheidet sich diese Vorschrift von den Parallelvorschriften der anderen Landesverfassungen, wo von „Errichten“ statt von „Einrichten“ die Rede ist. Diesem Umstand kann aber aus folgenden Gründen keine rechtliche Relevanz zuerkannt werden40: Erstens ist den Autoren des Art. 90 S. 3 ThürLVerf ein Unterschied zwischen Errichtung und Einrichtung offensichtlich selbst nicht bewusst gewesen. Art. 90 S. 3 ThürLVerf ist das Ergebnis einer Intervention des Thüringer Ministerpräsidenten in einem Brief vom 13. September 1993 an den Präsidenten des Thüringer Landtages41, der in der 26. Sitzung des Ver37 38 39 40 41
Wissenschaftlicher Dienst (o. Fußn. 14), S. 7; ebenso Hopfe (o. Fußn. 14), Art. 90 Rn. 7. Wissenschaftlicher Dienst (o. Fußn. 14), S. 7. Schmidt-Aßmann (o. Fußn. 16), S. 349. Im Ergebnis ebenso Hopfe (o. Fußn. 14), Art. 90 Rn. 9; Fibich (o. Fußn. 33), S. 121. Zuschrift 1/2331.
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fassungsausschusses am 17. September 1993 durch den Staatssekretär Dr. Gasser42 vorgebracht wurde43. In diesem Brief heißt es wörtlich: „Es ist zwar nicht ungewöhnlich, dass die Einrichtung (sic!) von Landesbehörden durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt wird;“ aber man benötige in Thüringen doch eine Ergänzung dahingehend, dass ihre „Errichtung“ (sic!) im Einzelnen der Landesregierung obliegt. Zweitens wurde diese Ergänzung ausdrücklich „im Hinblick auf die gegenwärtig noch nicht abgeschlossene Aufbauphase des Landes“ erbeten. Diese Aufbauphase ist aber seit längerem definitiv abgeschlossen. Aber auch unabhängig von der Frage, ob die Abweichung von den parallelen landesverfassungsrechtlichen Regelungen in Art. 90 S. 3 ThürLVerf (Errichten statt Einrichten) eine bewusste und dauerhaft wirkende inhaltliche Abweichung von der Rechtslage in den anderen Ländern darstellt, ist eine Argumentation mit den inhaltlichen Unterschieden der beiden Begriffe nicht überzeugend. Denn beide Begriffe werden durchweg nicht einheitlich verwendet und überdies immer wieder auch verwechselt. So liegt für das Bundesverfassungsgericht eine Regelung der Einrichtung im Sinn des Art. 84 Abs. 1 S. 1 GG „nicht nur vor, wenn ein Bundesgesetz neue Landesbehörden vorschreibt, sondern auch, wenn es den näheren Aufgabenkreis einer Landesbehörde festlegt.“ Hier ist also Einrichtung der Oberbegriff zur Errichtung im Sinne von Gründung und Bildung einerseits und Einrichtung im Sinne von Ausgestaltung und innerer Organisation andererseits. Nur im letzteren Sinne verstehen dagegen alle Landesverfassungen außer Thüringen den Begriff der Einrichtung. In der Literatur findet sich verbreitet eine genau gegenteilige Zuordnung der Begriffe, indem mit der Einrichtung „die Etablierung der Grundstrukturen“ von Organisationseinheiten und mit Errichtung die „Ausstattung mit Räumen, Personen, Sach- wie Finanzmitteln sowie die Entscheidung über ihren Sitz“ verstanden wird44. Angesichts dieser nicht behebbaren Unklarheiten ist die entscheidende normative Aussage des Art. 90 S. 3 ThürLVerf, dass der Vorbehaltsbereich der Landesregierung sich auf Organisationsfragen „im einzelnen“ bezieht. Statt von Einzelheiten kann man auch von Details sprechen45. III. Die konkreten Folgerungen 1. Anwendung des Art. 90 S. 2 ThürLVerf Aus dieser Darlegung des Bedeutungsgehalts der von Art. 90 S. 2 und 3 ThürLVerf verwendeten Tatbestandsmerkmale ergibt sich, dass die Einteilung des gesamten Landes Thüringen in Polizeidirektionen sowie die Festlegung ihrer Standorte unter 42
PW1 VerfA 026 (17. 9. 1993), S. 61 ff. Thüringer Landtag (Hrsg.), Die Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen 1991 – 1993. Dokumentation, 2003, S. 236. 44 M. Burgi, Verwaltungsorganisationsrecht, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 8 Rn. 2; nochmals anders – allerdings ganz freihändig – König (o. Fußn. 1), S. 215 f. 45 So Wissenschaftlicher Dienst (o. Fußn. 14), S. 8. 43
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den Begriff der „räumlichen Gliederung“ der Verwaltung des Landes zu subsumieren ist und daher durch Gesetz oder auf Grund Gesetzes zu erfolgen hat. Gleichzeitig ergibt sich daraus, dass dies nicht nur eine Einzelheit oder ein Detail darstellt. Da die Polizeidirektionen gem. § 4 Abs. 2 S. 2 POG untere Landesbehörden sind, wird der vorliegende Fall sogar haargenau von folgendem Satz in der einzigen vorliegenden Kommentierung der Verfassung des Freistaats Thüringen erfasst: „Der Begriff der räumlichen Gliederung betrifft etwa die Festlegung der Bezirke der unteren staatlichen Verwaltungsbehörden.“46 Zum selben Ergebnis kommt auch die gutachtliche Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Thüringer Landtags: Weil in § 6 Abs. 2 POG eine Aussage zu den Bezirken oder sonst zur räumlichen Abgrenzung der Polizeidirektionen fehlt, wird die Verfassungsmäßigkeit des § 6 Abs. 2 POG „bezweifelt“ bzw. diese Norm für „verfassungsrechtlich bedenklich“ gehalten47. Diese zurückhaltenden Formulierungen des Ergebnisses sind aber eher der Courtoisie oder einer angenommenen Interorgantreue zuzuschreiben, als dass sie sich inhaltlich begründen ließen. Insoweit ist die gutachtliche Stellungnahme vielmehr klar und deutlich: Satz 2 und nicht Satz 3 des Art. 90 ThürLVerf ist einschlägig. Dann lautet das Ergebnis aber: § 6 Abs. 2 POG ist verfassungswidrig. Im Ergebnis besteht auch Übereinstimmung mit Joachim Linck. Er meint zwar, die Frage der Festlegung der Zahl und Standorte der Polizeidirektionen sei weder klar dem Vorbehaltsbereich der Legislative noch klar dem Vorbehaltsbereich der Exekutive zuzuordnen, es sei insoweit keine eindeutige zweifelsfreie Antwort möglich, und es bestünde hier eine „Grauzone“48. Daher unterbreitet er einen als „rechtspolitisch“ gekennzeichneten Lösungsvorschlag, der in einer gesetzlichen Ermächtigung der Landesregierung besteht, die Zahl, die räumliche Gliederung und den Sitz der Polizeidirektionen durch Rechtsverordnung zu bestimmen, die der Zustimmung des Thüringer Landtags bedarf. Aber bei Lichte besehen bestätigt er damit die hier gegebene Zuordnung der Streitfrage zum organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Art. 90 S. 2 ThürLVerf; denn diese Vorschrift statuiert keinen Parlamentsvorbehalt, sondern einen Gesetzesvorbehalt im Sinn eines Rechtssatzvorbehalts. Als solcher umfasst er auch eine gesetzliche Regelung, die die Landesregierung in bestimmter Weise zur Regelung durch Rechtverordnung ermächtigt. Mit seinem rechtspolitischen Lösungsvorschlag bestätigt Linck also die Einschlägigkeit des Art. 90 S. 2 ThürLVerf für den vorliegenden Fall. Rechtspolitisch ist dagegen das von ihm vorgeschlagene Zustimmungsrecht des Thüringer Landtags. Richtig wird von Linck schließlich auch der Begriff der Errichtung im Einzelnen bestimmt als „die Ausstattung der Polizeidirektionen mit den notwendigen personellen und sächlichen Mitteln,
46 47 48
Hopfe (o. Fußn. 14), Art. 90 Rn. 7; Fibich (o. Fußn. 33), S. 119. Wissenschaftlicher Dienst (o. Fußn. 14), S. 7 und 14. Linck (o. Fußn. 19), S. 2 und 4.
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sowie Regelungen zum Geschäftsgang und der laufenden organisatorischen Führung“49. 2. Bestätigung durch das gemeindeutsche Polizeirecht a) Terminologie In allen Flächenländern gestaltet sich der Aufbau der Polizeibehörden faktisch mindestens dreistufig. Wenn in Thüringen davon die Rede ist, dass der Behördenaufbau der Polizei ein zweistufiger sei50, dann hängt das damit zusammen, dass die Polizeidirektionen in § 4 Abs. 2 S. 2 POG als „untere Landesbehörden“ bezeichnet werden. Aber auch in Thüringen gibt es faktisch eine dritte Ebene; denn gem. § 6 Abs. 3 S. 1 sind den Polizeidirektionen einzelne Dienststellen (Inspektionen und, soweit erforderlich, Stationen) nachgeordnet. In den großen Flächenstaaten gibt es teilweise sogar einen vierstufigen Behördenaufbau der Polizei, so in Bayern. Die Frage der räumlichen Gliederung wird erst unterhalb der obersten Stufe relevant, da diese überall das für das ganze Land zuständige Innenministerium ist. Die zweite Stufe bilden entweder Regierungspräsidien bzw. Polizeipräsidien (BadenWürttemberg, Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und RheinlandPfalz) oder Polizeidirektionen (Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt). Im Saarland und in Schleswig-Holstein sind die Bezeichnungen nicht gesetzlich festgelegt. Weitere Stufen sind dann in den Ländern mit Präsidien teilweise Direktionen, im Übrigen Inspektionen, Stationen oder sonstige Polizeidienststellen. b) Die Regelung der zweiten Stufe Eine Reihe von Ländern regelt Zahl und Standorte der dem Ministerium des Innern nachgeordneten Ebene der Polizeibehörden oder Polizeidienststellen unmittelbar im Gesetz (Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen)51. Die meisten Länder haben in ihren Polizeigesetzen eine Ermächtigung des Innenministeriums, Polizeipräsidien oder Polizeidirektionen durch Rechtsverordnung zu errichten oder einzurichten (Bayern, Brandenburg, Hessen, Nordhrein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein)52. Teilweise werden Bezirk, Bezeichnung, Gliederung oder Sitz als zu regelnde Aspekte ausdrücklich genannt. Nur ein einziges Flächenland – es ist bezeichnenderweise das kleinste: das 49
Linck (o. Fußn. 19), S. 6. Vgl. Thüringer Landtag, Drs. 4/2943, S. 1: „Die bestehende zweistufige Behördenstruktur der Polizei, die Integration von Schutz- und Kriminalpolizei, der Schutzbereichsgedanke sowie der flächendeckende Einsatz von Kontaktbereichsbeamten haben sich grundsätzlich bewährt.“ 51 § 70 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG; § 5 Abs. 1 mvPOG; § 90 Abs. 1 ndsSOG. 52 Art. 4 Abs. 4 bayPOG; § 73 S. 1 bbgPolG; § 91 Abs. 5 hessSOG; § 2 Abs. 2 nwPOG; § 77 Abs. 2 rpPOG; § 73 sächsPolG; §§ 78 Abs. 1, 80 Abs. 1 saSOG; § 162 Abs. 4 i.V.m. § 8 shLVwG. 50
Gesetzesvorbehalt für Zahl und Standorte von Polizeidirektionen
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Saarland – verzichtet darauf, für die Regelung der Gliederung der Polizeibehörden eine Rechtsverordnung zu verlangen53. Soweit eine gesetzliche Ermächtigung zur Regelung durch Rechtsverordnung besteht, wird teilweise zusätzlich verlangt, dass die Rechtsverordnung „im Einvernehmen“ (Nordrhein-Westfalen) oder „nach Anhörung“ (Brandenburg) des für Fragen des Innern zuständigen Ausschusses des Landtags erlassen wird. c) Die Regelung weiterer Stufen In den meisten Ländern sind die Fragen der Errichtung oder Einrichtung von Polizeibehörden und Polizeidienststellen auf der dritten oder vierten Stufe in derselben Rechtsverordnung geregelt wie diejenigen der zweiten Stufe. Exemplarisch sei auf Bayern verwiesen, wo jede Polizeibehörde mit ihrem Bezirk in einer umfangreichen zur Rechtsverordnung gehörenden Anlage aufgelistet ist, die im Gesetz- und Verordnungsblatt verkündet ist54. Andere Länder sehen die Weiterübertragung durch eine Rechtsverordnung (z. B. Brandenburg)55 oder durch bloße Ermächtigung des Innenministers (z. B. Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein)56 vor. d) Zwischenergebnis In den Flächenländern der Bundesrepublik Deutschland sind bis auf die zu vernachlässigende Ausnahme des Saarlands überall Zahl und Standorte der den Innenministerien unterstehenden Polizeipräsidien oder Polizeidirektionen entweder im Gesetz selbst oder in einer Rechtsverordnung geregelt. Es besteht daher ein gemeindeutscher Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass die zweite Stufe der das ganze Land umspannenden Polizeibehörden dem organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt unterfällt. Das gilt sogar in Ländern, die den organisationsrechtlichen Gesetzesvorbehalt in ihrer Verfassung nicht ausdrücklich auf die räumliche Gliederung der Landesbehörden erstrecken. Umso mehr muss dieser Rechtsgrundsatz für Thüringen mit seinem Art. 90 S. 2 ThürLVerf gelten. IV. Ergebnis § 6 Abs. 2 POG widerspricht dem Art. 90 S. 2 ThürLVerf, weil er die Zahl und die Standorte weder selbst regelt noch eine den rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen gemäße Ermächtigung an die Landesregierung zum Erlass von Rechtsverordnungen erteilt. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 6 Abs. 2 POG scheidet nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte aus: § 6 Abs. 2 POG wird
53
§ 82 Abs. 2 saarlPolG. Verordnung zur Durchführung des bayPOG vom 10. März 1998 (BayGVBl. S. 136), zuletzt geändert durch Verordnung vom 3. Januar 2008 (BayGVBl. S. 10). 55 § 73 S. 2 bbgPolG. 56 § 71 Abs. 2 bwPolG; § 162 Abs. 4 i.V.m. § 8 Abs. 1 S. 2 shLVwG. 54
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ausdrücklich auf Art. 90 S. 3 ThürLVerf gestützt57, der das Gegenteil von einem Gesetzesvorbehalt ist. Für die Zahl und die Standorte von Polizeidirektionen gilt nach allem der Gesetzesvorbehalt im Sinne des Rechtssatzvorbehalts.
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Thüringer Landtag, Drs. 4/2943, S. 10.
Innere und zivile Sicherheit in der offenen Gesellschaft – Legitimationsprobleme collaborativer Sicherheitsgovernance im vorsorgenden Sozialstaat Von Rainer Pitschas* I. Collaborative Sicherheitsgovernance im vorsorgenden Sozialstaat 1. Staatsaufgabe „Sicherheit“ und staatliche Schutzpflicht a) Sicherheit als Verfassungsprinzip „Sicherheit“ bildet die Summe individueller und kollektiver Erwartungen an die friedenschaffende und friedenwahrende Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. Diese herzustellen und auf Dauer funktionstüchtig zu halten, darin liegt ein fundamentaler Staatszweck. Sicherheit verkörpert in diesem Sinne, nämlich als Rechtsgüter- und Integritätsschutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen durch andere Bürger und vor äußeren Einwirkungen die Voraussetzung dafür, dass sich in der modernen Gesellschaft mehr als je zuvor die individuelle Initiative, Einsatzbereitschaft und Motivation der Bürger, also verstärkt deren Eigenverantwortung gewaltfrei entfalten kann. M. a. W. ist Sicherheit ein maßgeblicher Bestandteil jenes Gesellschaftsvertrags, der die politische Herrschaft in der sich als Staat organisierenden Gesellschaft auf Recht gründet und hierbei einen Grundbestand an Normen verankert, der den „inneren Frieden“ unter den Rechtsgenossen zu gewährleisten aufgibt.1 Konsequent trägt denn auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die „innere Sicherheit“ als ein fundamentales, in der Verfassungsrechtsprechung des BVerfG anerkanntes Schutzgut aus. Sowohl die Sicherheit des Staates als einer verfassten Friedens- und Ordnungsmacht als auch die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind unverzichtbare Verfassungswerte. Sie stehen mit * Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den der Verf. am 25. März 2010 in Berlin im Gesprächskreis „Zukunft der Parteiendemokratie – Bedeutung der Volksparteien“ der Politischen Akademie/Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel „Privatisierung und Innere Sicherheit“ gehalten hat. 1 Götz, Innere Sicherheit, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HStR IV, 3. Aufl. 2006, § 85 Rn. 3., 4; Pitschas, Polizei und Sicherheitsgewerbe, 2000, S. 23.
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anderen im gleichen Rang – schon weil die Institution „Staat“ ihre eigentliche und letztendliche Hauptrechtfertigung von ihnen herleitet.2 Vor diesem Hintergrund wurzelt die Gewährleistung von Sicherheit durch den Staat in den Fundamenten seiner deutschen und europäischen Ordnung als ein verfassungsnormativer Sach- und Schutzzusammenhang3. Mehr noch: Sicherheit ist ein Verfassungsprinzip4. Es schützt als verfassungsintegriertes (aber ungeschriebenes) Staatsziel, das über die „Rechtssicherheit“ als zeitlosen Staatszweck hinausweist, sowohl das Systemvertrauen der Bürger auf den inneren Frieden als auch deren individuelle Bestandserwartungen in die Unversehrtheit verfassungsgeborgener Rechtsgüter. Auf diese Weise macht Sicherheit als eigenständiges Verfassungsprinzip die Unsicherheiten der gesellschaftlichen Lebensführung ebenso sehr wie die staatlichen Reaktionen hierauf von verfassungswegen zu einem eigenen Thema. Als solches durchwirkt es jedwedes staatliches und gesellschaftliches Handeln, soweit es dabei um die (auch präventive) Bekämpfung von Gefahren und Risiken für die Gesellschaft als ganze oder für deren einzelne Angehörige geht5. Dem entsprechend erstreckt sich die Garantiefunktion und -verpflichtung des Staates gegenüber den Sicherheitserwartungen seiner Bürger sowohl auf die zivile Sicherheit – etwa auf den Feldern der sozialen oder technischen Sicherheit6 – , ebenso aber und immer weiter ausgreifend7 auf die innere Sicherheit. Zu dieser rechnet unser Jubilar mit Recht und in Bezug auf die mit ihr verbundene staatliche Verantwortung sowie in Anlehnung an die amtliche Begründung zu § 14 PreußPVG „die Unversehrheit von Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen des Einzelnen sowie (den) Bestand und das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen“.8 Geschützt werden demnach sowohl Individualals auch Gemeinschaftsrechtsgüter.9
2
BVerfGE 49, 24 (56 f.); BVerwGE 49, 202 (209); Götz (Fußn. 1), § 85 Rn. 8. Götz (Fußn. 1), § 85 Rn. 3 bezeichnet deshalb „innere Sicherheit“ als einen „zentralen staatsrechtlichen Begriff“; vgl. ferner Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2003, S. 125 ff. 4 Näher noch dazu Pitschas, Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme, in: VVDStRl 64 (2005), 109 (113 f.); ders., Soziale Sicherheit durch Vorsorge-Sicherheit als Verfassungsprinzip des Sozialstaats und das „Vorsorgeverhältnis“, in: U. Becker (Hg.), Rechtsdogmatik und Rechtsvergleich im Sozialrecht, 2010, S. 63 (65 f.). 5 Jaeckel, Gefahrenabwehrrecht und Risikodogmatik, 2010, passim. 6 Vgl. Pitschas, „Schutzstaat“ oder Sicherheit als gesellschaftlicher Mehr-Wert? Staatliche Integration als nationaler Wertekonflikt, in: Kreyher/Böhret (Hg.), Gesellschaft im Übergang, 1995, S. 57 (60 ff.). 7 Zu diesem erweiterten Sicherheitsbegriff s. nur Belwe, Innere Sicherheit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 12, 2007, 2 ff. 8 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, § 3 Rn. 53. 9 Schenke (Fußn. 8), § 3, Rn. 53. 3
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b) Staatliche Schutzpflicht Zu den unveräußerlichen Aufgaben des Staates gehört sonach der Schutz der öffentlichen wie der zivilen Sicherheit. Deren effektive institutionelle Gewährleistung gilt als traditioneller Kernbestand des Rechtsstaates. Umgekehrt haben die Bürger näherhin einen aus den Grundrechten abgeleiteten Schutzanspruch gegen den Staat. Diesem haben sie für die Anspruchsdurchsetzung ein Gewaltmonopol eingeräumt10. Allerdings hat die auf der Grundlage des polizeilichen Informationsrechts11 stetig ausgreifende staatliche Garantiefunktion für Sicherheit zu erheblichen Veränderungen in der gegenwärtigen Sicherheitsarchitektur Deutschlands geführt. Der „Gewährleistungsstaat“, der seine Handlungsfähigkeit zu einem bestimmenden Merkmal erhebt, gerät hierdurch in den ihn zermürbenden Gegensatz von „Freiheit“ und „Sicherheit“. Die Tendenz zu mehr Schutz und Prävention setzt auf vorbeugende Interventionsbefugnisse des Staates, wodurch Freiheit prekär wird. Themenfelder wie die der Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, des Verhältnisses von Sicherheit und Privatheit in der Informationsgesellschaft oder auch der Risikowahrnehmung und des Risikoverhaltens lassen in der Folge dessen in Deutschland die Diskussion um das künftige Gefüge der Gewährleistung auch und zumal der inneren Sicherheit in der offenen Gesellschaft mehr und mehr aufbrechen. An der Rechtsprechung des BVerfG zum polizeilichen Informationsrecht ist diese Entwicklung schrittweise abzulesen.12 2. Von der Staatsaufgabe „innere Sicherheit“ zur collaborativen Sicherheitsgovernance a) Kooperative Kriminalitätsbekämpfung durch Staat- und Bürgergesellschaft Vor diesem Hintergrund besteht heute in der Staatsaufgabendogmatik unter dem Grundgesetz weitgehend Übereinstimmung darüber, dass zwar der Staatszweck „Sicherheit“ in seiner Kernsubstanz unantastbar und wegen seiner Funktion für die Friedenssicherung einer materiellen Privatisierung nicht zugänglich sei. Dementsprechend stelle die Gewährleistung der inneren (und äußeren) Sicherheit eine wirkliche Staatsaufgabe dar. Doch ist deren Wahrnehmung nicht von vorne herein Privaten verschlossen. Der Staat verfügt stattdessen im Rahmen seiner Gewährleistungsverantwortung über die Befugnis, zwischen unterschiedlichen Modellen der Infrastrukturgarantie von Rechtsfrieden, Rechtssicherheit und öffentlicher Sicherheit zu wählen. 10 Götz (Fußn. 1), § 85 Rn. 30; Papier, DVBl. 2010, 801 (803); R. Scholz, FS Friauf, 1996, 439 (446 m. Anm. 28 und w. Nachw.). 11 Möstl, DVBl. 2010, 808 ff.; früher bereits Pitschas, Kriminalistik 1991, 774 ff.; ders., Europäisches Polizeirecht als Informationsrecht, ZRP 1993, 174 ff. 12 Vgl. zuletzt Urt. des BVerfG vom 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u. a. –, JZ 2010, 611 m. Anm. Ohler zur sog. Vorratsdatenspeicherung; Pitschas, FS Schnapp, 2008, 231 (246 ff., 248 ff.) zum sog. Online-Urteil des BVerfG.
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Die Realität der Ausgestaltung der nationalen Sicherheitsinfrastruktur durch Prävention, Gefahrenabwehr und Verfolgung von Straftaten lässt denn auch jenseits der wachsenden Verbindung mit dem militärischen Schutz gegen Angriffe von „außen“ erkennen, dass mehr und mehr die Wirtschaft sowie weitere private Akteure unter Beachtung des beim Staat verbleibenden Gewaltmonopols im Wege einer funktionalen Privatisierung am Schutz der inneren Sicherheit beteiligt sind.13 Diese Realität aufnehmend, hat sich seit einer Reihe von Jahren die Erkenntnis verdichtet, dass die Gewährleistung der inneren Sicherheit nicht unter Staatsvorbehalt steht14. Im kooperativen Staat der Gegenwart ist vielmehr der Schutz der inneren Sicherheit ein originäres und verfassungsrechtlich fundiertes Anliegen auch der Bürgergesellschaft. Deshalb tun der Staat bzw. in der Europäischen Union (EU) die Gemeinschaft Recht daran, über eine Politik der bloßen Ressourcenersparnis im Sicherheitssektor hinaus durch das „outsourcing“ von Sicherheitsfunktionen die Mitverantwortung der Gesellschaft auf allen Ebenen – von „Europa“ bis hinein in die Kommunen („Kommunale Kriminalitätsprävention“) – zu suchen, zu aktivieren oder auch zu akzeptieren. Rechtspolitisch ist daraus mittlerweile und im überkommenen Sinne der Staatslehre ein Sicherheitspolitisches Mitwirkungsverhältnis von Staat und Gesellschaft bei der Wahrnehmung der Kernaufgabe „innere Sicherheit“ entstanden. Es prägt neben anderen Erscheinungsformen den partnerschaftlichen Rechtsstaat.15 Dies gilt gleichermaßen für die Gewährleistung der zivilen Sicherheit. Es kommt somit zu einem Brückenschlag zwischen der staatlichen Verantwortung für die Funktionsfähigkeit sozialer Sicherungssysteme, technischer Regelwerke oder privatautonomer Risikobekämpfung und der Gewährleistungsverantwortung des Staates für den Schutz der inneren Sicherheit. Jeweils konzentrieren sich staatliches Handeln und private Anstrengungen in einem gemeinsamen Konzert darauf, Schutz und Prävention zu gewährleisten. Die inzwischen weit ausgreifende Transnationalisierung der Sicherheitsaufgaben mit ihrer europäischen Vernetzung in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts macht diese Verschränkung der Sicherheitsverantwortung gleichermaßen sichtbar.16 b) „Sicherheitspolitisches Mitwirkungsverhältnis“ und collaborative Sicherheitsgovernance „Kooperationen“ zwischen der öffentlichen und privaten Hand haben allerdings in Deutschland eine lange Tradition, wie institutionelle Arrangements in Gestalt „ge13 Stober, Privatisierung des Sicherheitssektors in Deutschland, in: Adam/Stober (Hg.), Privatisierung im Sicherheitssektor, 2009, 9 (16 ff.). 14 Zutr. Stober (Fußn. 13), 11 m. w. Nachw. 15 Zu der Argumentationsfigur des „Sicherheitspolitischen Mitwirkungsverhältnisses“ vgl. näher Pitschas, Duale Umweltverantwortung von Staat und Wirtschaft, in: Lüder (Hg.), Staat und Verwaltung, 1997, S. 269 (282 f.). 16 Dazu Ohler, in: Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, § 20.
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mischtwirtschaftlicher Unternehmen“ in der Kommunalwirtschaft17 oder im Rahmen öffentlich-privater Zusammenarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe sowie im sozialen Altenhilfe- und Pflegebereich belegen18. Das darin eingelagerte Phänomen der Public-Private-Partnership (PPP), für dessen Bezeichnung hier die deutsche Übersetzung „Öffentlich-Private-Partnerschaft (ÖPP)“ verwendet wird, ist deshalb der Sache nach schon lange bekannt19. Neueren Datums ist somit nicht die Zusammenarbeit öffentlicher und privater Akteure, sondern die einer staatlichen Bevormundung widerstehende vertiefte und ausgedehnte Nachfrage nach diesem Politik- und Steuerungsinstrument regulierter Selbstregulierung („Resilienz“) einerseits, die daraus entstehende Netzwerkkooperation mit der Wirtschafts- und Bürgergesellschaft sowie die damit verbundene Verantwortungspartnerschaft des postmodernen Staates mit Unternehmen und Bürgern für innere Sicherheit andererseits.20 Die allmähliche Entstehung einer solchen „Verantwortungsgemeinschaft“ von Staat und Gesellschaft für die innere Sicherheit lässt nicht nur die überkommenen Abgrenzungen zwischen beiden verschwimmen, was – wie noch zu zeigen sein wird – zu entsprechenden Legitimationsproblemen gesellschaftlicher Verantwortungswahrnehmung führt. Auch das (staatliche) Sicherheitsrecht muss nunmehr in seiner Steuerungskonzeption berücksichtigen, dass gesellschaftliche Akteure an seiner Umsetzung und Durchsetzung mitwirken – es also prägen. Der partnerschaftliche Rechtsstaat verlangt diesbezüglich nach einem entsprechend angepassten Handlungsrahmen der Polizei einerseits, für die gesellschaftlichen Akteure andererseits. Aufgegeben ist sonach die Einordnung der sicherheitsrechtlichen Kooperationsbeziehungen in das rechtliche Arsenal des formengebundenen Verwaltungshandelns. Zugleich geht es um die Auswirkungen der skizzierten Teilhabe gesellschaftlicher Akteure an der Sicherheitsgewährleistung („Sicherheitsgovernance“) auf die staatliche Steuerungsfähigkeit in diesem Bereich. Der Begriff der „Sicherheitsgovernance“ bezeichnet insofern nicht nur die Einbeziehung Privater in die staatliche Aufgabenerfüllung. Er verdeutlicht ebenso den damit einhergehenden tiefreichenden Wandel der Staatlichkeit im Sicherheitssektor. Denn von entscheidender Bedeutung ist die strukturelle Verzahnung unter gegenseitiger Absprache der Gewährleistung von Schutz und Prävention zwischen den Berei17 Edeling/Stölting/Wagner, Öffentliche Unternehmen zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung, 2004. 18 Pitschas, Öffentlich-private Finanzierungs- und Kooperationsformen im Spannungsfeld zum Vorrangsprinzip der freien Wohlfahrtspflege, in: Hoffer/Piontkowski (Hg.), PPP: Öffentlich-private Partnerschaften. Erfolgsmodelle auch für den sozialen Sektor?, 2007, 8 ff. 19 Ziekow, Public Private Partnership als zukünftige Form der Finanzierung und Erfüllung öffentlicher Aufgaben?, in: Hill (Hg.), Die Zukunft des öffentlichen Sektors, 2006, 49 (50 f.). 20 Überblick bei Würtenberger, in: Riescher (Hg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, S. 97 ff.; bezogen auf die innere Sicherheit näher noch Pitschas, Verantwortungskooperation zwischen Staat und Bürgergesellschaft. Vom hierarchischen zum partnerschaftlichen Rechtsstaat – am Beispiel des Risiko verwaltungsrechts, in: Sommermann/Ziekow (Hg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, 2002, 223 (238 f.).
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chen staatlicher und privater Sicherheitsverantwortung, um der Koordination gemeinsamer Sicherheitsanstrengungen eine einheitliche Wirkrichtung zu geben21. Diese Art und Weise der sicherheitspolitischen Mitwirkung zählt zu jenen Formen von Governance, die sich im kooperativen Staat nach und nach entwickelt haben, private Akteure in die Ausübung hoheitlicher Funktionen einbeziehen und in einem komplexen systemischen Zusammenhang zunächst auf „weiche“ Steuerungsmechanismen wie die Moderation gemeinsamer Themen oder auf informelle Abstimmung sowie auf Argumentieren und Überzeugen zurückgreifen („collaborative“ Governance).22 c) Legitimität collaborativer Sicherheitsgovernance im vorsorgenden Sozialstaat Die Legitimität der verantwortlichen Teilhaber gesellschaftlicher Akteure an der Gewährleistung der Sicherheit in der offenen Gesellschaft ist freilich schon von Anfang an in Frage gestellt worden23. Heute scheinen Anfragen hierzu erneut plausibel, vergegenwärtigt man sich der machtvollen Entwicklung, die z. B. inzwischen die Anstrengungen um die Einführung eines neuen Paradigmas für die zivile Sicherheit im Rahmen der europäischen Sicherheitsforschung genommen haben24. Nicht von ungefähr, nämlich im Blick auf die effektive Terrorismusabwehr, treten dabei die Bereiche Kritische Infrastrukturen und Notfallplanung hervor; auch der Katastrophenschutz mit den ihm immanenten Eingriffserfordernissen gewinnt an Gewicht25. In der Rechtsprechung des BVerfG klingen die damit verbundenen weitgehenden Eingriffsrechtfertigungen an26. Diese stehen allerdings in einem erstaunlichen Gegensatz zu den hohen Rechtsfertigungsvoraussetzungen, die das Gericht dem polizeilichen Informationshandeln abfordert. Davon abgesehen, enthalten Themenfelder und Kernaussagen zur Gesellschaftlichen Sicherheit, zu Widerstandsfähigkeit, Vertrauen, Interoperabilität, Innovation oder auch zur Sensibilisierung durch Aus- und Fortbildung allesamt grundlegende Erwartungen an die Garantie von Schutz vor den Unsicherheiten der allgemeinen Le21
Das verkennt Stober (Fußn. 13), 16 ff. Zu deren Verständnis und Reichweite s. nur aus dem deutschen Sprachraum Trute/ Denkhaus/Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, DV 37 (2004), 451 ff.; Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), GVwR I, München 2006, § 1 Rn. 68; aus vergleichender Perspektive s. die Darstellung von Bauer, „Collaborative Governance“ – ein neues Konzept für die Regulierung der europäischen Strom- und Gasmärkte?, Dt. Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, Discussion Papers Nr. 56 (2010), 7 ff. m. Nachw. aus der anglo-amerikanischen Literatur. 23 Hoffmann-Riem, Übertragung der Polizeigewalt auf Private?, ZRP 1977, 277 ff. 24 Vgl. nur die Berichterstattung zum 6. Europäischen Bevölkerungs- und Katastrophenschutzkongress über „Mission driven – Die Europäische Sicherheitsforschung“, in: Behörden Spiegel, Oktober 2010, S. 22. 25 Gusy, Katastrophenschutzrecht, DÖV 2011, 85 ff. 26 BVerfG, Beschl. V. 08.06.2010 – 1 BvR 2011, 2959/07, NWZ 2010, 1212 zur Eingliederung des privaten in den öffentlichen Rettungsdienst Sachsens. 22
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bensführung, die nicht einfach zu erfüllen bzw. von der Hand zu weisen sind. Sie sind im Übrigen verfassungslegitim. Denn sie dürfen auf dem Hintergrund verfassungsrechtlicher Gewährleistung einer sozialen Staatlichkeit im Grundgesetz und zur Gleichheit der Rechtsunterworfenen (Art. 3, 20, 28 GG) von einem gebotenen Mindestmaß an objektiver Sicherheit für jeden Einzelnen in der Gesellschaft ausgehen. Dieser kann seine Mitwirkung bzw. Teilhabe an ihrer Gewährleistung geltend machen. Der gleichheitgeprägte Sozialstaat verlangt und gewährleistet m. a. W. eine spezifisch gesellschaftlicher Verantwortung zugewiesene Sicherheitsvorsorge in Ergänzung des Verfassungsprinzips Sicherheit.27 Sicherheitsgovernance bezieht daraus im sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes ihre prinzipielle Legitimität. Gleichwohl bleiben Fragen offen. Sie zielen auf die Ermittlung der Folgen der Privatisierung im Verhältnis zur Aufgabenerfüllung, und zwar in den Bereichen Kosten, Investitionstätigkeit, Leistungsqualität und staatliche Steuerungsfähigkeit. Es geht also nicht nur darum, die Richtigkeit der Privatisierung in Bezug auf die Staatsaufgabe innere bzw. öffentliche Sicherheit in Kategorien der Verfassungsmäßigkeit zu entscheiden28, sondern gleichzeitig darum, dass die institutionellen Strukturen, in denen Vorsorgeleistungen erbracht werden, Auswirkungen auf die Leistungen selbst haben und sogar die institutionellen Strukturen verändern können29. Oder anders formuliert: In den Vordergrund des Interesses rücken die Fragen nach der Auswirkung der Privatisierung von innerer Sicherheit auf die staatliche Steuerungsfähigkeit in diesem Bereich sowie nach der entsprechenden Leistungsqualität der privaten Sicherheitsdienstleistungen. II. Öffentlich-private Sicherheitspartnerschaft(en) als Gestaltungsform collaborativer Sicherheitsgovernance Die dargestellte Entwicklung wie die oben herausgearbeiteten Fragestellungen zur Sicherheitsgovernance lassen sich ebenso im Bereich der zivilen Sicherheit wie im Handlungsfeld der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit verfolgen. Die Gründe hierfür liegen sowohl in den aktuellen Herausforderungen an die staatliche Verbrechensbekämpfung als auch in den budgetären Grenzen einer adäquaten Antwort der Sicherheitspolitik hierauf sowie in der mittlerweile verbreiteten Erkenntnis, dass Sicherheit beide Bereiche betrifft sowie auf Dauer und für alle nicht ohne intensive gesellschaftliche Beteiligung zu gewährleisten ist. Der freiheitlich-demokrati27 In diese Richtung auch Kämmerer, Der lange Abschied vom staatlichen Gewaltmonopol, in: Peilert/Müller/Kluth (Hg.), Aktuelle sicherheitsrechtliche Fragen zwischen staatlicher und privater Aufgabenerfüllung, 2010, 39 (45 ff., 51 ff.). 28 So mit Recht Burgi, Möglichkeiten und Grenzen der Privatisierung von Aufgaben der Strafrechtspflege, in: Dessecker (Hg.), Privatisierung in der Strafrechtspflege, 2008, 11 ff. 29 Sack, Liberalisierung und Privatisierung in den Kommunen – Steuerungsanforderungen und Folgen für Entscheidungsprozesse, Deutsche Zschr. Für Kommunalwissenschaften (DfK), Nr. 2/2006, 25 (29 ff.).
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sche Risikostaat lebt vom gesellschaftlichen Zusammenhalt und bürgerschaftlichen Engagement – auch wenn er es oft erst „aktivieren“ muss. ÖPP – oder fachspezifischer formuliert: Sicherheitspartnerschaft bzw. „PolicePrivate-Partnership“ ist in der Konsequenz dessen ein zentraler Pfeiler der Sicherheitsarchitektur in Deutschland30. Sie erweist sich zugleich als Gestaltungsform der dargestellten collaborativen Sicherheitsgovernance, deren Grundlage die Privatisierung einer Reihe von Polizeiaufgaben ist. Ihr zufolge kommt es zur Wahrnehmung privater Sicherheitsfunktionen als Ausdruck gesellschaftlicher Gefahrenabwehr und -vorsorge. 1. Privatisierung von Polizeiaufgaben und bürgerschaftliche Sicherheitsarbeit Im Rahmen der Wahrnehmung privater Sicherheitsfunktionen als Ausdruck privatautonomer Gefahrenabwehr und Sicherheitsvorsorge verfügen heute private Sicherheitsdienste auf den Feldern sowohl der inneren als auch der zivilen Sicherheit über ein erhebliches Aufgabenspektrum. Herkömmlicherweise übernehmen sie im großen Umfang Aufgaben des (privaten und zunehmend auch öffentlichen) Personenund Objektschutzes sowie sonstige Ordnungsdienste. Dies geschieht auf privatrechtlicher Grundlage zum Schutz privater Auftraggeber oder in Übernahme von Sicherheitsaufgaben des Staates. Hinzu tritt die tradierte Tätigkeit privater Sicherheitsdienste als Wach- und Schließgesellschaften, als Werkschutz, Privatdetekteien, Ladendetektive, Leibwächter oder im Zusammenhang von Ordnungsdiensten. Auch insoweit bekleiden die privaten Sicherheitsunternehmen keine öffentlich-rechtliche Stellung; ihnen stehen vor allem keine polizeilichen Handlungsrechte gegenüber Dritten zur Seite. Lediglich diejenigen privaten Rechte dürfen ausgeübt werden, über die auch die Auftraggeber verfügen, die also jedermann in Anspruch nehmen darf. Dies sind insbesondere die bürgerlichen Schutz- und Selbsthilfebefugnisse, strafrechtliche Notwehrrechte und die strafprozessualen Verfolgungsrechte. Allerdings haben staatliche Stellen in den letzten Jahren immer wieder private Sicherheitsakteure in weitem Umfang zur Entlastung der Polizei mit Sicherungsaufgaben beauftragt. Verwiesen sei insoweit nur auf die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland, aber auch auf die Tätigkeit von privaten Sicherheitsdienstleistern bei Bundesligaspielen. Nicht zu vergessen ist auch die verbreitete Praxis, den öffentlichen Raum in Ladenpassagen und Fußgängerzonen von den anliegenden Geschäftsleuten „verwalten“ zu lassen, um dann von diesen als privates Eigentum kraft Hausrecht die Sauberkeit und Ordnung durch private Dienstleister gewährleistet zu erhalten.
30 Pitschas (Fußn. 1), S. 102 ff.; Stober, Staatliches Gewaltenmonopol und privates Sicherheitsgewerbe. Plädoyer für eine Police-Private-Partnership, NJW 1997, 889 ff.; ders., Police-Private-Partnership aus juristischer Sicht, DÖV 2000, 261 ff.
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Zur Verzahnung der Sicherheitsverantwortung kommt es schließlich bei der Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private. So übernimmt das Sicherheitsgewerbe Aufträge zur Bewachung öffentlicher Einrichtungen. In zahlreichen Städten gibt es ebenso wie auf Bahnhöfen gemeinsame Streifengänge von Angestellten privater Sicherheitsdienste mit kommunalen Bediensteten bzw. Polizeibeamten. 2. Struktur der Sicherheitspartnerschaft(en) Die Struktur solcher vielgestaltigen Sicherheitspartnerschaften bestimmen einerseits private Sicherheitsdienste bzw. -unternehmen, die im Mittelpunkt der wachsenden Privatisierung von Gefahrenabwehr und -vorsorge stehen. Das Spektrum der ihnen im Rahmen des „Sicherheitsgewerbes“ (§ 34a GewO) gegen Entgelt anvertrauten Sicherheitsdienstleistungen reicht, wie die voraufgegangenen Ausführungen belegen, von der Bewachung öffentlicher oder privater Gebäude bis hin zu grundlegenden Beiträgen zur Umsetzung der staatlichen Gewährleistung innerer Sicherheit während der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006.31 Ordnungserhalt und die Garantieleistung physischer Sicherheit im öffentlichen Raum beschränken sich jedoch bei weitem nicht auf die Einschaltung des Sicherheitsgewerbes. Sicherheit ist, wie schon betont, ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Hinzu tritt deshalb – und notwendigerweise – die bürgerschaftliche Sicherheitsarbeit, die ebenso als Policing auf die Herstellung bzw. den Erhalt sozialer Ordnung und von Sicherheit ausgerichtet ist. Schließlich rechnen gesellschaftliche Beiträge zur Sicherheitsvorsorge wie die kommunale Kriminalitätsprävention ebenfalls zu der öffentlich-privaten Sicherheitskooperation in gemeinsamer Sicherheitsverantwortung von Staat und Gesellschaft.32 3. Sicherheitspartnerschaft als werthafte Gestaltungsform collaborativer Sicherheitsgovernance Analytisch gesehen, hat der Staat mit dieser Entwicklung im Wege der Aufgabenprivatisierung und Kooperation für die ihm als Kernaufgabe obliegende Kriminalitätsprävention und Verbrechensbekämpfung nach Partnern in der Zivilgesellschaft gesucht, die sich inzwischen strukturell als nichtstaatliche Träger von Sicherheitsverantwortung i. S. der Beteiligung an ehedem ausschließlich hoheitlichen Entscheidungs- und Vollzugskompetenzen etabliert haben. Er regiert auf diese Weise im Feld der zivilen und inneren Sicherheit durch öffentlich-private Kooperation bei 31 Bach, Die neue Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland, DSD – Der Sicherheitsdienst H. 3/2009, 16 (18). 32 Obergfell-Fuchs, Wirkung und Effizienz Kommunaler Kriminalprävention, in: Kerner/ Marks (Hg.), Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages, 2008 (www.praeventionstag.de); Ziercke, Kommunale Kriminalpolitik und Kriminalprävention – Kooperation und Vernetzung der Präventionsakteure aus polizeilicher Sicht, abrufbar unter www.kriminalprae vention.de/forum.
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Wahrung des eigenen Gewaltmonopols und durch Regulierung der gesellschaftlichen Bemühungen. Auf diese Weise entstandene Sicherheitsgovernance gibt zunächst dem Arrangement zwischen hoheitlichen (Bund, Länder, Kommunen) und privaten Akteuren Ausdruck, in dessen Folge sich die staatliche Seite von Sicherheitsdienstleistungen entlastet und ihren Gestaltungsspielraum mit den privaten Sicherheitsdienstleistern und weiteren gesellschaftlichen Kräften teilt. Angestrebt wird dadurch eine „collaborative“ Governance, die vor allem werthaft zu verstehen ist: Kooperationsformen dominieren, die auf konsensualer Übereinstimmung und gewolltem Zusammenwirken beruhen und den inneren Frieden sichern helfen.33 4. Fortbestehende Gewährleistungsverantwortung des Staates Collaborative Sicherheitsgovernance umfasst alle Akteure und Strategien des Policing. In welchem Ausmaß für sie nichtstaatliche Akteure an Bedeutung gewonnen haben und insbesondere private Sicherheitsdienstleister unverzichtbar geworden sind – wie insbesondere an den Kooperationsverträgen mit Bundesländern und Polizeibehörden in Großstädten erkennbar wird und was zentrale Probleme des Datenschutzes und der Leistungsqualität aufwirft34 – lässt die Fortschreibung des Programms „Innere Sicherheit“ auf der 188. Innenministerkonferenz (IMK) in Bremerhaven vom 03.–05. Juni 2009 erkennen. Dort heißt es im Kapitel V zu der „Kooperation mit privaten Sicherheitsdienstleistern“: „Die Unternehmen aus dem Dienstleistungsspektrum der privaten Sicherheit sind ein wichtiger Bestandteil der Sicherheitsarchitektur in Deutschland. Sie bieten neben fachlichem Wissen ein breites Portfolio und sind in der Prävention auf vielfältige Weise tätig.“
Diese Kernaussage macht zwar einerseits den qualitativen Bedeutungswandel deutlich, den das private Sicherheitsgewerbe neben anderen gesellschaftlichen Akteuren im letzten Jahrzehnt aufgrund der Nachfrage nach seinen Aktivitäten erfahren hat. Allerdings hält die Innenministerkonferenz zugleich und andererseits gerade in Bezug auf die Sicherheitsunternehmen fest, dass für die „konstruktive Kooperation“ vor allem Seriosität, fachliche Qualifikation und angemessene Ressourcen auf privater Seite unabdingbare Voraussetzungen für die Begründung des Sicherheitspolitischen Mitwirkungsverhältnisses seien.35 33
Zu diesem normativen Verständnis von „collaborative governance“ siehe nur Bauer, „Collaborative Governance“ – ein neues Konzept für die Regulierung der europäischen Stromund Gasmärkte? (Fußn. 22), 9; vgl. ferner Freeman, Collaborative Governance in the administrative state, in: UCLA Law Review, Vol. 45, Nr. 1, S. 21 ff. 34 Siehe nur Pitschas, „Sicherheitspartnerschaften“ der Polizei und Datenschutz, DVBl. 2000, 1805 ff. 35 Hierzu die Stellungnahme des Bundesverbandes Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen (BDWS), in: DSD – Der Sicherheitsdienst H. 3/2009, 20; zu Begriff und Reichweite der rechtsdogmatischen Figur „Sicherheitspolitisches Mitwirkungsverhältnis“ siehe Pitschas (Fußn. 15),127 ff.
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In dieser Aussage spiegelt sich nicht nur eine gewisse Distanz der staatlichen Sicherheitsakteure gegenüber den privaten Sicherheitsdienstleistern wider; erkennbar wird zugleich die Inanspruchnahme einer andauernden und auch insofern „collaborativen“ staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die zivile und innere Sicherheit. Zu ihren Trägern zählt die öffentliche Gewerbeaufsicht ebenso wie die semikollegiale Einordnung privatwirtschaftlicher Sicherheitsangebote und gesellschaftlicher Kriminalitätsabwehr in hoheitliche Sicherheitskonzepte auf der Grundlage des Polizeirechts. III. Sicherheitsunternehmen im Fokus öffentlich-privater Sicherheitspartnerschaft 1. Empirische Grunddaten öffentlich-privater Sicherheitspartnerschaft mit dem Sicherheitsgewerbe a) „Sicherheitsmarkt“ für private Sicherheitsdienste Insbesondere die Herausforderungen an die innere Sicherheit haben in Deutschland wie in der EU im Verlauf der letzten Jahre und in der Folge der voraufgehend ausgeführten Entwicklungsschritte zu einem anhaltenden Ausbau des Sicherheitsgewerbes geführt. Die einschlägigen Wirtschaftsunternehmen haben sich in die vom Staat nur defizitär abgedeckten Bereiche der Prävention bzw. privatautonomen Gefahrenabwehr durch eigene Sicherheitsangebote – wie z. B. das der Ergänzung der polizeilichen Kommunikation durch Aufbau einer digitalen Infrastruktur36 – hineinbegeben. Parallel zum Weltmarkt sieht sich national ein spezifischer Sicherheitsmarkt mit einzelnen Teil-Märkten konstituiert. Auf diesen entfalten die erbrachten Sicherheitsdienstleistungen eine Eigendynamik, die ungeachtet zwischenzeitlicher Ertragseinbrüche in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre und trotz verhaltener Umsätze in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise weltweit und auch in Deutschland anhält37. Die „Sicherheitsindustrie“ erscheint aus dieser Perspektive als ein ungebrochener Wachstumsmarkt. Treiber der Entwicklung sind folgende Teilbereiche: - Innere Sicherheit („Homeland Defense“), - Grenzsicherung/Flughafenkontrolle, - IT-Netzwerksicherheit, - Schutz kritischer Infrastrukturen (z. B. Wasser- und Stromversorgung), - Waren-, Transport-, See- und Hafensicherheit, 36 Pitschas, Wo bleibt der Rechtswandel für digitale Infrastruktur und E-Government?, POLIZEI-heute, 35. Jg. (2006), H. 3, 85 ff.; Behörden Spiegel Nr. II, 26. Jg./5. Woche/Februar 2010, S. 42. 37 Benda, Wachstum in der Wirtschaftskrise, in: CD Sicherheits-Management H. 3/2009, 134 ff.
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- Katastrophenschutz, - Geheimdienstliche Aufklärung. b) Insbesondere: Dynamisches Wachstum der Branche in Sicherheitsdienstleistungen und -technik (weltweit) Neben eigenen Beiträgen zur Sicherung vor Terrorismus oder Sabotage gerät die Notwendigkeit der privaten Sicherung von HabÏ und Gut – und nicht zuletzt des Lebens – immer stärker in das Bewusstsein von Unternehmen und Privatpersonen. Hiervon profitieren in zunehmendem Maße private Sicherheitsdienste, insoweit der Staat dem in Teilen der Gesellschaft wachsenden Grundbedürfnis an Personen- und Objektschutz allein nicht länger nachkommen kann. Im Vordergrund stehen dabei innovative Lösungen zur Verbesserung von technischen Überwachungs-, Gefahrenerkennungs- und Frühwarnsystemen. Weltweit wird vor diesem Hintergrund das Umsatzvolumen der Branche „Sicherheitsdienstleistungen und -technik“ mit etwa 130 Mrd. US-Dollar angegeben (2007).38 Unterteilt man den Markt nach Segmenten, entfällt der Löwenanteil des Umsatzes mit 44 % auf den Personen- und Objektschutz, gefolgt von 28 % auf Alarmanlagen und 9 % auf Sicherheitstransporte. Innerhalb der nächsten Dekade dürfte der globale Markt für Sicherheitsdienstleistungen um 7 bis 8 % p. a. wachsen.39 c) Das Sicherheitsgewerbe in Zahlen (Deutschland) Anzahl der Wach- und Sicherheitsunternehmen:
3.700 insgesamt; davon 353 Mitgliedsunternehmen des BDWS mit ca. 80 % Marktanteil am Gesamtumsatz
Gesamtgewerbe/Beschäftigte:
169.000 Beschäftigte, davon: 119.000 sozialversicherungspflichtig, ca. 50.000 andere Mitarbeiter
Kurzzeitbeschäftigte:
60.000 als Ordnungskräfte, Parkwächter etc. (ca.)
Unternehmenseigener Werkschutz:
70.000 Mitarbeiter (ca.)
insgesamt:
299.000 Beschäftigte; demgegenüber Polizei in Bund und Ländern: 263.840 Beamte
Umsatz:
4,7 Mrd. E
Quelle: Zahlenmaterial des Statistischen Bundesamts und des BDWS; eigene Recherche Stand: 30. 06. 2008/20. 04. 2009/01. 01. 2010/26. 04. 2010
38
12 ff.
Ritter, Weltmarkt der Sicherheit anno 2050, in: CD Sicherheitsmanagement H. 5/08,
39 Zur nationalen Wachstumserwartung vgl. Hossenfelder, Die führenden Sicherheitsdienstleister in Deutschland, in: CD Sicherheitsmanagement, H. 6/10, 126 ff.
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d) Ausbau der beruflichen Infrastruktur im Sicherheitsgewerbe Einen eigenen Beitrag zur staatlichen Einwirkung (Steuerung) auf das Sicherheitsgewerbe hat in dem vergangenen Jahrzehnt auch der Ausbau der beruflichen Grundlagen geleistet: 2002: Einrichtung des dreijährigen Ausbildungsberufs „Fachkraft für Schutz und Sicherheit“ (bis 31. 12. 2005: 2.100 Ausbildungsverhältnisse) 2008: Einrichtung des zweijährigen Ausbildungsberufs „Servicekraft für Schutz und Sicherheit“. Ferner ist die Aus- und Weiterbildung an zertifizierten Sicherheitsfachschulen hervorzuheben: • Luftsicherheitsassistent/-in gemäß § 5 LuftSiG • Fachkraft im Bewachungsgewerbe mit IHK-Sachkundeprüfung • Fachkraft für Justizdienstleistungen • Meister für Schutz und Sicherheit. 2. Öffentlich-private Sicherheitspartnerschaft als Raum faktisch begrenzter Staatlichkeit Die privaten Sicherheitsdienstleistungen sind vor diesem Hintergrund längst zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Gewährleistung der Sicherheit durch Sicherheitsgovernance in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Die immer wieder diskutierte Forderung nach dem Rückzug des Sicherheitsgewerbes aus dem dadurch aufgespannten Sicherheitsnetzwerk würde deshalb bei ihrer Verwirklichung erhebliche Sicherungslücken aufreißen. Diese müssten die Gewissheitsverluste bürgerschaftlicher Sicherheitserwartungen in hohem Ausmaß vergrößern. Mehr noch: Die „Privatisierung“ innerer Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland und der EU ist nicht mehr umzukehren; sie schreitet fort. Empirisch-analytisch bedeutet diese Entwicklung aus der Perspektive der Sicherheitsgovernance die Entstehung eines Raumes begrenzter Staatlichkeit. Der Veränderungstrend im Verhältnis von „Staat“ und „Staatlichkeit“, bezogen auf die effektive Herrschaftsausübung durch Zuweisung von Entscheidungs- und Organisationskompetenzen, ist nämlich unübersehbar.40 Dabei geht es nicht um epochale Brüche politischer Herrschaftsordnung, des ihr jeweils erfließenden Rechts oder auch der damit verbundenen staatlichen Vollzugsgewalt. Vielmehr erscheinen Wandlungen der Staatlichkeit in ihren einzelnen Sekto-
40 Ebenso Hönke, Sicherheit in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 8/2009, 15 (16).
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ren – eben wie z. B. in der inneren Sicherheit41 – über die Jahrhunderte hinweg als jeweils weiterführende Schritte inmitten eines Prozesses der „inneren“ Transformation des modernen Staates. Am Beispiel der Sicherheitsgovernance zeigt sich in diesem Kontext, wie der Staat „zerfasern“ könnte – es sei denn, es gelänge ihm, die vorausliegenden Gewährleistungs- und Koordinationslasten erfolgreich zu schultern. Schlägt aber sein diesbezügliches Verantwortungsmanagement fehl, droht die Privatisierung des Staates jedenfalls in der inneren Sicherheit – mit der Folge des Verlustes seiner Steuerungsfähigkeit gegenüber selbstbestimmten Entwicklungsschritten gewerblicher Sicherheitsanbieter.42 3. Steuerungsdefizite und Legitimationsschwächen öffentlich-privater Sicherheitspartnerschaft a) Defizitäre Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für innere Sicherheit Diese Warnung ist nicht unumstritten. Während viele in der berichteten Entwicklung einen nicht hinnehmbaren Rückzug des Staates aus dem Gewaltmonopol sehen43, führen Sicherheitsunternehmen wie deren Kunden an, dass private Sicherheitsdienste das staatliche Mandat unangetastet ließen und nicht in Konkurrenz zur Polizei treten würden.44 Allerdings wird die Zurückhaltung der öffentlichen Auftraggeber beklagt, kostendeckende Aufträge an das Sicherheitsgewerbe zu vergeben.45 Zurückblickend und über längere Zeit betrachtet, hat sich die Distanz zwischen Polizei und privaten Sicherheitsdienstleistern jedenfalls verringert. Dazu trägt auch die in den letzten Jahren von öffentlicher Seite postulierte Notwendigkeit bei, die Leistungsqualität privater Sicherheitsunternehmen zu verbessern und auf Seiten der privaten Sicherheitsdienstleister weitere Maßnahmen zur Qualitätssicherung ihrer Arbeit zu treffen. Das schon erwähnte Programm „Innere Sicherheit“ der IMK46 stellt in diesem Kontext den Vorschlag zur Diskussion, Unternehmen des privaten Sicherheitsgewerbes zu zertifizieren. Im Übrigen werden staatlicherseits ein bürgerfreundliches Image, qualifiziertes Führungspersonal, Qualitätssicherung durch Aus- und Fortbildung, fachliche Kompetenz und Leistungsfähigkeit abgefor-
41
Vgl. dazu oben im Text zu I. 2. b). Deshalb versucht Artelt, Verwaltungskooperationsrecht – Zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitswirtschaft, 2009, 190 ff., 204 ff. die staatliche Aufsicht zu stärken und Rückholoptionen vorzusehen. 43 So zuerst Hoffmann-Riem (Fußn. 23), 277 ff.; zum derzeitigen Stand der Ansichten vgl. Kämmerer (Fußn. 27), 39 ff. 44 Vgl. Walter, Eine vertane Chance. Das Programm Innere Sicherheit 2009 und private Sicherheitsdienstleister, in: CD Sicherheits-Management H. 6/2009, 116 (121 ff.). 45 Arning, Zuletzt …, in: DSD – Der Sicherheitsdienst H. 2/2009, 44. 46 Auszüge in: DSD – Der Sicherheitsdienst H. 3/2009, 20. 42
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dert. Hoheitliche Aufgaben sollten der Polizei, so fordert diese, vorbehalten bleiben. Eine Beleihung sei ausgeschlossen. Gleiches gelte für den Fall einer noch stärker ausgebauten institutionalisierten Sicherheitskooperation. In der Tat entsprechen diese Vorstellungen langjährig in der Fachdiskussion angestellten Überlegungen.47 b) Legitimationsschwächen privater Sicherheitsdienstleistungen Die eigentliche Schwäche der hier als „collaborativ“ verstandenen und insoweit partizipativ/normativ angelegten Sicherheitsgovernance liegt indes in der aus der „Privatisierung“ von Sicherheit folgenden Verantwortungs- und Legitimitätsproblematik. In dem Maße, in dem vom Staat – wie etwa nach dem Luftverkehrsgesetz48 – den individuellen Freiheitsstatus berührende Präventions- und Schutzaufgaben an das Sicherheitsgewerbe übertragen werden, kommt es einerseits zu einer „schleichenden Entinstitutionalisierung“ flächendeckender Sicherheitsgewährleistung.49 Kontrollverluste bei den Passagierdurchsuchungen sind bspw. die Folge. Andererseits schwinden die Bindungskräfte sicherheitsbezogener Kohäsion in der Gesellschaft: So ist die Frage nicht von der Hand zu weisen, ob nicht beispielsweise der Rückgang der hohen Polizeidichte und hoheitlichen Sicherheitsleistung mit der Folge einer Privatisierung des staatlichen Sicherheitsangebots in den letzten Jahren die Kernaufgabe der Gewährleistung innerer Sicherheit für alle Bürger bedroht, weil im Verlauf dieser Prozesse statt des Staates nunmehr die Kaufkraft bzw. der Markt über den Fortbestand der physischen Existenz und Unversehrtheit der Bürger entscheiden (Stichworte: „gated communities“, privatisierte Strafanstalten, „no-go-areas“).50 Die Struktur bestehender ökonomischer Ungleichheit in der Gesellschaft wird dadurch in eine soziale Ungleichheit der Nutzer von Sicherheit, Mobilität u. a. m. überführt. Andere Kritiker wiederum sehen die Funktionsfähigkeit des Staates durch sich ausbreitende Korruption und mafiöse Strukturen der privat-öffentlichen Vernetzung unterminiert.51 Sich selbst überlassene Elendsviertel und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit in den Städten hierzulande legen zudem die Ankunft der „Dritten“ in der „Ersten Welt“ (die „Versüdlichung des Nordens“) nahe. Darf der vorsorgende (Sozial-)Staat dem tatenlos zusehen?
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Vgl. speziell zur Gegenansicht Stober (Fußn. 13), 19 f. m. w. Nachw. § 29 c Abs. 1 S. 3 Luftverkehrsgesetz (LuftVG) gibt den Luftfahrtbehörden die Möglichkeit, die ihnen obliegenden Personen-, Fracht- und Gepäckkontrollen durch Dritte durchführen zu lassen. 49 Dazu allgemein Ladeur, Der Staat der „Gesellschaft der Netzwerke“, Der Staat 48 (2009), H. 2, 163 (183 ff.). 50 Vgl. dazu z. B. Graf/Paschke/Stober (Hg.), Private Partner für die Justiz, 2006. 51 Hanser/von Trotha, Ordnungsformen der Gewalt, 2002, S. 340 ff., 353; Eppler, Auslaufmodell Staat?, 2005. 48
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IV. Notwendigkeit eines neuen Strategiekonzepts collaborativer Sicherheitsgovernance Der Wandel der Staatlichkeit ist im Bereich der inneren Sicherheit schleichend. Öffentlich-Private Partnerschaften werden hier in Zukunft eher noch an Bedeutung gewinnen. Verantwortlich dafür zeichnet einerseits das Gestaltungsprofil reflexiver Modernisierung. So hat sich die Bundesregierung bereits im November 2005 für eine Weiterentwicklung und Stärkung Öffentlich-Privater Partnerschaften ausgesprochen. Regierungsziel ist es, den Anteil von ÖPP an den öffentlichen Investitionen von derzeit 2 bis 4 % deutlich zu heben. Vermehrte Partnerschaften zwischen der öffentlichen Hand und Privaten zur wirtschaftlichen Erfüllung öffentlicher Aufgaben sind zum anderen im Bereich der Sicherheit aus Gründen zunehmender Sicherheitsgefährdungen (Terrorismusbekämpfung u.a.m.) unvermeidbar. Es wird daher eine gemeinsame Aufgabe von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft – hier insbesondere auch mit dem Sicherheitsgewerbe – sein, entsprechende Partnerschaftsmodelle weiter zu entwickeln. Diese absehbare neue Qualität privater Sicherheitsdienstleistungen erfordert allerdings und zumindest für den Bereich der inneren Sicherheit ein anderes „Design“ der gemischten Sicherheitsverantwortung. Der Ruf nach einer Zertifizierung von Sicherheitsunternehmen weist ebenso wie die Forderung nach ihrer verstärkten Aufsicht den richtigen Weg. Empfohlen wird ein Verwaltungskooperationsgesetz oder eine fachspezifische PPP-Gesetzgebung52. Gleiches gilt für den Sektor der zivilen Sicherheit. Auch für ihn muss das Spannungsfeld zwischen staatlicher Risikosteuerung zur Sicherheitsgewährleistung und der Freiheitlichkeit der Gesellschaft neu ausgelotet bzw. vermessen werden. Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit für den demokratischen Rechts- und vorsorgenden Sozialstaat, der collaborativen Sicherheitsgovernance für die Zukunft ein Strategiekonzept zu unterlegen sowie zu einem Rahmengesetz zu finden. V. Zusammenfassung Resümiert man die Grundlinien der voraufgegangenen Argumentation, so gibt sich im Wandel der Staatlichkeit bei der Gewährleistung innerer und ziviler Sicherheit vermehrt eine öffentlich-private Zusammenarbeit zu erkennen, die dem allgemeinen Trend zur Verankerung einer werthaft verstandenen Verantwortungspartnerschaft von Staat und Gesellschaft folgt. In der daraus entstehenden neuen Architektur innerer Sicherheit wird der Staat als Akteur national und supranational bewusst und gesteuert mit gesellschaftlichen Akteuren zusammengeführt. Auf diese Weise entsteht eine Sicherheitsgovernance, zu deren Begründung sich beide Seiten über die Wahrnehmung von Sicherheitsdienstleistungen miteinander verständigen und
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Näher dazu Pitschas (Fußn. 1),177 ff., 207 ff.; neuerdings auch Artelt (Fußn. 42) 222 ff.
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diese normativ „eingehegt“ zur Sicherung des inneren Friedens in der Gesellschaft erbringen. Als eines der wesentlichen Strukturelemente solcher collaborativen Sicherheitsgovernance fungiert die Gewährleistungsverantwortung des Staates. Diese fügt die Beteiligung und Leistungen gesellschaftlicher Akteure einschließlich privater Sicherheitsunternehmen in das eigene Konzept staatlicher Sicherheitsgewähr ein. Wendet man sich in der Erörterung der collaborativen Sicherheitsgovernance den privatwirtschaftlichen Sicherheitsunternehmen näher zu, so ergeben sich eindrucksvolle empirische Grunddaten ihres Beitrags zu der öffentlich-privaten Sicherheitspartnerschaft. Festzustellen ist, dass national und international lukrative Sicherheitsmärkte für private Sicherheitsdienstleister eröffnet worden sind. Diese unterliegen einem dynamischen Wachstum, das eine erstaunlich hohe volkswirtschaftliche Wertschöpfung durch Sicherheitsunternehmen ermöglicht. Sie wird durch den staatsseitigen Ausbau der beruflichen Infrastruktur für das Sicherheitsgewerbe noch unterstützt. Im Ergebnis lässt die collaborative Sicherheitsgovernance einen Raum faktisch begrenzter Staatlichkeit erkennen. In ihm arbeiten private Sicherheitsdienstleister den staatlichen Sicherheitsakteuren partiell zu, um im Übrigen auf der Grundlage zivilrechtlicher Gestattung die Sicherheitsinteressen der privaten Auftraggeber bis hin zum Personenschutz eigenständig zu vertreten. Allerdings befinden sich in der inneren Sicherheit weite Teile der collaborativen Sicherheitsgovernance in der Krise. Einerseits erweist sich die Wahrnehmung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die innere Sicherheit mehr und mehr als defizitär. Andererseits unterliegt vor allem die Legitimität kollaborativer Sicherheitsgovernance beträchtlichen Einbussen. Angesichts vergleichbarer Themenfelder gilt dies auch für den Bereich der zivilen Sicherheit. Für die einheitliche Sicherheitsgovernance leitet sich daraus die Notwendigkeit eines neuen Strategiekonzepts sowie sektorspezifischer Rahmengesetzgebung ab.
Grundrechtlicher Kernbereich und Gefahrenabwehr: Verfahren, Rechtsschutz, Schadensersatz Von Josef Ruthig I. Einführung Genauso wie die Gefahren des internationalen Terrorismus den hohen Stellenwert eines Anspruchs der Bevölkerung auf Sicherheit ins allgemeine Bewusstsein rücken1, drohen sie den Blick auf die damit verbundene Gefährdung der Freiheit zu verstellen. Sicherheit scheint einen partiellen Verzicht auf Freiheit zu bedingen. Für die Polizeirechtswissenschaft bedeutet es einen Paradigmenwechsel, wenn als Konsequenz gefordert wird, das klassische Instrumentarium „um neuartige Formen der Risikosteuerung und polizeilichen Informationsvorsorge zu ergänzen“2. Das als dogmatische Errungenschaft begrüßte Informationsverwaltungsrecht scheint die an ihre Grenzen gekommene, defizitäre Polizeirechtsdogmatik zu überlagern3. In deutlichem Kontrast dazu zieht sich das Festhalten an den dogmatischen Strukturen unter gleichzeitiger Betonung der Notwendigkeit eines effektiven Grundrechtsschutzes wie ein roter Faden durch das wissenschaftliche Oeuvre des Jubilars, das auch die Schüler geprägt hat4. Effektiver Grundrechtsschutz bewegt sich im Dreieck von Polizeirechtsdogmatik, effektivem Rechtsschutz und flankierender Staatshaftung. Die Gefahr, die grundsätz1 Grundlegend zu einem „Grundrecht auf Sicherheit“ Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht. Aspekte der Geschichte, Begründung und Wirkung einer Grundrechtsfunktion, 1987. Zu dieser Diskussion auch die Beratungen der Hamburger Staatsrechtslehrertagung 2003, vgl. Brugger, VVDStrL 63 (2004), 101; Gusy, VVDStrRL 63 (2004), 151 (168 ff.). Monographisch zum Polizeirecht vor allem Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 37 ff., 84 ff.; zusammenfassend S. 651 f. 2 Möstl (Fußn. 1), S. 652. 3 Vgl. dazu exemplarisch den Beitrag von Gusy in dieser Festschrift. 4 Diese erfolgte in nunmehr mehr als 20 Jahren nicht nur durch die Mitarbeit des Verfassers an den Lehrbüchern und Beiträgen des Jubilars, sondern auch in gemeinsamen Projekten, von gemeinsamen Untersuchungen zum Anscheinsstörer – vgl. Schenke/Ruthig, VerwArch 87 (1996), 329 – bis zu den an die Lehrstuhltätigkeit anschließenden Projekten des Mannheimer Arbeitskreises für Strafprozess- und Polizeirecht: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002; Wolter/Schenke/Rieß/Zöller (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen, 2003; Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/ Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008.
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lich mindestens eine „konkrete“ Gefahr meint5, und die – davon zu unterscheidende6 – Verantwortlichkeit bzw. Störereigenschaft übernehmen daher die zentrale Aufgabe eines Grundrechtsschutzes durch das Polizeirecht. Der Hinweis auf die Effektivität staatlicher Gefahrenabwehr kann diesen grundrechtlichen Ansatz genauso wenig in Frage stellen wie der Verweis auf ein Grundrecht auf Sicherheit und die vermeintlichen Grenzen der Polizeirechtsdogmatik. Ganz im Gegenteil erweist es sich als defizitär, wenn man den staatlichen Schutzauftrag in der Gefahrenabwehr auf die Gewährleistung von Sicherheit konzentriert, obwohl gerade dem Gefahrenabwehrrecht primär eine ganz andere Schutzaufgabe zukommt, nämlich die Sicherung der Freiheitssphäre des Bürgers durch rechtsstaatliche Begrenzung gefahrenabwehrrechtlichen Handelns. Ganz auf dieser Linie liegt das Grundanliegen der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur, sind doch die Grundrechte die rechtsstaatlichen Leitplanken, an denen sich das BVerfG bei der immer wieder neuen, nicht zuletzt auch durch neue technische Möglichkeiten und deren Nutzung für die polizeiliche Informationsgenerierung bedingten Nachjustierung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit orientiert7. Vor allem zu nennen sind aus dem letzten Jahrzehnt die Urteile zu Wohnraumüberwachung, Rasterfahndung, Online-Durchsuchung, automatischer Kennzeichenerfassung und – mit stark europarechtlichem Einschlag – zur Vorratsdatenspeicherung8. Diese zeigen nicht nur das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit9 und entwickelten die zentralen Bausteine des Datenschutzrechts10, sondern hatten maßgeblichen Einfluss auf die neuere Entwicklung der Polizeirechtsgesetzgebung. In sämtlichen Entscheidungen hat das BVerfG der pauschalen Verabschiedung des Gefahrenbegriffes aus dem Tatbestand polizeilicher Standardmaßnahmen eine deutliche Absage erteilt. Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die „benachbarten“ Grundrechte sind immer dann bedenklich, wenn sie auf bloße Verdachtslagen abstellen und (bzw. oder) der Kreis 5 Dem steht selbstverständlich nicht entgegen, dass die Anforderungen teilweise durch qualifizierte Gefahrenbegriffe noch verschärft werden, zu Beispielen Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (POR), 7. Aufl. 2011, Rn. 78; Ruthig/Fickenscher, in: Hendler/Hufen/Jutzi, Landesrecht Rheinland-Pfalz, 5. Aufl. 2009, § 4 Rn. 43. 6 Krit. zur Tendenz der Koppelung von Gefahr und einem bestimmten (potentiellen) Verursacher daher Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 69; Möstl, DVBl 2010, 808 (810); Darnstädt, DVBl 2011, 263 (267 f.). 7 Zum Erfordernis einer solchen Neujustierung Papier, DVBl 2010, 801. Ausführlich auch die nach Abschluss des Manuskripts erschienene Arbeit von Weber, Die Sicherung rechtsstaatlicher Standards im modernen Polizeirecht, 2011. 8 Zu nennen sind insbesondere BVerfGE 109, 279 ff. – Wohnraumüberwachung; 112, 304 ff. – GPS; 113, 348 ff. – Telekommunikationsüberwachung; 115, 320 ff. – Rasterfahndung; 120, 274 ff. – Onlinedurchsuchung; 120, 378 ff. – Kennzeichenüberwachung; 125, 260 ff. – Vorratsdatenspeicherung. Zu all diesen ausführlich der Jubilar in seinen Lehrbüchern zum Polizei- und Ordnungsrecht. 9 Dazu der Beitrag von Papier in dieser Festschrift. 10 Gurlit, NJW 2010, 1035.
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der Betroffenen unüberschaubar wird. Ihren Ausgangspunkt nahm diese Judikatur im Volkszählungsurteil, in dem das BVerfG die Speicherung „von personenbezogenen Daten auf Vorrat zu unbestimmten und noch nicht bestimmbaren Zwecken“ ausdrücklich ablehnte11 und damit der Informationsgenerierung und -speicherung von Polizeibehörden enge und in den späteren Entscheidungen konkretisierte Grenzen setzte. Die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in den Polizeigesetzen der Länder hat auch dort zu einer „Renaissance“ der konkreten Gefahr geführt. Dies gilt, um nur den wohl aktuellsten Fall zu nennen, auch bei der erstmals in Art. 34d BayPAG12 polizeirechtlich geregelten Datenerhebung durch den Einsatz technischer Mittel in informationstechnischen Systemen13 und vollzieht sich sehr wohl an der Grenze von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik14. Ob dabei die bundesverfassungsgerichtliche Sonderdogmatik für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und vor allem die extensive Betonung des Bestimmtheitsgrundsatzes15 überdacht werden müsste, soll hier genauso dahinstehen wie die Frage, ob der bundesverfassungsgerichtliche Gefahrenbegriff16 und das Verständnis von Polizeirecht als Rechtsgüterschutzrecht und die daraus gezogenen Konsequenzen17 in allen Punkten zu überzeugen vermögen. Im Mittelpunkt der Überlegungen soll vielmehr eine weitere, bisher für das Polizeirecht noch nicht bewältigte Herausforderung stehen. Mit der These von der verfassungsrechtlichen Unzulässigkeit von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung hat das BVerfG gerade im Bereich der Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine zusätzliche Verteidigungslinie für die Grundrechte 11 BVerfGE 65, 1 (46 f.); s. außerdem besonders deutlich BVerfGE 100, 313 (360). Zur Besonderheit der Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung, die eine anlasslose Speicherung (bei Telekommunikationsunternehmen) unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erachtet s. Albers/Reinhardt, ZJS 2010, 769 (771): „nicht unerheblich aufgeweicht“. Allerdings ist zu beachten, dass die näheren Modalitäten der Speicherung sich aus dem Unionsrecht ergaben, so dass eine Deutung der Entscheidung angesichts der Gemengelage aus Unions- und Verfassungsrecht sich als sehr schwierig gestaltet. 12 Dazu Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 197; Käß, BayVBl. 2010, 1. Ebenso nunmehr auch § 31c POG RP. 13 Vgl. BVerfGE 120, 274 ff. 14 Beispielhaft die Gesetzesbegründung zu § 15a HSOG: Die dort geregelte Telekommunikationsüberwachung sei nur für die Abwehr unmittelbar bevorstehender Gefahren für bestimmte hochwertige Rechtsgüter vorgesehen und unterliege einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung. Eine Überwachung zur Bekämpfung von Straftaten im Vorfeld einer konkreten Gefahr „solle es in Hessen nicht geben“, s. LT-Drucks. 16/2352, 118. 15 Diesen verortet es unmittelbar im Grundrecht, vgl. BVerfGE 65, 1 (46 ff.); 113, 348 (375); 118, 168 (186). 16 Dazu, dass das BVerfG sich dabei „recht weit auf polizeirechtliches Terrain vorgewagt“ und den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff zu definieren versucht hat s. Möstl, DVBl 2008, 808, 808 f. 17 Krit. unter diesem Aspekt zur Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung und die Ablehnung straftatenbezogener Eingriffstatbestände im Polizeirecht Schenke, POR (Fußn. 5) Rn. 197d; Möstl, DVBl 2010, 808 (811 f.).
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entwickelt und aus dieser sehr wohl konkrete Forderungen abgeleitet, die über die „normalen“ Standards hinauszureichen scheinen18. Indem die Gesetzgeber diese Vorgaben umzusetzen versuchten, wurde der Begriff des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ zu einem Begriff des einfachen Rechts. Dies betraf zunächst nach dem Urteil zur Wohnraumüberwachung strafprozessuale Beweisverwertungsverbote19, hielt aber zunehmend auch auf dem Gebiet des Polizeirechts Einzug. Die meisten Polizeigesetzgeber vollzogen die jeweiligen Entscheidungen durch Einzelregelungen, die sich bis in die Formulierung hinein am BVerfG orientierten. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz wurde der Kernbereichsschutz maßnahmenübergreifend in einer einheitlichen Vorschrift zusammengefasst20. Der Jubilar wird ein solches Bemühen nach Systematisierung und Effektuierung des Grundrechtsschutzes trotz praktischer Schwierigkeiten21 als Polizei- wie als Verfassungsrechtler begrüßen, sich aber andererseits auch nicht vorschnell vom vermeintlichen Fortschritt blenden lassen. Dies gilt um so mehr, als die Regelungen weder den Begriff des Kernbereichs definieren noch die daraus zu ziehenden Konsequenzen regeln. Einige grundsätzliche und teilweise kritische Überlegungen zu einem solchen Kernbereichsschutz, seiner praktischen Umsetzung und vor allem seinen Konsequenzen sind daher der ideale Gegenstand für einen Festschriftbeitrag zu Ehren des Jubilars. Dies um so mehr, als sie aus dem Polizeirecht herausführen und in die Frage einmünden, inwieweit es einen Grundrechtsschutz „erster Klasse“ für den Kernbereich gibt oder geben kann. Da gerade die Kernbereichsrechtsprechung für das vermeintliche Dilemma um die Selbstbestimmungsrechtsprechung des BVerfG verantwortlich gemacht wird22, handelt es sich bei dem postulierten Kernbereichsschutz vielleicht doch nicht um das Ei des Kolumbus, sondern um hybride Auswüchse einer überzogenen Grundrechts- bzw. Datenschutzjudikatur. Vielleicht soll es aber auch 18
Vgl. zum Kernbereichsschutz nach dem Urteil zur strafprozessualen Wohnraumüberwachung Warntjen, Heimliche Zwangsmaßnahmen und der Kernbereich privater Lebensgestaltung, 2007; Roxin, FS Böttcher, 2007, 159; Wolter, FS Küper, 2007, 707; zur Rasterfahndung Welsing, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen der Terrorabwehr, 2009; zur Online-Durchsuchung Gudermann, Online-Durchsuchung im Lichte des Verfassungsrechts. Die Zulässigkeit eines informationstechnologischen Instruments moderner Sicherheitspolitik, 2010, 196 ff. Überblick auch bei Desoi/Knierim, DÖV 2011, 398; Gurlit, Kernbereich privater Lebensgestaltung in der deutschen und europäischen Verfassungsordnung, in: Der Hessische Datenschutzbeauftragte/Der Präsident des Hessischen Landtags (Hrsg.): Privatheit und Datenschutz, 16. Wiesbadener Forum Datenschutz, 2007, S. 15; Nettesheim, VVDStRl 70 (2011), 7 ff. s. auch den Beitrag von Son in dieser Festschrift. 19 Nach den ausdrücklichen Regelungen in den §§ 100a IV 2, 100c V 3 StPO dürfen „Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung“ bzw. Erkenntnisse über „Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind“, nicht verwertet werden. 20 § 16 PolG NRW; § 39a POG RP. 21 Zu diesen am Beispiel der Wohnraumüberwachung Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 194 in Fußn. 496. 22 Pointiert etwa Gurlit, NJW 2010, 1035 (1039); s. auch dies. (Fußn. 18), S. 15: „… so könnte ein Aufsatzthema im Deutschleistungskurs lauten“.
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nur das rechtsstaatliche Gewissen beruhigen, wenn angesichts der komplexeren Bedrohungen, aber auch neuer technischer Möglichkeiten immer weitere Grundrechtsbegriffe zugelassen werden, an die zum Zeitpunkt des Volkszählungsurteils noch nicht zu denken war. Jedenfalls handelte es sich wohl in der Tat um einen „kühnen Schritt von der Theorie in die Praxis“23. Dies um so mehr, als auch die dogmatischen Grundlagen keineswegs geklärt und einfachgesetzlich umgesetzt sind. II. Der Kernbereich privater Lebensgestaltung: Versuch einer Annäherung 1. Das Fehlen einer Definition Bereits die Suche nach einer Definition des Kernbereichs erweist sich schon auf der Ebene des einfachen Rechts als wenig ergiebig. Die polizeirechtlichen Vorschriften stellen den Kernbereich privater Lebensgestaltung zwar ausdrücklich unter Schutz, definieren ihn aber genauso wie zuvor der StPO-Gesetzgeber24 allenfalls ansatzweise. Lediglich § 5 VII ThürPAG enthält eine positive Umschreibung25, während die anderen Polizeigesetze den Begriff voraussetzen26, allenfalls teilweise27 oder negativ28 regeln bzw. sich auf bereichsspezifische, dem informationellen Selbstbestimmungsrecht geschuldete Detailregelungen, also Kennzeichnungsgebote, den Löschungsanspruch oder ein Verwendungsverbot29 konzentrieren. Beispielhaft zu nennen ist hier § 39a IV POG RP, der darüber hinaus auch die „Sachleitung“ des 23
Roxin, FS Böttcher, 2007, 159 (161). Bei der Novellierung des § 100c StPO wollte dieser die Konkretisierung der Rechtsprechung überlassen, vgl. BT-Drucks. 15/4533 S. 14; s. auch Nack, in: Karlsruher Kommentar, 6. Aufl. 2008, StPO § 100c Rn. 21. 25 Dieser lautet wie folgt: „Der Kernbereich privater Lebensgestaltung im Sinne dieses Gesetzes umfasst innere Vorgänge wie Empfindungen, Gefühle, Überlegungen, Ansichten und Erlebnisse höchstpersönlicher Art, aber auch Gefühlsäußerungen, Äußerungen des unbewussten Erlebens, Ausdrucksformen der Sexualität sowie die Kommunikation mit Personen des besonderen Vertrauens, wie 1. engsten Familienangehörigen, beispielsweise Ehepartnern, Lebenspartnern, Geschwistern oder Verwandten in gerader Linie, 2. sonstigen engsten Vertrauten, über derartige Inhalte, soweit diese keine Hinweise auf konkrete begangene oder geplante Straftaten enthalten und keinen unmittelbaren Bezug zu Gefahren haben“. 26 Vgl. beispielsweise §§ 20h, 20k, 20l BKAG; §§ 3a, 5a Art. 10-Gesetz. 27 Vgl. § 16 V PolG NRW: Schutz auch des Vertrauensverhältnisses zu Berufsgeheimnisträgern. 28 Vgl. § 25 IVa 2 und 3 BerlASOG: „Gespräche in Betriebs- oder Geschäftsräumen sind in der Regel nicht dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen. Das Gleiche gilt für Gespräche über begangene Straftaten und Verabredungen oder Aufforderungen zu Straftaten“; ähnlich § 33 IV BremPolG. Nach § 29 VI BbgPolG werden – wie nach der thüringischen Definition – außer Äußerungen in Betriebs- und Geschäftsräumen auch „Äußerungen und Handlungen mit unmittelbarem Bezug zu einer dringenden Gefahr“ aus dem Kernbereichsschutz ausgenommen. 29 Art. 34 V 3, 34c V, VI BayPAG. 24
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für die Überprüfung zuständigen OVG vorsieht. Für den Begriff selbst verweisen die Materialien auf die Rechtsprechung des BVerfG30. Aber auch diese liefert keine wirkliche Definition, so dass „die tatbestandliche Reichweite dieses Kernbereichs […] noch in vielem klärungsbedürftig“ ist31. In seiner Entscheidung zur Wohnraumüberwachung, die erstmals den Kernbereichsschutz bei heimlichen Informationseingriffen thematisierte, ging das BVerfG in Anknüpfung an eine auf die Elfes-Entscheidung zurückreichende Rechtssprechungskette davon aus, dass es einen absolut geschützten Bereich gibt, in den der Staat unabhängig von einer Güterabwägung nicht eindringen dürfe32, verzichtete aber auf eine Definition. Eher beispielhaft werden die „Beobachtung von Äußerungen innerster Gefühle oder von Ausdrucksformen der Sexualität“ erwähnt33. Freilich darf die Entscheidung nicht isoliert betrachtet werden. Grundlegend konzipiert hatte das BVerfG den Kernbereichsschutz in der ebenfalls in Bezug genommenen Tagebuchentscheidung34, in der die Unterscheidung zwischen bestimmten Grundrechtssphären aufgegeben und der Bezug zur Menschenwürde hervorgehoben wurde. Entsprechend hat auch die Entscheidung zur Wohnraumüberwachung zunächst den Menschenwürdegehalt des Kernbereichsschutzes betont35, dann darauf hingewiesen, er werde in Art. 13 GG konkretisiert, lasse sich aber nicht räumlich fixieren. Auch die Reichweite des Schutzes bleibt unklar. Dass der Kernbereich „staatlicher Beobachtung absolut entzogen“ sei36, bedeutete keinen absoluten räumlichen Schutz, da die Verfassung „zwar nicht einen absoluten Schutz der Räume der Privatwohnung, wohl aber absoluten Schutz des Verhaltens in diesen Räumen“ verlange, „soweit es sich als individuelle Entfaltung im Kernbereich privater Lebensgestaltung darstellt“. Mit dem Bezug zur Menschenwürde ist nicht allzu viel gewonnen, prägt dieser doch den gesamten Bereich des Datenschutzrechts. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung genauso wie das jüngste Glied in der Kette, das Grundrecht auf Gewährleistung der
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Vgl. ausdrücklich für § 39a POG RP die LT-Drucks. 15/4879 S. 40. Durner, in: Maunz/Dürig, Art. 10 GG Rn. 15; s. auch Lepsius, Jura 2006, 929 (936); Poscher, JZ 2009, 269 ff.; Volkmann, DVBl 2008, 590 (593). 32 BVerfGE 109, 279 (313): „Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen“. Ausdrücklich zitiert werden an dieser Stelle als Beleg für den Kernbereichsschutz BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes; 27, 1 (6) – Mikrozensus; 32, 373 (378 f.) – G 10-Entscheidung; 34, 238 (245) – Tonbandaufnahme; 80, 367 (373) – Tagebuchentscheidung. 33 BVerfGE 109, 279 ff. 34 BVerfGE 80, 367 (373). In dieser Entscheidung hat das BVerfG die frühere Unterscheidung der drei Sphären zum allg. Persönlichkeitsrecht (Intimsphäre, Privatsphäre und Sozialsphäre) zugunsten der Kernbereichslehre aufgegeben und damit Ansätze des Volkszählungsurteils aufgegriffen. 35 BVerfGE 109, 279 (314 f.); pointiert auch VerfGH RP, NVwZ-RR 2007, 721 (724 f.). 36 So die Deutung der Entscheidung von Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, 2009, GG Art. 1 Rn. 26. 31
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Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme,37 verdanken schon ihre Kreation dem Bezug zu allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Menschenwürde. Trotzdem ist gerade beim Recht auf informationelle Selbstbestimmung selbst keinesfalls geklärt, was den Kernbereichsschutz ausmacht38. Allenfalls besteht Einigkeit darüber, dass der „Kern des Kernbereichsschutzes“ jedenfalls die Sphäre des absolut Privaten (Tagebuch und Selbstgespräch) sowie den Kontakt innerhalb besonderer Vertrauensverhältnisse betrifft. Da bereits der Kernbereich nicht abschließend definiert ist, fehlt es auch an seiner Umsetzung in konkrete Handlungsanweisungen, was um so mehr überrascht als dieser Kernbereich „absolut“ zu schützen sein soll, was in der Literatur zur These geführt hat, er sei zwar absolut geschützt, aber abwägungsoffen39. In der Entscheidung zur Online-Überwachung hat das BVerfG die These entwickelt, der „verfassungsrechtlich gebotene Kernbereichsschutz“ lasse sich „im Rahmen eines zweistufigen Schutzkonzepts gewährleisten“. Bei näherer Betrachtung verbirgt sich dahinter allerdings lediglich die polizeirechtliche Selbstverständlichkeit, dass die Datenerhebung möglichst unterbleibt und andernfalls, „dann, wenn Daten mit Bezug zum Kernbereich privater Lebensgestaltung erhoben worden sind, die Intensität der Kernbereichsverletzung und ihre Auswirkungen für die Persönlichkeit und Entfaltung des Betroffenen so gering wie möglich bleiben“40. Insoweit werden die Verwertungsverbote und Löschungsansprüche relevant. Gerade der Bezug zur Tagebuchentscheidung ruft jedoch in Erinnerung, dass die Reichweite dieses Schutzes immer dann fraglich wird, wenn Kernbereichsbezug und strafbares Verhalten miteinander verwoben sind. Offen bleibt außerdem, welche Bedeutung diesem Kernbereichsschutz im präventivpolizeilichen Kontext zukommt, wo er sich nicht auf ein Verwertungsverbot beschränken kann, ja häufig gerade ein Verwertungsverbot nicht überzeugt. Es wäre jedenfalls wenig plausibel, entsprechende Kenntnisse etwa über den Aufenthaltsort einer Geisel oder eines potentiellen Vergewaltigungsopfers nicht auch dann zum Rechtsgüterschutz heranzuziehen, wenn sie aus einem Tagebuch oder der Überwachung höchstpersönlicher Vertrauensverhältnisse stammen. Genau dies erklärt die „Schutzbereichslösung“ der meisten Normen, die Äußerungen über Straftaten oder drohende Gefahren bereits aus dem Begriff dieses Kernbereichs heraus-
37 Dieses soll zu dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung sowie den Freiheitsgewährleistungen der Art. 10 und Art. 13 GG hinzutreten, soweit diese keinen oder keinen hinreichenden Schutz gewähren, vgl. BVerfGE 120, 274 ff. Gerade insoweit als der heimliche Zugriff auf ein informationstechnisches System dazu dient, Daten auch insoweit zu erheben, als Art. 10 I GG nicht vor einem Zugriff schützt, bleibt nach Auffassung des BVerfG eine Schutzlücke, die durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen zu schließen ist, BVerfGE 120, 274 ff. 38 Vgl. dazu BVerfGE 109, 279 (312 ff.); ausf. Warntjen (Fußn. 18). 39 Baldus, JZ 2008, 218 (224) und schon im Titel des Beitrags; hierzu auch Classen, JZ 2009, 689 (691); Nettesheim, VVDStRl 70 (2011), 7 (24 f.). 40 BVerfGE 120, 274 (338).
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nimmt41. Andererseits entwertet man den Kernbereich als solchen, wenn in der (berechtigten) Erwartung solcher Erkenntnisse eine heimliche Überwachungsmaßnahme zugelassen wird, die das Potential zu einem Kernbereichseingriff in sich trägt, ja sich letztlich darüber hinwegsetzt, auch wenn dies als Schutzbereichsbegrenzung und nicht als Eingriff bezeichnet wird. Darf man also im Ergebnis den potentiellen Geiselnehmer oder Vergewaltiger in der Hoffnung überwachen, er werde – wenn auch in Selbstgesprächen oder gegenüber nahen Angehörigen – entsprechende Hinweise liefern, die eine Gefahrenabwehr ermöglichen? Insoweit ist das BVerfG in der Tat „in die Nähe einer Quadratur des Zirkels geraten“42. Auch das später entwickelte „zweistufige Schutzkonzept“ konnte dieses Problem nicht auflösen, so dass die eigentliche Bedeutung der Online-Überwachungsentscheidung für den Kernbereichsschutz in dessen Relativierung durch die aufgezeigten Grenzen (dazu im Einzelnen unten IV. 1.) liegt. 2. Der ungeklärte Zweck des Kernbereichsschutzes Genauso undeutlich wie die Reichweite bleibt die Frage nach Sinn und Zweck dieses Schutzes. Auf den ersten Blick scheint er ein Korrektiv für besonders schwere Grundrechtseingriffe zu sein, betonte ihn das BVerfG doch in der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung, bei der die besondere Schwere des Eingriffes wohl unumstritten war43. Weniger eindeutig stellte sich die Lage beim verfassungsrechtlich nicht unter Richtervorbehalt gestellten Post- und Telekommunikationsgeheimnis dar44, bei dem bereits in der Abfrage von Verbindungsdaten ein schwerwiegender Eingriff gesehen wurde45. Wegen der Konvergenzen zwischen Art. 10 bzw. 13 GG als der bereichsspezifischen und geschriebenen Grundrechte und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung verwundert es nicht, dass das BVerfG auch im Zusam-
41 Classen, JZ 2009, 689 (698) sieht dies bereits in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur angelegt. Dass dies die Abgrenzungsschwierigkeiten nicht löst, sondern nur verlagert, zeigt sich daran, dass das BVerfG die aus dem Kernbereich herausgenommenen Äußerungen über Straftaten von solchen abzugrenzen versuchte, die „ausschließlich innere Eindrücke und Gefühle wiedergeben und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthalten“, aber nicht schon dann aus dem Kernbereichsschutz herausfallen, „wenn sie Ursachen oder Beweggründe eines strafbaren Verhaltens freizulegen vermögen“, BVerfGE 109, 279 (332). An diesem Versuch einer Schutzbereichsbegrenzung entfachte sich daher auch die Kritik an der damaligen Entscheidung, s. nur Roxin, FS Böttcher, 2007, 159 (164 ff.). 42 Wolter, FS Küper, 2007, 707 (717) zur Entscheidung zur Wohnraumüberwachung. 43 BVerfGE 109, 279 (353). 44 Einerseits wurde von schwerwiegenden Eingriffen unabhängig davon gesprochen, ob sie den Inhalt – BVerfGE 110, 33 (53) – oder nur die äußeren Umstände der Kommunikation betrafen – BVerfGE 113, 348 (364 f.); 115, 166 (183); 120, 274 (307). An anderer Stelle findet sich allerdings die These, dass „der Inhalt der Kommunikation in höherem Maße als Kommunikationsdaten schutzwürdig ist“, BVerfGE 112, 304 (315 f., 318 f.) – GPS; 124, 43 (62) – Beschlagnahme von E-Mails. 45 BVerfGE 107, 299 (321).
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menhang mit der Rasterfahndung schwere Grundrechtseingriffe anerkannte46. Im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung als dem bisher jüngsten Fall aus dieser Reihe nahm das Mehrheitsvotum gar einen „besonders schweren Eingriff“47 an. Die gesetzgeberische Anordnung eines Richtervorbehalts wird dabei als Indiz für die Schwere des mit der angeordneten Maßnahme verbundenen Grundrechtseingriffs gewertet48. Dennoch differenzierte das BVerfG ganz offensichtlich zwischen der Frage schwerer Grundrechtseingriffe und dem Kernbereich. So deutet die Entscheidung zur Online-Durchsuchung eine Alternativität zwischen beiden an, wenn sie von Grundrechtseingriffen spricht, die „besonders geschützte Zonen der Privatheit berühren oder eine besonders hohe Eingriffsintensität aufweisen“. Und bereits die Entscheidung zur Wohnraumüberwachung stellte klar, dass die Heimlichkeit der Maßnahme zwar regelmäßig die besondere Schwere solcher Eingriffe begründen kann, aber nicht allein den notwendigen Bezug zur Menschenwürde herstellt. Wenn dann – insbesondere im Kontext der Online-Überwachung – gar auf die technische Umsetzbarkeit eines Kernbereichsschutzes aber auch die befürchtete missbräuchliche Inanspruchnahme hingewiesen (dazu unten) und auch dadurch die Absolutheit eines solchen Schutzes relativiert wird, wird vollends deutlich, dass allein der Verweis auf die abwägungsfeste Menschenwürde den Telos des Kernbereichsschutzes nicht angemessen umschreibt. 3. Kernbereichsschutz und Gesetzesvorbehalt Kommt man dem (verfassungsrechtlichen) Begriff des Kernbereichs also auch im Wege der teleologischen Auslegung nur begrenzt näher, so scheint die notwendige Klärung zur genuinen Aufgabe des Gesetzgebers zu werden, hat doch das BVerfG seit dem Volkszählungsurteil die große Bedeutung von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz betont49 und durch die Forderung bereichsspezifischer Rechtsgrundlagen den datenschutzkonformen Umbau des Polizeirechts eingeleitet. Vor allem die Entscheidung zur (strafprozessualen) Wohnraumüberwachung schien diesen strengen Gesetzesvorbehalt auch – und vielleicht sogar in ganz besonderer Weise – auf den Kernbereichsschutz zu beziehen. Während das Minderheitsvotum der 46 BVerfGE 115, 320 (347 ff.): Informationseingriffe „von erheblichem Gewicht“. Die Schwere sah es keineswegs nur in der Vielzahl der potentiell Betroffenen, sondern auch dem potentiell höchstpersönlichen Charakter der gerasterten Daten. 47 BVerfGE 125, 260 (309 f.). Demgegenüber bestritt das Minderheitsvotum (Rn. 314) diese Einschätzung. Die „regelhaft auf der Rechtsanwendungsebene durch den anordnenden Richter überprüften und strikt eingeschränkte“ Abfragen „unter prozeduralen, sichernden Vorkehrungen begründeten aus Sicht des einzelnen betroffenen Grundrechtsträgers keinen solchermaßen gewichtigen Grundrechtseingriff, dass es gerechtfertigt wäre, diesen als ,besonders schwerÐ zu bewerten und damit als einen der größtdenkbaren Eingriffe in das Grundrecht zu klassifizieren“. 48 Vgl. schon BVerfGE 107, 299 (325). 49 Zum Zusammenhang von Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsanforderungen z. B. BVerfGE 120, 274 (315 ff.); 120, 378 (407 f.).
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Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt50 den unabdingbaren Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bereits in der Verfassung hätte konkretisiert sehen wollen und diese selbst für zu unbestimmt hielt,51 hielt es die Senatsmehrheit, die das Anliegen des Kernbereichsschutzes sehr wohl teilte, für ausreichend, „dass seine gesetzliche Ausgestaltung die Erhebung von Informationen durch die akustische Überwachung von Wohnungen dort ausschließen muss, wo die Ermittlungsmaßnahme in den durch Art. 13 I i.V.m. Art. 1 I und Art. 2 I GG geschützten unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung vordringen würde“52. Und selbst dort, wo es in neueren Entscheidungen den Ansatz zu relativieren scheint53, indem es auf die Frage der technischen Machbarkeit abstellt54, wird der Gesetzesvorbehalt betont. Es sei „dem Grunde nach gesetzlich sicherzustellen, dass sich dieser [Sicherheitsstandard] an dem Entwicklungsstand der Fachdiskussion orientiert, neue Erkenntnisse und Einsichten fortlaufend aufnimmt und nicht unter dem Vorbehalt einer freien Abwägung mit allgemeinen wirtschaftlichen Gesichtspunkten steht“55. Gesetzesvorbehalt und Offenheit der Verfassung als Rahmenordnung bedingen sich hier gegenseitig. Wenn dann aber die einfachgesetzlichen Vorschriften diese Konkretisierung ihrerseits ebenfalls nicht leisten und die allgemein gehaltenen Formulierungen des BVerfG schlichtweg wiederholen, so trifft jedenfalls sie das Verdikt der Unbestimmtheit und – führt man die Entscheidung zu Art. 13 GG konsequent zu Ende – der Verfassungswidrigkeit56. Aber gerade darin scheint das Dilemma der jüngsten Entwicklung zu liegen. Im immer dichter gesponnenen Netz der Anforderungen an bereichsspezifische Regelungsdichte, Voraussehbarkeit und Bestimmtheit wird vom Gesetzgeber etwas verlangt, was er ganz offensichtlich jedenfalls beim ersten gesetzgeberischen Zugriff57 kaum zu leisten in der Lage ist58. Wenn sie sich beim anschließenden Nachbessern auf ein „Abschreiben“ der verfassungsrechtlichen Kernaussagen be50
BVerfGE 109, 279 (382 ff.). Sie hielten es nicht für zulässig, dass eine Verfassungsänderung erst verfassungskonform ausgelegt werden müsse, um den Maßstäben des Art. 79 III GG zu genügen. Damit setze Art. 13 III GG „den Schein einer zulässigen Grundrechtseinschränkung, die den nach Art. 79 III GG gewährleisteten Verfassungsstandard nicht einhält“, BVerfGE 109, 279 (389). 52 BVerfGE 109, 279 (326). 53 So etwa die Deutung von Gurlit, NJW 2010, 1035 (1039); ähnlich Volkmann, DVBl 2008, 590 (593). 54 Vgl. BVerfGE 120, 274 (338). 55 BVerfGE 125, LS 4. 56 Zur Unzulänglichkeit der Verfahrensvorkehrungen im Einzelnen Petri, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, H 308; dazu, dass sich solche auch nicht im Wege verfassungskonformer Auslegung entwickeln lassen etwa BGHSt 54, 69, der aber zugleich eine Verwertbarkeit solcher Erkenntnisse im Strafverfahren bejaht. Für Verfassungskonformität der Regelungen allerdings zu § 29 POG RP VerfGH NVwZ-RR 2007, 721 (724 f.). 57 s. Volkmann, DVBl 2008, 590 zur Verfassungswidrigkeitserklärung der Regelungen zur Online-Überwachung in NRW: „Manchmal bestraft das Leben auch den, der zu früh kommt.“ 58 Vgl. nur Gurlit, NJW 2010, 1035 (1038) und Möstl, DVBl 2010, 808 (813): „dogmatische Sackgasse“. 51
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schränkten, durften die Gesetzgeber allerdings auf Milde hoffen, hatte doch das Gericht selbst weder klare Maßstäbe für den Kernbereichsschutz entwickelt noch explizit auf etwaige Ausgestaltungsspielräume hingewiesen, die dann allerdings für den Gesetzgeber gleichzeitig eine Ausgestaltungs- und Konkretisierungspflicht bedeutetet hätten. III. Ein Zwischenergebnis Fällt der Befund der Kernbereichsdogmatik auf den ersten Blick eher ernüchternd aus, so könnte man dies entweder als Beleg für eine insgesamt verfehlte Sonderdogmatik des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bzw. der heimlichen Informationseingriffe heranziehen, zu einer Rekonstruktion desselben aufrufen oder zumindest festhalten, dass jedenfalls die Kernbereichsdogmatik der kontinuierlichen Erosion der Freiheitssphäre nicht wirksam Einhalt geboten hat. Dies wäre allerdings für das Polizeirecht in zweierlei Hinsicht zu kurz gegriffen. 1. Kernbereichsschutz durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Zum einen ist daran zu erinnern, dass im Polizeirecht effektiver Grundrechtsschutz vor allem „normintern“ durch das Festhalten an den Tatbestandsvoraussetzungen des klassischen Polizeirechts gewährleistet wird. Damit hängt im „beweglichen System“ des Gefahrenbegriffs die Möglichkeit des Einschreitens von den gefährdeten Rechtsgütern und der drohenden Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ab, aber genauso auch von der Verantwortlichkeit des Betroffenen, so dass die Einbeziehung unbeteiligter Dritter oder gar einer Vielzahl von Nichtbetroffenen im Regelfall ausscheidet. Damit sich teilweise überschneidend stellt auch das Übermaßverbot eine „wichtige rechtliche Schranke für das polizeiliche Handeln“ dar, die bereits das Entschließungsermessen, vor allem aber auch das Auswahlermessen begrenzt59 und gerade auch für den Kernbereichsschutz relevant wird60: Da in vielen Fällen mehr als eine einzige Gefahrenabwehrmaßnahme in Betracht kommen dürfte, kann eine mögliche Kernbereichsgefährdung bereits das Auswahlermessen determinieren. Gibt es weniger einschränkende Eingriffe, ist vorrangig auf diese milderen Mittel zurück zu greifen.61 Außerdem sind im Einzelfall die Schwere der Straftat und die Anzahl der durch die Maßnahme möglicherweise betroffenen unbeteiligten Dritten gegeneinander abzuwägen.62 Selbst wenn es ausnahmsweise keine Alternativen geben sollte, kann die 59
Dazu ausf. Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 331 ff. Insoweit zwischen Kernbereichsschutz und allgemeinen Anforderungen differenzierend Petri, in: Lisken/Denninger (Fußn. 56), H 21 ff. und 25 ff. 61 Dazu bereits Ruthig, JuS 1998, 506 (515). 62 Dies ist als Grundsatz allgemein anerkannt. So hat etwa für eine vergleichbare strafprozessrechtliche Konstellation BGH NStZ 2002, 107 eine Funkzellenüberwachung nach § 100g StPO (nur) dann zugelassen, wenn zur fraglichen Tatzeit in der entsprechenden Funk60
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im Einzelfall besonders große Nähe einer konkreten Maßnahme zum Kernbereich dazu führen, dass sich ihr Einsatz als unverhältnismäßig darstellt. Hier wird also allein durch die Anwendung allgemein anerkannter Grundsätze des Polizeirechts in vielen Fällen ein effektiver Schutz des Kernbereichs erreicht. Soweit Alternativen bestehen, wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip regelmäßig zum absoluten Kernbereichsschutz63. Zusätzlich verschärft das Nebeneinander unterschiedlicher Maßnahmen gegenüber einem Betroffenen bis hin zur „Rundumüberwachung“ die Eingriffsintensität und erhöht daher den Rechtfertigungsbedarf proportional zur Überwachungsdichte. Obwohl das Verhältnismäßigkeitsprinzip damit theoretisch einen umfassenden Kernbereichsschutz zu garantieren scheint, kann es in der Praxis diese Funktion nur begrenzt übernehmen. Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Mitteln kommt vor dem Hintergrund der zum Zeitpunkt des Einschreitens beschränkten Kenntnisse, aber auch Ermittlungsmöglichkeiten dem handelnden Amtsträger ein gerichtlich nur begrenzt überprüfbares Auswahlermessen zu. Gerade deswegen bedarf der Kernbereichsschutz zusätzlicher verfahrensmäßiger Absicherungen. 2. Kernbereichsschutz durch Verfahren Dass Grundrechtsschutz immer auch eine Verfahrensdimension hat, wird in besonderer Weise nicht nur überall da relevant, wo das materielle Recht allein nicht zur einzig richtigen Entscheidung führt bzw. wie im vorliegenden Fall, eine generell-abstrakte Regelung der Vielzahl der Einzelfälle nicht gerecht werden kann, sondern immer auch dann, wenn der Kernbereich eines Grundrechts in Frage steht. Genau dies zeigte sich im Kontext anderer Ausprägungen einer Kernbereichsdogmatik, in der Rechtsprechung zu Art. 9 GG und zu Art. 14 GG. Beim in besonderer Weise auf gesetzgeberische Konkretisierung angewiesenen und insoweit normgeprägten Eigentum markierte der Kern das – der gesetzgeberischen Ausgestaltung entzogene und insoweit ebenfalls unantastbare – Mindestmaß eines privatnützig verstandenen Eigentumsschutzes64, dem jedenfalls in der Literatur ebenfalls ein enger Zusammenhang mit der Menschenwürde zugesprochen wird65. Wenn es dort in der neueren Judikatur von einem Abwägungs- und Prinzipienmodell abgelöst wurde66 und deswezelle nur geringer Telekommunikationsverkehr stattgefunden hat. Vgl. auch Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Auflage 2008, § 100g Rn. 5. 63 MVVerfG LKV 2000, 345 (352 f.); ebenso schon Ruthig, JuS 1998, 506 (515) zu Art. 13 GG; s. auch Schenke, DVBl 1996, 1393 (1397 f.). 64 Zusammenfassend Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 266 f. m.w.N. aus der Rspr. 65 Vgl. Axer, in: Epping/Hillgruber, Art. 14 GG Rn. 1; Papier, NJW 1991, 193, 195 f. Das BVerfG hat weniger eindeutig in Art. 14 GG „ein elementares Grundrecht“ gesehen, „das in einem inneren Zusammenhang mit der Garantie der persönlichen Freiheit“ stehe, s. BVerfGE 24, 367 (389); 30, 292 (334); 50, 290 (339). 66 Zusammenfassend Cornils (Fußn. 64), S. 535.
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gen die Renaissance vergleichbarer Ansätze im Kontext des Datenschutzes überraschen mag, so hat das BVerfG aus diesem Ansatz Folgerungen abgeleitet, die die Abkehr vom Kernbereichsmodell sehr wohl überdauert haben und die besondere Bedeutung verfahrensrechtlicher Absicherungen grundrechtlicher Garantien exemplarisch verdeutlichen67. Gerade wegen der Betonung eines der Gestaltung des Gesetzgebers entzogenen Kernbereichs ist Art. 14 GG „in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Ausgangspunkt einer spezifischen Standortbestimmung des – gerichtlichen und exekutivischen – Verfahrensrechts geworden, die in der allgemeinen These eines Grundrechtsschutzes durch Verfahrensrechtsgestaltung gipfelt“68. Eng damit verbunden ist der neben Art. 19 IV GG stehende „grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz“, der die Funktion der Gerichtsbarkeit unmittelbar prägt: „Sie haben nicht nur die negative Verpflichtung, mit der Verfassung nicht in Einklang stehende Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche zu unterlassen, sondern auch die positive Verpflichtung, die Grundrechte durchzusetzen“69. Ähnliche Überlegungen lassen sich auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung übertragen. Auch dort kommt der Verfahrensgestaltung die entscheidende, bisher aber noch nicht voll entfaltete Bedeutung für den Kernbereichsschutz zu70. Dies könnte gleichzeitig erklären und rechtfertigen, warum eine nähere Eingrenzung des Kernbereichsschutzes bisher noch nicht erfolgt ist. Gleichzeitig aber zeigt der Vergleich mit Art. 14 GG, dass es weniger um die Gewährleistung des Kernbereichsschutzes in einem konkreten Einzelfall als darum geht, die potentielle Gefährdung des Kernbereichs zum Anlass für eine Stärkung des Verwaltungsverfahrens zu nehmen. IV. Konkretisierungen 1. Die Verfahrensgestaltung: Abbruch bzw. Beendigung der Maßnahme Diese Vermutung bestätigt die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur. Ausdrücklich dem Kernbereichsschutz zugeordnet sind die verfahrensmäßigen Sicherungen, die das BVerfG im Urteil zur Wohnraumüberwachung entwickelt und der Gesetzgeber mittlerweile in die einschlägigen Normen integriert hat. Aus der Erkenntnis heraus, dass allein ein späteres Verwertungsverbot nicht ausreichen kann, zumal es gerade im polizeirechtlichen Kontext auch erheblicher Einschränkungen bedarf, 67
Grundlegend zu den prozeduralen Garantien des Art. 14 GG das Hamburger Deichurteil, BVerfGE 24, 367 (401); besonderes deutlich aus jüngerer Zeit BVerfG NJW 2009, 1259 (Räumung einer Wohnung im Rahmen der Zwangsverwaltung); s. auch Axer, in: Epping/ Hillgruber, Art. 14 GG Rn. 20; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 43. 68 So zutreffend Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 GG Rn. 43 unter Bezugnahme auf BVerfGE 37, 132 (141, 148); 46, 325 (334); 49, 220 (225) und mit Nachweisen aus der Literatur in Fußn. 1. 69 BVerfGE 49, 252 (257). Dazu näher Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 13 GG Rn. 45 ff. 70 s. auch schon Wolter, FS Küper, 2007, 707 (715, 716 f.).
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und möglicherweise auch angeregt durch rechtsvergleichende Hinweise auf die USA und deren rigide Überwachungspraxis71, forderte das BVerfG vom Gesetzgeber „hinreichende Vorkehrungen dafür […], dass die Überwachung abgebrochen wird, wenn unerwartet eine Situation eintritt, die dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen ist“, und qualifizierte die Fortsetzung der Überwachung in solchen Fällen als „rechtswidrig“72. Bis in die Formulierung hinein fand diese Forderung Eingang in die Polizeigesetze. So verlangt etwa § 29 IV POG RP, dass „Abhörmaßnahmen der Polizei unverzüglich zu unterbrechen sind, sofern tatsächliche Anhaltspunkte ergeben, dass Daten erfasst werden, die dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung zuzurechnen sind“. Offen blieb die Frage der praktischen Umsetzung. Das BVerfG selbst legte sich hier eine ungewöhnliche Zurückhaltung auf, so dass man der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung nicht ganz ohne Grund mangelnde Bestimmtheit konstatierte73. Jedenfalls wurde zu Recht auf die Schwierigkeit hingewiesen, kernbereichsrelevantes und nicht kernbereichsrelevantes Verhalten abzugrenzen, „ohne in den Kernbereich einzudringen, der doch gerade absolut geschützt sein soll“74. In der Entscheidung zur Online-Überwachung griff es die Modalitäten der Überwachung wieder auf75. Zu unterbleiben hat die Datenerhebung (nur?), „soweit wie informations- und ermittlungstechnisch möglich“ (Rn. 281) und selbst wenn davon auszugehen ist, dass der Kernbereich betroffen sein wird, ist die Überwachung zulässig, „wenn zum Beispiel konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass kernbereichsbezogene Kommunikationsinhalte mit Inhalten verknüpft werden, die dem Ermittlungsziel unterfallen, um eine Überwachung zu verhindern“. In der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung hatte es immerhin angedeutet, dass dies einen Verzicht auf eine automatische Überwachung bedeuten kann76.
71 Im damaligen Verfahren lagen dem BVerfG insbesondere auch die im Auftrag des Bundesjustizministeriums erstellten Arbeiten des Mannheimer Arbeitskreises vor; vgl. dort zu den USA Ruthig, Ermittlungsmaßnahmen und Zeugnisverweigerungsrechte in ausländischen Rechtsordnungen. Landesbericht USA/Kalifornien, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, Berlin 2002, S. 521 ff. m.ausf.N.; s. allerdings zur Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September Banks, Minn. L. Rev. 91 (2007), 1209 m.w.N. 72 BVerfGE 109, 279 (331 ff.). 73 Wegen mangelnder Bestimmtheit, so Krey, FS Schwind, 2006, 725 (734), tendiere „die Bindungswirkung jener These des 1. Senats gegen Null“. 74 Kutscha, NJW 2005, 20 (21). 75 BVerfGE 120, 274 (335 ff.). 76 BVerfGE 109, 279 (324). In der Entscheidung zur Online-Überwachung heißt es dagegen, die Datenerhebung werde „schon aus technischen Gründen zunächst automatisiert erfolgen“, BVerfGE 120, 274 (339). Dies könnte man als Möglichkeit deuten, auf den Schutz auf der 1. Stufe zu verzichten. Man könnte dies aber auch so verstehen, dass in einem solchen Fall die Überwachung allenfalls in Ausnahmefällen zulässig sein dürfte.
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a) Live-Überwachung Diese Einschätzung trifft zu. Will man sicherstellen, dass auch bei unerwarteten Situationen sofort reagiert werden kann, wie es die soeben zitierte Formulierung verlangt, so müsste wie in den USA77 eine „Live-Überwachung“ vorgenommen werden, die von den Polizeibeamten jederzeit unterbrochen werden kann78. Insoweit kann man der Behörde auch trotz der Formulierung in der Entscheidung zur Online-Überwachung nicht den Hinweis auf (im Einzelfall fehlende) informations- oder ermittlungstechnische Möglichkeiten gestatten, will man den Kernbereichsschutz nicht völlig leer laufen lassen. Es würde jedenfalls nicht genügen, zunächst eine weitere Aufzeichnung zuzulassen, dann aber unverzüglich eine Entscheidung des anordnenden Gerichts (oder einer anderen Stelle) über die Verwertbarkeit der Aufzeichnung und die Fortführung der Maßnahme herbeizuführen, wie sie der Bundesrat bei der Novellierung des § 100c StPO vorgeschlagen hatte79. Denn auch die Entscheidung zur Online-Überwachung ließ dies nur als zweite Stufe des Schutzkonzepts zu80. Alleine die Kosten würden die Zahl der nach bisheriger Praxis durchgeführten automatisierten Überwachung drastisch reduzieren, auch wenn das BVerfG diesen verfahrensrechtlichen Schutz auf den Schutz des Kernbereichs begrenzt. Da dessen räumliche Bestimmung aus verschiedenen Gründen jedenfalls nicht abschließend möglich erscheint und nach Auffassung des BVerfG eine Überwachung keinesfalls nur dann untersagt ist, falls ein Eingriff „allein in den Kernbereich privater Lebensgestaltung“ zu erwarten ist81, ließe sich jedenfalls bei Privatwohnungen eine LiveÜberwachung kaum vermeiden82. Da das BVerfG keinen Abbruch der Überwachung, sondern nur deren Unterbrechung verlangt, bedürfte es weiterer verfahrensmäßiger Vorkehrungen, wie sie etwa in den USA mit dem Verfahren der sog. minimization vorgehalten und aus dem Verfassungsrecht abgeleitet werden83. Danach dürfen etwa Telefongespräche mit Vertrauenspersonen oder auch Dritten überhaupt nicht abgehört werden, wenn sie sich anhand der Telefonnummer identifizieren lassen. Anderen Gesprächen dürfen die Beamten für ca. 2 – 5 Minuten zuhören; sofern sich kein Zusammenhang mit dem Zweck der Anordnung ergibt, ist für 2 – 3 Minuten zu unterbrechen, um dann mit dem sog. spot checking für 1 Minute zu überprüfen, ob es 77 Dazu bereits Ruthig, GA 2004, 587 (602 f.); dazu Warntjen (Fußn. 18), S. 66 ff. Krit. vor allem Krey, FS Schwind, 2006, 725 (734): „Verkennung der Realität“. 78 Vgl. auch BVerfGE 109, 279 (332). 79 Vgl. BT-Drucks 15/4533 S. 23, 27; dazu Nack, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, § 100c Rn. 28: „einleuchtender Vorschlag“. 80 BVerfGE 120, 274 (338 f.). 81 Zur StPO etwa Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (114); s. auch Roggan, NVwZ 2007, 1238 (1239). 82 Vgl. Weyand, DRiZ 2004, 2004, 167; im Ergebnis wohl auch Warntjen (Fußn. 18), S. 120 f. 83 Auch dazu bereits ausf. Ruthig, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte (Fußn. 71), S. 538 f.; ders., GA 2004, 587 (602 f.); insoweit geht der Einwand von Warntjen (Fußn. 18), S. 67 gegen diese Ausführungen fehl.
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weiterhin keinen Zusammenhang gibt. Gerade die Live-Überwachung gibt die Möglichkeit und damit in den USA auch die verfassungsrechtlich verankerte Pflicht, nicht nur die zum Kernbereich gehörenden, sondern auch alle nicht relevanten Daten auszusondern84. Mangelnde Praktikabilität kann man diesem Ansatz angesichts der Erfahrungen in den USA kaum vorwerfen85. Für die Ermittlungspraxis bedeutet dies, wie die USA belegen, nicht nur höhere Kosten, sondern auch größere Ermittlungserfolge. b) Behördenleitervorbehalt Vor allem bei der Rasterfahndung haben die Landesgesetzgeber einen Behördenleitervorbehalt vorgesehen, teilweise muss sogar das zuständige Ministerium zustimmen86. Auch diese verfahrensrechtliche Sicherung hat ein Vorbild in den USA, wo allerdings auch die zur Anordnung befugten Beamten direkt gewählt werden, so dass diese öffentliche Kontrolle auch bewusst eingesetzt wird, um eine möglichst restriktive Anordnungspraxis zu gewährleisten87. Weil dies in Deutschland nicht der Fall ist, stellen weite Teile der Literatur den Wert einer solchen „Eigenkontrolle“ durch die anordnende Behörde grundsätzlich in Abrede. Obschon das damit verbundene Begründungserfordernis für den sie beantragenden Beamten und die Konkretisierungspflicht des Behördenleiters jedenfalls zu einer besonders sorgfältigen rechtlichen Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen führt88 und der Behördenvorbehalt insoweit sehr wohl als Kontrollmechanismus taugt, differenzieren auch die Polizeirechtsgesetzgeber nach der Eingriffsintensität und erachten den Richtervorbehalt als den wirkungsvolleren Schutz. c) Ermöglichen nachträglichen Rechtsschutzes durch Mitteilungspflichten und Auskunftsansprüche Bei heimlichen Maßnahmen kommt den Mitteilungspflichten bzw. Auskunftsansprüchen erhebliche Bedeutung zu, da erst diese dem Betroffenen Kenntnis verschaffen und die Möglichkeit des Rechtsschutzes eröffnen89. Verfassungsrechtlich hat das BVerfG den Rahmen in einigen zentralen Entscheidungen abgesteckt. Bereits im ers84 Vgl. nur die Grundsatzentscheidung Scott v. US, 43 U.S. 128, 142 (1976): „A large number were ambiguous in nature, making characterization virtually impossible until the completion of these calls. And some of the nonpertinent conversations were one-time conversations. Since these calls did not give the agents an opportunity to develop a category of innocent calls which should not have been intercepted, their interception cannot be viewed as a violation of the minimization requirement“. 85 So aber Weißer, GA 2006, 148 (151). 86 Zu den Regelungen im Einzelnen s. Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 190. 87 Ruthig, in: Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte (Fußn. 71), S. 531. 88 Dazu schon Lisken/Mokros, NVwZ 1991, 609 (613); s. auch Welsing (Fußn. 18), S. 243 ff. 89 Vgl. Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 188, 192.
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ten Abhörurteil90 stellte sich die Frage der Zulässigkeit der Einschränkung der Benachrichtigung des Betroffenen (Art. 10 II 2 GG). Mittlerweile sind solche Auskunftsansprüche und ihre Grenzen einfachgesetzlich geregelt91. Dabei genügen diese Regelungen nicht in allem den Vorgaben des BVerfG. Dieses hält es zwar für ausreichend, wenn eine Benachrichtigung erst erfolgen soll, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks und von Leib und Leben einer Person geschehen könne92. Als problematisch sah das BVerfG es an, wenn die Zurückstellung auch bei einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder des weiteren Einsatzes eines verdeckten Ermittlers unterbleiben kann. Entsprechend ist etwa auch die in § 40 II POG RP vorgesehene Interessenabwägung problematisch und dies um so mehr, als ihre Einhaltung auch nicht verfahrensrechtlich durch die Einschaltung eines Gerichtes abgesichert ist93. 2. Richtervorbehalt Den in der Verfassung nur bei Eingriffen in die Freiheit und das Wohnungsgrundrecht vorgesehenen Richtervorbehalt hat das einfache Recht auf sämtliche heimlichen Informationseingriffe ausgeweitet. Während die Literatur ihn überwiegend für nicht verfassungsrechtlich gefordert hielt94, scheint das BVerfG gerade bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen den Richtervorbehalt als unverzichtbare Verfahrensvorkehrung anzusehen95. Dort kommt ihm in der Tat eine entscheidende Bedeutung zu, allerdings anders als bei der „offenen“ Freiheitsentziehung nicht als eine Form vorbeugenden Rechtsschutzes96, sondern als „kompensatorische Repräsentation 90 BVerfGE 30, 1 (26 f.); s. dazu Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 IV (Drittbearbeitung 2009), Rn. 127; s. auch BVerfGE 109, 279; 100, 313. 91 Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 194b, 197. 92 BVerfGE 109, 279 (365 f.). 93 Zu § 101 I 2 StPO, wo ein Gericht immerhin einmal eingeschaltet wird s. BVerfGE 109, 279 (367 f.). § 40 II POG RP eröffnet lediglich die Möglichkeit zur Einschaltung des Datenschutzbeauftragten. 94 Dazu bereits Schenke, DVBl 1996, 1393 (1400). 95 In der Entscheidung zur Online-Durchsuchung forderte das BVerfG vordergründig nur die „vorbeugende Kontrolle durch eine unabhängige Instanz“, sah den gesetzgeberischen Spielraum „bei der Entscheidung über die kontrollierende Stelle und das anzuwendende Verfahren“ bei einem „Grundrechtseingriff von besonders hohem Gewicht“ allerdings dahingehend eingeschränkt, dass die Maßnahme „grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen“ sei, vgl. BVerfGE 120, 274 (331 ff.). Da das BVerfG seine Schrankendogmatik bei sämtlichen Ausprägungen des Schutzes der informationellen Selbstbestimmung parallel entwickelt, lassen sich diese Überlegungen auch auf die anderen Grundrechte, insbes. den Art. 10 GG übertragen; s. auch Britz, DÖV 2008, 411 (415); Baldus, in: Epping/Hillgruber, GG Art. 10 Rdnr. 45; Durner, in: Maunz/Dürig, GG Art. 10 Rn. 152 m.w.N. 96 So aber beispielsweise Ibler, in: Berliner Kommentar zum GG, 2011, Art. 19 IV, Rn. 231; Rachor, in: Lisken/Denninger (Fußn. 56), K 39 und wohl auch BVerfGE 51, 97 (111); 96, 44 (51 f.). Ausf. dazu, dass ein solches Verständnis schon daran scheitert, dass die Ausgestaltung der Richtervorbehalte, insbesondere das Fehlen der Gewährung rechtlichen Gehörs den Anforderungen des Art. 19 IV GG nicht gerecht würde, Schenke (Fußn. 90), Art. 19 IV Rn. 658; ders., POR (Fußn. 5), Rn. 192.
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der Interessen der Betroffenen im Verwaltungsverfahren“97. Soll dieser allerdings mehr als eine Alibifunktion übernehmen98, bedarf aber auch die Ausgestaltung desselben besonderer Aufmerksamkeit. a) Zuständigkeit und Verfahren Herkömmlich wurden im Anschluss an die älteren Regelungen zur Freiheitsentziehung auch bei neu eingeführten Richtervorbehalten die Amtsgerichte für zuständig erklärt. Daneben findet zunehmend, etwa bei der jüngsten Novelle in RheinlandPfalz, eine Verlagerung für Richtervorbehalte für heimliche Datenerhebungen auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit statt99. Eine solche ist grundsätzlich zulässig, richtigerweise bereits deswegen, weil die Tätigkeit des Richters bei heimlichen Maßnahmen zwar nicht den Anforderungen des Art. 19 IV GG genügt und deswegen nicht an die Stelle des späteren Rechtsschutzes treten kann100, sehr wohl aber richterliche Tätigkeit darstellt101, so dass die Übertragung auch nicht gegen § 39 VwGO verstößt102. Allerdings müssen Richtervorbehalte auch in ihrer konkreten Ausgestaltung die organisatorischen Anforderungen an eine zeit- und sachangemessene Wahrnehmung der dem Richter übertragenen Kontrollbefugnisse gewährleisten.103 Dies gilt für die Organisation der (örtlichen) Zuständigkeit104, insbesondere auch für die Frage, 97
BVerfGE 120, 274; zustimmend Schenke (Fußn. 90), Art. 19 IV Rn. 658. So aber mit Bezug auf den Ermittlungsrichter nach der StPO die Kritik von Gusy, ZRP 2003, 275. 99 Die Regelung findet sich in § 29 VI POG RP, auf den für die weiteren heimlichen Maßnahmen in den §§ 31, 31b, 31c, 31d und 31e verwiesen wird. Bei offenen Maßnahmen, also der Freiheitsentziehung und Wohnungsdurchsuchung (§§ 15, 21 POG RP) sowie §§ 28 IV 6, 31 a III 2 POG bleibt es demgegenüber bei der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte. 100 Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 192 m.w.N.; ders., JZ 2005, 116 ff. 101 Schenke (Fußn. 90), Art. 19 IV Rn. 387; a.A. Rachor, in: Lisken/Denninger (Fußn. 56), K 43: Ausübung vollziehender Gewalt. 102 Nicht überzeugend daher das Argument, die Öffnungsklausel des § 4 II Nr. 2 DRiG, wonach ein Richter außer Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt auch andere aufgrund Gesetzes zugewiesene Aufgaben wahrnehmen dürfe, gelte auch für die Landesgesetzgeber und ergänze insoweit als lex posterior den § 39 VwGO, so aber Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO § 39 Rn. 9; Kimmel, in: Posser/Wolff, VwGO § 39 Rn. 4; Schmidt-Räntsch, DRiG § 4 Rn. 32; dagegen zu Recht Kopp/Schenke, VwGO § 39 Rn. 3; Stelkens, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO § 39 Rn. 2: Zulässigkeit landesgesetzlicher Richtervorbehalte nur, wenn es sich dabei nicht um Verwaltungstätigkeit iSd § 39 VwGO handelt. Zur Anordnung von Kontrollstellen nach dem früheren § 14 II NdsSOG bereits Lüdemann, DÖV 1996, 870; Berlit, NdsVBl 1995, 197; a.A. Rachor, in: Lisken/Denninger (Fußn. 56), F 408; VG Osnabrück, NdsVBl 1994, 64. 103 s. dazu allgemein Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 144. 104 Wenn also der novellierte § 29 VI POG RP die Zuständigkeit nicht nur auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit verlagert, sondern gleichzeitig anstelle der „ortsnäheren“ Verwaltungsgerichte das OVG für zuständig erklärt, so muss gewährleistet werden, dass auch nachts und am Wochenende eine unverzügliche richterliche Entscheidung herbeigeführt werden kann. Selbst dann allerdings ist die Zentralisierung um so weniger überzeugend als das Gesetz 98
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unter welchen Voraussetzungen wegen Gefahr im Verzug eine solche richterliche Anordnung unterbleiben kann, genauso wie für die Intensität der richterlichen Kontrolle. Aber auch die Anforderungen an Form und Inhalt der richterlichen Anordnung selbst hat das BVerfG bereits in der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung betont105. Insoweit hat es zu Recht an seine Rechtsprechung zu Durchsuchungsanordnungen im Rahmen des Art. 13 GG angeknüpft und insoweit wichtige Weichenstellungen vorgenommen, die erst recht bei heimlichen Maßnahmen Geltung beanspruchen. Gerade der richterliche Beschluss soll dazu beitragen „die Durchführung der Eingriffsmaßnahme messbar und kontrollierbar zu gestalten“106, woraus sich unmittelbar Anforderungen an die zeitliche Nähe zwischen Anordnung und Durchführung einer Maßnahme, aber vor allem auch an den notwendigen Inhalt eines solchen Beschlusses und die Anforderungen an Ausnahmen bei Gefahr im Verzug ergeben. Insoweit kann auch auf die Kammerentscheidungen zur Blutentnahme nach § 81a II StPO107 verwiesen werden. b) Kernbereichsprognose Im vorliegenden Kontext wird der Richter aber auch zum Schutz des Kernbereichs aktiviert. Mindestens genau so entscheidend wie die materiellrechtliche Frage, ob eine Datenerhebung nur dann zu unterbleiben hat, wenn zu erwarten ist, dass allein kernbereichsrelevante Daten erhoben werden108, kommt es also darauf an, ob und nach welchen Maßstäben der Richter das Vorliegen eines Erhebungsverbotes zu überprüfen hat; insoweit erfährt das Instrument des Richtervorbehalts in der Tat eine Funktionsänderung109. Hinzu kommt im vorliegenden Kontext die Überprüfung der von der Behörde damit auch näher darzulegenden Kernbereichsprognose, aus der sich ganz konkrete Begrenzungen von Anordnungen ergeben können. Im Einzelnen sind diese freilich noch zu entwickeln. Je stärker aber die gerichtliche Kontrolle in diesem Kontext wird, desto häufiger wird sich auch die Frage nach dem Geheimnis-
gleichzeitig die richterliche Position erheblich stärkt und ihm die Verfahrensherrschaft einräumt (dazu sogleich). In dieser Zentralisierung liegt auch ein entscheidender Unterschied zur Regelung im BKAG, auf die sich der rheinland-pfälzische Gesetzgeber bezieht (vgl. LTDrs. 15/4879 S. 30). Dort wird statt (eines) AG am Sitz des BKA der BGH zuständig, während im Polizeirecht statt der Amtsgerichte, in deren Bezirk die Polizeibehörde ihren Sitz hat, einheitlich das OVG in Koblenz für zuständig erklärt wird. Kein durchschlagender Einwand ergibt sich aus der Tatsache, dass gegen die OVG-Entscheidung keine Beschwerde möglich ist. 105 BVerfGE 109, 279 (357 ff.). 106 So zum Durchsuchungsbeschluss BVerfGE 20, 162 (224) 103, 142 (151); NStZ-RR 2005, 203 (205). 107 BVerfG, NJW 2007, 1345; NJW 2010, 2864; ausf. Überblick bei Metz, NStZ-RR 2010, 232 (271); s. auch Peglau, NJW 2010, 2850. 108 Zur entsprechenden Kritik an § 20k BKAG vgl. etwa Roggan, NJW 2009, 257 (261). 109 Gurlit (Fußn. 18), S. 20.
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schutz stellen, die aber – wie in anderen Bereichen auch – nicht als solche eine Einschaltung des Richters ausschließt110. c) Zusätzliche Datensichtung vor Weiterverwertung Eine neue Variante richterlicher Kontrolle hat sich im Anschluss an das Zweistufenkonzept der Entscheidung zur Online-Überwachung entwickelt. Danach hat der Gesetzgeber auch nach der Erhebung möglicherweise kernbereichsrelevanter Daten, den Schutz „durch geeignete Verfahrensvorschriften sicherzustellen“ (Rn. 282). Entscheidende Bedeutung für den Schutz habe „insoweit die Durchsicht der erhobenen Daten auf kernbereichsrelevante Inhalte, für die ein geeignetes Verfahren vorzusehen ist, das den Belangen des Betroffenen hinreichend Rechnung trägt. Ergibt die Durchsicht, dass kernbereichsrelevante Daten erhoben wurden, sind diese unverzüglich zu löschen. Eine Weitergabe oder Verwertung ist auszuschließen“. Insoweit erfüllt diese Sichtung also eine vergleichbare Funktion wie sie ansonsten einer Live-Überwachung zukommt111. Obwohl diese Formulierung auch eine ausschließlich behördeninterne Datensichtung zu ermöglichen scheint, wird sie etwa in § 20k VII 3 BKGG und § 39a IV 1 POG RP dadurch in den Richtervorbehalt einbezogen, dass die Auswertung der erhobenen Daten nur unter Sachleitung des Gerichtes erfolgen darf112. Über die Tauglichkeit einer solchen Sachleitungsbefugnis wird aber erst die praktische Ausgestaltung entscheiden. 3. Nachträglicher Rechtsschutz bei heimlichen Maßnahmen a) Großzügige Zulassung der Verfassungsbeschwerde Das BVerfG gewährt Rechtsschutz durch die großzügige Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz bei heimlichen Eingriffen. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerdebefugnis muss der Betroffene geltend machen, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen zu sein. Von einer eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist bereits dann auszugehen, wenn der Beschwerdeführer darlegen kann, dass er mit einiger Wahrschein110 Auch zu diesen Gefährdungen schon Krey, FS Schwind, 2006, 725 (735). Die Lösung kann wie in anderem Zusammenhang aber auch hier nicht im Verzicht auf die Vorlage, sondern im Geheimnisschutz im Verfahren liegen. Zum in camera-Verfahren und der (auch verfassungsrechtlich) geforderten Weiterentwicklung der Jubilar: im Kontext von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen Schenke (Fußn. 91), Art. 19 IV GG Rn. 711 f.; ausf. ders., in: Kluth/ Rennert, Entwicklungen im Verwaltungsprozess, 2008, S. 117 ff.; s. auch Ruthig, in: Baur/ Salje/ Schmidt-Preuß, Regulierung in der Energiewirtschaft, 2011, § 58 Rn. 45 ff. 111 In den USAwird sie daher auch als postminimization bezeichnet, vgl. Ruthig, in: Wolter/ Schenke (Hrsg.) (Fußn. 71), S. 539. 112 Davon zu unterscheiden ist die eigentliche Datensichtung, die nicht durch den Richter, sondern durch zwei Polizeibeamte zu erfolgen hat, von denen einer die Befähigung zum Richteramt hat, vgl. § 20k VII 3 BKAG; § 39b IV 2 POG RP.
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lichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird113. Da sich beispielsweise die akustische Wohnraumüberwachung nicht auf Maßnahmen gegen Störer beschränkt, besteht praktisch für jedermann die Möglichkeit, Objekt einer solchen Maßnahme zu werden114. Allerdings bedarf die Unmittelbarkeit der Betroffenheit besonderer Prüfung. Grundsätzlich ist Voraussetzung einer unmittelbaren Rechtsbeeinträchtigung, dass ein Akt der Rechtsanwendung zwischen die abstrakte gesetzliche Regelung und die Rechtssphäre des Klägers tritt. Ein Kläger, der das Gesetz selbst angreift, muss deshalb geltend machen können, gerade durch die angegriffene Rechtsnorm und nicht erst durch ihren Vollzug in seinen Rechten verletzt zu sein115. Allerdings kann sich die Verfassungsbeschwerde ausnahmsweise unmittelbar gegen ein vollziehungsbedürftiges Gesetz richten, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil es ihn nicht gibt oder weil er keine Kenntnis von der Maßnahme erlangt116. An der letztgenannten Voraussetzung scheint im vorliegenden Kontext die Zulässigkeit zu scheitern, da – verfassungsrechtlich zwingend geboten – die Betroffenen jedenfalls nachträglich informiert werden müssen. Dennoch hat das BVerfG die hier drohende Rechtsschutzlücke geschlossen. Die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ist aber nicht nur dann zulässig, wenn die Betroffenen zu keinem Zeitpunkt Kenntnis von einer heimlichen Maßnahme erhalten, sondern nach dem BVerfG auch dann, wenn eine nachträgliche Bekanntgabe zwar vorgesehen ist, von ihr aber auf Grund weitreichender Ausnahmetatbestände auch langfristig abgesehen werden kann,117 wie es bei heimlichen Gefahrenabwehrmaßnahmen typischerweise der Fall ist. Dennoch darf die Rechtsschutzfunktion118 der Verfassungsbeschwerde auch nicht überschätzt werden, da sie zwar – gerade im Zusammenhang mit den jeweils neu in die Polizeigesetze aufgenommenen Informationseingriffen – die grundsätzliche Zulässigkeit einer Maßnahme, nicht aber die möglicherweise rechtswidrige Umsetzung der Vorgaben im Einzelfall klären kann. Das BVerfG eröffnet sich mit dieser Rechtsprechung also die Möglichkeit zur zeitnahen Überprüfung neu eingeführter Eingriffsbefugnisse, nicht jedoch deren korrekter Anwendung im Einzelfall. Insoweit kommt die entscheidende Bedeutung dem nachträglichen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz zu. Das BVerfG kann nur die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts“ überprüfen.
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BVerfGE 109, 279 (307 f.). VerfGH R-P, NVwZ-RR 2007, 721 (727). 115 BVerfGE 16, 47, 158 f. 116 BVerfGE 109, 279 (306); 100, 313. 117 BVerfGE 109, 279 (307). 118 Dazu, dass diese sehr wohl einen Rechtsweg i.S.v. Art. 19 IV GG darstellen kann Schenke (Fußn. 91), Art. 19 IV Rn. 89 ff. m.w.N. 114
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b) (Nachträgliche) verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage Wenn der Betroffene durch nachträgliche Mitteilung Kenntnis von einer Maßnahme erhält, die wegen der Heimlichkeit einen Realakt darstellt, so kann hierdurch Rechtsschutz mittels einer Feststellungsklage erlangt werden. Dass diese Zuweisung an die Verwaltungsgerichte auch dann gilt, wenn die Richtervorbehalte im Vorfeld der Maßnahme zur Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte führen119, lässt sich nicht zuletzt damit rechtfertigen, dass der nachträgliche Rechtsschutz die behördliche Maßnahme und nicht deren richterliche Anordnung zum Gegenstand hat, die ja gerade hinsichtlich des Kernbereichsschutzes keine abschließende Entscheidung treffen konnte120. Damit ist die richterliche Anordnung zwar Voraussetzung der Durchführung einer Maßnahme, präjudiziert aber darüber hinaus nicht deren Rechtmäßigkeit. Über diese kann nachträglich im Feststellungsverfahren entschieden werden. Allenfalls mag man hinsichtlich des Feststellungsinteresses121 insoweit Bedenken haben, als es nach dem Abschluss der Maßnahme um die Vorbereitung eines Haftungsanspruches geht122. 4. Staatshaftung Zusätzlich können rechtswidrige Eingriffe in den Kernbereich auch zur staatlichen Haftung führen, die über den Ersatz von Vermögensschäden hinaus auch zu einem Anspruch auf Schmerzensgeld führen können. Ersatzansprüche bei rechtswidrigem Verhalten der Polizei kommen grundsätzlich sowohl auf polizeirechtlicher Grundlage (vgl. etwa § 68 I 2 POG RP) oder nach allgemeinen Grundsätzen aus Aufopferung wie nach Amtshaftungsrecht in Betracht. Jedenfalls nach den polizeirechtlichen Vorschriften kommt ein Schmerzensgeld allerdings nur bei Verletzungen von Körper und Gesundheit oder Freiheitsentziehungen in Betracht (vgl. etwa § 69 POG RP). a) Amtshaftung: Schmerzensgeld bei rechtswidrigen Eingriffen in den Kernbereich Auf den ersten Blick scheint dies auch für die Amtshaftung zu gelten. Bei der § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG bestimmen sich Art und Umfang des Schadensersatzes grundsätzlich nach den allgemeinen Vorschriften (§§ 249 bis 255, 842 bis 846)123. Damit kommt zwar auch bei der Amtshaftung ein Schmerzensgeldanspruch grundsätzlich in Betracht, wird dieser aber in § 253 II BGB auf die Rechtsgüter Körper, Gesundheit sowie die sexuelle Selbstbestimmung beschränkt. Dennoch ist diese Regelung nicht 119
Vgl. Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 192; Rachor, in: Lisken/Denninger (Fußn. 56), K 40. Zum Parallelproblem bei der Freiheitsentziehung bereits Ruthig, ZJS 2011, 63 (69). 121 Dazu Schenke, POR (Fußn. 5), Rn 669 unter Verweis auf die – die Maßnahme als Verwaltungsakt qualifizierende Entscheidung BVerwGE 87, 23 (25). 122 Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 43 Rn. 24 f. 123 Papier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 5. Aufl. 2009. § 839 Rn. 295 m.w.N. Eine Ausnahme gilt nur für die bei der Amtshaftung ausgeschlossene Naturalrestitution. 120
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abschließend. Dass bei der Schuldrechtsreform das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht in § 253 II BGB n.F. aufgenommen wurde, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers an der bisherigen Rechtslage nichts ändern124. Daher blieben auch die richterrechtlich entwickelten Institute erhalten. Der BGH ging vor der Schuldrechtsreform in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auf Grund seines verfassungsrechtlichen Rangs und seiner Ähnlichkeit zum Eingriff in den Körper und die Gesundheit ein Schmerzensgeld „ähnlich demjenigen nach § 847 I a.F.“ begründen können125. Die Zubilligung einer Geldentschädigung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen wird also nicht aus § 253 II BGB (analog) abgeleitet, sondern unmittelbar auf Art. 1 und Art. 2 GG gestützt. Sie beruht auf dem Gedanken, dass ohne einen solchen Anspruch Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktionen blieben mit der Folge, dass der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde126. Diesen Ansatz hat der BGH auf die Amtshaftung übertragen127. Damit stellt er gerade bei Eingriffen in den Kernbereich eine taugliche Anspruchsgrundlage für Ersatzansprüche dar. Insoweit hatte also der BGH schon vor dem BVerfG einen sekundärrechtlichen Kernbereichsschutz entwickelt. Geklärt ist insoweit auch, dass sich aus dem Richtervorbehalt weder die Anwendung des Spruchrichterprivilegs des § 839 II BGB ergibt128, noch sich die handelnden Beamten durch einen Hinweis auf die richterliche Anordnung exkulpieren können129. b) Offene Fragen Dennoch haben gerade die haftungsrechtlichen Konsequenzen einer möglichen Kernbereichsverletzung bisher noch nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Dies gilt außer für die bereits erwähnte Frage einer Erweiterung der polizeirechtlichen Haftungstatbestände um einen Schmerzensgeldanspruch für Persönlich124 Der Gesetzgeber hat im Rahmen der Reform des Schadensrechts ausdrücklich von einer Aufnahme des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts in § 253 II BGB abgesehen und stattdessen das Problem einer Kodifizierung auf spätere Reformen verschoben, vgl. die Regierungsbegründung BT-Drucks. 14/7752, S. 25. 125 St. Rspr., vgl. nur BGHZ 35, 363 (367 f.); 128, 117 (119). 126 BGHZ 128, 1 (15) m.w.N.; BVerfG NJW 2000, 2187 f. 127 Dazu BGH NJW 2003, 3693. 128 BGH NJW 2003, 3693: die Entscheidung sei kein „urteilsvertretender Beschluss“. 129 BGH NJW 2003, 3693 (3695): „Unbeschadet der Notwendigkeit der richterlichen Anordnung bleibt die Beantragung und die Durchführung des Einsatzes technischer Mittel zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen eine polizeiliche Maßnahme in der eigenen Verantwortung der Polizeibeamten. Die Polizei wird durch die richterliche Entscheidung nicht verpflichtet, die Maßnahme zu vollziehen, sondern kann nach ihrem Ermessen davon absehen, wenn sie sie nicht mehr für erforderlich hält. Sie muss davon absehen, wenn nach der richterlichen Entscheidung durch eine Änderung der Sachlage die rechtlichen Voraussetzungen für die Durchsuchung entfallen sind. Einer Aufhebung der richterlichen Entscheidung bedarf es hierfür nicht“.
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keits- oder Kernbereichsverletzungen130, vor allem aber für den gesamten Bereich der Ersatzansprüche des Nichtverantwortlichen. Gerade wegen ihrer Streubreite werden heimliche Informationseingriffe unbeabsichtigt aber eben zwangsläufig auch Nichtbeteiligte betreffen, so dass sich die Frage der Entschädigungspflicht auch bei rechtmäßiger Inanspruchnahme stellt. V. Fazit Weder dem Bundesverfassungsgericht noch den ihm blind folgenden Gesetzgebern ist der postulierte umfassende Kernbereichsschutz gelungen, indem die einschlägigen Normen, wie hier für das Polizeirecht untersucht, weder einen solchen Kernbereich definieren noch durch klar konturierte Erhebungsverbote absichern und das BVerfG dies im Ergebnis nicht beanstandet. Wenn der postulierte Kernbereichsschutz dennoch kein völlig zahnloser Tiger wird, so ist dies das Verdienst von Polizeirechtsdogmatik und Rechtsprechung im vertrauten Dreiklang aus Verfahrensgestaltung, Rechtsschutz und ergänzender Staatshaftung. Die nähere Konturierung der Verfahrensanforderungen steht allerdings erst am Anfang. Die Aufwertung der Stellung des Richters bei der Anordnung heimlicher Maßnahmen, die im Kontext der späteren Datensichtung als „Sachleitung“ bezeichnet wird, könnte zum Baustein eines umfassenderen „richterlichen Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ werden. Durch eine punktgenauere Fassung der Anordnungen ließe sich die Gefährdung des Kernbereiches erheblich einschränken. Vor allem dann, wenn sichergestellt wird, dass möglichst ein einheitliches Gericht über einzelne Maßnahmen entscheidet und wenn dieses gleichzeitig die Anforderungen an die behördliche Darlegungslast im Anordnungsverfahren erhöht, ließe sich sehr wohl ein stärkerer Grundrechtsschutz verwirklichen. Wenn also bei einer Anordnung auch die bereits laufenden, früheren und am besten auch die bisher vom Gericht abgelehnten Anträge aufzuführen sind, kann sich der Richter ein wesentlich besseres Bild von der Gesamtsituation machen. In jedem Fall würde die Forderung nach einem Schutz des unantastbaren Kernbereichs dadurch zu mehr als einem Lippenbekenntnis. Geschützt würde er allerdings nicht erst dann, wenn in einem konkreten Fall seine Verletzung droht, sondern durch die besondere Betonung des Verfahrensrechts bei heimlichen Maßnahmen. 130 Da diese einfachgesetzliche Ausprägungen des Aufopferungsgedankens darstellen, lässt sich hinsichtlich der Schutzgüter an die Überlegungen des Jubilars zur Notwendigkeit der Erweiterung des aufopferungsgleichen Anspruchs auf weitere Rechtsgüter anknüpfen; dazu etwa Schenke, NJW 1991, 1777 (1779 ff.); ebenso Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002, S. 340 ff.; S. 358; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 34 GG Rn. 57 ff. Unmittelbar einschlägig ist der Aufopferungsanspruch in den Bundesländern ohne spezialgesetzliche Regelung, vgl. Rachor, in: Lisken Denninger (Fußn. 56), L 69, 132; Schenke, POR (Fußn. 5), Rn. 683. Während die Erstreckung des Aufopferungsanspruchs auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen also auf breite Zustimmung stoßen dürfte, wird ein Schmerzensgeldanspruch bei enteignungsgleichem Eingriff und Aufopferung (außerhalb spezialgesetzlicher Regelungen) verneint, s. BGHZ 20, 61 (68 ff.); 45, 58 (77); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 139 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 34 GG Rn. 58; Schenke, NJW 1991, 1771 (1783).
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Wenn dabei die vorherige richterliche Anordnung tatsächlich ihre Tauglichkeit als Kernstück des Grundrechtsschutzes durch Verfahren beweisen sollte, könnte auch die Frage nach dessen verfassungsrechtlicher Absicherung im Bereich heimlicher Informationseingriffe neu überdacht werden. Polizeirechtlich würde dies – wie schon bei der Konkretisierung der Generalklausel durch die Rechtsprechung seit dem PrOVG – die Gewichte stärker zu den Fachgerichten verschieben. Ganz nebenbei würden die Gesetzgeber entlastet und vielleicht auch das BVerfG aus dem „Verrechtlichungsdilemma“ gerettet, in das es in seiner Judikatur zum Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und den daraus abgeleiteten Bestimmtheitsanforderungen geraten ist. Dies könnte umso leichter fallen, wenn man erkennt, dass nicht der besondere Wert des Grundrechts auf Datenschutz, letztlich auch nicht so sehr der Menschenwürdebezug des Kernbereichsschutzes, sondern durch die Heimlichkeit der Maßnahmen diese besondere verfahrensrechtliche Absicherung bedingt. Die grundsätzlich skeptische Haltung zu einem grundrechtsspezifischen Sonderverfahrensrecht131 gilt auch für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Der vermeintlich „hohe Rang“ eines Grundrechts taugt jedenfalls nicht als entscheidendes Differenzierungskriterium132. Die Ausführungen zum Kernbereichsschutz sind daher Teil der allgemeinen Diskussion um Grundrechtsschutz durch Verfahren, nicht Ausfluss einer Sonderdogmatik des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und der es flankierenden Grundrechte. Die spezifisch polizeirechtliche Dimension führt zurück auf das eingangs skizzierte Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. Bis heute beansprucht die These v. Humboldts Geltung, dass „ohne Sicherheit der Mensch weder seine Kräfte ausbilden noch die Früchte derselben zu genießen vermag; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit“133. Ohne Freiheit ist aber auch keine Sicherheit. Der notwendige Ausgleich von Freiheit und Sicherheit folgt damit auch beim Kernbereichsschutz einem klaren Grundsatz: Die abstrakte Hoffnung auf mehr Sicherheit kann konkrete Begrenzungen der Freiheit des Bürgers nicht rechtfertigen. Im Dreiklang von „Freiheit, Sicherheit und Recht“134 kommt letzteren die Funktion des Mediators zu. Das Verfahrensrecht hat zu gewährleisten, dass ein Mehr an Sicherheit nicht zu einem Weniger an Freiheit führt. Wenn man insoweit von einem gegenseitigen Lernprozess von Judikative und Legislative spricht, „in dem beide Seiten ihre Rollen noch finden müssen“135, bedeutet dies immer auch einen solchen zwischen Verfassungsund Polizeirecht. Man darf daher vor allem auch auf die weiteren Untersuchungen des Jubilars gespannt sein. 131
Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Merten/Papier, Handbuch Grundrechte Bd. II § 45 Rn. 26 ff. Schmidt-Aßmann (Fußn. 131), § 45 Rn. 28. 133 Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt, Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792, IV. Abschnitt. 134 So die Formulierung des früheren Art. 61 EGV und nunmehr der Titel V (Art. 67 ff.) des AEUV; s. auch Schenke, POR (Fn. 5), Rn. 465. 135 So Möstl, DVBl 2010, 808 (816). 132
Grenzen der sog. „Kernbereichs-Dogmatik“ des Bundesverfassungsgerichts* Von Jae-Young Son I. Einführung in die Problematik Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich mit der sog. „Kernbereichs-Dogmatik“ des BVerfG. Das BVerfG erkennt nach wie vor einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung an, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist und damit nicht durch Abwägung mit den Allgemeininteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden darf1. Bevor eine Abwägung zwischen dem Datenschutz und den Allgemeininteressen durchgeführt werden kann, muss danach auf die Frage eingegangen werden, ob hier nicht schon der eingriffsfeste Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt wird, so dass Informationseingriffe überhaupt und generell unzulässig wären. Allerdings scheint es m. E. noch nicht abschließend geklärt, ob der so bestimmte Kernbereich privater Lebensgestaltung grundsätzlich anzunehmen ist. Umstritten ist auch, ob der Kernbereich, selbst wenn er grundsätzlich bejaht wird, wirklich absolut eingriffsfest ist, oder er nicht doch zum Schutz ganz überragend wichtiger Güter angetastet werden kann2. II. Die sog. Kernbereichs-Dogmatik des BVerfG 1. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Kernbereich privater Lebensgestaltung Das BVerfG erkennt in ständiger Rechtsprechung einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung an, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist. Danach schützt das Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG einen Kernbereich privater Lebensgestaltung absolut als unantastbar („Kernbereichs-Dogmatik“). Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit könnten Eingriffe in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen; eine
* Dieser Beitrag ist aus einem Teil der Dissertation hervorgegangen, die der Verfasser 2006 veröffentlicht hat. 1 Vgl. BVerfGE 6, 32 (41); 6, 389 (433); 27, 1 (6); 27, 344 (350 f.); 32, 373 (378 f.); 34, 238 (245); 80, 367 (373), BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). 2 Dazu s. auch Son, Heimliche polizeiliche Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, 2006, S. 158 ff.
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Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes finde nicht statt3. Um die Absolutheit oder Unantastbarkeit des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu rechtfertigen, zieht das BVerfG den Menschenwürdegehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die Garantie des Wesensgehalts („Wesensgehaltsgarantie“) der Grundrechte heran4. Der Wesensgehalt im Sinne des Art. 19 II GG ist zwar nicht mit dem Menschenwürdegehalt eines Grundrechts gleichzusetzen. Eine Antastung des Wesensgehalts kann aber im Einzelfall zugleich den Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen5. Ein unantastbarer, der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogener Kernbereich privater Lebensgestaltung bezeichnet dabei den unantastbaren, mit seinem Menschenwürdekern identischen Wesensgehalt des Grundrechts6. In seiner Rechtsprechung assoziiert das BVerfG den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung u. a. mit dem Wesensgehaltsbegriff des Art. 19 II GG7 und auch ein Teil der Literatur8 folgt der Argumentation mit der Wesensgehaltsgarantie. Dabei bleiben die Grenzen wegen der geringen Fassbarkeit des Wesensgehaltsbegriffs9 jedoch weitgehend unklar10. So werde heute dem Art. 19 II GG lediglich deklaratorischer Charakter zugemessen,11 die eigentliche Prüfung aber in die Grundrechte selbst verlegt. Anzusetzen sei daher unmittelbar bei Art. 1 Abs. 1 GG12. Es erscheint sinnvoll, sich der Abgrenzung zwischen dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung und jenem Bereich des privaten Lebens, der unter bestimmten Voraussetzungen dem staatlichen Zugriff offen steht, in erster Linie vom Aspekt des Menschenwürdegehalts her zu näheren, der deshalb im Folgenden in den Vordergrund der Überlegungen gestellt wird. 2. Der Kernbereichsschutz im Lauschangriff-Urteil des BVerfG vom 3. 3. 2004 Die Rechtsprechung des BVerfG zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung ist nicht nur auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i.V.m. 3
Vgl. BVerfGE 34, 238 (245); 80, 367 (373). Vgl. BVerfGE 80, 367 (373): „Dies folgt einerseits aus der Garantie des Wesensgehalts der Grundrechte (Art. 19 Abs. 2 GG), andererseits leitet es sich daraus ab, dass der Kern der Persönlichkeit durch die unantastbare Würde des Menschen geschützt wird“. 5 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1001). 6 Vgl. Degenhart, JuS 1992, 361 (363). 7 Vgl. BVerfGE 27, 344 (350 f.); 32, 373 (379); 34, 238 (245); 80, 367 (373). 8 So z. B. Creutz, ZRP 1988, 415 (419 f.); a. A. Simitis, NJW 1971, 673 (680); Schmidt, JZ 1974, 241 (246). 9 Allg. hierzu kritisch Denninger, in: AK GG, 1984, Art. 19 Abs. 2 Rn. 12. 10 Vgl. Geis, JZ 1991, 112 (115); Guttenberg, NJW 1993, 567 (571). 11 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, § 10 Rn. 332; Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1983, S. 234 ff. 12 Vgl. Geis, JZ 1991, 112 (115). 4
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Art. 1 I GG, sondern auch auf die speziellen grundrechtlichen Gewährleistung der Privatsphäre und insbesondere auf Art. 13 GG zu beziehen. Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum sog. „Großen Lauschangriff“13 zu Strafverfolgungszwecken in Art. 13 III GG14 gibt Anlass, den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu überdenken. Im Lauschangriff-Urteil vom 3. 3. 2004 stellte sich u. a. die Frage, ob die in Art. 13 III GG vorgenommene Verfassungsänderung15 die Anforderungen des Art. 79 III GG erfüllt, da bestimmte Vorschriften des Grundgesetzes durch die sog. „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 III GG einer sonst mit einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat möglichen Verfassungsänderung entzogen sind. Die Schranken, die dem Gesetzgeber bei Änderung der Verfassung gezogen sind, ergeben sich aus Art. 79 III GG. Art. 79 III GG verbietet Verfassungsänderungen, durch die die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu ihnen zählt das Gebot der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 I GG), aber auch das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit (Art. 1 II GG)16. In Verbindung mit der in Art. 1 III GG enthaltenen Verweisung auf die nachfolgenden Grundrechte sind deren Verbürgungen dann der Einschränkung durch den Gesetzgeber prinzipiell entzogen, wenn sie zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 I und II GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind. Ebenfalls ist auf grundlegende Elemente des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips, die in Art. 20 I und III GG zum Ausdruck kommen, zu achten17. Auf die Verfassungsbeschwerde gegen Art. 13 III-VI GG sowie gegen Vorschriften der Strafprozessordnung zur Durchführung der akustischen Überwachung von Wohnraum zu Strafverfolgungszwecken hatte sich das BVerfG mit der Verfassungsmäßigkeit des neuen Art. 13 III GG, insbesondere mit der Frage, ob er mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG vereinbar ist, zu beschäftigen.
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Der sog. „Große Lauschangriff“ ist die heimliche akustische und optische Wohnraumüberwachung ohne Beisein eines ermittelnden Amtsträgers durch Einsatz technischer Mittel. Der Unterschied zum „Kleinen Lauschangriff“ liegt dabei darin, dass sich bei letzterem der Ermittler innerhalb der Wohnung befindet und hier durch Einsatz technischer Mittel heimlich Aufzeichnungen vornimmt; zum Begriff s. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2009, Rn. 153. 14 BVerfG, NJW 2004, 999 ff.; s. auch Denninger, ZRP 2004, 101 ff.; Gusy, JuS 2004, 457 ff.; Kutscha, NJW 2005, 20 ff.; Lepsius, Jura 2005, 433 ff., 586 ff.; Ruthig, GA 2004, 587 ff.; Sachs, JuS 2004, 522 ff. 15 Durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 13) vom 26. 3. 1998 (BGBl. I, S. 610) hat der verfassungsändernde Gesetzgeber erstmals eine Grundlage dafür gegeben, dass technische Mittel zur akustischen Überwachung von Wohnungen zu Zwecken der Strafverfolgung eingesetzt werden dürfen (Art. 13 III GG n. F.). 16 BVerfG, NJW 2004, 999 (1001). 17 BVerfG, NJW 2004, 999 (1001).
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a) Der Kernbereich privater Lebensgestaltung als eine absolute Schranke staatlicher Informationseingriffe Im Lauschangriff-Urteil sieht das BVerfG in Bezug auf den Gewährleistungsgehalt des Menschenwürdebegriffs einerseits der Leistungskraft der von ihm immer wieder herangezogenen DürigÏschen Objektformel, nach der es der Würde des Menschen widerspricht, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen,18 und andererseits der im Abhörurteil des BVerfG vertretenen Ansicht, die Menschenwürde werde nur verletzt, wenn die Behandlung des Betroffenen „Ausdruck der Verachtung des Wertes ist, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt“,19 Grenzen gesetzt20. Demgegenüber fordert das BVerfG, bei der heimlichen akustischen Überwachung von Wohnraum zu Strafverfolgungszwecken in Art. 13 III GG sei ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung zu wahren, weil der Schutz der Menschenwürde in der in Art. 13 I GG verbürgten Unverletzlichkeit der Wohnung verankert sei und zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gemäß Art. 1 I GG dabei die Anerkennung eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung gehöre21. Das BVerfG knüpft hier deutlich an die Vorstellung eines unantastbaren „Kernbereichs“ privater Lebensgestaltung an. In diesen Bereich dürfe die akustische Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Strafverfolgung (Art. 13 III GG) nicht eingreifen. Würde der Staat in ihn eindringen, verletzte dies die jedem Menschen unantastbar gewährleistete Freiheit zur Entfaltung in den ihn betreffenden höchstpersönlichen Angelegenheiten22. Selbst überwiegende Allgemeininteressen könnten einen Eingriff in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen, so dass eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 I i.V.m. Art. 1 I GG) und dem Strafverfolgungsinteresse insoweit nicht stattfinde23. Denn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz könne nur dann als weitere Einschränkung in Betracht kommen, wenn ein staatliches Handeln die Menschenwürde nicht verletze. Da der Menschenwürdegehalt des Art. 13 I GG einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist, garantiert, verstoße die heimliche akustische Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken (Art. 13 III GG) dann gegen die Menschenwürde, wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht respektiert wird24. Im Lauschangriff-Urteil gelang das BVerfG zur Annahme der Verfassungsmäßigkeit des durch eine Verfassungsänderung eingeführten Art. 13 III GG durch eine verfassungskonforme oder verfassungssystematische Interpretation dieser Vorschrift. 18 19 20 21 22 23 24
Vgl. Dürig, AöR 1956 (81), 117 (128). Vgl. BVerfGE 30, 1 (26). BVerfG, NJW 2004, 999 (1001 – 1002). BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). BVerfG, NJW 2004, 999 (1002).
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Danach verstoße die Ermächtigung zur gesetzlichen Einführung der akustischen Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Strafverfolgung in Art. 13 III GG nicht gegen Art. 79 III i.V.m. Art. 1 I GG, weil sie nur gesetzliche Regelungen und darauf aufbauende Maßnahmen ermögliche, welche die dort gezogenen Grenzen einhalten. Begrenzungen der verfassungsrechtlichen Ermächtigung seien zum einen in Art. 13 III GG enthalten, ergäben sich darüber hinaus aber noch aus anderen im Zuge systematischer Verfassungsauslegung heranzuziehenden Verfassungsnormen25. Entsprechende Begrenzungen der Ermächtigung zur akustischen Wohnraumüberwachung zielten dabei allerdings auch darauf, das Risiko der Verletzung des Menschenwürdegehalts des Art. 13 III GG bei der Durchführung der Maßnahmen auszuschließen26. Art. 13 III GG sei dahin gehend auszulegen, dass seine gesetzliche Ausgestaltung die Informationserhebung durch die akustische Wohnraumüberwachung dann ausschließen müsse, wenn die Ermittlungsmaßnahme in den durch Art. 13 I i.V.m. Art. 1 I und Art. 2 I GG geschützten unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung vordringen würde27. Art. 13 III GG ermächtigt ausschließlich zum Erlass von gesetzlichen Regelungen, die gewährleisten, dass die akustische Wohnraumüberwachung den Kernbereich privater Lebensgestaltung unberührt lässt28. Der Schwachpunkt der Argumentation des BVerfG ist allerdings in der sehr weitreichenden verfassungskonformen Auslegung des Art. 13 III GG zu sehen. Es scheint bereits zweifelhaft, ob man die für die Interpretation unterverfassungsrechtlicher Vorschriften geltende verfassungskonforme Interpretation überhaupt auf die Auslegung verfassungsrechtlicher Bestimmungen anwenden kann29. Selbst wenn man sich jedoch über diesbezügliche Bedenken hinwegsetzt, dürften im konkreten Fall aber die Grenzen verfassungskonformer Auslegung bereits überschritten sein30. b) Zur inhaltlichen Bestimmung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung Für die Frage, ob ein Sachverhalt dem unantastbaren Kernbereich zuzurechnen sei, komme es nach der neueren Judikatur des BVerfG darauf an, ob er nach seinem Inhalt höchstpersönlichen Charakters sei und in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berühre31. Maßgebend seien die Besonderheiten des jeweiligen Falles. Entscheidend sei, ob eine Situation 25
BVerfG, NJW 2004, 999 (1002); kritisch hierzu s. die abweichende Meinung der Richterinnen Jaeger und Hohmann-Dennhardt (BVerfG, NJW 2004, 999, 1021 ff.). 26 BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). 27 BVerfG, NJW 2004, 999 (1003). 28 BVerfG, NJW 2004, 999 (1006). 29 Vgl. zum Abhörurteil Schenke, Grundrechtliche Probleme der Telekommunikation, in: Korean Public Law Association (Hrsg.), Öffentlich-rechtliche Probleme in der Telekommunikation, Seoul 2001, 1 (10). 30 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2009, Rn. 194 (Fußn. 496). 31 BVerfG, NJW 2004, 999 (1002).
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vorliege, in der auf Grund von konkreten Hinweisen im Einzelfall der unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung betroffen werde, zum Beispiel im Zuge der Beobachtung von Äußerungen innerster Gefühle oder von Ausdrucksformen der Sexualität32. Zur Differenzierung zwischen dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung und dem Sozialbereich stellt damit das BVerfG auf eine „Einzelfallbetrachtung“ ab. Als Kriterien der Einzelfallentscheidung zieht das BVerfG – entgegen dem Tagebuchbeschluss vom 14. 09. 198933 – formale Komponenten nicht in Betracht. Der Wille des Betroffenen zur Geheimhaltung betrifft nicht eine Verletzung der Menschenwürde, sondern einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 13 I GG34. Abzulehnen ist das vom BVerfG in dem Tagebuchbeschluss gebrachte Argument,35 Tagebücher oder ähnliche persönliche Aufzeichnungen seien schon deshalb nicht zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zu rechnen, weil der Beschwerdeführer seine Gedanken schriftlich niedergelegt und sie damit aus dem von ihm beherrschbaren Innenbereich entlassen und der Gefahr eines Zugriffs preisgegeben habe. Denn die Argumentation des BVerfG führt letztlich dazu, dass der absolut geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung nur auf das „forum internum“ zu beschränken ist. Während Vorgänge, die sich in Kommunikation mit anderen vollziehen, einem hoheitlichem Eingriff schlechthin entzogen sein können, lassen sich Tagebücher, die selbst vom Autor nicht als Äußerung gegenüber einem Kommunikationspartner bestimmt sind, nicht dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuordnen. Tagebücher oder ähnliche private Aufzeichnungen müssen vielmehr dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sein36. Denn Eintragungen in ein Tagebuch, in denen sich der Autor mit sich selbst auseinandersetzt, sind nichts anders als Projektionen des forum internum auf das Papier37. Diese Auffassung des BVerfG ist jedoch abzulehnen. Im Lauschangriff-Urteil betont das BVerfG, Gespräche, die Angaben über begangene Straftaten enthielten und damit in einem unmittelbaren Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen ständen, gehörten ihrem Inhalt nach nicht dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung an38. Diese Argumentation des BVerfG weist in die Richtung seines sehr umstrittenen und auch nur mit Stimmen32
BVerfG, NJW 2004, 999 (1003). Vgl. BVerfGE 80, 367 (374). 34 Die Frage, ob der Betroffene einen Lebenssachverhalt geheim halten will, wird hinsichtlich der Bestimmung eines Eingriffs in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 I GG bedeutsam. Nicht nur das körperliche Eindringen in der Wohnung und das Verweilen darin, sondern auch das heimliche Ausspähen von Vorgängen in der Wohnung durch technisches Gerät, das in oder außerhalb der Wohnung zum Einsatz gebracht wird, und das gegen den Willen des Wohnungsinhabers erfasst, stellen einen Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung dar. Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1001 u. 1005); SächsVerfGH, JZ 1996, 957 (967); MVVerfG, LKV 2000, 345 (351); BbgVerfG, LKV 1999, 450 (460). 35 Vgl. BVerfGE 80, 367 (376). 36 Vgl. Geis, JZ 1991, 112 (116). 37 So auch Amelung, NJW 1988, 1002 (1005); Geis, JZ 1991, 112 (116). 38 BVerfG, NJW 2004, 999 (1003). 33
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gleichheit ergangenen Tagebuchbeschlusses vom 14. 9. 1989: Nach der den Tagebuchbeschluss tragenden Ansicht sollen private Tagebuchaufzeichnungen – trotz ihres Charakters als selbstgesprächsartige Reflexion – einem Eingriff im Wege der strafprozessualen Verwertung schon dann nicht schlechthin entzogen sein, wenn sie Angaben über begangene Straftaten enthalten39. Im Lauschangriff-Urteil hat das BVerfG aber – anders als der Tagebuchbeschluss40 – darauf hingewiesen, dass jedwede Verknüpfung zwischen dem Verdacht einer begangenen Straftat und den Äußerungen des Beschuldigten für die Bejahung des Sozialbezugs nicht genüge41. Aufzeichnungen oder Äußerungen im Zwiegespräch, die etwa ausschließlich innere Eindrücke und Gefühle wiedergeben und keine Hinweise auf konkrete Straftaten enthielten, gewännen nicht schon dadurch einen Gemeinschaftsbezug, dass sie Ursachen oder Beweggründe einer Straftat freizulegen vermöchten. Demgegenüber bestehe ein hinreichender Sozialbezug bei Äußerungen, die unmittelbar eine konkrete Straftat beträfen42. Die Zuordnung eines Sachverhalts zum unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung oder zum Sozialbereich wird daher danach vorgenommen, ob konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Gespräche, die ein Einzelner zum Beispiel mit seinen Familienangehörigen oder sonstigen engsten Vertrauten in der Wohnung führt, nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen43. Im Lauschangriff-Urteil sah damit das BVerfG in dem höchstpersönlichen Gespräch mit engsten Familienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten oder einzelnen Berufsgeheimnisträgern in der Wohnung, welches nach seinem Inhalt keinen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweist, einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung. III. Grenzen der Kernbereichs-Dogmatik des BVerfG 1. Dogmatische Bedenken gegen die Rechtsprechung des BVerfG a) Hängt die absolute Schutzwürdigkeit von Räumlichkeiten von ihrer konkreten Nutzung ab? Aus dem verfassungsrechtlich absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung folgert das BVerfG, es beständen innerhalb von Wohnungen Räume, die zu 39
Vgl. BVerfGE 80, 367 (375). Vgl. BVerfGE 80, 367 (377): „Mit dieser Straftat ist aber der in den Niederschriften reflektierte Vorgang in einer Weise verknüpft, dass die Aufzeichnungen selbst nicht jeglichem staatlichen Zugriff entzogen sein können…Bereits diese enge Verknüpfung zwischen dem Inhalt der Aufzeichnungen und dem Verdacht der außerordentlich schwerwiegenden strafbaren Handlung verbietet ihre Zuordnung zu dem absolut geschützten Bereich persönlicher Lebensgestaltung, der jedem staatlichen Zugriff entzogen ist“. 41 BVerfG, NJW 2004, 999 (1003). 42 BVerfG, NJW 2004, 999 (1003). 43 BVerfG, NJW 2004, 999 (1003 u. 1006). 40
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diesem absolut geschützten Kernbereich gehören44. Dabei hänge der Schutzbedarf von Räumlichkeiten von ihrer konkreten Nutzung ab45. Der dogmatische Schwachpunkt der Argumentation des BVerfG ist damit darin zu sehen, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht generell bestimmt wird, z. B. in der Weise, dass keinesfalls aus einem Gespräch zwischen dem Beschuldigten und seinem engsten Familienangehörigen in der Privatwohnung oder aus einem Gespräch des Beschuldigten mit seinem Strafverteidiger in der Kanzlei Daten erhoben und verwertet werden dürften, sondern sich der Umfang des Kernbereichs wesentlich auch nach dem Zweck des Eingriffs und dem Gewicht des mit ihm verfolgten Allgemeininteresses richtet. Der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung wird durch das staatliche Interesse am Eingriff bestimmt: Die Zuordnung zum unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung oder zum Sozialbereich wird nicht nur nach Anhaltspunkten für die Menschenwürderelevanz des Inhalts eines in der Wohnung geführten Gesprächs vorgenommen. Vielmehr wird auch berücksichtigt, ob Anhaltspunkte für eine Tatbeteiligung der in der Wohnung das Gespräch führenden Personen bestehen, welche die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berühren46. Zur Differenzierung zwischen dem unantastbaren Kernbereich und dem Sozialbereich stellt das BVerfG zusätzlich auf die Intensität des Sozialbezugs des Gesprächsinhalts ab, also auf die Frage, ob konkrete Anhaltspunkte bestehen, dass die zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen. Der absolute Schutzbedarf eines Raumes wird also durch eine Abwägung mit dem Interesse an der Strafverfolgung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bestimmt47. Damit werden die durch die Abhörmaßnahme zu schützenden Allgemeininteressen zum Kriterium der Sphärenzurechnung. Zur Differenzierung zwischen Kernbereich und Sozialbereich stellt das BVerfG auch auf eine Einzelfallbetrachtung ab. So sind die Besonderheiten des jeweiligen Falles maßgebend. Schon hier zeigt sich, dass die Zuordnung zum unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung in Beziehung zu den Umständen des Einzelfalls gesetzt wird und allgemeine Erwägungen dazu eher theoretischer Natur sind48. Damit ist ein absolut geschützter abwägungsfreier 44
BVerfG, NJW 2004, 999 (1003 f.). BVerfG, NJW 2004, 999 (1006). 46 BVerfG, NJW 2004, 999 (1002 u. 1006). 47 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1006): „Der Schutzbedarf von Räumlichkeiten hängt von ihrer konkreten Nutzung ab. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der Wohnraumüberwachung sind umso strenger, je größer die Wahrscheinlichkeit ist, dass mit ihnen höchstpersönliche Gespräche erfasst würden. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist typischerweise beim Abhören von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen, sonstigen engsten Vertrauten und einzelnen Berufsgeheimnisträgern gegeben. Bei diesem Personenkreis dürfen Überwachungsmaßnahmen nur ergriffen werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Gesprächsinhalte zwischen dem Beschuldigten und diesen Personen keinen absoluten Schutz erfordern, insbesondere bei einer Tatbeteiligung der das Gespräch führenden Personen. Ein konkreter Verdacht auf solche Gesprächsinhalte muss schon zum Zeitpunkt der Anordnung bestehen. Er kann nicht erst durch eine akustische Wohnraumüberwachung begründet werden“. 48 Vgl. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, 1987, S. 43; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 2001, Art. 2 Abs. 1, Rn. 161. 45
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Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht mehr garantiert49. Ein solcher Schutz, den das BVerfG mit dem Ansatz der sog. Sphärentheorie und der Annahme eines unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung gewährleisten will, ist aber bereits mittels eines relativen Schutzes durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in ausreichender Weise erreichbar. Die Ausführungen des BVerfG im LauschangriffUrteil laufen inhaltlich ohnehin nur auf eine Wiederholung dessen hinaus, was sich bereits aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt. Auf der Basis einer Abwägung zwischen der Unverletzlichkeit der Wohnung und dem Strafverfolgungsinteresse nimmt das BVerfG selbst die Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor. Der Ansatz des BVerfG findet im Ergebnis seine Entsprechung in der Ansicht, die den in Art. 19 II GG geschützten Wesensgehalt ebenfalls unter Berücksichtigung der im jeweiligen Einzelfall zu ermittelnden Wertigkeit des Allgemeinwohlbelangs „relativ“ bestimmt50. Die absolute Schutzwürdigkeit von Räumlichkeiten werde nach Auffassung des BVerfG von ihrer jeweiligen konkreten Nutzung bestimmt51. Die Abhängigkeit der absoluten Schutzwürdigkeit von Räumlichkeiten von ihrer jeweils aktuellen Nutzung ist jedoch wegen fehlender Erkennbarkeit der Nutzung als Kriterium zur Differenzierung zwischen Kernbereich und Sozialbereich untauglich, weil es gerade wegen der Abgeschlossenheit einer Wohnung für einen Außenstehenden nicht immer im Vorhinein erkennbar ist, ob in ihr absolut schützwürdige Gespräche zu erwarten sind oder nicht52. Auch der Verdacht der Tatbeteiligung eines sich in der Wohnung aufhaltenden engsten Familienangehörigen wird nicht immer zweifelsfrei feststellbar sein. So erkennt auch das BVerfG, dass es sich nicht selten erst nachträglich herausstellen wird, ob es sich um absolut geschützte Gespräche oder um Gespräche mit Tatbeteiligten innerhalb der Wohnung, die von den Strafverfolgungsbehörden zum Objekt des Lauschangriffs gemacht werden soll, handelte53. Dies zeigt, dass es den im Lauschangriff-Urteil vom BVerfG angestrebten Mittelweg beim Wohnungsschutz nicht gibt. b) Die Relativierung des Kernbereichsschutzes Der dogmatische Schwachpunkt der Argumentation des BVerfG ist auch darin zu sehen, dass es für die Zuordnung eines Sachverhalts zum Bereich des Höchstpersönlichen oder zum Sozialbereich eine jeweils konkrete Feststellung als erforderlich ansieht54. Denn es kann wegen der Abgeschlossenheit einer Wohnung für einen Außen49 Vgl. Sondervotum zum Tagebuchbeschluss, BVerfGE 80, 367 (382); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bd. I, 1999, Art. 2 Abs. 1, Rn. 90; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 2001, Art. 2 Abs. 1, Rn. 162. 50 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, § 10 Rn. 332; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 2001, Art. 2 Abs. 1, Rn. 161. 51 BVerfG, NJW 2004, 999 (1006). 52 Vgl. Schenke, DVBl. 1996, 1393 (1399). 53 BVerfG, NJW 2004, 999 (1007). 54 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1007).
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stehenden zunächst nicht festgestellt werden, ob in ihr höchstpersönliche Gespräche zu erwarten sind oder ob es um Gespräche mit möglichen Tatbeteiligten geht, die die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berühren55. Für eine solche Unterscheidung bestehen nur Anhaltspunkte, die auf den Inhalt dessen schließen lassen, was in der Wohnung stattfindet. Wie im Lauschangriff-Urteil ausgeführt, könnte bei Privatwohnungen eher als bei Betriebs- und Geschäftsräumen, bei Gesprächen mit Familienangehörigen oder engen Vertrauten eher als mit Geschäftspartnern oder Bekannten eine Situation eintreten, welche dem Bereich des Höchstpersönlichen zuzurechnen ist56. Gewissheit, ob dies zutrifft, ist aber regelmäßig erst nachträglich zu erlangen, „wenn man die Abgeschlossenheit der Wohnung durchbricht und sich Kenntnis von dem verschafft, was in ihr passiert“57. Damit kann man jedoch schon in einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung eingegriffen haben, in den die akustische Überwachung von Wohnraum zu Strafverfolgungszwecken nicht eingreifen darf. Forderte man, wie im Lauschangriff-Urteil das Minderheitsvotum zu Recht ausgeführt hat,58 für die Zuordnung einer Situation hinter verschlossenen Türen zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung eine jeweils konkrete Feststellung, hätte dies also zur Folge, dass zunächst stets ein Eingriff in diesen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung vorgenommen werden müsste. Auf der gleichen Linie liegen der Tagebuchbeschluss vom 14. 09. 1989 und das Lauschangriff-Urteil vom 03. 03. 2004 des BVerfG. Beiden Entscheidungen wohnt die gleiche inhaltliche Tendenz inne: eine Relativierung des Kernbereichsschutzes59. Inhaltlich in die gleiche Richtung zielend, wird damit die Relativierung des Kernbereichschutzes im Lauschangriff-Urteil fortgesetzt. Der Kernbereichsschutz ist insoweit relativiert, als auch höchstpersönliche Tagebuchaufzeichnungen oder Gespräche mit engsten Familienangehörigen in Privatwohnungen, die dem unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen sind, dann einem staatlichen Zugriff offen stehen können, wenn es zunächst nicht erkennbar ist, ob Tagebuchaufzeichnungen oder Gespräche den Bereich des Höchstpersönlichen betreffen oder ob sie Angaben über begangene Straftaten enthalten, welche die Sphäre anderer oder Belange der Gemeinschaft berühren. Nach der den Tagebuchbeschluss tragenden Ansicht bestehe dabei im Rahmen der Strafverfolgung nicht von vornherein ein verfassungsrechtliches Hindernis, Tagebuchaufzeichnungen daraufhin durchzusehen, ob sie der prozessualen Verwertung zugängliche Informationen enthielten60. Bei dem Zugriff dürfte aber zugleich auch der absolut geschützte Kernbereich privater Lebensgestaltung mit berührt werden. Diese geschilderte Auffassung des BVerfG widerspricht seiner 55 56 57 58 59 60
Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). Vgl. zum Tagebuschbeschluss Geis, JZ 1991, 112 (114 f.). Vgl. BVerfGE 80, 367 (375); auch BVerfG, NJW 2004, 999 (1005).
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Prämisse, der Staat dürfe in einen absolut geschützten, der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogenen Kernbereich privater Lebensgestaltung schon deshalb nicht eindringen, weil dies die jedem Menschen unantastbar gewährte Freiheit zur Entfaltung in den ihn betreffenden höchstpersönlichen Angelegenheiten verletze. Damit schafft das BVerfG selbst den absoluten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung ab. Wollte das Gericht die Absolutheit oder Unantastbarkeit des Kernbereichs privater Lebensgestaltung nicht verneinen, wären Abhörmaßnahmen dann von vornherein auszuschließen, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, durch sie in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung einzudringen. Erkennt das BVerfG an, dass der Kernbereich privater Lebensgestaltung wirklich absolut eingriffsfest ist und er damit auch zum Schutz ganz überragend wichtiger Güter nicht angetastet werden darf, so hätte zur Vermeidung von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung die akustische Wohnraumüberwachung von vornherein auszuscheiden, wenn eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass mit ihr absolut geschützte Gespräche erfasst werden. Dementsprechend müssten die gesetzlichen Regelungen das Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Wohnungen untersagen, wenn es wahrscheinlich ist, dass absolut geschützte Gespräche abgehört würden. Für einen umfassenden Kernbereichsschutz wäre nicht ein Verwertungsverbot, sondern ein umfassendes Erhebungsverbot unerlässlich. Dogmatisch läuft die Argumentation des BVerfG auch auf eine unzulässige Schutzbereichsdefinition von den Schranken her hinaus: Der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung wird regelmäßig erst bestimmt, „wenn man die Abgeschlossenheit der Wohnung durchbricht und sich Kenntnis von dem verschafft, was in ihr passiert“61. Das BVerfG verlässt insoweit – vom Ergebnis her argumentierend – die selbst aufgestellte Stufenprüfung einer Eingriffsrechtfertigung62. Demgegenüber sieht das Minderheitsvotum im Lauschangriff-Urteil in „Privatwohnungen“, denen typischerweise oder im Einzelfall die Funktion als Rückzugsbereich privater Lebensgestaltung zukommt, einen Kernbereich. Damit steht die Grenzziehung, ob der Kernbereich privater Lebensgestaltung oder nur der Sozialbereich betroffen ist, am Anfang der Schutzbereichsbestimmung und wird nicht durch einen generellen Abwägungsprozess ersetzt. Insoweit ist der Begriff „Kernbereich“ hinreichend greifbar bestimmt. c) Das Gebot der unverzüglichen Löschung höchstpersönlicher Daten ergibt sich auch ohne die Annahme eines Kernbereichs bereits aus dem Folgenbeseitigungsanspruch Auch das Gebot der unverzüglichen Löschung von erlangten Daten, die aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stammen, ergibt sich – entgegen der Auffas61 62
BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). Vgl. Geis, JZ 1991, 112 (116).
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sung des BVerfG63 – auch ohne die Annahme eines absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung, sofern es sich erst nachträglich herausstellt, dass es sich um Gespräche höchstpersönlichen Inhalts mit engsten Familienangehörigen, anderen engsten Vertrauten oder einzelnen Berufsgeheimnisträgern in der Wohnung handelte64. Das Gebot einer unverzüglichen und umfassenden Löschung höchstpersönlicher Daten, die nicht hätten erhoben werden dürfen, ist nämlich bereits aus dem heute anerkannten, verfassungsrechtlich garantierten Folgenbeseitigungsanspruch abzuleiten. Die dogmatische Rechtfertigung für die Löschungspflicht liefern der in den Grundrechten verankerte Folgenbeseitigungsanspruch bzw. seine datenschutzrechtlichen Konkretisierungen65. Dieser umfasst nicht nur den Fall einer von Anfang an gegebenen rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigung, sondern auch den eines erst nachträglich rechtswidrig werdenden Eingriffs66. 2. Absoluter Schutz von Privatwohnungen? Es erscheint zweifelhaft, ob gegenüber dem Mehrheitsvotum das von zwei Bundesverfassungsrichterinnen getragenen Minderheitsvotum67 eher überzeugen kann. Dieses geht davon aus, dass die akustische Überwachung von „Privatwohnung“ generell und stets unzulässig ist. Nach dieser Auffassung sei es nämlich um des Schutzes der Möglichkeit freier persönlicher Äußerung willen zur Wahrung der Menschenwürde jedenfalls für Privatwohnungen, in denen sich der Beschuldigte allein, mit Familienmitgliedern oder mit ersichtlich engen Vertrauten aufhält, zu unterstellen, dass sie Raum für höchstpersönliche Kommunikation böten und entsprechend genutzt würden. Sie genössen deshalb umfassenden Schutz, wie ihn Art. 13 I GG gewährleiste68. Zur Vermeidung von Eingriffen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung sieht das Minderheitsvotum es somit als verfassungsrechtlich geboten an, die jedenfalls in einer Privatwohnung geführten Gespräche einem generellen Überwachungsverbot zu unterstellen69. Werden Gespräche zwischen dem Beschuldigten und seinen Familienmitgliedern oder ersichtlich engen Vertrauten in einer Privatwohnung geführt, so setzt der absolute Schutz ein, unabhängig davon, ob die in ihr zu erwartenden Gespräche nach ihrem Inhalt den Bereich des Höchstpersönlichen betreffen oder einen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen. Zwar zieht auch das Minderheitsvotum die Intensität des Sozialbezuges in Betracht, weil es eine Unterscheidung zwischen Kernbereich und Sozialbereich damit begründet, ob in einer Wohnung höchstpersönliche Dinge oder aber solche zur Sprache kommen, welche die Sphäre anderer oder Belan63 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1007); BVerfGE 80, 367 (374); auch MVVerfG, LKV 2000, 345 (352). 64 Vgl. Schenke, DVBl. 1996, 1393 (1399). 65 Vgl. Schenke, DVBl. 1996, 1393 (1396). 66 Vgl. Schenke, DVBl. 1996, 1393 (1396). 67 Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1020 ff.); zustimmend Lepsius, Jura 2005, 586 (592). 68 BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). 69 BVerfG, NJW 2004, 999 (1020).
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ge der Gemeinschaft berühren70. Bei Privatwohnungen legt das Minderheitsvotum allerdings auf die Menschenwürderelevanz des Gesprächsinhalts einen besonders hohen Wert. Zur Persönlichkeitsentfaltung bedürfe es Rückzugsräume, in denen der Einzelne ohne Angst vor Überwachung sich selbst zum Ausdruck bringen und mit Vertrauten über persönliche Ansichten und Empfindungen kommunizieren könne71. Das sei regelmäßig die Privatwohnung. Sie ist als letztes Refugium ein Mittel zur Wahrung der Menschenwürde72. Das Minderheitsvotum hat jedenfalls für Privatwohnungen – anders als das Mehrheitsvotum – an dem Ansatz der Absolutheit oder Unantastbarkeit des Kernbereichs privater Lebensgestaltung festgehalten. Allerdings führt die im Lauschangriff-Urteil tragende Argumentation des Minderheitsvotums im Ergebnis dazu, dass in Privatwohnungen sowohl höchstpersönliche Gespräche mit Familienmitgliedern oder anderen engen Vertrauten als auch solche, die in einem unmittelbaren Bezug zu konkreten Straftaten stehen, einem absoluten Überwachungsverbot unterliegen. Dem Minderheitsvotum ist entgegenzuhalten, dass das Grundrecht aus Art. 13 I GG es nicht gebietet, Privatwohnungen generell von der heimlichen akustischen Überwachung von Wohnraum auszunehmen. Ein uneingeschränkter Schutz von Privatwohnungen vor staatlicher akustischer Überwachung der räumlichen Privatsphäre lässt sich aus der Verfassung nicht ableiten. Nicht sämtliche Gespräche, die ein Einzelner mit seinen Familienangehörigen oder anderen engen Vertrauten in Privatwohnungen führt, haben höchstpersönlichen Charakter, wie auch das Minderheitsvotum selbst anerkennt73. Enthalten die in Privatwohnungen geführten Gespräche Angaben über begangene Straftaten, beziehen sie sich also unmittelbar auf eine konkrete Straftat, so entziehen sie sich nicht der strafrechtlichen Ermittlung und Verwertung74. Solche Gespräche gehören zweifellos nicht zu den geschützten Ausprägungen der Menschenwürde, und ebenso ist es nicht Ausdruck der Menschenwürde, für besonders schwerwiegende Straftaten die für ein menschenwürdiges Leben notwendige räumliche Privatsphäre ge-(miß-)brauchen zu können75. Die heimliche akustische Überwachung von Privatwohnungen dient dabei nicht der Aufdeckung von Privatgeheimnissen, sondern der Aufklärung von besonders schwerwiegenden Straftaten. Dass durch die Art und den Inhalt dessen, was im räumlich abgeschlossenen Familienkreis passiert, Grenzen für eine heimliche Erhebung personenbezogener Daten und deren Verwendung gesetzt sind, ist, worauf das MVVerfG im Urteil vom 18. 5. 2000 zu Recht hinweist,76 nicht durch ein über die Rücksicht auf diese Grenzen weit hinausgehendes generelles Überwachungsverbot zu sichern, sondern durch Zurückhaltung bei der Erhebung und Verwendung, wenn durch die heim70 71 72 73 74 75 76
BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). BVerfG, NJW 2004, 999 (1020). Vgl. BVerfGE 80, 367 (378). Vgl. Guttenberg, NJW 1993, 567 (572). MVVerfG, LKV 2000, 345 (353).
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liche akustische Überwachung von Wohnraum der innere, höchstpersönliche Bereich des familiären Lebens betroffen ist. Die heimliche akustische Überwachung von Privatwohnungen mit technischen Mitteln kann freilich dazu führen, dass staatliche Stellen Einblick in den Bereich des Höchstpersönlichen eines Einzelnen bis hin zu seinem Intimleben wie z. B. Äußerungen innerster Gefühle oder Ausdrucksformen der Sexualität gewinnen77. Wegen der Heimlichkeit von Maßnahmen wird der Einzelne, der sich ja unbeobachtet glaubt und der auf die Abgeschlossenheit seiner Privatwohnung für einen Außenstehenden vertraut, sich selbst zum Ausdruck bringen und mit seinen engsten Familienangehörigen höchstpersönliche Gespräche führen. Durch den heimlichen Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen gewinnt der Staat die Herrschaft über Informationen, welche die Betroffenen nur für sich und unter sich behalten wollen78. Das heimliche Abhören und Ausspähen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes in Wohnungen stellt einen Eingriff von höchster Intensität dar. Die Ungeschütztheit und Arglosigkeit der Betroffenen wird ausgenutzt, und es kann auf intimste Bereiche zugegriffen werden79. Der Eingriff ist noch deutlich intensiver als der schwere Eingriff des Abhörens von Telekommunikation. Bei der Telefonüberwachung greift der Staat auf das Wort zu, das der Betroffene von dem einen an einen anderen Ort übermittelt80. Dagegen bezieht sich Art. 13 III GG auf die vertrauliche Nahkommunikation. Damit lässt sich für den Betroffenen seine Privatheit gerade dort, wo er sie am meisten ausübt, aufheben81. Aus der Intensität des Eingriffs folgt für die notwendige Abwägung zwischen dem Maß der grundrechtlichen Betroffenheit und den Belangen der Allgemeinheit, dass nur überragende Allgemeininteressen den Eingriff rechtfertigen können82. Die akustische Überwachung von Privatwohnungen ist dann gerechtfertigt, wenn sie zur Verfolgung von im Gesetz einzeln bestimmten, besonders schwerwiegenden Straftaten erforderlich ist und wenn ein auf sie gerichteter Verdacht durch bestimmte Tatsachen begründet wird. Aus der Tiefe des Eingriffs folgt auch, dass auf allen seinen Stufen – bei der Anordnung der Überwachung, bei ihrer Durchführung und bei dem Umgang mit den erhobenen Informationen – strikt auf den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit in dem Sinne zu achten ist, dass die Einzelmaßnahme zur Zweckerreichung unerlässlich ist83. Dies gilt nicht nur dort, wo der Eingriff zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten unumgänglich ist, wo also keine anderen Möglichkeiten mit Aussicht auf Erfolg realisierbar sind. Eine heimli77
Vgl. Guttenberg, NJW 1993, 567 (570). Vgl. Amelung, NJW 1991, 2533 (2535); MVVerfG, LKV 2000, 345 (351). 79 Vgl. MVVerfG, LKV 2000, 345 (351). 80 Die Überwachung der Telekommunikation ist „ein schwerer, im Gewicht jedoch deutlich hinter der heimlichen Kenntnisnahme von Handlungen und Äußerungen, die nach dem Willen der Beteiligten in der Wohnung bleiben sollen, zurückbleibender Eingriff“. Vgl. MVVerfG, LKV 2000, 345 (350 u. 351). 81 Vgl. MVVerfG, LKV 2000, 345 (351). 82 Vgl. MVVerfG, LKV 2000, 345 (351). 83 Vgl. BVerfGE 65, 1 (44); MVVerfG, LKV 2000, 345 (351). 78
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che akustische Überwachung von Wohnraum darf nur als „ultima ratio“ erfolgen. Sie kann im Übrigen nur in Betracht kommen, wenn und solange sich der Beschuldigte vermutlich in ihr aufhält, ist zeitlich zu befristen und bedarf der Anordnung durch einen richterlichen Spruchkörper84. Ein heimliches Abhören und Aufzeichnen von Gesprächen in Privatwohnungen muss sich, selbst wenn es grundsätzlich zulässig ist, auf Gesprächssituationen beschränken, die strafverfahrensrelevante Inhalte umfassen. Aufzeichnungen von Gesprächen mit engsten Familienangehörigen, die sich nicht unmittelbar auf eine konkrete Straftat beziehen, sind unverzüglich zu löschen; jede Verwertung solcher im Rahmen der Strafverfolgung erhobener höchstpersönlicher Daten, die nach ihrem Inhalt keinen unmittelbaren Bezug zu Straftaten aufweisen, ist ausgeschlossen. Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ist nicht unbegrenzt gewährleistet. Der absolute Schutz, der der Privatwohnung verfassungsrechtlich zukommt, reicht nur insoweit, als das in ihr ausgeübte Verhalten um der Menschenwürde willen geschützt ist. Nicht jede Äußerung in einer Privatwohnung hat höchstpersönlichen Charakter und nicht jede heimliche akustische Überwachung von Privatwohnung verletzt damit den Menschenwürdegehalt des Art. 13 I GG. Dort aber, wo sich jemand allein oder ausschließlich mit seinen Familienangehörigen oder anderen engsten Vertrauten in einer Privatwohnung aufhält und keine Anhaltspunkte für deren Tatbeteiligung besteht, werden Handlungen und Gespräche in den Räumen der Privatwohnung zur Wahrung der Menschenwürde absolut geschützt. Dies ergibt sich aber ohne die Annahme der absoluten Schutzwürdigkeit von Privatwohnungen bereits aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
IV. Resümee Die bisherigen Überlegungen zusammenfassend wird der Menschenwürdegehalt des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 I GG) unter Berücksichtigung der im jeweiligen Einzelfall zu ermittelnden Wertigkeit des Allgemeinwohlbelangs „relativ“ bestimmt. Die Grenze staatlicher Zugriffsmöglichkeiten auf die Unverletzlichkeit der Wohnung ist nicht dahin gehend zu ziehen, dass die Räume oder jedenfalls bestimmte Räume einer Wohnung stets und unter allen Umständen „absolut“ geschützt und jedem staatlichen Zugriff entzogen sind85. Auch Privatwohnungen, in denen das Minderheitsvotum im Lauschangriff-Urteil den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung sieht und die damit absolute Schutzwürdigkeit genießen sollen, können im Einzelfall in einer Weise genutzt werden, die diesen absoluten Schutz nicht verdient und einen Eingriff zur Bewahrung anderer hochwertiger Rechtsgüter erforderlich machen kann. Dem Gesetzgeber ist es daher nicht gänzlich verwehrt, für das staatliche Interesse an der Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr Eingriffe auch in eine Wohnung vorzusehen. Der entsprechende Schluss ist allerdings 84 85
Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1002). Vgl. BbgVerfG, LKV 1999, 450 (463).
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nicht nur auf das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung des Art. 13 I GG, sondern auch auf das Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG zu übertragen. Danach ist der Gesetzgeber weder verpflichtet noch steht es ihm frei, dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung absoluten Vorrang vor anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern einzuräumen. Es ist grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten, ob und unter welchen Voraussetzungen die Polizei durch heimliche Datenerhebungen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen darf. Die Grenzen heimlicher Informationseingriffe sind durch den Gesetzgeber zu ziehen, der u. a. die verfahrensrechtlichen Anforderungen und inhaltlichen Maßgaben polizeilicher Datenerhebung und Datenverarbeitung unter Abwägung der Sicherheitsinteressen und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen zu regeln hat. Ob durch eine gesetzliche Regelung der Menschenwürdegehalt des Grundrechts angetastet wird, hängt davon ab, ob die betreffende Eingriffsnorm den Freiheitsgehalt des Grundrechts in einer die Menschenwürde verletzenden Weise entwertet und damit den Schutz, den die Verfassung gewährleisten will, unterläuft86. Bei heimlichen Informationseingriffen ist vor allem Bedacht darauf zu nehmen, dass Art und Weise des Eingriffs zu einer Situation führen können, in der die Menschenwürde verletzt wird. Eine zeitliche und räumliche „Rundumüberwachung“ wird daher regelmäßig schon deshalb unzulässig sein, weil die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass hierbei die Menschenwürde verletzt wird87.
86 87
Vgl. BbgVerfG, LKV 1999, 450 (463). Vgl. BVerfG, NJW 2004, 999 (1004).
Strafprozessuale Verwendung von Zufallsfunden nach polizeirechtlichen Maßnahmen Zur notwendigen Reform der §§ 161 Abs. 2, 100d Abs. 5 Nr. 3, 161 Abs. 3 StPO Von Jürgen Wolter I. Ausgangspunkte und Mannheimer „Institut für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht“ 1. Wolf-Rüdiger Schenke hat mit mir im Jahre 2000 an der Universität Mannheim das „Institut für deutsches und europäisches Strafprozessrecht und Polizeirecht“ (ISP) gegründet. Beim ISP war von Anfang an ein „Arbeitskreis für Strafprozessrecht und Polizeirecht“ (ASP) angesiedelt, dem neben den Begründern des Instituts namhafte Vertreter der Polizeirechtswissenschaft und der Strafprozessrechtswissenschaft, des Bundesgerichtshofs, der Staatsanwaltschaft und der Anwaltschaft sowie der Ministerialverwaltung angehörten, die wiederum zu einem nicht unerheblichen Teil auch zu den Herausgebern und Autoren der vorliegenden Festschrift zählen.1 Das Institut ist zwar ab Oktober 2008 – mit der Verabschiedung seiner Begründer in den „Ruhestand“ – in Mannheim geschlossen worden, jedoch bereits im Dezember 2008 als wissenschaftliche Einrichtung der Universität Trier mit seinem neuen Direktor Mark A. Zöller2 – unter Aufrechterhaltung eines Arbeitskreises für Strafprozessrecht und Polizeirecht – gleichsam „wiederbegründet“ worden. Insofern ist W.-R. Schenke auch weiterhin an dieser interdisziplinären Arbeit – nach wie vor eine Besonderheit in der deutschen und europäischen Wissenschaftslandschaft – beteiligt. Institut und Arbeitskreis in Mannheim haben von 2000 – 2008 fachübergreifend u. a. vier Forschungsprojekte verwirklicht und publiziert, die die rechtspolitische Diskussion wie die Gesetzgebung besonders beeinflusst haben. Und ein Teil-Gesetzesvorschlag aus einem der Forschungsprojekte soll dann auch als Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags dienen. Zu diesen vier Forschungsvorhaben zählte zunächst 1
Zuletzt: Amelung, Baumeister, Esser, Gärditz, Gleß, Gusy, Hilger, B. Huber, Lammer, Laubinger, Mittag, Nack, Paeffgen, Ruthig, R. P. Schenke, Stuckenberg, Weßlau, T. Würtenberger, Zerbes, Zöller. 2 Lehrstuhl für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht sowie Wirtschaftsstrafrecht. An der Mannheimer Habilitation meines Schülers M. Zöller im Jahre 2008 war W.-R. Schenke maßgeblich beteiligt.
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ein vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) in Auftrag gegebener Gesetzentwurf zu den §§ 100 g, 100 h StPO als Nachfolgeregelung zu § 12 FAG von Anfang 20013, der in abgewandelter Form mit Wirkung vom 1. 1. 2002 Eingang in die StPO gefunden hat.4 Dazu gehörte zweitens ein – erneut vom BMJ als Forschungsprojekt initiierter – Gesetzesvorschlag zu den §§ 53b, 97 Abs. 3, 100d Abs. 3, 100 h Abs. 2 StPO im Jahre 20025, der von dem neuen § 160a StPO zu „Ermittlungsmaßnahmen bei Zeugnisverweigerungsrechten“ am 1. 1. 2008 in erheblichen Teilen umgesetzt6 – von den Strafverteidigerverbänden zuvor (2004) sogar vollumfänglich übernommen7 – und inzwischen in einem dringend notwendigen (ersten) Reformgesetz zu § 160a StPO mit Wirkung vom 1. 2. 2011 weiterreichend, wenn auch weiterhin unzureichend, aufgegriffen worden ist.8 Eine weitere Forschungsarbeit – chronologisch betrachtet die letzte aus dem Jahre 2008 – bietet als neuerlichen Gesetzesvorschlag einen „Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz“, ergänzt durch Einzelbeiträge u. a. zu Datenübermitt3 Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP), in: J. Wolter/W.-R. Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002 (Reihe „recht“ des BMJ), S. 361 ff. 4 Gesetz v. 20. 12. 2001 (BGBl. I S. 3879) – dazu Hilger GA 2002, 228; inzwischen überholt durch die §§ 100 g, 477, 101, 161 StPO gemäß Gesetz v. 21. 12. 2007 (BGBl. I S. 3198), in Kraft ab 1. 1. 2008. 5 ASP, in: Zeugnisverweigerungsrechte (Fußn. 3), S. 3 ff. 6 Gesetz v. 21. 12. 2007 (Fußn. 4); dazu Wolter, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, 4. Aufl., Band III, 2011, § 160a Rn. 11 m. Nachw. 7 Gemeinsame Stellungnahme der Strafverteidigerverbände vom März 2004 (Berichterstatter: R. Hamm). 8 § 160a Abs. 1 StPO vom 1. 1. 2008 hatte allein Geistliche, Verteidiger und Abgeordnete nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2, 4 StPO durch ein absolutes Beweiserhebungs- und ggf.-verwertungsverbot bei Ermittlungsmaßnahmen geschützt, bei allen anderen Berufsgeheimnisträgern hingegen nach § 160a Abs. 2 StPO relativierend mit einer gesetzlich angeordneten (selbstverständlichen) Verhältnismäßigkeitsprüfung dem Strafverfolgungsinteresse weitreichenden Vorrang gegeben. Der ASP (Fußn. 3) hatte demgegenüber die Berufsgeheimnisträger nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, 4 und 5 StPO (Verteidiger, Abgeordnete, Medienmitarbeiter) durch ein absolutes Beweiserhebungs- und ggf. Beweisverwertungsverbot, für alle anderen Berufsgeheimnisträger nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 3 – 3b (etwa – neben den Geistlichen – Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Ärzte, Psychotherapeuten, Berater im Rahmen des Schwangerschaftskonfliktgesetzes bzw. des Betäubungsmittelrechts) jedenfalls ein absolutes Beweisverwertungsverbot vorgeschlagen. Das neuerliche Gesetz v. 22. 12. 2010 (BGBl. I S. 2261), in Kraft ab 1. 2. 2011, hat demgegenüber den „absoluten“ § 160a Abs. 1 StPO allein noch auf Rechtsanwälte einschließlich Kammerrechtsbeistände und Personen nach § 206 BRAO erstreckt (krit. SK-StPO/Wolter [Fußn. 6], § 160a Rn. 5a, 11). – Zum Vergleich garantiert auch das Polizeirecht überwiegend ebenfalls absolut sämtliche über ein Berufsgeheimnis gemäß § 53 StPO geschützten Vertrauensverhältnisse, namentlich § 33 b Abs. 2 BbgPolG, Art. 34 Abs. 2 BayPAG bei Eingriffen in die Telekommunikation; vgl. auch § 32 Abs. 1 S. 5, 6, § 33 Abs. 1 S. 5 BbgPolG zur Observation sowie zu Bild- und Tonaufzeichnungen; allgemein § 28 Abs. 4, § 31 Abs. 4 POG Rh.-Pf. und HSOG; § 39 Abs. 2 S. 1 SächsPolG; Art. 34c Abs. 3 Nr. 2, Art. 34d Abs. 4, 5 BayPAG; i.S.v. § 160a StPO a.F. hingegen § 20u BKAG; § 5 Abs. 3 – 5 ThürPAG; § 9a Abs. 2 BWPolG.
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lungen in den Informationssystemen von Europol und an Drittstaaten.9 Der Gesetzentwurf schafft mit Art. 26 AE-Europol u. a. ein Verwendungsverbot für Daten, die unter Verletzung der Menschenwürde oder auf Grund eines schwerwiegenden Verstoßes gegen grundlegende Verfahrensgarantien gewonnen worden sind – mit einer Ausnahme bei Zwecken der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person, sowie einer Rückausnahme bei Daten, die z. B. in einem Strafverfahren gezielt durch Folter erlangt worden sind,10 ein in der Debatte um die Verwendbarkeit von im Ausland (nach Transport von Verdächtigen in einen anderen Staat) erzielten etwaigen Geständnisdaten unmissverständliches Signal. Die damit verbundene allgemeine Problematik der „Übermittlung und Verwendung von strafprozessual erhobenen Daten für präventivpolizeiliche Zwecke“ war dann auch schon ein Schwerpunkt des dritten Forschungsprojekts über „Datenübermittlungen und Vorermittlungen“ von 2003 mit einschlägigen Beiträgen aus der Polizeirechtswissenschaft, namentlich von W.-R. Schenke, R.P. Schenke und T. Würtenberger.11 2. Mit dem vorliegenden Beitrag wird nun „spiegelbildlich“ die aktuelle rechtliche Entwicklung des umgekehrten Datentransfers untersucht – und dann ebenso seitenverkehrt durch einen Vertreter der Strafprozessrechtswissenschaft: Die „Übermittlung und Verwendung von durch (spezielle) polizeirechtliche Maßnahmen erhobenen Daten für strafprozessuale Zwecke“. Im ersten Forschungsprojekt hatte der Arbeitskreis dazu 2001 (publiziert 2002) einen punktuellen und zum Teil vorsorglichen Vorschlag gemacht (§ 100 h Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 StPO-E).12 Er besaß in der damals (1998) geltenden StPO ein gewisses Vorbild in § 100 f Abs. 2 a.F. StPO, der freilich weiter gefasst war, obwohl er sich ganz speziell auf den tiefergreifenden Wohnungsüberwachungseingriff bezog.13 Und er wurde flankiert von der heute in § 161 Abs. 3 9
Weßlau und Gleß/Zerbes, in: Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008, S. 318 ff. und S. 346 ff. 10 ASP, in: Alternativentwurf (Fußn. 9), S. 59 ff. 11 In: Wolter/Schenke/Rieß/Zöller (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen, Festgabe für Hans Hilger, 2003, S. 225 ff., 211 ff., 263 ff.; vgl. auch – aus strafprozessrechtlicher Sicht – daselbst Paeffgen, S. 153 ff.; Rieß, S. 171 ff., Wolter, S. 275 ff. 12 ASP, in: Zeugnisverweigerungsrechte (Fußn. 3), S. 362: „Personenbezogene Informationen, die durch eine § 100 g Abs. 1 oder 2 entsprechende polizeiliche Maßnahme erlangt worden sind, dürfen in Strafverfahren nur gemäß Absatz 3 verwendet werden“ (d. h., da Absatz 3 sich auf die Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren bezog: „soweit sich bei Gelegenheit der Auswertung Erkenntnisse ergeben, die zur Aufklärung einer der in § 100 g Abs. 1 Satz 1 bezeichneten Straftaten [von erheblicher Bedeutung] benötigt werden“). Der Vorschlag nach Absatz 4 war vorsorglich gedacht, weil die Polizeigesetze 2001 noch keine dem § 100 g StPO (§ 12 FAG a.F.) entsprechende Regelung zur Erhebung von Verkehrsdaten (Telekommunikationsverbindungsdaten) enthielten. 13 Eingefügt durch Gesetz v. 4. 5. 1998 (BGBl. I S. 845; in Kraft ab 9. 5. 1998): „Sind personenbezogene Informationen durch eine polizeirechtliche Maßnahme erlangt worden, die der Maßnahme nach § 100c Abs. 1 Nr. 3“ (a.F. = Wohnungsüberwachung) „entspricht, dürfen sie zu Beweiszwecken (!) nur verwendet werden, soweit sich bei Gelegenheit der Auswertung Erkenntnisse ergeben, die zur Aufklärung einer in § 100c Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Straftat
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StPO (2000 wortgleich in § 161 Abs. 2 a.F. StPO) angesiedelten, ebenso punktuellen Vorschrift zur Verwendung von „in oder aus einer Wohnung erlangten personenbezogenen Daten aus einem Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung im Zuge nicht offener Ermittlungen auf polizeirechtlicher Grundlage“ – eine Ausführungsvorschrift zu Art. 13 Abs. 5 GG (seinerseits eingeführt durch Gesetz mit Wirkung vom 1. 4. 1998).14 II. Gesetzliche Mängel bei den geltenden §§ 161 Abs. 2, 100d Abs. 5 Nr. 3, 161 Abs. 3 StPO und Gesetzesvorschlag (§ 161 Abs. 2 StPO-E) In der nachfolgenden und in der heutigen Gesetzeslandschaft hat sich der damalige vorsorgliche Gesetzesvorschlag des ASP zu § 100 g i.V.m. § 100 h Abs. 4 StPO-E zur Verwendung von präventivpolizeilichen Zufallsfunden im Strafprozess15 immerhin zum Teil durchgesetzt. Die heute geltenden §§ 161 Abs. 2, 100d Abs. 5 Nr. 3, 161 Abs. 3 StPO weisen freilich deutliche Mängel in ihrer Konzeption (II., III.) bzw. höchstrichterlichen Interpretation (unten IV.) auf. Andererseits hat der Strafprozessgesetzgeber bei der hier im Vordergrund stehenden „strafprozessualen Verwendbarkeit von Zufallsfunden nach polizeirechtlichen Maßnahmen“ zum Teil – namentlich bei § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO, zum Teil auch bei § 161 Abs. 2 StPO – rechtsstaatlich beachtliche Fortschritte gemacht, die über die ASP-Überlegungen deutlich hinaus-
benötigt werden“. Damit wurde dem damaligen „Standard der StPO“ i.S. des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ bei der Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren – allein bezogen auf den Straftatenkatalog – sachentsprechend Genüge getan (zur Verwendung von Zufallsfunden aus strafprozessrechtlichen Maßnahmen vgl. dementsprechend die damaligen §§ 98b Abs. 3 S. 3 a.F., 100b Abs. 5 a.F., 100d Abs. 5 a.F., 110e a.F. StPO, die § 477 Abs. 2 S. 2 a.F. StPO vorgingen; in geänderter Form heute zusammengefasst in § 477 Abs. 2 S. 2 n.F. StPO). Die Vorschriften der §§ 100 f Abs. 2 a.F., 100b Abs. 5 a.F. StPO usf. waren aber schon deshalb weiter als der parallele ASP-Vorschlag (Fußn. 12), weil die Straftaten-Einengung in der StPO allein im Rahmen der „Beweiszwecke“ galt, „Spurenansätzen“ hingegen in vollem Umfang nachgegangen werden durfte. Der ASP-Vorschlag (Fußn. 12) hatte demgegenüber – für die Verwendung von Zufallsfunden nach strafprozess- wie nach polizeirechtlichen Maßnahmen – die Restriktion auch bei den Spurenansätzen dadurch erreicht, dass der Passus „zu Beweiszwecken“, der sich auch durch die §§ 98b, 100b, 100d, 110e a.F. StPO zog und durch den heutigen § 477 Abs. 2 S. 2 StPO – jeweils zur Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren – zieht, einfach weggelassen wurde (ebenso nunmehr z. B. § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO speziell zur Wohnraumüberwachung, der auf die entsprechende Forderung in BVerfGE 109, 279 [377] zurückgeht). 14 § 161 Abs. 2 a.F. StPO (jetzt § 161 Abs. 3 StPO) wurde eingefügt durch das StVÄG 1999 v. 2. 8. 2000 (BGBl. I S. 1253). Die in/aus einer Wohnung erlangten polizeirechtlichen Daten aus einer Eigensicherungsmaßnahme dürfen nach § 161 Abs. 3 StPO „unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu Beweiszwecken (!) nur verwendet werden (Artikel 13 Abs. 5 des Grundgesetzes), wenn das Amtsgericht … die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen festgestellt hat“. Der Passus „zu Beweiszwecken“ ist also auch insoweit eingeführt und bis heute bewusst beibehalten worden. 15 Fußn. 12.
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weisen (unten II.2.).16 Die Beseitigung der gesetzgeberischen Mängel und das Aufgreifen der rechtsstaatlichen Fortschritte führen zu einem Gesetzesvorschlag, der die drei bezeichneten Regelungen zu einer Vorschrift als § 161 Abs. 2 StPO-E zusammenführt (II.4.). 1. Das Merkmal „zu Beweiszwecken“ a) Zunächst kennt das Polizeirecht inzwischen – unbeschadet der Sonderproblematik der Vorratsdatenspeicherung17 – u. a. auch die Maßnahme der Verkehrsdatenerhebung,18 so dass auch deshalb entsprechend dem damaligen ASP-Vorschlag zu den §§ 100 g, 100 h StPO eine Vorschrift zur Verwendung von polizeirechtlich gewonnenen Daten im Strafverfahren notwendig geworden war. Der Strafprozessgesetzgeber hat mit Wirkung vom 1. 1. 2008 mit § 161 Abs. 2 StPO (mit der alleinigen Ausnahme bei der Wohnraumüberwachung gemäß § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) für sämtliche speziellen polizeirechtlichen Maßnahmen, die in ihrer strafprozessualen Parallel-Gestalt Maßnahmen bei „Verdacht bestimmter Straftaten“ verkörpern (Katalogstraftaten oder „Straftaten von – auch im Einzelfall – erheblicher Bedeutung“), eine übergreifende Vorschrift geschaffen, unter die auch die Konstellation der Verkehrsdatenerhebung fällt; denn § 100 g Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO (auch in der reduzierten Form jenseits der Vorratsdatenspeicherungs-Entscheidung des BVerfG von 2010) erfordert „Straftaten von auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung, insbesondere eine in § 100a Abs. 2 bezeichnete Straftat“: § 161 Abs. 2 S. 1 StPO (2008): „Ist eine Maßnahme nach diesem Gesetz nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen“ (z. B. Polizeigesetzen; Gesetzen über die Nachrichtendienste) „erlangten personenbezogenen Daten … zu Beweiszwecken (!) im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach diesem Gesetz hätte angeordnet werden dürfen.“19
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Vergleichbares gilt für Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren nach den §§ 477 Abs. 2 S. 2, 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO (dazu schon Fußn. 13) – auch im Vergleich zu dem restriktiven § 100 h Abs. 3 StPO-E des ASP (Fußn. 12), nicht aber für die Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden für präventivpolizeiliche Zwecke (zu den §§ 100d Abs. 5 Nr. 2, 477 Abs. 2 S. 3 StPO vgl. unten II. m. Fußn. 36, III.). 17 Art. 34b Abs. 2, 3 BayPAG, § 34a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 ThürPAG und § 20 m Abs. 1 BKAG haben auch auf den vom BVerfG (BVerfGE 125, 260) für verfassungswidrig erklärten § 113a TKG (neben § 96 TKG) Bezug genommen. Das BVerfG verhält sich zu diesen Vorschriften – anders als zu den §§ 100 g StPO, 113a, 113b TKG – zwar nicht; jedoch waren eine entsprechende Beschränkung und Umgestaltung der bezeichneten polizeirechtlichen Vorschriften von Anfang an notwendig (vgl. Wolter, in: Wolter [Hrsg.], SK-StPO, 4. Aufl., Band II, 2010, § 100 g Rn. 1, 35, 36a, 40c m. Nachw.). 18 Vgl. § 23 g Abs. 1 ZFdG; ferner die Angaben in Fußn. 17. 19 Zur Entwicklungsgeschichte kritisch Erb, in: Erb u. a. (Hrsg.), Löwe-Rosenberg (LR), 26. Aufl., Fünfter Band, 2008, § 161 Rn. 3b; SK-StPO/Wohlers (Fußn. 6), § 161 Rn. 51 ff.; Wolter, FG Hilger (Fußn. 11), S. 275 (279 ff.) m. Nachw.; Rieß, FG Hilger, S. 171 (177 f.).
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Gegenüber dem ASP-Vorschlag nach § 100 h Abs. 4 StPO-E fällt als erstes auf, dass die Straftaten-Restriktion i.S. eines sog. „hypothetischen Ersatzeingriffs“ allein den „Beweis-Erkenntnissen“ („zu Beweiszwecken“), nicht jedoch allen verbleibenden „Spurenansätzen“ gilt. Spurenansätzen aus präventivpolizeilichen Ausgangsermittlungen kann demnach im Rahmen einer jeden Straftat, auch eines Bagatelldelikts, strafprozessual nachgegangen werden.20 Damit wird freilich von Gesetzes wegen verkannt, dass jede zweckentfremdende Verwendung von Daten zu einem erneuten, regelmäßig vertiefenden Grundrechtseingriff führt21 und dass „in einem Folgeverfahren Informationen … verwendet werden, ohne dass in diesem Verfahren jemals der Verdacht einer Katalogtat bestanden hat“.22 Die Betroffenen würden (und werden) so jeweils auf Grund eines Rechtsinstituts überführt, das mit Blick auf das herausgehobene Gewicht z. B. vom Art. 10 GG (oder auch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) dafür gerade nicht eingeführt werden sollte.23 Es ist jedoch weder systemgerecht noch rechtsstaatlich einwandfrei, Daten zu Lasten des Betroffenen zu verwenden, deren Erhebung der Gesetzgeber in dieser Form ausdrücklich für unzulässig erklärt hat. Insofern spricht zumindest de lege ferenda, jedoch dann eher unter klarstellendem Aspekt (und i.S. eines nur ersten Schritts) viel dafür, und es ist für die Strafverfolgungsbehörden schon jetzt naheliegend, § 161 Abs. 2 S. 1 StPO aus Gründen der Verhältnismäßigkeit dahin zu reduzieren, dass auch Spurenansätze allein im Rahmen der jeweiligen Katalogstraftaten verfolgt werden dürfen.24 In diesem Sinne war nach unseren damaligen ASP-Diskussionen auch der – wenngleich „forschungsauftragsge20
Zur Erläuterung vgl. schon die Ausführungen in den Fußn. 12, 13. ASP in: Zeugnisverweigerungsrechte (Fußn. 3), S. 362; vgl. auch BVerfGE 100, 313 (366); 107, 299 (328); 109, 279 (375 f.); 110, 33 (73, 75); grundsätzlich auch BT-Drucks. 16/ 5846, S. 64 zu § 161 Abs. 2 StPO. 22 So BVerfGE 109, 279 (377) – jedenfalls zur Wohnungsüberwachung (§ 100d Abs. 5 S. 2 a.F. StPO) und zur Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren. 23 Die Datenverwendung muss sich ohnehin erneut an Art. 13 GG (BVerfGE 109, 279 [375]) bzw. an Art. 10 GG (BVerfGE 100, 313 [360]) messen lassen. 24 Entsprechend hatte der Gesetzgeber für kurze Zeit (2005 – 2008) auch bei dem „Einsatz technischer Mittel außerhalb von Wohnungen“ entschieden (§ 100 f Abs. 5 a.F. StPO) – jedenfalls für die Parallele der Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden (entsprechend § 100 h Abs. 3 StPO-E im ASP-Vorschlag; oben Fußn. 12). Dass der Gesetzgeber 2008 zur Begründung des § 161 Abs. 2 S. 1 StPO auf BVerfG, NJW 2005, 2766 verweist (BT-Drucks. 16/ 5846, S. 64), eine Entscheidung, die sich ebenfalls mit der Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden befasst und die die weiterreichende Nutzung von Spurenansätzen zulässt, ist demgegenüber von wenig Durchschlagskraft. Denn einmal geht es hier allein um eine Willkürkontrolle bzw. um die Verletzung speziellen Verfassungsrechts; zum anderen handelt es sich um eine bloße Kammerentscheidung; und drittens ist die strafprozessuale Verwendung von präventivpolizeirechtlichen Zufallsfunden, bei der die Zweckbindung in verstärktem Maße aufgehoben wird, gerade nicht betroffen. Andererseits erfordert es der auch für die Verwendung von Spurenansätzen geltende Gesetzesvorbehalt nicht, dass gerade diese Verwendbarkeit ausdrücklich gesetzlich geregelt wird. Diesem Anliegen ist z. B. in § 161 Abs. 2 S. 1 StPO vielmehr schon durch den Passus „zur Aufklärung“ von „Straftaten“ Genüge getan (vgl. SKStPO/Wolter [Fußn. 17], § 100d Rn. 36; aber auch HK/Zöller, StPO, 4. Aufl. 2009, § 161 Rn. 32). 21
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mäß“ allein auf § 100 g StPO-E bezogene – § 100 h Abs. 4 StPO-E mit seiner eher allgemeinen Begründung zu begreifen. b) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Strafprozessgesetzgeber bereits im Jahre 2005 für die Wohnraumüberwachung als Eingriff in Art. 13 GG eine Ausnahme i.S. des ASP-Vorschlags gemacht hat. Diese Ausnahme war von der die Gesetzgebung erst auslösenden Wohnraumüberwachungs-Entscheidung des BVerfG 2004 nicht zwingend vorgegeben. Denn der damals einschlägige § 100 f Abs. 2 a.F. StPO, der den Passus „zu Beweiszwecken“ ebenfalls enthielt,25 war ausdrücklich nicht Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung.26 Das BVerfG hatte jedoch für die Verwendung der strafprozessualen Zufallsfunde in anderen Strafverfahren die bezeichnete Restriktion für Spurenansätze eingefordert; dem ist der Gesetzgeber 2005 mit § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO – unter Weglassen des Passus „zu Beweiszwecken“ – gefolgt.27 Und für unsere Problematik – die strafprozessuale Verwendung von Zufallsfunden nach polizeirechtlichen Maßnahmen – hat er sodann ebenfalls 2005 (bestätigt 2008) die Beschränkung in § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO mit Blick auf die besondere Eingriffstiefe der Wohnungsüberwachung in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO übernommen; insofern bleibt dann auch nach § 161 Abs. 2 S. 2 StPO von 2008 der § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO ausdrücklich „unberührt“. Damit ist im Ergebnis – sogar ohne Druck des BVerfG – § 100 f Abs. 2 a.F. StPO zur Wohnungsüberwachung aufgegeben und dem ASP-Entwurf gemäß § 100 h Abs. 4 StPO-E, der gemäß seiner Begründung schon auf sämtliche Grundrechtseingriffe zielte, für einen engen Teilbereich Folge gegeben worden: § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (2005/2008): „Sind verwertbare personenbezogene Daten durch eine entsprechende polizeirechtliche Maßnahme erlangt worden, dürfen sie in einem Strafverfahren … nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c“ (strafprozessuale Wohnraumüberwachung) „angeordnet werden könnte, … verwendet werden.“
c) Zunächst ist es bedauerlich, dass der Gesetzgeber nicht aus § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO und § 161 Abs. 2 S. 1 StPO eine einzige wortgleiche Vorschrift geformt hat, was § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (und § 161 Abs. 2 S. 2 StPO) obsolet gemacht hätte. Aber dann hätte in restriktiver (eher nur klarstellender) Absicht in § 161 Abs. 2 StPO der Passus „zu Beweiszwecken“ gestrichen werden müssen (dazu oben a]); und man hätte sich ebenso – erneut wie in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO – auf im polizeilichen Ausgangsverfahren gewonnene „verwertbare“ personenbezogene Daten – so der Eingangspas25
Wortlaut und Erläuterung in Fußn. 13. BVerfGE 109, 279 (375). 27 Gesetz v. 24. 6. 2005 (BGBl. I S. 1841, in Kraft ab 1. 7. 2005 als § 100d Abs. 6 Nr. 1 StPO), bestätigt durch Gesetz v. 21. 12. 2007 (Fußn. 4) als § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO. Zum Weglassen des Passus „zu Beweiszwecken“ Fußn. 13. Vgl. noch Fußn. 24. – Daneben ging es in BVerfGE 109, 279 (374 ff.) um § 100 f Abs. 1 a.F. StPO mit der gesetzlichen Folge des § 100d Abs. 6 (bzw. Abs. 5) Nr. 2 StPO: präventivpolizeiliche Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden. 26
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sus von § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO – ausdrücklich beschränken müssen (dazu unten III.). Hingegen ist § 161 Abs. 3 StPO im Vergleich zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO schon de lege lata entsprechend – d. h. zwingend wie § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO – zu lesen. Wenn nämlich die Eingriffstiefe der Wohnraumüberwachung (u. a.) eine doppelte Restriktion mit Blick auf die Spurenansätze wie auf einen engen Straftatkatalog erfordert, dann bleibt der 2008 wortgleich erneuerte § 161 Abs. 3 StPO (§ 161 Abs. 2 a.F. StPO von 200028) durchaus inkonsequent: § 161 Abs. 3 StPO (2000/2008): „In oder aus einer Wohnung erlangte personenbezogene Daten aus einem Einsatz technischer Mittel zur Eigensicherung im Zuge nicht offener Ermittlungen auf polizeirechtlicher Grundlage dürfen unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu Beweiszwecken nur verwendet werden (Artikel 13 Abs. 5 des Grundgesetzes), wenn das Amtsgericht (§ 162 Abs. 1), in dessen Bezirk die anordnende Stelle ihren Sitz hat, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme festgestellt hat.“
Denn bei einem vergleichbaren präventivpolizeilichen Wohnungseingriff (hier zur Eigensicherung des nicht offen ermittelnden Beamten), der freilich an einen anderen Grundrechtseingriff gekoppelt ist, wird so – entgegen § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO – auf den Bezug zu einem restriktiven Deliktskatalog verzichtet und der die Ermittlungsmöglichkeiten via Verfolgung von jeglichen Spurenansätzen grundsätzlich erheblich ausdehnende Passus „zu Beweiszecken“ beibehalten. Nähme man den Wortlaut von § 161 Abs. 3 StPO im Vergleich zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO ernst, so müsste bei der Verfolgung von (jedweden) Spurenansätzen, selbst bei Bagatelldelikten, noch nicht einmal der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders und ausdrücklich beachtet werden.29 Dies alles ist schon angesichts der bezeichneten Forderungen des BVerfG in der Wohnraumüberwachungs-Entscheidung30 und mit Blick auf den parallelen § 100d Abs. 5 Nr. 1 und Nr. 3 StPO weder rechtsstaatlich hinnehmbar noch systemgerecht. 28
Näher Fußn. 14. Hingegen ist der Hinweis darauf, dass der neue Spurenansatz nicht an die richterliche Rechtmäßigkeitskontrolle gebunden wird, während der dazugehörige Art. 13 Abs. 5 S. 2 GG eine solche Unterscheidung nicht trifft (Hilger, NStZ 2000, 564 Fußn. 55; auch noch SK-StPO/ Wolter [Fußn. 17], § 100c Rn. 24), problematisch. Denn die Rechtmäßigkeitskontrolle bezieht sich nach dem klaren Wortlaut von § 161 Abs. 3 StPO, Art. 13 Abs. 5 S. 2 i.V.m. S. 1 GG allein auf die polizeirechtliche Maßnahme der Eigensicherung und nicht – sogar über die die Eigensicherung auslösende polizeirechtliche Maßnahme (dazu schon LR/Erb [Fußn. 19], § 161 Rn. 75) hinaus – noch weiter auf die strafprozessuale Verwendung der bei der Maßnahme erlangten Daten (so aber LR/Erb a.a.O.). Dafür spricht die Regelung der örtlichen Zuständigkeit in § 161 Abs. 3 StPO sowie vor allem, dass mit der Rechtmäßigkeitsprüfung allein die fehlende richterliche Kontrolle bei der Anordnung der Eigensicherungs-Maßnahme ausgeglichen werden soll (LR/Erb, § 161 Rn. 68; vgl. auch Art. 34 Abs. 8 S. 1 und 2 BayPAG: Anordnung der Eigensicherungs-Maßnahme durch einen Behördenleiter nach Art. 33 Abs. 5 BayPAG; richterliche Rechtmäßigkeitskontrolle dieser Maßnahme vor Verwendung der dadurch erlangten Erkenntnisse zu Zwecken der Strafverfolgung; ebenso § 28a Abs. 4 SPolG). 30 BVerfGE 109, 279 (375, 377). 29
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Dass § 161 Abs. 3 StPO ein Ausführungsgesetz zu Art. 13 Abs. 5 GG darstellt,31 der einen Straftatenkatalog nicht aufweist, aber dann übrigens auch nicht das (an sich selbstverständliche32) Merkmal der Verhältnismäßigkeit enthält, ist schon grundsätzlich nicht entscheidend. Denn Art. 13 Abs. 5 GG schafft allein für den Verzicht auf einen generellen Richtervorbehalt bei der Anordnung der Eigensicherungs-Maßnahme einen Ausgleich; an seine Stelle tritt die Voraussetzung, dass die Rechtmäßigkeit der Maßnahme für den Fall konkret richterlich festgestellt wird, dass die dabei erlangten Daten in einem Strafverfahren verwendet werden sollen.33 Hingegen sollte damals nicht hinter die restriktiven Voraussetzungen der parallelen Absätze 3 und 4 von Art. 13 GG zurückgegangen werden.34 Ohnehin fehlt in Art. 13 Abs. 5 GG dann ebenso der Passus „zu Beweiszwecken“. Es bleibt deshalb allein der Weg, § 161 Abs. 3 StPO schon de lege lata (vor einer dann nur klarstellenden Gesetzesänderung) in Anlehnung an § 100d Abs. 5 Nr. 1 und vor allem an Nr. 3 StPO sowie im Lichte von BVerfGE 109, 279 teleologisch zu reduzieren: Die „Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ erfordert danach durchweg – bei der Verfolgung von Beweisen wie von Spurenansätzen – die Eingrenzung durch den Straftatenkatalog nach § 100c Abs. 2 StPO.35 Freilich ist auch diese Restriktion nur ein erster Schritt (vgl. sogleich 2. und 3.). 2. Die sog. Vereinbarkeit (Umgehungsverbot und „umfassender hypothetischer Ersatzeingriff“) Die unter 1. erreichte doppelte Angleichung des § 161 Abs. 3 StPO an Kriterien des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO, d. h. die Bindung auch der Verfolgung von Spurenansätzen an einen besonders verengten Straftatkatalog unter Wegfall des Merkmals „zu Beweiszwecken“, reicht von Verfassungs und Verfassungsgerichts wegen noch nicht aus. Vielmehr ist auch in § 161 Abs. 3 StPO nach dem weiterreichenden Vorbild des § 100 Abs. 5 Nr. 3 StPO, insoweit sogar nach dem Vorbild des § 161 Abs. 2 StPO, die sog. „Vereinbarkeit“ i.S. eines Umgehungsverbots und eines „umfassenden hypothetischen Ersatzeingriffs“ zu integrieren.36 Auf diese Weise soll die grundsätzliche 31
Oben I. 2. a.E. mit Fußn. 14. LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 73; SK-StPO/Wohlers (Fußn. 6), § 161 Rn. 55; Wollweber, NJW 2000, 3624. 33 Oben Fußn. 29. 34 Überzeugend LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 71. 35 Vgl. auch LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 72 f.; Hilger, NStZ 2000, 564; ders. StraFo 2001, 111; SK-StPO/Wohlers (Fußn. 6), § 161 Rn. 56; Wolter, FG Hilger, S. 275 (282); HK/Zöller (Fußn. 24), § 161 Rn. 35; zur Entwicklungsgeschichte vgl. SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100c Rn. 23; ferner § 29 Abs. 11 S. 2 PolG Rh.-Pf. („nur zur Verfolgung einer in § 100c StPO genannten Straftat“); allgemein § 4 Abs. 4 G10, §§ 19 – 21 BVerfSchG; hingegen ohne weiteres dem Gesetzeswortlaut des § 161 Abs. 3 StPO folgend Griesbaum, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung (KK), 6. Aufl. 2008, § 161 Rn. 41. 36 Ebenso § 100b Abs. 5 Nr. 1 und § 477 Abs. 2 S. 2 StPO für die Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden in anderen Strafverfahren (anders die §§ 98b Abs. 3 S. 3 a.F., 100b 32
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Zweckbindung von personenbezogenen Daten abgesichert werden; der Verwendungszweck bei der Erhebung der Daten muss mit dem Verwendungszweck nach der Zweckänderung der Daten vereinbar sein. a) Umgehungsverbot („Entsprechungsklausel“) Nimmt man § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO als Ausgangspunkt in den Blick, „so läge eine Unvereinbarkeit vor, wenn mit der Zweckänderung grundrechtsbezogene Beschränkungen des Einsatzes bestimmter Erhebungsmethoden umgangen würden, die Informationen also für den geänderten Zweck nicht oder nicht in dieser Art und Weise hätten erhoben werden dürfen“.37 Nach der Rechtsprechung des BVerfG und dann auch nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO ist es z. B. ausgeschlossen, dass Daten, die rechtmäßig durch einen (zulässigen) präventivpolizeilichen Bildeingriff in Wohnungen erlangt worden sind, für strafprozessuale Zwecke verwendet werden, da § 100c StPO (akustische Wohnraumüberwachung) eine solche optische Überwachung von vornherein nicht zulässt38 – mögen die polizeirechtlich erlangten Erkenntnisse auch im Hinblick auf das präventivpolizeiliche Ausgangsverfahren und ggf. die weitere Gefahrenabwehr (i.S. der Eingangsformulierung von § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) „verwertbare personenbezogene Daten“ sein. Der Gesetzgeber 2008 hat das Umgehungsverbot als Teil der Vereinbarkeit z. B. in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (aber auch in § 161 Abs. 2 StPO) dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es sich dann nicht um eine „entsprechende Maßnahme“ handelt („Entsprechungsklausel“ als Umschreibung des Umgehungsverbots und Teil der „Vereinbarkeit“ bzw. des „hypothetischen Ersatzeingriffs“). Wollte man das sogleich auf den Sonderfall des § 161 Abs. 3 StPO übertragen, so gälte das Umgehungsverbot bei einer reinen „Bild-/Video-Eigensicherung“ wie bei einem solchen Bildeingriff, der mit einer Tonaufnahme und Tonaufzeichnung verbunden ist; dann wäre auch die isolierte Tonspur nicht verwendbar.39 Und die bezeichneten Grenzen (die bei Nichtkatalogtaten und dann bei der Verfolgung von Spuren-
Abs. 5 a.F., 100d Abs. 5 a.F., 110e a.F. StPO – dazu oben Fußn. 13); anders und wenig konsequent hingegen § 100b Abs. 5 Nr. 2, § 477 Abs. 2 S. 3 StPO zur Verwendung von strafprozessualen Zufallsfunden für präventivpolizeiliche Zwecke – und dies, obwohl das BVerfG (BVerfGE 109, 279 [378]) entsprechende Regelungen bzw. Grundsätze angemahnt hat; anders auch noch der ASP-Vorschlag in § 100 h Abs. 4, 3 StPO-E, der insofern damals noch verbesserungswürdig war (näher Fußn. 13). 37 BVerfGE 100, 313 (389 f.); 109, 279 (377); 65, 1 (46, 62); 110, 33 (73); 125, 260 ff. (Nr. 236); Wolter, FS Roxin, 2001, S. 1166 f. 38 Wolter, FS Rieß, 2002, S. 645; vgl. auch KK/Nack, StPO, 5. Aufl. 2003, § 100 f a.F. Rn. 8; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. 2010, § 100d Rn. 9a zu § 20v Abs. 5 S. 1 Nr. 3 BKAG. 39 KK/Nack, 5. Aufl. 2003, § 100 f a.F. Rn. 9; SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100d Rn. 66 für § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (ferner § 100d Rn. 71 m. Hinweis auf Art. 13 Abs. 5 S. 1 GG, § 16 Abs. 1 BKAG); vgl. auch LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 69, 71a für § 161 Abs. 3 StPO.
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ansätzen sowie beim Bild- bzw. Bild-/Toneingriff eingreifen) dürfen dann auch nicht durch die Vernehmung des Verdeckten Ermittlers als Zeugen überwunden werden.40 b) Klausel des umfassenden hypothetischen Ersatzeingriffs: „Straftat, auf Grund derer eine solche Maßnahme angeordnet werden könnte“ Der Grundsatz des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ umfasst freilich nach der Wohnraumüberwachungs-Entscheidung des BVerfG von 200441 und der nachfolgenden Regelung u. a. in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO von 2005/2008 deutlich mehr. Der hypothetische Eingriff ist nicht nur auf den Straftatkatalog (vgl. § 100c Abs. 2 StPO) zu beziehen, sondern auch auf die besondere Schwere der jeweiligen Straftat im Einzelfall (jetzt § 100c Abs. 1 Nr. 2 StPO), auf den Beweisnotstand gemäß der Subsidiaritätsklausel (nach § 100c Abs. 1 Nr. 4 StPO: „auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos“42) sowie auf den Verdachtsgrad (qualifizierter Verdacht i.S. zugrunde liegender „bestimmter Tatsachen“ gemäß § 100c Abs. 1 Nr. 1 StPO43). Der Gesetzgeber hat das 2005/2008 dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die (verwertbaren) Daten aus dem polizeirechtlichen Ausgangsverfahren nur zur Aufklärung einer Straftat, „auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“, in einem Strafverfahren verwendet werden dürfen. c) Ergänzung: „Hypothetische Verwertungs- und Verwendungsverbote“ Mit dieser zweiten Klausel („hypothetische Anordnung nach § 100c StPO“) sind dann namentlich auch „hypothetische Beweiserhebungs- und -verwertungsverbote“ bei der strafprozessualen Verwendung der Daten zu beachten.44 Die hypothetische Maßnahme nach § 100c StPO dürfte also z. B. nicht am Schutz der Zeugnisverweigerungsrechte nach § 100c Abs. 6 StPO oder am Schutz der Kernbereichs privater Lebensgestaltung gemäß § 100c Abs. 4 und 5 StPO scheitern (vgl. ferner den allgemeinen Rechtsgedanken gemäß den §§ 160 Abs. 4, 98c S. 2, 477 Abs. 2 S. 1, 481 Abs. 2 StPO: Unzulässigkeit der Verwendung, „soweit besondere bundesgesetzliche [oder 40
Vgl. jedoch KK/Nack, 5. Aufl. 2003, § 100a a.F. Rn. 14; LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 69; aber auch Hilger, NStZ 2000, 564 Fußn. 56. 41 BVerfGE 109, 279 (377). 42 Das BVerfG (BVerfGE 109, 279 [378]) betont freilich mit Recht die geringeren Anforderungen, weil die Unsicherheit der Prognose angesichts der feststehenden belastenden Information entfällt und eine alternative Beweiserhebung ebenfalls in die Grundrechte des Betroffenen eingreifen würde. 43 Insbesondere bei einem zulässigen präventivpolizeilichen Ausgangsverfahren ist andererseits zwangsläufig nicht erforderlich, dass ex ante Verdachtsgrundlagen vorhanden sind, die auf einen Zufallsfund für ein späteres Strafverfahren hindeuten. 44 SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100d Rn. 67, 69a; ders., FS BGH, 2000, 993; vgl. auch KK/Nack, 5. Aufl. 2003, § 100 f a.F. Rn. 8; MVVerfGH, LKV 2000, 357.
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entsprechende landesgesetzliche] Verwendungsregelungen entgegenstehen“). Insofern sind nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO die im tatsächlichen polizeirechtlichen Ausgangsverfahren verwertbaren Daten (dazu unten 3.) von den im hypothetischen Strafverfahren verwertbaren (und dann entsprechend verwendbaren) Erkenntnissen zu unterscheiden.45 Und die beiden Fragen nach der Verwertbarkeit von Daten im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren einerseits und im strafprozessualen Folgeverfahren andererseits können mit Blick auf die weiterreichenden grundrechtlichen Schutzpflichten46 durchaus unterschiedlich beantwortet werden. So mögen z. B. dieselben Zeugnisverweigerungsrechte im Polizeiverfahren zu durchaus geringeren Beschränkungen führen als im Strafprozess.47 Und zu erinnern ist auch an das Beispiel des im Polizeiverfahren zulässigen bildlichen Wohnungseingriffs, der dann zu polizeirechtlich verwertbaren Daten führt, die jedoch im Strafprozess nicht verwendbar wären. d) Im Übrigen wiederholt sich beim „Umgehungsverbot“ und beim „umfassenden hypothetischen Ersatzeingriff“ i.S. der „Vereinbarkeit“ einschließlich der „hypothetischen Verwertungs- und Verwendungsverbote“ weitgehend die Entwicklungsgeschichte, wie sie schon von dem Merkmal „zu Beweiszwecken“ (oben 1.b]) bekannt ist. Das BVerfG prüft und verlangt diese Vereinbarkeit 2004 allein für die Verwendung strafprozessualer Zufallsfunde in anderen Strafverfahren (Ergebnis 2005/ 2008: § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO; ferner § 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO: Verwendung strafprozessualer Zufallsfunde im präventivpolizeilichen Verfahren). Der Gesetzgeber überträgt § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO – ohne Druck des BVerfG – sodann auf die Verwendung polizeirechtlicher Zufallsfunde im Strafverfahren nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (2005/2008) und sogar nach 161 Abs. 2 StPO (2008). Dann aber bleibt völlig unverständlich, dass diese Regelung nicht auch auf den mit § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO nachgerade verwandten § 161 Abs. 3 StPO (2000/2008) mitübertragen worden ist. Im Ergebnis sollte deshalb § 161 Abs. 3 StPO schon de lege lata grundsätzlich als ein Fall des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO gelesen und behandelt werden.48
45 Zu den Begriffen „Verwertbarkeit“ und „Verwendbarkeit“ Wolter, FS Roxin, 2011, Band II, S. 1245 (1258 ff.); allg. Dencker, FS Meyer-Goßner, 2001, S. 237, 243, 254; Singelnstein, ZStW 120 (2008), 865 ff. 46 W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 215 f.; Würtenberger/ Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 659; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl. 2008, § 17 Rn. 69; vgl. auch Wolter, FS Roxin, 2011, Band II, S. 1245 (1261 f.); ders., FS Rieß, S. 646; Würtenberger/W.-R. Schenke, JZ 1999, 548; BGHSt 54, 69 (81 f.). 47 Dazu schon die Angaben in Fußn. 8. 48 Vgl. auch LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 71a. Dies gilt ohnehin schon bei Eigensicherungs-Maßnahmen im Rahmen strafprozessualer Ermittlungen im Ausgangsverfahren (LR/ Erb, § 161 Rn. 70).
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3. Die „Verwertbarkeit“ der Daten im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren bei § 161 Abs. 3 StPO Doch setzt diese vollkommene Deckungsgleichheit von § 161 Abs. 3 StPO und § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO voraus, dass es sich bei den im polizeilichen Ausgangsverfahren gewonnenen Erkenntnissen entsprechend § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO um „verwertbare“ personenbezogene Daten handelt (vgl. den Eingangspassus von § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO). Da nun aber diese sachentsprechende Restriktion bereits der Eingriffstiefe der Wohnraumüberwachung geschuldet ist und entsprechend in § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO und zumindest teilweise (Satz 2) in § 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO49 Eingang gefunden hat, spricht auch gegen diese letzte Parallele schon de lege lata nichts. Bezeichnenderweise hat der Gesetzgeber 2008 (nur) in dem parallelen § 161 Abs. 2 S. 1 StPO, der sich aus seiner Sicht auf durchweg weniger gewichtige spezielle Grundrechtseingriffe bezieht, den Passus der Verwertbarkeit weggelassen (vgl. aber unten III.). Die darüber hinaus erforderliche Rechtmäßigkeitsfeststellung des Amtsgerichts gemäß § 161 Abs. 3 StPO gleicht ohnehin allein den fehlenden generellen Richtervorbehalt bei der Anordnung der Eigensicherungs-Maßnahme aus (oben 1.c)). Auch führt nicht jede rechtmäßige Anordnung und Umsetzung einer (solchen) polizeirechtlichen Maßnahme zu im polizeilichen Ausgangsverfahren verwertbaren Daten (etwa dann nicht, wenn sich erst im Nachhinein die Beeinträchtigung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung herausstellt).50 4. Gesetzesvorschlag (§ 161 Abs. 2 StPO-E) Eine reformierte Vorschrift, die § 161 Abs. 3 StPO, § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO, Art. 13 Abs. 5 S. 2 GG sowie ggf. sogar § 161 Abs. 2 S. 1 StPO (dazu unten III.) zusammenführt und dann als neuer § 161 Abs. 2 StPO an die systematische Stelle des § 161 Abs. 2 und Abs. 3 StPO (unter Streichung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO und zwangsläufig auch des § 161 Abs. 2 S. 2 StPO) rückt, könnte deshalb lauten: § 161 Abs. 2 StPO-E: „1Ist eine Maßnahme nach diesem Gesetz nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten verwertbaren personenbezogenen Daten51 ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Personen in einem Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, auf Grund derer eine solche Maßnahme nach diesem Gesetz angeordnet werden könnte. 2Die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme durch das Amtsgericht gemäß Artikel 13 Abs. 5 Satz 2 des Grundgesetzes bleibt unberührt.“ 49 Krit. zu § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100d Rn. 46 ff. (erg. unten III.). 50 Nähere allgemeine Angaben zur Reichweite des Kernbereichs privater Lebensgestaltung in Polizeirecht W.-R. Schenke (Fußn. 46), Rn. 196; SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100c Rn. 17 – 19. 51 Das Merkmal der „Verwertbarkeit“ ist hinzugefügt und das Merkmal „zu Beweiszwecken“ fehlt an dieser Stelle – entgegen dem geltenden § 161 Abs. 2 und Abs. 3 StPO; dazu oben 1. a) und 1. c).
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Man könnte die Vorschrift gleichlautend auch als § 477 Abs. 2 S. 3a StPO-E einführen. Dann würde man zumindest die Systematik des § 100d Abs. 5 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 StPO mit § 477 Abs. 2 S. 2, S. 3 und S. 3a StPO in einer zentralen Vorschrift der Strafprozessordnung zur Verwendung von Daten (bei speziellen Grundrechtseingriffen mit Verdacht bestimmter Straftaten) wiederaufgreifen (vgl. noch unten V.). III. Die „Verwertbarkeit“ der Daten im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren bei § 161 Abs. 2 StPO und § 161 Abs. 2 StPO-E Nach allem bleibt die Frage, ob man auch für § 161 Abs. 2 StPO, d. h. bei speziellen Grundrechtseingriffen jenseits/„unterhalb“ der Wohnungsüberwachung, (de lege lata vel ferenda) verlangen muss, dass die im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren erlangten personenbezogenen Daten „verwertbar“ sind. Der unter II.4. unterbreitete Gesetzesvorschlag setzt das schon voraus. Dagegen lässt sich freilich vorbringen, dass die Wohnraumüberwachung den intensivsten Grundrechtseingriff darstellt und insofern eine Abstufung zwischen § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (und § 161 Abs. 3 StPO in der hier unterbreiteten Gestalt) einerseits sowie § 161 Abs. 2 StPO andererseits angezeigt oder jedenfalls begründbar ist. Und man mag darauf verweisen, dass das BVerfG mit seiner Forderung nach der „Verwertbarkeit“ der Daten allein die Wohnraumüberwachung und nicht die Fälle des § 161 Abs. 2 StPO auf dem Prüfstand hatte. Derartigen Einwänden ist zu widerstreiten. Der Gesetzgeber lässt zunächst einmal jede Systematik und Dogmatik bei den bezeichneten Vorschriften vermissen. So enthält sowohl § 161 Abs. 2 StPO (sonstige Eingriffe) wie § 161 Abs. 3 StPO (Wohnungsüberwachung) das ausweitende Merkmal „zu Beweiszwecken“ (zur künftigen Streichung oben 1.c]). Andererseits unterscheidet der Gesetzgeber bei § 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO, obwohl es um den Wohnungsüberwachungseingriff geht, zwischen im Anlassverfahren „verwertbaren“ (Satz 2) und nicht verwertbaren Daten (Satz 1). Da diese Vorschrift – in Gestalt des § 100 f Abs. 1 a.F. StPO – jedoch vom Prüfungsrahmen des BVerfG umfasst war, widerspricht die vom Gericht geforderte gesetzgeberische Lösung bereits der verfassungsgerichtlichen Entscheidung. Denn das BVerfG stellt einerseits (mit Blick auf § 100d Abs. 5 S. 2 a.F. StPO, nunmehr § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO) fest: „Dürfen die erhobenen Erkenntnisse bereits im Anlassverfahren nicht verwertet werden, gilt dies erst recht für die Verwertung in anderen Verfahren, da § 100d Abs. 5 Satz 2 StPO [a.F.] als reine Verwertungsvorschrift eine ordnungsgemäße Erhebung der Informationen voraussetzt.“ Und es fährt andererseits (im Hinblick auf § 100 f Abs. 1 a.F. StPO, nunmehr § 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO) fort: „Auch bei einer Übermittlung von strafprozessual gewonnenen Informationen an Polizeibehörden zur Gefahrenabwehr … haben sich die Voraussetzungen für die Zweckänderung an entsprechenden Grundsätzen zu orientieren.“52
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BVerfGE 109, 279 (378).
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Die erste Aussage mit dem Erfordernis der Verwertbarkeit der erhobenen Erkenntnisse im Anlassverfahren bzw. der „ordnungsgemäßen Erhebung der Daten“ lässt sich jedoch auf die weiteren speziellen Grundrechtseingriffe erstrecken.53 Dies gilt zunächst für den Fall, dass bei der Erhebung der Daten der unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung54 oder ein anderer Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG beeinträchtigt wird. Dies mag auch – entgegen dem „Rechtsgedanken“ in § 100d Abs. 5 Nr. 2 S. 1 StPO – dann gelten, wenn z. B. Zeugnisverweigerungsrechte des Geistlichen oder Abgeordneten (vgl. auch § 160a Abs. 1 StPO)55 oder andere wesentliche Verfahrensprinzipien verletzt werden.56 Vergleichbare Grundsätze müssen eingreifen, wenn eine hinreichende Rechtsgrundlage für die polizeiliche Maßnahme fehlt (vgl. aber unten IV. zu BGHSt 54, 69) oder wenn die grundgesetzlichen Grenzen nach Art. 13 Abs. 4 GG nicht eingehalten werden. Das BVerfG stellt bei alledem auch gesetzliche und ungeschriebene („verfassungsunmittelbare“) Verwertungsverbote gleich; sie seien bei der Weiterverwendung oder „bei der Verwertung von Zufallsfunden ebenso zu beachten wie im Anlassverfahren“.57 Man kann dem Gesetz – nunmehr beim hier näher behandelten umgekehrten Datentransfer (§ 161 Abs. 2 StPO in geltender Fassung) – auch nicht dadurch zur Anerkennung verhelfen, dass man angesichts der Strafverfolgungspflicht des Staates die Verwertbarkeit der Daten im präventivpolizeilichen Anlassverfahren als von vornherein unbeachtlich erklärt – zumindest i.S. eines „ethischen Minimums“ (z. B. zur Verfolgung von Straftaten gegen das Leben einschließlich der in § 139 Abs. 3 StGB bezeichneten Taten). Das erklärt schon nicht hinreichend, aus welchem Grund der Gesetzgeber die „Verwertbarkeit“ in § 100d Abs. 5 Nr. 3 (und in Nr. 1) StPO verankert hat. Und anders als beim zuvor vergleichend behandelten Datentransfer von den Strafverfolgungs- zu den Präventivpolizeibehörden (§ 100d Abs. 5 Nr. 2 StPO; vgl. auch § 477 Abs. 2 S. 3 StPO) lässt sich auch nicht mit den grundrechtlichen 53 Vgl. LR/Erb (Fußn. 19), § 161 Rn. 3 f, 75; Rieß, FG Hilger, S. 171 (177); Singelnstein, ZStW 120 (2008), 889; Wollweber, NJW 2000, 3623; grundsätzlich anders aber Brodersen, NJW 2000, 2536, 2539; Meyer-Goßner (Fußn. 38), § 161 Rn. 18c; nicht klar genug KK/ Griesbaum (Fußn. 33), § 161 Rn. 36, 35, 40. 54 Nachw. oben Fußn. 50. 55 Vgl. auch SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100d Rn. 47 dazu, dass insoweit vielfach der Kernbereich privater Lebensgestaltung mitbeeinträchtigt wird. 56 Vgl. auch § 26 Abs. 2 S. 1 AE-Europol (Fußn. 9); zum Rechtsgedanken des ordre public Wolter, FS Roxin, 2011, Band II, S. 1245 (1263 f.). 57 Auch dazu jeweils BVerfGE 109, 279 (378); vgl. auch KK/Griesbaum (Fußn. 33), § 161 Rn. 40; Löffelmann ZIS 2006, 96. – Eine Besonderheit unter dem Aspekt des Geringfügigkeitsprinzips mag dann Platz greifen, wenn die Erhebung der Daten zwar nicht rechtmäßig ist, die Daten jedoch wegen eines Bagatellverstoßes bei der Gewinnung der Erkenntnisse dennoch verwertbar erscheinen – etwa dann, wenn die Verwertung im Hinblick auf die Belange der Gefahrenabwehr und der grundrechtlichen Schutzpflichten (wohlgemerkt geht es hier um die Verwertbarkeit im Polizeirecht) nicht außer Verhältnis zur Fortsetzung oder Vertiefung der Grundrechtsverletzung im polizeilichen Ausgangsverfahren steht (SK-StPO/Wolter [Fußn. 17], § 100d Rn. 69 und § 100 f Rn. 27 m. Hinweis auf die nur insoweit zustimmenswerte Entscheidung in BGHSt 54, 69 [90] – dazu unten IV.; ders., FS BGH, S. 963 [996, 1007]).
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Schutzpflichten argumentieren. Zumindest der strafverfolgende, nur repressiv tätig werdende Staat darf nicht auf einer Menschenwürdeverletzung und auch nicht auf einer gravierenden sonstigen Grundrechtsverletzung im Polizeiverfahren bauen.58 Schließlich aber folgt das übergreifende, auch für § 161 Abs. 2 StPO erforderliche Merkmal der „Verwertbarkeit der Daten im präventivpolizeilichen Anlassverfahren“ aus dem in § 160 Abs. 4 StPO allgemein und dann weiter in den §§ 98c S. 2, 477 Abs. 2 S. 1, 481 Abs. 2 StPO (vgl. auch § 35 S. 1 Nr. 2 S. 1 ZFdG) niedergelegten Rechtsgedanken; ohnehin ist man sich einig, dass § 160 Abs. 4 StPO systematisch verfehlt eingeordnet ist und in die Verwendungsvorschrift nach § 161 (Abs. 1 S. 1) StPO gehört.59 Danach ist (auch) eine Verwendung von Daten unzulässig, soweit besondere bundesgesetzliche oder entsprechende landesgesetzliche Verwendungsregelungen entgegenstehen. Damit sollte „der bereichsspezifischen Regelung (über die Verwendung der Daten) in dem Gesetz, das die Erhebung der Daten regelt, der Vorrang eingeräumt“ werden.60 Nimmt man dann noch die Gesetzesbegründung zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO, der die „Verwertbarkeit der Daten“ ausdrücklich regelt, hinzu, nimmt man noch einmal BVerfGE 109, 279 in den Blick, dann ist auch § 161 Abs. 2 StPO – wie hier unter II. 4. zumindest de lege ferenda und dann eher klarstellend vorgeschlagen worden ist – entsprechend zu ergänzen. Nach der Gesetzesbegründung sollte mit dem Begriff der Verwertbarkeit erreicht werden, dass die Weiterverwendung der Daten „denselben Verwertungsverboten wie im Ausgangsverfahren unterliegt“ (mit ausdrücklichem Hinweis auf BVerfGE 109, 279 Nr. 341); es sollte somit geregelt sein, „dass jegliche zweckumwidmende Verwendung der Daten nur zulässig ist, wenn die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertet werden dürfen“.61 Dass die bezeichnete Rechtsprechung des BVerfG, der allgemeine Rechtsgedanke des § 160 Abs. 4 StPO sowie die Gesetzesbegründung zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO nicht zwangsläufig auch für die von § 161 Abs. 2 StPO erfassten gravierenden Grundrechtseingriffe z. B. der Telefonüberwachung oder der technischen Überwachung außerhalb von Wohnungen Geltungskraft entfalten können, scheint nicht erfindlich – zumal der Gesetzgeber bei der Begründung eben des § 161 Abs. 2 StPO von 2008 selbst befindet: „Die Vorschrift generalisiert im Sinne einer Gleichbehandlung aller vom Verdacht bestimmter Straftaten abhängiger Ermittlungsmaßnahmen den bereits in § 100d Abs. 6 Nr. 3 StPO“ (heute letztlich wortgleich: § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) „angelegten Gedanken, um dem datenschutzrechtlichen Zweckbin58 Dazu SK-StPO/Wolter (Fußn. 17), § 100d Rn. 69; einschränkend – freilich bei Wiederholungsgefahr – noch ders., FS Rieß, S. 645. 59 SK-StPO/Wohlers (Fußn. 6), § 160 Rn. 72; HK/Zöller (Fußn. 24), § 160 Rn. 17; ähnlich Rieß, FG Hilger, S. 171 (176); zur Entstehungsgeschichte LR/Erb (Fußn. 19), § 160 Rn. 39b. 60 Gesetzesbegründung zu § 160 Abs. 4 StPO (BT-Drucks. 14/1484 v. 16. 8. 1999, S. 22 f.), u.a.m. Hinweis auf das Steuer- oder Sozialgeheimnis. Damit besteht auch eine gewisse Nähe zu Zeugnisverweigerungsrechten. 61 BT-Drucks. 15/4533 v. 15. 12. 2004, S. 17 f.
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dungsgrundsatz in angemessener Weise Rechnung zu tragen.“62 Noch deutlicher fällt die allgemeine Aussage wiederum zu § 161 Abs. 2 StPO von Griesbaum aus: „Aus der besonderen Verwendungsregelung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO … folgt nämlich der allgemeine Gedanke, dass jede zweckumwidmende Verwendung der Daten nur zulässig ist, wenn die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertet werden dürfen.“63 IV. Die Unhaltbarkeit der Al Quaida-Entscheidung (BGHSt 54, 69) Den sogar geschriebenen Ausgangspunkt in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO zur „Verwertbarkeit der Daten im präventivpolizeilichen Anlassverfahren“ und das entsprechende Merkmal in dem hier unter II.4. vorgeschlagenen § 161 Abs. 2 StPO-E (bzw. § 477 Abs. 2 S. 3a StPO-E), das bereits in den geltenden § 161 Abs. 2 StPO hineingelesen werden kann (oben III.), umgeht nunmehr der BGH in seiner Al Quaida-Entscheidung vom 14. 8. 2009. Er macht das Merkmal der „Verwertbarkeit der Daten“ – am Wortlaut des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO und dann an der Begründung des entsprechenden § 161 Abs. 2 StPO-E vorbei – nahezu überflüssig. Er erzwingt auf diese Weise bei § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO eine Gesetzesänderung durch Richterspruch und bewirkt dadurch eine auch im Strafprozessrecht „unzulässige Analogie“. Denn das Gericht ist unter durchaus unzutreffendem Hinweis auf die Gesetzgebungsgeschichte, die unter III. erläutert worden ist,64 der Auffassung, dass sich der Begriff der „Verwertbarkeit der Daten“ in § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO nur auf die Verwertungsverbote aus dem strafprozessualen hypothetischen Ersatzeingriff nach § 100c StPO (namentlich auf die Verwertungsverbote nach § 100c Abs. 4 – 6 StPO) und nicht auf das tatsächliche präventivpolizeiliche Ausgangsverfahren bezieht.65 Auf diese Weise gelangt der BGH selbst für den Fall, dass die polizeirechtliche Maßnahme – hier eine Wohnungsüberwachung – der hinreichenden gesetzlichen Grundlage entbehrt, mit Hilfe der schon aus der parallelen Beweisverwertungslehre bekannten Abwägungsdoktrin zur Verwendbarkeit der polizeilichen Daten im Strafprozess. Denn die Rechtswidrigkeit der präventivpolizeilichen Wohnraumüberwachung lasse die (strafprozessuale) Verwendbarkeit der aus der polizeilichen Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse unberührt; und: nicht jeder Rechtsverstoß bei der Beweisgewinnung führe zu einem Verwendungsverbot.66 62
BT-Drucks. 16/5846 v. 27. 6. 2007, S. 64. KK/Griesbaum (Fußn. 33), § 161 Rn. 40, der dann freilich die „Verwertbarkeit der Daten“ sehr großzügig auslegt (vgl. noch unten IV. zu BGHSt 54, 69 ff.). – Für zusätzliche Begrenzungen des § 161 Abs. 2 StPO jüngst Hefendehl, GA 2011, 227 ff. 64 Vgl. das Zitat bei Fußn. 61. 65 BGHSt 54, 69, 81 f., 96, 100 (Nr. 31, 32, 70, 81); vgl. auch Meyer-Goßner (Fußn. 38), § 161 Rn. 18c. 66 BGHSt 54, 69, 86 f. (Nr. 46 und 47); vgl. auch Meyer-Goßner (Fußn. 38), § 161 Rn. 18c. Gegen eine solche Argumentation hatte schon BT-Drucks. 15/4533, S. 18 – mit Blick auf § 100d Abs. 5 Nr. 1 StPO – vergleichbar betont, dass sich die Unverwertbarkeit der Daten im 63
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Eine solche Argumentation ist jedoch vom Wortlaut des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO her ohne Grundlage und rechtsstaatlich unhaltbar. Denn eine (rechtswidrige) präventivpolizeiliche Wohnungsüberwachung ohne hinreichende Rechtsgrundlage führt – angesichts des durchgehenden Erfordernisses einer „verfassungsgemäßen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage“ sowie des besonders gravierenden Grundrechtseingriffs – zur Erlangung unverwertbarer Erkenntnisse im Ausgangsverfahren (oben III.); und derart unverwertbare Daten sind nach dem Gesetzeswortlaut im späteren Strafprozess schlechterdings nicht verwendbar. Für eine irgendwie geartete Abwägung bleibt dann von vornherein kein Raum. Die Weiterverwendung der Daten unterliegt „dann denselben Verwertungsverboten wie im Ausgangsverfahren; jegliche zweckumwidmende Verwendung der Daten ist nur zulässig, wenn die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertet werden dürfen.“67 Auch das durchscheinende Unbehagen des Strafrichters, hier des BGH68, dass eine strafprozessuale Entscheidung von präventivpolizeilichen Vorfragen abhängig ist, und dass die anzulegenden Maßstäbe ggf. je nach Polizeigesetz variieren mögen,69 bleibt in der heutigen Gesetzeslandschaft unverständlich. Solche Entscheidungen sind z. B. durch die §§ 100d Abs. 5 Nr. 3, 161 Abs. 2 und 161 Abs. 3 StPO nachgerade vorprogrammiert. Und nach den §§ 160 Abs. 4, 98c S. 2, 477 Abs. 2 S. 1 und 481 Abs. 2 StPO sind stets auch bundes- und landesgesetzliche Verwendungsregelungen zu berücksichtigen (ggf. i.V.m. dem BKAG, ZFdG, BPolG und den Polizeigesetzen der Länder).70 V. Ergebnis und Widmung Im Ergebnis zeigt sich ein weiteres Mal, von welchem Gewicht die Verbindung von „Polizeirecht und Strafprozessrecht“ und dann auch die Forschungsarbeit eines „Instituts für Strafprozessrecht und Polizeirecht“ sein kann. In interdisziplinärem Wirken ist wirkungsvoller herauszuarbeiten, dass der völlig unzureichende § 161 Abs. 3 StPO (von 2000/2008) sachlich in den vorbildlichen § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (von 2005/2008) integriert werden muss, und dass auch § 161 Abs. 2 StPO (von 2008) mit dem Wegfall des Merkmals „zu Beweiszwecken“ und der Hinzunahme des Kriteriums der „Verwertbarkeit der Daten im präventivpolizeilichen Anlassverfahren“ Anlassverfahren nicht mit dem Hinweis aus den Angeln heben lässt, dass die Abwägung nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit in dem späteren Strafverfahren ein anderes Ergebnis hätte. 67 So – noch einmal – die Gesetzesbegründung zu § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO (oben Fußn. 61). Mit dem BGH zu verneinen war die Frage, ob man im konkreten Fall übergangsweise von einer noch ausreichenden Ermächtigungsgrundlage hätte ausgehen dürfen (dazu BGHSt 54, 69, 85 [Nr. 43]). 68 Der Hinweis des BGH darauf, dass im Polizeirecht mit Blick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten großzügigere Maßstäbe gelten (BGHSt 54, 69, 81 f. [Nr. 32]), ist „kontraproduktiv“; denn diese Schutzpflichten erweitern die Verwertbarkeit der Daten im Ausgangsverfahren. 69 BGHSt 54, 69, 81 f. (Nr. 32). 70 Vgl. auch Wolter, FS Roxin, 2011, Band II, S. 1245 (1260 ff.).
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dem rechtsstaatlichen Standard des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO angepasst werden sollte. Dabei ist die Eingliederung von § 161 Abs. 3 StPO de lege lata zwingend, und hat die Angleichung von § 161 Abs. 2 StPO de lege ferenda eher klarstellenden Charakter. Dies alles führt zu einem Gesamt-Gesetzesvorschlag, der systematisch – von § 100d Abs. 5 StPO weg – in § 161 StPO bzw. in § 477 StPO anzusiedeln und der schon unter II. 4. als § 161 Abs. 2 StPO-E bzw. § 477 Abs. 2 S. 3a StPO-E vorgestellt worden ist.71 § 161 Abs. 2 StPO-E (bzw. § 477 Abs. 2 S. 3a StPO-E) stellt eine Verallgemeinerung und auch gewisse Verfeinerung des alten § 100 g Abs. 4 StPO-E dar, den der „Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht“ 2001/2002 konzipiert hat (oben I. 2.). Selbstverständlich darf man gespannt sein, wie Wolf-Rüdiger Schenke eine solche Weiterentwicklung des „präventivpolizeilichen Strafprozessrechts“ aufnimmt – und Manches bleibt deshalb zunächst ungewiss. Gewiss ist freilich etwas anderes: Die gemeinsame Arbeit namentlich im „Mannheimer Institut für Strafprozessrecht und Polizeirecht“ von 2000 – 2008 hat nicht nur zu mannigfachem wissenschaftlichen Ertrag, sondern auch zu einer persönlichen Freundschaft in der Mannheimer Fakultät für Rechtswissenschaft geführt. Und für beides statte ich Wolf-Rüdiger Schenke mit dieser kleinen Studie meinen großen Dank ab.
71 Entsprechender wissenschaftlicher Handlungsbedarf besteht bei den Vorschriften zum umgekehrten Datentransfer von den Strafverfolgungs- zu den Präventivpolizeibehörden (§§ 100d Abs. 5 Nr. 2, 477 Abs. 2 S. 3 StPO i.V.m. § 481 Abs. 1, 2 StPO) – allgemein dazu schon W.-R. Schenke, JZ 2001, 997 ff.; ders. (Fußn. 11), 225 ff. – sowie bei der strafprozessualen Verwendung von strafprozessrechtlich erlangten Zufallsfunden (gemäß den §§ 100d Abs. 5 Nr. 1, 477 Abs. 2 S. 1, 2 StPO). Auch müssten ergänzend zum hier behandelten Thema die §§ 161 Abs. 1, 160 Abs. 4, 98c S. 2 StPO überarbeitet werden.
Resilienz Von Thomas Würtenberger* Die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet zwischen der Wahrung innerer Sicherheit durch die Polizeien der Länder und des Bundes, der Wahrung äußerer Sicherheit durch die Bundeswehr sowie dem Schutz der Bevölkerung im Verteidigungsfall bzw. anlässlich von Katastrophen, Großschadensereignissen1 etc. durch die Zivil- und Katastrophenschutzbehörden. Gefahrenabwehr und Gefahrenprävention sind die klassischen Leitziele dieser Sicherheitsarchitektur2. Dies gilt vor allem für das überkommene Polizeirecht, das zunächst auf die Gefahrenabwehr fixiert war und seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weit in den Bereich der Gefahrenprävention3 ausgegriffen hat. Gefahrenprävention und Risikovorsorge sind auch im Bereich der kritischen Infrastruktur4 geboten. Die komplexe Hightech-Gesellschaft ist auf eine funktionsfähige Verkehrs-, Versorgungsund Kommunikationsinfrastruktur angewiesen. Diese infrastrukturellen Dienstleistungen werden durch Terrorismus, durch Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels und durch von Menschen verursachte Großschadensereignisse gefährdet. Der Schutz innerer Sicherheit gewinnt damit eine doppelte und, wie noch zu zeigen sein wird, eng miteinander verzahnte Stoßrichtung: Es geht um die Aufrechterhaltung und, sollte dies nicht gelingen, um Wiederherstellung der für alle existenziellen Infrastruktur. Der Ausfall der Strom- oder Gasversorgung sowie Störungen im Bereich der netzgestützten Telekommunikation können nicht nur Gesundheit und Leben sowie die gewohnten Lebensverhältnisse insgesamt, sondern auch den Wirtschaftskreislauf in hohem Maß gefährden5. * Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich Dr. Patricia Wiater, Tobias Czepull und Steffen Tanneberger. 1 Zur Abgrenzung von Katastrophen und Großschadensereignissen vgl. von Zimmermann/ Czepull, Zuständigkeiten und Kompetenzen im Katastropheneinsatz, DVBl. 2011, 270 f. sowie die Regelungen in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder (z. B. § 1 Abs. 2 KatSchG BW; Art. 1 Abs. 2 KatSchG Bay; § 37 Abs. 2 HilfeG Brem). 2 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 9 f.; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 22 ff. 3 Zum Erfordernis besonderer sicherheitsrechtlicher Ermächtigungen vgl. Schenke (Fußn 2), Rn. 10. 4 Hierzu die im Juni 2009 vom Bundeskabinett beschlossene „Nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen“. 5 Zu den einzelnen Szenarien des Ausfalls kritischer Infrastruktur: Reichenbach/Wolff/ Göbel/Stokar von Neuforn, Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland. Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, 2008, S. 14 ff.; allgemein
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Ein gewisser Perspektivenwechsel ist im letzten Jahrzehnt insofern eingetreten, als bewusst geworden ist, dass sich selbst mit optimaler Gefahrenprävention und Risikovorsorge eine auf verschiedenen Gründen beruhende Zunahme von Großschadensereignissen und Katastrophen nicht verhindern lässt. Für den Fall, dass das Unvorhersehbare und das Unvermeidbare eintritt, bedarf es der Entwicklung von Strategien der Bewältigung, also eines effektiven Managements der Beseitigung der Folgen von Großschadensereignissen und Katastrophen6. I. Resilienz als Leitidee der Sicherheitsarchitektur In politikwissenschaftlicher und staatstheoretischer Perspektive diskutiert man neue Formen eines Präventions- und Gewährleistungsstaates7. Dessen Strategien der Prävention begegnen den Gefährdungen innerer Sicherheit durch nationalen oder internationalen Terrorismus, durch zunehmende Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels, durch Großschadensereignisse oder durch drohenden Ausfall der Infrastruktur. Hier werden moderne Entwicklungen nachgezeichnet, es wird aber kein zukunftsweisendes Konzept angeboten, das der Bewältigung von Katastrophen und Großschadensereignissen gerecht werden würde. Jenseits solcher Debatten um den Wandel der Staatlichkeit erlebt der lange ein Schattendasein führende Bevölkerungsschutz und damit das Katastrophenschutzrecht eine Renaissance8. Es werden neue Rahmensetzungen und Organisationsformen entwickelt, um Katastrophen und Großschadensereignisse bewältigen zu können. Bei diesem sich dynamisch entwickelnden Rechtsgebiet stellt sich die Frage, ob es einem übergreifenden gesellschaftlichen Konzept, das in einer neuen Leitidee auf den Begriff9 gebracht wird, folgt. Im Ausland und in der Europäischen Union wird seit über einem Jahrzehnt Resilienz als Leitidee und Schlüsselbegriff für die Fortentwicklung der Sicherheitsarchizu den veränderten Bedrohungslagen und Risikoszenarien Geier, in: Bundesverwaltungsamt (Hg.), Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland, 2003, S. 11 ff. 6 Zur erforderlichen Neukonzeption des Risikomanagements und des Bevölkerungsschutzes: Reichenbach/Wolff/Göbel/Stokar von Neuforn (Fußn 5), S. 10 ff. 7 Vgl. Schuppert (Hg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005; Würtenberger, Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: Kugelmann (Hg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73, 88 ff. 8 Verwiesen sei lediglich auf: Stober/Eisenmenger, Katastrophenverwaltungsrecht – Zur Renaissance eines vernachlässigten Rechtsgebiets, NVwZ 2005, 121 ff.; Trute, Katastrophenschutzrecht – Besichtigung eines verdrängten Rechtsgebiets, Krit V 2005, 342 ff.; Gusy, Katastrophenschutzrecht – Zur Situation eines Rechtsgebiets im Wandel, DÖV 2011, 85 ff.; Meyer-Teschendorf, Fortentwicklung der Rechtsgrundlagen für den Bevölkerungsschutz, DVBl. 2009, 1221 ff.; Kloepfer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, 2008, S. 9 ff. 9 Zur Funktion solcher „Schlüsselbegriffe“, die von veränderten Realbedingungen ausgehen und auf neue Konzepte weisen: Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1 Rn. 40 f.; zur Funktion von Schlüsselbegriffen im juristischen Denken: Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 40 I 1.
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tektur und mit ihr für ein neues staatstheoretisches Konzept diskutiert. Die ResilienzKonzepte knüpfen an Ansätze in den Technikwissenschaften10, im Umweltschutz11, in der Betriebswirtschaftslehre12 sowie in der Psychologie13 an. In allen diesen Bereichen geht es um die gleichen Fragen: Wie können die jeweiligen technischen Systeme, Wirtschaftsunternehmen, ökologischen Rahmenbedingungen oder psychologischen Befindlichkeiten in die Lage versetzt werden, nach äußeren Erschütterungen wieder in ihre Normallage zurückzukehren? Das lateinische „resilire“ bringt im Resilienzbegriff zum Ausdruck, dass das System nach einer Beeinträchtigung wieder in seine Ausgangssituation zurückgelangt. Diese Ansätze lassen sich für die Organisation und Ausrichtung sozialer Systeme fruchtbar machen. Die gesellschaftliche Resilienz fragt danach, wie das gesellschaftliche und politische System Störungen und Erschütterungen flexibel, innovativ und gegebenenfalls selbstlernend bewältigen kann. Resilienz im Bereich der Sicherheit bedeutet eine besondere Form der Robustheit des sozialen Systems, nämlich seine Fähigkeit, nach Erschütterungen möglichst rasch wieder in einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Normalzustand zurückzukehren14. In dieser Perspektive verbindet sich mit Resilienz kein Sicherheitsdiskurs in Einzelfragen oder zu Einzelbereichen, sondern bestimmt die technische Innovation, neue Formen staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen, die Krisen- und RisikoKommunikation zwischen staatlichen Behörden und Gesellschaft, das Rechtssystem sowie das individuelle ebenso wie das kollektive Bewusstsein und Handeln. Resilienz ist Grundlage einer vernetzten und integrativen Sicherheitsarchitektur, in die der staatliche und gesellschaftliche Bereich eingebunden sind, und die sich an konkreten Zielvorstellungen bei der Bewältigung von Großschadensereignissen orientiert. Die folgenden Überlegungen wollen dieses in Deutschland bislang wenig diskutierte Konzept auf seine Tragfähigkeit für eine Neuorientierung und Fortentwicklung der Sicherheitsarchitektur näher beleuchten. Im ersten Zugriff werden einige der Resilienz-Konzepte vorgestellt, um sodann danach zu fragen, ob und inwieweit sie in der deutschen Sicherheitsarchitektur bereits verankert sind oder ihrer Fortentwicklung Impulse geben können. 10 Hier geht es in aller Regel um Fehlertoleranz, neuerdings auch um die Entwicklung autonomer selbstlernender Systeme. 11 Bekers/Colding/Folke, Navigating Socialecological Systems: Building Resilience for Complexity and Change, 2003; Günther, Klimawandel und Resilienz-Management, 2009. 12 Günther/Kirchgeorg/Winn, Resilience Management, in: uwf 15 (2007), S. 175, 178 ff. 13 Vgl. Norris/Stevens u. a., American Journal of Community Psychology 41 (2008), S. 127 ff. 14 In historischer Perspektive lässt sich u. a. danach fragen, ob und mit welchem ResilienzKonzept man während des Zweiten Weltkrieges in Großbritannien, in Russland oder in Deutschland der Zerstörung von Städten und Infrastruktur begegnet ist; vgl. Carafano, Resiliency and Public-Private-Partnerships to Enhance Homeland Security, in Backgrounder No. 2150 vom 24. Juni 2008, S. 2 f. mit dem Hinweis, dass der nationale Wille entscheidend für die damalige Realisierung von Resilienz-Konzepten gewesen sei.
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II. Die im Ausland entwickelten Resilienz-Konzepte In einer rechts- und kulturvergleichenden Perspektive gibt es kein einheitliches Resilienz-Konzept, sondern werden entsprechend den jeweiligen Bedrohungslagen in der Europäischen Union und in den einzelnen Staaten15 unterschiedliche Resilienz-Konzepte entwickelt. Die Leitideen einiger dieser Konzepte werden im Folgenden miteinander verglichen, um allgemeine Grundsätze resilienter Gesellschaft und Staatlichkeit formulieren zu können. 1. In der Europäischen Union Die Europäische Union orientiert sich an dem vom European Security Research and Innovation Forum (ESRIF) entwickelten Resilienz-Konzept. Dieses hat in seinem Abschlussbericht von 2009 die Societal Resilience zu einer der zentralen Visionen der Sicherheitspolitik der Europäischen Union erklärt: „Given the unpredictability of man-made and natural threats, security research and innovation should focus on strengthening EuropeÏs inherent resilience and ability to efficiently recover from crises by enhancing the cohesiveness and robustness of societal systems and their interface with security technologies.16“Ausgangspunkt ist die Verwundbarkeit der Gesellschaft durch unvorhersehbare Großschadensereignisse und Krisensituationen. Da bestimmte Risiken und Krisensituationen nicht durch planende Vorausschau vermieden werden können, müssen resiliente Gesellschaften die Fähigkeit entwickeln, ihre Verwundbarkeit zu begrenzen, indem sie Krisenlagen auf allen gesellschaftlichen Ebenen begegnen und möglichst rasch wieder in eine geordnete Situation zurückkehren. Die von der Europäischen Union geforderte und auf den Weg gebrachte Entwicklung neuer Technologien sowohl für die Verhinderung als auch für die Bewältigung von Katastrophen und Großschadensereignissen führt zu neuen Formen an Hightech 15 Zu Australien: Maguire/Hagan, Disasters and Communities: understanding social resilience, in: The Australian Journal of Emergency Management 22/2 (2007), S. 16 ff.; Buckle/ Marsh/Smale, New approaches to assessing vulnerability and resilience, in: The Australian Journal of Emergency Management, Winter 2000, S. 8 ff. Zu Israel: Friedland/Arian/Kirschenbaum/Amit/Fleischer, The Concept of Social Resilience, Samuel Neaman Institute, 2005; Elran, Societal Resilience: A Key Response to Severe Terrorism, Typoskript des Vortrages im Rahmen der Eröffnung des Freiburger Centre for Security and Society, 7. Juli 2010. Zu Singapur: Vasu, Social Resilience in Singapore: Reflections from the London Bombings, 2007, und in Kurzform: Grace in Times of Friction: The Complexity of Social Resilience, RSIS Commentaries (72/2007). 16 ESRIF Final Report, 2009, 2.2.; zur Resilienz-Politik der Europäischen Union vgl. Dimas, The third Civil Protection Forum: developing EuropaÏs Resilience to disasters, Rede auf der Tagung des Civil Protection Forum, Towards a more resilient society, Brüssel, 25.–26. 11. 2009, Speech/09/556; zu den Programmen und den begrenzten Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich des Katastrophenschutzes vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Stärkung der Katastrophenabwehrkapazitäten der EU“, Kom (2008), 130, endgültig; Walus, Europäischer Katastrophenschutz, EuR 2010, 564 ff.
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orientierter Krisenbewältigung. Eine lediglich technologisch orientierte Krisenbewältigung wäre allerdings unzulänglich. Es bedarf vielmehr ergänzend und darüber hinaus einer vertrauensvollen Zusammenarbeit der Bürger und aller Organisationen und Institutionen. Wie dies in unterschiedlichen Bereichen der kritischen Infrastruktur17 auf den Weg gebracht werden kann, wird im ESRIF – Report ausführlich entwickelt, wobei zugleich auch definiert wird, welche Forschungsaufgaben sich aus Sicht der Europäischen Union in diesem Bereich stellen18. 2. In den Vereinigten Staaten von Amerika Seit über einem Jahrzehnt gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika eine sehr intensive Diskussion von Resilienz-Konzepten sowohl bei den „think-tanks“ als auch in der Publizistik19. Das Weiße Haus hat 2007 die strukturelle und operative Entwicklung von Resilienz-Konzepten auf seine politische Agenda gesetzt20. Besondere Aufmerksamkeit verdient das vom Homeland Security Studies and Analysis Institute 2009 publizierte „Concept Development: An Operational Framework for Resilience“. Leitziele der Resilienzpolitik sind die Stärkung der Widerstandsfähigkeit durch Vorsorgemaßnahmen, die Begrenzung der Folgen von Großschadensereignissen und die Wiederherstellung der Funktionen der Infrastruktur21. In allen drei Bereichen wird ein Zusammenwirken von staatlichen Institutionen und Infrastrukturbetreibern einerseits und Bürgern andererseits gefordert22. Vom Bürger wird erwartet: „develop physical and psychological toughness, be self-sufficient, respond appropriately in face of terrorism“. Dies sind freilich Leerformeln, die schön klingen, aber nicht zu den eigentlichen Fragen eines vernetzten Resilienz-Konzepts vordringen. Obwohl man Großschadensereignisse in der Regel nicht vorhersehen kann, wird unter dem Schlagwort „Threat and Hazard Limitation“ gefordert, alles zu unternehmen, um mögliche Schadenslagen zu erkennen und ihre Bewältigung auf den Weg zu bringen23. Mit „Robustness“ sollen Gebäude, Städte, Industrieanlagen, Infrastruktur etc. so geplant und angelegt werden, dass sie gegen Großschadensereignisse wider17
Wichtige Ansätze auch zum grenzüberschreitenden Schutz kritischer Infrastrukturen in der Richtlinie 2008/114/EG des Rates vom 8. 12. 2008, über die Ermittlung und Ausweisung europäischer kritischer Infrastrukturen und die Bewertung der Notwendigkeit, ihren Schutz zu verbessern, ABl. vom 23. 12. 2008, L 345/75, 7. Erwägungsgrund u. passim. 18 Zur Rolle der UNO bei der Entwicklung von Resilienz-Konzepten: International Strategy for Disaster Reduction: Towards National Resilience, 2008 (mit Landesbericht Deutschland, S. 20 ff.). 19 Flynn, The Edge of Disaster: Building a Resilient Nation, 2007; Lansford u. a., Fostering Community Resilience, 2010; Colby/Frisvold, Adaptation and Resilience, 2011. 20 The White House, Homeland Security Council, National Strategy for Homeland Security, Oktober 2007, S. 35 f. 21 Kahan/Allen/George/Thompson, Concept Development: An Operational Framework for Resilience, 2009, S. 1. 22 Kahan/Allen/George/Thompson (Fußn 21), S. 7 mit Schaubild und dem folgenden Zitat. 23 Zum Folgenden Kahan/Allen/George/Thompson (Fußn 21), S.14 ff.
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standsfähig sind. Dies wiederum fordert ein „Risk-Informed Planning“ und ein „Risk-Informed Investment“. In einem „thoughtful risk assessment“ ist bei allen Planungsentscheidungen möglichen Großschadensereignissen Rechnung zu tragen. Dieser ganzheitliche Ansatz fordert, dass eine an Resilienz orientierte Gestaltung praktisch in jedem Politikbereich Berücksichtigung zu finden hat. Maßstabsbildend solle ein „resilience profile“ für Schlüsselfunktionen in gefährdeten Systemen sein24, das sich u. a. daran orientiert, wie ein gebotener Mindeststandard an Sicherheit und Versorgung gewährleistet werden kann. Von anderer Seite wird angemahnt, dass die Risikokommunikation optimiert werden solle25. Bereits in der „Normallage“ ist die Öffentlichkeit über mögliche Bedrohungen und Gefährdungen sowie über Möglichkeiten der Bewältigung von Großschadensereignissen zu informieren. Dadurch soll ein öffentliches Vertrauen geschaffen werden, dass die Folgen von Großschadensereignissen bewältigt werden können. An diesen Beispielen amerikanischer Politikberatung fällt auf, dass sicherheitsökonomische Fragen weitgehend ausgeblendet bleiben. Ebenso wenig kommen konkrete Vorschläge der Vernetzung des bürgerschaftlichen mit dem staatlichen Bereich bei der Bewältigung von Großschadensereignissen in den Blick26. Es dominiert ein eher technokratischer Ansatz, der sich weder der amerikanischen Sicherheitskultur noch der Akzeptanz konkreter Resilienz-Konzepte zuwendet. 3. Im Vereinigten Königreich Edwards, einer der führenden Persönlichkeiten des fortschrittlichen britischen Think-tank Demos, hat in seinem Buch „Resilient Nation“ der Resilience-Thematik eine Art bürgerschaftliche Wende gegeben. Für ihn liegt die Verantwortung für Resilienz weniger bei den Institutionen als bei den Bürgern27. Entscheidend sind die Bürger in ihrem lokalen Bereich und die Beziehungen zwischen ihnen und dem Staat. Die Lern- und Anpassungsprozesse, derer es zur Bewältigung von Großschadensereignissen bedarf, müssen nicht allein von den öffentlichen Institutionen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich eingeübt werden. Resilienz im gesellschaftlichen Bereich ist damit zunächst eine Frage der Erziehung. Dabei greift er die international wiederholt aufgestellte Forderung auf: „Disaster Risk Reduction Begins at School“28. Wie derartiges im Schulunterricht geleistet werden kann, wird allerdings nicht vertieft. 24
Kahan/Allen/George/Thompson (Fußn 21), S. 22 f. Carafano (Fußn 14), S. 4 f. 26 Angemahnt wird lediglich eine Kooperation zwischen dem privaten Sektor und dem Staat: Carafano (Fußn 14), S. 6 zu „public-private-partnerships“ zur Reduzierung von Risiken und zur Verbesserung von Resilienz. 27 Edwards, Resilient Nation, 2009, S. 7, 10; vgl. Coaffee/Rogers, Rebordering the City for New Security Challenges: From Counter-terrorism to Community Resilience, in: Space and Polity 12 (2008), S. 101 ff. (zur Einführung der “local resilience forums” auf Grund des “Civil Contingencies Act“ von 2004. 28 Edwards (Fußn 27), S. 14. 25
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Ein anderer Problembereich betrifft die individuelle und gesellschaftliche Reaktion auf einen Ausfall kritischer Infrastruktur mit den bekannten Kaskadeneffekten. In einer resilienten Gesellschaft bedarf es des Vertrauens in die Bewältigung derartiger Notsituationen, der Prioritätensetzung bei der Hilfe zugunsten der am schwersten Betroffenen und eines offenen und intensiven Dialogs. Basis dessen ist das kollektive Bewusstsein, dass Unvorhergesehenes eintreten und mit großem privatem wie öffentlichem Engagement bewältigt werden kann29. Risikokommunikation wird damit zu einem wesentlichen Element einer resilienten Gesellschaft30. Die vielfältigen Organisationen freiwilliger Helfer gehören zum Kernbereich einer resilienten Gesellschaft31, was Edwards unter dem Aspekt des „New Protective State“ entwickelt und an englischen Erfahrungen illustriert. Dabei führen Kontakte zu ausländischen Freiwilligenorganisationen, die bei Großschadensereignissen zum Einsatz kommen können, zu einer Resilienz, die auf internationaler Solidarität beruht. Letztlich geht es um eine Netzwerkbildung zwischen diesem gesellschaftlichen und dem öffentlichen Bereich, um der gemeinsamen Verantwortung bei der Bewältigung von Großschadensereignissen gerecht werden zu können. 4. In der Schweiz In der Schweiz befasst sich insbesondere das „Center for Security Studies“ an der ETH Zürich mit Konzepten einer an Resilienz orientierten Politik32. Anpassungsfähigkeit und Flexibilität33 werden als die Kernelemente einer hoch resilienten Gesellschaft bezeichnet. Gesellschaften müssen die Fähigkeit entwickeln, Belastungen und Großschadensereignissen stand zu halten, müssen alternative Möglichkeiten beim Ausfall kritischer Infrastrukturen bereit halten, müssen kreativ und angemessen auf ein Schadensereignis reagieren und bedürfen einer raschen Regenerationsfähigkeit im Großschadensfall. Rahmenbedingungen für diese Fähigkeiten von Staat und Gesellschaft sind „Vorsorge und Planung, Vertrauen und Kooperation, Identifizierung der vorhandenen Mittel und Führungsvermögen“34. Für die wichtige Risikokommunikation sollen die zur Verfügung stehenden Informations- und Kommunikationstechnologien eingesetzt werden35.
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Edwards (Fußn 27), S. 32. Edwards (Fußn 27), S. 35 ff. 31 Edwards (Fußn 27), S. 52 f. 32 Center for Security Studies, Examining Resilience: A Concept to improve societal security and technical safety, 2009; Kurzfassung in: Analysen zur Sicherheitspolitik, Nr. 60, September 2009 zu dem Thema „Resilienz: Konzept zur Krisen- und Katastrophenbewältigung“. 33 Center for Security Studies, Examining (Fußn 32), S. 6. 34 Center for Security Studies, Examining (Fußn 32), S. 10 f. mit Schaubild. 35 Center for Security Studies, Examining (Fußn 32), S. 12 zur Risikokommunikation über Handy, Internet etc. 30
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Eine an Resilienz orientierte Politik steht auf der Agenda der eidgenössischen, kantonalen und lokalen Ebene. Angemahnt wird, „eine kohärente Risiko- und Krisenkommunikation“ zu erarbeiten, „welche sowohl öffentliche als auch private Akteure einbezieht“36. Gefordert wird zudem, an Resilienz orientierte Maßnahmen nicht allein an innovativer Technik zu orientieren, sondern in eine „gesellschaftliche Dimension“ einzubetten. Dabei orientiert man sich in der Schweiz insbesondere an Resilienz-Konzepten, die in England entwickelt wurden. 5. Zusammenfassung Aus dieser kurzen Analyse ausländischer und internationaler Resilienz-Konzepte lassen sich folgende Thesen ableiten: (1.) Beeinträchtigungen und Ausfall von (Teilen) kritischer Infrastruktur haben gravierende Auswirkungen auf den Staat, die Gesellschaft und die Lebensverhältnisse des Einzelnen. Kaskadeneffekte können zu immensen ökonomischen Schäden führen. (2.) Diese neuen Formen von Vulnerabilität37 fordern ein Bereitsein (preparedness), um das nicht Vorhersehbare an Katastrophen und Großschadensereignissen bewältigen zu können. Dabei ist es hilfreich von möglichen Szenarien des Ausfalls kritischer Infrastruktur oder Großschadensereignissen auszugehen, um neue Techniken und Organisationsformen zu deren Bewältigung zu entwickeln. (3.) Da Katastrophen und Großschadensereignisse einen grenzüberschreitenden Einfluss auf nationale kritische Infrastrukturen haben können, ist eine an Resilienz orientierte Politik nicht allein am nationalen oder lokalen Bereich orientiert38. (4.) Bei Resilienz geht es nicht allein darum, Risiken zu vermeiden, sondern sich der Frage zu stellen: Für welche Katastrophen und Großschadensereignisse will man mit welchem Resilienz-Konzept vorbereitet sein39? (5.) Resilienz setzt als kollektives Wissen voraus, dass Katastrophen und Großschadensereignisse nicht vermeidbar sind. Dies erfordert eine neue Schwerpunktsetzung der Risikokommunikation; so sollte neben der Risikoprävention gleichberechtigt auf das Vorbereitetsein auf Katastrophen und Großschadensereignisse gesetzt werden40. 36
Center for Security Studies, Analysen (Fußn 32), S. 3. Ausführlich zur „Vulnerabilität“: Buckle/Marsh/Smale (Fußn 15), S. 10 ff. 38 Carafano (Fußn 14), S. 4 mit dem Hinweis auf die internationale Verflechtung der der Versorgung dienenden kritischen Infrastruktur; zur Entwicklung eines unionsrechtlichen Konzepts des Schutzes der europäischen kritischen Infrastruktur: Richtlinie des Rates (Fußn 17); zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vgl. Stober/Eisenmenger, NVwZ 2005, 121, 126. 39 Evans/Steven, Risks and Resilience in the new global Era, in: Renewal 17 (2009), S. 44, 52. 40 Trute, KritV 2005, 342, 345. 37
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(6.) Resilienz richtet sich nicht allein an den (Präventions-)Staat, durch Organisation und Verfahren zur Bewältigung dessen beizutragen, was nicht vorhersehbar und vermeidbar ist. Der sich aus Gründen gelebter Solidarität selbst organisierende gesellschaftliche Bereich teilt sich mit dem Staat die Verantwortung im Krisenmanagement. (7.) Resilienz erfordert neue Formen der Kommunikation und der Netzwerkbildung, flexibel und dezentral das Unvorhersehbare bewältigen zu können. (8.) Resilienz muss in allen Planungsverfahren beachtet werden und kann zur Dezentralisation und Entflechtung von kritischer Infrastruktur führen. Vor allem die „resiliente Stadt(planung)“ ist von großer Wichtigkeit41. (9.) Resilienz orientiert sich an den Stärken einer pluralistischen Gesellschaft. Sie ist den Werten einer demokratischen und freiheitlichen Ordnung verpflichtet42. Dabei muss nicht besonders betont werden, dass die Abwehrfunktion der Grundrechte den an Resilienz orientierten Maßnahmen Grenzen setzt43. (10.) Resilienz hat eine zentrale ökonomische Komponente. Es hängt (auch) von der Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft und des Einzelnen ab, in welchem Umfang neue Techniken und Organisationsformen eingeführt werden. Wie eine an Resilienz orientierte Politik zu gestalten ist, ist insoweit eine Frage an die Sicherheitsökonomie. III. An Resilienz orientierte politisch-rechtliche Gestaltung in Deutschland ohne eigenständiges Resilienz-Konzept Wenn auch in Deutschland die Diskussion eines Resilienz-Konzeptes ganz am Anfang steht, so findet sich doch in vielen Bereichen eine an Resilienz orientierte Forschung und politisch-rechtliche Gestaltung. Auf deren Elemente sei nun eingegangen. 1. Resilienz als Grundlage der Sicherheitsforschung Die Bundesregierung hat Anfang 2007 ein weit ausgreifendes Sicherheitsforschungsprogramm aufgelegt44. Dieses reagiert auf einen Wandel in den Sicherheitsrisiken. Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Naturkatastrophen oder technische Unfälle können im Bereich der kritischen Infrastruktur große Folgeschäden verursachen. Ziel der Förderprogramme ist eine Erhöhung der Sicherheit der Kommunika41 Zu diesem hier nicht weiter verfolgten Aspekt: Coaffee/Rogers, Space and Polity 12 (2008), S. 101, 105 ff. (zur „resilient management infrastructure in UK“), 112 f. (kritisch zur „darker Side of Resilient Planning“). 42 Dies wird vor allem vom Freiburger „Centre for Security and Society“ betont. 43 Über herkömmliche Fragestellungen hinaus ist die Maßstabsbildung der Grundrechte z. B. für die Triage und anschließende ärztliche Versorgung oder für die Rettung Verschütteter zu Lasten Dritter, ebenfalls Verschütteter, zu klären. 44 http://www.sicherheitsforschungsprogramm.de.
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tions- und Versorgungsnetze, d. h. deren sicheres Funktionieren und die Sicherheit all derer, die Leistungen der „Netze“ in Anspruch nehmen. Der Schutz dieser kritischen Infrastruktur erfordert die Entwicklung neuer Informations- und Kontrolltechnologien, die sowohl der Vorsorge vor Großschadensereignissen als auch deren Bewältigung dienen. Zur Philosophie dieses Sicherheitsforschungsprogramms gehört, dass nicht allein die Entwicklung innovativer Technologien und neuer Organisationsformen gefördert wird, sondern beides mit einer geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Begleitforschung45 verbunden wird. Durch diese Begleitforschung soll frühzeitig die Infrastruktursicherheit der Zukunft in einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingebettet und dieser wiederum wissenschaftlich begleitet werden. So geht es etwa in der szenarienorientierten Sicherheitsforschung darum, auf der Grundlage möglicher Gefährdungsszenarien die Bedürfnisse der Nutzer und Anwender in die Entwicklung neuer Sicherheitstechnologien einzubringen und die Abläufe von Maßnahmen der Schadensbewältigung zu optimieren. Im Rahmen von Systeminnovationen sind z. B. innovative Sicherheitslösungen auf dem Gebiet des Schutzes von Verkehrsinfrastruktur oder zur Sicherung von Warenketten zu entwickeln. Einer der zahlreichen Förderungsschwerpunkte liegt beim Schutz von Menschen im Straßen-, Bahn- oder Flugverkehr. Gegenstand der Forschungsförderung sind Verbundprojekte, die umfassende Sicherheitskonzepte mit eingebetteten Technologien, Handlungsstrategien und Organisationsformen entwickeln. Förderkriterien sind „Innovationshöhe, Ganzheitlichkeit und Breitenwirksamkeit der Lösungsansätze unter Einbeziehung gesellschaftlicher Ziele und Wirkungen, Berücksichtigung aller relevanten Akteure und die Bedeutung des Beitrages zur Erhöhung der Sicherheit“46. Dabei wird erwartet, dass die Natur- und Ingenieurswissenschaften gemeinsam mit den Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften praktikable Sicherheitslösungen erarbeiten. Ausgangspunkt sind jeweils Bedrohungsanalysen, Kosten-Nutzen-Analysen, Nutzer- und Kundenfreundlichkeit, aber auch die Einstellungen und das Verhalten von Einzelnen und Gruppen. Zu den Forschungsthemen gehören u. a. die massensensorgestützte Datenerhebung, die automatische Zugangskontrolle mit integrierten biometrischen Systemen, die automatische Erkennung sicherheitskritischen Verhaltens, Konzepte krisenbezogener Öffentlichkeitsarbeit u. a.m. Die Forschungsprojekte verfolgen interdisziplinäre Ansätze und gewährleisten einen Zugewinn an Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Akzeptanz.
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Zu diesem Ansatz die Themenbereiche skizzierend: Würtenberger/Tanneberger, Sicherheitsarchitektur als interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Riescher (Hg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, S. 97 ff. 46 Vgl. Bekanntmachung des BMBF von Richtlinien über die Förderung zum Themenfeld „Schutz von Verkehrsinfrastrukturen“ im Rahmen des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung vom 26. 3. 2007; zu den einzelnen Programmlinien und geförderten Projekten vgl. Federal Ministry of Education and Research (Hg.), Research for Civil Security. The Protection of Transport Infrastructures, 2008 sowie Protection Systems for Security and Emergency Services, 2009 und Rescue and Protection of People, 2009.
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Hinter diesem Sicherheitsforschungsprogramm steht unausgesprochen das Resilienz-Konzept, wie es vorstehend entwickelt wurde und mittlerweile selbst zum Gegenstand von Forschungsprojekten gemacht wurde47. Dem Aspekt der „preparedness“ entspricht, dass umfassende Bedrohungsszenarien entwickelt wurden. Mit Blick auf die einzelnen Bedrohungsszenarien werden neue Technologien entwickelt, die die Zukunft nationaler und internationaler Sicherheitsarchitektur prägen können; zugleich wird nach deren gesellschaftlicher Verträglichkeit und Akzeptanz gefragt. Bereits in die Technologieentwicklung werden rechtliche Fragestellungen, vor allem des Datenschutzes, aber auch des Schutzes von Leben, Gesundheit und der Persönlichkeitssphäre, frühzeitig eingebracht, um zum einen unübersteigbare rechtliche Rahmensetzungen frühzeitig zur Geltung kommen zu lassen und zum anderen rechtlichen Reformbedarf parallel zur Technologieentwicklung in die Gesetzgebung einbringen zu können. Zugleich wird die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft gestärkt, Großschadensereignisse in effektiver Weise bewältigen zu können, um den Schutz des Einzelnen zu optimieren und Kaskadeneffekte zu vermeiden. Insgesamt gesehen orientiert sich das Sicherheitsforschungsprogramm der Bundesregierung an Resilienz als Leitidee einer künftigen Sicherheitsarchitektur. Vergleichbares gilt für das „Fraunhofer Innovationscluster Future Urban Security“, in dem mehrere Fraunhofer-Institute mit Universitäten, Behörden und zahlreichen Unternehmen zusammen arbeiten48. Der Forschungsschwerpunkt „Urbane Resilienz“ zielt auf „Technologien zum Schutz und zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit von städtischen Infrastrukturen“, der Forschungsschwerpunkt „Sicheres Krisenmanagement“ befasst sich mit „Technologien für Einsatzkräfte und Katastrophenhelfer“, der Forschungsschwerpunkt „Gefahrstofferkennung“ widmet sich „Technologien zur Detektion und Neutralisation von Gefahrstoffen“. 2. Verfassungsrechtliche Grundlagen Das Resilienz-Konzept geht davon aus, dass Großschadensereignisse im Einzelfall weder vorhergesehen noch vermieden werden können. Dies ist eine der Grundlagen, auf denen die grundrechtliche Schutzpflichtendogmatik entwickelt wird. Hier ist es ein Gemeinplatz, dass der Staat den Einzelnen vor Beeinträchtigungen seines Lebens, seiner Gesundheit, seines Eigentums etc. zu schützen hat, aber nicht jeden vor allen Gefährdungen gesellschaftlichen Zusammenlebens schützen kann. Es müssen zwar Schutzkonzepte entwickelt werden; ein gewisses Risiko, bei Großschadensereignissen in Mitleidenschaft gezogen zu werden, ist jedoch hinzunehmen. Nach der nicht unumstrittenen Lehre vom Untermaßverbot müssen die Schutzkonzepte nicht optimiert werden, sondern lediglich vertretbar sein49. 47
BMBF, Systemvertrauen und Krisenmanagement: Ein interaktivees Expertenaustauschsystem zur Stärkung gesellschaftlicher Resilienz. 48 www.future-security.org. 49 Einzelheiten bei Ekardt, Katastrophenvermeidung und Katastrophenvorsorge: Möglichkeiten, Grenzen, Vorgaben, in: Kloepfer (Fußn 8), S. 61, 64 ff.
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Dabei wird freilich kontrovers diskutiert, ob die grundrechtliche Schutzpflichtenlehre nur vor Beeinträchtigungen von Leben, Gesundheit, Eigentum etc. durch Dritte, oder auch im Falle von Naturkatastrophen zur Anwendung gelangen kann. Letzteres ist wohl zu bejahen, da dem Staat eine im Prinzip umfassende Schutzpflicht obliegt, gleichgültig von wem die Bedrohung ausgeht und wie Bedrohungslagen abzuwehren sind50. Die grundrechtlichen Schutzpflichten verlangen also auch, Vorkehrungen gegen Naturgewalten zu treffen, also ein funktionierendes und zuverlässiges Rettungswesen bereitzustellen51. Die Schutzpflichtenkonzeption verlangt „preparedness“ auch mit Blick auf Großschadensereignisse, die durch Terrorismus oder Naturkatastrophen hervorgerufen worden sind. Darüber hinaus sind Verfahren und Kriterien für den Einsatz der dem Katastrophenschutz dienenden Ressourcen wenigstens im Ansatz rechtlich zu regeln52. Im Bereich der Infrastruktur obliegt dem Staat eine Gewährleistungs- und Überwachungsverantwortung. Die Verkehrs-, Versorgungs- und Kommunikationsinfrastruktur, sei sie öffentlich oder privat betrieben, muss vom Staat sichergestellt werden. Dieser Sicherstellungsauftrag lässt sich wiederum aus den Grundrechten, aber auch aus dem Sozialstaatsprinzip herleiten. Regelungen wie in Art. 87 f Abs. 1 GG lassen sich dahingehend generalisieren, dass vom Staat eine flächendeckende, angemessene und ausreichende Infrastruktur gewährleistet werden muss. Nachdem die Infrastruktur weitgehend privatisiert worden ist, muss das Privatisierungsfolgenrecht die Sicherung dieser Infrastrukturen gewährleisten. Hier sind gesetzliche Regelungen der Betreiberpflichten und Sicherheitsstandards erforderlich, aber nicht immer zielführend. Denn wo Sicherheitslücken bestehen (können), wissen in der Regel lediglich die Infrastrukturbetreiber. Daher geht es um die Organisation von Netzwerken, in denen staatliche Aufsichts- und Kontrollbehörden mit den Infrastrukturbetreibern in Sicherheitsfragen kooperieren. Soweit die Sicherheit von Infrastruktur ein Wettbewerbsvorteil sein kann, können Zertifizierungsverfahren Sicherheitsstandards verbessern. 3. Im Katastrophenschutzrecht Im Katastrophenschutzrecht53 geht es zum einen um Katastrophenverhinderung und zum anderen um ein Katastrophenfolgenmanagement54. Die Katastrophenverhinderung ist seit jeher Gegenstand des Rechts der Anlagenüberwachung, der Sicherung kritischer Infrastruktur, der Trinkwasserversorgung, des Umweltschutzes etc. 50 Hierzu zusammenfassend Schmitz, Grundrechtliche Schutzpflichten und der Anspruch auf Straßenverkehrssicherung, 2010, S. 109 ff.; vgl. weiter Trute, KritV 2005, 342, 358. 51 Schmitz (Fußn 50), S. 111 ff. 52 Trute, KritV 2005, 342, 360 f. für die Verteilung von Impfstoffen oder für Verfahren der Triage. 53 Zur hier nicht weiter zu verfolgenden Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz: Gusy, DÖV 2011, 85, 89 f. 54 Gusy, DÖV 2011, 85, 86 f.; Kloepfer, Katastrophenschutzrecht, VerwArch 98 (2007), S. 163, 169; vgl. weiter ders. (Hg.), Schutz kritischer Infrastrukturen, 2010.
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Demgegenüber hat das Recht des Katastrophenfolgenmanagements unlängst neue Konturen gewonnen. Mit der „Neuen Strategie zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ haben sich Bund und Länder auf eine gemeinsame Verantwortung im Bereich von Zivil- und Katastrophenschutz verständigt55. 2009 hat das Bundesministerium des Innern ein Strategiepapier für einen modernen Bevölkerungsschutz vorgelegt56. Das 2009 neu gefasste Zivilschutzgesetz sieht vor, dass die Potenziale des Bundes für den Zivilschutz auch für den Katastrophenschutz der Länder vorgehalten werden57. Mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) wurde 2004 die Möglichkeit zu einem integrierten Katastrophenfolgenmanagement von Bund, Ländern und Gemeinden verbessert, wobei kompetenzrechtliche Abgrenzungen nach wie vor umstritten sind. Das „Gemeinsame Melde- und Lagezentrum des Bundes und der Länder“ (GMLZ) sowie das deutsche „Notfallvorsorgeinformationssystem (deNis)“ dienen dem Informationsmanagement bei der Bewältigung von Katastrophen. Die Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz widmet sich der Fortbildung und der Organisation von Übungen. Für den operativen Bereich ist auf die Verpflichtung zur Aufstellung von Katastrophenschutzplänen nach den Katastrophenschutzgesetzen der Länder hinzuweisen58. Auch im Bereich der Infrastrukturplanung spielt Katastrophenschutz eine zentrale Rolle, wenn kritische Infrastrukturen etwa im Bereich von Verkehr und Versorgung in der Weise zu planen sind, dass sie bei Schadensereignissen nur punktuell, aber nicht gleichzeitig in Mitleidenschaft gezogen werden. Unter dem Aspekt der „preparedness“ ist es nicht ausreichend, wenn landesrechtlich die Katastrophenschutzbehörde bestimmt, ihre Leitungsfunktion geregelt und die Kooperation verschiedenster Behörden im Katastrophenfall vorgesehen wird. „Preparedness“ verlangt zudem, dass technische Hilfsmittel auf neuestem Stand bereitgehalten werden und die Kooperation aller am Katastrophenschutz Beteiligter, auch möglicher privater Helfer, eingeübt59 wird. Die hiermit verbundenen Kosten führen dazu, dass die technische Ausstattung bis in jüngste Zeit nicht optimal war und die dringend erforderlichen großen Übungen nach wie vor zu selten stattfinden. Dies aber erscheint umso problematischer, als neue und kostenintensive Techniken, etwa zum Orten und Bergen Verschütteter, sowie organisatorische Netzwerke zur effektiveren Bewältigung von Katastrophen und Großschadensereignissen entwi-
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2009. 57
Meyer-Teschendorf, DVBl. 2009, 1221, 1222 f. Bundesministerium des Innern, Strategien für einen modernen Bevölkerungsschutz,
Zum neuen Ausstattungskonzept: Meyer-Teschendorf, DVBl. 2009, 1221, 1224 f. Vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 3 BW KatSchG; zur unionsrechtlichen Verpflichtung, Sicherheitspläne für die Anlagen der europäischen kritischen Infrastruktur aufzustellen: Art. 5 Richtlinie des Rates (Fußn 17). 59 Seit 2004 finden im 2-Jahres-Turnus Länder übergreifende Krisenmanagementübungen (LÜKEX) statt. 58
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ckelt werden und zur Verfügung stehen60. Die damit angesprochenen Fragen einer Ökonomie des Katastrophenfolgenmanagements sind alles andere als geklärt61. In der Praxis hält das Technische Hilfswerk des Bundes jene Gerätschaften und Techniken für den Einsatz bei Katastrophen und Großschadensereignissen bereit, die auch aus Kostengründen bei den Feuerwehren der Kommunen und Katastrophenschutzbehörden der Länder nicht vorgehalten werden können. Die technische Modernisierung zur Abwehr von risikobehafteten Sonderlagen oder zur Bewältigung eines Massenanfalls von Verletzten wird derzeit vom Bund auf den Weg gebracht62. Wird von Einrichtungen des Bundes Katastrophenhilfe geleistet, so haben die Kommunen und Länder die entsprechenden Kosten zu erstatten63. Ein an Resilienz orientiertes Kostensystem muss darüber hinaus garantieren, dass auch die mit dem Staat kooperierenden gesellschaftlichen Organisationen, wie etwa die Rettungsdienste, über jene Sach- und Fachkunde sowie technischen Hilfsmittel verfügen, die sie an die neuen Rettungstechniken und Organisationsformen anschlussfähig werden lassen64. Die große Zahl freiwilliger Helfer muss in der Lage sein, mit den neuen Techniken, etwa zur Rettung Verschütteter oder der Triagierung, umzugehen, was umfängliche Aus- und Fortbildungsmaßnahmen erfordert. Dies wird derzeit in Angriff genommen65. Dies und die Finanzierung der neuen Techniken, die vorgehalten werden sollen, ist sehr kostenintensiv. Eine resiliente Gesellschaft muss sich ihre Robustheit und Widerstandsfähigkeit erkaufen und hierbei das richtige Maß finden. Derartige Fragen einer Sicherheits- bzw. Resilienz-Ökonomie harren noch der Klärung. 4. Die Vernetzung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich Resilienz fordert eine Vernetzung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich bei der Prävention und bei der Bewältigung von Großschadensereignissen. Eine solche Vernetzung hat in Deutschland Tradition. So erfolgt z. B. die Rettung Verschütteter im Zusammenwirken privater und staatlicher Kräfte66. So können Private dazu verpflichtet werden, ihre Arbeitskraft oder aber auch ihr Eigentum für die Katastro60 Vgl. die vom BMBF geförderten Projekte SOGRO und I-LOV; hierzu von Zimmermann, Rechtmäßigkeit der Rettung Verschütteter im Wege der Ortung von Mobiltelefonen, 2011, S. 20 ff. 61 Zur Gefahr einer suboptimalen Ressourcenallokation im Mehrebenensystem von Zivilund Bevölkerungsschutz: Gusy, DÖV 2011, 85, 94. 62 Bundesministerium des Innern (Fußn 56), S. 15. 63 Zu den Rechtsgrundlagen: Gusy, DÖV 2011, 85, 94 mit Fußn 59. 64 Vgl. etwa die Anschaffungskosten für den PDA in Wagen des Rettungsdienstes. 65 Bundesministerium des Innern (Fußn 56), S. 34 ff.; vgl. aber die kritischen Bemerkungen von Cronenberg, Katastrophenschutz: Gesellschaftliche oder staatliche Aufgabe, in: Kloepfer (Fußn 8), S. 21, 23. 66 Zur Kooperation des Bundes und der Ländern im Katastrophenschutz ausführlich: Meyer-Teschendorf, DVBl 2009, 1221 ff.
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phenbekämpfung zur Verfügung zu stellen67. Ferner wird der Rettungsdienst meist von privaten Organisationen wahrgenommen. Auch wenn das Schadensereignis noch nicht die Dimension einer Katastrophe erreicht hat, können Privatpersonen zur Hilfeleistung verpflichtet werden68. Oftmals bedarf es einer solchen förmlichen Inpflichtnahme aber überhaupt nicht, was auf die Solidarität innerhalb der Bevölkerung zurückzuführen ist. Für den operativen Bereich ist die Freiwillige Feuerwehr mit etwa 1 Mio. Feuerwehrleuten zu nennen, mit der u. a. der Brandschutz auf kommunaler Ebene organisiert wird. Soweit es besonderer technischer Hilfeleistung bedarf, organisiert das Technische Hilfswerk69 auf lokaler und regionaler Ebene freiwillige Helfer mit entsprechender technischer Ausrüstung und Sachkunde, wobei die übergreifende Organisationsform vom Bund getragen wird. Das Technische Hilfswerk mit seiner flächendeckenden Organisation in 668 Ortsverbänden und seinen mehr als 80.000 freiwilligen Helfern gehört zu den Kernelementen einer resilienten Gesellschaft in Deutschland70. Dieser solidarische Einsatz zum Wohle aller ist bei den großen Zuwanderergruppen, die im Technischen Hilfswerk stark unterrepräsentiert sind, zu fördern71. Hinzu kommen aus dem gesellschaftlichen Bereich mit etwa 600.000 freiwilligen Helfern das Deutsche Rote Kreuz72, die Johanniter-Unfallhilfe, der MalteserHilfsdienst; und nicht zuletzt sind die Werks- und Betriebsfeuerwehren zu nennen73. So gesehen beruht ein zentraler Bereich der Bewältigung von Katastrophen und Großschadensereignissen auf Freiwilligkeit und ehrenamtlicher Tätigkeit. Um diese Hel67
Siehe etwa: Baden-Württemberg: § 25 Abs. 1 LKatSG; Bayern: Art. 9 Abs. 1 BayKSG; Berlin: § 8 Abs. 1 KatSG; Brandenburg: § 13 Abs. 1 BbgBKG; Bremen: § 5 Abs. 1 BremHilfeG; Hamburg: § 16 Abs. 1 HmbKatSG; Hessen: § 46 Abs. 1 HBKG; Mecklenburg-Vorpommern: §§ 18, 19 LKatSG; Niedersachsen: § 28 Abs. 1 NKatSG; Nordrhein-Westfalen: § 27 Abs. 1 FSHG; Rheinland-Pfalz: §§ 27, 28 LBKG; Saarland: § 39 SBKG; Sachsen: § 54 SächsBRKG; Sachsen-Anhalt: § 21 Abs. 1 KatSG-LSA; Schleswig-Holstein: §§ 24 ff. LKatSG; Thüringen: §§ 40 ff. ThürBKG. 68 Teilweise, aber nicht immer, ergibt sich dies aus demselben Gesetz, das auch den Katastrophenfall regelt: Baden-Württemberg: § 32 Abs. 2 FwG; Bayern: Art. 24 Abs. 1 BayFwG; Berlin: § 14 FwG; Brandenburg: § 13 Abs. 1 BbgBKG; Bremen: § 5 Abs. 1 BremHilfeG; Hessen: § 46 Abs. 1 HBKG; Mecklenburg-Vorpommern: § 23 BrSchG; Niedersachsen: § 30 BrandSchG; Nordrhein-Westfalen: § 27 Abs. 1 FSHG; Rheinland-Pfalz: §§ 27, 28 LBKG; Saarland: § 39 SBKG; Sachsen: § 54 SächsBRKG; Sachsen-Anhalt: § 26 BrSchG; SchleswigHolstein: § 25 BrSchG; Thüringen: §§ 40 ff. ThürBKG. 69 Vgl. das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk. – Vorläufer des THW war die „Technische Nothilfe“ in der Weimarer Zeit. 70 Nach Unger, Ist Deutschland auf Katastrophen vorbereitet?, in: Kloepfer (Fußn 8), S. 89, 90 arbeiten ca. 1,7 Millionen Menschen ehrenamtlich im Katastrophenschutz. 71 Allgemein zur Unterstützung des Ehrenamtes im Katatrophenschutz: § 20 ZSKG; zur Förderung unterrepräsentierter Bevölkerungsgruppen: Bundesministerium des Innern (Fußn 56), S. 6. 72 Cronenberg (Fußn 65), S. 26 f. 73 Nach Geier (Fußn 5), S. 26 ist Deutschland in diesem „freiwilligen“ operativen Bereich besser als andere große europäische Länder ausgestattet.
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fergruppen mit dem Staat besser zu vernetzen, werden von Kloepfer moderne Formen des Public Private Partnership vorgeschlagen74. Die nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie) baut auf eine Vernetzung von staatlichem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Bereich: Der Schutz kritischer Infrastrukturen „wird vom Grundsatz gemeinschaftlichen Handelns von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft geleitet. Der Staat kooperiert partnerschaftlich mit anderen öffentlichen und privaten Akteuren bei der Erarbeitung von Analysen und Schutzkonzepten. Er steuert primär moderierend, nötigenfalls normierend, die Maßnahmen zur Sicherung und zur Sicherstellung des Gesamtsystems sowie der Systemabläufe“75. Ob sich die hier vorausgesetzte vertrauensvolle Zusammenarbeit realisieren lässt, wird die Zukunft zeigen. Im Bereich der Beratung gibt es eine Vielzahl von privatrechtlich organisierten Vereinigungen, Arbeitskreisen etc., die Konzepte zur Vorsorge und Bewältigung von Großschadensereignissen entwickeln. Zu den weniger bekannten gehört etwa das Deutsche Komitee Katastrophenvorsorge e.V., das die nationale Plattform zur Katastrophenvorsorge ist, als Mittler zu internationalen Organisationen der Katastrophenvorsorge auftritt und sich als Kompetenzzentrum für alle Fragen der Katastrophenvorsorge versteht76. 5. Die Organisation von Informations-, Kommunikations- und Koordinationsstrukturen Resilienz setzt voraus, dass zur Bewältigung von Katastrophen Informations-, Kommunikations- und Kooperationsmöglichkeiten auf dem höchstmöglichen technischen Stand bereitgehalten und genutzt werden. Denn das Informations- und Koordinationsmanagement ist das Herzstück bei der Bewältigung von Katastrophen und Großschadensereignissen. Hinzu kommt die Aufgabe kommunikativer Vernetzung: Die Vielzahl von staatlichen und privaten Akteuren im Bereich des Katastrophenschutzes erfordert neue Formen der Kommunikation und Koordination. Hier sind im Rahmen des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung innovative Techniken der Kommunikation und Koordination entwickelt worden, wobei szenarioorientiert u. a. die Möglichkeiten elektronischer Kommunikation bei der Erstellung von Lagebildern und bei der Optimierung von Rettungsabläufen von erheblicher Bedeutung sind77. Weniger entwickelt ist bislang der Bereich der Risikokommunikation mit der Bevölkerung. Der Bürger muss sich bewusst werden, dass Großschadensereignisse unvermeidbar sind und ihr Eintritt von ihm Einschränkungen verlangen kann. Welche 74
Kloepfer, VerwArch 98 (2007), S. 163, 184. Nationale Strategie (Fußn 4), S. 3. 76 http://www.dkkv.org/de/about/default.asp. 77 Koch/Plass, Risikofaktor Informationsmanagement?, in: Zoche/Kaufmann/Haverkamp (Hg.), Zivile Sicherheit, 2010, S. 180 ff. 75
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Rolle insoweit der im Ausland beobachteten „German Angst“78 zukommt, also ob und wie ihr zu begegnen ist, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Gelungene Risikokommunikation schafft soziales Verständnis, findet in einem offen geführten Diskurs von Politik, Bevölkerung und Wirtschaft statt und zielt auf vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Großschadensereignissen79. Risikokommunikation zielt zudem auf einen Wissensstand beim Bürger, der irrationales Verhalten vermeidet und auf die Verbesserung der Fähigkeiten zum Selbstschutz zielt. Eine solche Risikokommunikation ist verfassungsrechtlich geboten80, aber nur zum Teil gesetzlich vorgeschrieben81. Eine Weiterentwicklung des Informationsmanagements ist wiederholt angemahnt82, aber bislang nicht nach einem klaren Konzept in Angriff genommen worden. Immerhin ermöglicht das satellitengestützte Warnsystem des Bundes (SatWaS) rasche Warnungen der Bevölkerung über die Massenmedien83. IV. Schlussbemerkung Insgesamt gesehen streitet vieles dafür, dass die im Ausland und international entwickelten Resilienz-Konzepte in Deutschland zwar nicht umfassend, aber doch in wichtigen Bereichen den politischen84 und rechtlichen Rahmen für die öffentliche und private Vorsorge und Bewältigung von Großschadensfällen abgeben. Für manchen mag dies Grund genug sein, auf eine Diskussion von Resilienz-Konzepten in Deutschland zu verzichten, da hierdurch ein Mehrwert im Bereich von Theorie und Praxis der Katastrophenbewältigung und der Infrastruktursicherung nicht zu erwarten sei. Gleichwohl wird durch Resilienz als Schlüsselbegriff zum Ausdruck gebracht, dass die Politik der Katastrophenbewältigung und der Infrastruktursicherung einer Vernetzung85 von technik- sowie geistes-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Ansätzen bedarf, und damit einer ganzheitlichen Perspektive zu folgen hat. Eine Theorie einer resilienten Gesellschaft ist damit aus einem transdisziplinären Ansatz heraus zu entwickeln. In staatstheoretischer Perspektive ist Resilienz ein weiterer Ansatz zur Vernetzung von gesellschaftlichem und staatlichem Bereich. 78 Schildt, „German Angst“: Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, in: Münkel/Schwarzkopf (Hg.), Geschichte als Experiment, 2004, S. 87 ff. 79 Ausführlich zu Aufgaben und Formen der Risikokommunikation: Lorenz, Kritische Infrastrukturen aus Sicht der Bevölkerung, 2010, S. 24 ff. 80 BVerfGE 105, 252, 269, 271. 81 Vgl. Stober/Eisenmenger, NVwZ 2005, 121, 124, 129 f.; Trute, KritV 2005, 342, 362 f. 82 Geier (Fußn 5), S. 29; Bundesministerium des Innern (Fußn 56), S. 27 ff. mit zahlreichen Vorschlägen, die bislang noch nicht realisiert worden sind. 83 Zur Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten: Meyer-Teschendorf, DVBl. 2009, 1221, 1224. 84 So ist z. B. die nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen eng an das Resilienz-Konzept angelehnt, nutzt die hierfür im Ausland entwickelten Schaubilder (S. 13), nennt aber nicht den Begriff Resilienz. 85 Zur Vernetzungsfunktion von Schlüsselbegriffen: Voßkuhle (Fußn 9), § 1 Rn. 40.
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Das Resilienz-Konzept fokussiert sich auf einer Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft im Bereich der Bewältigung von Katastrophen und der Infrastruktursicherheit, die dem Prinzip der geteilten Verantwortung folgt. Eine resilienzorientierte Politik ist wenig erfolgreich, wenn sich nicht die Einzelnen ebenso wie die gesellschaftlichen Kräfte mit dem Willen zur Resilienz an Maßnahmen der Prävention und Bewältigung von Großschadensereignissen und Katastrophen beteiligen. Resilienz ist damit ein wichtiger Pfeiler der Sicherheitsarchitektur, der staatliche Krisenbewältigung mit einem zur Selbstorganisation bereiten gesellschaftlichen Bereich verbindet und so in der an Solidarität orientierten kollektiven Sicherheitskultur verankert ist. Resilienz ist ein in der modernen Hightech-Gesellschaft unverzichtbarer Bezugspunkt eines solidarischen und pluralistischen Gemeinwesens. Nicht zuletzt verweist der Begriff Resilienz auf die Leitideen für den Bevölkerungsschutz und für die Infrastruktursicherung in der gestuften Staatlichkeit86. Auf allen politischen Ebenen, vom lokalen Bereich bis zur Europäischen Union, formuliert Resilienz ein gemeinsames Schutzkonzept, das in wechselseitigem Zusammenwirken und unter Achtung der Subsidiarität87 zu verwirklichen ist.
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Zu diesem Konzept: Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 1 Rn. 54 ff. m. Nw. 87 Dies wird von Deutschland mit Nachdruck eingefordert: Bundesministerium des Innern (Fußn 56), S. 66 ff.
Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon Von Mark A. Zöller I. Einführung Der zum 1. 12. 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon hat für den schon im Jahr 1999 auf dem Europäischen Rat von Tampere geprägten Dreiklang des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erheblichen Neuerungen geführt. Insbesondere wurde der zuvor der dritten Säule der Europäischen Union (EU) zugeordnete Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) als Bestandteil des Titels V des neu geschaffenen Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in das supranationale Unionsrecht überführt. Vergleichsweise wenig Beachtung findet dabei die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang auf der supranationalen Ebene eine ganze Reihe von Kompetenznormen neu geschaffen oder zumindest erweitert wurden, die der EU den Erlass von Gesetzgebungsakten im Bereich der Inneren Sicherheit ermöglichen. Der (zu erwartende) Rückgriff der zuständigen EU-Gesetzgebungsorgane auf diese Kompetenzen wird sich in nicht unerheblichem Maße auch auf die nationale Rechtslage und die internationale Zusammenarbeit im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts1, vor allem aber im Bereich des Strafrechts auswirken. Er wird in noch stärkerem Maße als bisher zu einem von europäischen Vorgaben beeinflussten Sicherheitsrecht führen. Vor diesem Hintergrund soll nach einem kurzen Blick auf die Besonderheiten der Gesetzgebung auf Unionsebene (unter II.) im Folgenden der Frage nachgegangen werden, ob und wenn ja in welchem Umfang die EU auf der Grundlage des geltenden Primärrechts befugt ist, Gesetzgebungsakte im Bereich des Strafrechts zu erlassen (unter III.). II. Besonderheiten der Gesetzgebung auf EU-Ebene Nach deutschem staatsrechtlichem Verständnis ist mit dem Begriff der „Gesetzgebung“ der Erlass von Gesetzen durch die parlamentarische Volksvertretung nach den im Grundgesetz festgelegten Regeln der Ausübung gesetzgebender Gewalt zu verstehen.2 Im Vertrag von Lissabon hat man sich demgegenüber nicht dazu durchringen können, staatsanaloge Begriffe wie „Gesetz“ oder „Rahmengesetz“ einzufüh1 2
Dazu Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 460 ff. Vgl. nur Badura, Staatsrecht, 4. Aufl. 2010, F. Rn. 1.
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ren. Um Ähnlichkeiten mit dem „Staatscharakter“ des zuvor gescheiterten Europäischen Verfassungsvertrags zu vermeiden, wurden stattdessen die schon vom früheren EG-Recht geläufigen Rechtsakte der „Verordnung“ und der „Richtlinie“ auch für diejenigen Bereiche übernommen, die früher der sog. dritten Säule der EU zugewiesen waren. Diese normativen Rechtsakte erfüllen aus dem nationalen (deutschen) Blickwinkel nicht die genannten Anforderungen an Gesetzgebungsakte, da sie nicht durch eine parlamentarische Volksvertretung erlassen werden und die institutionelle Ordnung der EU-Organe nicht dem verfassungsstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung folgt.3 Allerdings ist der auch im Kontext der Unionsrechtssetzung geläufige Begriff der „Gesetzgebung“ autonom, d. h. ohne Bindung an nationale Begrifflichkeiten, auszulegen. Verkompliziert wird die dazu erforderliche Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und anderen Rechtsakten nach dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages allerdings durch die Tatsache, dass Verordnungen, Richtlinien oder Beschlüsse nach geltendem Primärrecht sowohl als Akte mit als auch ohne Gesetzescharakter möglich sind. Sie kann daher nicht anhand von Begrifflichkeiten, sondern lediglich mit Blick auf das jeweils zugrunde liegende Rechtssetzungsverfahren vorgenommen werden. Ein Gesetzgebungsakt liegt infolgedessen nur dann vor, wenn in der Rechtsgrundlage für seinen Erlass ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass er nach dem ordentlichen oder einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden muss.4 Wo dieser Zusatz fehlt, handelt es sich um einen Unionsrechtsakt ohne Gesetzescharakter. Bei den der EU zur Verfügung stehenden Rechtsinstrumenten mit thematischem Bezug zum Kriminalstrafrecht ist vor diesem Hintergrund regelmäßig von Strafgesetzgebungsakten auszugehen. Insbesondere die noch näher zu betrachtenden Richtlinien zur Harmonisierung des Straf- und Strafprozessrechts müssen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (nach Art. 289, 294 AEUV) erlassen werden. III. Gesetzgebungskompetenzen der EU im Bereich des Strafrechts Der Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fällt – wie die gesamte Materie des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – nach Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV in die geteilte Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Dies bedeutet in Entsprechung zu den konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen nach deutschem Verfassungsrecht, dass eine vertragliche Handlungsermächtigung der Union nicht von vornherein eine Tätigkeit der Mitgliedstaaten ausschließt. Die mitgliedstaatliche Zuständigkeit dauert vielmehr so lange und so weit fort, wie die EU von ihrer Zuständigkeit keinen Gebrauch macht.5 Im Übrigen ist für die Beant3
Badura, Staatsrecht, F. Rn. 7. Möstl, Vertrag von Lissabon, 2010, S. 97 f.; Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2010, S. 226. 5 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2010, Art. 2 AEUV Rn. 4; Bieber/Epiney/Haag, Die europäische Union, 9. Aufl. 2011, § 3 Rn. 25; Oppermann/ 4
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wortung der Frage, ob die EU überhaupt kompetenzrechtlich in der Lage ist, Strafgesetzgebungsakte zu erlassen, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu beachten.6 Nach diesem Grundsatz, der nun in Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV ausdrücklich niedergelegt ist, können die Unionsorgane eine Kompetenz nur in Bezug auf solche Materien haben, die ihnen zuvor ausdrücklich von den Mitgliedstaaten übertragen wurden. Jeder Rechtssetzungsakt der Union erfordert damit eine ausdrückliche oder aber zumindest im Wege der Auslegung (hinreichend sicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage in den Gründungsverträgen. 1. Fehlende Kompetenz zum Erlass supranationaler Strafrechtsnormen a) Allgemeine Kompetenz zur Setzung supranationalen Strafrechts Eine allgemeine Kompetenz zum Erlass unmittelbar geltender, supranationaler Strafrechtsnormen besaß die EU bereits nach der vor dem Lissaboner Vertrag geltenden Rechtslage nach zutreffender und überwiegender, wenn auch vereinzelt bestrittener Ansicht im Schrifttum nicht.7 Damit war es schon rechtlich ausgeschlossen, europäische Straftatbestände oder Verfahrensvorschriften zu setzen, die ohne weiteren Umsetzungsakt durch den nationalen Gesetzgeber in den 27 EU-Mitgliedstaaten Geltungskraft besitzen. An diesem grundsätzlichen Ergebnis hat sich auch durch das Inkrafttreten des Lissaboner Reformvertrages nichts geändert. Schließlich kann man aus der bloßen Vergemeinschaftung von früher der intergouvernementalen Zusammenarbeit unterliegenden Regelungsgegenständen der ehemaligen dritten Säule der EU nicht auf die Schaffung neuer Gesetzgebungskompetenzen schließen. Im AEUV werden den Gesetzgebungsorganen der EU gerade keine ausdrücklichen Befugnisse zum Erlass allgemeiner, supranationaler Strafrechtsnormen verliehen. In den Art. 82, 83 AEUV finden sich lediglich neue Befugnisse zur Harmonisierung bestimmter Bereiche des nationalen Straf- und Strafprozessrechts der Mitgliedstaaten durch Richtlinien.8 Insofern bestätigt der Vertrag von Lissabon als argumentum a minore ad maius gerade die schon bislang vorherrschende Ansicht vom Fehlen einer allgemeinen supranationalen Strafgesetzgebungskompetenz. Wenn die Verfasser des Lissabonner Reformvertrags schon für eine Harmonisierungskompetenz eine ausdrückliche Verankerung im Primärrecht erforderlich gehalten haben, muss dieses Classen/Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 12 Rn. 16; Heger, ZIS 2009, 406 (409); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (14). 6 Allg. hierzu Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 5 EUV Rn. 3 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 45 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 3 ff. 7 Einen Überblick über die Argumente pro und contra einer originären supranationalen Strafgesetzgebungskompetenz geben etwa Hecker, Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2010, § 4 Rn. 67 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340 (342) jeweils m.w.N. 8 Vgl. dazu die Ausführungen unter III. 2.
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Bedürfnis erst recht für eine in die Souveränitätsinteressen der Mitgliedstaaten noch weiter eingreifende Befugnis zur Setzung unmittelbar geltenden, supranationalen Strafrechts bestehen. Da es aber für den Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts an einer solchen expliziten Kompetenznorm fehlt, hat die Auflösung der früheren Säulenstruktur der EU durch den Vertrag von Lissabon die diesbezügliche Kompetenzverteilung im Bereich der Strafgesetzgebung nicht verändert.9 b) Bereichsspezifische Kompetenznormen Der Streit um die Frage nach einer supranationalen Strafrechtssetzungskompetenz der EU hat sich mittlerweile inhaltlich verlagert. Während das Fehlen einer allgemeinen, also thematisch nicht näher eingegrenzten Befugnis nun offenbar weitgehend akzeptiert wird, rücken verstärkt mögliche bereichsspezifische Kompetenznormen in den Blick. aa) Art. 325 Abs. 4 AEUV Als zentrale Vorschrift in diesem Begründungszusammenhang gilt Art. 325 AEUV als Nachfolgeregelung des früheren Art. 280 EGV, der sich mit der Bekämpfung von Betrugsfällen zu Lasten des EU-Haushalts befasst. Speziell auf der Grundlage von Art. 325 Abs. 4 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien beschließen, die sich gegen die finanziellen Interessen der EU richten. Der Begriff der „Betrügereien“ ist allerdings auf Unionsebene autonom auszulegen und infolgedessen inhaltlich deutlich weiter zu verstehen als das deutsche, durch § 263 Abs. 1 StGB geprägte Verständnis.10 Erfasst sind sämtliche vorsätzlichen Handlungen und Unterlassungen mit Täuschungscharakter und potentieller Relevanz zu Lasten des EU-Haushalts, beispielsweise die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen, das Verschweigen von Informationen bei bestehender Aufklärungspflicht oder die missbräuchliche Verwendung finanzieller Mittel.11 Es geht damit auch um abstrakt gefährliche Täuschungsformen im Vorfeld des Betruges wie z. B. Subventionsbetrügereien, um Urkundendelikte sowie um Untreue- bzw. Unterschlagungsfälle.
9
(14).
So i. Erg. auch Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 79; Mansdörfer, HRRS 2010, 11
10 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 8 Rn. 25; Zimmermann, Jura 2009, 844 (846). 11 Vgl. Art. 1 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. C 316, 49 v. 27. 11. 1995).
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Schon Art. 280 Abs. 4 EGV wurde vereinzelt als Kompetenzgrundlage für eine bereichsspezifische, auf den Schutz der finanziellen Interessen der EG beschränkte Strafrechtssetzungsbefugnis der EG angesehen.12 Die Vorbehaltsklausel des § 280 Abs. 4 S. 2 EGV, wonach die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege unberührt bleiben sollten, könne die Schaffung supranationaler Strafrechtsnormen nach dieser Auffassung nicht ausschließen. Ihr komme lediglich die Funktion zu, den Anwendungsvorrang der nationalen Strafvorschriften zu betonen, falls dieser die im Gemeinschaftsrecht beschriebene Verhaltensweise bereits erfasse. Diese Sicht der Dinge hatte sich vor dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages allerdings zu Recht nicht durchsetzen können. Zu fernliegend erschien es angesichts des eindeutigen Wortlauts der Vorbehaltsklausel („bleibt unberührt“), dennoch eine stillschweigende Übertragung einer so zentralen Befugnis, wie sie die Einräumung supranationaler Strafgesetzgebungskompetenzen darstellt, ohne vorherige politische Diskussion in den Mitgliedstaaten zu postulieren. Hinzu kam, dass die strafrechtliche Betrugsbekämpfung ausweislich Art. 29 Abs. 2 EUV a.F. ausdrücklich der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der dritten Säule der EU zugewiesen war. Und schließlich hatte selbst die Kommission im Zuge der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza Art. 280 EGV als unzureichende Ermächtigungsgrundlage angesehen und in ihrem sog. „Grünbuch zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft“13 aus dem Jahr 2001 die Schaffung eines neuen Art. 280a EGV vorgeschlagen, der eine ausdrückliche Ermächtigung zur Regelung von Straftaten zum Schutz der finanziellen Interessen der EG enthalten sollte. Dieser Vorschlag konnte sich jedoch damals politisch nicht durchsetzen. Nur scheinbar geklärt ist die Frage, inwieweit sich an diesen rechtlichen Rahmenbedingungen durch das Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon Wesentliches verändert hat. Im Vergleich zur Vorgängerregelung des Art. 280 Abs. 4 EGV ist die Vorbehaltsklausel im neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV nicht mehr enthalten. Daraus wird im Schrifttum bislang einhellig die Schlussfolgerung gezogen, dass diese Norm der EU erstmalig die Kompetenz verleiht, supranationale Strafvorschriften, insbesondere Straftatbestände, zu erlassen.14 Diese Schlussfolgerung erscheint auf den ersten Blick logisch überzeugend und auch mit der sprachlichen Fassung zu harmonieren. Schließlich kann man unter den weiten Begriff der „Maßnahmen“ ohne Weiteres auch den Erlass supranationaler Strafrechtsnormen fassen. Erst auf den zweiten Blick 12 Wolfgang/Ulrich, EuR 1998, 616 (627); Tiedemann, FS Lenckner, 1998, S. 411 (415); Dannecker, FS Hirsch, 1999, S. 141 (144); Zieschang, ZStW 113 (2001), 255 (259 ff.); Hedtmann, EuR 2002, 122 (133 f.); Stiebig, EuR 2005, 466 (483 ff.); Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, 2004, S. 107 ff., 327 ff. 13 KOM (2001) 715 endg. 14 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 81; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 24 ff.; ders., ZRP 2010, 137; Meyer, NStZ 2009, 657 (658); Zimmermann, Jura 2009, 844 (845 f.); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (18); Schramm, ZJS 2010, 615 (616); wohl auch Khan, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 325 AEUV Rn. 6.
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regen sich grundsätzliche Zweifel. So ist bereits fraglich, ob mit den in Art. 325 Abs. 4 AEUV bezeichneten „Maßnahmen zur Bekämpfung“ von Betrügereien auch repressive, kriminalstrafrechtliche Handlungsformen gemeint sind. Schließlich spricht der Vertragstext in Art. 83 und Art. 82 AEUV, also dort, wo es unzweifelhaft um gesetzgeberische Maßnahmen mit Bezug zu Gegenständen des materiellen und formellen Strafrechts geht, auch eindeutig von „Straftaten“, „Strafen“ und „Strafverfahren“.15 Zwar ist zu konstatieren, dass das Primärrecht den Begriff der „Bekämpfung der Kriminalität“ in allgemeinen Zielbeschreibungen wie Art. 3 Abs. 2 EUV oder Art. 67 Abs. 3 AEUV, aber auch im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Europol (Art. 88 Abs. 1 AEUV) eher ambivalent verwendet, was der Tatsache Rechnung trägt, dass nicht alle EU-Mitgliedstaaten im Sinne des deutschen Modells mehr oder minder trennscharf zwischen Prävention und Repression differenzieren. Interessanterweise ermächtigt aber Art. 75 AEUV zur (Verhütung und) Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundenen Aktivitäten das Europäische Parlament und den Rat ausdrücklich nur dazu, durch Verordnungen einen Rahmen für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen zu schaffen. Daraus lässt sich Zweierlei ablesen: zum einen bezieht sich die Ermächtigung hier im Gegensatz zu Art. 325 AEUV ausdrücklich auf den Erlass von „Verordnungen“ i.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV. Und zum anderen betrifft sie inhaltlich nur „Verwaltungsmaßnahmen“, nicht aber Kriminalstrafrecht. In eine andere Richtung weist demgegenüber der Normtext in Art. 86 Abs. 1 AEUV, der die Möglichkeit vorsieht, zur Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eine Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen. Mit der „Bekämpfung von Straftaten“ durch eine Strafverfolgungsbehörde kann in diesem Kontext sinnvollerweise nur die repressive Aufgabe der Strafverfolgung gemeint sein. Insgesamt drängt sich somit der Verdacht auf, dass der Begriff der „Bekämpfung“ im EU-Primärrecht keinem durchdachten System folgt. Er ist allem Anschein nach die Konsequenz einer Übersetzung des von vornherein weniger differenzierenden Verbs „to combat“ aus der englischsprachigen Vertragsfassung.16 Immerhin lässt sich festhalten, dass der Wortlaut von Art. 325 Abs. 4 AEUV die Annahme einer supranationalen Strafrechtssetzungskompetenz jedenfalls nicht explizit stützt. Zu einem eindeutigeren Ergebnis gelangt man allerdings bei einem strukturellen Vergleich von Art. 325 AEUV mit den strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen der Art. 82 und 83 AEUV. Wenn die Verfasser des Lissabonner Reformvertragswerks schon die ausdrückliche Regelung von Kompetenzen zur Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten für erforderlich gehalten haben, dann hätten sie für die Etablierung einer darüber deutlich hinausreichenden 15
Vgl. etwa Art. 82 Abs. 2 UA 2 lit. b und d („Strafverfahren“) sowie lit. c („Straftaten“) sowie Art. 83 Abs. 1 UA 1 und Abs. 2 AEUV („Straftaten und Strafen“). 16 Demgegenüber enthält beispielsweise die französische Textfassung des trait¦ sur le fonctionnement de lÏUnion europ¦enne in Art. 67 Abs. 3, 75 Abs. 1 und 88 Abs. 1 nur den Begriff „pr¦vention“, während sich in Art. 86 Abs. 1 die Zielvorgabe „pour combattre les infractions portant atteinte aux int¦rÞts financiers de lÏUnion“ findet.
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supranationalen Strafrechtssetzungskompetenz der EU, auch wenn sie sich nur bereichsspezifisch auf Betrügereien zu Lasten der EU bezieht, diese erst recht im Text des AEUV verankern müssen. Es hätte also – wie das Beispiel des Art. 75 AEUV zeigt – einer Formulierung bedurft, die in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Regelungsbefugnis durch Verordnungen zulässt. Dass die Verfasser des Lissaboner Vertrages das Bestehen einer derart bedeutenden Befugnis wie diejenige zum Erlass supranationaler Strafvorschriften ohne eindeutige textliche Verankerung im Primärrecht der Interpretation und Spekulation von Rechtswissenschaft und EuGH überlassen haben sollen, ist schon aus einem gesamteuropäischen Blickwinkel mehr als fraglich. Aus der deutschen Perspektive wären vor dem Hintergrund von Art. 23 GG kaum abzuschätzende Konflikte zwischen EU-Primärrecht und nationalem Verfassungsrecht vorprogrammiert. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung deutlich betont, dass die weitreichenden Kompetenzen im Bereich des Strafrechts, die sich in der Folge des Lissaboner Vertrages insbesondere im AEUV wiederfinden, restriktiv zu interpretieren sind.17 Nicht zu überzeugen vermag schließlich eine vermittelnde Auffassung, die eine Strafrechtssetzungskompetenz auf dem Gebiet des Schutzes der finanziellen Interessen der EU nicht grundsätzlich ablehnt, allerdings darauf verweist, dass für die Verfolgung solcher Taten nach Art. 86 Abs. 1 AEUV die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig wäre. Solange diese nicht eingerichtet sei, komme (faktisch) kein Rückgriff auf diese Kompetenz in Betracht.18 Dagegen spricht bereits, dass in der Union grundsätzlich keine zwingende Verbindung zwischen Gesetzgebungs- und Vollzugskompetenzen besteht.19 Vielmehr liegt in der EU der Großteil der Vollzugsaufgaben bei den nationalen Behörden, die dabei ihre eigenen Prinzipien und Rechtsordnungen anwenden.20 Zudem ist Art. 325 AEUV weder sprachlich noch inhaltlich an die nach Art. 86 AEUV ermöglichte Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft gekoppelt. Sofern man also – entgegen der hier vertretenen Auffassung – Art. 325 Abs. 4 AEUV als bereichsspezifische Kompetenzgrundlage zum Erlass supranationaler Strafrechtsnormen ansieht, bestehen dann auch keine grundlegenden Bedenken gegen die Möglichkeit der praktischen Anwendung und Vollstreckung supranationaler Straftatbestände durch die nationalen Strafverfolgungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten. bb) Art. 79 Abs. 2 AEUV Auch Art. 79 Abs. 2 lit. d AEUV verleiht der EU keine bereichsspezifische supranationale Strafrechtssetzungskompetenz in Bezug auf den Menschenhandel, insbesondere den Handel mit Frauen und Kindern. Hinsichtlich der kriminalstrafrechtlichen Interpretation der dort genannten „Maßnahmen zur Bekämpfung“ dieses Krimi17 18 19 20
Vgl. BVerfGE 123, 267 (413). Vgl. Heger, ZIS 2009, 406 (416). Bieber/Epiney/Haag, Die europäische Union, § 8 Rn. 2. Bieber/Epiney/Haag, Die europäische Union, § 8 Rn. 5.
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nalitätsbereiches gelten bereits die zu Art. 325 vorgetragenen sprachlichen Bedenken. Zweifelhaft erscheint auch, ob mit der Bekämpfung des Menschenhandels – anders als bei Betrügereien zu Lasten des EU-Haushalts – überhaupt ein originäres Schutzgut der Europäischen Union betroffen ist.21 Vor allem aber zählt der Menschenhandel zu denjenigen Kriminalitätsbereichen, die nach Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV ausdrücklich (nur) der Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen durch Mindestvorschriften unter Zuhilfenahme von Richtlinien zugewiesen ist. Infolgedessen stellt Art. 83 AEUV mit Blick auf potenzielle strafrechtliche Kompetenzen die gegenüber Art. 79 Abs. 2 AEUV speziellere Regelung dar.22 Insofern lässt sich als Zwischenergebnis festhalten, dass sich im geltenden Primärrecht weder eine allgemeine noch eine bereichsspezifische Kompetenzgrundlage für die Setzung supranationaler Strafgesetzgebungsakte findet. 2. Kompetenzen zur Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen Gemäß Art. 82 Abs. 1 AEUV beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den in Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 AEUV genannten Bereichen. Diese beiden Prinzipien stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Die Harmonisierung der bislang in weiten Teilen noch sehr unterschiedlichen nationalen Strafrechtssysteme in Europa ist vielmehr die denknotwendige Voraussetzung für eine gegenseitige Anerkennung von Justizakten, beispielsweise von Haftbefehlen oder Beweisanordnungen.23 Nur sie kann das notwendige Vertrauen schaffen, das die tatsächliche Anerkennung von gerichtlichen und außergerichtlichen Entscheidungen eines anderen EU-Mitgliedstaats zwingend voraussetzt. Um dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung mit Blick auf die Zukunft auch in der Praxis die zentrale Funktion zu sichern, die ihm Art. 67 Abs. 3 und Art. 82 Abs. 1 AEUV bereits auf dem Papier zuschreiben, wurden durch den Vertrag von Lissabon in Art. 82 und 83 AEUV neue Kompetenzen zur Harmonisierung des nationalen Straf- und Strafverfahrensrechts der EU-Mitgliedstaaten geschaffen. Sie ermöglichen nicht die Schaffung unmittelbar wirksamer, supranationaler Strafrechtsnormen, sondern lediglich die Festschreibung verbindlicher Mindest-Zielvorstellungen in den nationalen Strafrechtsordnungen, die den Unionsstaaten immerhin die Wahl der Form und der Mittel zur Zielerreichung überlässt.
21 22
(416).
Heger, ZIS 2009, 406 (416); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (17). Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 50; Heger, ZIS 2009, 406
23 Vgl. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 159.
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a) Kompetenzen im Bereich des materiellen Strafrechts In Art. 83 AEUV finden sich zunächst Harmonisierungskompetenzen zur Angleichung des materiellen Strafrechts. Dabei ist zwischen der originären Strafrechtsangleichungskompetenz nach Art. 83 Abs. 1 AEUV und der Annexkompetenz nach Art. 83 Abs. 2 AEUV zu unterscheiden. aa) Originäre Strafrechtsangleichungskompetenz (Art. 83 Abs. 1 AEUV) Auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 1 UA 1 können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festlegen, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie auf einer gemeinsamen Grundlage zu bekämpfen, eine grenzüberschreitende Dimension haben. Damit wird eine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz etabliert24, was bedeutet, dass solche Richtlinien unabhängig davon erlassen werden dürfen, ob in diesem Bereich bereits zuvor Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Für den Rückgriff auf diese originäre Harmonisierungskompetenz finden sich zwei thematische Einschränkungen: Zum einen muss es sich um Bereiche besonders schwerer Kriminalität handeln und zum anderen muss ihnen eine grenzüberschreitende Dimension zukommen. Als Kriminalitätsbereiche, für die dies bereits mit Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags ohne weitere Prüfung unterstellt wird, nennt Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegalen Drogenhandel, illegalen Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität.25 Diese Aufzählung ist abschließend.26 Für die Zukunft ermöglicht Art. 83 Abs. 1 UA 3 AEUV allerdings eine Erweiterung auf zusätzliche Kriminalitätsfelder durch einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europaparlaments.27 Nach Ansicht des BVerfG28 unterliegt die Nutzung dieser dynamischen Blankettermächtigung dem Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, so dass die Bundesregierung einer solchen Erweiterung nur nach einer vorherigen Billigung durch den Bundestag zustimmen darf. Diese Vorgabe wird nun in § 7 Abs. 1 Integra24
Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 4; Heger, ZIS 2009, 406 (411). Zur Frage, wie es sich auswirkt, dass der geltende Art. 83 Abs. 1 AEUV die Gesetzgebungsmaßnahmen gegenüber dem überwiegend weit interpretierten Art. 29 Abs. 2, 31 Abs. 1 lit. e EUV a.F. eine Einschränkung der Kriminalitätsbereiche mit sich bringt, vgl. nur Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 4; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 34. 26 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 4; Heger, ZIS 2009, 406 (412); Zimmermann, Jura 2009, 844 (846); Böse, ZIS 2010, 76 (82); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (16). 27 An der praktischen Relevanz der Erweiterungsklausel angesichts der Weite des Katalogs in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV zweifelt Folz, ZIS 2009, 427 (430). 28 BVerfGE 123, 267 (412 f.). 25
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tionsverantwortungsgesetz (IntVG) einfachgesetzlich umgesetzt. Danach darf der deutsche Vertreter im Rat einem Beschlussvorschlag gemäß Art. 83 Abs. 1 UA 3 AEUV nur zustimmen oder sich bei einer Beschlussfassung enthalten, nachdem hierzu ein Gesetz gem. Art. 23 Abs. 1 GG in Kraft getreten ist. Ohne ein solches Gesetz muss der deutsche Vertreter im Rat den Beschlussvorschlag ablehnen. Zu Recht kritisiert wird in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass es sich bei der Aufzählung in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV nicht um konkrete Straftatbestände, sondern um eher vage Beschreibungen von Deliktsbereichen handelt.29 Dieser Mangel an Bestimmtheit mag zwar für Kompetenzvorschriften im Primärrecht nicht vollends zu vermeiden sein.30 Er kann aber bei ihrer praktischen Handhabung zu handfesten Problemen führen. So kennt etwa das deutsche Strafrechtssystem keinen „Straftatbestand Terrorismus“ und verwendet auch den Terrorismusbegriff nicht ausdrücklich. Lediglich bei der strafbaren Beteiligung an terroristischen Vereinigungen im In- und Ausland (§§ 129a, 129b StGB) verwendet das StGB den Terrorismusbegriff in adjektivischer Form. Da das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen „normaler“ und „terroristischer“ Kriminalität in der besonderen subjektiven Zielsetzung des Terroristen zu sehen ist, sollte man in diesem Bereich auch besser von „terroristisch motivierter Kriminalität“ sprechen.31 Allerdings hat der deutsche Strafgesetzgeber eine derartige Klarstellung im nationalen Recht bislang nicht vorgenommen. Zudem führt sie zu der Konsequenz, dass nahezu jede Straftat – von der Sachbeschädigung bis zum Mord – mit terroristischer Motivation begangen werden kann und dann über Art. 83 Abs. 1 AEUV der Harmonisierung durch EU-Richtlinien unterläge. Potenziert wird die damit verbundende Verwirrung dann noch durch die Erkenntnis, dass andere EU-Mitgliedstaaten ihre Strafvorschriften mit Terrorismusbezug teilweise vollkommen anders ausgestaltet haben. Schon dieses Beispiel zeigt, dass die vermeintlich detaillierte Aufzählung in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV sich als Trugbild erweisen dürfte. Eine verlässliche Abschätzung der Frage, inwieweit die nationalen Strafvorschriften auf dieser Grundlage angeglichen werden können, erlaubt sie nicht. Infolgedessen wird es anderen Korrekturmechanismen, etwa dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip32 obliegen, die Weite des Art. 83 Abs. 1 AEUV in der Gesetzgebungspraxis der EU auf ein rechtsstaatlich erträgliches Maß zu reduzieren. Schon aus der grammatikalischen Bezugnahme von Art. 83 Abs. 1 UA 2 („Derartige Kriminalitätsbereiche sind …“) auf die Formulierung in UA 1 folgt, dass für die im dortigen Katalog genannten Deliktsbereiche nicht nur die Einstufung als „beson29 Weigend, ZStW 116 (2004), 275 (285 f.); Ambos/Rackow, ZIS 2009, 397 (402); Braum, ZIS 2009, 418 (421). 30 Vgl. Kretschmer, in: Heintschel von Heinegg/Vedder (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-271 Rn. 7; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 2008, Rn. 43; Walter, ZStW 117 (2005), 912 (927 f.). 31 Ausführlich hierzu Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 146 f., 211 f.; ders., GA 2010, 607 (611 f.) jew. m.w.N. 32 Vgl. dazu die Ausführungen unter 3. b) und c).
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ders schwere Kriminalität“, sondern darüber hinaus auch die „grenzüberschreitende Dimension“ unterstellt wird, die somit im Einzelfall keiner Prüfung mehr bedarf.33 Der demgegenüber vorgebrachte Einwand, dass diese Voraussetzungen dann systematisch im Zusammenhang mit der Erweiterungsklausel des Art. 83 Abs. 1 UA 3 AEUV zu verorten gewesen wären34, erscheint mit Blick auf die Normstruktur nicht zwingend. Sie werden aber hinsichtlich der in UA 2 genannten Kriminalitätsbereiche ohnehin im Regelfall gegeben sein.35 Diese einschränkenden Kriterien erlangen dann nur für die potenzielle Einbeziehung weiterer Kriminalitätsbereiche in den Anwendungsbereich der originären Strafrechtsangleichungskompetenz nach Art. 83 Abs. 1 UA 3 AEUV Bedeutung. Sie müssen dann in ihrer Sozialschädlichkeit mit den in UA 2 genannten Deliktskategorien vergleichbar sein36 und typischerweise einen Tatort in mehr als nur einem EU-Mitgliedstaat aufweisen. Die Harmonisierungskompetenz des Art. 83 Abs. 1 AEUV ermöglicht aus inhaltlicher Sicht sowohl Vorgaben für Straftaten als auch für Strafen. Sie bezieht sich somit einerseits auf Fragen der konkreten Ausgestaltung von Straftatbeständen, wie sie im deutschen Strafrechtssystem in den Normen des Besonderen Teils des StGB und der strafrechtlichen Nebengesetze verortet sind. Aber auch Materien, die wir aus deutschem Blickwinkel im Allgemeinen Teil verankern, können Gegenstände einer solchen Anweisungskompetenz sein, wenn dies für eine wirksame Bekämpfung des jeweiligen Kriminalitätsbereichs erforderlich ist und nicht in die Grundstruktur des jeweiligen nationalen Strafrechtssystems eingegriffen wird.37 Zu denken ist an die Ausgestaltung der subjektiven Tatseite, Versuchskonstellationen sowie Täterschaft und Teilnahme.38 Andererseits können auch „Strafen“, also konkrete Rechtsfolgen, harmonisiert werden. Kaum Beachtung findet in diesem Zusammenhang bislang der Gesichtspunkt, dass den EU-Mitgliedstaaten im Richtlinienwege lediglich „Mindestvorschriften“ auferlegt werden dürfen. Das bedeutet faktisch nichts anderes als dass der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung einer Richtlinie auch über die Mindestvorgaben der EU hinausgehen kann.39 Dazu ein Beispiel: Nehmen wir an, eine EU-Richtlinie enthält Vorgaben zur Vereinheitlichung des strafbaren Umgangs mit Betäubungsmitteln. Natürlich kann sich jeder Mitgliedstaat darauf beschränken, lediglich diese Mindeststandards im nationalen Recht umzusetzen. Er kann die Richtlinie aber auch zum Anlass für eine deutliche Ausweitung seines Betäubungsmittelstrafrechts nehmen, indem er noch zusätzliche Straftatbestände schafft und Höchst33 Vgl. dazu mit Verweis auf die weniger eindeutige Sprachfassung in anderen EU-Mitgliedstaaten Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 36 m. Fußn. 56. 34 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 36; Zimmermann, Jura 2009, 844 (847). 35 BVerfGE 123, 267 (412). 36 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 35. 37 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 11 Rn. 6. 38 Heger, ZIS 2009, 406 (412). 39 Beukelmann, NJW 2010, 2081 (2082).
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strafen vorsieht, die deutlich über den „Mindesthöchststrafen“ der Richtlinie liegen.40 Nur in Extremfällen wird man darin einen Verstoß gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) sehen können. Wer auf EU-Ebene mit Mindestvorschriften operiert, läuft also Gefahr, dass hiervon auf der nationalen Ebene „nach oben hin“ abgewichen und damit anstelle einer Harmonisierung im Ergebnis eine Diversifizierung der in Art. 83 AEUV genannten Kriminalitätsbereiche erreicht wird. bb) Annexkompetenz (Art. 83 Abs. 2 AEUV) Im Gegensatz zu Art. 83 Abs. 1 AEUV stellt die Befugnis zur Harmonisierung durch Richtlinien mit Mindestvorschriften nach Art. 83 Abs. 2 AEUV keine originäre Strafrechtsangleichungskompetenz, sondern eine Annexkompetenz dar.41 Schließlich sind entsprechende Harmonisierungsmaßnahmen auf dieser Grundlage nur in solchen Politikbereichen der Union zugelassen, auf dem bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Art. 83 Abs. 2 AEUV zielt darauf ab, Politiken der EU im Sinne eines „effet utile“ effektiver durchsetzen zu können.42 Die Kompetenznorm des Art. 83 Abs. 2 AEUV schafft damit auch im Wesentlichen die rechtliche Grundlage für die problematische Rechtsprechung des EuGH, der in zwei viel beachteten Entscheidungen aus den Jahren 200543 und 200744 bereits vor dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages – und insofern ohne ausdrückliche Kompetenzgrundlage im Primärrecht – erklärt hatte, der Gemeinschaftsgesetzgeber sei trotz fehlender Zuständigkeit für das Strafrecht nicht daran gehindert, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der zum Schutz von Politikbereichen der Gemeinschaft erlassenen Rechtsgrundlagen zu gewährleisten. Die Strafrechtsangleichung nach Art. 83 Abs. 2 AEUV zählt zu den zentralen Schaltstellen für einen gleichmäßigen Schutz der Rechtsgüter der Union und eine effektive Durchsetzung der Unionspolitiken.45 Wenn gleichartige Wettbewerbshand40 Dieses Beispiel erscheint nicht völlig aus der Luft gegriffen, wenn man bedenkt, dass es politisch durchaus gängige Praxis ist, die Verantwortung für den Bürgern unliebsame Gesetzesänderungen mit dem Verweis auf unabänderliche Vorgaben aus Brüssel abzuschieben. 41 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 2; Hailbronner, in: Hummer/Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2010, S. 370. 42 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 38. 43 EuGH, JZ 2006, 307 m. Anm. Heger, JZ 2006, 310 (Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht [ABl. L 29, 55 v. 5. 2. 2003]); dazu Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 ff.; Böse, GA 2006, 211 ff.; Braum, wistra 2006, 121 ff.; Diehm, wistra 2006, 366 (368 ff.); Streinz, JuS 2006, 164 ff.; Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 ff.; Sˇugmann Stubbs/ Jager, KritV 2008, 57 (59 ff.); Satzger, KritV 2008, 17 (22 ff.); Zöller, ZIS 2009, 340 (344 f.). 44 EuGH, JZ 2008, 251 m. Anm. Eisele (Rahmenbeschluss zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe [ABl. L 255, 164 v. 30. 9. 2005]); dazu Fromm, ZIS 2008, 168 ff.; ders., ZUR 2008, 301 ff.; Sˇugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (67 ff.); Satzger, KritV 2008, 17 (22 ff.); Zimmermann, NStZ 2008, 662 ff.; Zöller, ZIS 2009, 340 (345 f.). 45 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 39.
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lungen in einem Mitgliedstaat mit Kriminalstrafe bedroht, in einem zweiten nur als Ordnungsunrecht eingestuft und in einem dritten überhaupt nicht sanktioniert werden, entstehen zwangsläufig nachteilige Auswirkungen für den Binnenmarkt. Man denke nur an das Beispiel umweltgefährdender Abfallbeseitigungsmaßnahmen, deren strafrechtliche Sanktionierung in einzelnen EU-Staaten einen wirtschaftlich denkenden Unternehmer zur Einhaltung kostenträchtiger Standards zwingt, während es hierfür in einem anderen Staat, in dem deren Verletzung nicht pönalisiert ist, am nötigen Anreiz fehlt, so dass dort wilde Deponien und illegale Verklappungsaktionen an der Tagesordnung sind. Andererseits ist zu beachten, dass Art. 83 Abs. 2 AEUV lediglich eine Annexkompetenz gewährt. Diese darf nicht dazu missbraucht werden, das Fehlen einer Harmonisierungsbefugnis der Union für sämtliche Bereiche des materiellen Strafrechts zu umgehen. Der Schutz des Binnenmarktes oder eines sonstigen Bereiches der Unionspolitik muss damit im Einzelfall auch tatsächlich im Vordergrund der Regelung durch Richtlinien stehen. Ein zweifelhaftes Beispiel stellt insofern die noch vor Lissabon ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vom Februar 200946 dar.47 Obwohl es hier schon ausweislich der Erwägungsgründe und der Bestimmungen über den Regelungsgegenstand48 erkennbar darum ging, bei privaten Telekommunikationsdiensteanbietern gesammelte Daten zu Zwecken der Strafverfolgung nutzbar zu machen, betonte der EuGH hier den Schutz des Wettbewerbs, was schon deshalb fragwürdig war, weil die Richtlinie den Mitgliedstaaten für die Dauer der Datenspeicherung einen nicht unerheblichen Spielraum von sechs Monaten bis zu zwei Jahren und damit nach wie vor Möglichkeiten zur Wettbewerbsverzerrung ließ.49 Voraussetzung für den Erlass von EU-Richtlinien mit Mindestvorschriften für Straftaten und Strafen50 auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 2 AEUV ist, dass sich
46 Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl L 105, 54 v. 13. 4. 2006). 47 EuGH, JZ 2009, 466 m. Anm. Ambos, JZ 2009, 468; dazu Braum, ZRP 2009, 174 ff.; Frenz, DVBl 2009, 374 f.; Gundel, EuR 2009, 536 ff.; Klesczewski, HRRS 2009, 250 ff.; Petri, EuZW 2009, 214 f.; Rossi, ZJS 2009, 298 f. vgl. auch Mayer, K&R 2009, 313 ff.; Zerdick, RDV 2009, 56 ff. 48 Vgl. nur Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie: „Mit dieser Richtlinie sollen die Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Pflichten von Anbietern öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder Betreibern eines öffentlichen Kommunikationsnetzes im Zusammenhang mit der Vorratsspeicherung bestimmter Daten, die von ihnen erzeugt oder verarbeitet werden, harmonisiert werden, um sicherzustellen, dass die Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden, zur Verfügung stehen“. 49 Vgl. Art. 6 der Richtlinie. 50 In seiner Entscheidung vom 23. 10. 2007 (JZ 2008, 251) hatte der EuGH vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags die Klarstellung vorgenommen, dass die Entscheidung über Art und Maß der strafrechtlichen Sanktion, also die konkreten Rechtsfolgen von Straftaten den Mit-
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die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als „unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union“ darstellt. Dieses Unerlässlichkeitskriterium ist letztlich nichts anderes als eine besondere Betonung des nach Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV ohnehin geltenden, allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatzes.51 Aus seiner expliziten Verankerung im Kontext strafrechtlicher Harmonisierungsmaßnahmen folgt für entsprechende Gesetzgebungsvorhaben eine detaillierte Überprüfung der Frage, ob gerade die Androhung strafrechtlicher Sanktionen für die Verwirklichung von Politikfeldern der EU zwingend erforderlich ist. Die bloße Geeignetheit, etwa weil die Androhung von Geld- oder Freiheitsstrafen stets die Bereitschaft der EU-Bürger erhöht, die Beachtung rechtlicher Ge- und Verbote abzusichern, genügt somit nicht. Auch formal dürfen sich die Gesetzgebungsorgane der EU nicht auf einen nur formelhaften Verweis auf die Unerlässlichkeit einer Richtlinie ohne nähere Begründung beschränken. Sie werden zukünftig nachvollziehbare und tragfähige Belege, etwa in Gestalt von aussagekräftigen Statistiken oder empirischen Untersuchungen, für die Existenz von Vollzugsdefiziten liefern müssen.52 Der bloße pauschale Hinweis auf das Fehlen von Alternativen zur Schaffung strafrechtlicher Vorschriften ermöglicht dem Unionsgesetzgeber noch nicht den Rückgriff auf die Kompetenznorm des Art. 83 Abs. 2 AEUV.53 Eine deutlich weniger einschränkende Wirkung dürfte demgegenüber von dem weiteren einschränkenden Kriterium dieser Bestimmung ausgehen, dass in dem jeweiligen Politikbereich bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sein müssen. Gemeint sind andere, über die konkrete, auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 2 AEUV zu erlassende Richtlinie hinausgehende und dieser zeitlich vorhergehende Rechtsakte. Schon hinsichtlich des Ausmaßes der bisher schon erfolgten Harmonisierung finden sich im Primärrecht keine Vorgaben.54 Hinzu kommt, dass angesichts der unüberschaubaren Vielzahl an harmonisierenden Rechtsakten aus den vergangenen Jahrzehnten kaum nennenswerte nicht-harmonisierte Politikfelder der Union verblieben sind. b) Kompetenzen im Bereich des formellen Strafrechts Schließlich befugt Art. 82 Abs. 2 AEUV das Europäische Parlament und den Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erstmals zum Erlass von Richtlinien mit gliedstaaten vorbehalten sei. Insofern blieb diese Rechtsprechung inhaltlich hinter dem nun geltenden Art. 83 Abs. 2 AEUV zurück. 51 Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 48; Zimmermann, Jura 2009, 844 (847). 52 s. auch T. Walter, ZStW 117 (2005), 912 (916 ff.): „empirisch untermauerte Prognose, dass ein harmonisiertes Strafrecht conditio sine qua non zur Zielerreichung ist; vgl. auch Heger, ZIS 2009, 406 (409); großzügiger demgegenüber Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 48; Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (17). 53 BVerfGE 123, 267 (412), fordert, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann. 54 Einschränkend daher T. Walter, ZStW 117 (2005), 912 (929), der verlangt, dass auf Unionsebene bereits eine außerstrafrechtliche Verbotsvorschrift erlassen sein müsse.
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Mindestvorschriften auf bestimmten Gebieten des Strafverfahrensrechts, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erforderlich ist. Konkret geht es um die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten, die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren und die Rechte der Opfer von Straftaten.55 Sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens können nur dann im Richtlinienwege harmonisiert werden, wenn diese zuvor vom Rat durch einstimmigen Beschluss zugewiesen worden sind. Sollte die EU diesbezüglich in der Zukunft das allgemeine Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 EUV anwenden wollen, um von der im Rat erforderlichen Einstimmigkeit zu Beschlussfähigkeit mit qualifizierter Mehrheit überzugehen, dürfte der deutsche Regierungsvertreter im Rat nach Ansicht des BVerfG56 nur zustimmen oder sich bei der Beschlussfassung enthalten, nachdem hierzu ein Gesetz gem. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG in Kraft getreten ist. Dass der deutsche Vertreter im Europäischen Rat ohne ein solches Gesetz den Beschlussvorschlag ablehnen muss, regelt nun § 4 Abs. 1 IntVG. Der Vergleich mit Art. 83 AEUV macht deutlich, dass Harmonisierungsmaßnahmen nach Art. 82 Abs. 2 AEUV instrumental auf die Erleichterung der gegenseitigen Zusammenarbeit i.S.v. Art. 82 Abs. 1 AEUV hin ausgerichtet und sich auf den Erlass von Mindestvorschriften beschränkt, die auf die Souveränität der Mitgliedstaaten und die kulturelle Vielfalt der nationalen Strafverfahrensrechtssysteme Bedacht nehmen.57 Dies zeigt sich zum einen an der Formulierung des Art. 82 Abs. 2 UA 1 S. 2 AEUV, wonach bei diesen Mindestvorschriften die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Zum anderen hindert nach Art. 82 Abs. 2 UA 3 AEUV der Erlass solcher Mindestvorschriften die Mitgliedstaaten nicht daran, ein höheres Schutzniveau für den Einzelnen beizubehalten oder einzuführen. Aus Letzterem folgt, dass insbesondere die vergleichsweise beschuldigtenfreundlich ausgestalteten Strafverfahrensordnungen einzelner Mitgliedstaaten nicht per Richtlinienbefehl aus Brüssel zur Absenkung ihrer rechtsstaatlichen Standards gezwungen werden sollen. Im Gegensatz zu den materiellen Harmonisierungskompetenzen nach Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV zeigt sich im Rahmen von Art. 82 Abs. 2 AEUV somit keine strafbarkeitserweiternde, sondern eine individualrechtsschützende Grundtendenz. Infolgedessen ist zu empfehlen, den Rechtsgedanken von Art. 82 Abs. 2 UA 3 AEUVauch beim Erlass von Richtlinien auf der Grundlage von Art. 83 AEUV zu beachten.
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Zur Reichweite dieser Formulierungen in Art. 82 Abs. 2 UA 2 AEUV Kotzur, in: Geiger/ Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 11 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 10 Rn. 53 ff. 56 BVerfGE 123, 279 (414). 57 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 82 AEUV Rn. 10.
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3. Grenzen der Strafrechtsangleichung Die tatbestandliche Weite der europäischen Kompetenznormen zur Angleichung der nationalen Strafrechtssysteme der EU-Mitgliedstaaten findet ihre Grenze in einer Reihe von Kompensationsmechanismen, die bereits auf primärrechtlicher Ebene verankert sind. Neben der speziellen „Notbremsenregelung“ der Art. 82 Abs. 2, 83 Abs. 3 AEUV handelt es sich dabei vor allem um die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. a) Die „Notbremsenregelung“ der Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV Nach der sowohl in Art. 82 Abs. 3 als auch in Art. 83 Abs. 3 AEUV eingeführten verfahrensrechtlichen „Notbremse“ kann sich jeder Mitgliedstaat darauf berufen, dass der Entwurf einer Richtlinie „grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde“. Anders als noch in Art. III-270 und Art. III-271 EVV vorgesehen, hat sich dabei ein „hartes“ suspensives Vetorecht durchgesetzt.58 Macht ein EU-Mitgliedstaat hiervon Gebrauch, so kann er das ordentliche Gesetzgebungsverfahren blockieren und sich im Ergebnis einer Rechtsangleichung entziehen. Den übrigen EUMitgliedstaaten bleibt dann, sofern eine Mindestteilnehmerzahl von neun Staaten erreicht wird, nur noch die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit auf der Grundlage des Richtlinienentwurfs (Art. 82 Abs. 3 UA 2, 83 Abs. 3 UA 2 AEUV). Für die Bundesrepublik Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Lissabon-Entscheidung angemahnt, dass der deutsche Vertreter im Rat die „Notbremse“ nur nach Weisung des Bundestags bzw. Bundesrats ausüben darf. Diese Verpflichtung ist nun auch in § 9 IntVG ausdrücklich niedergelegt. De facto wird das deutsche Vetorecht damit zum Parlamentsvorbehalt.59 Die Notbremsenregelung zwingt die Gesetzgebungsorgane der EU mit Blick auf jeden einzelnen Mitgliedstaat zu einer Prognose darüber, ob nach dem Maßstab seiner Rechtsordnung grundlegende Aspekte einer Harmonisierung des Straf- oder Strafprozessrechts entgegenstehen. Welche grundlegenden Strukturprinzipien hierzu zählen, ist schon für die Bundesrepublik Deutschland bislang vollkommen ungeklärt. Als Vorschläge für unverfügbare Prinzipien des Strafrechts werden hierzulande etwa das Rechtsgutsprinzip, das Schuldprinzip60, der Bestimmtheitsgrundsatz, das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder der Verzicht auf die Strafbarkeit juristischer Personen genannt.61 Aber man muss nur an rechtspolitisch umstrittene Regelungsbereiche wie 58
Heger, ZIS 2009, 406 (413). Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (20). 60 Dies betont auch BVerfGE 123, 279 (413). 61 Dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 57; Heger, ZIS 2009, 406 (414 f.); vgl. auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht mit Hinweis auf die Kriterien des „Manifestes zur europäischen Kriminalpolitik“ der „European Criminal Policy Initiative“; dazu Satzger, ZIS 2009, 699 ff.; ders., ZRP 2010, 137 ff. 59
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Betäubungsmittelkriminalität, Abtreibung, Sterbehilfe oder die Einführung der Verbandsstrafe denken, um zu erkennen, wie schnell auch hier der Bereich einer Grauzone und damit unsicheres Terrain für den Richtliniengesetzgeber erreicht ist. Diese Unsicherheiten werden durch die Vielzahl unterschiedlicher Strafrechtssysteme in Europa noch vervielfacht. In der praktischen Konsequenz bedeutet dies zunächst, dass in Zukunft jeder Richtlinienentwurf potenziell mit 27 nationalen Einspruchsmöglichkeiten behaftet ist. Hinzu kommt, dass der Rückgriff auf die Notbremsenregelung rechtlich, etwa im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens, kaum überprüfbar sein dürfte. Da ein Missbrauch des Vetorechts, also dessen Ausübung zu anderen als den in Art. 82 Abs. 3, 83 Abs. 3 AEUV genannten Zwecken, nur in Ausnahmefällen nachweisbar sein wird, muss man den Mitgliedstaaten wohl oder übel einen erheblichen Beurteilungsspielraum zugestehen. De facto bedeutet dies, dass die Mitgliedstaaten schon dann wirksam von der Notbremsenregelung Gebrauch machen, wenn sie ihr Vetorecht nur formal, d. h. auch ohne nähere Begründung ausüben.62 Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass eine richterliche Klärung der Kriterien für die Annahme „grundlegender Aspekte der Strafrechtsordnung“ durch den EuGH, die ohnehin nur in mühevoller Einzelfallrechtsprechung mit Blick auf einzelne EU-Mitgliedstaaten zu erreichen wäre, jedenfalls in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Hält man sich zudem die prinzipiell europakritische Haltung einiger EU-Mitglieder, beispielsweise des Vereinigten Königreichs, Polens oder Tschechiens vor Augen, so scheint es um das faktische Reformpotenzial der neuen Art. 82 und 83 AEUV schlecht bestellt. Insofern wird man ohne Übertreibung davon ausgehen können, dass der Gebrauch der „Notbremse“ durch die EU-Mitgliedstaaten entscheidenden Einfluss auf Wohl und Wehe des strafrechtlichen Harmonisierungsprozesses in Europa haben wird. b) Subsidiaritätsprinzip Eine Kompetenzausübungsschranke ergibt sich darüber hinaus auch aus dem in Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUVausdrücklich verankerten Subsidiaritätsprinzip. Hierbei geht es für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts um die Beantwortung der Frage, ob die EU von ihrer geteilten Kompetenz zur Gesetzgebung für den Bereich der Art. 67 ff. AEUV im Einzelfall auch tatsächlich Gebrauch machen darf. Das Subsidiaritätsprinzip wird lediglich dann gewahrt, sofern und soweit das Ziel der in Betracht gezogenen Harmonisierungsrichtlinie von den EU-Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden kann, sondern wegen seines Umfangs oder seiner Wirkung auf Unionsebene besser zu verwirklichen ist (Art. 5 Abs. 3 UA 1 EUV). Seine praktische Bedeutung ist vor allem darin zu sehen, dass den EU-Gesetzgebungsorganen besondere Rechtfertigungs- und Begründungslasten auferlegt werden, die vor dem Erlass der jeweiligen Maßnahme zu prüfen sind.63 Konkrete Ausprägungen des allgemeinen Grundsatzes finden sich im Zusammenhang mit den Art. 82, 83 AEUV auch in 62 63
Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 58; Heger, ZIS 2009, 406 (414). Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 50.
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einer Reihe von einschränkenden Formulierungen wie „erforderlich“, „unerlässlich“ oder „grenzüberschreitende Dimension“. Entscheidend für die Wahrung des Subsidiaritätserfordernisses ist auch dabei die Beantwortung der Frage, ob ein Tätigwerden der Union mit einem über den Ist-Zustand der Strafverfolgung nach dem bestehenden Recht der Mitgliedstaaten hinausgehenden Mehrwert im Sinne einer Effektivitätssteigerung verbunden ist. Bei der dazu vorzunehmenden Prognoseentscheidung sind die wirtschaftliche und organisatorische Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten, deren rechtliche Handlungsmöglichkeiten, aber auch die tatsächliche Strafverfolgungspraxis in einer Gesamtschau zu berücksichtigen.64 Je deutlicher der Bezug zu grenzüberschreitenden Erscheinungsformen der Kriminalität ist, desto stärker ist das Indiz für die Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes. Art. 69 AEUV betont ausdrücklich, dass für die Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und die Polizeiliche Zusammenarbeit die nationalen Parlamente bei Gesetzgebungsvorschlägen und -initiativen Sorge für die Achtung des Subsidiaritätsprinzips nach Maßgabe des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit65 tragen.66 Auf diese Weise werden die nationalen Parlamente erstmals mit eigenen Rechten gegenüber den Organen der EU ausgestattet. Sie können nach Art. 6 Abs. 1 des Subsidiaritätsprotokolls67 binnen acht Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsakts in den Amtssprachen der Union in einer begründeten Stellungnahme an die Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission darlegen, weshalb der Entwurf ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist (sog. Subsidiaritätsrüge). Allerdings gewährt diese Subsidiaritätsrüge kein Vetorecht. Die nationalen Parlamente können lediglich eine Überprüfung des Gesetzentwurfs initiieren und möglicherweise auch darauf hoffen, dass jedenfalls eine Mehrzahl von nationalen Parlamenten erhobener Rügen einen solchen politischen Druck entfaltet, dass sich der Urheber des Entwurfs zu dessen Aufgabe oder Abänderung veranlasst sieht.68 Darüber hinaus können sie aber nach Art. 263 AEUV i.V.m. Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls bei bereits in Kraft getretenen EU-Rechtsakten die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Wege einer Klage durch den EuGH gerichtlich überprüfen lassen (sog. Subsidiaritätsklage).69 Für die Bundesre64
Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 50. ABl. C 306, 150 v. 17. 12. 2007. 66 Angesichts des ohnehin geltenden Art. 5 EUV ist Art. 69 AEUV als „symbolmächtige Bekräftigung“ zu verstehen; vgl. Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art. 69 AEUV Rn. 2. 67 Vgl. dazu auch § 11 IntVG. 68 Calliess, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 56 (2009), 9; Semmler, ZEuS 2010, 529 (532); zu Einzelheiten des Verfahrens s. Art. 7 des Subsidiaritätsprotokolls. 69 Dazu Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Stand: 7/2010, Art. 12 EUV Rn. 18 ff.; Uerpmann-Wittzack, EuGRZ 2009, 461 ff.; Frenz, Jura 2010, 641 ff.; Shirvani, JZ 2010, 752 ff.; Calliess, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 56 (2009), 7 ff. 65
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publik Deutschland ist nach § 12 Abs. 1 S. 1 IntVG der Deutsche Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet, eine solche Subsidiaritätsklage zu erheben. Um zu garantieren, dass der Bundestag auch den erforderlichen Kenntnisstand für diese Formen der Wahrnehmung seiner Integrationsverantwortung70 erhält, umfasst die allgemeine Unterrichtungspflicht der Bundesregierung nach § 13 Abs. 7 IntVG auch eine Bewertung hinsichtlich der Vereinbarkeit eines Gesetzgebungsverfahrens der EU mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Dass die nationalen Parlamente durchaus gewillt sind, ihrer Wächterfunktion nachzukommen, zeigt die Tatsache, dass der Deutsche Bundestag am 7. 10. 2010 erstmalig von seinem neuen Recht Gebrauch gemacht und die Unvereinbarkeit des EU-Richtlinienvorschlags über Einlagensicherungssysteme mit dem Subsidiaritätsprinzip gerügt hat.71 c) Verhältnismäßigkeitsprinzip Über Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV und Art. 69 AEUV werden die Gesetzgebungsorgane der EU zudem an das Verhältnismäßigkeitsprinzip, ebenfalls nach Maßgabe des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gebunden. Dies bedeutet, dass eine EU-Richtlinie zur Harmonisierung des formellen oder materiellen Strafrechts in den Mitgliedstaaten eine diese belastende Eingriffsmaßnahme darstellt, die zur Erreichung des angestrebten Unionsziels geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Im Gegensatz zum Subsidiaritätsprinzip betrifft die Verhältnismäßigkeitsprüfung mithin nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Kompetenzausübung durch die Union. Sie stellt sicher, dass strafrechtliche Gesetzgebungsakte nicht über das zur Zielerreichung erforderliche Interventionsminimum hinausgehen.72 d) Strafrechtsspezifisches Schonungsgebot? In der Zusammenschau mit der nach Art. 4 Abs. 2 EUV zu achtenden nationalen Identität der Mitgliedstaaten wird aus den in Art. 5 EUV verankerten Kompetenzausübungsschranken auch verbreitet ein allgemeines strafrechtsspezifisches Schonungsgebot abgeleitet.73 Infolgedessen müssten Harmonisierungsrichtlinien den Mitgliedstaaten einen ausreichenden Umsetzungsspielraum belassen. Insbesondere dürfe die EU den Mitgliedstaaten im Richtlinienwege keine detailliert ausformulierten Straftatbestände vorgeben, die auf Tatbestandsebene und/oder Rechtsfolgenseite bereits alle wesentlichen Aspekte determinieren. Die Annahme eines solchen Schonungsgebotes mag zur Erinnerung des EU-Gesetzgebers an seine sachliche Verpflichtung zur 70
BVerfGE 123, 267 – LS 2. Vgl. BT-Drs. 17/3239. 72 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 54. 73 Hecker, Europäisches Strafrecht, § 8 Rn. 55; ders., Iurratio 2009, 81 (84); Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, § 9 Rn. 9, 27; Eisele, JZ 2001, 1157 (1163); Böse, ZIS 2010, 76 (85); vgl. auch BVerfGE 123, 267 (412). 71
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Zurückhaltung eine gewisse Klarstellungsfunktion erfüllen. Rechtlich erscheint seine Anerkennung als kompetenzrechtssteuerndes Leitprinzip jedoch nicht zwingend, da sich sein Inhalt ohnehin aus dem allgemein geltenden und mit den beschriebenen Schutzvorkehrungen versehenen Subsidiaritätsprinzip ergibt. IV. Fazit Zwar lässt sich dem geltenden Primärrecht auch nach dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages keine supranationale Strafrechtssetzungskompetenz entnehmen. Die Art. 82, 83 AEUVenthalten jedoch umfangreiche Kompetenzen zur Harmonisierung des formellen und materiellen Strafrechts in den Mitgliedstaaten, deren Gebrauch sich in Anbetracht der Tatsache, dass nicht alle EU-Mitglieder nach dem deutschen Modell trennscharf zwischen Repression und Prävention unterscheiden, faktisch auch auf das nationale Polizei- und Ordnungsrecht auswirken wird. Die Erfahrung der Vergangenheit hat gezeigt, dass auch vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung weder die Gesetzgebungsorgane noch der EuGH auf der Ebene des Unionsrechts die Einhaltung der Kompetenzen für den Erlass von Strafgesetzgebungsakten stets mit der angemessenen Präzision überwacht haben. Demgegenüber hat der verehrte Jubilar in seinem wissenschaftlichen Werk auf der Ebene des deutschen Rechts in höchst verdienstvoller Weise zur Klärung der Reichweite bestehender Gesetzgebungskompetenzen im sog. Recht der Inneren Sicherheit beigetragen.74 Schließlich ist kompetenzloses Handeln eines Hoheitsträgers Willkür oder Gewalt, nicht aber Ausübung legitimer Hoheitsmacht.75 Es ist daher zu hoffen, dass jedenfalls der Deutsche Bundestag diesem Vorbild auch für die europarechtliche Ebene folgen und seiner Integrationsverantwortung durch einen wachsamen Gebrauch der ihm zur Verfügung stehenden Kompensationsmechanismen gerecht werden wird.
74 Vgl. bereits Schenke, JR 1979, 48 ff. sowie nunmehr Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 23 ff. 75 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 12 Rn. 2.
III. Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht
Rücknahmeermessen bei einem anfechtbaren rechtswidrigen Verwaltungsakt? Von Peter Baumeister I. Einleitung Ausgangspunkt zahlreicher Erörterungen des Jubilars Wolf-Rüdiger Schenke ist die nur auf den ersten Blick schlichte Erkenntnis, dass das Prozessrecht allein der Durchsetzung des materiellen Rechts dient. Wer diesem Ausgangspunkt strikt nachgeht, stößt im öffentlichen Recht und hier speziell im Verwaltungsrecht schnell auf eine Vielzahl von Ungereimtheiten bei nicht wenigen Themen. Nicht selten werden entweder materiellrechtliche Fragen mit prozessualen vermengt oder es wird nicht die Bedeutung des materiellen Rechts für das Prozessrecht erkannt. Nur beispielhaft sei dafür verwiesen auf die Diskussionen zum „Maßgeblichen Zeitpunkt“ oder zum „Nachschieben von Gründen“, zur „Umdeutung von Verwaltungsakten“ oder zur „Heilung von Verwaltungsakten“. Sämtliche dieser Fragestellungen hat Schenke wiederholt zum Anlass für eingehende Erörterungen genommen1. Auch die hier gewählte Thematik des Entscheidungsspielraums der Verwaltung bei einem anfechtbaren rechtswidrigen Verwaltungsakt wirft entsprechende Fragen auf: Ist die Funktion des Prozesses in der Durchsetzung des materiellen Rechts zu sehen, so bleibt unverständlich, dass eine Anfechtungsklage nach verbreiteter Ansicht selbst dann zum Erfolg führen können soll, wenn die Verwaltung nicht zur Aufhebung des Verwaltungsakts verpflichtet ist. Bis heute verneint nämlich die überwiegende Meinung in der Literatur angesichts des Wortlauts des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG eine Pflicht der Verwaltung zur Aufhebung eines belastenden rechtswidrigen Verwaltungsakts selbst dann, wenn der Verwaltungsakt noch anfechtbar ist2. Zusätzlich äu1 Neben seinen Stellungnahmen im „Verwaltungsprozessrecht“ (12. Aufl., 2009) und in „Kopp/Schenke, VwGO“ (17. Aufl., 2011 – im Erscheinen) sei stellv. verwiesen auf: Schenke, NVwZ 1986, 522 und JA 1999, 580 – jew. zum maßgeblichen Zeitpunkt; Schenke, NVwZ 1988, 1 und NJW 1997, 88 – Nachschieben von Gründen; Schenke, DVBl. 1987, 641 und JZ 1996, 1070 – Umdeutung von Verwaltungsakten; Schenke, VerwArch. Bd. 97 (2006), 592 (597 ff.) – Heilung von Verwaltungsakten. 2 So etwa Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., 2010, § 48 Rn. 74, 77, 80; Ludwigs, DVBl. 2008, 1164 (1168 f.); Hans Meyer, in: Meyer/Borgs, VwVfG, § 48 Rn. 2, 41, 48; Hub. Meyer, in: Knack/Henneke, VwVfG, 9. Aufl., 2010, § 48 Rn. 62; J. Müller, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, 2010, § 48 Rn. 42 = BeckOK VwVfG; Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl., 2006, Rn. 927; Remmert, VerwArch. 91 (2000), 209 (218); Sachs, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 48 Rn. 48, 61, 89 f.; § 50 Rn. 76 ff.; Schmieszeck, in: Brandt/Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeß, 2009, I Rn. 30.
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ßern sich weite Teile des Schrifttums zu dieser Frage nicht explizit. Bei diesen findet sich lediglich die allgemeine Aussage, dass der Verwaltung nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ein Ermessensspielraum zukomme3; ob dies auch in den Fällen des noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakts gelten soll, bleibt in diesen Stellungnahmen offen. Sind diese Stimmen damit ebenfalls zu den Befürwortern eines Ermessensspielraums zu rechnen, so kann diese Ansicht als eindeutig h. M. angesehen werden. Der Jubilar vertritt demgegenüber die dezidiert entgegengesetzte These, nach der der durch einen Verwaltungsakt in seinen Rechten Verletzte bis zum Eintritt der formellen Bestandskraft stets einen Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts habe4. Einem solchen Anspruch korrespondiere notwendigerweise auch eine Pflicht der Behörde zur Aufhebung des Verwaltungsakts. Seine Thesen in dieser Frage haben in der Literatur bislang nur wenig Gefolgschaft gefunden5. Der vorliegende Beitrag will gerade auch den Gründen dafür nachgehen, da sich doch bis heute einige Fragen aufdrängen: Was führt versierte Verwaltungsrechtler dazu, den – aus hier eingenommener Perspektive – doch so überaus plausiblen Argumenten für die notwendige Existenz eines materiellrechtlichen Aufhebungsanspruchs nicht zu folgen? Interessant ist die Beschäftigung mit dieser Fragestellung auch deshalb, weil überwiegend erst in neuerer Zeit Versuche zu verzeichnen sind, die Annahme eines Ermessensspielraums der Verwaltung hinsichtlich der Rücknahme anfechtbarer rechtswidriger belastender Verwaltungsakte näher zu begründen. Hinzu kommt, dass es sich bei diesem Thema um ein Lehrstück zum Verhältnis von materiellem Recht und Prozessrecht handelt, das allein schon eine intensive Beschäftigung rechtfertigen kann.
3 Stellv. Bull/Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, 8. Aufl., 2009, Rn. 801 ff.; Decker, in: Decker/Wolff, VwGO/VwVfG, 2005, § 48 VwVfG Rn. 21 f.; Ehlers/ Kallerhoff, Jura 2009, 823 (826); Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 2009, § 16 Rn. 10; Erichsen, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 17 Rn. 4; J. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 723; Kastner, in Fehling/Kastner, VwVfG/VwGO, 2. Aufl., 2010, § 48 VwVfG Rn. 29 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 11 Rn. 28, 48; ders., JuS 1976, 485 (493); ders., FS Boorberg-Verlag, S. 223 (236); M. Müller, in: Huck/Müller, VwVfG, 2011, § 48 Rn. 8 ff.; Ruffert, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.) Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 24 Rn. 14 ff.; Schäfer, in Obermayer, 3. Aufl., § 48 Rn. 27; zu § 130 AO auch Rüsken, in: Klein, AO, § 130 Rn. 27. 4 Schenke, DÖV 1986, 305 (315); NVwZ 1993, 718 (721 ff.); FS Maurer, 2001, S. 723 (728 ff.). 5 s. aber Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsakts, 2006, S. 225; Th. Horn, DÖV 1990, 864 (866 ff.); Hößlein, Die Verwaltung 2007, 281 (289); Schwabe, JZ 1985, 545 (549 f.); Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl., 1995, § 62 Rn. 2, § 51 Rn. 88; ebenso, aber mit der Konsequenz der Annahme der Verfassungswidrigkeit des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG, Knoke, Rechtsfragen der Rücknahme von Verwaltungsakten, 1988, S. 130.
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II. Die Auffassung der herrschenden Lehre Mit der Annahme eines Ermessensspielraums der Verwaltung hinsichtlich der Aufhebung eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG auch in den Fällen, in denen der Verwaltungsakt noch anfechtbar ist, wird – so wie dies § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG auch vorzugeben scheint – grundsätzlich gerade nicht danach differenziert, ob es sich um einen „unanfechtbaren“6 Verwaltungsakt handelt oder nicht. Teilweise wird allerdings sogar die These vertreten, die für den Betroffenen noch bestehende Möglichkeit der Anfechtung könne bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden7, was wohl bedeuten dürfte, dass die Anfechtbarkeit zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt werden kann. Im Fall eines formell bestandskräftigen Verwaltungsakts steht die Aufhebung des Verwaltungsakts in Fällen der Anwendbarkeit des VwVfG grundsätzlich unbestrittenermaßen im Ermessen der Behörde. Eine regelmäßig andere Rechtslage existiert demgegenüber im Anwendungsbereich des SGB X. Hier stellt die rückwirkende Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte in den Fällen des § 44 Abs. 1 SGB X auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit eine gebundene Entscheidung dar, die zugunsten des Belasteten erfolgen muss8. Nähere Begründungen finden sich für die h. L. zum VwVfG kaum. Ein schon länger bekanntes Argument verweist auf den Wortlaut des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Schließlich bezieht die Regelung ausdrücklich die unanfechtbaren Verwaltungsakte in den Anwendungsbereich ein, so dass offenbar gerade die Fälle der (noch) anfechtbaren Verwaltungsakte den Hauptanwendungsfall darstellen, für den das Gesetz ein Ermessen der Verwaltung vorgesehen hat. Zumindest wird durch den Text der Regelung nicht zwischen anfechtbaren und unanfechtbaren Verwaltungsakten differenziert. Erst seit wenigen Jahren finden sich in den Stellungnahmen der h. L. im Hinblick auf die Gegenmeinung weitere Argumente. Im Zentrum steht die Annahme eines fehlenden Bedürfnisses für einen Aufhebungsanspruch: „Gegen die Anerkennung eines 6
Unter einem „unanfechtbaren“ Verwaltungsakt ist im Grundsatz ein Verwaltungsakt zu verstehen, bei dem die Anfechtungsfristen (Fristen zur Erhebung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach der VwGO) bereits verstrichen sind und der deshalb nicht mehr mit Rechtsbehelfen angegriffen werden kann. Zu den entsprechenden Rechtsbehelfen können auch außerordentliche wie die Verfassungsbeschwerde gerechnet werden. 7 So Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 61. 8 Hieran zeigt sich im übrigen, dass es sich bei den prozessrechtlichen Normen zu den Anfechtungsfristen tatsächlich auch nur um prozessuale Vorschriften und nicht um solche des materiellen Rechts handelt, die über das Bestehen oder Nichtbestehen von Rechten und Pflichten in Zusammenhang mit der Aufhebung von Verwaltungsakten entscheiden; dazu bereits Baumeister (Fn. 5), S. 222 f. Auf den – mit der These der notwendigen Differenzierung zwischen anfechtbaren und unanfechtbaren Verwaltungsakten verbundenen – möglichen Einwand fehlender Gesetzgebungskompetenz gegen die hier vertretene Ansicht eines Anspruchs auf Aufhebung des Verwaltungsakts ist die h. L. – soweit ersichtlich – aber bisher nicht eingegangen.
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strikten Aufhebungsanspruchs kann freilich eingewandt werden, dass der Individualrechtsschutz in dieser Konstellation bereits lückenlos und systemgerecht – durch die Möglichkeit der Erhebung von Widerspruch und Anfechtungsklage – gewährleistet wird. Welcher ,MehrwertÐ mit einer Reduzierung des behördlichen Rücknahmeermessens i. R. eines Aufhebungsantrags nach § 48 I 1 VwVfG verbunden wäre, ist nicht ersichtlich.“9 Diese These des fehlenden Mehrwerts findet sich auch in Stellungnahmen, die zwar einerseits in manchen Fällen bestandskräftiger rechtswidriger belastender Verwaltungsakte eine Ermessensreduzierung auf Null befürworten, im Fall der noch möglichen Anfechtung dies aber nicht für notwendig erachten10. Falls diese Einschätzung stellvertretend für die h. L. sein sollte11, könnte sie zumindest einen Grund für die scheinbar fehlende Motivation zur Auseinandersetzung mit der Gegenauffassung liefern. In direktem Zusammenhang mit der Annahme eines fehlenden „Mehrwerts“ der Gegenmeinung steht die These, dass der Gesetzgeber dem Rechtssicherheitsinteresse schon ab Erlass des Verwaltungsakts durch die Notwendigkeit einer Erhebung eines Widerspruchs oder einer Anfechtungsklage Rechnung tragen könne12. Notwendig sei lediglich, dass den Bürgern effektiver Rechtsschutz zur Verfügung stehe, um die Verletzung ihrer Rechte abzuwehren. Schließlich wird die von der Gegenmeinung befürwortete Möglichkeit einer verfassungskonformen Reduktion des Ermessensspielraums in Frage gestellt13. Die verfassungskonforme Auslegung von § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG wird angesichts des klaren Wortlauts für „kaum möglich“ gehalten. Zum Beleg dafür wird verwiesen auf das Wort „auch“ im Text des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG. Eine Sonderstellung im Kontext der Auffassungen, die ein Ermessen der Verwaltung bei der Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG auch dann befürworten, wenn der Verwaltungsakt noch anfechtbar ist, nimmt schließlich die Ansicht ein, die jenseits der Rücknahmeregelung in § 48 VwVfG eine sog. „unbenannte Aufhebungspflicht“ befürwortet, die zugleich dem Widerspruch und der Anfechtungsklage als materiellrechtliche Grundlage dient14. Diese zuletzt 2006 näher ausgeführte Idee, die zuvor allenfalls einmal am Rande Erwähnung gefunden hatte, scheint zusätzlich durch Schenke inspiriert worden zu sein. Dieser hatte sich – seiner typischen Argumentationsweise entsprechend – mit Auffassungen beschäftigt, die bisher nicht (oder zumindest ohne Begründung) vertreten
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Ludwigs, DVBl. 2008, 1164 (1169) m. Verweis auf Hub. Meyer (Fn. 2), § 48 Rn. 62. J. Müller (Fn. 2), § 48 Rn. 42. 11 Ähnlich auch Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 48, 61. 12 s. Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 48 mit (nicht überzeugendem) Verweis auf Steinweg, Zeitlicher Regelungsgehalt des Verwaltungsakts, 2006, S. 310 ff. 13 s. Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 48. 14 s. Steinweg (Fn. 12), S. 310 ff. 10
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wurden15. Nach der mittlerweile durch Steinweg näher dargelegten Meinung existiert neben der Regelung des § 48 VwVfG eine unbenannte Aufhebungspflicht, die allen Überlegungen zur Begründung einer Aufhebungspflicht aus § 48 VwVfG die Grundlage entziehen könnte. Sofern diese Ansicht deshalb der h. L. vom uneingeschränkten Ermessen nach § 48 VwVfG zugerechnet wird16, so stellt dies eine sinnentstellende Verkürzung der Ansicht dar. Wenngleich eine allgemeine Pflicht zur Rücknahme anfechtbarer rechtswidriger belastender Verwaltungsakte nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG abgelehnt wird, wird von dieser Ansicht doch zugleich nicht bezweifelt, dass eine behördliche Aufhebungspflicht bei den betreffenden Verwaltungsakten existieren muss und auch existiert. Rechtsgrundlage dieser Pflicht ist danach nur nicht § 48 VwVfG, sondern eine sog. unbenannte Pflicht. Diese Pflicht sei auch etwa in § 46 VwVfG vorausgesetzt17. Diese Auffassung setzt sich erkennbar nicht denselben Einwänden aus, wie sie der h. L. entgegengebracht werden können. Entsprechend bedarf es auch einer eigenen Würdigung und Kritik dieses Ansatzes18. III. Kritische Analyse der Argumente der h. L. Der vorliegende Beitrag verfolgt nicht das Ziel, die umfassende Kritik an der h. L., wie sie durch Schenke in geradezu exemplarischer Form bereits im Jahre 2001 geübt wurde19, erneut mit anderen Worten zu wiederholen. Ungeachtet der Unvermeidbarkeit zahlreicher Überschneidungen soll die bisherige Diskussion unter dem Blickwinkel der in den letzten Jahren verstärkt hervorgetretenen Argumente ergänzt werden. 1. Die Vereinbarkeit mit dem Wortlaut Als ein zentrales Argument der h. L. wird der Wortlaut des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG angesehen. Bei näherer Hinsicht vermag er nur ein Indiz für die Annahme eines Ermessensspielraums zu liefern. So ist nicht jede Kann-Regelung als Einräumung eines Ermessensspielraums, sondern mitunter auch als Befugnisnorm zu begreifen20. Mit Blick auf § 46 VwVfG verliert das Wortlautargument aus § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zudem weiter an Überzeugungskraft. § 46 VwVfG schränkt den Anspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsakts ein21. Damit setzt § 46 VwVfG notwendiger15 s. Schenke, FS Maurer, S. 723 (733: „Nicht überzeugend wäre es schließlich, diesen Anspruch aus einer neben § 48 VwVfG tretenden ungeschriebenen Norm abzuleiten.“). 16 So angedeutet bei Sachs (Fn. 2), § 48 Rn 48 Fn. 110, der Steinweg für seine These reklamiert. 17 s. Steinweg (Fn. 12), S. 310. 18 s. dazu unten IV. 19 FS Maurer, S. 723 (728 ff.). 20 s. Schenke, FS Maurer, S. 729; Baumeister (Fn. 5), S. 227. 21 s. auch Sachs (Fn. 2), § 46 Rn. 10.
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weise die Existenz eines Aufhebungsanspruchs voraus. Wenn demgegenüber jedoch die Auslegung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zu dem Ergebnis käme, dass die Aufhebung des rechtswidrig belastenden Verwaltungsakts (einschließlich des noch anfechtbaren Verwaltungsakts) im Ermessen der Behörde stünde, könnte die Regelung des § 46 VwVfG von vornherein nur in solchen Fällen zur Anwendung kommen, in denen es ausnahmsweise zu einer Ermessensreduzierung auf Null gekommen ist. Nach verbreiteter Auffassung kommt es (in Fortschreibung der Rechtsprechung des BVerwG zu den Fällen unanfechtbarer Verwaltungsakte aus der Zeit vor Erlass des VwVfG) zu einer solchen Ermessensreduktion nur dann, wenn die Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts „schlechthin unerträglich“ wäre22. In konsequenter Fortsetzung dieser Überlegung bedeutete dies für die Anwendbarkeit des § 46 VwVfG, dass für diesen im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung im Ergebnis eigentlich kein Anwendungsfall benannt werden könnte23. Schließlich wird die Aufhebungspflicht bei einem Verwaltungsakt, dessen Aufrechterhaltung als schlechthin unerträglich angesehen wird, kaum über § 46 VwVfG wieder verneint werden können. Diese Überlegungen zeigen, dass § 46 VwVfG demgegenüber von der Existenz eines Aufhebungsanspruchs ausgeht, der gerade im Regelfall des rechtswidrig belastenden Verwaltungsakts anzunehmen ist. Genau so wird § 46 VwVfG auch verstanden: „§ 46 versagt einen Anspruch auf Aufhebung“24. Folglich setzt § 46 VwVfG das Bestehen eines Aufhebungsanspruchs voraus, der aber im Kontext des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG von denselben Autoren verneint wird. 2. Das Bedürfnis für eine Ermessensreduktion Auch gegen die von der h. L. zuletzt vorgebrachte Annahme eines fehlenden Bedürfnisses lassen sich zahlreiche Einwände erheben. Andererseits verdeutlicht die Ansicht eines fehlenden praktischen Nutzens der Gegenmeinung den möglicherweise entscheidenden Grund für die eher geringe Resonanz der schon seit vielen Jahren erhobenen Einwände gegen die h. L. Warum sollte auch der Auffassung einer Reduktion des durch den Gesetzeswortlaut naheliegenden Ermessensspielraums gefolgt werden, wenn diese Auffassung mehrere Argumentationsschritte erfordert und gleichzeitig im praktischen Ergebnis (scheinbar) keine Bedeutung aufweist, weil der Betroffene den Verwaltungsakt anfechten und so für dessen Aufhebung sorgen kann? Ob die 22
s. stellv. Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 85 m. Nachw. aus der Rechtsprechung. Wenn demgegenüber Sachs annimmt, „dass § 46 nur von Bedeutung ist, wenn der Betroffene einen Anspruch auf Rücknahme geltend macht oder einen belastenden VA mit dem Ziel seiner Aufhebung im Widerspruchs- oder Gerichtsverfahren anficht.“ (Fn. 2, § 46 Rn. 10), so wird damit die oben dargelegte Folgerung der fehlenden Anwendbarkeit zum einen dadurch verschleiert, dass die Regelung bereits im Fall der Geltendmachung eines Anspruchs oder im Fall der Anfechtung für anwendbar gehalten wird. Zum anderen wird neben dem Rücknahmeanspruch noch die Aufhebung im Rechtsschutzverfahren angeführt. Die materiellrechtliche Grundlage der Aufhebung im Rechtsschutzverfahren wird insoweit ausgeblendet. 24 Sachs (Fn. 2), § 46 Rn. 10. 23
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Behörde hier von Anfang an zur Aufhebung verpflichtet war oder diese Verpflichtung erst durch die Anfechtung entstand oder gar eine behördliche Aufhebungspflicht nicht existiert, scheint aus dieser Perspektive ohne Relevanz. Allein das Argument widerspruchsfreier Rechtsdogmatik wird die h. L. nur schwer zu einem Wechsel der Auffassung veranlassen. Bevor aber der Frage der praktischen Relevanz nachgegangen wird, soll zunächst dennoch erst einmal auf die rechtsdogmatische Begründung des Anspruchs auf Aufhebung eingegangen werden. Die Überzeugungskraft widerspruchsfreier Rechtsdogmatik soll nicht von vornherein gering geschätzt werden. Der aus den Grundrechten abzuleitende und – interessanterweise im Gegensatz zum Verwaltungsrecht – in der Grundrechtsdogmatik unbestrittene Beseitigungsanspruch ist gerichtet auf die Beseitigung eines rechtswidrigen Eingriffs in ein Grundrecht. Anspruchsinhaber ist derjenige, dessen Grundrecht verletzt wird. Rechtswidrige Verwaltungsakte, die in Grundrechte eingreifen, verletzen den Grundrechtsberechtigten in seinem Recht. Diese Rechtsverletzung löst als Reaktion einen Anspruch auf Beseitigung aus. Alle Regelungen des einfachen Rechts, die diesen materiellen Anspruch in irgendeiner Weise begrenzen, bedürfen als eigene Grundrechtseingriffe einer Rechtfertigung25. Im Fall der Annahme eines Ermessensspielraums der Behörde bei der Entscheidung über die Aufhebung eines rechtsverletzenden Verwaltungsakts läge ein solcher Eingriff vor, der eine Rechtfertigung erforderlich machte. Ist der Verwaltungsakt bereits bestandskräftig (unanfechtbar) geworden, sind als Rechtfertigungsgründe die öffentlichen und privaten Interessen am Fortbestand des rechtswidrigen und rechtsverletzenden Verwaltungsakts anzusehen. Diese schätzt der Gesetzgeber grundsätzlich als höherwertig ein als die Interessen des Betroffenen an der Aufhebung des Verwaltungsakts. Das Recht bürdet ihm aus Gründen der Rechtssicherheit und der Verwaltungseffizienz damit die Obliegenheit der Anfechtung, eine Anfechtungslast auf26. Der Grundsatz der Rechtssicherheit liefert damit nach Ablauf angemessener Fristen grundsätzlich eine hinreichende Legitimation für den Ausschluss des Aufhebungsanspruchs. Dass es sich dabei um eine Abwägungsentscheidung handelt und der Gesetzgeber deshalb aus Gründen materieller Gerechtigkeit vom Ausschluss des Anspruchs auch absehen kann, zeigt für die unanfechtbaren Verwaltungsakte die Regelung des § 44 Abs. 1 SGB X. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Rechtfertigung des Ausschlusses. Zudem eröffnet die Gewährung eines Ermessensspielraums der Behörde grundsätzlich die Möglichkeit, den Besonderheiten des Einzelfalls angemessen Rechnung zu tragen. Kein entsprechender Rechtfertigungsgrund für einen Ausschluss des Aufhebungsanspruchs ist allerdings erkennbar, solange die Anfechtungsfristen noch laufen. Der Verwaltungsakt ist noch nicht bestandskräftig; ein Vertrauen auf den Fortbestand des Verwaltungsakts kann noch nicht schutzwürdig begründet worden sein, solange das 25
s. Baumeister (Fn. 5), S. 21 ff. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 19 IV Rn. 237; Baumeister (Fn. 5), S. 223 f. 26
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Recht nicht selbst durch Regelungen Vertrauenstatbestände schafft. Zu prüfen wäre in diesem Zusammenhang nur, ob nicht durch die Auferlegung der Obliegenheit der Anfechtung innerhalb einer bestimmten Frist die Entstehung des Aufhebungsanspruchs davon abhängig gemacht worden sein könnte, dass der Betroffene den Verwaltungsakt auch tatsächlich anficht. So kennt das Recht (etwa in wesentlichen Teilen des Wirtschaftsverwaltungsrechts, des Baurechts wie auch überwiegend im Sozialversicherungsrecht) sog. Antragsverfahren27, in denen das Vorliegen eines Anspruchs von einer Antragstellung abhängig gemacht wird. Übertragen auf den vorliegenden Fall des rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts entstünde der Anspruch auf Aufhebung erst mit der Einlegung des Widerspruchs und/oder der Erhebung der Anfechtungsklage. Auch eine solche dogmatische Konstruktion vermag nicht zu überzeugen; die mit ihr verbundenen Folgen können nicht hingenommen werden. Dies zeigt schon eine Betrachtung der Pflichten und Pflichtverletzungen der Verwaltung: Im Fall des rechtswidrig erlassenen Verwaltungsakts verstößt die Behörde im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts gegen Recht. Dieser Rechtsverstoß löste – bei einer Annahme der Entstehung des Aufhebungsanspruchs erst durch die Erhebung von Widerspruch und Klage – zunächst noch keine Rechtspflichten der Verwaltung zur Aufhebung des Verwaltungsakts aus. Eine solche Pflicht wäre danach etwa erst im Augenblick der Erhebung eines Widerspruchs begründet worden. In Konsequenz dieser Ansicht wäre außerdem davon auszugehen, dass der Anspruch mit dem Ende des Widerspruchsverfahrens durch den Erlass des Widerspruchsbescheids zunächst wieder entfiele und im Fall der Klageerhebung wieder neu auflebte. Diese Konstruktion führt zu der verblüffenden Situation, dass der Anspruch, der mit der Klage durchgesetzt werden soll, erst mit Klageerhebung entstünde. Dies müsste natürlich stets gelten, wenn ein Widerspruchsverfahren gar nicht vorgesehen ist. Allein diese Merkwürdigkeiten dürften die h. L. bislang davon abgehalten haben, ihre eigene Ansicht ausführlicher zu begründen. In diesem Fall wäre sie gezwungen, die eigene dogmatische Konstruktion näher zu konkretisieren, wodurch die Schwächen der Auffassung deutlich zu Tage getreten wären. Die Annahme, es bestehe kein Bedürfnis für die Begründung einer Aufhebungspflicht (durch die Annahme einer Ermessensreduktion im Fall des § 48 Abs. 1 VwVfG), kann unter rechtsdogmatischem Blickwinkel in keiner Weise bestätigt werden. Es fehlt auch nicht an der Notwendigkeit der Annahme einer Aufhebungspflicht, weil der Betroffene eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit besitzt. Richtigerweise verhält es sich genau umgekehrt: Er besitzt die Rechtsschutzmöglichkeit, weil er – unabhängig von der Erhebung von Widerspruch und Klage – einen materiellen Aufhebungsanspruch hat. Die gegenteilige Ansicht ist auf der Grundlage der Prämisse, dass Individualrechtsschutz der Durchsetzung subjektiver Rechte dient, sogar zirkulär. Die entsprechenden Meinungsäußerungen gehen sämtlich davon aus, dass ein betroffener Bürger, der durch einen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt wird, die Möglichkeit 27
Vgl. auch § 22 S. 2 VwVfG.
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besitzen muss, diese Rechtsverletzung abzuwehren. Diese Möglichkeit der Abwehr der Rechtsverletzung wird in unserer Rechtsordnung dadurch eingeräumt, dass dem Betroffenen ein materielles Recht zuerkannt wird, das er – notfalls gerichtlich – durchsetzen kann. Wenn dem betroffenen Bürger subjektiver Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss, so setzt dies die Existenz eines subjektiven Rechts notwendig voraus. Der Aufhebungsanspruch besteht vor dem Prozess und unabhängig von diesem. Die Klageerhebung ist die prozessuale Geltendmachung des materiellen Anspruchs. Eine gegenteilige Auffassung wäre auch nicht mit der dogmatischen Konstruktion des Rechtsschutzsystems gegenüber der öffentlichen Gewalt vereinbar, wie sie in Art. 19 Abs. 4 GG ihren Ausgangspunkt gefunden hat. Danach dient das Rechtsschutzverfahren der Durchsetzung des materiellen Rechts. Es begründet keine materiellen Rechte, sondern verhilft den außerhalb der Rechtsschutzbestimmungen bestehenden Rechte zu ihrer Verwirklichung28. Es gehört zu den Errungenschaften der Prozessrechtslehre wie auch der Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG, dass die Existenz eines Rechts von seiner gerichtlichen Durchsetzung zu unterscheiden ist. Das Recht ist der Durchsetzung im Prozess vorgelagert29. Bei diesem materiellen Recht handelt es sich um den Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts. Hat der Bürger einen solchen Anspruch, wovon wenigstens die ausgehen müssen, die Rechtsschutz für notwendig erachten, da Rechtsschutz ohne zu Grunde liegendes subjektives Recht grundsätzlich nicht vorgesehen ist, so existiert zumindest ein Verpflichteter, der diesen Anspruch erfüllen muss. Ein subjektives Recht ohne eine korrespondierende Pflicht ist nicht denkbar. Ein Verweis auf den ohnehin bestehenden Individualrechtsschutz übersieht damit den notwendigen Zusammenhang zwischen subjektivem Recht und Rechtsschutz. Die Ablehnung eines subjektiven Rechts unter gleichzeitiger Anerkennung eines subjektiven Rechtsschutzverfahrens kann nur als in sich widersprüchlich angesehen werden. Anderes ließe sich nur dann vertreten, wenn das gerichtliche Verfahren als ein rein objektives Kontrollverfahren anzusehen wäre, das entweder durch jedermann oder zumindest durch in ihren Interessen betroffene Personen initiiert werden kann. Eine derartige Behauptung, die ihrerseits wieder eine Vielzahl von neuen Einwänden auslöste, ist aber bisher – soweit ersichtlich – nicht aufgestellt worden. Entsprechend ist auch die Frage nach dem „Mehrwert“ der hier vertretenen Auffassung von der Existenz eines Aufhebungsanspruchs eine Frage, die die Prämissen des insbesondere durch Art. 19 Abs. 4 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsschutzsystems ignoriert. Wenn es beim Rechtsschutz um die Durchsetzung subjektiver Rechte geht und gleichzeitig ein Rechtsschutz nicht nur anerkannt, sondern sogar 28
Vgl. Schenke, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 19 Abs. 4 (Drittbearb. 2009), Rn. 41, 641 f.; ders., in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 78 Rn. 6 ff. 29 Vgl. auch Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 6. Aufl., 2010, Art. 19 Rn. 386 mit Verweis auf BVerfGE 84, 34 (39); 103, 142 (156).
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für notwendig gehalten wird, so führt kein Weg an der Anerkennung eines subjektiven Rechts auf Aufhebung des rechtsverletzenden Verwaltungsakts vorbei. Auf der Basis der vorausgehenden Überlegungen krankt der Hinweis auf die Möglichkeit von Widerspruch und Anfechtungsklage noch an einem weiteren damit direkt verwobenen Missverständnis hinsichtlich des Rechtsschutzsystems. Besäße die Verwaltung einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Aufhebung anfechtbarer rechtswidriger belastender Verwaltungsakte, so hätte der betroffene Bürger auch nur einen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung (sogenanntes formelles subjektives Recht). Dieses Recht wird aber nach allgemeiner Meinung im Prozess im Wege einer Bescheidungsklage gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO durchgesetzt. Wie vor diesem Hintergrund die h. L. erklären will, dass an Stelle der Bescheidungsklage eine Anfechtungsklage begründet sein soll, versteht sich kaum. Denkbar ist allein die vorausgehend bereits abgelehnte Annahme der Entstehung des Anspruchs durch die Erhebung der Klage selbst. Aussagen wie die von Hubert Meyer („Da der Individualrechtsschutz in dieser Konstellation ohnehin lückenlos gewährleistet ist, scheint die verfassungsrechtliche Begründung etwas strapaziert“30) und im Anschluss daran von Ludwigs („Welcher ,MehrwertÐ mit einer Reduzierung des behördlichen Rücknahmeermessens i. R. eines Aufhebungsantrags nach § 48 I 1 VwVfG verbunden wäre, ist nicht ersichtlich“31) machen auf geradezu exemplarische Weise die fehlende dogmatische Durchdringung des nach ihrer Ansicht essentiellen Individualrechtsschutzes deutlich. Die h. L., die kein Bedürfnis für die Annahme einer Rechtspflicht der Verwaltung zur Aufhebung des anfechtbaren rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts erkennt, übersieht zugleich einen Wertungswiderspruch in ihrer Auffassung, auf den in der Sache bereits hingewiesen wurde. Obgleich einerseits ein Anspruch auf Aufhebung anfechtbarer Verwaltungsakte abgelehnt wird, wird dieser Anspruch andererseits bei bestimmten bestandskräftigen Verwaltungsakten bejaht. Dies erscheint auf der Basis der Meinung der h. L. inkonsequent: Weshalb sollte für diese Fälle bestandskräftiger Verwaltungsakte ein Bedürfnis der Anerkennung von Aufhebungsansprüchen bestehen, für die anfechtbaren Verwaltungsakte aber nicht? Warum sollte hier nicht auch die Feststellung eines lückenlosen Rechtsschutzes nicht ausreichen? Die Nichtaufhebung der betreffenden Verwaltungsakte kann mit einem Widerspruch angegriffen werden. Die Verpflichtungsklage setzt schließlich die Aufhebung des Verwaltungsakts durch, wenn die Verwaltung den betreffenden Verwaltungsakt nicht aufhebt. Dass in diesem Fall dem Rechtsschutzverfahren noch ein Antrag an die Behörde vorausgehen muss, kann für die Bewertung keinen wesentlichen Unterschied machen.
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Hub. Meyer (Fn. 2), § 48 Rn. 62. Ludwigs, DVBl. 2008, 1169.
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3. Der praktische Nutzen der Anerkennung eines Aufhebungsanspruchs Wie die Entwicklung der Diskussion in der Vergangenheit gezeigt hat, hat sich die h. L. bisher von den rechtsdogmatischen Argumenten für die Annahme eines Aufhebungsanspruchs und einer korrespondierenden Pflicht der Verwaltung ohne Antragstellung, Widerspruch oder Klage nicht überzeugen lassen. Hintergrund dafür dürfte nicht nur ein begrenztes Interesse an rechtsdogmatischer Stringenz, sondern vor allem die fehlende Einsicht in die Praxisrelevanz der Meinungsverschiedenheit sein. In diesem Kontext wird häufig auch ein Urteil des BVerwG erwähnt, nach dem die Behörde dazu verpflichtet ist, einen Antrag auf Aufhebung eines Verwaltungsakts jedenfalls dann als Widerspruch zu behandeln, wenn die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen ist32. Diese Rechtsauffassung dient manchen Vertretern der h. L. zugleich als zusätzliches Argument für die fehlende Relevanz des Streits, da auf diese Weise das Widerspruchsverfahren eingeleitet wird, das dann gegebenenfalls auch zur Aufhebung des Verwaltungsakts führt. Der Verweis auf das Urteil ist in diesem Kontext – unabhängig von der hier nicht weiter zu erörternden Richtigkeit der Entscheidung – jedoch nicht überzeugend. Auch die Auslegung des Antrags auf Aufhebung als Widerspruch ändert nichts an der Notwendigkeit des Bestehens eines Aufhebungsanspruchs. Der Antrag auf Aufhebung nach § 48 VwVfG unterscheidet sich im praktischen Ergebnis von einem Widerspruchsverfahren nur dadurch, dass eine Kostenerstattung gem. § 80 VwVfG allein im Widerspruchsverfahren vorgesehen ist. Außerdem hat die h. L. bislang nicht erklärt, welche Bedeutung dem BVerwG-Urteil zukommen soll, wenn in dem konkreten Fall kein Widerspruchsverfahren vorgesehen ist. Hier kann die Antragstellung sicher nicht als Klageerhebung gewertet werden. Auch wenn das Widerspruchsverfahren noch den Regelfall bildet, existiert eine Vielzahl von Ausnahmefällen, in denen die abweichende Auslegung des Antrags nicht weiterhilft. Abgesehen davon ist die Leugnung einer Praxisrelevanz auch sonst nicht überzeugend. Fehlt es an einer Rechtspflicht zur Aufhebung, so kann der Betroffene den Schaden, der durch die Nichtaufhebung oder die verzögerte Aufhebung entstanden ist, auch nicht geltend machen. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass in diesem Fall die Schadensersatzpflicht am rechtswidrigen Erlass des Verwaltungsakts anknüpft. Eine solche Begründung der Schadensersatzpflicht ist in vielen Fällen möglich, nicht jedoch in allen. So kann es etwa im Zeitpunkt des rechtswidrigen Erlasses des Verwaltungsakts am Verschulden fehlen, weil sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts erst nach dessen Erlass erweist (und erweisen musste). In diesem Fall wäre jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Kenntnis oder des Kennenmüssens der Rechtswidrigkeit auch ein Verschulden im Hinblick auf die Nichtaufhebung des Verwaltungsakts zu bejahen. Auch die Fälle des Rechtswidrigwerdens eines Verwaltungsakts sind hier zu nennen. Dass eine Rechtspflicht zur Aufhebung eines – an32
BVerwG, Urt. v. 12.12.2001 – 8 C 17/01, BVerwGE 115, 302 = NJW 2002, 1137.
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fechtbaren – Verwaltungsakts besteht, hat auch der BGH in Zusammenhang mit einem Amtshaftungsanspruch bestätigt33. 4. Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG Gegen die hier vertretene Ansicht des Bestehens eines Aufhebungsanspruchs in den Fällen der anfechtbaren rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakte wendet speziell Sachs ein, die damit verbundene verfassungskonforme Auslegung sei angesichts des Wortlauts der Regelung „kaum möglich“; sie sei auch „zur Vermeidung eines Verfassungsverstoßes nicht geboten“34. Diese Aussage enthält zwei Argumente: Zum einen sei eine verfassungskonforme Auslegung nicht geboten. Dies wird damit begründet, dass effektiver Rechtsschutz zur Verfügung stehe. Dazu wurde vorausgehend bereits ausführlich Stellung genommen. Danach setzt der zur Verfügung stehende Rechtsschutz gerade das Bestehen eines materiellrechtlichen Aufhebungsanspruchs voraus. Die Argumentation des fehlenden Bedürfnisses konnte also schon widerlegt werden. Näherer Prüfung bedarf demgegenüber noch das Argument, dass im vorliegenden Fall eine verfassungskonforme Auslegung angesichts des Wortlauts des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ausscheiden müsse. Im Ergebnis überzeugt auch dieses Argument nicht, obwohl die Grenzen zwischen einer verfassungskonformen Auslegung35 und der Verfassungswidrigkeit einer Bestimmung nicht immer leicht zu bestimmen ist. Wie vorausgehend bereits dargelegt, steht der Wortlaut der Annahme einer strikten Pflicht zur Aufhebung eines rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts, der noch anfechtbar ist, nicht entgegen. Nach dem Wortlaut ordnet die Norm des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG keineswegs notwendigerweise einen Ermessensspielraum der Verwaltung an. Die Regelung „kann … zurückgenommen werden“ ist – ausgehend vom Wortlaut – noch nicht zwingend als Ermessensvorschrift anzusehen. So ist zwar anerkannt, dass die gesetzliche Anordnung eines Ermessensspielraums keineswegs ausdrücklich geschehen muss, wie dies etwa für § 22 S. 1 VwVfG der Fall ist. Entsprechend ordnet das Gesetz in den meisten Fällen durch die Verwendung von „kann“ oder „können“ ein Ermessen der Verwaltung an. Notwendig ist das allerdings nicht. In nicht wenigen Fällen wird eine „Kann“-Regelung als eine Vorschrift verstanden, die der Verwaltung eine Kompetenz zuweist, ohne eine Aussage darüber zu treffen, ob die Behörde hier einen Entscheidungsspielraum besitzt oder nicht36. Der Wort33
BGH, Urt. v. 3. 10. 1985 – III ZR 28/84, VersR 1986, 289 – Rn. 33 f. (juris). Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 48. 35 Der Begriff der verfassungskonformen Auslegung wird hier entsprechend der üblichen Verwendung in einem weiten Sinn verstanden. Es handelt sich damit nicht mehr um Auslegung in einem engeren Sinn, zu der etwa eine Reduktion des Anwendungsbereichs des Gesetzes nicht zu zählen ist. 36 Vgl. mit Beispielen etwa Sachs (Fn. 2), § 40 Rn. 21, 23. 34
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laut stünde der Annahme einer gebundenen Entscheidung daher allenfalls dann entgegen, wenn die Regelung eine Formulierung wie „entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen“ enthielte. Ausgehend von dieser Überlegung stellt sich die weitere Frage, ob eine Auslegung mit dem Wortlaut vereinbar ist, nach der die dem Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG unterfallenden Verwaltungsakte im Fall ihrer Anfechtbarkeit zwingend aufzuheben sind, während die Aufhebung nach Eintritt der Bestandskraft im Ermessen steht. Der Wortlaut steht einer solchen Interpretation nicht entgegen. Voraussetzung dafür wäre aber wohl, dass die Kann-Bestimmung stets nur als Kompetenz begriffen wird, so dass § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG allein unter Berücksichtigung seines Wortlauts auch in den Fällen der unanfechtbaren Verwaltungsakte keine Aussage dazu enthält, ob die Aufhebung im Ermessen steht oder nicht. Die Auslegungskriterien der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte einbeziehend, spricht allerdings einiges für die Annahme einer Ermessensregelung. In diesem Fall geht das Gesetz gerade in den Fällen der noch anfechtbaren Verwaltungsakte von einem Ermessensspielraum aus. Sprachlich werden durch das „auch“ die unanfechtbaren Verwaltungsakte nur in den Anwendungsbereich der Norm mit einbezogen; die anfechtbaren bilden dagegen den Regelfall. Bedenken gegen die Reduktion des Ermessens im Fall der anfechtbaren rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakte könnten deshalb darauf gestützt werden, dass eine Reduktion des Ermessensspielraums in sämtlichen Fällen der anfechtbaren Verwaltungsakte gerade den gesetzlichen Regelfall beträfe. Damit scheint der vom Wortlaut so vorgesehene Regelfall gar nicht zu existieren. Auch das ist freilich nicht zwingend. So gilt § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG keineswegs nur für belastende (oder nicht begünstigende) Verwaltungsakte. Auch in den Fällen, die den Sonderregelungen der Absätze 2 bis 4 unterfallen, bildet Absatz 1 Satz 1 die Ausgangsnorm37. Wenn also – wie hier behauptet – die Verfassung dazu zwingt, dass anfechtbare rechtswidrige belastende Verwaltungsakte zwingend aufgehoben werden müssen, so wird damit der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht soweit reduziert, dass nur noch die Aufhebung der unanfechtbaren Verwaltungsakte im Ermessen der Behörde steht. Es bleiben mit den anfechtbaren begünstigenden Verwaltungsakten weitere Anwendungsfälle des Ermessens. Die Kritik an der Möglichkeit einer verfassungskonformen Reduktion des Ermessens zielt aber wohl zusätzlich darauf, dass einer Norm nicht eine Bedeutung gegeben werden darf, „für die sie selbst keine tragfähige Grundlage bietet“38. Diesen Überlegungen zu den Grenzen der verfassungskonformen Auslegung ist uneingeschränkt zuzustimmen. So gebietet nicht nur der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt, deren Wille nicht in ihr Gegenteil zu verkehren. Stehen die Vorgaben der Verfassung im Widerspruch zum Gesetz, so kommt richtigerweise nur die Feststellung der Verfassungswidrigkeit in Betracht. Ein anderes Verständnis stünde gerade auch im Wi37 38
So auch ausdrücklich Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 127, 175. Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2009, Einführung Rn. 55.
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derspruch zum Zweck des in Art. 100 Abs. 1 GG verankerten Verwerfungsmonopols von formellen nachkonstitutionellen Gesetzen. Ein großzügiger Umgang mit der Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung von Gesetzen, die Aufgabe jedes Fachgerichts ist, führte zu einer Aushöhlung des Monopols des BVerfG. Selbst auf der Basis dieser Ausgangsüberlegungen ermöglicht § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ohne Einschränkungen die hier präferierte Ermessensreduktion. Neben dem nicht entgegenstehenden Wortlaut führt auch die historisch-genetische Auslegung zu keinen Bedenken gegen die Reduktion. Vor Erlass des VwVfG wurde die Auffassung von der Pflicht der Behörde (bzw. seines Trägers) zur Aufhebung des anfechtbaren rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts nicht angezweifelt39. Hätte der Gesetzgeber mit dieser Tradition brechen wollen, so hätte es mehr als nahegelegen, dies zumindest in der Gesetzesbegründung deutlich zu machen. Im Gegenteil geben die Gesetzesmaterialien Anlass zur Annahme einer unklaren oder unglücklichen Formulierung, möglicherweise sogar eines Irrtums des Gesetzgebers. Zwar heißt es zunächst allgemein, Absatz 1 der Regelung (hier § 44 EVwVfG) stelle die Rücknahme in das Ermessen der Behörde40. Alle weiteren Erläuterungen dieses Ermessens beziehen sich aber eindeutig allein auf den Fall des unanfechtbaren Verwaltungsakts. Dass ein anfechtbarer Verwaltungsakt durch die Behörde im Fall seiner Rechtswidrigkeit aufgehoben werden musste, war kein Diskussionsgegenstand, sondern verstand sich von selbst. Wie die Entwurfsbegründung zeigt, wollte sich der Gesetzgeber in den bis dahin umstrittenen Fällen unanfechtbarer Verwaltungsakte gegen eine Aufhebungspflicht und für einen Ermessensspielraum aussprechen41. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen zu Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm überzeugt die – von Sachs ohnehin nur angedeutete – Annahme der Überschreitung der Grenzen der verfassungskonformen Auslegung nicht. Der in der Norm angedeutete Ermessensspielraum der Behörde kann im Wege der verfassungskonformen Auslegung reduziert werden. IV. Kritik einer Aufhebungspflicht neben § 48 VwVfG Die meisten der unter III. dargelegten Einwände gegen die h. L. treffen die Auffassung von einer unbenannten (oder auch ungeschriebenen) Aufhebungspflicht neben § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht. Insbesondere den zentralen Überlegungen zur notwendigen Trennung des materiellen Rechts vom Prozessrecht sowie gleichzeitig zur Abhängigkeit des Prozessrechts vom Vorliegen eines materiellrechtlichen Anspruchs wird diese Meinung vollständig beipflichten, ohne mit den eigenen Thesen in Widerspruch zu geraten42. 39
s. nur Maurer, DÖV 1966, 477 ff. Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 18. 7. 1973, BT-Drs. 7/910, S. 68. 41 s. dazu näher Baumeister (Fn. 5), S. 228 f. 42 Festzuhalten ist deshalb auch, dass diejenigen Vertreter der h. L., die auch die Position von Steinweg für ihre Auffassung reklamieren, dessen ausdrückliche Anerkennung einer ma40
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Vor einer kritischen Würdigung der Annahme einer „unbenannten Aufhebungspflicht“ außerhalb des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG ist vorab zu bemerken, dass mit einer solchen Auffassung dem zentralen Anliegen der hier vertretenen Position Rechnung getragen wird und dass die Auffassung insoweit (hinsichtlich der Anerkennung einer behördlichen Aufhebungspflicht) als Übernahme der hier vertretenen Auffassung angesehen werden kann. Andererseits vermag die konkrete Ansicht von einer neben die Aufhebungsvorschriften des VwVfG tretenden ungeschriebenen Aufhebungspflicht nicht zu überzeugen. Obwohl im Ergebnis keine zwingenden Argumente für eine abschließende Regelung der Aufhebung von Verwaltungsakten durch das VwVfG aus den Materialien abzuleiten sind (und wegen der verschiedenen weiterhin vorhandenen Sondervorschriften im besonderen Verwaltungsrecht auch schwerlich vorhanden sein werden), so spricht doch einiges gegen eine ungeschriebene Parallelordnung jenseits des VwVfG. Viele Zielsetzungen einzelner Normen der §§ 48 ff. VwVfG wären nicht erreichbar, wenn das Gesetz jeweils so zu interpretieren wäre, dass zusätzlich noch ungeschriebenes Recht zur Anwendung kommen könnte. Unklar bleibt bei dieser Ansicht vor allem, in welchem Verhältnis die „unbenannte Aufhebungspflicht“ zu § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG steht. Nicht möglich erscheint es, beide Grundlagen für die Aufhebung eines Verwaltungsakts nebeneinander zu stellen. Das müsste dazu führen, die Behörde einerseits auf der Basis der „unbenannten Aufhebungspflicht“ für verpflichtet zu halten, einen bestimmten Verwaltungsakt aufzuheben, und gleichzeitig die Rücknahme (also ebenfalls eine Aufhebung des Verwaltungsakts) in das Ermessen der Behörde zu stellen. Die Aufhebung eines Verwaltungsakts kann nicht gleichzeitig im Ermessen stehen und verpflichtend sein. Die Annahme einer „unbenannten Aufhebungspflicht“ wäre notwendigerweise mit der Nichtanwendbarkeit des § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG verbunden. Das hieße aber in konsequenter Fortführung der Überlegungen, dass § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG in den Fällen des anfechtbaren rechtswidrigen belastenden Verwaltungsakts gar nicht zur Anwendung käme. In diesem Fall wären die Einwände, die oben unter III. zurückgewiesen werden konnten, dagegen durchaus berechtigt. Eine derartige Beschränkung des Anwendungsbereichs ließe sich nur vermeiden, wenn die „unbenannte Aufhebungspflicht“ von einem Verlangen des Betroffenen abhängig gemacht wird43. In diesem Fall sieht sich diese Ansicht aber genau mit den Kritikpunkten konfrontiert, die gegen die entsprechende Konstruktion der Aufhebungspflicht vorausgehend erhoben wurden44. Schließlich lässt die These von der „unbenannten Aufhebungspflicht“ nicht erkennen, wie der nach ganz h. M. bestehende Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme nach teriellrechtlichen Aufhebungspflicht auf Seiten der Behörde bisher nicht ausreichend zur Kenntnis genommen haben; so wohl Sachs (Fn. 2), § 48 Rn. 48. 43 In diese Richtung möglicherweise Steinweg (Fn. 12), S. 312: „Zur unbenannten Aufhebung ist die Behörde auf Verlangen verpflichtet.“ 44 s. oben unter III.
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§ 48 VwVfG auf der Basis der These begründet werden kann, dass die Rücknahme nicht dem Rechtsschutz des Betroffenen dient45. Gegen ein „Nebeneinander“ von Aufhebung nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG und einer „unbenannten Aufhebungspflicht“ spricht auch die Berücksichtigung der parallelen Rechtslage im Sozialrecht. Nach § 44 Abs. 1 SGB X besteht eine Pflicht zur Rücknahme in den dort genannten Fällen auch nach Eintritt der Unanfechtbarkeit, also auch im Fall der Anfechtbarkeit. Wäre die These von der „unbenannten Aufhebungspflicht“ konsequent, so müsste diese Pflicht auch im Sozialrecht neben die Regelungen des SGB X treten. Das führte zu teilweise doppelten Aufhebungspflichten, was gleichfalls abzulehnen wäre. Umgekehrt vermag auch die Kritik der Gegenmeinung an der hier vertretenen Auffassung von der Rücknahmepflicht durch Ermessensreduktion46 nicht zu überzeugen. Die Einwände beginnen mit der Annahme, die These von der Rücknahmepflicht gehe einher mit dem Wegfall der Pflicht mit Eintritt der Unanfechtbarkeit. Unabhängig davon, dass die Pflicht nicht entfällt, sondern sich in eine Pflicht zur fehlerfreien Ermessensentscheidung wandelt, folgten aus diesem Wegfall keine schlagkräftigen Einwände gegen die hier vertretene Auffassung. Gegen einen Wegfall des Aufhebungsanspruchs spreche der Umstand, dass einer Anfechtungsklage gegen einen bestandskräftigen Verwaltungsakt nicht die Klagebefugnis fehle, sondern nur die Klagefrist versäumt sei. Bei einem Wegfall des Anspruchs müsste aber die Klagebefugnis entfallen47. Dieser Einwand erscheint schon deshalb wenig überzeugend, weil die Klagebefugnis nur dann zu verneinen wäre, wenn die Möglichkeit eines Aufhebungsanspruchs von vornherein eindeutig zu verneinen wäre. Das trifft aber allein aufgrund der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts sicher noch nicht zu. Unabhängig davon ist auch nicht erkennbar, welche Bedeutung die Annahme des Wegfalls der Klagebefugnis für die hier vertretene Auffassung besitzen sollte. Weiter erscheint der Verweis auf die Wiedereinsetzungsmöglichkeit nach § 60 VwGO ohne Relevanz48. Beim Wegfall des Aufhebungsanspruchs handelt es sich um eine materiellrechtliche Wirkung, die mit der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts eintreten kann. Solange Wiedereinsetzungsmöglichkeiten bestehen, besteht noch kein Grund für einen Wegfall. Die demgegenüber vertretene These, der Ablauf der Anfechtungsfristen führe nicht zum Untergang des materiellrechtlichen Aufhebungsanspruchs, sondern hindere lediglich dessen prozessuale Durchsetzung mit der Anfechtungsklage49, kann nicht überzeugen. Damit würde entweder angenom45
So Steinweg (Fn. 12), S. 312. s. Steinweg (Fn. 12), S. 313. 47 So Steinweg (Fn. 12), S. 313. 48 Auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung im Kontext des Aufhebungsanspruchs wurde bereits früher hingewiesen, Baumeister (Fn. 5), S. 223. 49 s. Steinweg (Fn. 12), S. 313. 46
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men, dass weiterhin ein materielles Recht besteht, das nun aber nicht mehr durchgesetzt werden kann, oder die Durchsetzung erfolgt auf einem anderen Weg (etwa mit einer Verpflichtungsklage). Die zweite Möglichkeit dürfte von vornherein auszuschließen sein, da aus den Stellungnahmen bisher nicht abgeleitet werden kann, dass eine Aufhebung entgegen ganz h. M. doch durchgesetzt werden kann. Bleibt damit nur die erste Möglichkeit, so ist sie mit der gleichfalls nicht überzeugenden Konsequenz verbunden, dass eine Pflicht zur Aufhebung (und wohl auch ein Anspruch auf Aufhebung) besteht, diese aber nicht durchsetzbar wäre. In diesem Fall fehlte es richtigerweise doch an einem subjektiven Recht, da zu diesem regelmäßig auch die Möglichkeit der Durchsetzung gerechnet wird. Nicht überzeugend ist schließlich der Verweis auf die Verfassungsbeschwerde und andere Rechtsbehelfe, die nach Eintritt der Unanfechtbarkeit erhoben werden und zum Erfolg (Aufhebung des Verwaltungsakts) führen können. Ebenso wie angenommen wird, dass in diesem Fall weiterhin eine unbenannte Aufhebungspflicht besteht, gilt dies nach hier vertretener Ansicht für die in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG enthaltene Aufhebungspflicht. Schließlich ist auch zu fragen, welcher Begriff von Unanfechtbarkeit hier verwendet wurde. Die Kritik lässt erkennen, dass der hier vertretenen Ansicht eine Art begriffsjuristischer Denkweise unterstellt wird: Wird der Verwaltungsakt unanfechtbar, so entfällt der Aufhebungsanspruch. Richtigerweise entfällt der Aufhebungsanspruch nicht durch eine irgendwie feststellbare oder definierte Unanfechtbarkeit. Vielmehr kommt es darauf an, ob der Aufhebungsanspruch unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit eine Einschränkung erfährt. Dies ist regelmäßig, aber nicht notwendig der Fall, wenn der Betroffene seine Rechtsbehelfe erfolglos ausgeschöpft oder aber darauf verzichtet hat. Sämtliche Gesichtspunkte, auf die die Kritik hinweist, erscheinen deshalb wenig überzeugend. Aus ihnen lässt sich jedenfalls nichts herleiten, was die Annahme einer „unbenannten Aufhebungspflicht“ als vorzugswürdig erscheinen lässt. Im Gegenteil sind die Konsequenzen einer solchen Pflicht neben den Regelungen des VwVfG bei weitem noch nicht durchdacht. V. Fazit Die an den Anfang des Beitrags gestellte schlichte Erkenntnis, dass das Prozessrecht der Durchsetzung des materiellen Rechts dient, hat sich bis heute trotz allgemeiner Akzeptanz noch keineswegs in allen Detailfragen durchzusetzen vermocht. Selbst bei einem Thema wie dem der Verbindungslinien zwischen der Anfechtungsklage und dem materiellen Verwaltungsrecht konnte bis heute in der Rechtswissenschaft bei weitem noch keine Einigkeit erzielt werden. Das hier behandelte Thema aus dem Kontext der Grundfragen des Verwaltungsrechts ermöglicht ein breites Verständnis für viele Folgefragen. Deshalb erscheint die Erkenntnis, dass der gerichtlichen Aufhebung eines Verwaltungsakts im Wege der Anfechtungsklage (wie auch der Verpflichtungsklage) auch ein Aufhebungsanspruch des Betroffenen zugrunde liegen muss, von zentraler Bedeutung. Besteht ein entsprechender Anspruch, so muss dieser
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im Recht verortet werden. Unter Beachtung sämtlicher Alternativen (einschließlich einer „unbenannten Aufhebungspflicht“) erscheint einzig die Grundlage in § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG überzeugend.
Anforderungen an das Führungspersonal in Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen1 Von Winfried Benz I. Einführung Der Rektor der Universität Mannheim, die in mancherlei Hinsicht um moderne, zukunftsgerichtete Strukturen nicht ohne Erfolge bemüht ist, musste im Frühjahr 2009 einen Rückzug verkünden: Vier von fünf Fakultäten sprachen sich gegen den hauptamtlichen Dekan aus, der nach der Ankündigung im Jahr 2006 zu einem Charakteristikum dieser Universität und zu einem Modellprojekt für Deutschland werden sollte. Nur die Fakultät für Betriebswirtschaftslehre als größte und renommierteste Fakultät hat ihn etabliert und steht zu dieser Leitungskonstruktion. Der Vorgang spiegelt eine derzeit heftig und kontrovers geführte Diskussion wider2. Auf der einen Seite stehen die Befürworter des herkömmlichen Dekans, der auch als Dekan Kollege bleibt, nur relativ kurze Zeit im Amt ist und dieses Amt schon deshalb collegialiter ausübt, weil er sicher sein möchte, dass seine Amtsnachfolger und -nachfolgerinnen mit ihm entsprechend pfleglich, schonend und rücksichtsvoll umgehen werden. Auf der anderen Seite die Argumentation pro hauptamtlichem Dekan, der zur neuen Organisationsstruktur der Universität passe, der nicht aus der eigenen Fakultät kommen muss, sondern von außen zum Beispiel aus der Wirtschaft oder der Verbandswelt einsteigen kann, wo er politisch zu agieren gelernt hat, und der entschlossen führen soll. Er ist den „Traditionalisten“ verdächtig, dass man unter seinem Regiment noch weniger sicher vor schmerzhaften Einschränkungen und Opfern sein könne, ihm fehle womöglich der „Stallgeruch“ und außerdem sei ihm zuzutrauen, dass ihm bei der Festlegung der Ziele der Hochschule und bei deren Realisierung der Schulterschluss mit Rektorat oder Präsidium unter Hintanstellung von Fakultäts-/Fachbereichsinteressen wichtiger ist. Hat die Universität Mannheim Angst vor der eigenen Courage bekommen, schreckt das Beispiel ihrer BWL-Fakultät ab oder erweist sich für sie, dass nur bei großen Fakultäten ein hauptamtlicher Dekan Sinn macht? Wie auch 1 Trotz der Unterschiede im Aufgabenkatalog (Aufgabe Lehre, Aufgabe Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses) und trotz der unterschiedlichen Organisationsstruktur wird das Führungspersonal der außerhochschulischen, staatlich finanzierten Forschungseinrichtungen mit einbezogen, weil trotz der Unterschiede die Führungsaufgaben verwandt sind. Der Schwerpunkt liegt allerdings beim Leitungspersonal der Hochschulen. 2 Siehe hierzu Hartmer, Geschäftsführer des Deutschen Hochschulverbandes, FAZ 17. 02. 2011, S. 8.
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immer, die Diskussion mit pro und contra hauptamtlicher Dekan wird überwiegend zu stereotyp-modellhaft und undifferenziert geführt. So muss sich der hauptamtliche Dekan keineswegs in seiner Loyalität von seiner Fakultät entfernen und auf die offenen Arme seines Präsidenten/Rektors zusteuern. Ganz im Gegenteil, ein starker hauptamtlicher Dekan kann sich als harte Nuss entpuppen, an der sich die Hochschulleitung die Zähne ausbeißt; oder er kann als deren loyaler Partner mehr für seine Fakultät erreichen als ein herkömmlicher Dekan. Die Diskussion kommt nicht überraschend, in Baden-Württemberg war der Gesetzgeber bereits aktiv3. Die großen Veränderungen der zurückliegenden Jahre in der Wissenschaftslandschaft, vor allem im Hochschulbereich, stellen das Profil des Führungspersonals auf den Prüfstand. Die Frage, welche Eigenschaften und Kenntnisse das Führungspersonal mitbringen oder durch Fortbildung üben und erwerben sollte, findet, wie der Blick in die Literatur und auf Veranstaltungskalender mit wissenschaftspolitischer/hochschulpolitischer Thematik zeigt, kontinuierlich viel Interesse und hat sich – wohl noch für einige Zeit – als Dauerthema etabliert. Dabei wird die Thematik verbreitert. Im Hinblick auf den Bedeutungszuwachs von Wissenschafts- einschließlich Qualitätsmanagement liegt inzwischen eine Untersuchung vor, ob nicht nach ausländischen Beispielen Karrieren im Wissenschaftsmanagement ein lohnendes Ziel sind, das in Deutschland systematisch angegangen werden sollte4. Die Karriere könnte im Einzelfall ganz nach oben führen, sodass der Kreis potentieller Kandidaten/Kandidatinnen eine willkommene Blutzufuhr erführe. II. Der Veränderungsprozess Ursache des Veränderungsprozesses im Hochschulbereich ist ein grundlegender Wandel des Verhältnisses vom Staat zu seinen Hochschulen, der Anfang der 1980er Jahre begann. Dreh- und Angelpunkt war und ist das Ausmaß der Hochschulautonomie, die in dem Umfang wachsen konnte, in dem der Staat sich aus der Hochschulsteuerung zurückzog. Trotz oder gerade aufgrund von Deregulierung sollten Forschung und Lehre in den Hochschulen an Qualität durch Entstehen und Förderung eines echten Wettbewerbs zwischen den Hochschulen gewinnen. Für den Staat war und ist das Wettbewerbsmodell attraktiv, weil er damit einen Maßstab für die Hochschulfinanzierung in die Hand bekommt, mit dem er gute und exzellente Leistungen belohnen und Wettbewerbsverlierer deren unbefriedigende Leistungsbilanz spüren lassen kann. Wettbewerb bedeutet Abschied von der Formel, „alle können alles machen“, sondern heißt Profilierung durch Schwerpunktbildung und Differenzierung. Der Wettbewerbsdruck hat vor allem in den Universitäten zu zum Teil phasenweise lähmenden, mühsamen und zähen Veränderungsprozessen geführt, bei denen der un3
§ 24 III letzter Satz LHGBadWü: „Auf Antrag der Fakultät kann durch Beschluss des Aufsichtsrats ein hauptamtlicher Dekan vorgesehen werden…“. 4 Nickel/Ziegele, Karriereförderung im Wissenschaftsmanagement – nationale und internationale Modelle, Band 1, 2009.
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ausweichlichen Entwicklung häufig stereotyp das Argument der grundrechtlich geschützten, freien wissenschaftlichen Betätigung jedes(r) einzelnen Professors(in) entgegengehalten wurde5. Freilich stand in keiner Phase der Autonomiestärkung zur Diskussion, ob sich der Staat in seiner Einflussnahme auf die Hochschulen und deren Entwicklung mehr oder weniger vollständig zurücknehmen sollte. So stellt der Wissenschaftsrat fest, dass „das legitime Steuerungsinteresse des Staates anerkannt wird“, der Staat sich aber „auf die Steuerung über strategische Ziele“ konzentriert. Der Wettbewerb finde „unter staatlich definierten Rahmenbedingungen“ statt6. Die staatliche Steuerung schlägt sich nieder in Indikatoren und Kennzahlen, in Zielund Leistungsvereinbarungen mit den Hochschulen, in den Hochschulentwicklungsplänen der Länder und in Hochschulpakten des Bundes und der Länder. Hand in Hand mit der Stärkung der Hochschulautonomie geht die Stärkung der Entscheidungskompetenz und die Erweiterung des Handlungsspielraums durch Stärkung der Hochschulleitung. Mit der Übertragung des betriebswirtschaftlichen New Public Management in auf den öffentlichen Bereich angepasster Modifikation wird nicht nur die Steuerung im Verhältnis des Staates zu den Hochschulen und Wissenschaftlichen Einrichtungen, sondern auch die organisationsinterne Steuerung umgebaut und verstärkt, werden Kompetenzen auch innerhalb der Einrichtungen umverteilt und neu angesiedelt. Nachhaltige Erfolge im Wettbewerb setzen eine erstklassige strategische Planung voraus, für welche die jeweilige Leitung der Hochschulen und Wissenschaftlichen Einrichtungen verantwortlich ist. Eine Erfolgsvoraussetzung dieser Planung ist, dass sie von einem überzeugenden Qualitätsmanagement flankiert wird. Auch in diesem Feld ist die jeweilige Spitze der Einrichtungen gefordert. Aus einem funktionierenden Qualitätsmanagement gewinnt sie wichtige Erkenntnisse nicht nur für eine mittelfristige Festlegung des Grundprofils ihres Hauses, sondern ebenso für die nicht selten schwierigere und umstrittenere Feinjustierung des Profils und für die zu deren Realisierung erforderlichen Steuerungsentscheidungen. Weiteren Herausforderungen des Veränderungsprozesses müssen sich die Führungsspitzen stellen. Hierzu gehören vor allem die immer schwierigere Sicherstellung der Finanzierung und die immer bedeutsamere Internationalisierung. Seit Jahren fahren die Länder die Grundausstattung der Hochschulen zurück, so dass diese immer stärker auf die von Bund und Ländern finanzierten staatlichen und auf private Drittmittel angewiesen sind. Nicht von ungefähr hat der Wissenschaftsrat im Jahr 2006 einen unüberhörbaren Notruf vernehmen lassen: Die Steigerung der staatlichen Hochschulausgaben sei im Hinblick auf die steigenden Studierendenzahlen, den durch den Bologna-Prozess zunehmenden Betreuungsaufwand und wegen der verschärften internationalen Konkurrenz der Universitäten „dringend geboten“7. Er ver5 Zu dieser Auseinandersetzung siehe Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitäten im Wissenschaftssystem, 2006, S. 19, 20. 6 Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 25. 7 Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 47.
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weist darauf, dass die tertiären Bildungsausgaben, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, in Deutschland deutlich unter dem Länderdurchschnitt der führenden Industrienationen in der OECD liegen8, aber im internationalen Vergleich vor allem auch der Anteil privater Mittel an der Finanzierung der Hochschulen zu gering sei9. Wie bedeutsam Internationalisierung und internationaler Wettbewerb geworden sind, lässt sich zum Beispiel daran erkennen, dass sich im „Pakt für Forschung und Innovation“, von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) im April 2009 beschlossen und von den Regierungschefs von Bund und Ländern im Juni 2009 abgesegnet10, Erklärungen der fünf Wissenschaftsorganisationen Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Fraunhofer-Gesllschaft (FHG), Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Geswellschaft (MPG), Leibnitz-Gemeinschaft finden, in denen sie sich u. a. jeweils zu „Strategien internationaler Zusammenarbeit“ äußern. Aus ihnen wird deutlich, dass neben dem internationalen Wettbewerb und, damit zusammenhängend, der internationalen Zusammenarbeit der einzelnen Wissenschaftseinrichtungen immer stärker an der Positionierung eines europäischen Forschungsraumes im globalen Wettbewerb oder, im Verbund mit anderen nationalen Förderorganisationen, am Ausbau von supranationalen Förderorganisationen gearbeitet wird11. III. Anforderungen an das Führungspersonal Es verdient festgehalten zu werden, was Mitte der 1990er Jahre im angesehenen „Handbuch des Wissenschaftsrechts“ zur optimalen Besetzung der Leitungsspitze der Hochschulen zu lesen ist, weil deutlich wird, wie sehr sich als Folge des Veränderungsprozesses in den vergangenen 15 Jahren die Erwartungen an das Profil des Führungspersonals detailliert und weiterentwickelt haben: „Es ist in der Tat zweifelhaft, wer für die Leitung einer Hochschule am besten geeignet ist, der Hochschullehrer der eigenen Hochschule, der Verwaltungsbeamte oder der Hochschulpolitiker. Für und gegen alle sprechen prinzipielle Gründe. Es scheint so, als ob es in erster Linie auf die Persönlichkeit und auf die Größe der Hochschule ankommt, wobei zugleich die weitere Frage zu stellen ist, ob nicht das Zusammenwirken der drei Elemente, wissenschaftliche Bewährung, hochschulpolitisches Fingerspitzengefühl und Verwaltungserfahrung, die richtige Lösung ist“12. Interessant ist ein Blick auf neue und neueste Stellenanzeigen, mit denen das Führungspersonal gesucht wird. Er bestätigt, dass der Veränderungsprozess greift und die Einrichtungen sich entsprechend an der Spitze organisieren. Die Universität Potsdam erwartet von Bewerberinnen und Bewerbern um ihr Amt der/des Präsidentin/Präsidenten unter anderem, dass sie „die Leitungsinstrumente 8
Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 45. Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 46. 10 Grundlagen der GWK 2011, S. 109 ff. 11 Siehe hierzu Erklärung der DFG (Fußn. 10) S. 115 ff., 120 f. 12 Thieme, Handbuch des Wissenschaftsrechts, 2. Aufl. 1996, S. 813 (832, 833). 9
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einer dem Wettbewerb, der Autonomie und Selbststeuerung verpflichteten Hochschule zu nutzen wissen“13. Für die WHU – Otto Beisheim School of Management (sie ist bisher als einzige private Hochschule Mitglied der DFG) soll ihr künftiger Kanzler „die strategische Entwicklung der Hochschule aktiv mitgestalten“ und „die Fähigkeit zum unternehmerischen Handeln“ besitzen14. Für das Vorstandsmitglied Luftfahrt des DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.) werden „strategisches Gestaltungsvermögen, Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit“ vorausgesetzt und „Erfahrungen in der Wahrnehmung der Personalverantwortung und im Umgang mit politischen und industriellen Entscheidungsträgern erwartet“15. Die Fachhochschule Koblenz sucht für das Amt ihrer Präsidentin/ihres Präsidenten „eine engagierte Führungspersönlichkeit, die das Profil und die Wettbewerbsfähigkeit der Hochschule aktiv mitgestaltet und die Positionierung der Hochschule im nationalen und internationalen Wettbewerb weiter ausbaut“16. In einem gemeinsamen Verfahren (Kooperationsprofessur) besetzen das Deutsche Schifffahrtsmuseum, eines der nationalen Forschungsmuseen, und die Universität Bremen die Stelle des Direktors in Verbindung mit einer Professur für Schifffahrtsgeschichte und/oder für Maritime Archäologie; hier sind u. a. Berufs- und Führungserfahrung im Museumsmanagement, nachweisbare Erfahrungen im Einwerben von Drittmitteln, Fähigkeiten zu nationalen und internationalen Kooperationen sowie zur Methodik der Wissenschaftskommunikation“ erwünscht17 (die auffallende Begrüßung von „Bewerbungen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen mit Migrationshintergrund“ sei am Rande erwähnt). Der Technischen Universität Chemnitz kommt es bei der Besetzung der Stelle der Rektorin/des Rektors u. a. darauf an, eine Persönlichkeit zu finden, welche „die Wettbewerbsfähigkeit der Universität auch unter den Bedingungen der Globalisierung und des demographischen Wandels erfolgreich ausbauen kann“18. Ungewöhnlich und hervorzuheben ist eine Stellenanzeige der Wilhelm Büchner-Hochschule, Private Fernhochschule Darmstadt, die zur Klett Gruppe gehört, mit der sie eine neue Präsidentin/einen neuen Präsidenten sucht, wegen der vorgesehenen Einarbeitungszeit: Die Präsidentin/der Präsident „soll zunächst“ die Aufgaben des ersten Vizepräsidentenamtes übernehmen und „nach entsprechender Einarbeitung im Zuge der Altersnachfolge“ dann an die Spitze rücken19. Abgeschlossen seien diese Informationen über die sich aus zufällig ausgewählten aktuellen Stellenanzeigen ergebenden Erwartungen der unterschiedlichen Hochschulen und Einrichtungen an ihr Leitungspersonal mit der Profilbeschreibung, die Leaders in Science, die vom Deutschen Hochschulverband im Jahr 2008 gegründete 13 14 15 16 17 18 19
Deutsche Universitätszeitung (DUZ) 25. 03. 2011, S. 47. DUZ 17. 12. 2010, S. 55. DUZ 23. 10. 2009, S. 54. DUZ (Fußn. 14), S. 64. Die Zeit 10. 02. 2011, Stellenmarkt, S. 5. DUZ (Fußn. 14), S. 49. DUZ 25. 03. 2011, S. 49.
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und bei ihm angesiedelte Personalagentur „aus der Wissenschaft für die Wissenschaft“ bezüglich der von ihr zu vermittelnden Personen hat. Hochqualifizierte, charismatische Führungspersönlichkeiten sollen es sein, mit ausgezeichneter wissenschaftlicher Reputation, mit der Fähigkeit, gut zu führen und zu kommunizieren, mit Konflikt- und Teamfähigkeit, sie sollen mediengewandt agieren und dem Umgang mit der Politik gewachsen sein20. Auffallend im Vergleich mit den ausgewählten Stellenanzeigen die Betonung der wissenschaftlichen Exzellenz, und, dass mit der Politik Augenhöhe hergestellt sein sollte. Nicht von ungefähr korrespondieren diese Anforderungen miteinander; sie beruhen auf jahrzehntelanger Beobachtung, dass der Grad des Respekts, ja, der Hochachtung der Politik vor der Universitätsspitze in dem Maß zunimmt, in dem der hochschulpolitische Partner persönlich wissenschaftliche Exzellenz verkörpert. Bedauerlicherweise geht dieser Aspekt neben den Anforderungen für das Wissenschaftsmanagement immer mehr verloren. Auch die Kombination von wissenschaftlicher Exzellenz mit ausgeprägter Führungspersönlichket ist wichtig, weil erstere nicht dazu missbraucht werden darf, eine(n) schwache(n) Präsidenten(in)/Rektor(in) an die Spitze zu stellen, der (die) im wesentlichen alles lässt, wie es ist. In der Literatur findet sich nur selten21 das Bemühen, die Anforderungen an das Führungspersonal im Hinblick auf dessen Aufgaben möglichst umfassend darzustellen. Bevorzugt wird, von einer Bandbreite zu sprechen, die von z. B. „strategischer Steuerung bis zur Personalführung“ reicht22. Dieser Befund ist nicht verwunderlich, weil die Anforderungen an das Leadership-Profil von Hochschule zu Hochschule, von wissenschaftlicher Einrichtung zu wissenschaftlicher Einrichtung erheblich variieren können und von Rechtsform, Größe und Organisation der Einrichtung, Standort, Fächerangebot, Schwerpunkten, Grad der Vernetzung, Haushaltslage, Kooperation und zahlreichen anderen Faktoren abhängen. Die erwähnten Stellenausschreibungen unterstreichen dies. Für solche Situationen sind empirische Befunde hilfreich. Die Deutsche Universitätszeitung hat im Frühjahr 2009 Kurzinterviews zum jeweiligen Führungsstil mit dem Gründungspräsidenten der (privaten) Zeppelin-Universität Friedrichshafen, mit dem Rektor der (Exzellenz-) Universität Konstanz, mit dem Rektor der Hochschule Brandenburg und mit der Präsidentin der Fachhochschule Münster geführt23. Vier Fallbeispiele, vier Führungsstile, die vom Moderator bis zur dienstleistenden Wissenschaftsmanagerin, vom Leiter einer Universität, die er als lernendes System führt und bei der jeweils ein Studierender als Vertreter der die Universität „querdenkenden“ Gruppe dem Präsidium angehört, bis zum entschlossen füh20
Werbeprospekt von Leaders in Sience, S. 3. Unter Managementaspekten Pellert, Academic leadership and organizational culture, in: Bergan, S./Egron-Polak, E./Kohler, J./Purser, L./Vukasovic, M. (Hrsg.): Leadership and Governance in Higher Education. Handbook for Decision-makers and Administrators, Stuttgart 2011, B3 – 1, S. 1 ff. (9, 10). Dieselben zu heute wichtigen Funktionen von Leitung: Management in Expertenorganisationen, Bonn 2010, S. 40 ff., S. 44 – 47. 22 Nickel/Ziegele (Fußn. 4), S. 22, 23. 23 DUZ 24. 04. 2009, S. 20, 21. 21
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renden, Verantwortung übernehmenden Rektor. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Führungskonzepten der hohe Stellenwert der Partizipation des Hauses durch das passende Partizipationsmanagement, was im Grunde selbstverständlich sein sollte. Der die Interviews kommentierende Beitrag24 kommt zu der Feststellung, die Einbeziehung von Wissenschaftlern, Studierenden, Dekanen, Leitungskräften und Mitarbeitern aus der Verwaltung sowie externen Impulsgebern in Entwicklungs- und Entscheidungsprozessen sei für kreative Organisationen, wie sie Hochschulen seien, lebensnotwendig. Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Wahl eines bestimmten Führungsstils nicht heißen dürfe, auf ihn dauerhaft festgelegt zu sein, nur ihn zu beherrschen. In unterschiedlichen Entwicklungsphasen einer wissenschaftlichen Einrichtung müssten bei guter Führungswahrnehmung durch die Leitung unterschiedliche Führungsstile bis zu einem Stilmix zur Anwendung kommen. Eine ähnlich wichtige und vielschichtige Aufgabe wie mit dem passenden Führungsstil gut zu führen, ist für die Leitung der Hochschulen und außerhochschulischen wissenschaftlichen Einrichtungen die Personalentwicklung. Oftmals stehen die Hochschulen bei der Einführung eines modernen Personalmanagements und einer methodischen Personalentwicklung noch ziemlich am Anfang. Diese Aufgabenerledigung darf sich nicht in der Genehmigung des Besuchs von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen erschöpfen. Unter den Anforderungen an Rektoren und Präsidenten von Hochschulen kommt der Wahrnehmung der Repräsentanz des eigenen Hauses nach außen gerade in Zeiten immer notwendiger werdender Unterstützung aus dem privaten Sektor große Bedeutung zu. Auch an dieser Aufgabe wird deutlich, wie wichtig es ist, dass das Führungspersonal der Top-Ebene je nach Tätigkeitsfeld flexibel agiert. Während für die Repräsentanz nach außen „starke“ Auftritte, überzeugende Positionierung, Tatkraft und Entschlossenheit wichtig sind, kann dieses Verhalten nach innen als aggressiv verstanden werden und kontraproduktive Reaktionen auslösen25. Als „die vordringliche Aufgabe der Hochschulleitung“ bezeichnet der Wissenschaftsrat die Ermöglichung und Koordination der Kooperation zwischen den verschiedenen Ebenen und Einheiten der universitären Organisationsstruktur. Das Subsidiaritätsprinzip finde dort seine Grenzen, wo die dezentralen Einheiten sich stärker mit ihrer Disziplin als mit der Organisation Universität als Ganzem identifizierten26. Ganz in diesem Sinne: „Institutional leadership is also responsible for ensuring that each basic unit contributes to the interests promoted by the organisation as a hole“27. Dies ist unumstritten und dennoch im Hochschulalltag häufig nicht einfach zu realisieren, geht es doch darum, vor allem die Universitäten von einem lockeren Verbund wissenschaftlicher Individualisten zu einer organisierten Gemeinschaft mit gemein24 25 26 27
Nickel, Eine Frage des Stils (Fußn. 23), S. 21, 22. Pellert (Fußn. 21, Handbuch), S. 9; (Fußn. 21, Strategien), S. 45. Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 74. Pellert (Fußn. 21, Handbuch), S. 10.
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samen Zielen umzuformen, zu deren Realisierung jedes Mitglied seinen Beitrag leistet. Angesichts des Veränderungsprozesses stellt sich die Frage, ob damit der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin an der Spitze von Hochschulen und großen Forschungseinrichtungen ausgedient und dem/der Wissenschaftsmanager/in Platz zu machen hat. Während der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen zur künftigen Rolle der Universitäten die Bezeichnung Wissenschaftsmanager für die Spitzen der Universitäten vermeidet, werden im Schrifttum regelmäßig Rektoren, Präsidenten, Prorektoren/Vizepräsidenten und Kanzler als Top-Ebene des Wissenschaftsmanagements behandelt. Ihre Charakteristika sind das breite Tätigkeitsspektrum von Leitungsaufgaben und die Anwendung spezifisch angepasster betriebswirtschaftlicher Methoden und Instrumente einschließlich der Organisations- und Personalentwicklung. In Großbritannien wird dies anders gesehen. Dort ist Management nicht Bestandteil von Governance: „The role of the governing body is to govern and not to manage the institution. This is the job of the chief executive officer and others appointed by a bord for this purpose“ informiert „The Leadership Foundation for higher Education“ im Internet28. Eine nähere Befassung mit dieser Position ist hier allerdings nicht erforderlich, aber offensichtlich ist das Ganze auch eine Frage der Definition von „Management“ und „Governance“; denn Governance kommt ohne Wahrnehmung von Aufgaben, die in Deutschland unter Führungsmanagement subsumiert werden, nicht aus. Im vergangenen Jahr hat der Präsident einer großen deutschen Universität die Auffassung vertreten, für das (Personal- und Finanz-)Management sei ein Vizepräsident und nicht er zuständig, für sich die herkömmliche Amtsführung reklamiert und sich entschieden gegen modische Änderungen der Leitungsstruktur ausgesprochen. Dieser Standpunkt wird durch „Governance not Management“ nicht abgedeckt, sondern verschließt die Augen vor einer weit fortgeschrittenen notwendigen Veränderung der Universitäts- und Hochschullandschaft, der sich auf Dauer keine Hochschule entziehen kann, wenn sie im nationalen und internationalen Wettbewerb bestehen will.29 IV. Zur Professionalisierung des Leitungspersonals Die neue Leitungsorganisation der Hochschulen erfordert Professionalisierung des Leitungspersonals. Um die Professionalisierung zu befördern, spricht der Wissenschaftsrat sich für eine Erweiterung des Reservoirs geeigneter Kandidaten und Kandidatinnen aus; neben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem eigenen Haus sollten auch solche von anderen Hochschulen und Personen aus anderen Tätigkeitsfeldern in Betracht gezogen werden30. Von einem entstehenden Markt 28
Abgerufen am 8. 03. 2011. Pellert (Fußn. 21, Strategien), S. 44: „Jedenfalls muss man sich von herkömmlichen, traditionellen Leitungsvorstellungen verabschieden, um erfolgreich sein zu können“. 30 Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 75. 29
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für Führungspersonal verspricht er sich einen förderlichen Leistungswettbewerb. Schuldig bleibt der Wissenschaftsrat allerdings eine Antwort auf die wichtige Frage, wie einerseits Wissenschaftler/Wissenschaftlerinnen – sei es von der eigenen, sei es von einer anderen Hochschule, die häufig gewählt werden, obwohl sie zum Zeitpunkt der Wahl nicht über das notwendige Maß an Professionalisierung verfügen, dem Amt angemessen möglichst rasch weitergebildet werden können, und andererseits Personen aus Nichtwissenschaftsbereichen in kurzer Zeit möglichst intensiv mit der Kultur und den „Spielregeln“ wissenschaftlicher Einrichtungen vertraut werden. Hier stellt sich eine Aufgabe der Personalentwicklung im Top-Bereich. Nach der Feststellung, dass „Führungskräfte spezielle Fortbildungs- und Unterstützungsangebote“ benötigen, sprechen Nickel/Ziegele ausdrücklich einen Fortbildungskurs für Hochschulpräsident(inn)en an, der stark auf dem Ansatz des peer learning aufgebaut oder kollegiales coaching sein sollte, „um akzeptiert zu werden“31. Mit letzterer Bemerkung treffen sie präzise das Grundproblem dieses an sich so selbstverständlichen Lösungsvorschlags. Es liegt in der Akzeptanzresistenz der Gewählten. Offensichtlich schätzt ein Teil dieses Personenkreises die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten im Hinblick auf die Anforderungen des Amtes falsch ein, während ein anderer Teil sich zwar richtig eintaxiert, aber meint, Schwächen zu offenbaren, wenn man jetzt, da man auf der Top-Ebene angelangt ist, sich amtsspezifisch fortbildet. Einzelne Anläufe mit ganz konkreten Angeboten hat es sowohl für den Hochschulbereich (Stifterverband) wie für den Bereich der außeruniversitären Forschung (Helmholtz-Gemeinschaft) gegeben, ein nennenswerter oder gar viel versprechender Erfolg war damit aber nicht verbunden, so dass sie eingestellt wurden. Erfolgsversprechender dürfte ein spezifisches Angebot für Vizepräsidenten/ Prorektoren, Dekane/Prodekane und stellvertretendes Leitungspersonal an außerhochschulischen Forschungseinrichtungen sein, zumal das durch die Wahrnehmung des Angebots erworbene Wissen und Können für den Schritt ganz nach oben förderlich ist und, wenn er getan ist, sich erst recht auszahlen wird. In diesem Bereich sind die Hochschulen in Großbritannien der Situation in Deutschland weit voraus. The Leadership Foundation for Higher Education bietet ein „Governor Development Program“ an; es enthält 2010/2011 beispielsweise Angebote wie „Effective Governance: What can we learn from other sectors?“ oder „Governing in a downturn“. Bei der Vorbereitung der „Events“ und „Seminars“ arbeitet die Stiftung eng mit „Key Organisations“ wie „Higher Education Funding Council for England“, „Universities UK“ oder „Natinal Union of Students“ zusammen. Dieses Programm ergänzt die „Days for New Governors, beide Angebote wollen ausdrücklich Gelegenheit zur Netzwerkbildung mit anderen Governors bieten32 Gelegentlich lohnt sich auch national ein Blick in Nachbars Garten. Im Herbst 2010 hat die Deutsche Gesellschaft für Bildungsverwaltung ihre Jahrestagung unter die Überschrift „Bildung und die Anforderungen an Führungspersonal“ gestellt. 31 32
Nickel/Ziegele (Fußn. 4), S. 18. Diese Informationen zu den Stiftungsangeboten im Internet abgerufen am 08. 03. 2011.
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Entsprechend ihrem Selbstverständnis und ihrer Zielsetzung fördert sie den Dialog zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen. So bot sich der Gesellschaft die günstige Situation, das Tagungsthema sowohl für den Schulbereich wie für den Bereich Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen parallel bearbeiten zu können33. Dabei ergab sich die zumindest Nichtfachleute überraschende Erkenntnis, dass bei allen grundsätzlichen Unterschieden manche Fragen, Probleme und Schwierigkeiten hier wie dort ähnlich sind, dass es sich lohnt zuzuhören, wie der jeweils andere Bereich mit den neuen Anforderungen an Führung umgeht und wie er sich um die Gewinnung von möglichst exzellentem Führungspersonal bemüht. Die Hochschulseite sollte schon aufmerksam werden, wenn etwa aus dem Kultusbereich Baden-Württemberg berichtet wird, dass dort zu den Anforderungen an moderne Führungskräftegewinnung frühzeitige schulinterne Personalauswahl, die Förderung von Kandidaten im Vorfeld des Amtsantritts und deren Unterstützung durch Coaching und Begleitung danach gehört. Umgekehrt kann die Schulverwaltung sich im Hochschulbereich informieren, was zur Attraktivität von Leitungspositionen beiträgt. Erst erschreckendes Ausbleiben von qualifizierten Bewerbungen bringt allmählich die Erkenntnis, dass das Interesse an Schulleiterstellen abgesehen von der Vergütungs-/Besoldungsfrage durch Erhöhung des Zeitansatzes für Leitungsaufgaben verbunden mit Deputatsreduzierung und/oder Schulverwaltungsassistenz gesteigert werden muss. Und weil selbst kleine Hochschulen eine Stelle „Verwaltungsleitung“ benötigen, liegt es nahe, für große Schulen nicht nur über Schulassistenz, sondern auch über Verwaltungsassistenz nachzudenken. Angesichts der veränderten Anforderungen an das Führungspersonal in Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen gibt es in Deutschland seit Jahren Bemühungen, ein System „Wissenschaftsmanagement“ aufzubauen. Zum Entwicklungsstand im internationalen Vergleich liegt seit Ende 2009 die – bereits erwähnte – Untersuchung vor, die unter Federführung des CHE in Zusammenarbeit mit dem Centre for Higher Education Policy Studies und dem European Centre for Strategic Management of Universities erarbeitet worden ist und der ein Auftrag des BMBF zugrunde liegt34. Sie stützt sich für Deutschland auf insgesamt drei Erhebungen. Zum einen wurden über 350 Leitungen Staatlicher Hochschulen sowie die Spitzen von weit über 100 außerhochschulischen Forschungseinrichtungen angeschrieben. Außer der Beantwortung des Fragenkatalogs sollten sie zusätzlich Beispiele für good practices in der Karriereförderung benennen. Zum zweiten wurden über 1340 Dekanate an staatlichen Hochschulen um Auskünfte gebeten und drittens wurden Absolventen des MBA- Studiengangs „Hochschul- und Wissenschaftsmanagement“ an der Fachhochschule Osnabrück nach Wirkung und Nutzen ihres Studiums befragt. Den internationalen Vergleichsmaßstab ergab eine Expertenbefragung auf EU-Ebene.
33 34
Ein Tagungsband ist in Vorbereitung. Nickel/Ziegele (Fußn. 4).
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Insgesamt kommt die Studie für Deutschland zu einem ambivalenten Ergebnis. Teilweise seien die deutschen Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen bei der Förderung von Karriere im Wissenschaftsmanagement ausgesprochen konkurrenzfähig, teilweise defizitär. Besonders förderlich für die Förderung von Wissenschaftsmanagement als Beruf sei die erfolgte Stärkung der Leitungsstruktur der Hochschulen und Einrichtungen. In Deutschland habe sich ein sehr umfangreiches und ausdifferenziertes Weiterbildungsangebot für Wissenschaftsmanager etabliert, allerdings weniger in den einzelnen Einrichtungen als bundesweit. Den Hochschulen wird attestiert, mit ihren unterschiedlichen Studienprogrammen zum Wissenschaftsmanagement bezüglich Umfang und Vielfalt an der europäischen Spitze zu liegen. Andererseits fehle es in Deutschland bisher an einer ausreichenden professionellen Identität. Wer zwischen Wissenschaft und Verwaltung tätig sei, sei häufig in keinen der beiden Bereiche integriert. Ausgesprochen hinderlich für Karrieren im Wissenschaftsmanagement sei der Quereinstieg aus der Wissenschaft heraus, der erfolge, weil Wissenschaftsmanager „Stallgeruch“ haben müssten. Auch bestehe die Gefahr einer Überforderung von Wissenschaftsmanagern/-innen, weil sie nicht nur Experten im Wissenschaftsmanagement sein sollten, sondern auch auf Erfahrungen in Lehre und Forschung zurückgreifen können müssten. Ob der Quereinstieg aus dem Wissenschaftsbereich tatsächlich zu den Schwächen in Deutschland zählt, muss bezweifelt werden, zumal die Studie ergibt, dass Tätigkeiten in der Wissenschaft von den Befragten höher eingeschätzt werden als die im Wissenschaftsmanagement. Nur über den Quereinstieg besteht die für die Interessierten unverzichtbare Chance, Wissenschaft als Beruf in Forschung und Lehre für eine vorübergehende Wahrnehmung eines Amtes auf der Top-Leitungsebene dann zu unterbrechen, wenn die Rückkehrmöglichkeit gewährleistet ist. Noch bei einer weiteren der in der Studie aufgelisteten deutschen Schwächen stellt sich die Frage, ob sie tatsächlich – zumindest vorerst – nicht eher eine Stärke ist: Ein fehlender Berufsverband. Es ist jedenfalls nicht zu erkennen, wo er derzeit dringend benötigt würde, um Bedarf abzuhelfen. An Weiterbildungs- und sonstigen Veranstaltungsangeboten fehlt es nicht. Vielmehr wäre zu erwarten, dass er sich in erster Linie auf die mittlere und die Einstiegsebene im Wissenschaftsmanagement bei der Interessenvertretung konzentriert, weil er die Top-Ebene nicht erreicht, in der Verbandsfunktionäre bis auf weiteres kaum erwünscht sein dürften. Alles andere als willkommen könnte sein, wenn durch einen Berufsverband „Wissenschaftsmanagement“ ein noch in der Entwicklung befindliches Berufsbild erstarrt und dadurch der berufliche Ausstieg aus dem Wissenschaftsmanagement, der grundsätzlich neben einer Karriere eine permanente Alternative bleibt, erschwert würde. An den in der Vergleichsstudie aufgeführten good practices35 fällt auf, dass sie überwiegend entweder an den akademischen oder an den administrativen Bereich adressiert sind; Veranstaltungsangebote, die speziell zur Förderung des Wissenschaftsmanagements beide Seiten themenspezifisch zusammenführen, sind in der 35
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Minderzahl und vor allem bei den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen bzw. Forschungsgemeinschaften zu finden. Dies ist auch nicht überraschend, wenn man sich ansieht, von welcher Stelle die Initiative zu karrierefördernden Programmen und Qualifizierungsmaßnahmen für den Nachwuchs ausgeht und welcher Personenkreis damit gefördert werden soll. Die Führungskräfteentwicklung der Universität Bochum zum Beispiel zielt in dreierlei Richtung: Zum einen kümmert sie sich um Dekaninnen und Dekane, zum anderen um neu berufene Professorinnen und Professoren einschließlich der Juniorprofessuren, drittens um die Verwaltung. Das Center for Leadership und People Management der LMU in München dient der Schärfung des Universitätsprofils im Rahmen der Exzellenzinitiative. Der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg geht es um die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses; sie ist die zentrale universitäre Einrichtung zur Förderung von Doktoranden und Postdocs. Gemeinsam an Nachwuchskräfte im Wissenschafts- und im administrativen Bereich richtet sich der als good practice aufgeführte Nachwuchsdialog des DLR. Es handelt sich allerdings nur um eine zweitägige Veranstaltung, die dem Nachwuchs die Chance bietet, mit dem Vorstand auf Tuchfühlung zu kommen und mit ihm Fragen der Forschung im Hause und der Strategie des Hauses zu erörtern. Wesentlich intensiver wendet sich die Helmholtz-Akademie an den Führungsnachwuchs der Helmholtz-Gemeinschaft in Wissenschaft und Verwaltung36. Über die Dauer von zwei Jahren wird unter der Überschrift „Führungsqualitäten für das Management“ Managementwissen zur Förderung von Karrieren im Wissenschaftsmanagement vermittelt. Bereits im Jahr 2008 hat die Gemeinschaft angekündigt, „mittelfristig“ ihre Akademie auch für Teilnehmer aus Universitäten, Wissenschaftsorganisationen und technologie- oder forschungsintensiven Unternehmen zu öffnen, was bisher noch nicht erfolgt ist. Ziel sei es, das Wissenschaftsmanagement in Deutschland insgesamt zu professionalisieren. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel von good practice „Wissenschaftsmanagement“ in den zurückliegenden 10 Jahren liefert der Stifterverband mit seinen jeweils zeitlich befristeten, finanziell unterlegten Anstößen. Sie reichen von der Initiierung eines Wettbewerbs „Modellstudiengänge Wissenschaftsmanagement“ im Jahr 2002 über die Finanzierung eines Stiftungslehrstuhls „Wissenschaftsorganisation, Hochschul- und Wissenschaftsmanagement“ an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und den Wettbewerb „Akademisches Personalmanagement“ bis zur Ausschreibung des Stifterverband-Fellowship in der Zeit von 2007 bis 2010 zur Weiterbildungsförderung von exzellenten Nachwuchskräften in der gesamten Hochschul- und Wissenschaftsverwaltung (einschließlich der Ministerien). Die Stipendien waren an Lehrangebote der Mitglieder der AG Wissenschaftsmanagement gebunden, der drei deutsche und eine österreichische Universität, die Spey36 Zur Talentförderung der Helmholtz-Gemeinschaft Dittmer/Helling-Moegen, Konkurrieren um die besten Köpfe, in: Strategien in Wissenschaftsorganisationen, Bonn 2010, S. 92 ff., zur Helmholtz-Akademie für Führungskräfte S. 97, 98.
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erer Hochschule, eine deutsche Fachhochschule und das Zentrum für Wissenschaftsmanagement e.V. Speyer angehören37. Wie gut die Entwicklung des Wissenschaftsmanagements in Deutschland vorankommt, zeigt sich zum Beispiel, wenn man das aktuelle Weiterbildungsprogramm 2011 des Zentrums für Wissenschaftsmanagement (ZWM)38 zur Hand nimmt. Bei den Zielgruppen sind ausdrücklich neben den Nachwuchsführungskräften und Führungskräften der Hochschulen und außerhochschulischen Forschungseinrichtungen auch Ressortforschungseinrichtungen und Ministerien genannt, neben Wissenschaftsorganisationen auch Wissenschaftsförderorganisationen. Hier ist der Adressatenkreis jetzt sachgerecht groß genug gezogen. Bemerkenswert bei den Zielen und Aufgaben des Zentrums etwa die Förderung der Durchlässigkeit zwischen den „Säulen“ des deutschen Forschungssystems oder das Zusammenführen bis zur Netzwerkbildung der unterschiedlichen Forschungsträger einschließlich der Industrieforschung. Besondere Aufmerksamkeit verdient das Auftauchen der DFG bei den Veranstaltungsangeboten des Zentrums; sie ist „Auftraggeber“ sowohl beim DFGForum „Hochschul- und Wissenschaftsmanagement“ wie bei der „Workshopreihe für Wissenschaftliche Nachwuchskräfte“, Kooperationspartner beim „Lehrgang für WissenschaftsmanagerInnen“. Ein wichtiger Wegbegleiter im Etablierungsprozess des Wissenschaftsmanagements in Deutschland ist das CHE. Sein großes Know How wird permanent nachgefragt. Es bietet seinerseits regelmäßig Fortbildung für das Wissenschaftsmanagement an, im Wintersemester 2010/2011 etwa “Führen im Veränderungsprozess – Beratung, Austausch, Instrumente“, „Strategisches Personalmanagement und diversity an Hochschulen“ oder „Modernes Fakultätsmanagement“, alles auch in der nutzerfreundlichen Form von Inhouse-Workshops. V. Ausblick Wer wie der Verfasser dieses Beitrags die Personalentwicklung und -förderung der deutschen Wissenschaftsorganisation genau kennt, in der Vertreter der Wissenschaft, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und die Politik eng und vertrauensvoll zusammenarbeiten, kann über beeindruckende Karrieren der Referatsleiter und Referatsleiterinnen in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates seit Anfang der 1990er Jahre informieren: Zwei Referatsleiter sind vom Wissenschaftsrat aus an die Spitze von Fachhochschulen berufen worden; zwei Referatsleiter und eine Referatsleiterin sind über weitere berufliche Stationen zu politischen Spitzenämtern als Staatssekretäre im Wissenschaftsbereich in den Ländern Berlin, Niedersachsen und Saarland aufgestiegen; ein 37
Nickel/Ziegele (Fußn. 4), S. 126 ff. Zur Ausbildung im Wissenschaftsmanagement und zu den Ausbildungs- und Weiterbildungsabgeboten des ZWM: Mundi/Zeitler/Zievold/Brückenbauer, Zwischen Wissenschaft und Verwaltung (Fußn. 36, Strategien), S. 102 ff. 38
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Referatsleiter wurde unmittelbar nach seiner Zeit beim Wissenschaftsrat Hauptgeschäftsführer der AiF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen „Otto von Guericke“ ; fünf Referatsleiter sind Generalsekretäre geworden: In direktem Wechsel bei der Hochschulrektorenkonferenz, über eine zusätzliche berufliche Etappe in der Verwaltung der Max Planck-Gesellschaft (MPG) bei der Volkswagenstiftung, über die Helmholtz-Gemeinschaft und ebenfalls die Verwaltung der MPG bei der Alexander von Humboldt-Stiftung, über die beruflichen Stationen Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Referatsleitung in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates (WR), Kanzler der Ludwig Maximilians-Universität München zurück zum WR als dessen Generalsekretär, schließlich vom WR aus beim Medizinischen Fakultätentag Deutschland. Und der Aufstieg zum Leiter „Kompetenzzentrum Wissenschaft“ der Stiftung Mercator GmbH über die Etappen DFG und Referatsleitung Geschäftsstelle WR rundet die eindrucksvolle Bilanz bestens ab. Solchen Berufskarrieren im Wissenschaftsmanagement verdankt die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates den Ruf einer Talentschmiede. Zu einem gewiss nicht geringen Anteil ist das wissenschaftspolitische Aufgabenfeld des Wissenschaftsrates hierfür ursächlich, das zu attraktiven Berufsprofilen beiträgt. In der Geschäftsstelle lernen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zumal auf Referatsleitungsstellen, ihr strategisches Denken zu schulen, ihren Blick für das Machbare im Interessenausgleich zwischen Wissenschaft und Politik zu schärfen, zu üben, Kompromisse zu finden, sich für unverzichtbare Positionen diplomatisch nachdrücklich einzusetzen und zu erfahren, wie hilfreich gutes Sprach- und Formulierungsvermögen sind. Vor allem aber knüpfen sie Kontakte zu exzellenten Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen, zu wichtigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und zu den Spitzen und den Arbeitsebenen der Wissenschaftsministerien von Bund und Ländern. Das Beispiel Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates soll nicht überbewertet werden, aber es macht schon deutlich, welch großartige Karrieren in diesem Feld zwischen Wissenschaft und Verwaltung möglich sind. Gleichzeitig zeigen diese Karriereerfolge, dass eine gute Ausbildung im Wissenschaftsmanagement noch lange nicht den Marshallstab im Tornister bedeutet, also in ihrer Karriere fördernden Wirkung nicht überschätzt werden darf. Sie ist wichtig und nützlich, aber keinesfalls eine Garantie. Sie ist auch kein Sesam-öffne dich dort, wo die „Versäulung“ im deutschen Wissenschaftssystem noch ziemlich hartnäckig Bestand hat. Der eigene Berufsweg des Verfassers führte nach dem Einstieg ins Wissenschaftsmanagement bei der (damaligen) Stiftung Volkswagenwerk nacheinander zu den Kanzlerstellen der (privaten) Rheinischen Fachhochschule Köln, der Medizinischen Hochschule Lübeck und der Universität Mannheim. Der Wechsel von der privaten zur staatlichen Hochschule war mit finanziellen Einbußen verbunden, die hingenommen wurden, um später Kanzler einer angesehenen größeren staatlichen Universität werden zu können. Obwohl inzwischen Jahrzehnte vergangen sind, dürfte gegebenenfalls auch heute ein derartiger „Umweg“ zumal dann noch ratsam sein, wenn er zur eigenen Profilerweiterung genutzt werden kann, weil der direkte Wechsel als Kanzler von einer Fach-
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hochschule zu einer (größeren) Universität nach wie vor höchstens ausnahmsweise gelingt. Trotz dieser partiellen Skepsis entwickelt sich die Professionalisierung des Wissenschaftsmanagements in die richtige Richtung und ist deutlich vorangekommen. Im administrativen Bereich dürften sich für Wissenschaftsmanager schon deshalb Karrierewege früher etablieren, weil hier mehr Stellen mit einer breiteren Stellenbandbreite zur Verfügung stehen. Davon könnte der akademische Bereich profitieren, wenn, wie zu beobachten, Bereiche wie zum Beispiel das Studentensekretariat oder das akademische Auslandsamt, die früher zum Kanzler gehörten, unter Zuordnung zu einer anderen Vizepräsidenten-/Prorektorenstelle samt zugehörigem Personal „abwandern“. Hinter die Erwartung, dass Karrierewege im Wissenschaftsmanagement bis in die Top-Führungsebene hineinführen werden, muss dagegen, jedenfalls für einen überschaubaren Zeitraum, ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Es spricht einiges für die Einschätzung des Wissenschaftsrates, dass auch in Zukunft überwiegend die eigene Professorenschaft der Universitäten deren Leitungspersonal stellen wird39.Um so wichtiger ist es, dass über den Kreis der Vizepräsidenten /Prorektoren, Dekane und durch überzeugende Quereinstiege adäquate Auswahlmöglichkeiten geschaffen werden. Dagegen bieten die wachsenden und immer selbstverständlicheren Kooperationen zwischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen eine gute Voraussetzung dafür, dass trotz des eher skeptischen Befundes der europäischen Vergleichsstudie40 sowohl auf der akademischen wie auf der administrativen Seite der Wechsel von Wissenschaftsmanagern des Hochschulbereichs in den Bereich der außerhochschulischen Forschungseinrichtungen und umgekehrt ziemlich selbstverständlich wird. Seit der Forderung des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2000, neben der Wettbewerbsförderung die Förderung von institutioneller Kooperation als eine zweite strategische Linie zu entwickeln41, hat sich viel getan. Als spektakuläres Vorzeigemodell bietet sich der Zusammenschluss der Universität Karlsruhe mit dem Forschungszentrum Karlsruhe zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an, der zustande kam, nachdem beide Einrichtungen in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder mit einem gemeinsamen Antrag erfolgreich gewesen waren. Allerdings setzen vor allem auf der Einstiegs- und der mittleren Managementebene realistische Karriereerwartungen eine weitaus größere Mobilitätsbereitschaft des Führungsnachwuchses als bisher voraus. Ein positiver Impuls für die Etablierung des Wissenschaftsmanagements im eigenen Hause ist nicht zuletzt von der jeweiligen Führungsmannschaft selbst zu erwarten. Denn wer in eigener Person die Erfahrung macht, wie wichtig Kenntnisse und Fähigkeiten sind, die man sich mühsam im Nachhinein und spät zur dringend erforderlichen Verbesserung der Führungs- und Lei39
Wissenschaftsrat (Fußn. 5), S. 75. Nickel/Ziegele (Fußn. 4), S. 145: Es gebe Hinweise, dass die Durchlässigkeit von Managementkarrieren zwischen Hochschulen und außeruniversitärer Forschung gering sei. Worauf dieser Befund gestützt wird, wird allerdings nicht gesagt. 41 Wissenschaftsrat, Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems, 2000, S. 42. 40
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tungskompetenz aneignen musste, wird die frühzeitige Karriereförderung der Nachwuchskräfte ebenso wie die rechtzeitige Förderung potentieller Nachfolger/Nachfolgerinnen mit anderen Augen als zuvor sehen.
Der Vertragsarzt und die Konkurrenz neuer Versorgungsformen im Spiegel von Schutznormlehre und Regulierungsansatz Von Martin Burgi Wer sich dem Öffentlichen Recht der Sozialwirtschaft mit Blick auf den Arztberuf nähert, stellt unweigerlich fest: Der „Gott in weiß“ ist tot,1 es lebt offenbar der Gesundheitsdienstleister als Teil einer immer weiter verzweigten – Zitat – „Infrastruktur des ambulanten Sektors“,2 als sog. Steuerungsobjekt einerseits und als Konkurrent in planmäßig initiierten, permanent verschärften Wettbewerben andererseits. Hinter einer oftmals technokratisch-emphatischen Rhetorik (die ja auch den Hochschulreformen bisweilen eignet) vollziehen sich im Gesundheitswesen grundlegende Veränderungen. Ihnen möchte ich zu Ehren des ehemaligen Bochumers Wolf-Rüdiger Schenke3 nachgehen, der sich immer wieder mit Konkurrenzschutzfragen befasst hat.4 I. Problemstellung Unser Thema liegt im Anwendungsbereich des SGB V, das die Rechtsverhältnisse der Gesetzlichen Krankenversicherung regelt. Hier kommt es nach Einschätzung von Fachleuten gegenwärtig zu einem „dramatischen Strukturwandel“5 zulasten der niedergelassenen Vertragsärzte.6 Bislang konkurrierten diese primär unter sich, wobei Kriterien wie Fachkompetenz, räumliche Nähe und natürlich Vertrauen maßgeblich waren. Nun sind sie vermehrt mit immer neuen Versorgungsformen konfrontiert, d. h. mit Angeboten, die jeweils durch den Gesetzgeber konzipiert und in den Wettbewerb mit der herkömmlichen Versorgung in den Praxen gestellt werden. Wichtige Beispiele sind die sog. integrierte Versorgung im Medizinischen Versorgungszentrum (dem 1
Dass Ärzte mehr sind als „nur“ Heilkundler steht schon seit längerem fest; vgl. Rixen, in: Wienke/Dierks, Zwischen Hippokrates und Staatsmedizin, 2008, S. 126; Boecken, FS Maurer, 2001, 1091 ff. 2 So der leicht abgewandelte Titel des Beitrags von Schuler-Harms, in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 15. 3 Von 1975 bis 1979. 4 U.a. Schenke, FS Mühl, 1981, 571 ff.; ders., NVwZ 1993, 718; ders., DVBl. 1996, 387; ders., FS Stober, 2008, 221 ff.; ders., FS Schnapp, 2008, 655 ff. sowie ders., in: Kopp/Schenke, VwGO, 16. A. 2009, § 42 Rn. 142 ff. 5 Steinhilper, in: Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 4. A. 2010, § 23 Rn. 83. 6 Zahlen bei kbv.de.
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„MVZ“) und das plötzlich auch ambulant behandelnde Krankenhaus (näher II. 1.). Die Erbringer dieser Angebote sind im Vergleich mit der klassischen Einzelkämpferpraxis typischerweise grösser, organisierter und finanzstärker;7 namentlich die Krankenhäuser können die Investitionskosten teilweise aus dem stationären Bereich abdecken.8 Bleibt nun dem niedergelassenen Arzt allein die Hoffnung darauf, dass alles mit rechten Dingen zugeht oder steht ihm ein subjektiv-öffentliches Recht dahingehend zu, dass jene Anforderungen an die Zulassung neuer Konkurrenten beachtet worden sind? Kann er also Klage gegen die betreffende Zulassungsentscheidung erheben oder greift die Formel, wonach es keinen Schutz gegen unerwünschte Konkurrenz gebe?9 Die hieraus abgeleitete Frage zielt mithin auf die Klagebefugnis (nach sozialgerichtlicher Terminologie die „Anfechtungsberechtigung“) des niedergelassenen Vertragsarztes;10 die hierfür maßgebliche Vorschrift des § 54 Abs. 1 Satz 2 SGG entspricht dem bekannteren § 42 Abs. 2 der VwGO, der außerhalb des Sozialrechts v. a. bei Baunachbarklagen und bei der Konkurrentenklage im Wirtschaftsverwaltungsrecht eine große Rolle spielt. Danach muss „eine Verletzung von Rechten des Klägers durch den angefochtenen Verwaltungsakt als möglich erscheinen“,11 dies ist dann problematisch, wenn der Kläger nicht selbst Adressat der angegriffenen Entscheidung, sondern als sog. Dritter betroffen ist. Genauso liegen die Dinge in dem nachfolgend beispielhaft ausgewählten Fall der Bestimmung eines Krankenhauses zur ambulanten Behandlung näher spezifizierter Erkrankungen gemäß § 116b Abs. 2 SGB V. Diese Bestimmung12 erfolgt unmittelbar gegenüber dem antragstellenden Krankenhaus, und die Vertragsärzte in der betroffenen Region stellen dann regelmäßig fest, dass sie aus der Sicht des Rechts „Dritte“ sind und aus der Sicht von immer mehr Patienten „zweite Wahl“ werden; dies bei bundesweit mehr als 1000 Verfahren.13
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Gut erfasst bei BVerfG, NJW 2005, 273 (274). Näher Steinhilper, GesR 2009, 337 (339 f.). 9 Zu dieser Formel vgl. noch II. 2. 10 Das BSG ist im Kontext der Konkurrentenklage bei der Zulässigkeitsprüfung großzügig und verlagert die Fragestellung in die Begründetheit, unter der Rubrik „Anfechtungsberechtigung“ (eingehend Barth, MedR 2010, 209 ff.); paradigmatisch BSG, MedR 2010, 205 (207). Dies hat die praktische Konsequenz, dass eine Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung zu entfalten vermag (Stollmann, NZS 2009, 248 (250)). 11 Sächsisches LSG, Beschl. v. 03. 06. 2010 – L 1 KR 94/10 B ER = KHR 2010, 91 (94) m.w. N. 12 Die beiden weiteren Voraussetzungen, wonach sich die Entscheidung „im Rahmen der Krankenhausplanung“ des Landes bewegen muss und „eine einvernehmliche Bestimmung zu erfolgen hat“, können hier vernachlässigt werden. 13 Nach Steinhilper, GesR 2009, 337 (339 f.). 8
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II. Konkurrenzschutz im Recht der ambulanten Gesundheitsdienstleistungen 1. Grundmodell und neue Versorgungsformen nach dem SGB V Der Rechtsrahmen für die vertragsärztliche Tätigkeit ergibt sich primär aus dem Privatrecht, aus dem SGB V und aus dem Wirtschaftsverwaltungsrecht. Letzteres erfasst die praktizierenden Ärzte als Angehörige eines freien Berufes, schließt sie in den Ärztekammern zusammen und reglementiert Berufswahl und Berufsausübung, u. a. durch Zugangsregelungen, durch Werbebeschränkungen14 und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Urheber sind zumeist die Landesgesetzgeber und die Ärztekammern, zunehmend kommt es zu Überschneidungen mit dem SGB V,15 vieles ist unabgestimmt.16 Eindeutig scheint nur zu sein, dass die Regelungsintensität zunimmt,17 dies übrigens in augenfälliger Diskrepanz zur Entwicklung in anderen Berufsfeldern. Nach dem SGB V sind die an einem bestimmten Sitz niedergelassenen einzelnen Ärzte18 berechtigt, an der „vertragsärztlichen Versorgung“ teilzunehmen, wenn sie dafür gemäß § 95 eine Zulassung erhalten haben. Zugleich werden sie dann Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung, also einer weiteren Selbstverwaltungskörperschaft. Vermittels dieser Ärzte, den sog. Leistungserbringern, erfüllen die Gesetzlichen Krankenkassen als sog. Leistungsträger die ihnen den Kassenpatienten gegenüber obliegenden Behandlungspflichten19 nach dem sog. Sachleistungsprinzip.20 Herzstück des SGB V sind insoweit daher die Bestimmungen über das Verhältnis zwischen den Krankenkassen und ihren Leistungserbringern (ab § 69 ff.). Die Einzelheiten sind in diesem Grundmodell gemäß § 72 Abs. 2 SGB V in sog. Sicherstellungsverträgen zwischen den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen (d. h. in Kollektivverträgen) geregelt.21 Der einzelne Vertragsarzt sieht sich also wiederum einer Fülle von Reglementierungen ausgesetzt,22 auch betreffend die Vergü-
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Zuletzt BVerwG, NWVBl. 2010, 227 (228). Näher Rixen (Fußn. 1), S.124; Axer, in: Isensee/Kirchhof, HStR IV, 3. A. 2006, § 95 Rn. 27 (mit kompetenzrechtlichen Schlussfolgerungen); konkret zu § 116b: Pitschas, MedR 2008, 473 (478); Beispiel: Kooperationsrestriktionen im Berufsrecht – Kooperationsausbau im SGB V (näher Steinhilper (Fußn. 5), § 31). 16 Diesbezüglicher Appell an die Kammern bei Rixen (Fußn. 1), S.128 ff. 17 Das Gesamtpanorama beschreibt Steinhilper, GesR 2009, 337. 18 Nur um sie geht es hier, hingegen nicht um Ärzte im MVZ nach § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V und auch nicht um die Stellung von sog. ermächtigten Ärzten nach § 95 Abs. 4 SGB V. 19 Vgl. Axer (Fußn. 15), § 95 Rn. 30. 20 Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 5. 21 Gut Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 8. 22 Vgl. Axer (Fußn. 15), § 15 Rn. 28; Steiner, MedR 2003, 1 (4); Preis, MedR 2010, 139. Systematisch: Boecken, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2010, § 17 Rn. 4 ff. 15
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tungen. Der Wettbewerb unter den Vertragsärzten auf der Basis der freien Arztwahl ist ferner durch Bedarfsplanungen und Zulassungsbeschränkungen determiniert.23 Auf dieses Grundmodell treffen nun die neuen Versorgungsformen zur „Weiterentwicklung“24 des Gesundheitssystems.25 Sie sind jeweils durch den Gesetzgeber konzipiert und gezielt in den Wettbewerb26 mit der herkömmlichen vertragsärztlichen Versorgung gestellt worden. Durch diese Schritte in Richtung einer „managed care“ sollen Qualität und Effizienz gleichermaßen gesteigert werden. Teilweise kommt es dadurch zu Überschreitungen der Grenze zwischen dem Krankenhaus und der Praxis als Orte der stationären bzw. der ambulanten Versorgung.27 Die wichtigsten Beispiele28 neben unserem Thema der ambulanten Behandlung im Krankenhaus sind die „hausarztzentrierte Versorgung“ nach § 73b29 und die „integrierte Versorgung“ nach § 140a f. SGB V.30 In beiden Fällen werden bezüglich eines ausgewählten Teils von Leistungserbringern gesonderte Vereinbarungen über die Krankenbehandlung und über deren Vergütung getroffen; jeweils sind bestimmte Zulassungskriterien normiert,31 ferner Regeln über die Form, das Verfahren und die Organisation,32 d. h. die Beteiligten an der Zulassungsentscheidung. Dabei gibt es Anreize sowohl für die Teilnehmer als auch für die Patienten. Der niedergelassene Vertragsarzt, der im gleichen Behandlungssegment tätig ist, steht am Ende staunend vor der Tür des Zentrums, dies bei einem Vergütungsvolumen von 1 Milliarde Euro. 23
Rechtsvergleichend hierzu Becker, in: Das Soziale in der Alterssicherung, DRV-Schriften Bd. 66, 2006, S. 65. 24 So explizit die Überschrift des 3. Kapitels, 10. Abschnitt. 25 Quaas/Zuck, Medizinrecht, 2. A. 2008, § 11; Kingreen, DV 42 (2009), 339 (354 f.); Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 10 ff., 34 f., 70 ff.; Penner, Leistungserbringerwettbewerb in einer sozialen Krankenversicherung, 2010, S. 139 ff. 26 Vgl. Knieps, in: Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2006, § 12 Rn. 56; Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 10. Im Sinne von Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288 (308 ff.), handelt es sich um eine Erscheinungsform von „instrumentellem Wettbewerb“. 27 Näher Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 76 ff. 28 Weitere Beispiele sind thematisiert bei Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 34 (u. a.: Strukturierte Behandlungsprogramme nach §§ 137f und 137g SGB V und Modellvorhaben nach § 63 SGB V; hierzu Huster, in: Becker/Kingreen, Gesetzliche Krankenversicherung, 2. A. 2010, § 63 Rn. 1; vgl. ferner Steinhilper, MedR 2007, 469 (471 ff.). 29 Zur Steigerung der Attraktivität wurde hier zuletzt wieder auf Kollektivverträge zurückgegriffen; Kingreen, DV 42 (2009), 339 (359). Hausärzte, die bei einem Modell der „hausarztzentrierten Versorgung“ teilnehmen, müssen sich verschiedenen Qualitäts- und Strukturvorgaben unterwerfen, dafür erhalten sie eine deutlich erhöhte Vergütung (die gegenwärtig im Streit steht) und die mitwirkenden Patienten müssen zwingend zuerst einen von ihnen aufsuchen, die anderen Hausärzte könnten dadurch Stück für Stück ins Hintertreffen geraten. 30 Vgl. Jung, SGb 2009, 385; Kingreen, DV 42 (2009), 339 (357). 31 Mit wiederum unterschiedlich weiten Entscheidungsspielräumen. 32 Ferner ist sogar die Zuständigkeit der Spruchkörper in der Sozialgerichtsbarkeit betroffen, je nach Zuordnung zum „Krankenversicherungsrecht“ oder zum „Vertragsarztrecht“ (diesbezüglich ist gegenwärtig ein Vorlageersuchen des 3. Senats des BSG [GesR 2010, 415] an den Großen Senat anhängig).
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Damit teilt er das Schicksal derjenigen Kollegen, die künftig mit einem nach § 116 Abs. 2 SGB V zur ambulanten Behandlung bestimmten Krankenhaus konkurrieren, womit wir wieder bei unserem Ausgangsfall sind.33 Die Entscheidung hierüber trifft die Landeskrankenhausbehörde durch Verwaltungsakt,34 beteiligt sind im Vorfeld der Gemeinsame Bundesausschuss35 und die Krankenkassen.36 Die Kriterien für eine positive Entscheidung ergeben sich aus dem Gesetz und lauten: Erbringung von Katalogleistungen, Eignung des Krankenhauses37 und Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation.38 Darauf, ob überhaupt ein Bedarf für die ambulante Behandlung im Krankenhaus besteht, kommt es nicht an.39 Umstritten ist, ob es sich um eine Ermessensentscheidung handelt,40 jedenfalls wird die Rechtsfolge des Vergütungsanspruchs für die erbrachten Leistungen ausgelöst, immerhin nicht zu Lasten des Budgets der niedergelassenen Vertragsärzte.41 2. Klassische, neue und ganz neue Fragen des Konkurrenzschutzes Damit sind wir unmittelbar beim Konkurrenzschutz angelangt, der m. E. in drei Schichten zu entfalten ist. Die erste, gleichsam klassische Schicht befindet sich innerhalb des Grundmodells der vertragsärztlichen Versorgung. Dort konkurrieren die einzelnen Vertragsärzte untereinander um Patienten, und man ist versucht anzunehmen, 33 Dazu Schillhorn, in: Ministerium f. Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW (Hrsg.), Krankenhausrecht: Planung – Finanzierung – Stationäre und Ambulante Versorgung (Düsseldorfer Krankenhausrechtstag 2008), 2008, S. 87 ff.; Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 76 ff.; Steinhilper (Fußn. 5), § 23 Rn. 80; Schuler-Harms, (Fußn. 2), § 15 Rn. 65 f.; zu den Zielen des Gesetzgebers vgl. Pitschas, MedR 2008, 473. 34 Die bis 2007 praktizierte Zulassung über Verträge mit den Kassen wurde aufgegeben (Schrinner, in: Huster/Kaltenborn, Handbuch Krankenhausrecht, 2010, § 6 Rn. 51); vgl. ferner Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 86. 35 Zur Reichweite von dessen Befugnissen und zur gerichtlichen Überprüfbarkeit auf Klage der KBV vgl. BSG, GesR 2010, 376. 36 Von Bundesrechts wegen weder die Vertragsärzte noch die Kassenärztlichen Vereinigungen (Stollmann, in: Huster/Kaltenborn [Fußn. 34] § 4 Rn. 119). Pitschas, MedR 2008, 473 (477), hält die Beteiligung aus Gründen der Beurteilungsfähigkeit der „Versorgungssituation“ für unverzichtbar, ebenso Schroeder, NZS 2010, 437 (441). 37 Gemäß § 116b Abs. 3 Satz 2 gelten die Anforderungen an die vertragsärztliche Versorgung entsprechend (zum Ganzen Schroeder, NZS 2010, 437 [439]). 38 Laut Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 85, der Gesamtsituation, nicht der des einzelnen Arztes. Sehr sorgfältig zu den hier relevanten Abwägungsgesichtspunkten, die bis auf die einzelne Praxis hinabreichen Schroeder, NZS 2010, 437 (441 f.). 39 Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 83 f. 40 Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 87, befürwortet einen Anspruch; Stollmann (Fußn. 36), § 4 Rn. 109, plädiert für die Eröffnung von Ermessen, ebenso Schroeder, NZS 2010, 437 (443) (wegen der Abwägungsnotwendigkeit und der Option zur Einigung). Auch das SächsLSG, KHR 2010, 91 (98 f.), ist für die Anerkennung eines Entscheidungsspielraums, weil nur so die „Berücksichtigungspflicht“ abgearbeitet werden könne. 41 Wie sich aus § 116b Abs. 5 SGB V ergibt; näher Stollmann (Fußn. 36), § 4 Rn. 116.
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dass sie ebenso wie die Berufsträger in anderen Wirtschaftszweigen „keinen Schutz vor Konkurrenz“ genießen, weil das Grundgesetz keinen Rechtsanspruch auf die „Sicherung einer wirtschaftlich ungefährdeten Tätigkeit“ kennt.42 Dementsprechend hatte das BSG lange Zeit Konkurrentenklagen auch nur in Willkürfällen für zulässig erachtet.43 Dann aber qualifizierte das BVerfG mit Beschluss vom 17. 8. 2004 das System staatlicher Planungs- und Vergütungsmaßnahmen des SGB V als Eingriff in das Berufsgrundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG. Am Anfang der einzelnen Zulassungs- und Verteilungsmaßnahmen stehe eine Verknappungsentscheidung des Gesetzgebers, weswegen sich jene nachfolgenden hoheitlichen Maßnahmen als Perpetuierungen einer grundrechtlichen Eingriffswirkung zulasten der in das System eingebundenen Leistungserbringer darstellten.44 Daraus folge die Befugnis des einzelnen Vertragsarztes, die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für jene Einzelmaßnahmen „zur gerichtlichen Überprüfung“45 zu stellen; die sog. defensive, da rein abwehrende Konkurrentenklage ist damit grundsätzlich eröffnet.46 Das BSG hat dies in der Folgezeit in mehreren Entscheidungen konkretisiert und eine spezifisch sozialrechtliche Dogmatik der Drittanfechtung entwickelt, auf die zurückzukommen ist (II 3). Von diesen Konkurrenzsituationen zu unterscheiden ist die zweite Schicht, die sich innerhalb der neuen Versorgungsformen befindet. Dabei streiten verschiedene Hausärzte oder mehrere Zentren der Integrierten Versorgung oder eben mehrere Krankenhäuser darum, in die neu eröffnete Versorgungsform aufgenommen zu werden. Es liegt also ein Verteilungskampf innerhalb des zweiten, des neuen Versorgungsregimes vor. Dieses wird als solches von den Aspiranten akzeptiert und sie wollen daran teilhaben, ähnlich wie die Bewerber um einen öffentlichen Auftrag. Ganz folgerichtig wird für diese Fälle gegenwärtig intensiv um die Anwendbarkeit des Vergaberechts gerungen.47 Liegen dessen Anwendungsvoraussetzungen vor,48 kann auf diesem Wege Rechtsschutz gewährt werden, andernfalls ist der Weg des sozialgerichtlichen Normalverfahrens zu beschreiten (so im Fall des § 116b SGB V, wo ja kein Vertrag, sondern ein Verwaltungsakt in Frage steht).49 Im Grundsatz unstreitig ist aber, dass in
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BVerfG, MedR 2004, 680 (681) m.w.N. BSGE 105, 10 (21). 44 BVerfG, MedR 2004, 680 (681); dies im Anschluss an BVerfGE 82, 209 (223 ff.); bestätigt in BVerfG, NVwZ 2009, 977 (zur Krankenhausplanung, dazu m.w.N. Burgi, NVwZ 2010, 601 [602 f.]). Ob dies nun abwehrrechtlich oder (qualifiziert-) teilhaberechtlich zu verorten ist (dazu Wollenschläger, Verteilungsverfahren, 2010, S. 510 f.), kann hier offen bleiben. 45 BVerfG, MedR 2004, 680 (682). 46 Zum Begriff zuletzt Klöck, NZS 2010, 358 (359). 47 Gesamtüberblick bei Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 86. 48 Vgl. für den Bereich der hausarztzentrierten Versorgung Weiner, GesR 2010, 237; Huster (Fußn. 28), § 73b Rn. 18; Stolz/Kraus, MedR 2010, 86, und für den Bereich der integrierten Versorgung Jung, SGb 2009, 385 (388 f.); Baumeister/Struß, NZS 2010, 247. 49 Steinhilper (Fußn. 5), § 23 Rn. 82. Pitschas, MedR 2008, 473 (481), fordert hier die Beachtung vergaberechtlicher Prinzipien, v. a. Transparenz. 43
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diesem Bereich Verteilungsgerechtigkeit per Konkurrentenklage durchgesetzt werden kann. Die uns interessierenden Fälle sind schließlich in einer dritten Schicht angesiedelt. Sie bewegen sich weder innerhalb des Grundmodells noch innerhalb einer der neuen Versorgungsformen. Hier geht es vielmehr um den Schutz derer, die extern bleiben wollen,50 die aber Beeinträchtigungen durch einen Wettbewerb erleiden, der gar nicht als Wettbewerb der Akteure, sondern als Wettbewerb der Formen konzipiert ist. Sie sind die im Dunkeln, die man in der strahlenden Welt der „managed care“ leicht übersieht. Können sie mit der defensiven Konkurrentenklage die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für die Zulassung der jeweiligen neuen Versorgungsform geltend machen (im Fall des § 116b Abs. 2 durch Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt zugunsten des dann ambulant behandelnden Krankenhauses)? 3. Stand der Rechtsprechung Das BSG hat sich bislang noch nicht mit Fällen aus der dritten Schicht befasst, dafür aber wiederholt mit Konkurrentenklagen innerhalb des Grundmodells der vertragärztlichen Versorgung, also der ersten Schicht. Dabei musste es der soeben geschilderten Grundsatzentscheidung des BVerfG zu den grundrechtlichen Hintergründen Rechnung tragen. Das BSG tut dies seit 2007 mit einem einfachrechtlichen Ansatz und getragen von dem Bemühen, die defensive Konkurrentenklage nicht generell und unbegrenzt zuzulassen.51 Es hat hierzu ein Drei-Punkte-Schema52 entwickelt und in der Folgezeit konsequent angewendet.53 Danach setzt die Drittanfechtung voraus, dass (1) Kläger und Konkurrent im selben räumlichen Bereich dieselben Leistungen anbieten, dass (2) beiden die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung eröffnet wird, dass es also um ihren Status und nicht nur um einzelne Leistungsbereiche geht und dass (3) der hierdurch dem neuen Konkurrenten vermittelte Status gegenüber dem des Anfechtenden nachrangig ist. Dies sei nur der Fall, wenn der Status des Neuen nach der jeweils maßgeblichen Vorschrift (der potenziellen Schutznorm) nur bei einem entsprechenden Versorgungsbedarf eingeräumt werden kann; in diesen Fällen geht es um den Vorrang zugunsten der vorhandenen Vertragsärzte, ihn könnten sie per Konkurrentenklage verteidigen.54 Grundrechtliche Überlegungen oder analytische Betrachtungen zum veränderten Gesamtrahmen des Vertragsarztrechts stellt das Ge50
Daher greift der vergaberechtliche Schutzmechanismus nicht. BSGE 98, 98 (105 ff.); Barth, MedR 2010, 205 (209); Klöck, NZS 2010, 358 (362), spricht von „Konturierung“. 52 Die Entwicklung wird geschildert bei Düring, FS Schnapp, 389 (391 ff.); Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 16 Rn. 405; Barth, MedR 2010, 205 (206). 53 Klage gegen Dialysegenehmigung (BSGE 98, 98, im Ergebnis keine Anfechtungsberechtigung); Klage gegen Ermächtigung eines Krankenhausarztes (BSGE 99, 145; erfolgreich); Klage gegen Sonderbedarfszulassung (BSGE 103, 269; erfolgreich); Klage gegen Zweigpraxis (BSGE 105, 10; kein Erfolg). 54 Stollmann (Fußn. 36), § 4 Rn. 117; vgl. ferner LSG Hamburg, GesR 2008, 212 (214). 51
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richt nicht an. Wendet man sein Schema auf unseren Fall der dritten Schicht, also auf die Klage gegen die Zulassung eines Krankenhauses nach § 116b Abs. 2 SGB V an, dann dürfte eine solche Klage scheitern,55 weil die Voraussetzungen zu (2) und (3) nicht erfüllt sind: Weder bekommt das konkurrierende Krankenhaus einen Vertragsarztsitz nebst Vergütung, noch ist in § 116b Abs. 2 SGB V eine Bedarfsprüfung zugunsten der vorhandenen Vertragsärzte vorgesehen. Umso überraschender ist es daher, dass das Sächsische Landessozialgericht am 3. Juni 2010 unter Bestätigung einer erstinstanzlichen Eilentscheidung des SG Dresden56 die defensive Konkurrentenklage im Falle des § 116b Abs. 2 SGB V für statthaft erklärte.57 Dies geschah zugunsten eines Facharztes mit Schwerpunkt „Gynäkologische Onkologie“, der einen Rückgang seiner Patientinnenzahl und folglich seiner Umsätze und Gewinne auf nur noch ein Viertel seit der Zulassung des benachbarten58 Krankenhauses zur ambulanten Behandlung belegen konnte. Dabei räumen beide Gerichte ein, dass die vom BSG aufgestellten Anfechtungsvoraussetzungen nicht vorliegen.59 Sie entnehmen aber der in § 116b Abs. 2 SGB V statuierten Pflicht zur „Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation“ eine Art Rücksichtnahmegebot gegenüber den einzelnen niedergelassenen Vertragsärzten und qualifizieren diese Norm damit als Schutznorm zu deren Gunsten. Das LSG geht hierbei den Weg der rein einfachgesetzlichen Auslegung60 und erachtet die Judikatur des BSG als insofern nicht abschließend, das SG Dresden hingegen stellt das Grundrecht der Berufsfreiheit in den Mittelpunkt und hält eine verfassungskonforme Auslegung des § 116b Abs. 2 SGB V für geboten,61 was das LSG wiederum ausdrücklich verwirft. Es nimmt nicht Wunder, dass das Ergebnis wie die teilweise divergierenden Begründungen sofort Kritiker und Verteidiger der restriktiven BSG-Linie auf den Plan gerufen haben.62
55 Dies prognostiziert auch Stollmann, NZS 2009, 248 (250 ff.): Keine Bedarfsprüfung, daher nach BSG kein Drittschutz; ferner werde jeweils ein eigener Rechtskreis begründet, da die Zulassung nach § 116b außerhalb der vertragsärztlichen Zulassungs- und Vergütungssystematik bleibe; es sei nur die „Situation“ zu berücksichtigen. Den Drittschutz fordernd: Steinhilper, MedR 2007, 469 (472). 56 SG Dresden, Beschl. v. 29. 09. 2009 – S 11 KA 114/09 ER = KHR 2009, 200; Sächsisches LSG, Beschl. v. 03. 06. 2010 – L 1 KR 94/10 B ER = KHR 2010, 91. 57 Die jeweiligen Antragsteller waren auch in der Begründetheitsprüfung erfolgreich, weil aufgrund der Verkennung des Merkmals „Berücksichtigung der vertragsärztlichen Versorgungssituation“ keine rechtmäßige Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte erfolgt sei (SG Dresden, KHR 2009, 200 [206 f.]; SächsLSG, KHR 2010, 91 [99 ff.]). 58 Das sich in einer Entfernung von 7 km befindet. 59 Namentlich die Voraussetzung zu (3); so SG Dresden, KHR 2009, 200 (203 f.); SächsLSG, KHR 2010, 91 (94 ff.). 60 SächsLSG, KHR 2010, 91 (96 ff.). 61 SG Dresden, KHR 2009, 200 (204 f.); dagegen SächsLSG, KHR 2010, 91 (95). 62 Diese Rechtsprechung ablehnend Klöck, NZS 2010, 358 (362 f.), weil keine einfachgesetzliche Norm vorhanden sei; ähnlich Quaas, f&w 2010, 412 (416).
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III. Der größere Analyserahmen 1. Stärkere Wettbewerbsorientierung Die Einführung der neuen Versorgungsformen ist Ausdruck einer stärker wettbewerbsorientierten Sichtweise im Sozialrecht. Neben dem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen soll der Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern als Instrument zur künftigen Sicherung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung beitragen.63 Das Reformgesetz 2007 trägt bezeichnenderweise den Titel „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz“64 und es will, wie weitere Gesetze vor und nach ihm, die Effizienz steigern, die Qualität verbessern und zugleich die bezahlbare Versorgung der Versicherten gewährleisten. Dies geschieht freilich nicht mit einem primär oder gar rein wettbewerblichen Ansatz, sondern mit einer Art Mix der Steuerungsinstrumente. Deshalb und wegen des Gefährdungspotenzials eines ungezügelten Wettbewerbs gerade in einem so gemeinwohlintensiven Bereich hat der Ausbau wettbewerblicher Elemente zu dem bereits diagnostizierten Zuwachs an Reglementierung und Rechtsunsicherheit geführt. So sind konkret die herkömmlichen Kollektivverträge (zwischen den Verbänden der Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen) durch sog. Selektivverträge65 zwischen einzelnen Krankenkassen und einzelnen Leistungserbringern nicht abgelöst, sondern ergänzt worden und deshalb agieren die Krankenkassen seither in wechselnden Rollen als Behörden und Unternehmen.66 2. Sozialrecht als Regulierungsrecht? Es liegt auf der Hand, dass so grundlegende Veränderungen auch Auswirkungen auf die Beschäftigung mit der einschlägigen Rechtsmaterie haben. Schon immer lag das Sozialrecht im Schnittfeld von Privatrecht und Öffentlichen Recht und seit jeher gibt es im Recht der Leistungserbringer, konkret der Ärzte, die bereits beschriebenen Bezüge zum Wirtschaftsverwaltungsrecht. Neu hinzu gekommen sind das Kartellund das Vergaberecht (auf die § 69 Abs. 2 SGB V verweist) sowie unter bestimmten Umständen das europäische Beihilfenrecht.67 Aus der Sicht der Rechtswissenschaft ist das Sozialrecht dadurch zu einem bevorzugten Referenzgebiet des Allgemeinen Verwaltungsrechts geworden.68 Dies ermöglicht die Analyse von Querverbindungen,
63 Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 Rn. 6 ff.; dies betrifft die Nachfrageseite (Becker [Fußn. 23], 76 f.; weiterführend Penner [Fußn. 25], S. 227 ff.); zu anderen Wettbewerbsverhältnissen, u. a. den Kassenwettbewerb Becker (Fußn. 23), 65 f. 64 GKV-WSG vom 26. 3. 2007, BGBl. I S. 378. 65 Wollenschläger (Fußn. 44), S. 523. 66 Vgl. hier nur Kingreen, DV 42 (2009), 339 (359); Becker/Kingreen, NZS 2010, 417. 67 Denkbar ist ein Vorgehen von Vertragsärzten gegen eine angeblich in Gestalt der sog. Quersubventionierung erfolgten Beihilfe (wenn das MVZ des Krankenhauses auf KHG-gefördertes Gerät zurückgreifen kann); Klöck, NZS 2010, 358 (364) m.w.N. 68 Näher beschrieben bei Kingreen/Rixen, DÖV 2008, 741.
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Gemeinsamkeiten wie Unterschieden und es eröffnet den Blick auf Deutungsansätze und Problemlösungen. Deren Übernahme erfordert allerdings jeweils eine kritisch-unaufgeregte Prüfung. Daher überzeugt die teilweise proklamierte69 Zuordnung der Gesundheitsversorgung zum Regulierungsrecht im gegenwärtigen Stadium70 nicht. Dieses ist entstanden aus Anlass der Überführung der Netzwirtschaften (v. a. Energie und Telekommunikation)71 in den Wettbewerb und es wird dort kraftvoll entfaltet. Begrifflich72 und inhaltlich73 ist vieles im Fluss, die Schaffung eines allgemeinen Regulierungsgesetzes liegt noch in der Ferne.74 Die Einbeziehung der Gesundheitswirtschaft würde jene Arbeiten erschweren. Zudem erscheinen die Unterschiede allzu groß: Andere Realbedingungen, der Wettbewerb ist hier nur das Instrument, nicht das Primärziel, der Status der Versicherten weicht von dem der Verbraucher ab und im Spielfeld der regulierenden Akteure tummeln sich gleich mehrere Einheiten deutlich anderen Typs als die in den Netzwirtschaften dominierende Bundesnetzagentur. IV. Anwendung der Schutznormlehre 1. Entwicklungsstand Ob ein subjektives öffentliches Recht zugunsten der einzelnen Vertragsärzte besteht, ist somit eine ganz klassische juristische Frage. Nach der allgemein anerkann-
69 Konkret durch Schuler-Harms (Fußn. 2), § 15 und zwar besonders prominent durch die Aufnahme als eigenes Kapitel in ein Buch, das das „Regulierungsrecht“ als Rechtsgebiet gerade entfalten und weiterentwickeln möchte (kritisch zu diesem Vorhaben wegen fehlender Tragfähigkeit des Regulierungsansatzes schon im engeren Bereich, und erst recht zu seiner Übertragbarkeit Laubinger, VBlBW 2010, 306); Röhl, JZ 2006, 831 (833), hält die Einbeziehung des Gesundheitssektors für überlegenswert, Becker (Fußn. 23), 78 lehnt sie ab. Später spricht er zusammen mit Kingreen von der Notwendigkeit eines „Gesundheitsregulierungsrechts“ ([Fußn. 66], 423), verwendet hier aber wohl einen unspezifischeren Regulierungsbegriff; optimistischer wiederum Rixen (Fußn. 1), 131 f. 70 Aus rechtspolitischer Perspektive und mit primärem Blick auf den Arzneimittelmarkt aber Koenig/Schreiber, GesR 2010, 127. 71 Statt vieler Frenzel, JA 2008, 368; Kühling, DVBl. 2010, 205. 72 Eifert, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 19 Rn. 1; Ruffert, in: Fehling/Ruffert (Fußn. 2), § 7. 73 Konkret die Entfaltung subjektiver Rechte ist noch entwicklungsfähig (vgl. bereits Burgi, DVBl. 2006, 269), da der Regulierungsansatz doch primär aus der Steuerungsperspektive entwickelt wurde, die die einzelnen Betroffenen eher als Steuerungsobjekte, denn als Träger individueller Rechte wahrnimmt (grundlegend kritisch daher Rixen, DV 42 [2009], 309 [333]). Es ist deshalb auch kein Zufall, dass Schuler-Harms ([Fußn. 2], § 15 Rn. 184) den Konkurrenzschutz in der dritten Schicht (oben II 2) ablehnt. 74 Aus der diesbezüglichen Diskussion Masing, Gutachten D für den 66. DJT, 2006; Burgi, NJW 2006, 2439 (2440 f.); zuletzt Jope, VR 2009, 397 (402) zur europäischen Ebene; Laubinger, VBlBW 2010, 306 (310).
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ten, immer wieder klug weiterentwickelten sog. Schutznormlehre75 hängt die Anerkennung der Klagebefugnis davon ab, ob Normen in Frage stehen, die nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt sind und dem Träger des Individualinteresses die Rechtsmacht einräumen, von den Normverpflichteten (hier: den Landesbehörden) die Einhaltung des Rechtssatzes (hier: des § 116b Abs. 2 SGB V) verlangen zu können.76 Heute ist diese Lehre eigentlich ein Kanon von Methoden und Regeln,77 mit dem der subjektivrechtliche Gehalt von Rechtssätzen vor allem anhand der systematischen und der teleologischen Auslegung78 erschlossen werden kann. Dabei wird die Ausstrahlungswirkung79 der Grundrechte ebenso selbstverständlich einbezogen wie die Vorgaben und Impulse des Unionsrechts80 umzusetzen bzw. zu berücksichtigen sind. Dies erfordert regelmäßig die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen normativen und tatsächlichen Kontext. 2. Zur Anfechtungsberechtigung der Vertragsärzte Die nach der Schutznormlehre gebotene systematisch-teleologische Auslegung führt vom Text des § 116b Abs. 2 SGB V zu dessen Standort innerhalb des Leistungserbringungsrechts. Als eine von mehreren Versorgungsformen tritt die ambulante Behandlung im Krankenhaus dabei neben das Grundmodell der vertragsärztlichen Versorgung und bildet so eine Folgeentscheidung innerhalb des bereits durch Planungsund Verteilungsmechanismen geprägten GKV-Systems. Auf der Linie der BVerfGEntscheidung aus August 2004 ist damit grundsätzlich der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG81 in Gestalt der Berufsausübungsfreiheit eröffnet.82 Nun bezog sich dieser Beschluss (wie bereits geschildert) auf Wettbewerbsbeeinträchtigungen durch Einzelakt im Konkurrenzverhältnis der ersten Schicht, d. h. zwischen den einzelnen Vertragsärzten. Richtigerweise muss aber der darin angelegte Gedankengang 75 Zuletzt Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2009, § 50 Rn. 138; Groß, DV 43 (2010), 349 (352), Schenke, in: Kopp/ Schenke (Fußn. 4), § 42 Rn. 83 ff. 76 Schoch (Fußn. 75), Rn. 135; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1234). 77 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Feb. 2003, Art. 19 IV Rn. 128. 78 Groß, DV 43 (2010), 349 (353 f.). 79 Differenziert nach norminternen wie normexternen Wirkungen; näher Schenke, in: Kopp/ Schenke (Fußn. 4), § 42 Rn. 117 ff. 80 Gute Zusammenfassung bei Schoch (Fußn. 75), Rn. 152 ff.; zuletzt Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233 (1234); Schenke, in: Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 42 Rn. 149 ff. 81 BVerfG, MedR 2004, 680 (681); vertiefend Pitschas, MedR 2008, 473 (480), der in Art. 12 ferner die Basis des Wettbewerbsschutzes erblickt. 82 Es handle sich bei der Vertragsarzttätigkeit nicht um einen eigenständigen Beruf (näher Boecken [Fußn. 22], Rn. 18), das BVerfG wendet aber bei Zulassungsentscheidungen die für Berufswahlentscheidungen entwickelten Anforderungen entsprechend an (vgl. BVerfGE 11, 44 f.), während es in MedR 2004, 680, mit den Rechtfertigungsgründen der sog. 1. Stufe (Berufsausübungsregelungen) argumentiert.
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in Anbetracht von Einzelentscheidungen in Anwendung des veränderten, nunmehr zusätzlich wettbewerblich orientierten Rahmens, fortgesetzt werden.83 Denn weil die neuen Versorgungsformen gezielt in einen Wettbewerb mit dem Grundmodell der vertragsärztlichen Versorgung gestellt worden sind,84 muss die Anwendung der Regeln über jenen Wettbewerb rechtfertigungspflichtig sein, zumal angesichts der doch sehr unterschiedlichen Wettbewerbschancen konkret zwischen Krankenhäusern und einzelnen Vertragsärzten.85 Diese befinden sich weiterhin nicht in einem gleichsam natürlichen Wettbewerb, sondern sie sind Grundrechtsbetroffene innerhalb eines künstlichen, aus politischen Gründen geschaffenen Wettbewerbssystems. Anders gesagt: Wer den Wettbewerb als Steuerungsinstrument einsetzt, muss mit der Wettbewerbsfreiheit und deren Schutz als Konsequenzen leben können. Dabei ist die Schaffung jenes Wettbewerbssystems, d. h. die Einführung der neuen Versorgungsformen, als solche m. E. verfassungsrechtlich gerechtfertigt, und zwar aufgrund der zusätzlichen Behandlungsqualität und der zu erwartenden Synergieeffekte.86 Allerdings würde die unbegrenzte Eröffnung87 immer neuer Sonderformen zu einem verfassungsrechtlichen Problem werden, und zwar bei der Rechtfertigung der vertragsärztlichen Bedarfsplanung.88 Bislang können die mit dieser verbundenen Grundrechtseingriffe noch mit dem Ziel der Sicherung der finanziellen Stabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung begründet werden. Kommen nun immer neue zusätzliche Vergütungstöpfe hinzu, wie hier zugunsten der Krankenhäuser, kann dieser Rechtfertigungspfad eines Tages zur Sackgasse werden. Auch aus diesem Grunde ist es notwendig, dass die Anwendung der relevanten Vorschriften im Wege der defensiven Konkurrentenklage überprüfbar ist. Die fast schon demonstrative Missachtung der grundrechtlichen Dimension durch die Konkurrenzschutz-Rechtsprechung des BSG führt daher nicht weiter. Vielmehr ist der Ausstrahlungswirkung des Berufsfreiheitsgrundrechts im reformierten GKV-Wettbewerbssystem Rechnung zu tragen. Dies kann „normintern“ geschehen über das Tatbestandsmerkmal „Berücksichtigung der vertragsärztlichen Situation“ 83 In BVerfG, MedR 2004, 680 (681), heißt es: „wenn … Einzelakte im Zusammenhang mit staatlicher Planung stehen“; ähnlich Pitschas, MedR 2008, 473 (480). 84 Düring, FS Schnapp, 389 (398), spricht von „Parallelmarkt“. 85 In diese Richtung bereits BVerfG, MedR 2004, 680 (681). 86 Steinhilper (Fußn. 5), § 23 Rn. 24; Quaas/Zuck (Fußn. 25), 82. Pitschas, MedR 2008, 473 (480), hält den Grundrechtseingriff für gerechtfertigt, nicht zuletzt deshalb, weil es die Konkurrentenklage gibt (geben müsse). BVerfG, MedR 2008, 610, hat sich hierzu nicht geäußert, sondern die Verfassungsbeschwerdebefugnis und das Erfordernis der Rechtswegeröffnung verneint. 87 Konkret bei § 116b Abs. 2 SGB V ist eine weitere Ausdehnung vorgesehen (Quaas/Zuck [Fußn. 25] § 15 Rn. 80). 88 Argument nach Wenner, GesR 2007, 337 (342); Quaas/Zuck (Fußn. 25), § 15 Rn. 82; Düring, FS Schnapp, 389 (398); Grund: Die Rechtfertigungsanforderung „Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV“ entfiele dann.
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in § 116 Abs. 2 Satz 1 SGB,89 auch wenn dies nicht der politischen Absicht des Gesetzgebers entsprochen haben mag. V. Bilanz Erstens konnten verschiedene dogmatische Herausforderungen im Überschneidungsbereich von Sozialrecht und Wirtschaftsverwaltungsrecht identifiziert und konkretisiert werden. Dabei erwies sich der größere Rahmen des „Öffentlichen Rechts“ als Plattform und Klammer eines rechtswissenschaftlichen Zugriffs,90 der ganz im Sinne des Jubilars mehr bedeutet als introvertierte Norminterpretation.91 Zweitens war daher die Ausgangsfrage zugunsten der defensiven Konkurrentenklage zu beantworten. Der damit verbundene Machtzuwachs zugunsten der Vertragsärzte dürfte einen Schub für mehr Kooperationen mit den Krankenhäusern auslösen.92 Lediglich aufgeworfen werden seien (drittens) mehrere Anschlussfragen. Sie betreffen die Zuordnung von Organisations-93 und Verfahrensregeln (etwa über die Notwendigkeit zur Beteiligung der Vertragsärzte),94 die Strukturierung der Begründetheitsprüfung95 und schließlich die Sinnhaftigkeit von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen.
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Ebenso Pitschas, MedR 2008, 473 (481). Wollenschläger (Fußn. 44), S. 19. 91 Kingreen, DV 42 (2009), 339 (373 f.). 92 Steinhilper, GesR 2009, 337 (339); Müller, KHR 2010, 73 (80). 93 Kingreen, DV 42 (2009), 339 (348 ff.). 94 Die Beteiligung der Vertragsärzte fordert Pitschas, MedR 2008, 473 (481); die Beteiligung der KV lehnen ab: Kuhla/Bedau, in: Sodan (Fußn. 22), § 25 Rn. 168; das „Einvernehmen“ sei zwar anzustreben, aber nicht Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit; so auch SG Hannover, KH 2009, 348. 95 Vgl. hier nur Pitschas, MedR 2008, 473 (481). 90
Die Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Wiederaufnahmegrund nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO Von Hans-Joachim Cremer Spontan und begeistert habe ich den Herausgebern dieser Festschrift zu Ehren von Wolf-Rüdiger Schenke zugesagt, einen Beitrag zu schreiben. Gern erinnere ich mich nämlich daran, mit welcher Freundlichkeit und Offenheit ich im Jahr 2000, frisch an die Universität Mannheim berufen, von den Kollegen der Mannheimer Fakultät für Rechtswissenschaft aufgenommen wurde. Zu diesen Kollegen zählte zu meiner großen Freude auch Wolf-Rüdiger Schenke, dessen Werk, wie ich schon damals wusste, das Öffentliche Recht in großer Bandbreite abdeckt. Dies schlug – und schlägt ¢ sich auch in der Lehre nieder. Aufrichtig bot Wolf-Rüdiger Schenke mir, dem erst kürzlich habilitierten jüngeren Kollegen, an, wenn ich wollte, auch einmal Vorlesungen zu übernehmen, die er bisher gehalten habe. Dies hat mich stets gereizt – gerade mit Blick auf das Verwaltungsprozessrecht. Es ließ sich jedoch nur insoweit realisieren, als ich mehrere Jahre lang den Examenskurs im Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht gehalten habe. Darin habe ich auf meine Weise versucht, den Ansatz des Jubilars zu verfolgen, den Studierenden ein prinzipiengeleitetes, systematisches Verständnis des Rechts und strukturelles Wissen zu vermitteln. Ich selbst habe während meines Studiums, das ich von 1981 bis 1986 an der Universität Mannheim absolvierte, in den Lehrveranstaltungen, die Wolf-Rüdiger Schenke hielt, vieles von dem gelernt, was mich noch heute als Rechtswissenschaftler prägt. Dafür, dass ich ihn in zwei Rollen, als Hochschullehrer und als Kollegen, habe erleben dürfen, bin ich sehr dankbar. Mein Beitrag versucht, einen Bereich zu beleuchten, der im Schnittfeld der Interessensgebiete des Jubilars und eines meiner eigenen Forschungsfelder liegt. I. Spürbare Relevanz der EMRK für das deutsche Recht Spätestens der Görgülü-Fall1 hat in Deutschland das Bewusstsein für die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschärft: Stellt der Eu1 s. BVerfGE 111, 309 – Görgülü. s. zu dieser Entscheidung auch: Breuer, NVwZ 2005, 412; Buschle, VBlBW 2005, 293 ff.; Cremer, EuGRZ 2004, 683 ff.; Esser, StV 205, 348 ff.;
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ropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die Bundesrepublik Deutschland die EMRK oder eines ihrer Protokolle verletzt hat (vgl. Art. 41 EMRK), so erzeugt dies völkerrechtliche Pflichten der Bundesrepublik. Denn nach Art. 46 Abs. 1 EMRK hat der beklagte Staat das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen. Diese Befolgung erfordert in aller Regel, dass das interne Recht auf die Feststellung einer Verletzung „reagiert“.2 Im Bereich des Strafrechts ist dies gegenwärtig spürbar angesichts der Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland in mehreren Fällen der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung nach § 67d Abs. 3 StGB.3 Die „Verurteilung“ durch den EGMR hat teils dazu geführt, dass betroffene Straftäter, die ihre Haftstrafe verbüßt hatten und im Anschluss daran länger als zehn Jahre in Sicherungsverwahrung gehalten worden waren, freigelassen wurden.4 Der Görgülü-Fall betraf den von deutschen Zivilgerichten entschiedenen Streit um das Umgangs- und Sorgerecht für ein Kind, der nach dem Urteil gegen Deutschland einer EMRK-konformen Lösung zugeführt werden musste.5 Welche Wirkungen aber hat es, wenn nach rechtskräftiger Entscheidung einer verwaltungsrechtlichen Streitigkeit und erfolglosem Einlegen einer Verfassungsbeschwerde ein Beteiligter Beschwerde beim EGMR einlegt und dieser feststellt, dass die Bundesrepublik Deutschland Rechte des Beschwerdeführers aus der Konvention oder eines ihrer Protokolle verletzt hat? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.
Frowein, in: FS Delbrück (2005), S. 279 ff.; Grupp/Stelkens, DVBl. 2005, 133 ff.; Klein, JZ 2004, 1176 ff.; Kadelbach, Jura 2005, 480 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 ff.; Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem, 2009, S. 196 ff., 343; A. Weber, in: FS Schäffer (2006), S. 911. Im konkreten Fall ging es um die Wirkungen des Urteils EGMR, Görgülü, Nr. 74969/01, § 64 (2004). 2 Was dies im Einzelnen bedeutet, wird unten zu klären sein. 3 EGMR, M. ./. Deutschland, Nr. 19359/04 (2009); Kallweit, Nr. 17792/07 (2011); Mautes, Nr. 20008/07 (2011); Schummer, Nr. 27360/04 u. 42225/07 (2011); Haidn, Nr. 6587/04 (2011). s. a. BVerfG, 2 BvR 2365/09 u. a., Urt. v. 4. 5. 2011 – Sicherungsverwahrung. 4 OLG Rostock, B. v. 20. 1. 2011, I Ws 6/11; OLG Frankfurt, B. v. 24. 6. 2010, 3 Ws 485/10 = NStZ 2010, 573 – 574; OLG Frankfurt, B. v. 1. 7. 2010, 3 Ws 418/10 und 2 Ws 458/09 = NStZ-RR 2010, 321 – 322; OLG Hamm, B. v. 6. 6. 2010, 4 Ws 157/10; OLG Karlsruhe, B. v. 15. 7. 2010, 2 Ws 458/09; OLG Karlsruhe, B. v. 4. 8. 2010, 2 Ws 227/10 = NStZ-RR 2010, 322 – 323; OLG Schleswig, B. v. 15. 7. 2010, 1 OJs 3/10; BGH 4. Strafsenat, B. v. 12. 5. 2010, 4 StR 577/09 = NStZ 2010, 567 – 568; entgegen OLG Stuttgart, B. v. 01. 6. 2010, 1 Ws 57/10; OLG Celle, B. v. 25. 5. 2010, 2 Ws 169 – 170/10, 2 Ws 169/10, 2 Ws 170/10 = NStZ-RR 2010, 322; OLG Koblenz, B. v. 30. 3. 2010, 1 Ws 116/10 = JR 2010, 306 – 307; bestätigt durch BGH, B. v. 09. 11. 2010, 5 StR 394/10, 5 StR 440/10, 5 StR 474/10 = NJW 2011, 240 – 245; BGH 5. Strafsenat, B. v. 15. 12. 2010, 1 ARs 22/10 und BGH 2. Strafsenat, B. v. 22. 12. 2010, 2 ARs 456/ 10. 5 BVerfGE 111, 307 – 332 – Görgülü. S. sodann: BVerfG, B. v. 10. 6. 2005, 1 BvR 2790/04, einstweilige Anordnung v. 28. 12. 2004, 1 BvR 2790/04; B. v. 07. 6. 2005, 2 BvR 1481/04. Einen zivilrechtlichen Fall betraf auch der Fall Waltraud Storck, wo § 580 Nr. 8 ZPO aber noch nicht galt (s. hierzu: Cremer, EuGRZ 2008, 562 ff.).
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II. Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren vor den Verwaltungsgerichten nach einer „Verurteilung“ Deutschlands durch den EGMR Wolf-Rüdiger Schenke selbst spricht die Folgen in seinem Kommentar zu § 153 VwGO an. Absatz 1 dieser Vorschrift ermöglicht, ein rechtskräftig beendetes Verfahren nach den Vorschriften des Vierten Buchs der Zivilprozessordnung (ZPO) wiederaufzunehmen. Schenke weist darauf hin, dass damit der im Rahmen des 2. Justizmodernisierungsgesetzes6 neu geschaffene § 580 Nr. 8 ZPO zur Anwendung komme. Damit sei nunmehr eine Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens für den Fall vorgesehen, dass der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.7 1. Die Ausstrahlung des § 580 Nr. 8 ZPO auf andere Prozessordnungen Als der Bundesgesetzgeber – gewiss unter dem Eindruck des Görgülü-Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 20048 – mit § 580 Nr. 8 ZPO einen neuen Restitutionsgrund in die ZPO einfügte, tat er dies in dem Bewusstsein, dass sich diese Erweiterung durch Verweisungsnormen9 in anderen Prozessordnungen auswirken werde.10 Dies geschah in der Absicht, die Umsetzung von Entscheidungen des EGMR zu erleichtern, in denen dieser eine Konventionsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland feststellt, diese Verletzung aber einen in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalt betrifft.11 Da die Erhebung einer Beschwerde vor dem EGMR die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs – einschließlich etwaiger außerordentlicher Rechtsbehelfe wie der Verfassungsbeschwerde – voraussetzt (Art. 35 Abs. 1 EMRK),12 liegen in solchen Streitfällen in der Regel13 Entscheidungen deutscher Gerichte vor, die Rechtskraft erlangt haben. Dann aber – so
6 Das Zweite Gesetz zur Modernisierung der Justiz vom 22. Dezember 2006, BGBl. I 3416 vom 30. Dezember 2006 ist am 31. Dezember 2006 in Kraft getreten (s. dessen Art. 28). 7 Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 153, Rn. 8. 8 s. o. Fußn. 5. 9 s. § 79 ArbGG, § 176 SGG, § 153 VwGO, § 134 FGO. 10 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmodernisierungsgesetz), BT-Drs. 16/3038 vom 19. 10. 2006, 25, 39. – Die Möglichkeit einer Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 VwGO) scheidet aus in vor dem 31. 12. 2006 rechtskräftig abgeschlossenen § 580 Nr. 8 ZPO (Art. 35 EGZPO). S. den Gesetzentwurf, ebd., S. 36, zur Absicht, eine unzulässige echte Rückwirkung zu Lasten betroffener gegnerischer Parteien zu vermeiden. 11 Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39. 12 s. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 35 Rn. 1, 11 ff. (zur Verfassungsbeschwerde). 13 Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 35 Rn. 27 – 3 (s.a. Rn. 32).
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die Begründung des Regierungsentwurfs14 – „ist der Staat durch die Rechtskraft gebunden; das die Konventionsverletzung feststellende Urteil des EGMR durchbricht die Rechtskraft nicht. Eine Aufhebung des Urteils ist nur in den Fällen der ausdrücklich geregelten Wiederaufnahme möglich.“ Da zuvor nur die Strafprozessordnung (StPO) in § 359 Nr. 6 einen spezifischen Wiederaufnahmegrund für den Fall kannte, dass der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hat, und die (damaligen) Gründe für eine Nichtigkeits- oder Restitutionsklage sich nur selten mit EMRK-Verletzungen deckten,15 könne es – so der Regierungsentwurf aus damaliger Sicht – „dazu kommen, dass der EGMR eine Konventionsverletzung feststellt, aber das die Konvention verletzende rechtskräftige Urteil nicht aus der Welt geschafft werden kann. Der Beschwerdeführer muss sich in diesen Fällen grundsätzlich mit der Feststellung der Rechtsverletzung und einem etwaigen Entschädigungsanspruch gemäß Artikel 41 EMRK begnügen. Nicht in jedem Fall wird die Rechtsverletzung jedoch auf diese Weise vollständig bzw. befriedigend behoben werden können.“16 Mit § 580 Nr. 8 ZPO wurde über § 153 VwGO auch für verwaltungsgerichtliche Fälle Abhilfe geschaffen. Denn das Wiederaufnahmeverfahren17 führt – auf die Klage entweder eines Beteiligten18 oder nach § 153 Abs. 2 VwGO auch des Vertreters des öffentlichen Interesses (§ 36 VwGO) oder im Verfahren vor dem BVerwG auch des Vertreters des Bundesinteresses (§ 35 VwGO)19 – im Erfolgsfall zur Beseitigung eines rechtskräftigen Urteils und zu einer erneuten gerichtlichen Sachentscheidung.20 Dies erlaubt die Bereinigung eines EMRK-Verstoßes. „Dabei äußert das Gesetz die grundsätzliche Erwartung, dass das Gericht seine ursprüngliche – konventionswidrige – Entscheidung ändert, soweit diese auf der Verletzung beruht.“21 Wer eine Wiederaufnahmeklage erhebt, begehrt sowohl ein prozessuales Gestaltungsurteil, welches das frühere Urteil22 rückwirkend aufhebt, als auch eine neue Entscheidung in der Hauptsache.23 Das Verfahren gliedert sich damit in drei Stufen:24 Nach Prüfung 14
s. Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39. s. im Einzelnen den Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39, l.Sp. 16 Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39, r.Sp. 17 § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit §§ 578 ff. ZPO. 18 Dieser muss durch den Wiederaufnahmegrund selbst beschwert sein. S. Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 4, 7. 19 Dazu Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 7. 20 s. für das Verwaltungsprozessrecht: Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 1. 21 So BVerfGE 111, 309 (326) – Görgülü zu § 359 Nr. 6 StPO. 22 Gegenstand einer Klage oder eines Antrags auf Wiederaufnahme können außer Urteilen und Gerichtsbescheiden (§ 84 VwGO) auch verfahrensbeendende Beschlüsse sein, die ein Verfahren rechtskräftig abschließen, urteilsvertretende Beschlüsse, mit denen eine Berufung oder Revision als unzulässig verworfen wurde, Beschlüsse, mit denen eine Nichtzulassungsbeschwerde verworfen wurde, sowie Beschlüsse über Prozesskostenhilfe. Umstritten ist, inwiefern § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 ZPO auch Beschlüsse in Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO erfassen. S. zum Ganzen: Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 5. Im Folgenden wird zur Vereinfachung lediglich von „Urteil“ gesprochen. 23 Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 3. 15
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und Bejahung der Zulässigkeit der Klage25 muss sich das Wiederaufnahmevorbringen als begründet erweisen, damit schließlich26 in der Sache entschieden werden kann.27 2. § 580 Nr. 8 ZPO als lex posterior zu § 31 Abs. 1 BVerfGG: EMRK-freundliche Relativierung der Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG Nicht angesprochen wurde in der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 580 Nr. 8 ZPO, dass diese Vorschrift ein Problem löst, das im Gefolge des Görgülü-Beschlusses28 diskutiert wurde: Stellt der EGMR auf eine Individualbeschwerde hin eine Konventionsverletzung fest, so muss die Beschwerde zulässig erhoben und damit wie gesehen29 der innerstaatliche Rechtsweg einschließlich der Verfassungsbeschwerde erschöpft sein. Auch in Abwesenheit einer Wiederaufnahmemöglichkeit könnten eine Behörde oder ein Gericht trotz der Rechtswegerschöpfung vor der Anrufung des EGMR noch in der Lage sein, auf die „Verurteilung“ durch den EGMR hin der festgestellten EMRK-Verletzung abzuhelfen, indem sie über die Sache noch einmal entscheiden. Dürften sie dies aber, wenn sie sich damit in Widerspruch zu einer vorangegangenen Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts setzen würden, wo diese doch30 kraft § 31 Abs. 1 BVerfGG für die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Behörden und Gerichte Bindungswirkung entfaltet?31 Aus § 580 Nr. 8 ZPO als lex posterior specialis wird jedenfalls für den Fall der Wiederaufnahme rechtskräftiger Verfahren zu schließen sein, dass dort, wo eine rechtskräftige Entscheidung auf der vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung beruht, die Befugnis besteht, dem EGMR-Urteil ohne Bindung an die vorausgegangene 24
Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 4. s. § 153 VwGO i.V. mit §§ 582 – 589 ZPO; zu den Anforderungen an die Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage: Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 4, 10 – 12. 26 Nach § 153 VwGO i.V. mit §§ 590 Abs. 2 S. 1 ZPO kann das Gericht anordnen, dass die Verhandlung und Entscheidung über Grund und Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Verhandlung über die Hauptsache erfolge. In diesem Fall ist die Verhandlung über die Hauptsache als Fortsetzung der Verhandlung über Grund und Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens anzusehen (§ 153 VwGO i.V. mit § 590 Abs. 1 S. 2 ZPO). 27 § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 590 Abs. 1 ZPO. s. im Einzelnen Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 13 f. 28 BVerfGE 111, 309 – Görgülü. 29 s. o. bei Fußn. 12. 30 s. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1319, dazu, dass eine Prozessentscheidung an der Bindungswirkung nicht teilhat. Mit der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde ist eine Sachentscheidung nicht verbunden (Benda/Klein, ebd., Rn. 635). Nichtannahmebeschlüssen kommt – anders als stattgebenden Kammerbeschlüssen (§ 93c Abs. 1 BVerfGG keine Bindungswirkung zu (Benda/Klein, ebd., Rn. 1321; a.A. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl. 1991, S. 307, 324 im Anschluss an Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 392 ff. 31 s. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 2 Rn. 106. 25
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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nachzukommen.32 Freilich müssen Behörden und Gerichte selbst im Konfliktsfall der Verfassung gegenüber der im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehenden33 EMRK den Vorzug geben. Doch dürfen, ja müssen sie jedenfalls eine konventionskonforme Auslegung der Grundrechte unternehmen (s.u. II. 4. d) a.E.). Ihre Entscheidung ist freilich wieder – was insbesondere auch für Drittbeteiligte gilt – letztlich mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. 3. Der Wiederaufnahmegrund des § 153 Abs. 1 i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO aus der Warte des historischen Gesetzgebers Wenn mit § 580 Nr. 8 ZPO ein neuer Wiederaufnahmegrund geschaffen worden ist, der sich über § 153 Abs. 1 VwGO auch im Verwaltungsprozessrecht niederschlägt, so ist die entscheidende Frage, was es heißt, dass „der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. a) Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch ein Urteil des EGMR Die erste Voraussetzung erscheint auf den ersten Blick als unproblematisch. Sie stellt einen Bezug her zu dem Entscheidungsverhalten des EGMR, der seit dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls zur EMRK34 am 1. November 1998 ein ständiger Menschenrechtsgerichtshof ist (Art. 19 EMRK). Allerdings besitzt der EGMR Gerichtsbarkeit in zwei Arten von Verfahren, die je zur Feststellung einer Verletzung der EMRK oder eines ihrer Protokolle (vgl. Art. 41 EMRK) führen können, nämlich der Staaten- (Art. 33 EMRK) und der Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK). Im Fall einer Staatenbeschwerde ruft eine Hohe Vertragspartei den Gerichtshof an mit der Behauptung, eine andere Hohe Vertragspartei habe eine Konventionsverletzung begangen. Es streitet also ein Staat gegen den anderen wegen einer diesem vorgewor32 Zweifel könnten allenfalls insoweit bestehen, als die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 2 S. 1 oder S. 2 BVerfGG Gesetzeskraft entfaltet. Für eine Überwindung auch dieser Wirkung Rohleder (Fußn. 1), S. 343 ff.; s. nunmehr BVerfG (Fußn. 3) Abs.-Nr. 81 f. – Sicherungsverwahrung. A.A. Ehlers (Fußn. 31), § 2, Rn. 106; Schmalz, Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention für die Bundesrepublik Deutschland, 2007, S. 38. 33 BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung; 82, 106 (114); 111, 307 (325 f.) – Görgülü; 120, 180 (200) – Caroline von Monaco III. s.a. auch Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1992, 239 ff., insbes. 240 f. (s.a. 360), mit der These, die Konventionsstaaten seien verpflichtet, die EMRK mit Vorrang vor nationalem Recht zu inkorporieren. 34 ETS Nr. 155; BGBl. 1995 II, 578; deutsche Übersetzung des Protokolls und des Erläuternden Berichts in EuGRZ 1994, 323.
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fenen Verletzung von Grund- und Menschenrechten. Staatenbeschwerden sind in der Geschichte der EMRK nicht nur äußerst selten erhoben worden. Die Begründung des Regierungsentwurfs zu § 580 Nr. 8 ZPO erwähnt sie nicht einmal. Vielmehr bezieht sie sich in ihrer Argumentation allein auf Individualbeschwerden35 und stellt die Ergänzung der Restitutionsgründe der ZPO in Parallele zu § 359 Nr. 6 StPO,36 mit dessen Einfügung im Jahr 1998 ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien recht eindeutig intendiert war, eine Wiederaufnahme nur im Falle erfolgreicher Individualbeschwerden zuzulassen; aus der Bezugnahme auf die Schaffung des § 359 Nr. 6 StPO wird ferner klar, dass der in dem Verfahren vor dem EGMR beklagte Staat die Bundesrepublik Deutschland gewesen sein muss.37 Legt man eine historisch-genetische Auslegung zugrunde, verengt sich damit der Wiederaufnahmegrund auf Fälle, in denen der EGMR auf eine Individualbeschwerde hin festgestellt hat, die Bundesrepublik Deutschland habe die EMRK oder eines ihrer Protokolle38 verletzt. b) Das Erfordernis, dass sich die festgestellte EMRK-Verletzung auf die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ausgewirkt hat Zur zweiten Voraussetzung für das Bestehen eines Wiederaufnahmegrundes nach § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO) führt die Begründung des Regierungsentwurfs aus, es sei in der Sache angemessen, wenn ebenso wie im Strafprozess nicht jede vom EGMR festgestellte Konventionsverletzung eine Wiederaufnahme rechtfertige, sondern nur eine solche, auf welcher das Urteil beruhe. Dabei wird darauf hingewiesen, dass die Vorschrift im Wortlaut mit § 359 Nr. 6 StPO identisch sei.39 Aus den Ausführungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu § 359 Nr. 6 StPO im Jahre 1998 ergibt sich, dass sich der Konventionsverstoß auf die rechtskräftig gewordene Entscheidung ausgewirkt haben, also Niederschlag in der abschließenden Entscheidung gefunden haben muss. Könne dagegen „sicher davon ausgegangen werden“, dass es daran fehle, weil die Verletzung etwa im weiteren Verlauf des Verfahrens korrigiert worden sei, so bleibe eine Wiederaufnahme ausgeschlossen, weil der Verurteilte durch das rechtskräftig gewordene Urteil nicht unrechtmäßig beschwert und auch aus Sicht der Konvention eine Korrektur der strafgerichtlichen Entscheidung nicht veranlasst sei.40 Zu § 359 Nr. 6 StPO wurde insoweit ein Gleich35
s. Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39 f. Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 38, 40. 37 Vgl. BT-Drs. 13/10333 vom 01. 04. 1998, Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf mehrerer Abgeordneten und der Fraktion der SPD zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, 3, vgl. a. 4 f. 38 Die Bundesrepublik Deutschland hat das 1., 4., 6. und 13. Zusatzprotokoll ratifiziert, die je zusätzliche materiellrechtliche menschenrechtliche Gewährleistungen enthalten. 39 Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 40. 40 BT-Drs. 13/10333 (Fußn. 37), 4 f. 36
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klang mit § 337 Abs. 1 StPO hervorgehoben,41 zu § 580 Nr. 8 ZPO wird auf § 545 Abs. 1 ZPO verwiesen.42 Deutlich wird daraus, dass die Konventionsverletzung und der konkrete Urteilsspruch kausal verknüpft sein müssen, wobei es schon ausreicht, dass das Urteil ohne die Konventionsverletzung möglicherweise anders ausgefallen wäre – mit der Folge, dass es eines Nachweises der Kausalität nicht bedarf.43 c) Die implizite Beschränkung der Wiederaufnahmeklage auf verwaltungsprozessual Beteiligte, die selbst erfolgreich vor dem EGMR Beschwerde geführt haben Eine dritte, vom Gesetzgeber offenbar intendierte44 Voraussetzung für das Bestehen des Wiederaufnahmegrundes wegen einer Konventionsverletzung lässt sich dem Text des § 580 Nr. 8 ZPO i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO nicht unmittelbar entnehmen: Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR muss auf eine Beschwerde hin erfolgt sein, die ein an dem konkreten Verfahren vor den deutschen Verwaltungsgerichten Beteiligter nach Art. 34 EMRK gegen das in Rechtskraft erwachsene verwaltungsgerichtliche Urteil erhoben hat. Deutlicher als 2006 bei der Einfügung von § 580 Nr. 8 ZPO betonte 1998 der Bericht des Rechtsausschusses bei der Bewertung der vorgeschlagenen Änderungen des § 359 StPO, dass den Feststellungen des EGMR „nur Bindungswirkung INTER PARTES“ zukomme.45 Dies geschah, um zu begründen, dass der Wiederaufnahmegrund einer durch den EGMR festgestellten Konventionsverletzung nur demjenigen zugute kommen solle, der diese Feststellung als Beschwerdeführer zuvor selbst, in eigener Person erstritten habe.46 Es steht stark zu vermuten, dass der Bundesgesetzgeber im Jahr 2006 § 580 Nr. 8 ZPO auch insoweit in Parallele zu § 359 Nr. 6 StPO konstruiert hat.47
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BT-Drs. 13/10333 (Fußn. 37), 5. Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 40. 43 Kuckein, Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 337, Rn. 33 ff.; Braun, in: Münch. Komm. ZPO, 3. Aufl. 2007, § 580 Rn. 76; ders., NJW 2007, 1620 ff. 44 Vgl. Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, 39 f. Deutlicher insoweit die Bezugnahme auf § 359 Nr. 6 StPO. Denn BT-Drs. 13/10333 (Fußn. 37), 3, zitiert aus der Begründung des Änderungsantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, woraus sich ergibt, dass der schließlich Gesetz gewordenen § 359 Nr. 6 StPO nur Verurteilte betrifft, die in eigener Person vor dem EGMR ein obsiegendes Urteil erstritten haben. 45 BT-Drs. 13/10333 (Fußn. 37), 4. 46 BT-Drs. 13/10333 (Fußn. 37), 4. Damit wurde die Zurückweisung des Änderungsantrags der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (s. o. in Fußn. 44) begründet. 47 Vgl. zur Parallelität o. bei Fußn. 36 und 39. 42
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4. Wie verhält sich das gesetzgeberische Verständnis des § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO zur Pflicht zur Beachtung der Rechtskraft und zur Befolgung von EGMR-Urteilen nach der EMRK? Ganz offensichtlich steht hinter der Schaffung des § 580 Nr. 8 ZPO wie erwähnt48 die Absicht, das deutsche Prozessrecht konventionsfreundlich auszugestalten. Dies liegt auch im Sinne der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes49 und der50 Offenheit der gesamten deutschen Rechtsordnung für den Einfluss der EMRK auf dem jeweiligen Entwicklungsstand, den sie insbesondere durch die Rechtsprechung des EGMR erreicht.51 Freilich ging der Gesetzgeber davon aus, durch die EMRK zur Einführung prozessualer Wiederaufnahmemöglichkeiten nicht verpflichtet zu sein, wollte aber der Aufforderung dazu, die das Ministerkomitee des Europarates in seiner Empfehlung Nr. R (2000) 2 – rechtlich unverbindlich – ausgesprochen hatte,52 Folge leisten.53 Der neue, sich über § 153 Abs. 1 VwGO auch auf verwaltungsgerichtliche Urteile erstreckende Wiederaufnahmegrund soll ermöglichen, bei einer Konventionsverletzung Abhilfe zu schaffen, wie dies den konventionsrechtlichen Pflichten der Bundesrepublik Deutschland aus einem Urteil des EGMR gegen sie entspricht.54 § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO) steht damit im Zusammenhang mit den völkervertraglichen Rechtswirkungen von EGMR-Urteilen. Seine Anforderungen an das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes sollten daher daraufhin untersucht werden, inwieweit sie mit dem Recht der EMRK tatsächlich harmonieren und ob eine erweiternde konventionskonforme Auslegung geboten ist.
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s.o. bei Fußn. 11. BVerfGE 111, 307 (317 ff.) – Görgülü; (Fußn. 3), Abs.-Nr. 86, 89, 91 f. – Sicherungsverwahrung. s. a. BVerfGE 6, 309 (362 f.); 18, 112 (117 f., 120 f.); 31, 58 (75 f.); 58, 1 (41); 63, 343 (379 f.); 75, 1 (17) sowie Fiedler, Quantitative und qualitative Aspekte der Einordnung der Bundesrepublik Deutschland in völkerrechtliche Verträge, in: R. Geiger, Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, 2000, 11 ff. 50 In BVerfGE 111, 307 (323 ff., insbes. 324) – Görgülü mit Art. 20 Abs. 3 GG begründeten. 51 BVerfGE 111, 307 (324) – Görgülü. Klarer und präziser insoweit BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung. 52 Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates vom 19. 1. 2000 (694. Sitzung der Ministerstellvertreter) Nr. R (2000) 2, HRLJ 2000, 272 ff. 53 Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, S. 39 f. 54 Zur restitutio in integrum: Gesetzentwurf (Fußn. 10), BT-Drs. 16/3038, S. 39. 49
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a) Das EGMR-Urteil als Feststellungsurteil Hat jemand zulässig55 und in der Sache erfolgreich eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK erhoben, so ergeht ein Urteil, in dem der EGMR feststellt, dass eines oder mehrere Rechte des Beschwerdeführers durch den beklagten Staat verletzt worden sind.56 Gestaltungswirkung entfaltet ein Urteil nicht. Insbesondere vermag der Gerichtshof staatliche Akte der Konventionsstaaten nicht zu kassieren.57 Er hat eine solche Kompetenz auch für sich nicht in Anspruch genommen.58 b) Formelle Rechtskraft und materielle Rechtskraft im strengen Sinne Urteile der Großen Kammer des EGMR59 sind endgültig. Urteile der Kammern dagegen erwachsen erst in formeller Rechtskraft, wenn ein Antrag auf Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer ausgeschlossen ist oder abgelehnt wird.60 Endgültigen Urteilen kommt materielle Rechtskraft i.S. einer Maßgeblichkeit des Urteilsausspruchs zu. Diese ist in mehrfacher Hinsicht begrenzt, nämlich zunächst persönlich auf die an dem Verfahren vor dem EGMR konkret beteiligten Parteien
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s. zur Zulässigkeit einer Individualbeschwerde Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 13, S. 47 ff. 56 s. EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2), Nr. 32772/02, § 61 (2009). Darüber hinaus kann in dem Urteil eine Entschädigung nach Art. 41 EMRK zugesprochen werden und ein Ausspruch über Kosten enthalten sein; insoweit findet eine Verurteilung zur Leistung statt. s.a. Art. 74 und 75 der Rules of Court vom 1. 6. 2010. 57 Bernhardt, Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im deutschen Rechtsraum, in: Geiger, Völkerrechtlicher Vertrag und staatliches Recht vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung der internationalen Beziehungen, 2000, S. 147 (150); Eppe, MenschenRechtsMagazin, Themenheft 50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2000, 76 (77); Frowein, JuS 1986, 845 ff. (850); Klein, Der Individualrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland bei Verstößen gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Mahrenholz/Hilf/Klein, Entwicklung der Menschenrechte innerhalb der Staaten des Europarates, 1987, S. 43 (60); Polakiewicz, ZaöRV 52 (1992), 804 (816); Ress, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Vertragsstaaten: Die Wirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im innerstaatlichen Recht und vor innerstaatlichen Gerichten, in: Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz, 1982, 227 (232); ders., The Effects of Judgments and Decisions in Domestic Law, in: Macdonald/Matscher/Petzold, (eds.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 801 (802); Steinberger, HRLJ 1985, 402 (407 f.). 58 EGMR, Marckx, Nr. 6833/74, Series A no. 31, § 58 (1979); Pakelli, Nr. 8398/74, Series A no. 64, § 45 (1983); Dudgeon (Art. 50), Nr. 7525/76, Series A no. 59, § 15 (1981). 59 s. zur Gliederung des EGMR: Art. 25 litb. b, Art. 26 EMRK, zur Zuständigkeit von Einzelrichter, Kammer und Großer Kammer: Art. 28 – 30, Art. 31 i.V. mit Art. 46 Abs. 4 und 47, Art. 43 EMRK. 60 s. Art. 44 EMRK.
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(Wirkung inter partes)61 und sachlich auf den durch die Beschwerde, also den prozessualen Antrag auf Feststellung einer Konventionsverletzung fixierten Beschwerdegegenstand (als das hoheitliche Verhalten, das als Verstoß gegen die Konventionsrechte gerügt worden ist).62 Darüber hinaus ergeben sich zeitliche Beschränkungen63 daraus, dass der Beschwerdegegenstand dem Gerichtshof als historisches Geschehen zur Beurteilung vorgelegen hat, das in der Vergangenheit abgeschlossen sein mag,64 das aber, auch wenn es noch fortdauert, bereits im Zuge der Erschöpfung des Rechtswegs durch die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte eine gewisse Konturierung erfahren hat und in seiner Fortentwicklung jedenfalls nicht weiter erfasst ist als bis zur Verkündung der endgültig gewordenen Entscheidung des EGMR. Die Urteilswirkungen, so begrenzt sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, entfalten sich im Lichte des Art. 46 Abs. 1 EMRK, wonach sich die Hohen Vertragsparteien dazu verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Dabei mag man von einer – bereits aus allgemeinen prozessualen Rechtsgrundsätzen und nicht erst aus Art. 46 Abs. 1 EMRK folgenden – materiellen Rechtskraftwirkung in einem strengen Sinne insoweit sprechen, als es um die Bindungswirkung der Feststellung des Urteils geht, genauer: um die die Parteien bindende Feststellung, dass der beklagte Staat durch sein mit der Beschwerde angegriffenes Verhalten Rechte des Beschwerdeführers aus der Konvention oder ihren Protokollen verletzt hat. Hat der EGMR in einem Urteil festgestellt, dass ein Staat gegen die Konvention verstoßen hat, so darf dieser die konkrete Verletzung nicht mehr leugnen.65 Dies gilt zunächst inter partes, also zwischen dem Staat und dem konkreten Beschwerdeführer. Das Verbot, den EMRK-Verstoß in Abrede zu stellen, beruht aber auch auf Art. 46 Abs. 1 EMRK und gilt insoweit kraft der Konvention. Die Pflicht, die festgestellte Konventionswidrigkeit als eigenes Fehlverhalten anzuerkennen, ist mithin von 61 Zu beachten ist, dass vor dem EGMR die Bundesrepublik Deutschland als solche die beklagte Partei ist unabhängig davon, ob innerstaatlich Bund oder Land oder eine andere mit der Ausübung von Hoheitsgewalt betraute Person gehandelt haben. 62 Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 2, S. 93. Vgl. a. Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 35 Rn. 51. 63 Zu beachten sind Beschränkungen der Gerichtsbarkeit des EGMR ratione temporis: Beschwerden können sich nur auf hoheitliches Verhalten beziehen, das nach Inkrafttreten der Konvention für den jeweiligen Vertragsstaat gezeigt wurde. S. Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 35 Rn. 59. 64 Für die Zulässigkeit der Beschwerde (insbesondere die „Opfereigenschaft“ des Beschwerdeführers) ist nicht erforderlich, dass die Beschwer noch andauert. Es genügt, wenn ein Hoheitsakt einmal ergangen ist. Zwar kann die Beschwer nachträglich entfallen. Dafür reicht jedoch eine nachträgliche günstige Entscheidung des beklagten Staates nur aus, wenn dieser die Konventionsverletzung anerkannt und Abhilfe geschaffen hat. Grabenwarter (Fußn. 56), § 13, Rn. 15, S. 53 f., m.w.N. aus der Rspr. des EGMR; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2006, S. 1 (73 ff.). 65 Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 2.
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jedem Konventionsstaat gegenüber jedem anderen übernommen worden und gilt daher auch gegenüber jedem unbeteiligten dritten Konventionsstaat. Dies gewinnt Plausibilität auch vor dem Hintergrund, dass nach Art. 46 Abs. 2 EMRK die Durchführung endgültiger Urteile des EGMR vom Ministerkomitee des Europarates überwacht werden, in dem jeder Mitgliedstaat grundsätzlich durch seinen Außenminister vertreten ist.66 c) Die Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK als materielle Rechtskraft im weiteren Sinne Indem Art. 46 Abs. 1 EMRK einen „verurteilten“ Staat zur Befolgung der endgültigen Urteile des EGMR verpflichtet, stellt er klar, dass die Feststellung eines Konventionsverstoßes mehr als nur deklaratorische Wirkung hat.67 Der Staat ist verpflichtet, zur Befolgung des gegen ihn ergangenen Urteils aktiv zu werden. Auf diese Weise lässt sich die Grundverpflichtung der Konventionsstaaten aus Art. 1 EMRK umso vollständiger verwirklichen, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Art. 2 ff. EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten „zuzusichern“ – im Sinne des von der EMRK verwendeten englischen Ausdrucks „secure“ präziser wohl: „zu gewährleisten“.68 Die Befolgungspflicht wird dabei als eine „obligation of result“69 verstanden: Auf welche Weise ein „verurteilter“ Staat den Verpflichtungen aus einem Urteil nachkommt, bleibt ihm überlassen.70 Nicht festgelegt ist insbesondere, welche Staatsgewalt, welches Organ oder welche staatliche Stelle handeln muss; dies zu bestimmen ist Sache jedes Konventionsstaates.71 aa) Zwei Komponenten: Die Pflicht zur Beendigung der EMRK-Verletzung und die Pflicht zur Wiedergutmachung Betrachtet man die Befolgungspflicht näher, so lassen sich zunächst zwei Komponenten herausstellen: Zum einen hat der Konventionsstaat die vom EGMR festgestellte Verletzung, ohne zu zögern, abzustellen, d. h. ein noch andauernder Verstoß muss unverzüglich beendet
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s. Art. 14 der Satzung des Europarates. s. EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 61. 68 Der dem heutigen Art. 46 Abs. 1 entsprechende Art. 53 Abs. 1 EMRK a. F. wird in EGMR, Papamichalopoulos u. a. (Art. 50), Nr. 18/1992/363/437, Series A no. 330-B, § 34 (UAbs. 1), mit Art. 1 EMRK ausdrücklich verknüpft. 69 Im Sinne von Art. 21 des Entwurfs der International Law Commission zur Staatenverantwortlichkeit, YBILC 1980, Vol. II (Part. 2), 31; so Polakiewicz, ZaöRV 52 (1992), 149 (165). S. a. Bernhardt, in: FS Doehring, 1989, 23 (24, 28); Eppe (Fußn. 57), 78. 70 EGMR, Marckx (Fußn. 57), § 58; BVerfG (Dreierausschuss) EuGRZ 1985, 654; Polakiewicz (Fußn. 69), 165. Vgl. aber EGMR (GK), Assanidze, Nr. 71503/01, ECHR 2004-II, 221, § 183 – dazu Breuer, EuGRZ 2004, 257 ff. 71 Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 4. 67
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werden.72 Besonders augenfällig wird dies bei einer materiell rechtswidrigen Freiheitsentziehung. Die EMRK fordert in einem solchen Fall die Freilassung des Inhaftierten.73 Entsprechend muss auch die Vollstreckung eines Strafurteils unterbleiben, sollte der Strafvollzug noch nicht begonnen haben.74 Ferner darf bei unveränderter Sach- und Rechtslage das Verhalten, wie es das Urteil für konventionswidrig befunden hat, gegenüber dem erfolgreichen Beschwerdeführer nicht wiederholt werden.75 Die Feststellung des EGMR hält den Staat sodann auch zur Wiedergutmachung für die sich aus dem Konventionsverstoß ergebenden Folgen an.76 Nach der Rechtsprechung des EGMR ist er gehalten, eine restitutio in integrum77 zu leisten.78 Gefordert ist die Wiederherstellung der Situation vor der Verletzung. Der Gerichtshof erkennt insoweit an, dass der beklagte Staat grundsätzlich frei ist in der Wahl der Mittel, mit denen er die Situation vor der Verletzung wieder herbeiführt. Sofern die Wiederherstellung möglich sei, habe der Gerichtshof freilich weder die Kompetenz noch die praktische Möglichkeit, sie selbst herbeizuführen.79 Immerhin aber hat der EGMR 72 EGMR, Papamichalopoulos u. a.(Art. 50) (Fußn. 67), § 34 (UAbs. 1); Klein, FS Ryssdal, 2000, 705 (707 f.); Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 6; Okresek, in: FS Machacek und Matscher, 2008, 633 (635). S.a. Frowein, in: FS Delbrück (2005), 279 (282 f.), und ders., in: FS Wildhaber, 2007, 261 (263 f.) (EGMR, Görgülü (Fußn. 1), § 64 habe eine die Grenzen der Rechtskraft des Urteils tendenziell übersteigende Anordnung erlassen). 73 EGMR (GK), Assanidze (Fußn. 69), §§ 198, 202 f. (s. auch den Tenor zu 14 lit. a); (GK), Ilascu u. a., Nr. 48787/99, ECHR 2004-VII, 179, § 490; EGMR, Aleksanyan, Nr. 46468/06, § 240 (2008). S. dazu auch Breuer, EuGRZ 2004, 257 ff. 74 Ehlers (Fußn. 31), § 2 IX 1, Rn. 105; Klein (Fußn. 72), 708, ders., Der Individualrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland bei Verstößen gegen die Menschenrechte und die Grundfreiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Mahrenholz/Hilf/Klein (Fußn. 56), 63 f.; s. a. Ress, The Effects of Judgments (Fußn. 56), 803, 833 f. 75 Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 6; Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 3, S. 93 f.; Klein (Fußn. 72), 708. 76 Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 3, S. 93 f. 77 Zu beachten ist, dass die Pflicht zur restitutio in integrum etwas anderes ist, als die Pflicht, eine Rechtsverletzung zu beenden (Klein (Fußn. 72), 708; Polakiewicz (Fußn. 69), 171 f.). 78 EGMR, Papamichalopoulos u. a. (Art. 50) (Fußn. 67), Nr. 18/1992/363/437, Series A no. 330-B, § 34 (UAbs. 1) (s. das Zitat o. in Fußn. 72). Bestätigt in EGMR, Scozzari u. Giunta, Nr. 39221/98, ECHR 2000-VIII, 401, § 249; Mehemi, Nr. 53470/99, ECHR 2003- IV, 311, § 43 (2002); (GK) Maestri, Nr. 39748/98, ECHR 2004- I, 183, § 47; (GK) Assanidze (Fußn. 69), §198; (GK) Scoppola, Nr. 10249/03, 17. 9. 2009, § 151; (GK) Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 86. S. a. EGMR, Vasilescu, Nr. 27053/97, ECHR. 1998-III, 1064, § 61. S. schon das Sondervotum des Richters Mosler zu EGMR, de Wilde, Ooms u. Versyp, Nr. 2832/66, Series A no. 14 (1972): „It follows by implication from Article 50 (nunmehr Artikel 41 EMRK) that the obligation imposed on the High Contracting Parties by Article 53 (nunmehr Artikel 46 EMRK) of the Convention to abide by the decision of the Court includes a duty to make reparation for all the consequences which the violation has caused to the applicants whose complaint has led to the CourtÏs judgment. This duty is therefore not limited to putting an end to the violation: it also extends to making good the damage suffered by the applicants.“ 79 EGMR, Papamichalopoulos u. a.(Art. 50) (Fußn. 67), § 34 (UAbs. 1). S. a. E. P. ./. Italien, Nr. 31127/96, § 77 (2009); EGMR, Scozzari u. Giunta (Fußn. 77), § 249; (GK) Assanidze (Fußn. 69), § 198; sowie Bernhardt (Fußn. 69), 24, 27 f.; Ress, Die Europäische Menschen-
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aus Art. 1 EMRK geschlossen, mit der Ratifikation der EMRK habe sich jeder Staat verpflichtet sicherzustellen, dass seine innerstaatliche Gesetzgebung mit der Konvention vereinbar sei; daraus folge, dass es einem „verurteilten“ Staat obliege, sämtliche Hindernisse in seinem innerstaatlichen Rechtssystem zu beseitigen,80 die einer angemessenen Abhilfe der Beschwer des Beschwerdeführers entgegenstehen könnten.81 bb) Art. 46 EMRK verlangt nicht, die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Gerichtsverfahren zuzulassen, wohl aber den EMRK-Verstoß so weit wie möglich zu bereinigen Zweifelhaft mag erscheinen, ob daraus auch eine Pflicht der Konventionsstaaten folgt, die Möglichkeit einer Wiederaufnahme gerichtlicher – ggf. auch nur strafgerichtlicher – Verfahren einzuführen, wie dies teils aus dem Urteil der Großen Kammer des EGMR im Fall Sejdovic v. Italien82 geschlossen wird.83 Gewissen Nachdruck erhalten hat diese Sichtweise zwar durch die Entscheidung in der Sache Scoppola v. Italien (Nr. 2).84 Näher dürfte nach der Entwicklung der Rechtsprechung indes die Annahme liegen, dass sich eine solche Pflicht gegenwärtig noch in statu nascendi befindet.85 So hat die Große Kammer des EGMR 2009 im Fall Verein gegen Tierfabriken (VgT) v. Schweiz (No. 2) klargestellt, dass der Gerichtshof, auch wenn er bei einer Verletzung von Art. 6 EMRK darauf hinweisen86 könne, dass die Neuverhandlung eines Falles im Prinzip ein angemessener Weg sei, um einer Konventionsverletzung abzu-
rechtskonvention (Fußn. 57), 246; ders., The Effects of Judgments (Fußn. 57), 803, s. a. 805 (zur Reduktion des Ermessens eines verurteilten Staates auf Null – s. als Bsp. EGMR (GK), Assanidze (Fußn. 69), § 202 a. E.). 80 Dies gilt, obgleich Art. 41 EMRK für den Fall, dass der Konventionsverstoß sich nachträglich nicht beheben, die Situation quae ante sich nicht wiederherstellen lässt und nur eine unvollkommene Wiedergutmachung möglich ist, vorsieht, dass der EGMR der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zuspricht. 81 EGMR, Maestri (Fußn. 77), § 47. 82 EGMR (GK), Sejdovic, Nr. 56581/00, ECHR 2006-II, §§ 125 ff. –. Eine ausführliche und zu Recht kritische Analyse bietet Breuer, EuGRZ 2004, 782 ff. 83 Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 15. Eine Pflicht zur Wiederaufnahme bejahen: Walter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 31, Rn. 53; Schmalz (Fußn. 32), S. 62 ff.; Csaki, Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der deutschen Rechtsordnung, 2007, S. 48 ff.; wohl auch Ehlers (Fußn. 31), § 2, Rn. 104. 84 EGMR (GK), Scoppola (Fußn. 77), §§ 153 f. sowie Ziff. 6 lit. a des Tenors. Doch wird die Möglichkeit einer Begnadigung statt eines „retrial“ nicht ausgeschlossen. 85 EGMR (GK), Sejdovic (Fußn. 81), §§ 125 ff. mit Verweis auf EGMR, GenÅel, Nr. 53431/ 99, § 27 (2003); Tahir Duran, Nr. 40997/98, § 23 (2004). Beachte den Vorbehalt eines „as far as possible“ sowie ebd., § 127, den Verweis auf EGMR, Lyons u. a., Nr. 15227/03, ECHR 2003IX, 405(dec.) (s.u. in Fußn. 88). Vgl. a. EGMR (GK), Salduz, Nr. 36391/02, § 72 (2008) und das Sondervotum der Richter Rozakis, Spielmann, Ziemele und Lazarova Trajkovska ebd., § 9. Vgl. a. EGMR (GK), No. 15869/02, § 79 – Cudak (2010). Sowei Breuer, (Fußn. 82), 785 f. 86 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 89: „may indicate“.
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helfen,87 doch keine Kompetenz besitze, eine Wiederaufnahme des Verfahrens anzuordnen.88 Die Entscheidung verdient deswegen besondere Beachtung, weil sie die Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK so weit ersichtlich erstmals in einen Zusammenhang mit „positive obligations“, also Pflichten zu positivem Tun, Schutzpflichten, stellt, die aus den materiellen Individualgewährleistungen der Konvention folgen.89 Es ist wohl diese normative Verkoppelung, die den EGMR zu der Klarstellung führt, dass die Wiedereröffnung eines Verfahrens, das die Konvention verletzt hat,90 kein Selbstzweck ist.91 Die Wiederaufnahme stellt nicht mehr als ein – freilich zentrales – Mittel dar, um ein EGMR-Urteil vollständig und ordnungsgemäß – d. h. insbesondere den Anforderungen von Treu und Glauben entsprechend92 –zu befolgen.93 Die Herbeiführung dieses Erfolgs – nämlich die vollständige und ordnungsgemäße Urteilsbefolgung – ist das einzige Kriterium, anhand dessen die Erfüllung der Pflichten aus Art. 46 Abs. 1 EMRK zu beurteilen ist.94 So gesehen besteht in den Augen des Gerichtshofs kein Unterschied zwischen Konventionsstaaten, welche die Wiederaufnahme gerichtlicher Verfahren eingeführt haben, und denen, deren Rechtsordnung sie nicht vorsehen.95 Denn es besteht – wovon auch die vom EGMR in der Sache Verein gegen Tierfabriken (VgT) v. Schweiz (No. 2) ausdrücklich in Bezug genommene96 Empfehlung des Ministerkomitees Nr. R (2000) 2 ausgeht97 – keine Verpflichtung der Konventionsstaaten, die Wiederaufnahme innerstaatlicher Gerichtsverfahren für den Fall vorzusehen, dass der EGMR eine Verletzung der
87 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 89 („an (sic!) appropriate way of redressing the violation“); vgl. dagegen EGMR (GK), Sejdovic (Fußn. 81), § 125 („in principle, the most (sic!) appropriate form of redress“). 88 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 89. S. zuvor schon EGMR, Lyons (Fußn. 84). 89 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), §§ 78 ff. S. zu „positive obligations“ unter der EMRK: Grabenwarter (Fußn. 56), § 19, Rn. 7 ff., S. 127 ff.; s.a. Cremer, Human Rights and the Protection of Privacy in Tort Law, 2010, S. 115 ff. 90 Dieser Fall ist um die Konstellation zu ergänzen, dass in dem Verfahren von der EMRK garantierte Individualrechte verletzt worden sind. 91 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 90 („not an end in itself“). 92 Deutlich EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 87. 93 Die Wiedereröffnung des Verfahrens ist, so wörtlich EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 90: „simply a means – albeit a key means – that may be used for a particular purpose, namely the full and proper execution of the CourtÏs judgments“. 94 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 90: „the sole criterion for assessing compliance with Article 46 § 1“. 95 Das Kriterium der „full and proper execution of the CourtÏs judgments“, so EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 90 –, „ applies equally to all Contracting States” mit der Folge, dass „no discrimination can result between those which have introduced a reopening procedure in their legal system and others“. 96 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 89. 97 s.o. Fußn. 52; s.a. ebd. das Explanatory Memorandum unter Ziff. 3.
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EMRK feststellt.98 Doch mindert dies nicht die Pflicht zur vollständigen und getreulichen Urteilsbefolgung in Form der möglichst weitgehenden restitutio in integrum.99 Der Pfad, auf dem sie zu bewirken ist, muss eben von Konventions wegen nicht über eine Verfahrenswiederaufnahme laufen.100 Hierin erweist sich die Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK als „obligation of result“.101 Doch wenn das innerstaatliche Recht die Wiederaufnahme vorsieht,102 dann müssen die staatlichen Stellen (also gerade auch die Gerichte) in deren Rahmen – und unter Beachtung der Konventionsnormen im Ganzen – tatsächlich die Möglichkeit haben, den Schlussfolgerungen und dem Geist des EGMR-Urteils zu entsprechen.103 d) Folgerungen aus Art. 46 EMRK für die Auslegung von § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO, insbesondere das Verständnis des „Beruhens“ auf einer EMRK-Verletzung Das Vorstehende hat Bedeutung für Restitutionsklagen auf Grund von § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO: Ist es ihre Funktion zu ermöglichen, dass EGMR-Urteile gemäß Art. 46 Abs. 1 EMRK befolgt werden, so müssen sie die Beseitigung des vom EGMR festgestellten Konventionsverstoßes ermöglichen. Dies rückt die dritte Stufe des Wiederaufnahmeverfahrens104 in den Blick: Die Eröffnung der Möglichkeit, über den Streitgegenstand neu zu verhandeln und zu entscheiden, erlaubt es, eine verfahrensbezogene EMRK-Verletzung auszugleichen – etwa indem ein zuvor im Widerspruch zum Gebot des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1
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Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 5; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 46, Rn. 5, 28; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 (18); Okresek, Art. 46 EMRK Rn. 9; Pache/ Bielitz, DVBl. 2006, 325 (326 ff.). 99 s.o. bei und in Fußn. 78. 100 Nicht ausgeschlossen erscheint etwa, dass eine Verletzung der Konvention durch den Ausspruch einer zu hohen, weil rückwirkend eingeführten Strafe durch begnadigungsweise Herabsetzung der Strafe wiedergutgemacht wird. s. o. in Fußn. 84. 101 s.o. bei und in Fußn. 69. 102 Wichtig insoweit ist: Es bedarf keiner Wiedereröffnung von Amts wegen, sondern es genügt Art. 46 Abs. 1 EMRK, wenn nach Feststellung einer EMRK-Verletzung durch den EGMR das Recht eines Konventionsstaates die Möglichkeit einer – die effektive Behebung der Verletzung gestattenden – Wiederaufnahme gerichtlicher Verfahren lediglich eröffnet, aber davon abhängig macht, dass der Beschwerdeführer einen Antrag stellt. s. dazu: EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 89 – mit Verweis u. a. auf EGMR (GK), Öcalan, Nr. 46221/99, ECHR 2005-IV, § 210 a.E.; EGMR, Claes u. a., Nr. 46825/99 et al., § 53 (2005). S.a. EGMR (GK), Sejdovic (Fußn. 81), Nr. 56581/00, ECHR 2006-II, §§ 125 ff.; Scoppola (Fußn. 77), Nr. 10249/03, § 150. 103 EGMR (GK), Verein gegen Tierfabriken (VgT) (No. 2) (Fußn. 55), § 90: „…, the reopening procedure must also afford the authorities of the respondent State the opportunity to abide by the conclusions and the spirit of the Court judgment being executed, while complying with the procedural safeguards in the Convention“. 104 Zu den drei Stufen o. bei Fußn. 26 ff.
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EMRK) ausgeschlossener Beweisantrag105 zugelassen oder in einem Disziplinarverfahren eine Erkenntnis, die im Widerspruch zum Selbstbezichtigungsverbot gewonnen wurde,106 nicht verwertet wird – und/oder die Sachentscheidung, soweit sie zuvor gegen die Konvention verstieß, nunmehr fehlerfrei, d. h. i.S. des EGMR-Urteils konventionskonform, zu fällen.107 Die Möglichkeiten, die insoweit bestehen, um einen verfahrensbezogenen oder sachlichen Verstoß gegen die EMRK nachträglich zu beseitigen, beeinflussen auch den Wiederaufnahmegrund als solchen und damit die – auf die Bejahung der Zulässigkeit der Wiederaufnahmeklage folgende – zweite Stufe des Verfahrens nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit §§ 580 Nr. 8, 582 ff. ZPO. Denn dort ist zu klären, ob das rechtskräftige Urteil auf der vom EGMR festgestellten Verletzung der EMRK „beruht“. Im Lichte der Funktion des § 580 Nr. 8 ZPO, die Befolgungspflicht nach Art. 46 Abs. 1 EMRK durch Überwindung der Rechtskraft zu befördern, lässt sich sagen, dass ein Urteil auf einer Konventionsverletzung „beruht“, wenn im Zuge der Neuverhandlung und -entscheidung einer durch rechtskräftiges Urteil entschiedenen Sache der vom EGMR festgestellte EMRK-Verstoß beseitigt oder zumindest abgemildert werden kann. Entscheidend ist, dass ein „Wiederaufschnüren“ des Falles erlaubt, auf die vom EGMR festgestellte Verletzung, die der Beschwerdeführer in einem seiner durch die Konvention oder ihre Protokolle gewährleisteten Rechte erfahren hat, zuzugreifen und die Beschwer zu beseitigen. So kann in verfahrensrechtlicher Hinsicht rechtliches Gehör nachgeholt, ein abgelehnter Antrag zugelassen, Akteneinsicht gewährt werden. Doch kann der Fehler einer überlangen Verfahrensdauer im Verwaltungsprozess – wie das gegen Deutschland ergangene „Piloturteil“108 in der Sache Rumpf109 veranschaulicht – durch eine Verfahrenswiederaufnahme als solche nicht geheilt werden.110 In einem Disziplinarverfahren111 aber lässt sich ähnlich wie bei Strafurteilen112 vorstellen, dass die Wie105
s. Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 13: Ist die Wiederaufnahmeklage begründet, so ist die Sache erneut zu verhandeln und zu entscheiden, wobei der Streitgegenstand grundsätzlich derselbe ist wie im ursprünglichen Verfahren. Daher ist auch der gesamte im ursprünglichen Verfahren zuvor angefallene Verfahrensstoff nunmehr wieder zu berücksichtigen. Jedoch sind auch neues Vorbringen und neue Anträge zulässig. 106 s. zu dem aus Art. 6 Abs. 1 EMRK (Grundsatz des fairen Verfahrens) folgenden Selbstbelastungsverbot: EGMR, Saunders, Nr. 19187/91, ECHR 1996-VI ; EGMR (GK), John Murray, Nr. 18731/91, ECHR 1996-I = EuGRZ 1996, 587; Beckles, Nr. 44652/98 (2002); EGMR, Condron, Nr. 43373/98 (2001); vgl. auch EGMR, Jalloh, Nr. 54810/00 (2006) = EuGRZ 2007, 150. 107 s. schon o. in Fußn. 52 den Auszug aus der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr. R (2000) 2. 108 s. zum Piloturteilsverfahren u. bei und in Fußn. 177 ff. 109 EGMR, Rumpf, Nr. 46344/06, §§ 41 ff. (2010). 110 Dagegen kann bei einer strafgerichtlichen Verurteilung eine Reduktion der Strafe zum Ausgleich der Überlänge noch möglich sein. 111 s. z. B. den Fall EGMR, Bayer, Nr. 8453/04 (2009) = NJW 2010, 3208.
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deraufnahme des gerichtlichen Verfahrens dazu führen könnte, eine Disziplinarstrafe oder -buße abzumildern, um eine gewisse Kompensation für die Überlänge des Verfahrens zu leisten. Liegt die konventionsrechtliche Beschwer dagegen in der ursprünglichen Sachentscheidung, so vermag die Wiederaufnahme in Fällen verwaltungsgerichtlicher Anfechtungsklagen z. B. Abhilfe zu verschaffen, wenn ein mit Art. 14 i.V. mit Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK unvereinbarer Bescheid über die Zahlung einer Feuerwehrabgabe aufgehoben wird.113 Gleiches gilt für eine Ausweisungsverfügung, die gegen Art. 8 EMRK verstößt, sei es, dass sie unverhältnismäßig in das Recht auf Achtung des Familienlebens114 eingreift, indem sie den Ausgewiesenen von seinen Angehörigen trennt, sei es, dass sie ohne hinreichende Rechtfertigung zum Bruch der über Jahre hinweg im Aufenthaltsstaat gewachsenen persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen des Ausgewiesenen führt und dessen Recht auf Achtung des Privatlebens115 verletzt. Denn die Aufhebung rechtswidriger belastender Verwaltungsakte erfolgt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO mit Wirkung für die Vergangenheit. Ist durch rechtskräftiges Urteil dagegen eine Verpflichtungsklage abgewiesen worden und stellt dies nach dem Urteil des EGMR eine Verletzung des Klägers in einem Konventionsrecht dar, so kann in einem auf Grund von § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO wiederaufgenommenen verwaltungsgerichtlichen Verfahren der Beklagte zum Erlass des Verwaltungsakts (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO) oder zur Neubescheidung (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) verurteilt werden. Solche Fälle lassen sich vorstellen: Die Verweigerung einer Baugenehmigung und die Abweisung einer Verpflichtungsklage, mit der Rechtsschutz dagegen erstrebt wurde, kann gegen Art. 1 des (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK verstoßen. Einem Ausländer, der mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet ist, einen Aufenthaltstitel zu versagen und dadurch die Ausreisepflicht nach § 50 AufenthG auszulösen kann das Recht auf Achtung des Familienlebens (Art. 8 EMRK) verletzen.116 Der Ablehnung des Erlasses eines polizeirechtlichen Kontaktverbots gegen einen Stalker können „positive obligations“ aus Art. 8 EMRK entgegenstehen.117 Denkbar ist auch, dass nach Wiederaufnahme eines Verfahrens über eine allgemeine Leistungsklage ein Verwaltungsträger dazu verurteilt wird, persönliche Daten, 112 Vgl. etwa BGH, B. v. 24. 7. 1991, 5 StR 286/91 = NStZ 1992, 78; BGH, B. v. 14. 5. 2002, 3 StR 128/02 = NStZ 2002, 589 – 590; BGH, B. v. 23. 8. 2007, 3 StR 50/07= NJW 2007, 3294. 113 EGMR, Karlheinz Schmidt, Nr. 12/1193/407/486 (1994) = NVwZ 1995, 365. 114 s. zu den Anforderungen von Art. 8 EMRK an die Ausweisung eines Ausländers mit familiären Bindungen zu Personen, die im ausweisenden Staat leben, zusammenfassend: EGMR (GK), Üner, Nr. 46410/99, ECHR 2006-XII, §§ 54 ff. 115 EGMR (GK), Slivenko, Nr. 48321/99, ECHR 2003-X, §§ 94 ff. (s. insbes. § 96, §§ 113 ff.). 116 Vgl. EGMR, Boultif, Nr. 54273/00, ECHR 2001-IX, §§ 39 ff., 46 ff. 117 Vgl. hierzu EGMR, A. ./. Kroatien, Nr. 55164/08, §§ 55 ff. (2010), sowie den bahnbrechenden Fall X und Y ./. Niederlande: EGMR, No. 8978/80, Series A no. 91, §§ 23 f., 27 (1985). Beide Urteile betreffen freilich strafrechtliche Reaktionen des Staates.
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welche die Polizei im Widerspruch zu Art. 8 EMRK erhoben und gespeichert hat,118 oder Videoüberwachungsbilder zu löschen, die von der Polizei unter Verletzung von Art. 8 EMRK aufgenommen wurden.119 Es könnte auch Fälle geben, in denen Art. 2 EMRK die Polizei verpflichtet, polizeitaktische (und insofern faktische) Maßnahmen zu treffen, um eine Person vor einem Angriff auf ihr Leben120 oder vor Nachstellungen, Drohungen und physischen Übergriffen zu schützen121. Wären entsprechende Leistungsklagen rechtskräftig abgewiesen worden, würde die Wiederaufnahme eine entsprechende Verurteilung zur Leistung von Schutz ermöglichen. Gleiches gälte für eine Klage auf Unterlassung122 einer präventiv-polizeilichen Überwachung mittels eines GPS-Senders, der am Privat-Pkw eines der Unterstützung des Terrorismus Verdächtigen angebracht worden ist.123 Schließlich kann die Abweisung eines Normenkontrollantrags als unbegründet124 auch darauf beruhen, dass übersehen worden ist, dass eine Satzung oder Rechtsverordnung gegen die EMRK verstößt – etwa eine Veränderungssperre nach § 14 BauGB mit Art. 1 des (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK unvereinbar ist.125 All diese Beispielsfälle wirken weit hergeholt. Denn in aller Regel gewährleistet das deutsche Rechtssystem schon von sich aus einen effektiven Schutz vor Verletzungen von Grund- und Menschenrechten durch die deutsche öffentliche Gewalt126 – 118 Vgl. EGMR, Leander, No. 9248/81, § 48 (1987); EGMR (GK), Amann, Nr. 27798/95, ECHR 2000-II, §§ 69 ff.; GK, Rotaru, Nr. 28341/95, ECHR 2000-V, § 41, 43 f., 46 ff. S. zum Ganzen: Grabenwarter (Fußn. 56), § 22, Rn. 10, 26, 35, 39. Heringa/Zwaak, in: van Dijk / van Hoof / van Rijn / Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2006, S. 663 (673 f.); Wiederin, Privatsphäre und Überwachungsstaat, 2003, S. 30 ff. 119 Zur möglichen Einschlägigkeit des Art. 8 EMRK in diesen Fällen: EGMR, Peck, Nr. 44647/98, ECHR 2003-I, § 59; Heringa/Zwaak (Fußn. 118), 673 f. Zu den Voraussetzungen der Datenerhebung durch Videoaufnahmen Schenke (Fußn. 114), Rn. 184 f. 120 EGMR, No. 23452/94, ECHR 1998-VIII, §§ 115 ff. – Osman. 121 Vgl. hierzu nochmals EGMR, A. ./. Kroatien (Fußn. 116), §§ 55 ff., insbes. §§ 75 ff. zum Entscheidungsspielraum des Konventionsstaates. 122 Zur vorbeugenden Unterlassungsklage als Unterfall einer allgemeinen Leistungsklage: Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 354 (u. soweit sie sich gegen den Erlass eines Verwaltungsakts richten ebd., Rn. 355 ff.). 123 Vgl. zu einem § 100c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StPO betreffenden strafprozessualen Fall: EGMR, Uzun, Nr. 35623/05, §§ 33, 38 ff., 43 ff. (2010). 124 s. dazu o. in Fußn. 22. 125 s. zu – freilich nicht Deutschland betreffenden – baurechtlichen Fällen: EGMR, Bistrovic´, Nr. 25774/05 (2007) (Autobahnbau durch privates Gelände ohne Entschädigung); Sporrong und Lönnroth, Nr. 7151/75 u. 7152/75, Series A no. 52 (1982) = EGMR-E 2, 148 (Enteignungsgenehmigung u. zeitlich unbegrenztes Bauverbot); Franscino, Nr. 35227/97 (2003) (verzögerte Erteilung einer gerichtlich angeordneten Baugenehmigung); Antonetto, Nr. 15981/89 (2000), und Krickl, Nr. 21752/93 (1997, dec.) (verzögerte Vollstreckung einer gerichtlichen angeordneten Abrissverfügung); Motais de Narbonne, Nr. 48161/99 (2002) (Nichtverwirklichung des Enteignungszwecks u. damit erzielter Spekulationsgewinn zum Nachteil des früheren Eigentümers); Gillwo, Nr. 9063/80 Series A no. 109 (1986) (Verweigerung einer Wohngenehmigung). 126 Kirchhof, EuGRZ 1994, S. 16 – 44 (20 f.).
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eben wie dies Art. 19 Abs. 4 GG erfordert. Wie gezeigt127 setzt eine Beschwerde zum EGMR die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs einschließlich der Verfassungsbeschwerde voraus. Dadurch werden Verletzungen von Individualrechten der EMRK und ihrer Protokolle zumeist schon beseitigt, bevor ein Fall vor den EGMR gelangen kann. Denn die deutschen Grundrechte gewährleisten nicht nur gleichsam aus sich heraus einen hohen materiellen Schutzstandard.128 Ihr Schutzgehalt ist auch durch den Inhalt und den – maßgeblich durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmten ¢ Entwicklungsstand der EMRK geprägt. Dieser dient nämlich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade auch bei der Bestimmung von „Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ als „Auslegungshilfe“.129 Die Grundrechte binden aber die Ausübung deutscher Staatsgewalt in allen ihren Ausprägungen als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG). Nehmen sie die Inhalte der EMRK auf, so ist es in der Tat eher unwahrscheinlich – obgleich nicht ausgeschlossen130 –, dass EMRK-Verletzungen nicht zumindest mittels gerichtlichen Rechtsschutzes abgeholfen wird. e) Probleme infolge der Erledigung von Verwaltungsakten bis zur Entstehung des Wiederaufnahmegrundes: Gibt es ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Fortsetzungsfeststellungsklage trotz des EGMR-Urteils? Wenn aber der EGMR doch einen Verstoß feststellt, so geschieht dies mit recht großem zeitlichem Abstand schon zu der letztinstanzlichen deutschen Fachgerichtsentscheidung und erst recht zu behördlichen Entscheidungen davor. Das bedeutet, dass sich etwa ein angefochtener Verwaltungsakt, dessen Konventionswidrigkeit 127
s.o. bei Fußn. 12. Verurteilungen Deutschlands durch den EGMR kommen gleichwohl gelegentlich vor. S. etwa EGMR, Gäfgen, Nr. 22978/05 (2008) = EuGRZ 2008, 466 – 480; Mooren, Nr. 11364/03 (2009); Leela Förderkreis e.V. u. a., Nr. 58911/00 (2008) = NVwZ 2010, 177; Storck, Nr. 38033/02 (2006) = NVwZ 2007, 1035; Jalloh, Nr. 54810/00 (2005, 2006) = NJW 2006, 3117; Dzelili, Nr. 65745/01 (2005) = NVwZ-RR 2006, 513; Buck, Nr. 41604/98 (2005) = NJW 2006, 1495; Görgülü (Fußn. 1); Vogt, Nr. 17851/91, ECHR 1996-IV = NVwZ 1996, 365; Karlheinz Schmidt (Fußn. 112), Nr. 13580/88, Series A no. 291-B (1994) = NVwZ 1995, 365; Barthold, Nr. 10/1983/66/101, Series A no. 98 (1985) = NJW 1985, 2885; Pakelli (Fußn. 141). 129 BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung; BVerfGE 111, 307 (317, 329) – Görgülü; (Fußn. 3) Abs.-Nr. 86, 88 ff. – Sicherungsverwahrung. s.a. BVerfGE 83, 119 (128). 130 Zumeist betreffen die Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland keine verwaltungsrechtlichen Fälle. s. aus anderen Rechtsgebieten aus jüngerer Zeit etwa: EGMR (GK), Jalloh (Fußn. 126) (zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels zur Beweisgewinnung als Verstoß gegen Art. 3 EMRK, Verwendung als Beweismittel im Strafprozess als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK); Anayo, No. 20578/07 (2010) (Verletzung von Art. 8 EMRK, indem einem Mann das Recht zum Umgang mit Zwillingen versagt wurde, die biologisch von ihm abstammen, aber in der Ehe der Mutter mit einem anderen Mann geboren wurden); (GK), Gäfgen (Fußn. 1) (unmenschliche Behandlung im Widerspruch zu Art. 3 EMRK durch Androhung von Folter im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, um einen Beschuldigten zur Preisgabe des Aufenthaltsorts eines Entführungsopfers zu bewegen). 128
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der EGMR festgestellt hat, inzwischen erledigt haben kann.131 Kann auch dann noch die Wiederaufnahmeklage erhoben werden? Jedenfalls denkbar erscheint es, dass eine solche Erledigung des Verwaltungsakts die Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht von vornherein ausschließt, kann doch das klageabweisende Urteil durchaus auf der festgestellten Konventionsverletzung beruhen. Ferner könnte nach einer Wiedereröffnung des Verfahrens die Erledigung im wiederaufgenommenen Verfahren (also auf der dritten Stufe der erneuten Verhandlung und Entscheidung in der Sache132) verarbeitet werden. Dies geschähe bei der Anfechtungsklage nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO: Der Kläger müsste beantragen, das Gericht möge aussprechen, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen sei (und ihn in seinen Rechten verletzt habe133). Voraussetzung aber wäre ein berechtigtes Interesse an der Feststellung. Ein solches Interesse erscheint indessen fraglich. Denn nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO erreicht werden kann nicht mehr als die Feststellung, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist. Dies aber steht, wenn der Verwaltungsakt selbst Konventionsrechte des Anfechtungsklägers verletzte, bereits auf Grund des Urteils des EGMR fest. Die Wiedereröffnung des Verfahrens würde insoweit134 in der Sache zu einer Verdoppelung des Rechtswidrigkeitsausspruchs führen; das verwaltungsgerichtliche Urteil wäre kaum mehr als ein Echo der EGMR-Entscheidung. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Fortsetzungsfeststellungsklage würde damit ausscheiden, wenn die Feststellung der Konventionsverletzung durch den EGMR im innerstaatlichen deutschen Recht beachtlich wäre. Dies wäre der Fall, wenn das Urteil des EGMR innerhalb der deutschen Rechtsordnung materielle Rechtskraft entfalten würde, alle Gerichte und Behörden somit die Feststellung der EMRK-Verletzung zu beachten hätten, wenn sie bei gleicher Sachund Rechtslage mit dem Verhältnis zwischen dem vor dem EGMR erfolgreichen Beschwerdeführer und der Rechtsperson, die Urheberin des verletzenden Rechtsakts ist, befasst sind. Jedoch wird die – oben dargestellte135 – Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR als eine „völkerrechtliche“ beschrieben.136 Die Verurteilung eines Konventi131
Die Beschwerde nach Art. 34 EMRK erfordert nicht, dass die Beschwer noch andauert; s. o. in Fußn. 64. 132 Zu den drei Stufen o. bei Fußn. 26 ff. 133 Dies wird bei Begründetheit der Fortsetzungsfeststellungsklage im Urteil zumindest konkludent ausgesprochen; s. Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 113, Rn. 147; § 121, Rn. 21. 134 Nicht übersehen werden darf freilich, dass bei zulässiger und begründeter Wiederaufnahmeklage die Sache erneut zu verhandeln und zu entscheiden ist, wobei der Streitgegenstand im wiederaufgenommenen Verfahren grundsätzlich derselbe ist wie im ursprünglichen Verfahren – mit der Folge, dass auch der gesamte dort bisher angefallene Verfahrensstoff wieder zu berücksichtigen ist (s. Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 153, Rn. 13). Ist die Neuverhandlung und -entscheidung folglich nicht beschränkt auf die Beseitigung des Wiederaufnahmegrundes, so ist es damit möglich, dass das Gericht im Verfahren nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO zu dem Schluss kommt, dass der Verwaltungsakt nicht allein wegen seiner EMRK-Widrigkeit, sondern auch aus anderen Gründen rechtswidrig gewesen ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt hat. 135 s.o. nach Fußn. 60 ff.
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onsstaates als solche zeitigt danach lediglich Rechtswirkungen auf der Ebene des Völkerrechts.137 Keine Aussage trifft die EMRK darüber, welche Rechtswirkungen den Entscheidungen des EGMR in der innerstaatlichen Rechtsordnung zukommen.138 Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus und betont, die Konvention solle „anders als das Recht einer supranationalen Organisation nicht in die staatliche Rechtsordnung unmittelbar eingreifen“.139 Doch ist der Konvention durch das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG für das innerstaatliche Recht der Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden. Dieser erfasst auch Art. 46 Abs. 1 EMRK. Das Bundesverfassungsgericht schließt daraus: „Innerstaatlich werden durch entsprechende Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden.“140 „Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs“ – so der Görgülü-Beschluss – „erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen“.141 Noch deutlicher hatte im Jahr 1985 ein Dreierausschuss des Zweiten Senats142 ausgeführt: „Zufolge des 136
Ehlers (Fußn. 31), § 2, Rn. 100. Dazu Ehlers, Jura 2000, 372 (382); Frowein (Fußn. 57), 850 (der zutreffend darauf hinweist, dass die Umsetzung der heutigen Art. 41, 44 und 46 Abs. 1 EMRK zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen parallele innerstaatliche Gebote entstehen lassen); Hilf, Der Rang der Europäischen Menschenrechtskonvention im deutschen Recht, in: Mahrenholz/Hilf/Klein (Fußn. 56), S. 19 (32); Klein (Fußn. 72), 709; Ress (Fußn. 57) 245 (der selbst im folgenden freilich feiner differenziert); Tomuschat, BK GG, Art. 24 (Zweitbearb./Erg. Juli 1985) Rn. 115. S.a. umfassend Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S. 188 ff. 138 Ehlers (Fußn. 31), § 2, Rn. 101. Es besteht, auch wenn inzwischen sämtliche Europaratsstaaten die EMRK in ihr innerstaatliches Recht einbezogen haben (Grabenwarter (Fußn. 56), § 3, Rn. 1), nicht einmal eine völkervertragliche Pflicht, die von der Konvention gewährleisteten Individualrechte als solche innerstaatlich anwendbar zu machen oder in innerstaatliches Recht zu transformieren. S. näher Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/ GG, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), Kap. 32, Rn. 67. A.A. Giegerich, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), Kap. 2, Rn. 12 ff. ; Polakiewicz (Fußn. 33), S. 239 ff. S.a. zur Vielfalt der Art und Weise, wie die Konventionsstaaten die EMRK inkorporieren: Ehlers (Fußn. 31), § 2, Rn. 10 f.; Frowein/Peukert (Fußn. 12), Einführung, Rn. 7; Giegerich (Fußn. 138), Rn. 16; Grabenwarter (Fußn. 56), § 3, Rn. 1 ff.; ders., VVDStRL 60 (2001), 290 (299 ff.). Allerdings muss der materielle Schutzstandard durch das innerstaatliche Recht gewahrt sein. Jedoch besteht erst recht keine Pflicht, Art. 46 EMRK als die Konventionsvorschrift über die Befolgungspflicht zu inkorporieren. Daher ist es unschädlich, dass Art. 46 EMRK etwa durch den britischen Human Rights Act 1998 nicht erfasst wird. 139 BVerfGE 111, 309 (322) – Görgülü. s. hierzu auch Cremer (Fußn. 138), Rn. 68 f., 70 ff. 140 BVerfGE 111, 309 (322 f.) – Görgülü. 141 BVerfGE 111, 309 (316) – Görgülü. 142 Welchen BVerfGE 111, 309 (323) – Görgülü ausdrücklich in Bezug nimmt. 137
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Rechtsanwendungsbefehls, den das Zustimmungsgesetz vom 7. August 1957 der Konvention erteilt hat, sind alle deutschen Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland gehalten, gemäß Art. 52 [nunmehr Art. 46] MRK die materielle Rechtskraft der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu beachten.“143 Zwar hatte der Dreierausschuss zuvor aus Art. 41 EMRK auf eine Beschränkung der Befolgungspflicht geschlossen: Einer der Fälle, in denen das nationale Recht nach Feststellung einer Konventionsverletzung nur eine „unvollkommene Wiedergutmachung“ gestatte und darum eine gerechte Entschädigung zu leisten sei (Art. 41 EMRK = Art. 50 EMRK a.F.), sei gerade der, dass innerstaatlich eine Wiederaufnahme durch rechtskräftige Gerichtsentscheidungen abgeschlossener Verfahren nicht vorgesehen sei. Damit werde Rücksicht auf das Institut der Rechtskraft genommen sowie „auf den hohen Rang, der ihm in den innerstaatlichen Rechtsordnungen allgemein beigemessen wird“.144 Rechtskräftige Entscheidungen nationaler Gerichte sollten ungeachtet der Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR unangetastet bleiben. Gleichwohl erklärt der Pakelli-Beschluss die materielle Rechtskraft von EGMR-Urteilen für innerstaatlich beachtlich und damit die Feststellung des EMRK-Verstoßes für maßgeblich. Im konkreten Fall „berührte“ das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil indessen nach Ansicht des Dreierausschusses „nicht die materielle Rechtskraft“ des vorausgegangenen EGMR-Urteils. Denn es habe nicht den Ausspruch des Gerichtshofs in Frage gestellt, die Bundesrepublik Deutschland habe gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK verstoßen.145 Im Umkehrschluss folgt daraus aber, dass es – und dies dürfte auch durch den Görgülü-Beschluss nicht ausgeschlossen sein146 – der Pflicht zur Beachtung der materiellen Rechtskraft eines 143 BVerfG (Dreierausschuss), B.v. 11.10.1985 – 2 BvR 336/85–, EuGRZ 1985, 654 (655) – Pakelli. 144 BVerfG (Fußn. 143), EuGRZ 1985, 654 (655) – Pakelli. 145 BVerfG (Fußn. 143), EuGRZ 1985, 654 (655) – Pakelli. 146 So stellt BVerfGE 111, 309 (316) – Görgülü fest: „Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß EMRK-Verstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen (…).“ „Innerstaatlich werden durch entsprechende Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden“ (ebd., 322 f.). Dass das BVerfG nicht von einer Pflicht zur (strikten) „Beachtung“ der Rechtskraft von EGMR-Urteilen spricht, dürfte daran liegen, dass verhindert werden soll, dass die Rechtskraft eines EGMR-Urteils sich über das Verfassungsrecht hinwegsetzt (s. näher u. bei Fußn. 154 ff.). Ein Indiz für die Wirkung der EGMR-Feststellung einer Konventionsverletzung im deutschen Recht stellt es dar, wenn BVerfGE 111, 309 (325) – Görgülü davon ausgeht, dass, wenn der vom EGMR festgestellte Konventionsverstoß im Erlass eines bestimmten Verwaltungsaktes liegt, die zuständige Behörde diesen nach den Regelungen des Verwaltungsverfahrensrechts aufheben könne, und dabei auf § 48 (!) VwVfG verweist („vgl.“), der die Rücknahme rechtswidriger (!) Verwaltungsakte regelt. Den Verwaltungsakt als rechtswidrig zu behandeln ist aber, wenn zuvor – im Zuge der Erschöpfung des Rechtswegs – eine gegen diesen Verwaltungsakt gerichtete An-
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EGMR-Urteils entspricht, dass deutsche Gerichte die Feststellung, Deutschland habe die Konvention verletzt, beachten. Ist aber bei der Beschreitung des Rechtswegs im Vorfeld des EGMR-Urteils etwa eine verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage als unbegründet abgewiesen worden, so steht damit auf Grund der Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils fest, dass der angefochtene Verwaltungsakt den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt – und zwar steht infolge der aus dem Grundsatz iura novit curia folgenden Pflicht der Verwaltungsgerichte, den angefochtenen Verwaltungsakt umfassend auf eine Rechtsverletzung des Klägers zu überprüfen, nach deutschem Recht rechtskräftig fest, dass der Verwaltungsakt in keinerlei Hinsicht den Kläger in dessen Rechten verletzt. Dann aber widerspricht die Beachtung der EMRK-Widrigkeit des Verwaltungsakts (als Folge der materiellen Rechtskraft des EGMR-Urteils) durch ein deutsches Gericht oder eine deutsche Behörde, die – etwa vorfrageweise – mit der Frage der Rechtswidrigkeit befasst sind, der materiellen Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils, mit dem letztinstanzlich die Anfechtungsklage abgewiesen worden ist. Ist das aber richtig, so lassen – anders als dies der Dreierausschuss im Pakelli-Fall aus der Existenz des heutigen Art. 41 EMRK schloss147 – EGMR-Urteile rechtskräftige Entscheidungen, von denen festgestellt worden ist, dass sie unter Verstoß gegen die EMRK zustande gekommen sind, doch nicht „unangetastet“. Zufolge des Rechtsanwendungsbefehls zur EMRK und damit auch zu Art. 46 EMRK durchbricht die materielle Rechtskraft des EGMR-Urteils jedenfalls in der Maßgeblichkeit der Feststellung der Konventionsverletzung doch rechtskräftige Urteile deutscher Gerichte. Da Art. 46 EMRK infolge der aus Art. 41 EMRK folgenden Beschränkung148 sich – jedenfalls in der Lesart des Dreierbeschlusses – diese Wirkung auf der völkerrechtlichen Ebene nicht selbst zuspricht, lässt sich dies schlüssig kaum anders erklären, als dadurch, dass EGMR-Urteilen durch das deutsche Zustimmungsgesetz diese rechtskraftdurchbrechende Wirkung zugesprochen wird. Dies erscheint plausibel im Lichte der Völker- und Menschenrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, die durch Art. 1 Abs. 2 GG eine besondere Betonung erfährt.149 fechtungsklage oder eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts als unbegründet abgewiesen worden ist, mit Blick auf eine – wohl entscheidende – subjektive Rechtsverletzung nur möglich, wenn man die Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR für maßgeblich hält. Insofern dürfte der Görgülü-Beschluss mit dem Pakelli-Beschluss wohl doch wieder harmonieren. – Freilich formuliert BVerfGE 111, 309 (325) – Görgülü unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den Pakelli-Beschluss restriktiver: „Bei einem Konventionsverstoß durch Gerichtsentscheidungen verpflichten weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz dazu, einem Urteil des Gerichtshofs, in dem festgestellt wird, dass die Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen (vgl. BVerfG (Fußn. 143), EuGRZ 1985, 654).“ 147 s.o. bei Fußn. 144. 148 s.o. nach Fußn. 143. 149 s. zu Art. 1 Abs. 2 GG: BVerfGE 111, 309 (329) – Görgülü.
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Trifft diese Sichtweise zu, so steht – und hiermit kommen wir zum Fall des inzwischen erledigten Verwaltungsakts zurück – schon auf Grund des EGMR-Urteils fest, dass in dem Beispiel der angefochtene Verwaltungsakt Konventionsrechte des Beschwerdeführers verletzt. Für eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit dem Ziel, das gleiche durch Fortsetzungsfeststellungsklage noch einmal feststellen zu lassen, besteht dann kein Rechtsschutzbedürfnis. Steht dies mit Blick auf ein hypothetisch wiederaufgenommenes Verfahren fest, so fehlt zugleich schon – auf der ersten Stufe150 – das Rechtsschutzbedürfnis für die Wiederaufnahmeklage selbst. Eine Verfahrenswiederaufnahme könnte insoweit allenfalls dazu dienen, die Sache neu zu verhandeln, um auf diese Weise Dritten, die neben dem Kläger an dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren beteiligt waren, die Möglichkeit zu geben, das Entscheidungsergebnis zu beeinflussen. Ein Bedürfnis hierfür könnte infolge des Görgülü-Beschlusses anzuerkennen sein. Denn dort hat das Bundesverfassungsgericht die Bindungswirkungen von EGMR-Urteilen relativiert mit Blick auf Fälle, in denen es sich „um ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will“.151 In den Gründen des Görgülü-Beschlusses erscheint dies als Problem der Bindung der deutschen Behörden und Gerichte an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG).152 Zu dieser Bindung gehört, so das Bundesverfassungsgericht, „auch die Berücksichtigung“ – man beachte die Wortwahl: „Berücksichtigung“, nicht „Beachtung“ – „der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung.“153 Als problematisch angesehen wird es, die EMRK-Gewährleistungen und EGMR-Urteile in „durch eine differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme“ „einzupassen“,154 die näher dahin charakterisiert werden, dass in ihnen „widerstreitende Grundrechtspositionen durch die Bildung von Fallgruppen und abgestuften Rechtsfolgen zu einem Ausgleich gebracht werden“.155 Denn das Bundesverfassungsgericht sieht es nicht als gesichert an, dass Dritte, deren Rechte von dem staatlichen Verhalten betroffen sind, das der EGMR in seinem Urteil als Verletzung eines EMRK-Individualrechts gewertet hat,
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Zu den drei Stufen o. bei Fußn. 26 ff. BVerfGE 111, 309 (327) – Görgülü. 152 Nämlich unter Gliederungspunkt C.I.3. s. BVerfGE 111, 309 (323 ff.) – Görgülü. 153 BVerfGE 111, 309 (323) – Görgülü. 154 Denn es könne „weder der völkervertraglichen Grundlage noch dem Willen des Gerichtshofs entsprechen …, mit seinen Entscheidungen gegebenenfalls notwendige Anpassungen innerhalb einer nationalen Teilrechtsordnung unmittelbar selbst vorzunehmen“, so BVerfGE 111, 309 (327) – Görgülü. 155 BVerfGE 111, 309 (327) – Görgülü. Es kann sich angesichts des Gleichrangs der EMRK mit Bundesgesetzen nur um Bundesrecht handeln, so zutreffend Grupp/Stelkens (Fußn. 1), 140, 142. 151
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hinreichend an dem Beschwerdeverfahren beteiligt worden sind.156 Die Rechte dieser Dritten – und hier geht es offensichtlich um deren Grundrechte – können in den Augen des Bundesverfassungsgerichts gebieten, im Widerspruch zur EMRK und deren Auslegung in dem konkreten EGMR-Urteil zu entscheiden.157 Wenn das EGMR-Urteil in einem inzwischen erledigten deutschen Verwaltungsakt eine Verletzung von durch die EMRK gewährleisteten Individualrechten gesehen hat, so kann man sich nicht recht vorstellen, welches Interesse der Beschwerdeführer selbst (dessen Anfechtungsklage zuvor von den deutschen Gerichten rechtskräftig abgewiesen worden ist) daran haben sollte, dieses Prozessergebnis durch eine Wiederaufnahmeklage in Frage zu stellen, wenn dies dazu führen könnte, dass seine nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO auf Feststellung umgestellte Klage trotz des EMRK-Verstoßes abgewiesen wird, weil in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis der Verwaltungsakt wegen seiner Wirkung zugunsten Dritter als rechtmäßig angesehen wird. Insofern ist allenfalls denkbar, dass der Vertreter des öffentlichen Interesses oder des Bundesinteresses nach § 153 Abs. 2 VwGO die Wiederaufnahme betreiben. Man könnte sich vorstellen, dass sie aus grundrechtlichen Schutz- und Fürsorgepflichten heraus sogar dazu verpflichtet sein könnten. Doch würde dies allein nicht dazu führen, dass die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts durch Klageabweisung in einer der Rechtskraft fähigen Weise festgestellt würde. Denn der Verwaltungsakt (so ist ja der Ausgangspunkt der Überlegungen) ist erledigt mit der Folge, dass für die Fortführung der Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehlt,158 und der Antrag nach § 113 Abs. 1 156
BVerfGE 111, 309 (328) – Görgülü. s. dazu Art. 36 Abs. 2 EMRK sowie: Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), Kap. 32, Rn. 87; Grupp/ Stelkens (Fußn. 1), 142; Meyer-Ladewig (Fußn. 98), Art. 37, Rn. 2; Meyer-Ladewig/Petzold (Fußn. 1), 17. 157 Deutlich insoweit BVerfGE 111, 309 (329) – Görgülü: „Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs etwa wegen einer geänderten Tatsachenbasis gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen, namentlich auch gegen Grundrechte Dritter verstößt. ,BerücksichtigenÏ bedeutet, die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht verstößt. Die Konventionsbestimmung muss in der Auslegung des Gerichtshofs jedenfalls in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, das Gericht muss sich zumindest gebührend mit ihr auseinander setzen. Bei einem zwischenzeitlich veränderten oder bei einem anderen Sachverhalt werden die Gerichte ermitteln müssen, worin der spezifische Konventionsverstoß nach Auffassung des Gerichtshofs gelegen hat und warum eine geänderte Tatsachenbasis eine Anwendung auf den Fall nicht erlaubt. Dabei wird es immer auch von Bedeutung sein, wie sich die Berücksichtigung der Entscheidung im System des jeweiligen Rechtsgebietes darstellt.“ Über Konflikte mit Verfassungsrecht hinauszuweisen scheint freilch der angeschlossene Satz: „Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs war.“ s.a. BVerfG (Fußn. 3) Abs.-Nr. 93 – Sicherungsverwahrung. 158 Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 113, Rn. 95.
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S. 4 VwGO steht nur dem Kläger zu.159 Die Klage müsste als unzulässig abgewiesen werden. Das gleiche müsste gelten, wenn der Kläger schon ursprünglich – also noch im Vorfeld seiner Beschwerde zum EGMR – eine Fortsetzungsfeststellungsklage betrieben hat, die dann rechtskräftig abgewiesen worden ist. Auch hier würde das Wiederaufgreifen des Verfahrens eine Prozesslage eröffnen, in der dem Kläger auf Grund der bindenden Feststellung der EMRK-Widrigkeit des Verwaltungsakts das Rechtsschutzinteresse fehlen müsste. f) Umstellung auf Fortsetzungsfeststellungsklage im wiederaufgenommenen Verfahren nach Erledigung einer Verpflichtungsklage Anders zu beurteilen sein mag die Situation, dass der EGMR einen EMRK-Verstoß in der Versagung eines begünstigenden Verwaltungsakts gesehen hat, eine Verurteilung zum Erlass dieses Verwaltungsakts aber nach Wiederaufnahme des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht mehr in Frage kommt – etwa wenn Art. 1 des (1.) Zusatzprotokolls zur EMRK durch Versagung einer Baugenehmigung verletzt worden ist, das betreffende Grundstück aber inzwischen veräußert worden ist, der entgegen Art. 8 EMRK abgelehnte Erlass eines polizeilichen räumlichen Aufenthalts- und Kontaktverbots nach Antritt der Strafhaft des „Stalkers“ oder die Erteilung eines im Widerspruch zu Art. 8 EMRK verweigerten Aufenthaltstitels für ein ursprünglich minderjähriges und wirtschaftlich abhängiges Familienmitglied nicht mehr in Betracht kommt, weil die Familie inzwischen nicht mehr in Deutschland lebt. Hier kann die Wiederaufnahme des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens selbst dann als sinnvoll erscheinen, wenn der Kläger seine ursprüngliche Verpflichtungsklage analog § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO160 auf den Antrag umstellt festzustellen, dass die Versagung des begehrten Verwaltungsakts rechtswidrig gewesen sei. Denkbar ist nämlich, dass das Urteil des EGMR einen EMRK-Verstoß in dem gänzlichen Versagen der begünstigenden Verfügung sieht (also in den Beispielsfällen: in der uneingeschränkten Versagung der Baugenehmigung, der völligen Ablehnung jeglicher polizeilichen Maßnahme gegen den „Stalker“ oder der Ablehnung jedweden Aufenthaltstitels), ohne jedoch zugleich auszusprechen, dass der Beschwerdeführer auch in vollem Umfang Anspruch auf den von ihm begehrten Akt hat. Der EGMR erkennt den Mitgliedstaaten nämlich regelmäßig eine „margin of appreciation“ zu, also einen Entscheidungsspielraum. Gerade in Folge dessen wird oftmals offenbleiben, ob anstelle der gänzlichen Versagung nicht auch ein Weniger als die volle Begünstigung gewährt werden könnte – etwa eine Baugenehmigung mit Auflagen, ein räumlich stärker beschränktes Aufenthalts- und Kontaktverbot oder eine Aufenthaltserlaubnis mit kürzerer als der beantragten Frist. Entsprechend können der Kläger oder die Klägerin ein schutzwürdiges Interesse daran haben, dass in einem wiederaufgenommenen Verfahren verwaltungsgerichtlich geklärt wird, ob er oder sie nicht Anspruch auf die volle Begünsti159 160
Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 113, Rn. 120. Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 122), Rn. 330 ff.
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gung gehabt hätten.161 Insoweit wird es möglich, die Grundrechte betroffener Dritter – im zweiten Beispiel des „Stalkers“ aus Art. 2 Abs. 1, Art. 11 GG, im dritten Rechte der Eltern aus Art. 6 Abs. 1 GG – in die neue Sachentscheidung mit einzubeziehen. Doch hängt das Ergehen einer Entscheidung zur Sache vom klägerischen Verhalten ab: Weder darf die Klage zurückgenommen noch der Rechtsstreit für erledigt erklärt werden. g) Zur Möglichkeit, das Verfahren über eine Feststellungsklage wiederaufzunehmen Die Überlegungen zu den Folgen, die es hat, dass ein Verwaltungsakt, dessen Anfechtung gescheitert ist, sich bis zum Erlass eines Urteils des EGMR erledigt hat, führen hin zur Frage, ob nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO die Wiederaufnahme einer Feststellungsklage (§ 43 VwGO) denkbar ist, wenn – wie hier vertreten – die Feststellung eines Konventionsverstoßes durch den EGMR schon kraft der Rechtskraft des EGMR-Urteils innerstaatlich beachtlich und maßgebend ist. Auch hier kommt es darauf an, inwieweit die ursprünglich im Verwaltungsprozess begehrte, aber rechtskräftig versagte Feststellung mit dem Ausspruch im Urteil des EGMR übereinstimmt. Bei Deckungsgleichheit fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis dafür, den Verwaltungsprozess wiederaufzurollen. Zwei Probleme stellen sich. Zunächst ist die Klage nach § 43 Abs. 1 VwGO auf die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gerichtet. Dagegen begehrt der Beschwerdeführer vor dem EGMR die Feststellung einer Rechtsverletzung. Dieser strukturelle Unterschied beseitigt jedoch nicht die Vergleichbarkeit. Die Feststellung einer Konventionsverletzung durch den EGMR kann nämlich ohne weiteres so gedeutet werden, dass der beklagte Staat zu einem bestimmten Verhalten dem Beschwerdeführer gegenüber nicht befugt war und damit ein bestimmtes Rechtsverhältnis („Zulässigkeit eines bestimmten Verhaltens gegenüber dem Beschwerdeführer“) nicht bestand.162 Damit stellt sich aber ein weiteres Problem. Denn die Beschwerde nach Art. 34 EMRK richtet sich gegen die Hohe Vertragspartei, also die Bundesrepublik Deutschland. Betraf der verwaltungsgerichtliche Rechtsstreit aber ein Rechtsverhältnis zu einem Bundesland oder einer Kommune, so scheint es hier eine Diskrepanz zwischen den am Rechtsverhältnis Beteiligten zu geben. Das prozessuale Rechtsverhältnis Beschwerdeführer-Bundesrepublik vor dem EGMR stimmt nicht mit dem prozessualen Rechtsverhältnis Kläger-Land/Kommune überein. Doch stellen sich aus Sicht der EMRK Land oder Kommune als Teil des Prozessrechtssubjekts Bundesrepublik Deutschland dar, die durch eine „Verurteilung“ entsprechend mit gebunden sind. Ferner erfasst die Feststellung eines EMRK-Verstoßes durch den EGMR 161
s. zu den Fallgruppen des berechtigten Interesses i.S. des § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO: Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 122), Rn. 579 ff. 162 Ganz in Entsprechung zur Beurteilung der Frage, ob die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts gegenüber der Feststellung des Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ein aliud ist; s. dazu Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 43, Rn. 5; § 113, Rn. 99; sowie ferner Lange, SächsVBl. 2002, 54; R.-P. Schenke, NVwZ 2000, 1257.
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sachlich ein spezifisches Verhalten der konventionsrechtlich als eine Gesamtheit zu verstehenden Bundesrepublik Deutschland mit allen involvierten innerstaatlichen Untergliederungen. Die Feststellung durch das EGMR-Urteil erstreckt sich also gerade auch auf ein Land oder eine Gemeinde, deren Verhalten die EMRK verletzt hat. Die Feststellung eines EMRK-Verstoßes durch den EGMR kann das Interesse des Beschwerdeführers an einer Wiederaufnahme des Rechtsstreits nach § 43 VwGO entfallen lassen, wenn dieses maximal zu einem im Wesentlichen inhaltsgleichen Ausspruch führen kann – etwa dass die Polizei nicht befugt war, den Kläger heimlich zu observieren.163 Dies dürfte der Regelfall sein. Es fällt schwer, sich Konstellationen vorzustellen, die anders zu beurteilen sind. Auch auf die Gefahr hin, sich dem Vorwurf lebensfremder Konstruktion auszusetzen, lässt sich aber denken, dass jemand mit seiner Klage die Feststellung beantragt, dass die Polizei im Zusammenhang mit der Abwehr einer bevorstehenden Entführung einer Person nicht befugt gewesen sei, 1) ohne richterliche Anordnung mit einem Lauschangriff Gespräche in seiner Wohnung abzuhören,164 2) den Inhalt dieser Gespräche zu verwerten,165 3) darauf, aber auch auf andere rechtmäßig gewonnene Erkenntnisse gestützt ihn längerfristig zu observieren.166 Ist diese Klage rechtskräftig abgewiesen worden, stellt aber auf eine Beschwerde des Klägers, die sich allein gegen den Lauschangriff (1) und die Verwertung der dabei gewonnenen Daten (2) richtet, der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest, so müsste auf eine Wiederaufnahmeklage hin das Verfahren wiedereröffnet werden können, um nunmehr zu klären, ob nicht auch die längerfristige Observation sich als rechtswidrig darstellt, weil die sonstigen (unabhängig von dem Lauschangriff, rechtmäßig gewonnenen) Erkenntnisse für sich allein nicht ausreichen. Versteht man die ursprünglichen Klageanträge nicht als auf drei voneinander trennbare Rechtsverhältnisse gerichtet,167 so wirft dies noch einmal ein Licht auf den Begriff des „Beruhens“ i.S. des § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO: Ein Urteil kann auch dann auf einem vom EGMR festgestellten Konventionsverstoß beruhen, wenn die Feststellung des EGMR unmittelbar vorfragenrelevant für das Verfahren ist.
163 s. zum Rechtsschutz gegen heimliche Datenerhebungen mittels verwaltungsgerichtlicher Feststellungsklage: Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 43, Rn. 5; § 113, Rn. 116; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 188. 164 s. etwa § 23 (insbes. Abs. 3 S. 8 i.V. mit § 22 Abs. 6) bad.-württ. PolG. 165 s. § 23Abs. 7 S. 3 Fall 1 i.V. mit Abs. 1 S. 1 bad.-württ. PolG. 166 s. § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 und Abs. 5 bad.-württ. PolG. 167 Dazu, dass als Rechtsverhältnis auch die einer selbstständigen Feststellung fähigen Teile von Rechtsverhältnissen anzusehen sind: Kopp/Schenke (Fußn. 7), § 43, Rn. 12.
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h) Kann die Wiederaufnahmeklage auch von Dritten erhoben werden, die in gleicher Weise wie der erfolgreiche Beschwerdeführer in ihren Konventionsrechten verletzt sind? aa) Ausstrahlung einer „Verurteilung“ durch den EGMR auf Parallelfälle Hält man hier inne, so scheint die zusätzlich zu § 359 Nr. 6 StPO durch § 580 Nr. 8 ZPO i.V. mit den Verweisungsvorschriften anderer Prozessordnungen installierte Wiederaufnahmeklage geeignet, es der Bundesrepublik Deutschland zu erleichtern, ihrer Pflicht zur Befolgung von EGMR-Urteilen aus Art. 46 Abs. 1 EMRK nachzukommen. Doch ist das Bild noch nicht vollständig. Denn EGMR-Urteile können durchaus auf Parallelfälle ausstrahlen. (1) Die Urteilsbefolgung durch gesetzgeberische Behebung eines EMRK-Verstoßes und ihre Ausstrahlung auf Parallelfälle Stellt der EGMR auf eine Individualbeschwerde hin fest, dass der Beschwerdeführer von dem beklagten Konventionsstaat in einem seiner Rechte aus der EMRK oder ihren Protokollen verletzt worden ist, so kann die Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK nämlich gebieten, dass der beklagte Staat durch einen Akt der Gesetzgebung reagiert. Dies ist zum einen möglich, wenn die Verletzung „in der Existenz des Gesetzes liegt“,168 also zunächst wenn der Beschwerdegegenstand vor dem EGMR eine Norm war, was nicht nur bei der Staaten-,169 sondern, wenn die Norm einen Einzelnen unmittelbar betrifft, auch bei der Individualbeschwerde vor dem EGMR möglich ist.170 Stellt in einem solchen Fall der EGMR fest, dass das Gesetz die Konvention verletzt, so folgt aus Art. 46 Abs. 1 EMRK, dass der Staat es aufzuheben hat.171 168
Rn. 7.
So die prägnante Formulierung von Frowein, in: Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46,
169 Die Staatenbeschwerde ist anders als eine Individualbeschwerde auch zulässig, wenn der beschwerdeführende Staat – ohne dass er einen konkreten Anwendungsfall nachweisen müsste – darlegt, dass eine bestimmte Gesetzesnorm Maßnahmen, die unvereinbar mit der Konvention sind, einführt, anordnet oder zulässt. EGMR No. 5310/71, Series A, no. 25; YB 19, 512, § 240 – Irland v. Vereinigtes Königreich; Frowein/Peukert, Art. 33 Rn. 10; Art. 41 Rn. 2; Garlicki/ Westerdiek, EuGRZ 2006, 517; E. Klein (Fußn. 71), 707. 170 Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 34, Rn. 27; Garlicki/Westerdiek (Fußn. 169), 517 m.w.N. 171 s. aus der Rspr.: EGMR, Marckx (Fußn. 57), § 58; Dudgeon (Fußn. 57), § 61 (s.a. § 40); Vermeire, Nr. 12849/87, Series A no. A 214-C (1991), §§ 25 ff.; Grant, Nr. 32570/03, ECHR 2006-VII, § 41 i.V. mit EGMR (GK), Christine Goodwin, Nr. 28957/95, ECHR 2002 VI, § 120; Lukenda , No. 23032/02, ECHR 2005-X, § 94 („…, the States have a general obligation to solve the problems that have led to the Court finding a violation of the Convention“). s. aus der Lit.: Frowein (Fußn. 57), 850; Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 2, 7; Klein (Fußn. 71), 707. A. A. Kilian, Die Bindungswirkung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 1994, 201 (es reiche aus, die Norm nicht weiter anzuwenden). Zutreffend weist Ress (Fußn. 56), 803, darauf hin, dass die Pflicht, die innerstaatliche Rechtsordnung im Einklang mit den Anforderungen der EMRK zu halten, – unabhängig von einem EGMR-
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Die Aufhebung aber begünstigt dann neben dem Beschwerdeführer alle sonst durch die Norm Belasteten. Der Erfolg der Individualbeschwerde wirkt sich so auf Dritte aus, die am Verfahren nicht beteiligt waren.172 Diese Pflicht gilt zum anderen aber auch dann, wenn mit einer Individualbeschwerde zwar ein Einzelakt als Konventionsverletzung gerügt worden ist, ein innerstaatliches Gesetz aber das Verhalten der betreffenden innerstaatlichen Stelle i.S. strikter Determination programmiert hat, eine Behörde oder ein Gericht also das Gesetz nicht – sei es durch Auslegung, sei es durch die Nutzung von Ermessensspielräumen – konventionskonform zu handhaben vermögen. Dann ist es oftmals nur durch eine Gesetzesänderung möglich zu verhindern, dass der normativ prädeterminierte Konventionsverstoß dem konkreten, vor dem EGMR erfolgreichen Beschwerdeführer gegenüber wiederholt wird.173 Folglich muss auch in solchen Fällen das abstraktgenerelle Gesetz geändert werden.174 In beiden soeben genannten Fällen greift die Befolgung des Urteils im konkreten Einzelfall zwangsläufig auf parallel gelagerte Fälle aus. Auch damit ist jedoch dem Sinn der EMRK-Gewährleistungen und dem mit der EMRK eingeführten Rechtsschutzsystem noch immer nicht hinreichend Rechnung getragen. Vielmehr muss der verurteilte Staat auch als verpflichtet angesehen werden, auch bei nicht strikt normativ prädeterminierten Verstößen zu verhindern, dass es in sachlich parallel liegenden Fällen, die andere Personen als den Beschwerdeführer betreffen, zu entsprechenden Konventionsverletzungen kommt.175 Auch dies stellt sich Urteil – bereits aus Art. 1 und Art. 57 aF (= Art. 52 nF) EMRK folgt. s.a. Ress, EMRK und Vertragsstaaten, 235. 172 Sehr klar: Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 8. 173 s.o. bei Fußn. 75. Dass die Verhinderung einer Wiederholung des Konventionsverstoßes gegenüber dem erfolgreichen Beschwerdeführer – die engen persönlichen Grenzen der Rechtskraft nachzeichnend – durch ein „Einzelpersonengesetz“ geschehen könnte, ist regelmäßig durch das Rechtsstaatsprinzip ausgeschlossen, das, wie die Präambel der EMRK zeigt, zu den Rechtsgrundsätzen gehört, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind – jedenfalls aber durch den fundamentalen Grundsatz der Rechtsgleichheit (vgl. a. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG). 174 Grabenwarter (Fußn. 56), § 16 Rn. 5 m.w.N. S. a. EGMR No. 6833/74, Series A no. 31, § 58 – Marckx (Fußn. 57) sowie EGMR, Norris, Nr. 10581/83, § 50 (1988) = EuGRZ 1992, 477 („it is inevitable that the CourtÏs decision will have effects extending beyond the confines of this particular case, especially since the violation found stems directly from the contested provisions and not from individual measures of implementation“) und dazu Okresek (Fußn. 71), 636. s.a. Garlicki/Westerdiek (Fußn. 169), 519. 175 So überzeugend Frowein, JuS 1986, 845 (850); Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 7 f., 18; Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 3, S. 94 mit Verweis auf Karl, Der Vollzug von EGMR-Urteilen in Österreich, in: Karl/Czech (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor neuen Herausforderungen, 2007, S. 39 (45 ff.); Okresek, EuGRZ 2003, 168 (170, s. a. 171). s. a. Polakiewicz (Fußn. 69), 153 ff., 156 ff.; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999, Rn. 233, 260 f. – s. nunmehr auch Art. 8 des neu aufgelegten ZP 14 (Council of Europe Treaty Series No. 194), der Art. 28 EMRK u. a. dahingehend neu fasst, dass ein Ausschuss aus drei Richtern eine Individualbeschwerde einstimmig für zulässig erklären und zur Begründetheit entscheiden kann, wenn die zugrunde
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als Teil der Befolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK dar und ist auch vom EGMR anerkannt.176 Zur Erfüllung dürften regelmäßig gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich sein. (2) Die Ausstrahlung von „Piloturteilen“ des EGMR auf Parallelfälle Der EGMR hat in jüngster Zeit sein Prozessrecht durchaus dramatisch fortgebildet, um – gleichsam in einem „Akt prozessualer Notwehr“177 – angesichts einer ungeheuren Zahl anhängiger Beschwerden seine Arbeitsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Zwar geht er auch weiterhin davon aus, dass in Folge der deklaratorischen Natur seiner Urteile es dem beklagten Staat obliege, unter der Überwachung des Ministerkomitees des Europarates seiner Befolgungspflicht nach Art. 46 EMRK nachzukommen.178 Doch hält er sich für befugt, hierbei dem beklagten Staat zu „helfen“, indem er die Art von Maßnahmen bezeichnet („indicate“), die getroffen werden könnten, um einer erkannten „systemic situation“, einem strukturellen Problem, einem systemischen Defekt in der EMRK-Befolgung, abzuhelfen. Der Gerichtshof könne dann mehrere Optionen vorschlagen („propose“) und dem betroffenen Staat die Wahl der Maßnahme und ihrer Umsetzung belassen; jedoch könne in anderen Ausnahmefällen einer Alternativlosigkeit der Gerichtshof beschließen, nur eine einzige Abhilfemaßnahme zu bezeichnen.179 Dies geschieht – anders als nach der EMRK eigentlich vorgesehen und darum in kühner Rechtsfortbildung180 – im Tenor der Entliegende Frage des Falles hinsichtlich der Auslegung oder der Anwendung der Konvention oder ihrer Protokolle schon Gegenstand der fest begründeten Fallrechtsprechung des Gerichtshofs ist. Dies zeigt ganz offenbar eine Präjudizwirkung der Entscheidungen der Kammern und insbesondere der Großen Kammer (s. Council of Europe, Explanatory Report to the CETS 194, § 68). 176 EGMR (GK), Maestri (Fußn. 77), § 47 nennt zunächst die Pflicht eines verurteilten Konventionsstaates aus Art. 46 EMRK, den festgestellten Konventionsverstoß zu beenden und restitutio in integrum zu leisten, sowie die durch Art. 41 EMRK gegebene Möglichkeit des EGMR, wenn das innerstaatliche Recht gar keine oder eine nur unvollständige Wiedergutmachung erlaubt, der verletzten Partei soweit angemessen eine gerechte Entschädigung zuzusprechen, um dann wörtlich fortzufahren: „It follows, inter alia, that a judgment in which the Court finds a violation of the Convention or its Protocols imposes on the respondent State a legal obligation not just to pay those concerned the sums awarded by way of just satisfaction, but also to choose, subject to supervision by the Committee of Ministers, the general and/or, if appropriate, individual measures (Hervorhebung nicht im Original) to be adopted in its domestic legal order to put an end to the violation found by the Court and to redress so far as possible the effects (…).“ Dabei beruft sich der Gerichtshof auf die Entscheidungen der Großen Kammer Scozzari u. Giunta (Fußn. 77), § 249, und Pisano, Nr. 36732/97, § 43 (2002). In der Folge ist diese Rechtsprechung etwa bestätigt worden in EGMR (GK) Sejdovic, (Fußn. 81), § 119 ff.; (GK) Scoppola (Fußn. 77), § 147. 177 Grabenwarter (Fußn. 56), § 16, Rn. 7, S. 96. 178 So etwa EGMR, Abbasov, Nr. 24271/05, § 36 (2008). 179 So EGMR, Abbasov (Fußn. 176), § 37 mit Verweis auf EGMR (GK), Assanidze (Fußn. 69), § 202. S. nunmehr auch EGMR, Aleksanyan (Fußn. 72), Nr. 46468/06, § 240. 180 Die EMRK weist dem EGMR lediglich die Feststellung einer Konventionsverletzung zu (s. Art. 41 EMRK), während die Befolgungspflicht der Staaten abstrakt-generell durch die Vertragsvorschrift des Art. 46 EMRK begründet wird. Dem Gerichtshof kommt damit nicht die
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scheidung, die damit den Charakter eines „Piloturteils“181 gewinnt.182 Systemische Defekte als konventionswidrige Verhaltensmuster erzeugen massenhaft EMRK-VerBefugnis zu, verbindlich festzulegen und einem einzelnen beklagten Staat in einer der Rechtskraft fähigen Weise vorzuschreiben, wie er sich verhalten muss, um die Befolgungspflicht zu erfüllen. Dies erkennt der EGMR der Sache nach auch an. Die Beschränkung der Kompetenz des EGMR zu Aussprüchen im Tenor hat auch eine institutionenrechtliche Dimension: Die EMRK nimmt nämlich eine Kompetenzscheidung vor, wenn sie bestimmt, dass ein Urteil des Gerichtshofs (welches eine Konventionsverletzung feststellt) dem Ministerkomitee des Europarates zuzuleiten ist, und diesem nichtrichterlichen Organ des Europarates die Aufgabe zuweist, die Durchführung zu überwachen („supervise its execution“); vgl. insbes. Richter Zagrebelsky, teilw. abw. M. zu EGMR (GK), Hutten-Czapska, Nr. 35014/97, ECHR 2006-VIII. Hieran ändert auch die Resolution des Ministerkomitees vom 12. Mai 2004 DH Res. (2004) 3 nichts Wesentliches, wenn sie unter Punkt I den Gerichtshof dazu einlädt, „as far as possible, to identify, in its judgments finding a violation of the Convention, what it considers to be an underlying systemic problem and the source of this problem, in particular when it is likely to give rise to numerous applications, so as to assist states in finding the appropriate solution and the committee of Ministers in supervising the execution of judgments“. Diese rechtlich unverbindliche Empfehlung des Ministerkomitees mag im Lichte der Regeln über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge (vgl. Art. 31 Abs. 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, BGBl. 1985 II S. 927) auf der internationalen Ebene als ausreichende Zustimmung der im Ministerkomitee vertretenen Vertragsparteien erscheinen, um ein Menschenrechtsabkommen fortzubilden. Doch fragt sich aus verfassungsrechtlicher Perspektive ernstlich, ob damit nicht die Grenzen des menschenrechtsschützenden „Integrationsprogramms“, welchem der deutsche Gesetzgeber nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zugestimmt hat, überschritten sind. Vgl. zur Vorstellung eines „Integrationsprogramms“ die auf Art. 24 Abs. 2 GG gemünzten Aussagen in: BVerfGE 104, 151 (206 ff., insbes. 209 ff.) – NATO-Konzept; 118, 244 (259 ff.) – Afghanistan-Einsatz; 121, 135 (157 ff.) – Luftraumüberwachung Türkei. Vgl. zur (gerade durch die Rspr. des EGMR vorangetriebenen) Entwicklung der EMRK und damit ihres jeweiligen „Entwicklungsstandes“: BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung; BVerfGE 111, 307 (319, 329) – Görgülü. Immerhin mögen die durch das 14. Zusatzprotokoll eingefügten Abs. 4 und 5 des Art. 46 EMRK die Rechtsprechung zum Piloturteilsverfahren in gewisser Weise zu stützen, denn danach ist der Gerichtshof zuständig, auf Antrag des Ministerkomitees darüber zu urteilen, ob ein beklagter Staat seine Pflichten aus Art. 46 Abs. 1 EMRK verletzt hat. S. zum Ganzen a. Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), Kap. 32, Rn. 98 ff., 101 ff. 181 s. zum Piloturteilsverfahren: den im Rahmen des Europarates erstellten Report of the Group of Wise Persons to the Committee of Ministers, CM(2006)203 vom 15. 11. 2006, §§ 100 ff., 140; Breuer, EuGRZ 2004, 445; ders., EuGRZ 2008, 121; L. Caflisch, Rechtsfolgen von Normenkontrolle, EuGRZ 2006, 521; ders., Neues zur Formulierung und Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in: FS Delbrück (2005), 101; Frowein/Peukert (Fußn. 12), Art. 46 Rn. 12 f.; Fyrnys, German Law Journal 2011, 1231 ff.; Okresek (Fußn. 71), 641 ff.; Schmahl, EuGRZ 2008, 369. 182 Folgen hat der Erlass eines Piloturteils – und dies trägt zur Kühnheit der Rechtsfortbildung bei – über den konkret entschiedenen Streitfall hinaus. Denn beim EGMR bereits anhängige Individualbeschwerdeverfahren in sachlich parallel gelagerten Fällen werden teils suspendiert (s. EGMR (GK), Broniowski, Nr. 31443/96, ECHR 2004-V, § 198 –EGMR, Xenides-Arestis, Nr. 46347/99, § 50 (2005); s.a. die differenzierende Lösung in EGMR, Burdov (Nr. 2), Nr. 33509/04, §§ 142 ff. (2009); keine Aussetzung paralleler Verfahren in EGMR, Rumpf (Fußn. 108), § 75) und sogar ohne Entscheidung zur Sache nach Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK aus dem Register gestrichen (EGMR, Wolkenberg et al., Nr. 50003/99, §§ 34 ff., 60 ff. (2007); Witkoswska-Tobola, Nr. 11208/02, §§ 38 ff., 62 ff. (2007). s. zur Aussetzung von
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letzungen und betreffen eine Vielzahl von Personen in gleicher oder ähnlicher Weise wie den Beschwerdeführer in einem konkreten Individualbeschwerdeverfahren. Sie können, soweit dies die bisherige Rechtsprechung zu beurteilen erlaubt,183 in einer konventionswidrigen Gesetzeslage ggf. gekoppelt mit administrativen Defiziten bestehen. Zu ihrer Bereinigung wird es normativer Änderungen und damit regelmäßig eines gestaltenden Eingreifens des Gesetzgebers bedürfen, der je auch wird darüber befinden müssen, ob und inwieweit eine EMRK-konforme Bereinigung der Rechtslage in die Vergangenheit zurückwirken soll.184 Die gesetzgeberischen Maßnahmen aber erfassen auch Parallelfälle zu dem konkret durch Piloturteil entschiedenen Fall. bb) Sind parallel Betroffene befugt, eine Wiederaufnahmeklage zu erheben? In allen genannten Fällen – der normativ zwingenden Ursache einer EMRK-Verletzung, der Verhinderung zukünftiger Parallelverstöße und der Umsetzung eines Piloturteils – entfalten die Maßnahmen, die der beklagte Staat in Befolgung eines EGMR-Urteils trifft, eine Wirkung, die auf dritte, an dem konkreten Verfahren nicht beteiligte Personen ausstrahlen. Betrachtet man § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO), so stellt sich damit die Frage, ob der Gesetzgeber nicht insoweit einem Irrtum erlegen ist, als er die Möglichkeit der Wiederaufnahme (verwaltungs-)gerichtlicher Verfahren offenbar auf den Fall beschränken wollte, dass nur dieselbe Person, die als Beschwerdeführer vor dem EGMR obsiegt hat, berechtigt sei, eine Wiederaufnahmeklage zu erheben. Im Lichte der Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung185 und der besonderen Verpflichtung, deutsche Gesetze im Einklang mit Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK auszulegen und anzuwenden,186 dürfte ein solcher Irrtum unbeachtlich sein. Dann aber ist zu fragen, ob § 580 Nr. 8 ZPO nicht erweiternd ausgelegt werden muss, um nach einem EGMR-Urteil, das im einen Fall eine EMRK-Verletzung festgestellt hat, neben dem konkret obsiegenden Beschwerdeführer auch allen in paralleler Weise Betroffenen die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren zu erlauben. Sein Wortlaut ließe dies zu. Natürlich könnte sofort eingewandt werden, eine solche Interpretation schieße über das Ziel der Völker- und Konventionsrechtsfreundlichkeit hinaus, da die EMRK ohnehin zur Eröffnung einer WiederaufnahmemöglichParallelverfahren: Cremer, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2. Aufl. 2011 (im Erscheinen), Kap. 32, Rn. 105 f. 183 EGMR (GK), Broniowski (Fußn. 180), §§ 189 ff. – Hutten-Czapska (Fußn. 178), §§ 231 ff. s.a. die Kammerentscheidungen: EGMR, Burdov (Nr. 2) (Fußn. 180), §§ 125 ff. (insbes. § 131 ff.); Olaru et al., Nr. 476/07 et al., §§ 49 ff. (2009); Rumpf (Fußn. 108), §§ 59 ff.; Xenides-Arestis (Fußn. 180), § 40; Yuriy Nikolayevich Ivanov, Nr. 40450/04, §§ 78 ff., 89 ff. (2009). Wohl auch nötig sind gesetzgeberische Maßnahmen nach EGMR, Suljagic´, Nr. 27912/ 02, §§ 63 ff. (2009). 184 Vgl. EGMR, Marckx (Fußn. 57), § 58. 185 s.o. bei Fußn. 49 ff. 186 BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung.
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keit nicht verpflichte. Doch ließe sich dem entgegenhalten, dass die Konvention insoweit nicht mehr als ein Zugeständnis an den hohen Rang mache, den innerstaatliche Rechtsordnungen allgemein der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen beimessen,187 während die Befolgungspflicht nach Art. 46 Abs. 1 EMRK einen zentralen Baustein im EMRK-Rechtsschutzsystem darstellt. Entscheide sich die Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke getreulicherer Befolgung von EGMR-Urteilen aber dafür, die Rechtskraft deutscher Gerichtsentscheidungen mittels Wiederaufnahmeverfahren durchbrechen zu lassen, so liege es zumindest im Geist der EMRK und damit auch im Sinn des Verfassungsgebotes der Völker- und Konventionsfreundlichkeit, § 580 Nr. 8 ZPO so auszulegen, dass er nicht nur vom einzelnen erfolgreichen Beschwerdeführer, sondern von allen in paralleler Weise Betroffenen gebraucht werden könne. Allzu stark erscheint eine solche Argumentation freilich nicht. Denn wenn der Gesetzgeber beabsichtigte, nur dem vor dem EGMR obsiegenden Beschwerdeführer die Wiederaufnahme zu gestatten, so befindet sich diese Absicht – trotz des möglichen Irrtums über die Reichweite des Art. 46 Abs. 1 EMRK – im Einklang mit sonstigen Wertungen in der deutschen Rechtsordnung, zumal im Verfassungsprozessrecht des Bundes. Dieses trifft Regelungen für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht eine Norm für unvereinbar mit dem Grundgesetz oder für nichtig oder eine Normauslegung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt und sieht die Wiederaufnahme des Verfahrens nur für rechtskräftige Strafurteile vor, die auf einer solchen Norm oder verfassungswidrigen Auslegung beruhen (§ 79 Abs. 1 BVerfGG). Im Übrigen aber bleiben grundsätzlich188 die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen ausdrücklich unberührt (§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Aus ihnen darf nur nicht vollstreckt werden (§ 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Um des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit willen sollen rechtskräftig abgeschlossene Verfahren selbst dann nicht wieder aufgerollt werden, wenn sie auf einem Gesetz beruhen, das gegen die höchsten innerstaatlichen Normen verstößt. Dass EGMR-Urteilen, die auf Individualbeschwerden hin ergehen, durch § 580 Nr. 8 ZPO i.V. mit den Verweisungsnormen anderer Prozessordnungen eine stärkere Wirkung, eine breitere Ausstrahlung auf Parallelfälle zukommen soll, lässt sich schwerlich annehmen. Insofern erscheint es innerhalb der deutschen Rechtsordnung als konsistent und richtig, den Restitutionsgrund des §580 Nr. 8 ZPO, wie dies schon die Gesetzesmaterialien nahelegen, dahin zu verstehen, dass ihn nur derjenige geltend machen kann, der in eigener Person ein obsiegendes Urteil vor dem EGMR errungen hat. Zur Erweiterung der Wiederaufnahmeklage auf Parallelfälle bedürfte es – ebenso wie zur Begründung der Unvollstreckbarkeit rechtskräftiger, in Parallelfällen ergangener Entscheidungen (vgl. § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG)189 – einer konstitutiven gesetzgeberischen Entscheidung. 187
Vgl. BVerfG (Dreierausschuss) EuGRZ 1985, 654 (655) – Pakelli. Vorbehaltlich des § 95 Abs. 2 BVerfGG oder einer besonderen gesetzlichen Regelung. 189 s. auch BVerfGE 115, 51 zur analogen Anwendung des § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG im Gefolge der Bürgschaftsentscheidung (BVerfGE 89, 214); s.a. dazu kritisch: Cremer, FS Schnapp, 2008, 741. 188
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III. Verwaltungsverfahrensrechtliche Wirkungen einer „Verurteilung“ durch den EGMR 1. Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens in den Fällen des § 580 Nr. 8 ZPO § 580 Nr. 8 ZPO hat über das Verwaltungsprozessrecht hinaus Bedeutung auch für das Verwaltungsverfahrensrecht, wie sich an § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG190 ablesen lässt. Danach hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind.191 Dies schließt den Fall ein, dass der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und – so die gebotene entsprechende Anwendung – der Verwaltungsakt auf dieser Verletzung beruht. Eröffnet ist damit eine verwaltungsverfahrensrechtliche Möglichkeit, in Erfüllung der Pflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK – die ja alle „staatlichen Organe“, „alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt“ trifft192 – einen Konventionsverstoß zu beseitigen. Dieser kann einerseits darin bestehen, dass der Verwaltungsakt an einem Verfahrensmangel leidet (etwa durch die Verwertung von Daten, die unter Verletzung von Art. 8 EMRK gewonnen wurden). Andererseits kann auch die durch den Verwaltungsakt getroffene Regelung ein EMRK-Recht verletzen. Das „Beruhen“ auf einer EMRK-Verletzung ist wie im Verwaltungsprozessrecht im Lichte der Urteilsbefolgungspflicht aus Art. 46 Abs. 1 EMRK zu verstehen.193 Liegt der Wiederaufgreifensgrund vor, so ist die Behörde verpflichtet, darüber zu entscheiden, ob sie den unanfechtbaren194 Verwaltungsakt aufhebt oder abändert. Hierzu greift sie das Verwaltungsverfahren wieder auf. Dies gibt ihr die Möglichkeit, auch die Rechte betroffener Dritter in ihre Erwägungen mit einzubeziehen und auf diese Weise insbesondere die Problematik von „durch eine differenzierte Kasuistik geformten nationalen Teilrechtssysteme“ zu verarbeiten.195 Dadurch – so das Kernanliegen des Görgülü-Beschlusses196 – vermag die Behörde, in der innerstaatlichen Rechtsordnung normhierarchisch vorrangigen, etwa aus den Grundrechten der Drittbetroffenen folgenden Verfassungsgeboten zum Durchbruch zu verhelfen gegenüber der einfachge190
Und entsprechender Vorschriften in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder. Die Möglichkeit, einen Antrag nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 (beachte auch Abs. 2 und 3) VwVfG zu stellen, schließt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Wiederaufnahmeklage nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit §§ 580 Nr. 8, 582 ff. ZPO nicht aus, zumal eine Rechtsverletzung des Betroffenen auch durch die Verwaltungsgerichte in Frage steht. 192 BVerfGE 111, 309 (316, 322 f.) – Görgülü (s. auch o. in Fußn. 146). 193 s. o. bei Fußn. 54 ff. 194 Da ein Verwaltungsakt auch dann unanfechtbar wird, wenn ein Betroffener versäumt, fristgerecht Widerspruch zu erheben, decken sich die Fälle der Unanfechtbarkeit und der rechtskräftigen Abweisung einer Anfechtungsklage bekanntlich nicht. Die Wiederaufgreifensmöglichkeit hat schon von daher eine von § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO verschiedene Reichweite. 195 s. dazu o. bei Fußn. 154 ff. 196 s. o. bei und in Fußn. 157. 191
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setzlichen Bindung an das EGMR-Urteil und an die Individualrechte der EMRK. Dass darin ein Völkerrechtsbruch läge, bedarf der Betonung. Dass das Grundgesetz diesen Völkerrechtsbruch gebieten könnte, muss als unwahrscheinlich, zumindest als auf Grund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes197 an sich nicht gewollter Ausnahmefall angesehen werden. Denn wie gezeigt198 dienen die Gewährleistungen der EMRK als „Auslegungshilfe“ gerade auch bei der Interpretation der Grundrechte des Grundgesetzes.199 Dies gilt auch in mehrpoligen Konfliktlagen. 2. Möglichkeiten der Behörde, einen konventionswidrigen Verwaltungsakt von Amts wegen aufzuheben Das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens setzt einen Antrag des Betroffenen voraus. Dies ist an und für sich mit der EMRK vereinbar.200 Es fragt sich aber, ob eine Behörde auch aus eigenem Antrieb einen konventionswidrigen Verwaltungsakt aufheben kann. Unproblematisch steht ihr diese Befugnis zu, soweit es um einen belastenden201 Verwaltungsakt geht. Denn wie die von § 51 VwVfG unberührten202 Vorschriften des § 48 Abs. 1 S. 1 und § 49 Abs. 1 VwVfG zeigen, besitzt die Behörde203 die Befugnis, einen solchen Verwaltungsakt sowohl im Fall seiner Rechtswidrigkeit als auch im Fall seiner Rechtmäßigkeit nach pflichtgemäßem Ermessen aufzuheben. Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes folgt aber prima facie zumindest eine Verengung des Ermessensspielraums, sind doch alle hoheitlich tätigen Stellen im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten „grundsätzlich“204 verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht einen vom EGMR festgestellten und fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen.205 Recht besehen ist das Ermessen aber sogar auf Null reduziert, ist doch im Lichte des Art. 20 Abs. 3 GG nicht ersichtlich, inwieweit die Aufrechterhaltung eines einseitig belastenden konventionswidrigen Verwaltungsakts ermessensfehlerfrei sein könnte – zumal, wie 197
s. o. bei und in Fußn. 49. BVerfGE 74, 358 (370) – Unschuldsvermutung; 111, 307 (317, 329) – Görgülü. s. o. bei Fußn. 129. 199 s. auch o. in Fußn. 51. 200 s. o. in Fußn. 102. 201 Für die Abgrenzung zwischen belastenden und begünstigenden Verwaltungsakten gibt den Ausschlag, welche Wirkung beim Adressaten eintritt (Ruffert, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 24, Rn. 12). 202 § 51 Abs. 5 VwVfG. 203 Grundsätzlich handelt es sich um die erlassende Behörde; die Zuständigkeit kann sich aber gegenüber der „Erlasssituation“ verschieben (für die örtliche Zuständigkeit trifft § 48 Abs. 5 i.V. mit § 3 VwVfG Vorkehrungen, die nach § 49 Abs. 6 S. 2 VwVfG entsprechend gelten). 204 s. dazu o. Fußn. 196 und bei und in Fußn. 157. 205 BVerfGE 111, 307 (316) – Görgülü. 198
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oben gezeigt,206 die Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den EGMR für deutsche Behörden und Gerichte beachtlich ist. Gerade diese Maßgeblichkeit der vom EGMR festgestellten EMRK-Verletzung hat Bedeutung für die Aufhebbarkeit von begünstigenden Verwaltungsakten mit konventionswidrig belastender Drittwirkung.207 Denn da nach dem EGMR-Urteil die Konventionswidrigkeit der Belastung des Dritten für alle staatlichen Stellen feststeht, der Verwaltungsakt also „grundsätzlich“ – d. h. nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts: vorbehaltlich einer die konventionsrechtliche Wertung verdrängenden Verfassungsrechtslage – rechtswidrig ist, richtet sich die Aufhebung nach § 48 VwVfG. Dieser strukturiert auch in seinen Absätzen 2 bis 4 die Art und Weise, wie auf die Interessen des begünstigten Adressaten des Verwaltungsakts Rücksicht zu nehmen ist. Damit vermag er auf die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen mehrpoligen Konflikte zu reagieren – und ausnahmsweise Verfassungsrecht, soweit dies zwingend ist und die Anforderungen der EMRK nicht aufzunehmen vermag, gegenüber der Beseitigung der EMRK-Verletzung zum Durchbruch zu verhelfen. Zu beachten ist dabei, dass Absätze 2 bis 4 des § 48 VwVfG gerade das Vertrauen des Begünstigten schützen. § 50 VwVfG schließt diese Vorkehrungen nur aus, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt, der von einem Dritten angefochten worden ist, während des Vorverfahrens oder während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben wird, soweit dadurch dem Widerspruch oder der Klage abgeholfen wird. Insofern kann gerade die Wiederaufnahme des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nach § 153 Abs. 1 VwGO i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO der Behörde einen größeren Spielraum verschaffen. IV. Schlussbetrachtung Blicken wir zurück, so lassen sich folgende Ergebnisse festhalten: Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, rechtskräftig abgeschlossene Gerichtsverfahren nach einer Verurteilung Deutschlands durch den EGMR wiederaufzunehmen, in die ZPO eingefügt in dem Bewusstsein, dass dies auf andere Prozessordnungen ausstrahlen werde. Impliziert wird eine der Konventionsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung geschuldete Relativierung der Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 Abs. 1 BVerfGG. Die gesetzgeberische Absicht bei der Schaffung des § 580 Nr. 8 ZPO war es, die Umsetzung von EGMR-Urteilen zu erleichtern und die deutsche Rechtsordnung konventionsfreundlicher zu gestalten. § 580 Nr. 8 ZPO ist daher im Lichte der Rechtswirkungen auszulegen, welche die Feststellung einer EMRK-Verletzung durch den EGMR zeitigt. Diese sind auf Grund des deutschen Zustimmungsgesetzes zur EMRK und den einschlägigen Protokollen innerstaatlich beachtlich. Aus der materiellen Rechtskraft i. e. S. eines EGMR-Urteils, das eine Konventionsverletzung durch die Bundesrepublik Deutschland feststellt, folgt, dass diese Ver206 207
s. o. bei Fußn. 145 ff. Dazu, dass auch sie als „begünstigend“ anzusehen sind, o. in Fußn. 201.
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letzung nicht mehr geleugnet werden darf. Darüber hinaus verpflichtet Art. 46 EMRK den „verurteilten“ Staat dazu, den Verstoß unverzüglich zu beenden, ihn nicht zu wiederholen und so weit wie möglich die Situation vor der Verletzung wiederherzustellen. Geschuldet ist grundsätzlich ein bestimmter Erfolg; die Wahl der Mittel steht dem Staat frei, kann sich aber auf wenige, wenn nicht auf eine einzige Möglichkeit verengen. Die EMRK schreibt nicht vor, dass die Konventionsstaaten die Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Gerichtsverfahren vorsehen müssten. Durch den Ausschluss der Wiederaufnahme scheidet lediglich ein Mittel zur Bewirkung der restitutio in integrum aus; ihr Ziel jedoch bleibt unberührt. Dies stützt der EGMR inzwischen nicht mehr allein auf Art. 46 EMRK, sondern auch auf Schutzpflichten, die aus den materiellen Individualrechtsgewährleistungen der Konvention folgen.208 Die konventionsrechtlichen Pflichten zur Bereinigung eines EMRK-Verstoßes strahlen aus auf den Wiederaufnahmegrund des § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO): Eine (verwaltungsgerichtliche) Entscheidung „beruht“ auf der vom EGMR festgestellten Konventionsverletzung, wenn diese Verletzung nach einer Wiederaufnahme des ursprünglichen Hauptsacheverfahrens und Beseitigung der rechtskräftigen Entscheidung, sei es durch die Gestaltung des gerichtlichen Verfahrens, sei es durch eine veränderte Sachentscheidung, ganz oder auch nur teilweise behoben werden kann. Auf Grund des deutschen Zustimmungsgesetzes zur EMRK hat die materielle Rechtskraft eines EGMR-Urteils gegen Deutschland zur Folge, dass mit Wirkung für alle Träger von Hoheitsgewalt die Konventionswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens der deutschen öffentlichen Gewalt festgestellt wird. Die Maßgeblichkeit dieser Feststellung kann – so ist der Görgülü-Beschluss BVerfGE 111, 307 zu lesen – nur durch Verfassungsrecht, insbesondere durch Grundrechte Dritter, und damit höchst ausnahmsweise in Frage gestellt sein. Soweit die Maßgeblichkeit des EGMR-Urteils reicht, besteht für eine Wiederaufnahmeklage kein Rechtsschutzbedürfnis, soweit mit ihr nicht mehr als die gerichtliche Feststellung der Konventionswidrigkeit erreicht werden könnte. Art. 46 EMRK verlangt von dem beklagten Staat über die konkrete individuelle Wiedergutmachung der festgestellten Konventionsverletzung hinaus die Änderung von Gesetzen, die diese Verletzung programmiert haben, sowie die Verhinderung einer Wiederholung entsprechender Verletzungen anderer Träger von EMRK-Rechten. Durch „Piloturteile“ werden diese Pflichten durch den Gerichtshof in neuerer Zeit akzentuiert (mit konventionsrechtlich nicht unproblematischen Folgewirkungen für anhängige und künftige Parallelverfahren vor dem EGMR). Diese Ausstrahlung von Urteilen in Individualbeschwerdeverfahren auf Parallelfälle erweitert gleichwohl nicht die Möglichkeit der Wiederaufnahmeklage nach § 580 Nr. 8 ZPO (i.V. mit § 153 Abs. 1 VwGO). Diese bleibt demjenigen Beteiligten eines (verwaltungs-)gerichtli208
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chen Verfahrens vorbehalten, der selbst als Beschwerdeführer ein Urteil des EGMR erstritten hat, in dem die Verletzung seiner Rechte festgestellt worden ist. Schließlich wirkt sich § 580 Nr. 8 ZPO auch auf das Verwaltungsverfahrensrecht aus. Denn dieser Wiederaufnahmegrund führt über § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG (und entsprechende Vorschriften der Länder) dazu, dass die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden hat. Dieses Wiederaufgreifen des Verfahrens erlaubt es stärker als § 153 Abs. 1 i.V. mit § 580 Nr. 8 ZPO, die Rechte und Interessen Drittbetroffener zu berücksichtigen. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, dass die Behörde in der Lage ist, auch von Amts wegen einen einseitig belastenden Verwaltungsakt, dessen Konventionswidrigkeit der EGMR festgestellt hat, nach § 48 VwVfG (und entsprechender landesgesetzlicher Vorschriften) zurückzunehmen. Dabei ist ihr Ermessen auf Null reduziert. Die Aufhebung eines begünstigenden, einen Dritten aber konventionswidrig belastenden Verwaltungsakts ist durch die Vorschriften des § 48 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 bis 4 VwVfG beschränkt. Die zur Bereinigung des EMRK-Verstoßes erforderliche Rücknahme darf hier nur aus verfassungsrechtlichen Gründen – etwa des Vertrauensschutzes – und nur ausnahmsweise unterbleiben.
Das Sonderverwaltungsprozessrecht des Asylverfahrens Von Klaus Ferdinand Gärditz I. Sonderverwaltungsprozessrecht – zum Nischendasein verurteilt? Der Jubilar hat das Verwaltungsprozessrecht entscheidend wissenschaftlich geprägt und hierbei nicht zuletzt über den von ihm verfassten Standardkommentar1, der den Schreibtisch jedes deutschen Verwaltungsrichters zieren dürfte, auch in die Praxis der Prozessrechtsanwendung maßgeblich hineingewirkt. Der vorliegende Beitrag möchte sich einem Ausschnitt des Verwaltungsprozessrechts widmen, der gerade in der Praxis der Verwaltungsgerichte eine zentrale Rolle spielt: dem Sonderverwaltungsprozessrecht im Asylverfahren. In der Verwaltungsrechtswissenschaft wird der Stellenwert von Organisation und Verfahren in jüngerer Zeit – hierin liegt nicht zuletzt ein großes Verdienst der Reformdiskussion im Allgemeinen Verwaltungsrecht – mit Recht besonders hervorgehoben.2 Jedoch konzentriert sich die Diskussion bislang vornehmlich auf das Verwaltungsverfahrensrecht, während das Verwaltungsprozessrecht meist zu Unrecht eher vernachlässigt wurde3 oder im Schatten des materiellen Rechts blieb. Dabei ist das Prozessrecht in einem institutionell ausdifferenzierten Rechtsstaat ein zentrales Scharnierelement, das sowohl den Umgang mit den relevanten Tatsachen als auch die Rolle der rechtsprechenden Gewalt im gestuften Prozess der Rechtserzeugung entscheidend determiniert. Der kaum zu überschätzende Stellenwert der Rechtsprechung für die verwaltungsrechtliche Systembildung4 ist daher nicht nur ein Produkt der viel beachteten Konstitutionalisierung5, sondern auch der Justizialisierung des Verwaltungsrechts auf der Basis eines Systems des Verwaltungsprozessrechts. In dessen 1
Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009. Stellvertretend Kahl, Die Verwaltung 29 (1996), 341 ff.; ders., VerwArch 95 (2004), 1 ff.; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2004, S. 27, 239 ff., 356 ff.; ders./Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997. 3 Mit Recht für eine Stärkung der Rechtsprechungsanalyse Möllers, VerwArch 93 (2002), 22 (56); Schoch, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 177 (203 ff.). 4 Nachdrücklich Schmidt-Aßmann, VBlBW 1988, 381 ff.; Schulze-Fielitz, FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 1061 ff.; Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht in den letzten fünf Jahrzehnten, 2006, S. 39 f. 5 Eindringlich Wahl (Fußn. 4), S. 16 ff., 35 ff., 97 ff. 2
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Zentrum steht zweifelsohne die VwGO. Verwaltungsprozessrecht findet sich indes nicht nur in der VwGO und in den in Bezug genommenen Normen des Zivilprozessund Gerichtsverfassungsrechts (vgl. § 173 VwGO6), sondern gerade auch in verwaltungsrechtlichen Fachgesetzen.7 Solches Sonderverwaltungsprozessrecht scheint freilich gänzlich in den Bereich opaker Spezialmaterien abgewandert zu sein, die sich nur selten wissenschaftlicher Aufmerksamkeit erfreuen. Dieses Schicksal, das das Sonderverwaltungsprozessrecht mit dem Sozial- und Finanzprozessrecht teilt,8 ist keineswegs zwingend. Denn das besondere Verwaltungsrecht ist nicht nur praxisnahes Fachrecht, sondern über geeignete Referenzgebiete9 stets auch Impulsgeber für die allgemeine wissenschaftliche Systembildung und Experimentierlabor für die Bewährung abstrakter dogmatischer Gebäude in der Rechtsanwendung10 – kein „AT“ ohne „BT“. Was aber kann das allgemeine vom besonderen Verwaltungsprozessrecht lernen? Geeignetes Referenzgebiet zur Beantwortung dieser Fragen ist das Asylverfahrensrecht, da das maßgebliche Fachrecht des AsylVfG11 nicht nur ein besonderes Verwaltungsverfahren12, sondern auch ein integriertes Sonderverwaltungsprozessrecht13 enthält. Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund exemplarisch die Besonderheiten und Ansätze zur prozessualen Problembewältigung im Asylprozessrecht untersucht werden, um zugleich Licht auf die potentielle Rolle des Sonderverwaltungsprozessrechts für die allgemeine wissenschaftliche Systembildung zu werfen. II. Verfassungsunmittelbares Verwaltungsprozessrecht – ein regelungstechnischer Fehlgriff? Eine erste Besonderheit des Asylverfahrens besteht in der detaillierten Durchformung des Verwaltungsprozessrechts durch verfassungsrechtliche Vorgaben. Hintergrund ist der sog. Asylkompromiss, aus dem die heutige Regelung des Art. 16a GG hervorgegangen ist. Art. 16a II 2 GG a. F. hatte sich auf die schnörkellose individualgrundrechtliche Gewährleistung des Asylrechts für politisch Verfolgte beschränkt. 6
Ferner §§ 54 I, III, 55, 57 II, 83, 98, 102 III, 105, 123 III, 153 I, 159 S. 1, 165a, 166, 167 S. 1 VwGO. 7 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 1), Vor § 40, Rn. 9a. Siehe die Erweiterungen des Rechtsschutzes im Umweltrecht (UmwRG, § 64 BNatSchG) oder das Sonderprozessrecht im (teils den ordentlichen Gerichten zugewiesenen) Regulierungs- und Wettbewerbsrecht (§§ 137 ff. TKG, §§ 75 ff. EnWG, §§ 63 ff., 116 ff. GWB). 8 Kritisch Gärditz, Die Verwaltung 43 (2010), 309 (336 f.); Hufen, Die Verwaltung 42 (2009), 405 (421, 431 ff.). 9 Grundlegend Schmidt-Aßmann (Fußn. 2), S. 8 f., 111 ff. 10 Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 268. 11 Asylverfahrensgesetz i. F. der Bekanntmachung v. 2. 9. 2008 (BGBl. I S. 1798), das durch Art. 18 G v. 17. 12. 2008 (BGBl. I S. 2586) geändert worden ist. 12 Im Überblick Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 760 ff. 13 Eingehend Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 1984 ff.
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Diese Regelung wurde zwar wortlautgleich in Art. 16a I GG übernommen, sodass das Asylrecht als Individualgrundrecht erhalten blieb. Umfang und Inhalt der Gewährleistung wurden aber durch einen technisch anmutenden Regelungskomplex in den Absätzen 2 – 5 im Wege materiell-rechtlicher Ausnahmen und verfahrensrechtlicher Hürden weitgehend zurückgenommen.14 Den Hintergrund der Verfassungsänderung bildeten auf dem Höhepunkt der ,AsylwelleÐ einwanderungspolitische Bedürfnisse nach einer effektiven Eindämmung der Asylbewerberzahlen und einer Beschleunigung des Asylverfahrens.15 Dies hat dazu geführt, dass auch verwaltungsprozessuale Detailfragen in die Verfassung aufgenommen wurden: Aufenthaltsbeendigende Maßnahmen gegen Asylsuchende, die aus einem sicheren Drittstaat in das Bundesgebiet eingereist sind, können nach Art. 16a II 3 GG unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. Art. 16a III 2 GG statuiert eine gerade auch von den Gerichten zu beachtende Vermutungswirkung der Nichtverfolgung in sicheren Herkunftsstaaten. Art. 16a IV GG enthält schließlich konkrete Vorgaben zur gerichtlichen Abwägung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen. Damit drängt sich die Frage auf: Ist eine solche gezielte Konstitutionalisierung von Details des Verwaltungsprozessrechts funktionsadäquat? Die entstandene Regelung des Art. 16a II-V GG weist eine Technizität auf, die als verfassungsrechtlicher Stilbruch wahrgenommen wurde. Freilich hat sich seitdem ganz allgemein ein Stil der Verfassungsänderung verfestigt, die zur Erreichung der notwendigen Mehrheiten (Art. 79 II GG) erforderlichen Kompromisse in eher technische Regelungen umzugießen,16 die dann zwar die Erwartungen aller Beteiligten durch änderungsfeste Regelungen absichern, zugleich aber den Verfassungstext sperrig erscheinen lassen und ihm den Hauch des Grundsätzlichen17 rauben.18 Art. 16a GG wurde seinerzeit jedenfalls ganz überwiegend attestiert, ein Fremdkörper im Grundgesetz zu sein. Es würden Fragen auf Verfassungsebene entschieden, die auf Grund ihrer Trivialität und Detailliertheit regelungssystematisch besser in das einfache Gesetzesrecht hätten übernommen werden sollen.19 Die verfassungsrechtliche Rege14 Siehe Krumsiek, DRiZ 1994, 46 ff. Kritisch Franßen, DVBl. 1993, 300; Lübbe-Wolff, DVBl 1996, 825 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl., 2010, Rn. 1079; Tomuschat, EuGRZ 1996, 381 (386); Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (60); Zimmermann/Tams, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar GG, 2011, Art. 16a, Rn. 38; positiver demgegenüber Frowein/Zimmermann, JZ 1996, 753 (764); Hailbronner, NVwZ 1996, 625. 15 Siehe Masing, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 16a, Rn. 12; Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1162). 16 Vgl. etwa Art. 13, 72, 84, 91c, 91e, 104a, 104b, 106a, 106b, 109, 109a, 115 II, 125a, 125b, 125c, 143c, 143d GG. Zur Entwicklung Graf Vitzthum, in: Grabenwarter/Depenheuer, Verfassungstheorie, 2010, § 10, Rn. 19. 17 Analytisch Grimm, in: Deutscher Bundestag, Wie wir mit dem Werk des Parlamentarischen Rates umgehen – oder: Wie viele Änderungen verträgt das Grundgesetz?, 2010, S. 12 (15 f.). 18 Kritisch etwa Grimm, FAZ v. 29. 12. 2010, S. 6; Korioth, JZ 2009, 729 (736 f.); Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1259 f.); Voßkuhle, AöR 119 (1994), 35 ff. 19 Stellvertretend Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. II, 2010, § 73, Rn. 54; Masing (Fußn. 15), Art. 16a, Rn. 30; Möllers, Das Grundgesetz, 2009, S. 61.
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lungsdichte versteinere aktuelle politische Kompromisse20 und lasse im Falle eines Misserfolges zeitnah neue Verfassungsänderungen erwarten21. Diese Kritik mag unter verfassungsästhetischen Auspizien berechtigt sein, tut aber in der Sache dem Deutschen Bundestag Unrecht. Verfassungen bilden immer politische Kompromisse ab.22 Sie sollen – wie alles positive Recht – keine höhere Wahrheit in Textform gießen oder eine materielle Richtigkeit ihrer Inhalte verbürgen; Verfassungen sollen auch keine staatstheoretischen Ideale23 abbilden24 oder als volkspädagogisches Lesebuch dienen. Die Regelungsfunktion der Verfassung besteht zunächst lediglich darin, als Rechtsquelle mit dem normenhierarchisch höchsten Rang innerhalb der Rechtsordnung den anderen Rechtsquellen vorzugehen.25 Was systematisch in eine Verfassung gehört, hängt daher schlicht von den kontingenten Regelungsbedürfnissen ab, bestimmte normative Festlegungen der Änderbarkeit durch einfache Mehrheiten zu entziehen. Zweifellos gibt es Inhalte, die sich traditionell in westlich-liberalen Verfassungen finden und Fundamentalcharakter haben. Dies gilt etwa für den Grundrechtsteil und für Staatsstrukturentscheidungen wie Demokratie oder Bundes-, Sozial- bzw. Rechtsstaatlichkeit. Bereits das Staatsorganisationsrecht muss eher technische Regelungen enthalten, nicht zuletzt für das Gesetzgebungsverfahren, das die verfassungsrechtlichen Bedingungen der Rechtserzeugung unterhalb der Verfassungsebene markiert. Eine funktionsdifferenzierte Verfassung hat daher auch keinen einheitlichen Stil.26 Neue verfassungspolitische Regelungsbedürfnisse können auftreten, wenn sich eine Regelung (in ihrer konkreten Interpretation) als inopportun erwiesen hat, sich die jeweiligen politischen Ziele aber nur durch eine Regelung erreichen lassen, die bestimmte Fragen gerade der Änderung durch einfache Mehrheiten entzieht.27 Die seinerzeit diskutierte Regelungsalternative, das Asylrecht unter Gesetzesvorbehalt zu stellen, war gerade deshalb nicht kompromissfähig, weil die konkurrierenden gro20 Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1162); Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (54, 61); Wollenschläger/ Schraml, JZ 1994, 61 (67). 21 Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1162); Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (62, 64). 22 Besonders deutlich Möllers, VVDStRL 68 (2009), 47 (56 f.). 23 Jedenfalls implizit wird mit dem Appell an das Stilbewusstsein des verfassungsändernden Gesetzgebers ein materieller Verfassungsbegriff (vgl. hierzu Isensee, HStR II, 3. Aufl., 2004, § 15, Rn. 187 f.; Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009, S. 47) als Leitmaßstab anempfohlen, in das Verfassungsrecht doch bitte nur grundsätzliche Entscheidungen zu transportieren. 24 Gleichsinnig Isensee, VVDStRL 68 (2009), 97 (98); Waldhoff, VVDStRL 68 (2009), 100. 25 Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 14. 26 Für das GG Graf Vitzthum (Fußn. 16), § 10, Rn. 22. 27 Etwa die sehr technischen Regelungen des Finanzverfassungsrechts bilden föderalismuspolitische Kompromisse ab, deren Einhaltung aus der Sicht der Länder nicht einfach dem Bundesgesetzgeber anvertraut werden konnte. Vgl. zur Föderalismusreform II in der Bewertung mit Recht insgesamt überwiegend positiv Häde, AöR 135 (2010), 541 (570 f.); Seiler, JZ 2009, 721 (728); Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97 (122 f.).
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ßen Volkparteien jeweils dem einfachen Gesetzgeber im Hinblick auf wechselnde parlamentarische Mehrheiten misstrauten.28 Die Änderungsfestigkeit wurde somit selbst zum Gegenstand des Kompromisses. Zudem ist zu fragen, wie die ihrerseits demokratieimmanente Revisibilität demokratischer Entscheidungen im Prozess der Verfassungsänderung gegenüber einer institutionalisierten Verfassungsrechtsprechung zu wahren ist, die auch semantisch schlank gefasste Verfassungsbestimmungen ausdeutet und mit sehr konkreten Inhalten ausfüllt.29 Wenn die Rechtsprechung aus dem alten Asylgrundrecht des Art. 16 II 2 GG a. F. i. V. mit Art. 19 IV GG detaillierte und folgenreiche Verfahrensanforderungen30 abgeleitet hat, deren Konsequenzen die migrationsbezogene Aufnahmefähigkeit und/oder -bereitschaft der Bundesrepublik überforderten, kann der Gesetzgeber verfassungspolitisch zwangsläufig nur durch ebenso detaillierte Vorgaben reagieren.31 Da der Einfluss des Gesetzgebers auf die spätere Ausdeutung schlicht gefasster Normen – schon in Anbetracht der in Deutschland dominierenden objektiven Auslegung – vergleichsweise gering ist, muss er letztlich den Verfassungstext (vgl. Art. 79 I 1 GG) selbst verdichten. Die Verfassung ist zwar kein Politikersatz,32 aber eben doch selbst Produkt der Politik. Der Grenzfall des Art. 16a GG kann als plastisches Beispiel hierfür dienen, dass eine Verfassung auch Gegenstand des dynamischen demokratischen Prozesses ist,33 der Entscheidungen nach Maßgabe des politisch Erreichbaren produziert. Immerhin wurden die prophezeiten Folgeänderungen des Art. 16a GG nicht notwendig. Und der Kompromiss hat sein Ziel, die Asylbewerberzahlen auf ein verträgliches Maß zu reduzieren, erkennbar erreicht, sich also gemessen am Normzweck bewährt.34 In diesem Sinne darf die Besonderheit sektoralen Verwaltungsprozessrechts auf Verfassungsebene doch letztlich als eine erfolgreiche Anomalie gelten, die sich durchaus in eine Verwaltungsprozesskultur einfügt, die durch die aus Art. 19 IV GG abgeleiteten Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz35 ohnehin und aus gutem Grund stark verfassungsorientiert ist.
28
Vgl. Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (57 f.). Dieser Zusammenhang wird auch von Möllers (Fußn. 19), S. 61, hervorgehoben. 30 Zu deren Stand vor der Verfassungsänderung Bertrams, DVBl. 1991, 1226 ff. 31 Zum Motiv, der extensiven Rechtsprechung entgegenzuwirken: Maaßen, in: Epping/ Hillgruber, GG, 2009, Art. 16a, Rn. 2; Masing (Fußn. 15), Art. 16a, Rn. 12; Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (56, 58). 32 Möllers (o. Fußn. 19), S. 117; gleichsinnig Grimm, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl., 1994, S. 315 (336 f.); Ossenbühl, DVBl. 1992, 468 (477); Steinberg, JZ 1980, 385 (389). 33 Mit Recht hervorgehoben bei Grimm (Fußn. 32), S. 333 f. 34 In diesem Sinne Maaßen (Fußn. 31), Art. 16a, Rn. 4; Pagenkopf, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 16a, Rn. 4a. 35 Vom Jubilar eindrucksvoll entfaltet: Schenke, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof, Bonner Kommentar GG, 2010, Art. 19 Abs. 4, Rn. 637 – 694. 29
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III. Strukturelle Herausforderungen der Verwaltungsgerichte in Asylverfahren Das BVerfG betont zutreffend die Verfahrensabhängigkeit des Asylgrundrechts.36 Das Prozessrecht und seine Anwendung müssen dem Grundrecht des asylsuchenden Verfolgten zur Geltung verhelfen.37 Dies ist freilich zunächst nichts Ungewöhnliches. Grundrechte benötigen ganz allgemein einen angemessenen organisations- und verfahrensrechtlichen Rahmen, soweit dies für einen effektiven Grundrechtsschutz erforderlich ist.38 Jedes Grundrecht bedarf zudem eines Verfahrens, in dem zumindest die Voraussetzungen seines Schutzbereichs festgestellt werden. Die Besonderheit des Asylgrundrechts besteht letztlich darin, dass die Schwierigkeiten des Grundrechtsschutzes weniger in der Bestimmung der materiellen Maßstäbe als in erster Linie in der prozeduralen Sachverhaltsfeststellung liegen.39 Um festzustellen, ob eine politische Verfolgung i. S. des Art. 16a I GG zu bejahen ist, bedarf es zum einen der Ermittlung des individuellen Verfolgungsschicksals, also der förmlichen Untersuchung eines behaupteten Auslandssachverhalts, zu dessen Verifikation praktisch nur sehr begrenzt verlässliche Quellen zur Verfügung stehen. Zum anderen ergibt sich eine politische Verfolgung erst aus der Einbettung des individuellen Schicksals in einen politischen Makrosachverhalt. Der Antragsteller muss wegen eines asylrelevanten Merkmals verfolgt werden,40 und zwar durch einen Staat41 oder zumindest durch eine quasi-staatliche Organisation42. Dies führt zu ganz erheblichen Beweisschwierigkeiten, nämlich zum einen auf Grund des eingeschränkten Beweismittelzugriffs, zum anderen, weil gerichtliche Verfahren, deren Beweisrecht primär auf Einzeltatsachen zugeschnitten ist, ganz allgemein zur Feststellung genereller Tatsachen („legislative facts“)43 nur sehr begrenzt geeignet sind.44 Mit der Bewertung ausländischer politischer Systeme dringt das Asylverfahren zudem in empfindliche Bereiche vor, die üblicherweise von außenpolitischer Rücksichtnahme geprägt sind. Asylbewerber, die ein ausländisches Verfolgungsschicksal und dessen Einbettung in einen politischen Makrosachverhalt vortragen und belegen müssen, befinden sich daher im Asyl-
36 BVerfGE 52, 391 (407); 56, 216 (236); BVerfG, InfAuslR 1990, 161 (163); Hailbronner, FS Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 919 (922 ff.); Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (5). 37 BVerfGE 56, 216 (236). 38 BVerfGE 52, 391 (407); 56, 216 (236). 39 In diesem Sinne Gusy, Jura 1993, 505 (507). Eingehende und kritische Bestandsaufnahme: Lehmann, ZAR 2011, 21 ff.; Möller, Tatsachenfeststellung im Asylprozess, 2005. 40 BVerfGE 76, 143 (166 f.); 80, 315 (335); 81, 142 (151 f.); Huber/Göbel-Zimmermann (Fußn. 13), Rn. 1626; Masing, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 16a, Rn. 37 ff. 41 BVerfGE 80, 315 (334 ff.); Masing (Fußn. 15), Art. 16a, Rn. 45; Pagenkopf (Fußn. 34), Art. 16a, Rn. 20. 42 BVerfG, NVwZ 2000, 1165 (1166); BVerwG, NVwZ 2001, 815 (816); Hailbronner (Fußn. 12), Rn. 720 ff.; Huber/Göbel-Zimmermann (Fußn. 13), Rn. 1627. 43 Zum Begriff BVerfGE 77, 360 (362); BSG, NZS 1005, 557 (559); Lepsius, JZ 2005, 1. 44 Mit Recht Bryde, FS 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd. I, S. 533 (536).
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verfahren in einem sachtypischen Beweisnotstand.45 Die Ausübung des Grundrechts darf indes nicht an unüberwindbaren Hürden der Beweislast scheitern.46 Letztlich muss vielfach mit Plausibilitätsannahmen und mit allgemeinen Erfahrungssätzen47 operiert und maßgeblich auf die Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers48 abgestellt werden.49 1. Tatsachenfeststellung oder Tatsachenkonstruktion? Der Umgang der Rechtsprechung mit den zentralen Fragen der Tatsachenfeststellung ist letztlich inkohärent. Das BVerfG betont einerseits, dass im Asylverfahren besonders hohe Anforderungen an die gerichtliche Sachverhaltsaufklärung zu stellen seien.50 Andererseits sieht das Gericht die praktischen Schwierigkeiten, einen politisch umrahmten Auslandssachverhalt festzustellen, und billigt den Fachgerichten bei der Sachverhaltsfeststellung einen Wertungsrahmen zu.51 In anderen Rechtsordnungen stellt man die wertende Komponente der Sachverhaltsfeststellung mit Recht meist unbefangener heraus.52 Man sollte dies nicht als Rechtsschutzdefizit missverstehen. Vielmehr tritt nur mit besonderer Deutlichkeit eine Eigenleistung des Verfahrensrechts hervor, die in der (weitgehend tatsachenblinden53) deutschen Verwaltungsrechtsdiskussion noch zu geringe Beachtung gefunden hat:54 Die Feststellung des ,richtigenÐ Sachverhalts ist eine erst im Verfahren herzustellende (mithin verfahrensendogene) Konstruktion, die zwar auf einen Teilausschnitt der Verfahrensumwelt be45 Etwa BVerfGE 94, 166 (200 f.); BVerwGE 55, 82 (86); VGH Kassel, Urt. v. 21. 8. 1986 – 10 UE 961/85, Rn. 25; Schmitt, BayVBl. 1981, 225 f. 46 Gusy, Asylrecht und Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 270; ferner Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidung bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, 1993, S. 359 ff. 47 Dürig, Beweismaß und Beweislast im Asylrecht, 1990, S. 47 ff. 48 BVerfGE 94, 166 (201); Gusy (Fußn. 46), S. 270 f.; Marx, AsylVfG, 7. Aufl., 2009, § 76, Rn. 12. 49 Vgl. auch § 29a I AsylVfG für sichere Herkunftsstaaten. 50 BVerfG, InfAuslR 1990, 161 (161, 164, 165); BVerwG, NVwZ 1990, 878; OVG Berlin, Beschl. v. 26. 6. 1996 – 3 N 4.94, Rn. 6. 51 BVerfGE 76, 143 (162); BVerfG, InfAuslR 1990, 161 (163); InfAuslR 1990, 165 (166); Bertrams, DVBl. 1991, 1226 (1229). 52 Vgl. P. Craig, Administrative Law, 6. Aufl., 2008, 15 – 002 (S. 477). 53 Für eine potentielle Vorbildfunktion der USA sub specie Umgang mit Tatsachen luzide Lepsius, in: Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft, 2007, S. 319 (335 ff., 349 ff.). 54 Ein Thema auf der vergangenen Staatsrechtslehrertagung war der „Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht“. Der Sachverhaltsfeststellung widmete sich jedoch keiner der Referenten; vgl. die Referate von Fehling, VVDStRL 70 (2011); Gurlit, VVDStRL 70 (2011); ferner Stelkens, DVBl. 2010, 1078. Im Strafprozessrecht, dem sich der Jubilar ebenfalls wiederholt widmete, ist die Diskussion schon weiter fortgeschritten. Siehe stellvertretend Amelung, Informationsbeherrschungsrechte im Strafprozeß, 1990, S. 14 ff.; Gärditz, Strafprozeß und Prävention, 2003, S. 66 ff.; Gössel, Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß?, 2000; Gusy, StV 2002, 153 (155); Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 519 ff.
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zogen ist, aber eben nur eine bestimmte Erkenntnisperspektive einnimmt und sich hierzu rechtlich formalisierter Methoden bedient. Die Sachverhaltsfeststellung ist folglich keine Frage der materiellen Wahrheit, sondern der prozedural flankierten Kompetenz. Konkret geht es um die Kompetenzverteilung zwischen Verwaltung, Fachgerichten und BVerfG bei der wertenden Konstruktion des Sachverhalts im Verfahren.55 Der Wert verfahrensrechtlicher Regelungen liegt auch nicht in einem (unerfüllbaren) Anspruch, eine verfahrensexterne Wirklichkeit abzubilden, sondern darin, tragfähige Entscheidungsgründe zu generieren.56 Wenn z. B. über § 36 IV 2 AsylVfG vom im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht nach § 86 I VwGO geltenden Amtsermittlungsgrundsatz abgewichen wird,57 liegt hierin folglich ein verfassungskonformer und in Anbetracht der Schwierigkeiten einer Aufklärung von Auslandssachverhalten auch sachgerechter Umgang mit den Tatsachen im Prozess. 2. Apokryphes Beweisrecht Werden in der mündlichen Verhandlung – wie häufig der Fall – Beweisanträge gestellt, die nach § 86 II VwGO nur durch begründeten Gerichtsbeschluss zurückgewiesen werden dürfen, findet eine Verlagerung der Beweisprobleme in den analog angewendeten § 244 StPO statt.58 Von den Verwaltungsgerichten wurde insoweit eine filigrane asylverfahrensspezifische Sonderdogmatik zu § 244 StPO59 entwickelt und die Kunst verfeinert, Beweiserhebungen durch Plausibilitätsbeurteilungen nach Aktenlage bestmöglich zu vermeiden. Die Gerichte reagieren also auf eine dysfunktionale Überforderung durch komplexe und praktisch nur begrenzt belastbare Beweiserhebungen mit Ausweichstrategien in ein apokryphes Nebenprozessrecht auf Analogiebasis. Auch wenn man anerkennen muss, dass dieses pragmatische Vorgehen das ansonsten konturenlose Beweisrecht des Verwaltungsprozesses überhaupt erst hinreichend rationalisiert, erstaunt doch der unkritische und weitgehend unreflektierte Um55 Mit Recht steht daher in anderen Verwaltungsrechtssystemen auch die Frage im Vordergrund, inwieweit Gerichte zu einer Nachprüfung verwaltungsrechtlicher Tatsachenfeststellungen berechtigt sind. Vgl. Craig (Fußn. 52), 15 – 001 (S. 475), 15 – 009 (S. 583). 56 Siehe aus europarechtlicher Sicht P. Craig, EU Administrative Law, 2006, S. 382 ff. 57 Vgl. Gusy, Jura 1993, 505 (508). 58 Etwa BVerwG, Buchholz 310 § 98 VwGO Nr. 60; Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 2; OVG Münster, OVGE 36, 28 (29); VGH Kassel, InfAuslR 1989, 256; Urt. v. 21. 8. 1986 – 10 UE 961/85, Rn. 44 ff.; Beschl. v. 4. 5. 1993 – 13 ZU 503/93; Beschl. v. 24. 11. 1998 – 9 ZU 4133/ 97.A, Rn. 13, 15; VGH München, Beschl. v. 30. 7. 2002 – 14 ZB 02.30974; Beschl. v. 10. 8. 2009 – 11 ZB 06.31172, Rn. 7; Deibel, InfAuslR 1984, 114 (115 f.); Renner, ZAR 1985, 62 (69). Allgemein für eine entsprechende Anwendbarkeit BVerwG, Buchholz 310 § 86 I VwGO Nr. 111; Bamberger, in: Wysk, VwGO, 2011, § 86, Rn. 33; Geiger, BayVBl. 1999, 321 (328 f.); Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 86, Rn. 21; Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., 2010, § 86, Rn. 95; kritisch Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz und anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozess, 1981, S. 88. 59 Siehe zu notwendigen Modifikationen etwa OVG Lüneburg, Beschl. v. 4. 12. 1996 – 11 L 3621/96, Rn. 2.
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gang mit der im Öffentlichen Recht rechtsstaatlich prekären Analogiebildung.60 Das BVerfG hat lediglich in einem Fall eine Analogie zu § 244 IV 2 StPO unter Verweis auf den Ausnahmecharakter dieser Bestimmung in Frage gestellt,61 die Gewinnung prozessrechtlicher Maßstäbe im Wege des Analogieschlusses zum Strafverfahrensrecht als solche aber nicht in Frage gestellt. Kern des Problems ist, dass § 86 II VwGO zwar die Ablehnung von Beweisanträgen formalisiert, aber keine Aussagen enthält, unter welchen inhaltlichen Voraussetzungen eine Ablehnung erfolgen darf. Ein Rückgriff auf die StPO ist problematisch, weil zum einen der Verweis in § 173 S. 1 VwGO auf ZPO und GVG eigentlich abschließend ist,62 zum anderen der Strafprozess deutlich abweichende Verfahrensziele63 verfolgt. Berücksichtigt man zudem, dass die Beweiserhebung auf der Grundlage öffentlichen Verfahrensrechts von kardinaler Bedeutung für die prozessuale Konstruktion des entscheidungserheblichen Sachverhalts ist, drängt sich die (auch in anderen Prozessordnungen relevante) Frage nach der Bedeutung des Vorbehalts des Gesetzes im Verfahrensrecht64, insbesondere bezüglich der Methoden der Sachverhaltsfeststellung, auf. Müsste nicht der parlamentarische Gesetzgeber nach allgemeinen Grundsätzen65 die wesentlichen Entscheidungen, wie die Sachverhaltsfeststellung prozessrechtlich formalisiert und methodisch kanalisiert wird, selbst treffen? Der Vorbehalt des Gesetzes gilt jedenfalls auch für Gerichte.66 Eine konsequente Erstreckung auf Fragen der Gerichtsverfassung und des Prozessrechts hat der Jubilar weitsichtig und mit Recht vor beinahe 35 Jahren angemahnt;67 entsprechender Nachholbedarf besteht leider bis heute fort. Dies gilt besonders für den unsensiblen Umgang mit Tatsachenfragen im deutschen Recht, der dazu beigetragen haben dürfte, dass die Verfeinerung rechtsstaatlicher Regelungsansprüche am gerichtlichen Verfahrens60
Allgemein kritisch BVerfG-K, DVBl. 1997, 351 (351 f.); Beaucamp, AöR 134 (2009), 83 (97 ff.); Gärditz, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar GG, 2011, Art. 20 (Rechtsstaatsprinzip), Rn. 159; Gusy, DÖV 1992, 461 (464); Konzak, NVwZ 1997, 872 (873); Schoch, Jura 2010, 670 (673); großzügiger aber gegenüber Analogiebildungen BVerfGE 108, 150 (160); BVerwGE 100, 115 (123); BFHE 195, 273 (274); BFH, NVwZ 1984, 823 f.; BSGE 63, 120 (133); 79, 41 (48); Ehlers, Die Verwaltung 31 (1998), 53 (59); Reimer, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR I, 2006, § 9, Rn. 29; Sachs, in: ders., GG, 5. Aufl., 2009, Art. 20, Rn. 121. 61 BVerfG, InfAuslR 1990, 161 (165). 62 Fehlerhaft daher VG Münster, Urt. v. 12. 8. 2008 – 5 K 989/07, Rn. 31: „§ 173 VwGO in Verbindung mit § 244 III StPO“. 63 Eingehend etwa Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 7 ff.; Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, 1986, S. 13 ff. 64 Vgl. Schenke, NVwZ 2005, 729 (732), der sich mit Recht gegen die Kreation von Rechtsbehelfen wendet, denen es an einer „normativen Abstützung im einfachen Recht“ fehlt. 65 Etwa BVerfGE 49, 89 (126 f.); 80, 124 (132); 83, 130 (142, 151 f.); 84, 212 (226); 88, 103 (116); 98, 218 (251); 101, 1 (34). 66 Gärditz (Fußn. 60), Rn. 176 f.; Hillgruber JZ 1996, 118 (123 f.); ders., in: Maunz/Dürig, GG, 2010, Art. 97, Rn. 26; Pieroth/Schlink (Fußn. 14), Rn. 279; anders aber Classen, JZ 2003, 693 (697 ff.); Haltern/Mayer/Möllers, Die Verwaltung 30 (1997), 51 (62 ff.). 67 Schenke, DÖV 1977, 27 (33).
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recht bislang vorbeigegangen68 und Prozessrecht zum flexiblen Softlaw verkommen69 ist. 3. Dysfunktionalitäten des geltenden Rechts An der Subjektivität richterlicher Überzeugungsbildung, die § 108 I 1 VwGO bindend vorgibt,70 wird mangels objektiver Beweisregeln auch im Asylverfahren notgedrungen festgehalten.71 Dass dies den besonderen Anforderungen an die Feststellung genereller (Auslands-)Tatsachen nur begrenzt gerecht wird, deutet auch das BVerwG an, wenn es die Nachteile herkömmlicher richterlicher Überzeugungsbildung nolens volens hinnimmt, „soweit und solange es im Asylrecht keine speziellen gesetzlichen Beweisregeln oder ein besonderes Beweisverfahren gibt“.72 Auch wenn das AsylVfG die Gerichte durch Darlegungs-, Beweislast- und Präklusionsregeln (vgl. §§ 15, 24 I 2, 25 I, 29 I, 29a I, 30 III, 36 IV 2 – 3, 74 II 1 AsylVfG) nicht unwesentlich entlastet hat, haftet der Sachverhaltsfeststellung in Asylverfahren mangels praktikablen Zugriffs auf unmittelbare Beweismittel zwangsläufig etwas Zufälliges an. Die Reduktion des Zufallselements der Beweisaufnahme ist indes gerade ein wesentliches rechtsstaatliches Anliegen, von dem letztlich die Überzeugungskraft des gerichtlichen Verfahrens als Instrument der Konflikterledigung abhängt.73 Lässt sich das Zufallselement nicht angemessen reduzieren, weil geeignete Verfahren zur intersubjektiv überzeugenden Sachverhaltskonstruktion jedenfalls bei einem vertretbaren Einsatz knapper Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, läge es nahe, Lösungen vom Verfahrensrecht partiell in das materielle Recht zurückzuverlagern. Denkbare Optionen wären etwa die Einräumung tatsachenbezogener behördlicher Beurteilungsspielräume (ggf. verbunden mit einem Anerkennungsermessen) oder die gesetzliche Festlegung abstrakt-genereller Asylkriterien nach Maßgabe von Herkunft, politischer Lage und Gruppenzugehörigkeit.74 Der subjektiv-rechtliche Art. 16a I GG (bzw. in seinem An-
68 Frühzeitig defizitär BVerfGE 40, 237 (256 f.): Ausgestaltung des Vorverfahrens als Gerichtszugangsvoraussetzung durch Verwaltungsvorschrift; mit Recht kritisch Schenke, in: Wolter/Riedel/Taupitz, Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 153 (167). 69 Paradigmatisch BVerfGE 122, 248 (266 ff.); berechtigte Kritik: Sondervotum Voßkuhle/ Osterloh/Di Fabio (282 ff.); Möllers, JZ 2009, 668 (672). 70 Höfling, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl., 2010, Rn. 77. 71 Vgl. stellvertretend BVerwG, NVwZ 1990, 878; VGH Kassel, Urt. v. 21. 8. 1986 – 10 UE 961/85, Rn. 27; vertiefend (auch zu praktischen Modifikationen) Dawin, NVwZ 1995, 729 ff. 72 BVerwG, NVwZ 1990, 878. 73 Stuckenberg (Fußn. 54), S. 527. 74 Abstrakt-generelle Entscheidungen ließen sich dann auch angemessen politisieren, wie zuletzt die Diskussion um die Aufnahme irakischer Christen zeigte. Aufenthaltsgewährungen aus objektiven politischen Interessen sind dem geltenden Recht keineswegs fremd. Vgl. § 22 S. 2, 23 AufenthG; zur begrenzten gerichtlichen Überprüfbarkeit nur Maaßen, in: Kluth/Hund/ ders., Zuwanderungsrecht, 2008, § 4, Rn. 446.
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wendungsbereich Art. 3 EMRK75) sowie das Gebot einer individuellen Prüfung nach Art. 8 II lit. a RL 2005/85/EG76 lassen dies jedoch nicht bzw. nur sehr begrenzt zu.77 Die Konsequenz ist eine Überforderung des Verwaltungsprozessrechts, dessen Anwender sich als Abwehrreaktion in Plausibilitätsannahmen flüchten müssen, die eher einer summarischen Prüfung bei reflexartiger Beweiserhebungsaversion gleichkommen. Die vor der Verfassungsreform diskutierten und letztlich verworfenen Optionen, das Asylgrundrecht in eine institutionelle Garantie umzuwandeln oder unter einen gesetzlichen Regelungs- oder Ausgestaltungsvorbehalt zu stellen,78 hätten es zumindest ermöglicht, die Gerichte durch gesetzliche Beweisregeln und -antizipation zu entlasten. Auch das unionsrechtlich vorgesehene (und in der deutschen Asylverfahrenspraxis durchaus verwirklichte) verfahrensrechtliche Gebot, Asylentscheidungen auf der Grundlage verfügbarer und aktueller Informationsquellen über die Herkunftsländer zu treffen (Art. 8 II lit. b RL 2005/85/EG), wurde nicht in verbindliches Verfahrensrecht umgesetzt, obschon gerade hierin geeignete Ansätze einer gerichtlichen Verfahrenskontrolle (Aktualität und Vollständigkeit der Berücksichtigung; Entscheidungsbegründung) lägen, die eine Inhaltskontrolle wesentlich entlasten könnten. IV. Besonderheiten des Verwaltungsprozessrechts im AsylVfG Die besonderen Herausforderungen in Asylverfahren haben den Gesetzgeber bewogen, in das AsylVfG ein Sonderprozessrecht zu integrieren, das abweichende Regelungen zur VwGO enthält. Im Hintergrund steht das Motiv des verfassungsändernden Gesetzgebers, die Asylgarantie zwar aufrecht zu erhalten, das Verfahren jedoch den Zwängen einer Massenverwaltung anzupassen.79 Ein ganzes Bündel an Vorschriften dient der Beschleunigung des Verfahrens. Dies gilt etwa für den Ausschluss des Widerspruchsverfahrens (§ 11 AsylVfG) und die Erreichbarkeit des Asylbewerbers für die erkennenden Gerichte (§ 10 I AsylVfG, § 47 III AsylVfG).
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Stellvertretend hierzu EGMR, NJW 1991, 3079; NVwZ 1992, 869; NVwZ 1997, 1093; NVwZ 1997, 1100; NVwZ 2001, 301; NVwZ 2002, 453; BVerwGE 99, 331; 104, 265; Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996, S. 16 – 90; Gusy, ZAR 1993, 63; Hailbronner, DÖV 1999, 617; Maaßen, ZAR 1998, 107. 76 Richtlinie 2005/85/EG des Rates v. 1. 12. 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13). 77 Vgl. Spijkerboer/Arbaoui, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1267. 78 Hierzu Sendler, FS Zeidler, Bd. 1, 1981, S. 871 (873 ff.). 79 Rennert, DVBl. 1994, 717.
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1. Die Integration des Prozessrechts in das Verwaltungsverfahren Anders als im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht kommt es im Asylrecht zu einer sehr engen regelungsspezifischen Verzahnung von Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren. Dem AsylVfG liegt letztlich das – durchaus praxisnahe – Leitbild eines Prozessautomatismus zugrunde, wonach gegen ablehnende Entscheidungen ohnehin stets Rechtsschutz ergriffen wird. Der Verwaltungsprozess ist dann der Sache nach nur die Fortsetzung eines gestuften Verwaltungsverfahrens vor einem unabhängigen Spruchkörper. Das materielle Asylgrundrecht kann erst in Anspruch genommen werden, wenn ein Verwaltungsverfahren seine Voraussetzungen geklärt hat, sodass das Verfahrensrecht ganz wesentlich auch den Inhalt (sprich: die Schutzqualität) des Asylgrundrechts beeinflusst.80 Dies gilt nicht weniger hinsichtlich der Ausgestaltung des integrativen verwaltungsprozessualen Rechtsschutzregimes. Besonders deutlich wird die Verflechtung von Verwaltungsverfahren und -prozess in dem Gebot, im Falle einer Ablehnung des Asylbegehrens eine Kopie der Entscheidung des Bundesamtes unverzüglich an das zuständige VG zu übermitteln (§ 18a III 3 AsylVfG, § 35 II 2 AsylVfG), und zwar rein vorsorglich und unabhängig von der Einlegung eines Rechtsbehelfs. Auch im Übrigen sind Verwaltungsentscheidungen fachgesetzlich eng (mitunter dysfunktional) mit dem gerichtlichen Verfahren verzahnt, weshalb gerichtliche Entscheidungen teils spezifische Rechtsfolgen auslösen, die über das in der VwGO vorgesehene Rechtsschutzinstrumentarium hinausgreifen. Dies gilt etwa für die Entlassung aus der Aufnahmeeinrichtung zur landesinternen Verteilung (§ 50 I Nr. 2 AsylVfG), für die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften (§ 53 II 1 AsylVfG) oder das Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsbereichs (§ 58 IV AsylVfG). 2. Das besondere Prozessrecht Die §§ 74 – 83b AsylVfG enthalten besondere Vorschriften für gerichtliche Verfahren in Asylsachen. Im Vordergrund steht das Ziel der Verfahrensbeschleunigung.81 § 74 I AsylVfG verkürzt entscheidend die Rechtsbehelfsfristen, und zwar auf zwei Wochen bzw. auf eine Woche in Fällen des verkürzten Eilrechtsschutzes wegen Unbeachtlichkeit oder offensichtlicher Unbegründetheit des Asylantrages nach § 36 III 1 AsylVfG. Die Kammer soll einen Rechtsstreit nach AsylVfG einem ihrer Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen, wenn nicht die Sache besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist oder die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 76 I AsylVfG). Die Kammerzuständigkeit wird – insoweit in Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 6 VwGO – also auf besonders wichtige Leitentscheidungen beschränkt, in denen meist ein Grundsatzurteil zur gruppenspezifischen Verfolgungssituation in einem Herkunftsstaat getroffen wird. Nachfolgende Einzelrichterentscheidungen können sich dann im Inter80 81
Sendler (Fußn. 78), S. 876 f. Marx (Fußn. 48), § 74, Rn. 1, 86.
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esse der Verfahrensökonomie auf eine solche Leitentscheidung als „gerichtsbekannt“82 beziehen (vgl. auch § 36 IV 2 AsylVfG), ohne dass (erneut) in eine Beweiserhebung über generelle Tatsachen eingetreten werden müsste. Das erkennende Gericht sieht nach § 77 II Halbs. 1 AsylVfG von einer weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe ab, soweit es den Feststellungen und der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes folgt und dies in seiner Entscheidung explizit macht. a) Beschränkung des Rechtsmittelrechts § 78 AsylVfG führt zu einer folgenreichen Beschränkung des Rechtsmittelrechts.83 Das Urteil des VG, durch das die Klage in Rechtsstreitigkeiten nach AsylVfG als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen wird, ist nach § 78 I AsylVfG unanfechtbar. Der erstinstanzliche Einzelrichter hat es, da es für den Berufungssauschluss nicht darauf ankommt, ob die Voraussetzungen für eine qualifizierte Klageabweisung tatsächlich vorlagen,84 letztlich in der Hand, seine klageabweisende Entscheidung durch das Offensichtlichkeitsprädikat gegen Rechtsbehelfe zu immunisieren. Auch die Berufungszulassungsgründe werden nach § 78 III AsylVfG gegenüber § 124 II VwGO eingeschränkt: Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 II Nr. 1 VwGO) und besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten (§ 124 II Nr. 2 VwGO) sind keine Gründe mehr, die zur Zulassung der Berufung führen können. Dass tatsächliche Schwierigkeiten aus dem Kanon der Zulassungsgründe herausgenommen wurden, ist letztlich konsequent, da ansonsten schon die sich in zahlreichen Verfahren stellende Notwendigkeit, einen Auslandssachverhalt zu ermitteln und zu beurteilen, einen Regelzulassungsgrund bilden würde. Fragwürdig ist demgegenüber die Abwertung des Anspruchs auf Rechtlichkeit der gerichtlichen Entscheidungsfindung: Auch erstinstanzliche Urteile, die ernstlichen Richtigkeitszweifeln unterliegen, sollen allein aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung Bestand haben. Letztlich wird der weitere Rechtsmittelzugang in zwei Kanäle geleitet: Verfahrensfehler und Grundsatzfragen. Die Verlagerung von einer materiellen Richtigkeitskontrolle auf eine stärker am Verfahren ausgerichtete Kontrolle entspricht zwar einer gemeineuropäischen Grundtendenz,85 setzt aber voraus, dass ein hinreichend normativ strukturiertes Verfahrens82
Vgl. hierzu nur Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 86, Rn. 5b, § 98, Rn. 22 ff. Vgl. Huber/Göbel-Zimmermann (Fußn. 13), Rn. 1991. 84 Marx (Fußn. 48), § 78, Rn. 8. 85 Zur Rücknahme der Tatsachenkontrolle und zur Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern siehe Adam, Die Kontrolldichte – Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte, 1993, S. 227 ff.; Craig (Fußn. 56), S. 429 ff.; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 297 ff., 541 ff.; Everling, WuW 1989, S. 877 (878 ff.); Rausch, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 182 ff.; speziell für rechtswidrige Beweiserhebungen EuGH, Urt. v. 17. 12. 1981 – 197200/80 u. a. (Ludwigshafener Walzmühle), Slg. 1981, 3211, Rn. 16; Urt. v. 7. 6. 1983 – 100103/80 (Musique Diffusion franÅaise), Slg. 1983, 1825, Rn. 29, 65; Urt. v. 7. 1. 2004 – C-204/00 83
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recht vorhanden ist.86 Das AsylVfG enthält indes – entgegen dem insinuierten Anspruch, umfassendes Verfahrensgesetz zum materiellen Asylgrundrecht zu sein – für die in erster Linie relevante Tatsachenerhebung gerade keine spezifischen Verfahrensvorschriften. Dies gilt in besonderem Maße für das gerichtliche Verfahren. Das AsylVfG ist im Wesentlichen ein Verfahrensbegrenzungsgesetz; Verfahren werden in erster Linie beschleunigt und vereinfacht. Die gerichtliche Kontrolle vor diesem Hintergrund primär auf eine Verfahrenskontrolle auszurichten, ist konzeptionell inkohärent. Die Schwierigkeiten der Tatsachenfeststellung in Bezug auf politische Makrosachverhalte ventilieren sich vor allem über den Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 III Nr. 1 AsylVfG). Dies setzt – im Einklang mit § 124 II Nr. 3 VwGO87 – die über den Einzelfall hinausgreifende (verallgemeinerungsfähige) Relevanz einer rechtlichen, aber auch einer tatsächlichen Frage voraus.88 Der Instanzenzug wird also im Wesentlichen für Asylverfahren mit Leitfunktion für eine Vielzahl von Fällen eröffnet.89 Der Kläger wird hierbei freilich nur als Sachwalter objektiver Klärungsbedürfnisse (meist im Hinblick auf eine gruppenspezifische Verfolgungssituation90) mobilisiert, was nicht dem Grundanliegen des Individualgrundrechts aus Art. 16a I GG entspricht. b) Beschränkung des Eilrechtsschutzes Der Beschleunigungs- und Effektivierungsansatz des AsylVfG zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit in den gegenüber der VwGO ganz erheblichen Beschränkungen des Eilrechtsschutzes.91 Letztlich wird das Gerichtsverfahren in den Dienst des materiellen Regelungsziels gestellt, unberechtigte Asylbegehren möglichst frühzeitig abzuwehren und eine faktische Verfestigung des Inlandsaufenthalts zu unterbinden. § 75 AsylVfG beschränkt die aufschiebende Wirkung einer Klage auf eng begrenzte Ausnahmefälle. Dies wäre zwar in Anbetracht der allgemeinen Perforation des Suspensiveffekts nach § 80 I 1 VwGO durch abweichende Sonderregelungen im Sinne des § 80 II 1 Nr. 3 VwGO92 weder ungewöhnlich93 noch (gerade im euroP u. a. (Aalborg Portland), Slg. 2004, I-123, Rn. 71 ff.; de Bronett, WuW 1997, 383 (384 f.); von Danwitz, ebd., S. 423. 86 Siehe Schulze-Fielitz, FS Hoppe, 2000, S. 997 (1007 f.). 87 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 124, Rn. 10. 88 Vgl. nur VGH München, Urt. v. 9. 9. 2010 – 14 ZB 10.30292; Urt. v. 12. 10. 2010 – 8 ZB 10.30324; OVG Saarlouis, Urt. v. 30. 8. 2010 – 3 A 121/10; OVG Bautzen, Urt. v. 17. 8. 2010 – A 5 A 317/08; OVG Bremen, Urt. v. 26. 3. 2010 – 2 A 208/07.A; Marx (Fußn. 48), § 78, Rn. 54 ff. 89 Marx (Fußn. 48), § 78, Rn. 81. 90 Vgl. Köhler, Asylverfahren, 1998, S. 56. 91 Siehe Huber/Göbel-Zimmermann (Fußn. 13), Rn. 1985 f. 92 Vgl. hierzu Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 80, Rn. 65 ff. 93 Zur gebotenen Differenziertheit Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl., 2008, § 32, Rn. 9; Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl., 2010, § 54, Rn. 1.
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päischen Rechtsvergleich) bedenklich94. Entscheidende Bedeutung kommt jedoch den asylrechtsspezifischen Mechanismen zu, die – wiederum in enger Verzahnung mit dem administrativen Verfahren – die Möglichkeiten der Verwaltungsgerichte, Eilrechtsschutz auf Antrag zu gewähren, teils einschneidend beschränken. Die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 VwVfG) oder in einen zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) darf gemäß § 34a II AsylVfG nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Diese drastische Verkürzung des Rechtsschutzes erfährt – zumindest bei restriktiver Auslegung95 – jedenfalls für die Einreise aus einem sicheren Drittstaat96 eine verfassungsunmittelbare Sanktionierung durch Art. 16a II 3 GG, der insoweit die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG einschränkt97 und sich nach vorherrschender Auffassung unmittelbar an Behörden und Gerichte richten soll.98 Bisweilen wird Art. 16a II 3 GG sogar ein verfassungsunmittelbares Verbot entnommen, die Vollziehung auszusetzen,99 da ohne konsequenten Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes der Mechanismus der Drittstaatenregelung unterlaufen würde.100 Begründet wird dies damit, dass Art. 16a II 1 GG in den erfassten Fällen bereits den persönlichen Geltungsbereich des Asylgrundrechts ausschließt. Der verfassungsändernde Gesetzgeber habe der zuvor in der Rechtsprechung anerkannten Vorwirkung des Asylgrundrechts, ein vorläufiges Bleiberecht zur Durchführung eines Asylverfahrens zu vermitteln,101 für die bezeichneten Ausnahmen die Grundlage entziehen wollen.102 Rechtsschutz kann allerdings vom Ausland aus weiterhin in Anspruch genommen werden.103 Die bezeichnete Konstitutionalisierung verwaltungsprozessualer Detailfragen zieht zugleich eine synchrone Konstitutionalisierung des Rechtsschutzes nach sich. Der Betroffene kann sich nämlich unmittelbar mit einer (durch Art. 16a II 3 GG nicht ausgeschlossenen104) Verfassungsbeschwerde, verbunden mit einem Antrag nach § 32 BVerfGG, an das BVerfG mit der Begründung wenden, die Voraus94 BVerfG-K, NVwZ 2009, 240 (241 f.); Kahl/Ohlendorf, JA 2010, 872 (873); Schenke, VBlBW 2000, 56. 95 Siehe BVerfGE 94, 49 (113); ferner z. B. VG Frankfurt a. M., NVwZ-Beil. 2002, 108 f.; VG Schleswig, Urt. v. 7. 9. 2009 – 6 B 32/09; jüngst vor allem OVG Münster, NVwZ 2009, 1571 f. 96 Streitig für Fälle des § 27a AsylVfG, die sich allein auf Art. 16a V GG stützen, vgl. kritisch OVG Münster, NVwZ 2009, 1571; Funke-Kaiser, in: Fritz/Vormeier, GK-AsylVfG, 2010, § 34a, Rn. 89. 97 Gusy, Jura 1993, 505 (512). Zur Notwendigkeit von Eilrechtsschutz nach Art. 19 IV GG bei drohenden irreparablen Nachteilen Schenke (Fußn. 35), Art. 19 Abs. 4, Rn. 652. 98 BVerfGE 94, 49 (100); Hailbronner, NVwZ 1996, 625 (627); Maaßen (Fußn. 31), Art. 16a, Rn. 79; Pagenkopf (Fußn. 34), Art. 16a, Rn. 79. 99 Hailbronner, ZAR 1993, 107 (112); Pagenkopf (Fußn. 34), Art. 16a, Rn. 80; Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1165). 100 Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1165). 101 BVerfGE 67, 43 (56); 80, 68 (73 f.). 102 Marx (Fußn. 48), § 34a, Rn. 43. 103 Pagenkopf (Fußn. 34), Art. 16a, Rn. 82. 104 Masing (Fußn. 15), Art. 16a, Rn. 88; Pagenkopf (Fußn. 34), Art. 16a, Rn. 81.
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setzungen nach Art. 16a II GG lägen nicht vor.105 Das BVerfG rückt dann aber letztlich in Funktionen eines erstinstanzlichen Verwaltungsgerichts ein, zumal es sich mangels vorgelagerten Rechtswegs auch nicht auf Feststellungen eines Fachgerichts stützen kann (vgl. § 33 II BVerfGG). Im Fall der Unbeachtlichkeit und der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages ist der Asylbewerber nach § 36 I AsylVfG innerhalb einer Woche ausreisepflichtig. Die Frist für die Einlegung von Eilrechtsschutz beträgt nach § 36 III 1 AsylVfG ebenfalls nur eine Woche.106 Wird der Eilantrag zwar fristgemäß gestellt, Klage in der Hauptsache aber nicht ebenfalls innerhalb der genannten Wochenfrist erhoben, wird auch der Eilantrag im Hinblick auf die dann eintretende Verfristung des Hauptsacherechtsbehelfs (§ 74 I Halbs. 2 AsylVfG) mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.107 Vor einer gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag ist eine Abschiebung unzulässig (§ 36 III 8 AsylVfG). Die Aussetzung der Abschiebung – mit den in § 37 I AsylVfG bezeichneten Folgewirkungen – darf nach § 36 IV 1 AsylVfG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen, was Art. 16a IV 1 GG entspricht.108 Das Gericht wird hierbei nach § 36 III 5 – 7 AsylVfG unter erheblichen Entscheidungsdruck gesetzt:109 Die Entscheidung soll innerhalb von einer Woche nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist ergehen, wobei die Kammer (nicht der für die Sachentscheidung zuständige Einzelrichter) die Frist um jeweils eine weitere Woche verlängern kann.110 Eine zweite Verlängerung und weitere Verlängerungen sind nur bei Vorliegen schwerwiegender Gründe zulässig, insbesondere wenn eine außergewöhnliche Belastung des Gerichts eine frühere Entscheidung nicht möglich macht. Der Ausschluss der Beschwerde nach § 80 AsylVfG verkürzt schließlich den Eilrechtsschutz, auch soweit er eröffnet ist, auf eine Instanz.111
105
Voßkuhle, DÖV 1994, 53 (55). Siehe stellvertretend aus der jüngsten Rechtsprechung BVerfG-K, NVwZ 2009, 1281; NVwZ 2010, 318; InfAuslR 2010, 82 f.; Beschl. v. 23. 9. 2009 – 2 BvQ 68/09; Beschl. v. 9. 10. 2009 – 2 BvQ 72/09; Beschl. v. 13. 11. 2009 – 2 BvR 2603/ 09; Beschl. v. 5. 11. 2009 – 2 BvQ 77/09; Beschl. v. 21. 5. 2010 – 2 BvR 904/10; Beschl. v. 21. 5. 2010 – 2 BvR 1036/10; Beschl. v. 15. 7. 2010 – 2 BvR 1460/10; Beschl. v. 12. 10. 2010 – 2 BvR 1902/10. 106 Kritisch Gusy, Jura 1993, 505 (513). 107 Marx (Fußn. 48), § 74, Rn. 89. 108 Vgl. Strauß, VBlBW 1995, 422; kritisch Schnellenbach, NWVBl. 1994, 250 (255 ff.); für die Vereinbarkeit des Art. 16a IV GG mit Art. 79 III GG mit Recht Hailbronner, ZAR 1993, 107 (112); Schenke (Fußn. 35), Art. 19 Abs. 4, Rn. 129. Eine einstweilige Anordnung kommt in den erfassten Fällen kaum in Betracht, vgl. BVerfGE 94, 166 (219). 109 Kritisch bezüglich richterlicher Unabhängigkeit Morgott, VBlBW 1994, 141 ff. 110 Vertiefend Leiner, NVwZ 1994, 239 ff. 111 Vgl. Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 2011, § 146, Rn. 8; Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., 2005, § 80, Rn. 2. Zur Verfassungskonformität BVerfG-K, NJOZ 2001, 448 f. Zum Anwendungsbereich König, NVwZ 2000, 268 ff.
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Eine noch weitere Drosselung des Rechtsschutzes findet im so genannten Flughafenverfahren statt.112 Gegenstand gerichtlicher Kontrolle ist eine Einreiseverweigerung durch das Bundesamt gegenüber den auf dem Luftweg eingereisten Asylbewerbern im Anwendungsbereich des § 18a I 1 AsylVfG noch auf dem Flughafengelände (vgl. § 18a III 1 AsylVfG).113 In dieser interimistischen Zwangslage besteht notgedrungen ein Bedürfnis nach extremer Straffung des Verfahrens. Nach § 18a IV 1 AsylVfG ist daher ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes innerhalb von drei Tagen nach Zustellung der Entscheidungen zu stellen. Der Antrag, der die Vollziehung der Einreiseverweigerung bis zum Ergehen einer gerichtlichen Entscheidung (nach § 18a IV 7 i. V. mit § 36 III 9 AsylVfG durch Tenorbeschluss!114) vorläufig verhindert (§ 18a IV 7 AsylVfG), richtet sich nach § 18a VAsylVfG auf Gewährung der Einreise und für den Fall der Einreise gegen die Abschiebungsandrohung; die Anordnung des Gerichts, dem Ausländer die Einreise zu gestatten, gilt zugleich als Aussetzung der Abschiebung. Die Entscheidungsmaßstäbe richten sich qua Verweisung in § 18a IV 6 AsylVfG wiederum nach § 36 IVAsylVfG. Entscheidet das Gericht nicht innerhalb von vierzehn Tagen, so ist nach § 18a VI Nr. 3 AsylVfG dem Antragsteller die Einreise zu gestatten. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass eine längerfristige Unterbringung auf dem Flughafengelände den Betroffenen nicht zumutbar ist, ist aber gleichwohl eine prozessrechtlich sehr ungewöhnliche Konstruktion, die einmal mehr Asylprozess und Verwaltungsverfahren miteinander verklammert. Dies bleibt nicht ohne Kosten: Die dadurch erzwungene Kompression des regulären Eilverfahrens lässt eine ausgewogene Sachverhaltsfeststellung nicht mehr zu, obschon sich auch im Anwendungsbereich des § 18a AsylVfG (gerade im Zusammenhang mit Herkunft und Identität des Antragstellers) mitunter schwierige Tatsachenfragen stellen.115 c) Das ambivalente Rechtsschutzkonzept des AsylVfG In der konkreten Ausgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes in Asylsachen offenbart sich die Unterordnung eigenständiger verwaltungsprozessrechtlicher Leitfunktionen unter die effektivem Individualrechtsschutz gegenläufigen Ziele des administrativen Fachrechts, das auf Verfahrenbeschleunigung und effektive Unterbindung materiell nicht berechtigter Einreise zugeschnitten ist. Die vom Jubilar eindringlich beschriebenen Vorwirkungen des Art. 19 IV GG auf das Verwaltungsverfahren116 werden umgekehrt: Das Verwaltungsverfahren und seine Ziele prägen die 112
Kugelmann, ZAR 1994, 158 (159); Renner (Fußn. 111), § 18a, Rn. 29. Vertiefend Marx, ZAR 1993, 160 ff. 114 Mit Recht kritisch Fritz, in: ders./Vormeier, GK-AsylVfG, 2010, § 18a, Rn. 78; LübbeWolff, DVBl 1996, 825 (840). 115 Vgl. anschaulich etwa VG Cottbus, Beschl. v. 20. 11. 2008 – 3 K 738/01.A; VG Frankfurt, Beschl. v. 17. 3. 2009 – 8 K 2157/08.F.A; VG München, Beschl. v. 30. 6. 2006 – M 9 E 06.60112; Beschl. v. 14. 12. 2006 – M 24 E 06.60216; Beschl. v. 16. 9. 2008 – M 22 ES 08.60058. Vgl. auch Kugelmann, ZAR 1994, 158 (162). 116 Schenke (Fußn. 35), Art. 19 Abs. 4, Rn. 695 – 764. 113
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Dosierung des Rechtsschutzes. Der Grundantagonismus des Art. 16a GG, einerseits an einem subjektiven Asylgrundrecht festhalten zu wollen, andererseits objektiven Beschleunigungs- und Vereinfachungsbedürfnissen in Massenverfahren angemessen Rechnung zu tragen,117 setzt sich insoweit im Prozessrecht ungebremst fort. Das Schwergewicht der Entscheidungsfindung verlagert sich auf das zuständige Bundesamt,118 während den Verwaltungsgerichten in Eilverfahren eher rudimentäre Kontrollfunktionen verbleiben.119 Dies mag pragmatisch sein, wirft aber erneut die Frage auf, weshalb dem Verfahren gerade bezogen auf das qualifiziert verfahrensabhängige Grundrecht des Art. 16a I GG ein so geringer Stellenwert zugemessen wird. Auf die spezifischen Erkenntnisprobleme von Asylverfahren gibt das Sonderverwaltungsprozessrecht des AsylVfG letztlich keine Antworten. Das AsylVfG enthält zwar gegenüber der VwGO weitreichende Beschränkungen der Rechtsbehelfe, lässt aber das ambivalente Verhältnis von Verfahrensrecht zum verfahrensabhängigen materiellen Recht letztlich in der Schwebe. Kurzum: „Die Beibehaltung des Asylgrundrechts durch Art. 16a I GG hat ihren verfahrensrechtlichen Preis.“120 V. Schlussfolgerungen Eigenheiten und Probleme des Asylprozesses konnten hier nur skizziert werden. Welchen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Gewinn verspräche eine vertiefte Befassung mit dem Asylverfahrensrecht, insbesondere mit Blick auf das Prozessrecht? Zunächst steht eher die Atypik der Materie im Vordergrund. Rechtsstreitigkeiten nach AsylVfG sind in der Sache summarische Verfahren, die anderen Leitbildern121 des Verwaltungsrechtsschutzes als die VwGO folgen, und zudem durch Art. 16a GG einer ungewöhnlich detaillierten konstitutionellen Vorprägung ausgesetzt. Die dargestellten Besonderheiten, die sich aus der engen Verzahnung des Prozessrechts mit dem Fachrecht ergeben, lassen eine sondergesetzliche Regelung sinnvoll erscheinen.122 Jedoch gilt auch hier: „Gerade im gegebenenfalls kontrastreichen Nebeneinander von allgemeinen Systembausteinen und spezifischer Abweichung entfaltet ein modern verstandener Systemgedanke seine einheitsbildende Kraft.“123 Eine Einbeziehung des Asylverfahrensrechts in die verwaltungsrechtliche Systembildung kann vor allem die Sensibilität für die bislang nur unzureichend untersuchten Grenzen der Leistungsfähigkeit unseres herkömmlichen Verwaltungsprozessrechts in Bezug auf anspruchsvolle Tatsachenfragen fördern. Die Probleme des Asylprozessrechts 117
Zutreffend Gusy, Jura 1993, 505 (513). Vgl. auch Renner (Fußn. 111), § 18a, Rn. 23. Kritisch Masing (Fußn. 15), Art. 16a, Rn. 90. 119 Sehr kritisch Ruge, NVwZ 1995, 733 (739 f.). 120 Schoch, DVBl. 1993, 1161 (1165). 121 Zur Funktion von Leitbildern Volkmann, AöR 134 (2009), 157 ff. 122 Gärditz, Die Verwaltung 43 (2010), 309 (334). 123 Kahl, in: Axer/Grzeszick/ders./Mager/Reimer, Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, 2010, S. 39 (72 f.). 118
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sind insoweit nur besonders ausgeprägte Symptome einer allgemeinen Vernachlässigung des Umgangs mit den Tatsachen in Rechtsdogmatik und verwaltungsrechtlicher Methodik.124 Der Preis ist eine Überforderung des auf einzelfallbezogene Rechtsanwendungskontrolle ausgerichteten Rechtsschutzsystems. Strukturell ähnliche Probleme können sich auch in anderen Gebieten stellen, insbesondere im Umweltund Technikrecht (Stichwort: Verarbeitung von Risiken zwischen Tatfrage und normativer Wertung) und im Planungsrecht (Stichwort: Verarbeitung hyperkomplexer Makrosachverhalte). Eine vergleichende Perspektive, die europarechtliche Prozeduralisierungserfahrungen einbezieht, verspräche hier ertragreich zu sein. Auch ein System des Beweisrechts, das den spezifischen Herausforderungen der Entscheidungsfindung im Öffentlichen Recht gerecht wird, ist bislang Desiderat. Notwendig ist künftig vor allem eine Objektivierung von Beweismethoden, die Präzisierung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Umgang mit Beweismitteln125 sowie insbesondere die Konturierung des Vorbehalts des Gesetzes im Verfahrensrecht. Hierfür wäre das Sonderverwaltungsprozessrecht in Asylverfahren ein sehr geeignetes wissenschaftliches Referenzgebiet.
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Kritisch Gärditz, ZUR 2009, 413 (420); Schmidt-Aßmann, in: ders./W. Hoffmann-Riem, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 387 (407). 125 Hierzu jüngst Zuck, NJW 2010, 3622 ff.; asylrechtsspezifisch Kossen, Die Tatsachenfeststellung im Asylverfahren, 1999, S. 46 ff.
Die Feststellungsklage als Normenkontrolle zwischen suchender Dialektik und dogmatischer Konsistenz Von Max-Emanuel Geis I. Die Problematik Von der juristischen Öffentlichkeit eher am Rande wahrgenommen, hatte die höchstrichterliche Rechtsprechung für bundesrechtliche Rechtsverordnungen vor einem guten Dezennium die Möglichkeit einer verkappten verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle via Feststellungsklage eröffnet und damit die bisher bestehende klare Beschränkung der Normenkontrolle untergesetzlichen Rechts ausgehebelt. Anlass für diese Entwicklung waren mehrere Verordnungen des Luftfahrtbundesamtes nach § 32 LuftVG, § 27a LuftVO, mit denen durch die Festsetzung topographischer Punkte Anflugrouten und Warteschleifen bei Verkehrsflughäfen, u. a. in Zürich, Köln-Bonn und Frankfurt, definiert wurden. Die dadurch bedingten erheblichen Belästigungen für Anwohner führten zu etlichen Verwaltungsprozessen, die zu mehreren ober- und höchstrichterlichen Entscheidungen führten1. Da eine direkte Anwendung des § 47 VwGO sowohl nach der Wortlaut- wie nach der systematischen Auslegung (lex specialis) definitiv ausscheiden musste, und auch eine Analogie wegen des historisch eindeutig belegbaren Ausnahmecharakters der Norm („singularia non sunt extendenda“2) nicht gangbar erscheint3, kristallisierte sich in einem mehrere Jahre währenden, dialektischen Entwicklungsprozess (vulgo: Ping-Pong-Spiel) zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht schließlich die Feststellungsklage als „Auffangklageart“ heraus. Nach und nach erstreckte sich die Fortentwicklung auch auf weitere Bereiche des Bundesrechts. Mit seinem Beschluss vom 17. Januar 20064 hat das Bundesverfassungsgericht diese Tendenz endgültig sanktioniert: Seitdem ist die allgemeine Feststellungsklage statthafte Klageart gegen (jedwede) Rechtsverordnung des Bundes, sei es, dass 1 Zur Problematik M.-E. Geis, Der Punkt als Norm, in: ders./Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle, Festschrift für Richard Bartlsperger, 2006, 215 ff. 2 Zu diesem allgemeinen Grundsatz vgl. K. Muscheler, in: Festschrift für Heinrich Wilhelm Kruse, 2001, S. 135 ff.; Th. Schilling, Singularia non sunt extendenda – Die Auslegung der Ausnahme in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 1996, 44. 3 Für analoge Anwendung hingegen Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl. 2010, § 12 Rn. 8. 4 BVerwGE 115, 51 – 1 BvR 541/02.
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sie als „atypische Feststellungsklage“5, als „Feststellungsklage sui generis“6 oder „heimliche Normenkontrollklage“7 apostrophiert wird. Die Zielrichtung dieser Dogmatik ist durchaus praktisch gedacht: Das Bundesverfassungsgericht konnte so eine weitere Barriere der Rechtswegerschöpfung errichten8. Diese Entwicklung ist indes nicht frei von etlichen inneren Widersprüchen und führt insbesondere zu keineswegs marginalen Verwerfungen im System des Verwaltungsprozessrechts. Gerade der Jubilar hat sich zu diesem Thema seit seiner Habilitationsschrift immer wieder in prononcierter Weise geäußert9; dabei zieht sich die mahnende Forderung nach dogmatischer Klarheit und Konsequenz als roten Faden durch seine einschlägigen Werke. Leider entspricht diesem Anliegen der derzeitige Rechtsstand nur ungenügend. Umso mehr lohnt es sich, die derzeitige, recht „pragmatische“ Konstruktion, auf ihre dogmatische Konsistenz hin zu durchleuchten. II. Rechtsfortbildung im Ping-Pong-Verfahren Bemerkenswert ist der Weg dieser Entwicklung: Unzweifelhaft ist wissenschaftlicher Wandel regelmäßig Ergebnis eines Diskurses zwischen Rechtsprechung und Wissenschaft. In diesem Fall hatte sie indes den Charakter eines juristischen PingPong-Verfahrens, das die Problemlösung vor allem in der Verweisung auf das jeweils „andere“ Gericht suchte. 1. „Back to the roots“ Aber zunächst „back to the roots“: Die Zulässigkeit der prinzipalen Normenkontrolle für untergesetzliches Landesrecht nach § 47 VwGO geht auf § 25 der Verwaltungsgerichtsgesetze für die amerikanische Besatzungszone (Bayern, Bremen, Hessen, Württemberg-Baden) zurück und wurde zunächst nur zögerlich in weiteren Bundesländern (z. B. in Schleswig-Holstein) umgesetzt10. Schon aus dieser historischen Situation ist es erklärlich, dass nur untergesetzliches Landesrecht, das zudem auf landesrechtlichen Ermächtigungsnormen beruht, als tauglicher Antragsgegenstand in Frage kam. Der Versuch, zur Wahrung einheitlicher Rechtsanwendung auf einem in der Praxis besonders wichtigen Gebiet durch das „Gesetz zur Änderung verwaltungsprozessualer Vorschriften“ vom 24. 8. 1976 (BGBl. I, 2437) die Prüfung auf städtebauliche Satzungen auf der Grundlage von Bundesrecht – nämlich der dama5
Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 396, 1073. Seiler, DVBl. 2007, 538. 7 Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 8. 8 Unmissverständlich BVerfGE 115, 81 (91 f.). 9 Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979; ders., VerwArch 82 (1991), 347 ff.; ders., in: Kopp/Schenke, VwGO, § 47 Rn. 9 f.; ders.,Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 883 f., 1073 ff. 10 Zur Geschichte des Normenkontrollverfahrens Ziekow, in: Sodan/Ziekow, NKVwGO, 2. Aufl. 2006, § 47 Rn. 1 ff. 6
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ligen BBauG und StBauFG – zu erweitern, war eher von rechtspolitischer Pragmatik gekennzeichnet, führte aber durch ihren Solitärcharakter eher zu einer Steigerung der systematischen Inkongruenz. In der Folge entwickelte sich ein ausschließlich für den Bereich des Bauplanungsrechts geltendes Normenkontrollrecht, das in der Praxis zu einer großflächigen Nichtigerklärung von fehlerhaften Bebauungsplänen führte. Dieser aus Sicht der Planer unerfreulichen Entwicklung wurde deshalb seit den 90er Jahren durch verschiedene Novellen gegengesteuert, die u. a. das Dogma vom Grundsatz der Planerhaltung verfochten und durch die großzügigen Heilungsvorschriften in §§ 214, 215 BauGB die Möglichkeiten einer erfolgreichen Anfechtbarkeit erheblich einschränkte11. Jenseits des Bauplanungsrechts war und ist jedoch weitgehend einhellige Meinung, dass eine Kontrolle bundesrechtlicher Verordnungen oder Satzungen durch das OVG/den VGH im Wege des § 47 VwGO nicht möglich ist12. Eine unmittelbare Anwendung scheitert am klaren Wortlaut und an der Auslegung anhand der gezeigten historischen Genese. Da § 47 VwGO im Rechtsschutzsystem der VwGO zwar nicht als Fremdkörper, jedenfalls aber als Ausnahmevorschrift gesehen werden muss, verbietet sich auch eine analoge Anwendung13. Nach der bereits erwähnten Doktrin war anerkannt, dass außerhalb des Anwendungsbereichs des § 47 VwGO – also namentlich bei Bundesrechtsverordnungen – eine untergesetzliche primäre Normenkontrolle nicht statthaft ist. Auch schien eine ausnahmsweise Statthaftigkeit aus dem Gedanken des Formenmissbrauchs möglich14, weil die Rechtsverordnung materiell eine verkappte Allgemeinverfügung sei. Ein Rechtsschutzdefizit im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG sah etwa der BayVGH auch bei unmittelbarer Verbindlichkeit der Verordnung nicht; schließlich bleibe den Klägern der Weg der Verfassungsbeschwerde offen, eine Auffassung, die auch der Jubilar in markanter Weise vertritt15. Unter direkter Bezugnahme auf den BayVGH hatte denn auch das OVG Lüneburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Abflugstrecke des Flughafens Hannover abgelehnt und den Antragsteller auf eine Verfassungsbeschwerde verwiesen. 11
Zuletzt hat das „Gesetz zur Erleichterung von Planvorhaben für die Innenentwicklung der Städte“ vom 21. 12. 2006 (BGBl. I, 1359) zu weiteren Einschränkungen im Rechtsschutz v. a. durch Fristverkürzungen in § 47 VwGO geführt. 12 Kuntz, Der Rechtsschutz gegen unmittelbar wirkende Rechtsverordnungen des Bundes, 2001, S. 104 ff.; Ziekow (Fußn.1), Rn. 110; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. 2000, § 47 Rn. 28; vgl. dazu auch schon Kopp, VwGO, 1. Aufl. 1974, § 47 Anm. 2. 13 BayVGH NVwZ-RR 1995, 114 – Gerichtsbescheid vom 30. 11. 1993; ebenso OVG Lüneburg; M. Gerhardt, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, VwGO, Stand 2003, § 47 Rn. 11. Anders aber Bartlsperger, DVBl. 1967; Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen, 12. Aufl. 2010, § 12 Rn. 8 (für BVerwG). 14 D. Czybulka/T.Wandres, DÖV 1990, 1033/1037 ff.; J. Bohl, NVwZ 2001, 764, 765; vgl. auch Anm. 43. 15 Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rdn. 89 ff. (Drittbearbeitung); ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1080. Ebenso auch Papier, HStR VI, § 154 Rn. 36; SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV, Rn. 94.
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2. Ping: Der Aufschlag des BVerfG Der unterlegene Antragsteller trat nach dieser regelrechten Aufforderung zum Tanz denn auch umgehend den Gang nach Karlsruhe an. In seinem Kammerbeschluss vom 2. 4. 1997 lehnte das Bundesverfassungsgericht allerdings die Annahme der Verfassungsbeschwerde ab, und zwar wegen der Subsidiarität (!) der Verfassungsbeschwerde. Dieser Grundsatz verlange nämlich über die geläufigen Arten der Rechtswegerschöpfung hinaus, dass der Beschwerdeführer alle Möglichkeiten des Rechtsschutzes ausgeschöpft haben müsse, bevor er Verfassungsbeschwerde erhebe. Das gelte namentlich für den Rechtsschutz gegen unmittelbar wirkende Normen16. Gleichwohl garantiere Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG Rechtsschutz gegen alle Akte der öffentlichen Gewalt, die in Individualrechte eingreifen könnten. Offensichtlich aus Sorge, zum erstinstanzlichen Verordnungsüberprüfungsgericht zu mutieren17, konstatiert das Gericht, dass die Gewährleistung des Rechtsschutzanspruchs nach § 40 VwGO primär Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei18. Ausführungen zur in diesem Fall statthaften Klageart hat sich das BVerfG als Ausdruck prozessrechtlichen self-restraints versagt. 3. Pong: Die Antwort des BVerwG Das Bundesverwaltungsgericht musste in seinem Urteil vom 28. 6. 200019 wohl oder übel den Ball aufnehmen. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des OVG/VGH nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 VwGO wurde bestätigt. Zum „Betrieb des Flughafens“ zählte das Gericht in extensiver Auslegung nicht allein die Rechte und Pflichten des Flughafenbetreibers, sondern darüber hinaus alle mit dem Betrieb eines Flughafens untrennbar verbundenen Entscheidungen und Nebenverfahren, also auch die Anflugroutenfestlegungen. Als statthaft sah das Gericht die Feststellungsklage nach § 43 VwGO an. Weil auch der exekutive Verordnungsgeber Teil der öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG sei, und insofern der Rechtsschutzgarantie unterliege, entfalte § 47 VwGO keine systematische Sperrwirkung für die Überprüfung anderer, unmittelbar geltender Normen. Allerdings sei eine Leistungsklage auf Aufhebung der Norm unstatthaft, weil sie die Rechtswidrigkeit der Norm voraussetze. Liege diese aber vor, habe sie zwingend die Nichtigkeit zur Folge. Eine nichtige Norm könne schließlich nicht aufgehoben werden. Auch § 47 VwGO folge dieser ratio. Konsequent hat der HessVGH § 123 VwGO als statthafte Form einstweiligen Rechtsschutzes im Verfahren Frankfurt angesehen20. 16
BVerfGE 71, 305/334 f.; 74, 69/74. BVerfG NVwZ 1998, 169; dazu J. Bohl NVwZ 2001, 764. 18 So hat auch das BVerwGE 80, 355/358 f. betont, dass der Verwaltungsrechtsweg auch dann nicht verschlossen ist, wenn es für eine Entscheidung auf die Gültigkeit oder gar Verfassungsmäßigkeit einer untergesetzlichen Norm ankommt. Die mögliche Verfassungswidrigkeit einer solchen Norm könnten die Gerichte in ihren Entscheidungsgründen selbst feststellen, ohne mit dem Verwerfungsmonopol des BVerfG in Konflikt zu geraten. 19 BVerwGE 111, 276/278 f. – Flugroutenfestlegungen am Flughafen Köln/Bonn. 20 Der Antrag wurde allerdings als unzulässige Vorwegnahme in der Hauptsache abgelehnt. 17
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Im Urteil „Flughafen-Zürich“ vom 26. 11. 2003 hat der Senat seine Linie bekräftigt21. Der 4. Senat hat sie im „Frankfurt-Airport-Urteil“ vom 24. 6. 200422 sogar noch ausgedehnt: Zum einen durfte die Klage auf die erst während des Revisionsverfahrens ergangene 5. ÄndVO erstreckt werden. Zum anderen stehe die Subsidiaritätsklausel des § 43 Abs. 2 VwGO dann nicht entgegen, wenn sich durch die Feststellungsklage ein noch weitergehender Rechtschutz erreichen lässt als durch eine Anfechtungsklage – nämlich dann, wenn dadurch eine Vielzahl potentieller Einzelprozesse vermieden wird, für die die Rechtswidrigkeit der Verordnung allenfalls eine Vorfrage spielt. Damit vertieft das Gericht die (alte) Doktrin, dass ein grundsätzlich ja nur inter partes geltendes Urteil wegen der Gesetzestreue der Verwaltung23 realiter inter omnes wirken wird – es führt also eine faktische allgemeine Bindungswirkung ein. In der Folge hat das Gericht diese Richtung auf weitere Bereiche ausgedehnt, so bei der „Verordnung zum Verbot der Frischzellentherapie“24 und bei der „Verpackungsverordnung“25. 4. Ping-Pong: Der Beschluss des BVerfG vom 17. 01. 200626 Eine vorläufige Synthese stellte dann der Beschluss vom 12. 01. 2011 zur Kulturpflanzen-Ausgleichzahlungs-Verordnung27 dar: § 47 VwGO entfalte gegenüber der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Verordnung durch eine Feststellungsklage keine Sperrwirkung. Im Hinblick auf die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sei deren Anwendung dadurch gerechtfertigt, dass die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Norm lediglich als Vorfrage aufgeworfen werde28; dem System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes könne nicht entnommen werden, dass außerhalb des § 47 VwGO die Überprüfung von Rechtssetzungsakten ausgeschlossen sein soll. Diese letzte Behauptung geht freilich nonchalant sowohl über die historische Genese als auch über die Tatsache hinweg, dass der definitive Ausnahmecharakter des § 47 VwGO – zusammen mit Art. 93 Abs.1 Zf. 2 GG – ganz eindeutig für das argumentum e contrario spricht. Gegen die Zulässigkeit einer „Auffangklage“ spricht auch, dass sich der Bundesgesetzgeber des Problems wohl bewusst war; sonst hätte er nicht jeweils in § 2 Abs. 3 des „Gesetzes über den Bau der ,Südumfahrung StendalГ29 und des „Gesetzes über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar 21
BVerwG DVBl. 2004, 382 (jetzt als 9. Senat firmierend). BVerwG NVwZ 2004, 1229. 23 Vgl. schon BVerwGE 51, 69/75; BGH NJW 1984, 1118 f.; unentschieden dagegen BVerwG NVwZ-RR 1998, 302. Krit. zu so euphemistischem Vertrauen F. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, § 43 Rn. 28, und M. Happ, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000 § 43 Rn. 43. 24 BVerwG DVBl. 2000, 636. 25 BVerwG NVwZ 2007, 1311. 26 BVerfGE 115, 81 (91); dazu Sachs, JuS 2006, 1012. 27 Vom 27. November 1995 (BGBl. I, 1561), zul. geändert mit VO v.12. 12. 1996 (BGBl. I, 1875). 28 A.a.O, S. 95; Peter, NVwZ 1999, 506. 29 Vom 39. 10. 1993 (BGBl. I, 1906). 22
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Ost der BAB A 20 Lübeck-Bundesgrenze (A 11)“30 die Anfechtbarkeit von bestimmten Rechtsverordnungen des Bundes unter entsprechender Anwendung des § 47 VwGO geregelt.31 III. Die dogmatischen Verwerfungen des Ping-Pong-Spiels Bei näherem Hinsehen erweist sich indes gerade der Triumph der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG als dogmatischer Pyrrhussieg, um nicht zu sagen: als Einfallstor des großen Chaos. Dem abgeschlagenen Hydrahaupt einer angeblichen Rechtsschutzlücke wachsen die Medusenhäupter dogmatisch höchst unerfreulicher Folgeprobleme mehrfach nach. Hauptgrund dürfte wohl sein, dass die VwGO die beiden Rechtsbehelfe auf bewusst unterschiedlichen Stufen angesiedelt hat32. 1. Verwerfungen bei der Zuständigkeit Die erste Unstimmigkeit fällt schon bei der Zuständigkeit ins Auge: Während für Satzungen nach dem BauGB und für Landesrecht unterhalb der formellen Gesetze (Rechtsverordnungen, Satzungen) nach § 47 Abs. 1 VwGO das Oberverwaltungsgericht/der Verwaltungsgerichtshof zuständig ist, ist nach § 45 VwGO für Feststellungsklagen das Verwaltungsgericht sachlich zuständig. Konkret entscheidet damit für das ranghöhere Recht nach § 5 Abs. 3 VwGO die Kammer mit drei Berufsrichtern – bei mündlicher Verhandlung zusätzlich mit zwei ehrenamtlichen Richtern. Die – theoretisch mögliche – Übertragung an einen Einzelrichter gem. § 6 Abs. 1 VwGO dürfte in diesem Fall weniger relevant sein, dagegen entscheidet am OVG/VGH ein fünfköpfiger Senat von ranghöheren Berufsrichtern über das rangniedrigere Recht, es sei denn, man entscheidet ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss. Das passt hinten und vorne nicht zusammen. Örtlich richtet sich die Zuständigkeit nach § 52 Nr. 5 VwGO. Das macht weiter stutzig: Man wird annehmen dürfen, dass Bundesverordnungen in der Bundeshauptstadt erlassen werden, da doch dort der Bundesanzeiger erscheint, und wo die Norm also durch Bekanntmachung wirksam wird. Dem Verwaltungsgericht Berlin ist in diesem Falle herzlich zu seinem Zuständigkeitszugewinn zu gratulieren. Oder ist doch der Sitzort der Behörde maßgebend?33 Nicht jede Bundesbehörde, die Verordnungen erlassen darf, sitzt in Berlin. Das beginnt mit den in Bonn verbliebenen Ministerien. Sitzort des Luftfahrt-Bundesamtes, das die anfangs erwähnten Rechtsverordnungen nach LuftVG erlässt, ist Frankfurt. Damit wäre das VG Frankfurt zustän-
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Vom 2. 3. 1994 (BGBl. I , 734). Dazu Ziekow, in Sodan/Ziekow, VwGO, § 50 Rn. 20. 32 Rupp, NVwZ 2002, 286; ders., in: FS Isensee, S. 283; Weidemann, NVwZ 2007, 1268. 33 Vgl. BVerwG 71, 183 (188); VGH Kassel NVwZ 2006, 1195; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, NKVwGO, § 53 Rn. 40. 31
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dig. Weitere Bundesoberbehörden sind über Deutschland verstreut34. Notabene: Über die örtliche Zuständigkeit musste sich bislang niemand Gedanken machen, da für Satzungen nach dem BauGB und Landesnormen nur das OVG/VGH des jeweiligen Bundeslandes in Frage kam. Sicherlich findet sich angesichts der neuen Rechtsentwicklung für jeden Fall ein zuständiges Gericht. Es ist jedoch nicht wünschenswert, wenn die „neuen“ Normenkontrollkompetenzen über die ganze Republik verstreut werden, und Gerichte der Länder prinzipal – nicht nur inzident! – über die Gültigkeit von Bundesrecht entscheiden. In diesem Fall wäre die Einheitlichkeit der Rechtsentwicklung in die Hände der Revision zum BVerwG nach § 132 Abs. 1, 2. Alt. VwGO35 sowie gegebenenfalls den Mechanismen der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung anvertraut. Als Kompensation sind dafür die Rechtsmittel der erstinstanzlichen Feststellungsklage, Berufung und Revision, zulässig (von der Zulassung der Rechtsmittel durch den betreffenden Spruchkörper gem. § 124 Abs. 1, § 132 Abs. 1 VwGO dürfte dabei auszugehen sein, da der Entscheidung über die Gültigkeit einer abstrakt-generellen Norm36 die „grundsätzliche Bedeutung“, § 124 Abs. 2 Zf. 3, § 132 Abs. 2 Zf. 1 VwGO, wohl nicht abgesprochen werden kann37). Dies ist schon deswegen nötig, um eine einheitliche Rechtsanwendung hinsichtlich der verschiedenen Lufträume über Deutschland sicherzustellen. Sollte das Gericht dies allerdings anders sehen, stehen dem Kläger (nicht: Antragsteller) die entsprechenden Nichtzulassungsbeschwerden zur Verfügung. Der Rechtsweg gegen Bundesverordnungen ist also bedeutend länger – das Kostenrisiko durch drei erfolglose Instanzen einschließlich partiellem Anwaltszwang steigt entsprechend um ein Vielfaches. Nutznießer ist wiederum das Bundesverfassungsgericht, das für sich im Falle einer schlussendlich beabsichtigten Verfassungsbeschwerde damit eine entsprechend höhere zeitliche und monetäre Zugangshürde errichtet hat. Die ursprüngliche Kostenfreiheit einer Verfassungsbeschwerde nach § 34 BVerfGG, die den Zugang zur Verfassungsgerichtsbarkeit vor Zeiten bürgernah und weitgehend barrierefrei bezweckt hatte38, wird damit zu einer Farce. 2. Die Entwertung des „Rechtsverhältnisses“ Der Weg über § 43 VwGO hat dogmatisch zur Folge, dass man sich auf die Suche nach einem „Rechtsverhältnis“ begeben muss. Nach allgemeiner Meinung versteht man darunter „die aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm 34
Vgl. dazu die Liste der deutschen Bundesbehörden unter http://de.wikipedia.org. Eingefügt durch das 6. VwGOÄndG v. 1. 11. 196 (BGBl. I 1626). Zust. Schenke, „Reform ohne Ende – Das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze, NJW 1997, 90 f.; ders, in: Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 132 Rn. 1. 36 Vgl. BVerwG NVwZ-RR 1990, 221; Kopp/Schenke, VwGO, § 132 Rn. 9 m.w.Nw. 37 Vgl. nur BVerwG NJW 1990, 589; NJW 1993, 2224. 38 Dazu Kunze, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 6 f. 35
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(des öffentlichen Rechts) sich ergebenden rechtlichen Beziehungen einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache“39, nicht jedoch die Norm selbst. Insbesondere besteht kein Rechtsverhältnis zwischen Normgeber und Normadressat40. Insofern war man sich in der „früheren“ Dogmatik einig gewesen, dass eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit einer Rechtsnorm nach § 43 VwGO nicht möglich sei, da es insoweit an einem Rechtsverhältnis fehle41. Gerade der Jubilar hat hierbei stets auf Präzision bestanden und allfällige Umgehungskonstruktionen („atypische Feststellungsklagen“) strikt abgelehnt42, allenfalls auf den Bereich von Inzidentklagen verwiesen43. Der Umweg über die „relative“ Gültigkeit von Rechten und Pflichten44 bzw. die Feststellung, dass eine bestimmte Norm in einem konkreten Fall den Antragsteller nicht bindet45, ist letztlich ein Taschenspielertrick, die die allgemeine Geltung von Normen – die doch gerade das Konstituens einer abstrakt-generellen Regelung darstellt – relativiert, und so weder zum Prinzip der Rechtssicherheit noch des Vertrauensschutzes passen mag. Überdies könnte nach diesem Argument die Feststellungsklage auch gegen ein formelles Gesetz gerichtet werden. Dies alles passt allerdings im Fall der rein geographischen Bestimmung wie den Fällen der Festlegung von Anflugrouten und Warteschleifen nicht so recht, besteht doch der Inhalt der Norm nur in einer Zahl: Allein aus dieser ergeben sich keine Rechte und Pflichten. Letztere entstehen erst durch den Zusammenhang mit § 32 LuftVG; letztere Norm ist also der eigentliche Grund der Bindung, kann aber als solche nicht mit der Feststellungsklage angefochten werden. Wo bei alledem das konkrete Rechtsverhältnis abgeblieben ist, bleibt im Übrigen unerfindlich. 3. Inkongruenzen bei Antragsberechtigung und Passivlegitimation Weiter haben bekanntlich beim „echten“ Normenkontrollantrag Behörden, die mit der Anwendung der Norm befasst sind, eine eigene – konsequenterweise nicht an subjektive Rechte gebundene – Antragsbefugnis (§ 47 Abs. 2 2. Alt. VwGO). Beim „unechten“ ist dies nicht der Fall, so dass eine weitere Ungleichheit zu beobachten ist: Behörden, die mit dem Vollzug einer Bundesnorm befasst sind, haben dementspre39
BVerwGE 89, 329; 100, 264; DVBl. 1992, 1168 f.; Sodan, in: ders./Ziekow (Hrsg.), NKVwGO, § 43 Rn. 7; Kopp/Schenke, VwGO, § 43 Rn. 11 m.zahlr. weit. Nw. in Fußn. 17. 40 BVerwGB DÖV 2002, 160; Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen § 11 Rn. 3. 41 OVG Münster, NJW 1976, 2038; Hoppe, FS Redeker 1993, 389; Kopp/Schenke, VwGO, § 43 Rn. 8. 42 Kopp/Schenke, VwGO, § 43 Rn. 8. 43 Kopp/Schenke, a.a.O, sowie § 47 Rn. 1. 44 Etwa Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 440. 45 Vgl. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 393 f.; Ehlers, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 25 Rn. 12.
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chend keine Möglichkeit, deren Rechtswirksamkeit zu überprüfen, obwohl dieser Regelung der Gedanke zu Grunde lag, dass mangels eigener Verwerfungskompetenz in bestimmten Fallgestaltungen „eine Behörde eher als ein betroffener Bürger bereit sein könnte, die im allgemeinen Interesse liegende Klärung von Streitfragen durch ein Normenkontrollverfahren herbeiführen“46. Gerade im Falle der „von oben“ verfügten Wendeschleifenpunkte nach § 34 LuftVG könnten die örtlichen Umweltschutzbehörden (des Landes) an einer gerichtlichen Kontrolle ein virulentes Interesse haben. Verwerfungen ergeben sich schließlich bei der Passivlegimation, da – jedenfalls bei landesrechtlichem Verwaltungsvollzug – der Beklagte am Rechtsverhältnis nicht beteiligt ist47. Schließlich eröffnet die genannte Konstruktion auch die Möglichkeit, dass eine Feststellungsklage als Normenkontrollantrag sowohl gegen Bundeswie Landesrecht auch in den Ländern erhoben werden kann, in denen der Landesgesetzgeber eine Überprüfung von Normen gerade nicht vorgesehen hat. Damit wird die föderalistische Freiheit, die § 47 VwGO gerade eröffnet, über eine Hintertür genommen, ohne das eine Diskussion erfolgt ist, ob Art. 19 Abs. 4 GG föderalistisch bedingte Modifikationen zulässt. 4. Inkongruenzen bei der Rechtswirkung der Entscheidung Nur engstirnige Dogmatiker werden vermutlich auf den Widerspruch hinweisen wollen, dass eine Normenkontrollentscheidung nach § 47 VwGO Rechtskraftwirkung inter omnes, ein Feststellungsurteil hingegen nur inter partes (ohne eigentliche Verwerfungswirkung) entfaltet. Seit langem vertritt die Verwaltungsrechtsprechung die optimistische These, dass sich die öffentliche Hand infolge ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) auch an ein Feststellungsurteil halten wird48 – was freilich durch partielle Erscheinungen wie die berüchtigten Nichtanwendungserlasse des Bundesfinanzministeriums zur Einnahmenmaximierung konterkariert wird, die für den Steuerzahler günstige finanzgerichtliche Urteile wegen deren inter-partesWirkung nicht auf alle Steuerzahler ausdehnen wollen49. Gleichwohl ist es dogmatisch inkonsequent und überdies auch nicht recht prozessökonomisch, wenn eine Quasi-Normenkontrolle nur inter partes gilt, da dies eine Flut gleichartiger Prozesse auslösen könnte50.
46 RegE eines Gesetzes zur Änderung verwaltungsprozessualer Vorschriften (B T-Drs. 7/ 4324, Ans. 1, S.11; dazu auch Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 47 Rn. 264. 47 Fehlenberg/Karpenstein, NVwZ 2006, 113. 48 Zuletzt wieder BVerfGE 115, 81 (96). 49 Zum Komplex „Nichtanwendungserlass“ vgl. nur BFH v. 9. 12. 2010 – IX R 70/07 – juris, sowie Drüen, in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO, Rn. 199, und Pahlke, in: ders./Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl. 2009, § 4 Rn. 65, jew.weit. Nw. 50 Für eine systematisch kaum begründbare Wirkung inter omnes aber Pielow, Die Verwaltung 1999, 445 (470).
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5. Inkongruenz bei den Rechtsmitteln Unausgewogen scheint schließlich, dass gegen untergesetzliches Landesrecht nur die eine Rechtsmittelinstanz der Revision51, gegen Verordnungen des Bundes hingegen deren zwei, Berufung und Revision, zur Verfügung stehen. Rechtsprobleme der Gültigkeit einer Bundesverordnung dürften wohl weitgehend unstreitig sowohl die Hürde der Zulassungsberufung (§ 124 VwGO) als auch der Zulassungsrevision (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) wegen „grundsätzlicher Bedeutung“ überwinden, handelt es sich doch dabei fast zwingend um eine abstrakte, höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage52, die zur Wahrung der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts erforderlich sein dürfte. Als Ausgleich ist daher mindestens erforderlich, dass die Rechtsmittel jeweils bis zum BVerwG zugelassen werden, schon um divergierende Rechtssprechung der Untergerichte zu vermeiden (gerade FlugroutenVOen betreffen in Ballungszonen durchaus das Gebiet verschiedener Verwaltungsgerichte: Im Fall Baden-Württembergs etwa VG Freiburg/VG Sigmaringen oder für die Berufungsinstanz je nach Ausgangspunkt sogar verschiedene Oberverwaltungsgerichte / Verwaltungsgerichtshöfe, so für den Fraport je nach geographischer Lage des Wendepunkts der VGH Kassel (für Hessen) oder das OVG Koblenz (für Rheinland-Pfalz), für den Hamburger Flughafen nach Wahl das HansOVG selbst / das OVG Schleswig oder das OVG Lüneburg). Feststellungsklagen gegen Bundesverordnungen ist damit immer grundsätzliche Bedeutung zuzubilligen. Dass nur eine Entscheidung des OVG die erwähnte inter-omnes-Wirkung hat, wird durch den Hinweis auf das rechtsstaatliche Verhalten der Behörden relativiert. IV. Zusammenfassung Die Feststellungsklage als Normenkontrollklage bleibt ein Fremdkörper im Rechtsschutzsystem der VwGO; allein die Formulierung des Art. 19 Abs. 4 GG reicht für ihre Notwendigkeit nicht aus, diesem hätte – wie der Jubilar treffend bemerkt – notfalls durch verfassungsgerichtliche Rechtsbehelfe Rechnung getragen werden können. Das Argument der Notwendigkeit einer Rechtswegerschöpfung ist letztlich ein Zirkelschluss, da es die Existenz eines „Rechtswegs“ bereits voraussetzt. Eine Ausräumung dieser Widersprüche ist letztlich nur durch eine Ausweitung des § 47 VwGO auf bundesrechtliche Normen de lege ferenda möglich. Denkbar ist es in diesem Fall auch, die Zuständigkeit für Normenkontrollen gegen Bundesverordnungen und -satzungen gleich beim BVerwG im Rahmen des § 50 VwGO anzusiedeln;
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Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 47 Rn. 411. Zu diesem Erfordernis BVerwGE 113, 90 f: BVerwG NVwZ 1987, 55; BFH BStBl II 1975, 196 f, sowie Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124 Rn. 126; Czybulka, ebda., § 132 Rn. 47; Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 132. 52
Die Feststellungsklage als Normenkontrolle
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§ 5 VerkPBG, das „BABA20-Gesetz“ u. a. haben gezeigt, dass eine erstinstanzliche Zuständigkeit als Tatsachengericht keinesfalls unter der Würde des BVerwG läge. Insgesamt zeigt die pragmatisch bedingte Orchidee der Feststellungsklage als Normenkontrolle aber das höchst berechtigte Interesse des Jubilars, gerade im Bereich der gerichtlichen Rechtsdurchsetzung stets auf Logik und Konsequenz des Systems gepocht zu haben. Die Verwaltungsprozessrechtsdogmatik dankt es ihm.
Das Verbot der Vollstreckung von Verwaltungsakten als Rechtsfolge prinzipaler Normenkontrollen Von Torsten Gerhard Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle nach § 47 VwGO, mit der sich der Jubilar in zahlreichen Veröffentlichung intensiv beschäftigt hat1, stellt eine Besonderheit im subjektiv-rechtlich geprägten Rechtsschutzsystem der Verwaltungsgerichtsordnung dar. Im Gegensatz zu anderen Verfahrensarten der VwGO, die eine Verletzung subjektiver Rechte voraussetzen, hat die Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO schon dann Erfolg, wenn das Gericht die objektive Rechtswidrigkeit der Norm feststellt; der Prüfungsumfang des Gerichts ist also nicht auf die Verletzung subjektiver öffentlicher Rechte beschränkt. Zugleich enthält die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle – wie der Jubilar überzeugend dargelegt hat2 – auch Elemente des subjektiven Rechtsschutzes. Deutlich wird dies am Erfordernis einer Antragsbefugnis: natürliche oder juristische Personen müssen geltend machen, dass sie durch die der gerichtlichen Überprüfung unterzogene Norm in eigenen Rechten verletzt sind oder in absehbarer Zeit verletzt werden. Gelangt das zuständige Oberverwaltungsgericht zu der Überzeugung, eine Norm sei nicht mit höherrangigem Recht vereinbar, so hat es diese Norm für unwirksam zu erklären (§ 47 Abs. 5 S. 2 VwGO)3. Ausgehend von dem Grundsatz der „ipso iure“Nichtigkeit fehlerhafter Rechtsnormen, wonach eine Rechtsnorm, die gegen höherrangiges Recht verstößt, in der Regel von Anfang an keine juristische Geltung erlangt 1 Vgl. u. a. Schenke, Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, NJW 1978, 671 ff.; ders., Die einstweilige Anordnung in Verbindung mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle (§ 47 VII VwGO), DVBl. 1979, 169 ff.; ders., Die verwaltungsgerichtliche Antragsbefugnis gem. § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO, VerwArch. Bd. 90 (1999), 301 ff.; ders., Die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Norm als Streitgegenstand der oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO, in: Heckmann (Hrsg.), Modernisierung von Justiz und Verwaltung, Gedenkschrift für Ferdinand O. Kopp, 2007, S. 114 ff. 2 Vgl. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2009, § 47 Rn. 3. 3 Entsprechend den in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Entscheidungsalternativen kann das Oberverwaltungsgericht Normen auch für „teilweise unwirksam“ erklären sowie sich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Norm beschränken und ihre Fortgeltung bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber anordnen; vgl. hierzu Schenke, JZ 2006, 1004 ff. Ferner kann das Oberverwaltungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens feststellen, dass lediglich eine bestimmte Auslegungsvariante mit höherrangigem Recht unvereinbar ist, vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 47 Rn. 124.
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haben konnte4, stellt das Gericht lediglich eine Nichtigkeitsfolge fest, die sich aus dem materiellen Recht ergibt. Die Normenkontrollentscheidung beseitigt den Rechtsschein der Gültigkeit einer Norm „ex tunc“.5 Die Fehlerhaftigkeit einer Norm führt allerdings nicht zur Unwirksamkeit der Verwaltungsakte, welche auf der Grundlage der unwirksamen Norm erlassen wurden. Stützt sich ein Verwaltungsakt auf eine fehlerhafte Rechtsnorm, so schlägt die Rechtswidrigkeit der Norm regelmäßig auch auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes durch. Verwaltungsakte sind jedoch – auch wenn sie fehlerhaft sind – regelmäßig wirksam und nur in seltenen Ausnahmefällen nichtig. Die Unwirksamkeit einer Norm führt daher in der Regel nicht unmittelbar zur Unwirksamkeit des Verwaltungsaktes. Es gilt der Grundsatz der Unabhängigkeit des Einzelaktes von der ihm zugrundeliegenden Rechtsvorschrift.6 Für den Adressaten eines Verwaltungsaktes besitzt die Feststellung der Unwirksamkeit der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Norm daher zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen. Durch den weiterhin wirksamen Verwaltungsakt bleibt er auch unmittelbar von diesem betroffen. Deshalb stellt sich die Frage, welchen Einfluss die allgemeinverbindliche Unwirksamerklärung einer Norm auf die Rechtsfolgen der auf ihrer Grundlage erlassenen Verwaltungsakte, insbesondere deren Vollstreckbarkeit haben kann. I. Die Regelungskonzeption des § 183 VwGO Der Gesetzgeber der VwGO hat die Auswirkungen der Fehlerhaftigkeit einer Norm auf die auf ihr beruhenden Verwaltungsakte nicht ausdrücklich geregelt. Der Wortlaut des § 183 VwGO, auf den in § 47 Abs. 5 S. 3 VwGO verwiesen wird, bezieht sich lediglich auf „Entscheidungen der Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit“. Die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen der Verwaltungsgerichte bleiben danach unberührt, dürfen jedoch nicht mehr vollstreckt werden. Eine vergleichbare Regelung, die sich mit dem Schicksal von Verwaltungsakten befasst, welche auf der unwirksamen Norm beruhen, findet sich in der VwGO hingegen nicht.
4 BT-Drucks. 1/788, S. 34 zu § 72 BVerfGG-Entwurf (= § 78 BVerfGG); BVerfGE 1, 14 (37); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 47 Rn. 144; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 38 Rn. 50; Pietzner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, Stand: November 2009, § 183 Rn. 5; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 79 Rn. 17; a.A. Heckmann, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2010, § 183 Rn. 11 ff.; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 13 f. 5 Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 47, Rn. 144. 6 BVerwGE 1, 67 (69); ausführlich Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 93 („Emanation der Autorität“); Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Band I, 3. Aufl. 1924, S. 65 f., der in diesem Zusammenhang von der „Selbstbezeugung des Verwaltungsakts“ spricht.
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1. Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit Die Vorschrift des § 183 VwGO enthält allerdings wesentliche Überlegungen des Gesetzgebers, die sich auch auf den Bereich der Verwaltungsakte übertragen lassen könnten. Denn sie beinhaltet eine gesetzgeberische Abwägung zwischen den Rechtsgrundsätzen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit: Rechtswidrige, noch nicht bestandskräftige Verwaltungsakte sind grundsätzlich wirksam, müssen aber aufgehoben oder abgeändert werden.7 Ist ein noch anfechtbarer Verwaltungsakt rechtswidrig und verletzt dieser subjektive Rechte des Betroffenen, so führt dies mittelbar, nämlich durch eine von Amts wegen erfolgende Rücknahme des Verwaltungsaktes nach § 48 VwVfG, im Rahmen eines Widerspruchsverfahren oder im Wege einer Anfechtungsklage nach § 42 VwGO, zur Beseitigung des fehlerhaften Einzelaktes. Der Rechtsgrundsatz der materiellen Gerechtigkeit wird bis zum Eintritt der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes uneingeschränkt gewährleistet. Der Gesetzgeber hat die Rechtsbehelfsmöglichkeiten für den Betroffenen allerdings zeitlich beschränkt. Mit dem Eintritt der formellen Bestandskraft tritt der Gedanke der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens in den Vordergrund. Der Adressat eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes kann die erst nach Ablauf der gesetzlichen Anfechtungsfristen erkannte Rechtswidrigkeit in der Regel nicht mehr mit Erfolg geltend machen. Durch die allgemeinverbindliche Unwirksamkeitserklärung einer Norm im Rahmen einer prinzipalen Normenkontrolle kommt es zu dem Dilemma, zwischen den Grundsätzen der Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtssicherheit abwägen zu müssen. Mit unserem Rechtsgefühl ist es nur schwer vereinbar, als rechtswidrig erkannte hoheitliche Eingriffe in die individuelle Freiheit hinnehmen zu müssen. Andererseits besteht das Bedürfnis nach einem verbindlichen Abschluss von Rechtsstreitigkeiten. Beide Grundsätze sind als Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art. 20 Abs. 3 GG einander nicht über- oder unterzuordnen, sondern ranggleich.8 Es obliegt dem Gesetzgeber, diesen Widerstreit im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes zu lösen.9
7 Grundlegend hierzu Baumeister, Der Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen Verwaltungsaktes, 2006; Schenke, in: Geis/Larenz (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung – Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 729. 8 Vgl. BVerfGE 7, 194 (196). 9 BVerfGE 3, 225 (237); 15, 313 (319 f.); 25, 269 (290); vgl. auch Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 3.
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2. Gesetzliche Regelungen zur Lösung dieses Konfliktes Für die Folgen prinzipaler Normenkontrollen hat der Gesetzgeber diesen Konflikt zwischen Rechtssicherheit auf der einen und materieller Gerechtigkeit auf der anderen Seite an mehreren Stellen übereinstimmend geregelt. Die bundesrechtlichen Vorschriften des § 79 Abs. 2 BVerfGG, des § 183 VwGO und des § 157 FGO, aber auch landesrechtliche Regelungen, wie z. B. § 26 Abs. 3 und 4 VerfGHG RLP, § 46 Abs. 2 VerfGHG Saarland oder § 40 Abs. 3 und 4 StGHG Hessen weisen folgendes, einheitliches Regelungskonzept auf: a) Beibehaltung des status quo Die fehlerhaften Akte der öffentlichen Gewalt, die auf einer für unwirksam erklärten Norm beruhen und die im Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung unanfechtbar sind, bleiben aus Gründen der Rechtssicherheit „unberührt“, d. h. diese Akte bleiben zunächst bestehen. Die in der Vergangenheit aus ihnen resultierenden nachteiligen Wirkungen für den Betroffenen werden nicht beseitigt. Die staatlichen Organe sind nicht verpflichtet, die aufgrund des Wegfalls der Rechtsgrundlage nunmehr als rechtswidrig erkannten Entscheidungen aufzuheben. „Unberührtbleiben“ bedeutet jedoch nicht, dass die staatlichen Organe gehindert wären, solche Einzelakte aus eigenem Antrieb heraus im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben aufzuheben.10 In Bezug auf Einzelakte, die zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung nicht unanfechtbar sind, enthalten die oben genannten Regelungen keine Aussage. Im Umkehrschluss lässt sich aus diesen Regelungen jedoch entnehmen, dass auf unwirksamen Normen beruhende, noch anfechtbare Einzelakte nicht „unberührt“ bleiben und nach allgemeinen Grundsätzen abzuändern sind.11 Dies folgt schon aus dem aus den Freiheitsgrundrechten abzuleitenden allgemeinen öffentlich-rechtlichen Beseitigungsanspruch, wonach die aus einer fehlerhaften, rechtswidrigen Entscheidung resultierenden, noch fortdauernden Beeinträchtigungen – jedenfalls sofern diese Entscheidung noch anfechtbar ist – zu beseitigen sind.12 b) Vollstreckungsverbot zur Vermeidung einer Verfestigung rechtswidriger Zustände Für die Zukunft hingegen sollen die Wirkungen der Einzelakte nicht von der „Bestandsgarantie“ mitumfasst werden. Die erkannt rechtswidrige Entscheidung soll 10 Zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Unberührtbleiben“ in § 79 Abs. 2 BVerfGG und § 183 VwGO vgl. Gerhard, Die Rechtsfolgen prinzipaler Normenkontrollen für Verwaltungsakte, 2008, S. 132 ff.; vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 6; Baumeister, VerwArch 83 (1992), 374 (389); auch Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 55; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 56. 11 Schenke (Fußn. 7), S. 729; Baumeister (Fußn. 7), S. 231 f.; Gerhard (Fußn. 10), S. 115 ff. 12 Schenke, VerwArch 97 (2006), 592 (600 ff.); Baumeister (Fußn. 7), S. 6 ff.
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nicht noch weiter, über die schon erfolgten Eingriffe hinaus, mit staatlichen Zwangsmitteln umgesetzt werden dürfen, wodurch künftige Beeinträchtigungen des Betroffenen verhindert werden. Insofern wird dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall Vorrang eingeräumt. Eine Perpetuierung der nachteiligen Auswirkungen des Einzelaktes für die Zukunft soll durch die Gewährleistung von Vollstreckungsschutz gemäß § 79 Abs. 2 S. 2 und 3 BVerfGG, § 183 S. 2 VwGO oder § 157 S. 2 FGO verhindert werden.13 Die infolge der Normenkontrollentscheidung als unwirksam festgestellte Rechtgrundlage der Entscheidung wird also mittelbar über das Vollstreckungsverbot zu einem zu berücksichtigenden Einwand gegen die Vollstreckung der Entscheidung. Der Hoheitsträger kann sich nicht mehr auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit seiner Entscheidung im Rahmen einer zwangsweisen Durchsetzung der Entscheidung berufen. II. Entsprechende Anwendbarkeit des § 183 VwGO auf Verwaltungsakte § 183 VwGO sieht vor, dass die „nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen der Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit“, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt bleiben. Nach dem insofern eindeutigen Wortlaut der Regelung werden ausschließlich rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfasst. Anders als bei § 79 Abs. 2 BVerfGG, der allgemein von „Entscheidungen“ spricht, wird das Schicksal bestandskräftiger Verwaltungsakte nicht von § 183 VwGO geregelt. Eine unmittelbare Anwendung des § 183 VwGO auf Verwaltungsakte ist daher nicht möglich.14 Die Anwendbarkeit des § 183 VwGO auf Verwaltungsakte kann auch nicht im Wege einer extensiven Auslegung dieser Vorschrift erwirkt werden. Auch wenn teleologische, systematische und historische Erwägungen für eine Einbeziehung von behördlichen Entscheidungen in den Tatbestand des § 183 VwGO sprechen, so scheitert eine unmittelbare Anwendbarkeit am eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, der regelmäßig die Grenze der Auslegung und den Beginn der Rechtsfortbildung darstellt.15 Dennoch geht die einhellige Ansicht in Rechtsprechung und Literatur wie selbstverständlich davon aus, dass auch das Schicksal bestandskräftiger Verwaltungsakte, die auf einer für unwirksam erklärten Norm beruhen, durch § 183 VwGO mitgeregelt wird.16
13 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 3; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 57 ff.; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 22. 14 Vgl. Gerhard (Fußn. 10), S. 63 m.w.N. 15 Gerhard (Fußn. 10), S. 69 ff.; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 51. 16 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 5; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 9; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 53; Kraft, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 183 Rn. 9.
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1. Gesetzgebungshistorie Der Gesetzgeber orientierte sich bei der Regelung des §183 VwGO – wie sich aus den Gesetzgebungsmaterialien17 entnehmen lässt – an der Vorschrift des § 79 Abs. 2 BVerfGG. In den Gesetzgebungsmaterialien lässt sich allerdings nicht erkennen, dass der Gesetzgeber mit der insofern von § 79 Abs. 2 BVerfGG abweichenden Formulierung den Anwendungsbereich der Vorschrift gegenüber der Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG bewusst einengen wollte. Schon vor der Verabschiedung des § 183 VwGO ging die einhellige Auffassung in der Literatur davon aus, dass die Regelung des § 79 Abs. 2 BVerfGG entsprechend auch auf die prinzipale verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle anzuwenden ist.18 Wenn der Gesetzgeber in den Materialien zum heutigen § 47 Abs. 5 S. 3 VwGO zum Ausdruck bringt, dass die Regelung des Satzes 3 auch für Verwaltungsakte gelten solle19, dann spricht dies dafür, dass eine Einengung des Anwendungsbereiches des § 183 VwGO auf gerichtliche Entscheidungen – auch wenn dies aufgrund des Wortlautes nahe läge – nicht erfolgten sollte. 2. Systematische und teleologische Erwägungen Für die Anwendbarkeit des § 183 VwGO auch auf bestandskräftige Verwaltungsakte spricht insbesondere aber der Sinn und Zweck der Regelungen der § 79 Abs. 2 BVerfGG und § 183 VwGO, die in Fällen einer Spannungslage zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit auf der einen und dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall auf der anderen Seite eine gesetzgeberische Regelentscheidung beinhalten. Da eine vergleichbare Spannungslage nicht nur bei rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen, sondern auch bei bestandskräftigen Verwaltungsakten festzustellen ist, kann die gesetzgeberische „Leitentscheidung“ des § 183 VwGO auch hier zur Auflösung des Konflikts der beiden ranggleichen Rechtsgrundsätze herangezogen werden. Denn wie auch die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen dient die Bestandskraft von Verwaltungsakten der Gewährleistung von Rechtssicherheit. Dabei ist ferner zu berücksichtigen, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung stärker ausgestaltet ist als die Bindungswirkung eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes.20 Erachtet es der Gesetzgeber für notwendig, gerichtliche Entscheidungen trotz ihrer sehr begrenzten Abänderbarkeit und ihrer starken Bindungswirkung mit einem Vollstreckungsverbot zu belegen und somit die Auswirkungen der Rechtskraft für die Zukunft zu durchbrechen, so muss dies erst recht bei solchen Entscheidungen gelten, deren Bestand weitaus weniger stark geschützt ist, insbesondere 17
BT-Drucks. 3/55, S. 49. Bettermann, in: Menger (Hrsg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts – Festschrift für Hans J. Wolff, 1973, S. 485 m.w.N.; Kerbusch, BlGBW 1981, 121 (122). 19 BT-Drucks. 7/4324, S. 12. 20 Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Rechtskraft und Bestandskraft ausführlich Schenke, DÖV 1983, 320 (321). 18
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bei Verwaltungsakten, die aufgrund der Bestandskraft lediglich beschränkt, nämlich unter den Voraussetzungen der §§ 48 ff. VwVfG abänderbar sind.21 Im Übrigen wäre es systemwidrig, wenn ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der auf einer für unwirksam erklärten Norm beruht, weiterhin vollstreckt werden dürfte, während das diesen Verwaltungsakt bestätigende verwaltungsgerichtliche Urteil dem Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO unterfiele. 3. Übertragbarkeit des in § 183 VwGO enthaltenen allgemeinen Rechtsgedankens Hinsichtlich der Übernahme der Regelungskonzeption des § 183 VwGO auf bestandskräftige Verwaltungsakte besteht weitgehende Einigkeit.22 Die Art und Weise, wie § 183 VwGO auf Verwaltungsakte Anwendung findet und die dogmatische Herleitung dieses Ergebnisses werden allerdings kaum thematisiert. In den wenigen Stellungnahmen hierzu wird teilweise eine analoge Anwendbarkeit der Regelung des § 183 VwGO auf Verwaltungsakte befürwortet.23 Andere Stimmen sprechen hingegen von einem allgemeinen Rechtsgedanken, der sich aus den Regelungen der § 79 Abs. 2 BVerfGG, § 183 VwGO, § 157 FGO und den entsprechenden Vorschriften der Länder ergebe und der eine entsprechende Einbeziehung von Verwaltungsakten in den Anwendungsbereich des § 183 VwGO rechtfertige.24 Letztere Auffassung erscheint vorzugswürdig. Eine analoge Anwendung des § 183 VwGO setzte voraus, dass neben dem Vorhandensein einer vergleichbaren Rechtssituation auch eine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Hieran fehlt es aber: Eine planwidrige Regelungslücke liegt lediglich dann vor, wenn der Gesetzgeber für eine konkrete Fragestellung unbeabsichtigt keine Regelung getroffen hat.25 Der Bund besitzt jedoch nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG lediglich die Kompetenz zur Regelung des gerichtlichen Verfahrens, unter anderem bezüglich des Bestandes und der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen. Nicht unter diese Gesetzgebungskompetenz fallen aber solche Regelungen, die sich mit dem Wiederaufgreifen von Verwaltungsverfahren, der Rücknahme oder der Vollstreckbarkeit von Verwaltungs21
Gerhard (Fußn. 10), S. 66 f. Statt vieler vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 5; a.A. allerdings Hufen (Fußn. 4), § 38 Rn. 52, der eine Übernahme der Regelungskonzeption des § 183 VwGO auf Verwaltungsakte unter dem Hinweis ablehnt, dass es Sache des Gesetzgebers sei, eine Regelung für den Bereich der Verwaltungsakte vorzusehen. 23 BVerwGE 56, 172, 176; Schmidt, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 47 Rn. 104; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 473. 24 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 5; Kraft (Fußn. 16), § 183 Rn. 9; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 9; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 53; Bader, in: Bader/Funke-Kaiser/ Kuntze/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 4. Aufl. 2007, § 183 Rn. 3; v. Nicolai, in: Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 183 Rn. 1. 25 Gerhard (Fußn. 10), S. 71; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 52; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 9. 22
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akten befassen. Mangels einer abweichenden Kompetenzregelung im Grundgesetz obliegt dies der Gesetzgebungskompetenz des jeweiligen Landesgesetzgebers. Konnte der Bund mangels Kompetenztitels keine Regelungen zur Vollstreckung von Verwaltungsakten erlassen, so kann in der Beschränkung des Wortlautes des § 183 VwGO auf „gerichtliche Entscheidungen“ keine Regelungslücke für „nicht gerichtliche Entscheidungen“ erkannt werden. Was nicht planbar ist, kann auch nicht planwidrig sein. Vielmehr lässt sich den Regelungen des § 79 Abs. 2 BVerfGG, § 183 VwGO, § 157 FGO und den entsprechenden Vorschriften der Länder ein allgemeiner Regelungsgedanke entnehmen, wonach rechts- und bestandskräftige Entscheidungen aus Gründen der Rechtssicherheit von einer unmittelbaren Beeinträchtigung durch die Normenkontrollentscheidung verschont bleiben, jedoch für die Zukunft eine Perpetuierung des rechtswidrigen Zustandes durch ein Verbot der Vollstreckung dieser Entscheidungen verhindert werden soll. III. Wirkungen des Vollstreckungsverbotes Das Vollsteckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO stellt eine Besonderheit der VwGO dar, die wohl auch aufgrund der Platzierung dieser Vorschrift in Teil V, den Schluss- und Übergangsbestimmungen, äußerst „stiefmütterlich“ behandelt wurde, obwohl sich bei der Auslegung dieser Vorschrift gleich in mehrfacher Hinsicht grundlegende, sehr komplexe Rechtsfragen stellen. 1. Vollstreckungsverbote als Durchbrechung des Grundsatzes der Vollstreckbarkeit rechtswidriger Verwaltungsakte Die Besonderheit des § 183 S. 2 VwGO lässt sich im Zusammenhang mit den Grundsätzen der Verwaltungsvollstreckung leicht erkennen. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes ist regelmäßig ein ausschlaggebendes Kriterium für die Frage, ob und in welcher Form eine Beseitigung des Verwaltungsaktes erfolgen muss. Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes hat allerdings grundsätzlich keinen Einfluss auf die Vollstreckbarkeit eines Verwaltungsaktes. Grundvoraussetzung der Verwaltungsvollstreckung ist lediglich die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes, der ein Ge- oder Verbot enthält.26 Auch rechtswidrige Verwaltungsakte sind deshalb grundsätzlich vollstreckbar.27 Fehlte es demnach an der Regelung des § 183 S. 2 VwGO, so würde eine Normenkontrollentscheidung an der Vollstreckbarkeit eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes, der auf einer der für unwirksam erklärten Norm beruht, nichts ändern. Ein solcher 26
U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 215; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 20 Rn. 6. 27 Dies folgt schon als Umkehrschluss aus § 6 VwVG sowie den entsprechenden landesrechtlichen Regelungen (vgl. § 2 VwVG BW).
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Verwaltungsakt ist zwar regelmäßig rechtswidrig, seine Vollstreckbarkeit bliebe aber von der nach Eintritt der Bestandskraft erkannten Rechtswidrigkeit unberührt.28 Die Regelungsintention des § 183 S. 2 VwGO ist maßgeblich für das Verständnis der Reichweite des Vollstreckungsverbotes. Das Vollstreckungsverbot dient als Ausgleich für die Rückabwicklungssperre des § 183 S. 1 VwGO. Wenn der Betroffene eines bestandskräftigen, auf einer für unwirksam erklärten Norm beruhenden Verwaltungsaktes diesen Verwaltungsakt schon nicht mehr beseitigen lassen kann (weil dieser zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung bereits in Bestandskraft erwachsen ist), so soll er im Gegenzug zumindest darauf vertrauen können, dass sich in der Zukunft aus eben diesem Verwaltungsakt keine für ihn nachteiligen Folgerungen ziehen lassen. Für den betroffenen Bürger wäre es unverständlich müsste er Vollstreckungszwang trotz evidenter Rechtswidrigkeit des Vollstreckungstitels erdulden. Pietzner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Zumutung für den Bürger“29, welche „die Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols und die Bereitschaft zum Rechtsgehorsam empfindlich schwächen“ würde.30 Steht dem Betroffenen kein Anspruch auf Beseitigung des bestandskräftigen, rechtswidrigen Verwaltungsaktes zu, so wird dadurch, dass der Staat an einer Vollstreckung seiner bestandskräftigen Verwaltungsakte gehindert wird, verhindert, dass es zu einer Vertiefung des Unrechts mit Wirkung für die Zukunft kommt. Das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO bewirkt also eine „Fixierung des status quo“ zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung.31 2. Begriff der „Vollstreckung“ Diese Zielrichtung des Vollstreckungsverbotes ist Ausgangspunkt für eine weite Auslegung des Begriffs der „Vollstreckung“ im Sinne von § 183 S. 2 VwGO. „Vollstreckung“ in diesem Sinne umfasst nicht nur die in den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen des Bundes und der Länder definierten Vollstreckungsmaßnahmen, sondern auch das Folgerungenziehen aus unanfechtbaren Entscheidungen, die lediglich Vorstufen einer späteren Vollstreckung sind, z. B. Kostenentscheidungen oder Vorabentscheidungen über den Rechtsgrund.32 Ein engeres Verständnis des Vollstreckungsbegriffes in § 183 S. 2 VwGO würde die Gefahr der Umgehung dieses Verbotes, z. B. durch Umsetzung eines Ge- oder Verbotes in Form eines gestaltenden Verwaltungsaktes, mit sich bringen.33
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Gerhard (Fußn. 10), S. 218. Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 14. 30 Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 14. 31 Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 41, spricht von einem „Einfrieren des Rechtsdurchsetzungsprozesses auf dem Stand, den er im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hatte“; vgl. auch Kraft, UPR 1988, 288 (295). 32 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 2; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 41 m.w.N. 33 Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 48; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 43. 29
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Eine vergleichbare Umgehungsproblematik stellt sich auch im Falle der Aufrechnung durch eine Behörde. Diese stellt zwar keine Vollstreckungsmaßnahme im engeren Sinne dar; in ihrer Wirkung ist sie allerdings einer Vollstreckungsmaßnahme vergleichbar, da sie die zwangsweise Durchsetzung einer (infolge der Normenkontrollentscheidung unberechtigten) Forderung ohne Inanspruchnahme des staatlichen Gewaltmonopols ermöglicht. Als Vollstreckungssurrogat wird deshalb auch die Aufrechnung vom Vollstreckungsbegriff und damit vom Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO erfasst.34 Dem Hoheitsträger, der mit einer Forderung aus einem Verwaltungsakt, der auf einer für unwirksamen Norm beruht, aufrechnen möchte, ist dies aufgrund § 183 S. 2 VwGO nicht mehr möglich. Nicht vom Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO erfasst wird hingegen die Umsetzung eines materiell feststellenden oder verfahrensrechtlich gestaltenden Verwaltungsaktes. Das Ausnutzen einer unanfechtbaren Genehmigung wird nicht durch § 183 S. 2 VwGO untersagt, § 183 S. 2 VwGO ist nicht im Sinne eines generellen Vollzugsverbotes zu verstehen.35 Zwar kann es auch bei einem Vollzug eines positiv gestalterischen Verwaltungsaktes, z. B. der Umsetzung einer Baugenehmigung zu einer „Vertiefung des Unrechts“ für den belasteten Nachbarn kommen. Das Ausnutzen einer unanfechtbar gewordenen Genehmigung erfolgt jedoch im Bürger-BürgerVerhältnis ohne Inanspruchnahme staatlicher Vollstreckungsorgane. Es fehlt schon an einem vollstreckbaren Inhalt des (gestaltenden) Verwaltungsaktes.36 Ferner ist unklar, wie sich ein solches generelles Umsetzungsverbot in der Praxis durchsetzen ließe.37 Eine über den Wortlaut der Norm hinausgehende Deutung des § 183 S. 2 VwGO als generelles Umsetzungsverbot ist im Übrigen auch nicht erforderlich, um einen angemessenen Interessenausgleich zwischen sämtlichen Beteiligten zu bewerkstelligen: Denn der betroffene Dritte besitzt einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme des auf der unwirksamen Norm beruhenden Verwaltungsaktes.38 Im Rahmen ihrer Entscheidung hat die Behörde die berechtigten Belange des Betroffenen, aber auch die Schutzwürdigkeit des Genehmigungsempfängers, der auf die Bestandskraft der Genehmigung vertrauen durfte, angemessen zu berücksichtigen und abzuwägen.
34 Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 7; Kraft (Fußn. 16), § 183 Rn. 8; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 48; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 43. 35 Gerhard (Fußn. 10), S. 221 ff., a.A. Kraft, UPR 1988, 288 (295 ff.). 36 Gerhard (Fußn. 10), S. 224; Maurer (Fußn. 26), § 20 Rn. 6. 37 Gerhard (Fußn. 10), S. 224. 38 Zu dem Anspruch des Betroffenen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen, bestandskräftigen Verwaltungsaktes siehe BVerfG, NVwZ 1985, 265; 1990, 700, 701; VGH Mannheim, DVBl. 1989, 884 (886), Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 6; Baumeister, VerwArch 83 (1992), 374 (381 ff.); Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, § 48 Rn. 81 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 48 Rn. 78, 91.
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3. Zeitlicher Anwendungsbereich des Vollstreckungsverbotes Umstritten ist in der Literatur, ob das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO ausschließlich auf solche Verwaltungsakte Anwendung findet, die im Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung bereits unanfechtbar waren39 oder ob auch die Vollstreckung von im Zeitpunkt der Entscheidung noch anfechtbaren, erst später in Bestandskraft erwachsenden Verwaltungsakten ausgeschlossen sein soll.40 Einigkeit besteht zumindest insofern, als die Normenkontrollentscheidung nicht nur die Einleitung eines Vollstreckungsverfahrens verhindert, sondern auch die Fortführung bereits begonnener Vollstreckungsmaßnahmen untersagt.41 Bevorstehende Vollstreckungen müssen unterbleiben, begonnene Vollstreckungsmaßnahmen sind umgehend einzustellen. Zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung beendete Vollstreckungen bleiben auch nach Verkündung der Normenkontrollentscheidung wirksam und können nicht rückabgewickelt werden.42 Aus dem Wortlaut des § 183 S. 2 VwGO folgt, dass sich das Vollstreckungsverbot lediglich auf solche Verwaltungsakte beschränkt, die im Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung bereits bestandskräftig waren. Keine Anwendung findet das Vollstreckungsverbot hingegen auf Verwaltungsakte, welche der Betroffene im Rahmen eines ordentlichen Rechtsbehelfsverfahrens unter Hinweis auf die gerichtlich festgestellte Unwirksamkeit der Norm anfechten konnte. Denn § 183 S. 2 VwGO soll einen Ausgleich für denjenigen gewähren, der mangels gerichtlicher Klärung auf die Wirksamkeit einer Norm vertrauen durfte.43 Dieses Kompensationsbedürfnis besteht allerdings nicht, solange der Verwaltungsakt noch mit ordentlichen Rechtsbehelfen angefochten werden kann. Durfte der Betroffene nicht auf die Wirksamkeit einer Norm vertrauen, weil diese für unwirksam erklärt wurde, so obliegt es ihm, mit ordentlichen Rechtsmitteln gegen die Verfügung vorzugehen und diese beseitigen zu lassen. Wie jeder Betroffene eines auf anderer Weise rechtswidrigen Verwaltungsaktes, kann sich auch der Betroffene eines infolge der Unwirksamkeit einer Norm rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht auf ein generelles Vollstreckungsverbot rechtswidriger Verwaltungsakte berufen. Aus dem Grundsatz des Vorrangs des Primärrechtsschutzes ergibt sich die Obliegenheit, von der rechtsschutzintensiveren Form der Anfechtung des Verwaltungsaktes Gebrauch zu machen.44 Dem Einwand, es bestehe die Gefahr, dass der Betroffene von der Normenkontrollentscheidung nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen erfahren könnte45, ist zu 39 40 41 42 43 44 45
Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 33 f.; Gerhard (Fußn. 10), S. 227 ff. Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 47. Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 45. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 183 Rn. 5. Gerhard (Fußn. 10), S. 228. Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 34; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 51. Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 47.
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entgegnen, dass dem Adressaten des Verwaltungsaktes ein Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren ist, sollte ihm die Normenkontrollentscheidung – ohne dass ihm eine Verschulden vorzuwerfen ist – erst nach Ablauf der Rechtsmittelfristen bekannt werden.46 Vereinzelt wird die Ausdehnung des Vollstreckungsverbotes des § 183 S. 2 VwGO auch auf erst später unanfechtbar werdende Verwaltungsakte mit dem Argument zu begründen versucht, dass der Adressat des Verwaltungsaktes ohnehin zwischen der Einlegung des jeweils einschlägigen Rechtsbehelfs (Widerspruch oder Anfechtungsklage) und der Erhebung einer Vollstreckungsgegenklage wählen könne.47 Dieses Argument ist m. E. nicht überzeugend. Ausgehend von der herrschenden Meinung, wonach das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO von Amts wegen zu berücksichtigen ist48 und damit gerade keine Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens erforderlich macht, würde dem Betroffenen die Rechtsverfolgungslast ohne zwingenden Grund genommen werden.49 Das System des Verwaltungsrechtsschutzes geht von dem mündigen Bürger aus, dem es obliegt, die Instrumente zur Wahrnehmung seiner Rechte in Anspruch zu nehmen. Das Vollstreckungsverbot zielt aber nicht darauf ab, dem betroffenen Adressaten eines rechtswidrigen, noch anfechtbaren Verwaltungsaktes dessen Rechtsverfolgungslast bzw. -obliegenheit abzunehmen, sondern demjenigen, der auf die Wirksamkeit einer Norm vertrauen durfte und deshalb sämtlicher Rechtsbehelfsmöglichkeiten verlustig gegangen ist, speziellen Schutz zu gewährleisten. Das von Amts wegen zu berücksichtigende Verbot der Vollstreckung ist als Rettungsanker für den Betroffenen zu sehen, dem keine ordentlichen Rechtsbehelfe mehr zur Verfügung stehen. Wer jedoch die Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes noch aus eigener Kraft erreichen kann, der bedarf keines Schutzes durch ein Vollstreckungsverbot. 4. Verbot der Vollstreckung von Amts wegen Für den betroffenen Adressaten des Verwaltungsaktes ist insbesondere von Bedeutung, wie das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO in der Praxis umzusetzen ist, insbesondere ob er den Einwand des Vollstreckungsverbotes im Rahmen eines gesonderten gerichtlichen Verfahrens geltend machen muss. Die herrschende Meinung geht zutreffend davon aus, dass das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO unmittelbar von Amts wegen zu berücksichtigen ist und die
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Kneser, AöR 89 (1964), 129 (147 f.); Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 34, Fußn. 79; Gerhard (Fußn. 10), S. 229. 47 Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 47. 48 Vgl. hierzu Ipsen (Fußn. 6), S. 310; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 58; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 44; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 57; Graßhof (Fußn. 4), § 79 Rn. 36. 49 Gerhard (Fußn. 10), S. 229.
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Behörde deshalb verpflichtet ist, auf jegliche weiteren Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten.50 Dieses Verständnis folgt schon aus dem Wortlaut der Regelung, wonach die „Vollstreckung aus einer solchen Entscheidung unzulässig ist“, d. h. die Vollstreckung ist unzulässig und kann nicht nur für unzulässig erklärt werden. Der Wortlaut legt nicht nahe, dass es zunächst eines konstitutiven Aktes bedürfte, um die Unzulässigkeit der Vollstreckung des Verwaltungsaktes zu begründen.51 Dass das Vollstreckungsverbot des § 183 S.2 VwGO von Amts wegen zu berücksichtigen ist, folgt ferner aus dem Sinn und Zweck der Regelung. Der Gesetzgeber hat mit dem Vollstreckungsverbot dem Gesichtspunkt der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall Vorrang vor den Aspekten der Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit eingeräumt, indem der „status quo“ zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung fixiert und eine weitere „Vertiefung des Unrechts“ verhindert werden soll. Der Vorrang des Grundsatzes der materiellen Gerechtigkeit für die Zukunft wird allerdings nur dann effektiv zur Geltung gebracht, wenn die jeweiligen Behörden von Amts wegen und nicht erst auf Einwand des potentiellen Vollstreckungsschuldners Maßnahmen zum zwangsweisen Vollzug des Verwaltungsaktes unterlassen müssen. Wäre es einer Behörde hingegen erlaubt, die Vollstreckung des Verwaltungsaktes zunächst weiterzuführen und erst auf Einwand des Adressaten hin einzustellen, öffnete dies Tür und Tor für Spekulationen der Behörde, dass sich der Betroffene nicht gegen die Vollstreckung zur Wehr setzen werde, insbesondere weil diesem die Normenkontrollentscheidung nicht bekannt sein könnte.52 Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, dass § 183 S. 3 VwGO § 767 ZPO für entsprechend anwendbar erklärt.53 Der Verweis auf die zivilprozessuale Vollstreckungsgegenklage erweitert lediglich die Rechtsstellung des Betroffenen einer gerichtlichen Entscheidung und bietet diesem die Möglichkeit, die Einhaltung des Vollstreckungsverbotes gerichtlich überprüfen zu lassen. Da es sich bei der nachträglichen Normenkontrollentscheidung nicht um eine nachträgliche Einwendung im Sinne des § 767 ZPO handelt – die Unwirksamkeit der Norm wirkt „ex tunc“54 – wäre dem von einer gerichtlichen Entscheidung Betroffenen ohne die ausdrückliche Einräumung einer Vollstreckungsgegenklage in § 183 S. 3 VwGO eine gerichtliche Überprüfung der Einhaltung des Vollstreckungsverbotes auch nicht über § 173 VwGO eröffnet. § 183 S. 3 VwGO enthält hingegen keine Aussage, dass das Verbot der Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nur durch Einreichung einer Vollstreckungsgegenklage ausgelöst wird. 50
Vgl. Ipsen (Fußn. 6), S. 310; Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 39; Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 44; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 57; Graßhof (Fußn. 4), § 79 Rn. 36; a.A. wohl v. Nicolai (Fußn. 24), § 183 Rn. 1. 51 Pietzner (Fußn. 4), § 183 Rn. 39. 52 Gerhard (Fußn. 10), S. 232. 53 So aber – in Bezug auf § 79 BVerfGG – Kneser, AöR 89 (1964), 129 (194 ff., insb. 196). 54 Vgl. oben Fußn. 5.
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Beinhaltet die Regelung des §183 S. 3 VwGO lediglich eine Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen bezüglich verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen55, so kann diese Regelung nicht als Indiz gegen ein von Amts wegen zu berücksichtigendes Verbot der Vollstreckung von Verwaltungsakten angeführt werden. Vielmehr spricht die Tatsache, dass das Verbot der Vollstreckung von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen von Amts wegen zu berücksichtigen ist, dafür, dass auch bestandskräftige Verwaltungsakte – ohne dass es eines konstitutiven, die Vollstreckung ausschließenden Aktes bedarf – entsprechend § 183 S. 2 VwGO nicht mehr vollstreckt werden dürfen. IV. Prozessuale Möglichkeiten des Betroffenen zur Durchsetzung des Vollstreckungsverbotes Die Frage nach dem passenden Rechtsbehelf für die gerichtliche Durchsetzung des Vollstreckungsverbots in Bezug auf Verwaltungsakte wird durch § 183 VwGO ebenfalls nicht beantwortet. § 183 S. 3 VwGO sieht lediglich vor, dass § 767 ZPO entsprechend gelten solle. Dieser Verweis auf die zivilprozessuale Vollstreckungsgegenklage beinhaltet nach dem Wortlaut der Vorschrift eine Sonderregelung zunächst nur für die Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen, deren Vollstreckung sich aufgrund des Verweises in § 173 VwGO nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung richtet. Die Regelung des § 183 S. 3 VwGO erweitert die Rechtsschutzmöglichkeiten des Betroffenen, indem diesem – über § 173 VwGO hinaus – die Möglichkeit eingeräumt wird, einen bereits von Anfang an der Entscheidung anhaftenden Makel, der lediglich nachträglich, nämlich infolge der Normenkontrollentscheidung, entdeckt wurde, im Rahmen einer Vollstreckungsgegenklage geltend zu machen und somit die Vollstreckung nach den Vorschriften der ZPO zu verhindern. Durch die Sonderregelung des § 183 S. 3 VwGO wird also für die Vollstreckung einer Entscheidung nach den Vorschriften der ZPO eine an sich bereits präkludierte Einwendung des Vollstreckungsschuldners zugelassen und damit die Rechtsbeständigkeit der Entscheidung pro futuro durchbrochen.56 Der Einwand der ursprünglichen Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes kann grundsätzlich nicht mehr im Vollstreckungsverfahren vorgebracht werden, da hierdurch die verwaltungsprozessualen Anfechtungsfristen unterlaufen würden.57 Eine unmittelbare Anwendung des § 183 S. 3 VwGO auf die Vollstreckung von Verwaltungsakten scheidet allerdings aus, da Verwaltungsakte nicht nach zivilprozessualen Vorschriften, sondern nach den Vorgaben des jeweils einschlägigen Ver55
Heckmann (Fußn. 4), § 183 Rn. 50; Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 64. Bethge (Fußn. 4), § 79 Rn. 64. 57 Vgl. hierzu § 18 Abs. 1 S. 3 VwVG und § 256 AO, auf den mehrere Verwaltungsvollstreckungsgesetze der Länder verweisen. 56
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waltungsvollstreckungsgesetzes vollstreckt werden und zwischen der zivilprozessualen Vollstreckung und der Verwaltungsvollstreckung grundlegende Unterschiede bestehen.58 Außerdem handelt es sich bei der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO um eine prozessuale Gestaltungsklage. Der gerichtliche Rechtsschutz des Adressaten eines Verwaltungsaktes, der dem Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO unterfällt, macht jedoch eine prozessuale Gestaltungsklage, durch die ein Vollstreckungstitel durch eine konstitutive Erklärung des Gerichts aufgehoben werden soll, nicht erforderlich. Die Vollstreckung des Verwaltungsaktes ist gemäß § 183 S. 2 VwGO ipso iure unzulässig; einer Gestaltungsklage bedarf es nicht.59 Unbestritten verfügt der Betroffene in der Regel über die Möglichkeit, im Wege einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage gegen konkrete Vollstreckungsmaßnahmen vorzugehen60, da die Zwangsmaßnahmen der Vollstreckung in der Regel in Form eines Verwaltungsaktes ergehen. Diese Rechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen ist jedoch ungenügend, zwingt sie den Betroffenen doch, eine konkrete Vollstreckungsmaßnahme zunächst abzuwarten und sich dann gegen jede einzelne Vollstreckungsmaßnahme gesondert zur Wehr zu setzen. Das Interesse des Betroffenen ist allerdings auf eine umfassende verbindliche Feststellung der Unzulässigkeit jeglicher Vollstreckungsmaßnahmen gerichtet. Im Übrigen stellten sich für den Betroffenen bei solchen Vollstreckungsmaßnahmen im Sinne von § 183 S. 2 VwGO, die nicht in Form eines Verwaltungsaktes ergehen, z. B. die Aufrechnung durch eine Behörde, sehr komplexe prozessuale Rechtsfragen im Hinblick auf die jeweils statthafte Klageart. Angesichts des schon von Amts wegen zu berücksichtigenden Vollstreckungsverbots des § 183 S. 2 VwGO würde es der Zielrichtung dieser Vorschrift widersprechen, wenn der betroffene Bürger das Risiko der Unstatthaftigkeit seines Rechtsbehelfes tragen müsste. Teilweise wird daher vertreten, dass die Einhaltung des Vollstreckungsverbotes des § 183 S. 2 VwGO in Bezug auf bestandskräftige Verwaltungsakte mittels einer Verpflichtungsklage gerichtet auf Unzulässigerklärung der Vollstreckung durch die Anordnungsbehörde durchgesetzt werden könne.61 Diese Auffassung entgegnet jedoch insofern Bedenken, als die Behörden regelmäßig nicht über eine Ermächtigungsgrundlage für einen solchen gestalterischen Verwaltungsakt verfügen. Eine solche Klage wäre im Übrigen darauf gerichtet, dass die Anordnungsbehörde im Falle eines Obsiegens des Betroffenen vor Gericht zu einer Entscheidung verpflichtet würde, welche die gesetzlich in § 183 S. 2 VwGO statuierte Rechtsfolge lediglich deklaratorisch wiederholt. Da das angerufene Gericht das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 183 S. 2 VwGO auch selbst überprüfen und das Vorliegen eines Voll58
Ausführlich hierzu Gerhard (Fußn. 10), S. 240 ff. Gerhard (Fußn. 10), S. 242; ausführlich zur Vollstreckungsgegenklage als prozessualer Gestaltungsklage Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (9). 60 Schenke, VerwArch 61 (1970), 342 ff.; Würtenberger (Fußn. 23), Rn. 818; Pietzner (Fußn. 4), § 167 Rn. 66. 61 Pietzner (Fußn. 4), § 167 Rn. 68 ff.; Würtenberger (Fußn. 23), Rn. 821. 59
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streckungsverbotes feststellen kann, ist auch nicht ersichtlich, weshalb das Gericht das Vorliegen des Vollstreckungsverbotes nicht selbst feststellen, sondern sich auf eine Verpflichtung der Anordnungsbehörde zur Unzulässigerklärung der weiteren Vollstreckung beschränken müsste. Von einigen Stimmen wird daher angedacht, dass die Geltendmachung des Vollstreckungsverbotes im Rahmen einer auf Unterlassung der Vollstreckung gerichteten so genannten vorbeugenden Unterlassungsklage erfolgen müsse.62 Auch wenn die Zulässigkeit einer vorbeugenden Unterlassungsklage grundsätzlich anerkannt ist63, so liegen die Voraussetzungen einer solchen Klage zur Durchsetzung des Vollstreckungsverbotes des § 183 S. 2 VwGO nicht vor. Zwar dürfte gegen eine vorbeugende Unterlassungsklage nicht eingewandt werden können, dass effektiver Rechtsschutz gegen die konkrete Vollstreckungsmaßnahme auch noch durch Widerspruch oder Anfechtungsklage gewährleistet werde; denn die Verwaltungsvollstreckungsgesetze schließen regelmäßig die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Vollstreckungsmaßnahmen aus.64 Allerdings spricht gegen eine auf Unterlassung der Vollstreckung gerichtete Leistungsklage, dass sich diese auf ein konkretes Unterlassen beziehen muss. Gegenstand einer vorbeugenden Unterlassungsklage können nicht sämtliche, theoretisch denkbaren Vollstreckungsmaßnahmen sein.65 Die im Interesse des Betroffenen liegende generelle Feststellung der Unzulässigkeit der Vollstreckung des Verwaltungsaktes kann der Betroffene auf diesem Wege nicht erreichen. Vorzugswürdig ist eine auf Feststellung der Unzulässigkeit der weiteren Vollstreckung gerichtete Klage gemäß § 43 VwGO.66 Dem Betroffenen ist es auf diesem Wege möglich, eine gerichtliche Feststellung dahingehend zu erwirken, dass der Behörde sämtliche Vollstreckungsmaßnahmen im weiteren Sinne unmittelbar durch § 183 S. 2 VwGO untersagt sind. Das Gericht stellt diese sich aus dem Gesetz ergebende Rechtsfolge lediglich deklaratorisch fest; es bedarf also – anders als im Falle einer Verpflichtungsklage oder einer Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO analog – keines weiteren Gestaltungsaktes, der die Unzulässigkeit der Vollstreckung erst herbeiführt. Dies wird dem Charakter des § 183 S. 2 VwGO als von Amts wegen zu beachtender Vollstreckungssperre am besten gerecht. Die Normenkontrollentscheidung führt unmittelbar zur Unzulässigkeit der Vollstreckung, ohne dass es weiterer Zwischenstufen bedarf. Für den Adressaten des Verwaltungsaktes und die Behörde hat die Feststellungsklage ferner den Vorteil, dass beide eine generelle Entscheidung über die Vollstreckbarkeit des Verwaltungsaktes herbeiführen können und somit die 62
Erichsen/Rauschenberg, Jura 1998, 323 (325 f.); Engelhardt/App, VwVG/VwZG, 8. Aufl. 2008, § 18 VwVG Rn. 13. 63 Kopp/Schenke (Fußn. 2), Vorb. § 40 Rn. 33 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 354 ff. m.w.N. 64 Vgl. § 80 Abs. 2 S. 2 VwGO, § 12 S. 1 VwVG BW. 65 Vgl. Gerhard (Fußn. 10), S. 246 unter Verweis auf BGH NJW 1991, 296. 66 Vgl. auch Maurer (Fußn. 26), § 20 Rn. 11.
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Frage der Vollstreckbarkeit nicht bei jeder einzelnen Vollstreckungsmaßnahme neu geprüft werden muss.67 Das feststellungsfähige Rechtsverhältnis im Sinne von § 43 VwGO ergibt sich aus dem aus § 183 S. 2 VwGO resultierenden subjektiven Recht des Betroffenen, von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen jeglicher Art verschont zu bleiben. Es bedarf demnach keiner Konstruktion eines wie auch immer gearteten „Vollstreckungsrechtsverhältnisses“.68 Auch die Subsidiaritätsregelung des § 43 Abs. 2 VwGO steht einer solchen Feststellungsklage nicht entgegen.69 Zum einen ist gemäß der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes schon anerkannt, dass die Statthaftigkeit einer Feststellungsklage nicht an der Subsidiaritätsregelung des § 43 Abs. 2 VwGO scheitert, wenn sich die Klage ausschließlich gegen einen Hoheitsträger richtet, da von diesem erwartet wird, dass dieser sein weiteres Handeln an den Feststellungen der Gerichte ausrichtet.70 Zum anderen gibt es im abschließenden Katalog der Verwaltungsgerichtsordnung – wie aus den Vorüberlegungen ersichtlich wurde – keine in gleicher Weise effektive Rechtsschutzmöglichkeit, welche eine Subsidiarität der Feststellungsklage begründen könnte.71 Der einstweilige Rechtsschutz richtet sich demnach nach § 123 VwGO; der Betroffene kann zur Einhaltung des Vollstreckungsverbots eine einstweilige Anordnung beim zuständigen Verwaltungsgericht erwirken. V. Zusammenfassung Das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO als unmittelbare Folge einer verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 VwGO wird von der wissenschaftlichen Literatur nur unzureichend gewürdigt, obwohl sich gerade im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Verwaltungsakten zahlreiche, teils sehr komplexe Rechtsfragen stellen. Mit der Regelung des § 183 S. 2 VwGO, dessen Rechtsgedanke über den Wortlaut hinaus auch auf die Vollstreckung von bestandskräftigen Verwaltungsakten übertragen werden muss, will der Gesetzgeber eine weitere Vertiefung des infolge der Normenkontrollentscheidung erkannten Unrechts vermeiden. Das Vollstreckungsverbot dient als Kompensation für das „Unberührtbleiben“ der auf der unwirksamen Norm beruhenden Einzelakte. 67
Gerhard (Fußn. 10), S. 246 ff. Vgl. auch Pietzner (Fußn. 4), § 167 Rn. 71; grundlegend zum Zusammenhang von subjektivem Recht und Rechtsverhältnis i.S.v. § 43 VwGO vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 43 Rn. 11; speziell zum Vollstreckungsrecht Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (10). 69 A.A. Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 43 Rn. 43; Pietzner (Fußn. 4), § 167 Rn. 71. 70 BVerwGE 36, 179 (181 f.); 40, 323 (327 f.); 51, 69 (75); a.A. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 43 Rn. 28. 71 Vgl. Happ (Fußn. 68), § 43 Rn. 41 mit Verweis auf die Rechtsprechung des BVerwG, Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 43 Rn. 28. 68
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Diese gesetzgeberische Zielsetzung spricht dafür, den Vollstreckungsbegriff des § 183 S. 2 VwGO in einem sehr weiten Sinne auszulegen und darunter nicht nur die Vollstreckungsmaßnahmen nach den Verwaltungsvollstreckungsgesetzen, sondern auch sämtliche Maßnahmen der Hoheitsträger zu verstehen, die auf eine Umsetzung des Regelungsinhaltes des auf der unwirksamen Norm beruhenden Verwaltungsaktes gerichtet sind, also auch die Aufrechnung durch die Behörde oder den Erlass rechtsgestaltender Verwaltungsakte. Das Ausnutzen einer bestandskräftigen Genehmigung durch einen Privaten wird durch das Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO hingegen nicht untersagt. Von dem Vollstreckungsverbot des § 183 S. 2 VwGO werden lediglich diejenigen Verwaltungsakte erfasst, die zum Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung bereits bestandskräftig sind. Adressaten von Verwaltungsakten, die im Zeitpunkt der Normenkontrollentscheidung noch mittels ordentlicher Rechtsbehelfe angefochten werden können, werden von der Obliegenheit, Primärrechtsschutz in Anspruch zu nehmen und damit die Beseitigung des rechtswidrigen Verwaltungsaktes zu erwirken, nicht befreit. Die Behörden haben das Vollstreckungsverbot von Amts wegen zu berücksichtigen; dies folgt schon aus dem Wortlaut des § 183 S. 2 VwGO, wonach die Vollstreckung unzulässig ist und nicht nur für unzulässig erklärt werden kann. Weitere Zwischenstufen zwischen der Normenkontrollentscheidung und dem Vollstreckungsverbot existieren nicht. Der betroffene Adressat des Verwaltungsaktes kann die Einhaltung des Vollstreckungsverbotes des § 183 S. 2 VwGO mittels einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO gerichtlich überprüfen lassen. Die Klage ist gerichtet auf Feststellung der Unzulässigkeit der weiteren Vollstreckung aus dem Verwaltungsakt. Das feststellungsfähige Rechtsverhältnis ergibt sich aus dem durch § 183 S. 2 VwGO begründeten subjektiven Recht, von weiteren Vollstreckungsmaßnahmen verschont zu bleiben. Die Subsidiaritätsregelung des § 43 Abs. 2 VwGO steht der Statthaftigkeit einer Feststellungsklage nicht entgegen. Einstweiliger Rechtsschutz wird über § 123 VwGO gewährt.
Kausalität und normative Verantwortlichkeitszuordnung im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union Von Bernd Grzeszick I. Einleitung Bei seinen Forschungen hat sich Wolf-Rüdiger Schenke immer wieder sowohl mit dem Wirtschaftsverwaltungsrecht als auch mit dem Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen beschäftigt und dabei stets darauf geachtet, trotz kasuistischer Einkleidungen die grundsätzlichen Fragen herauszuarbeiten und zu beantworten. Diese Aufgabe ist auch auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen, und die Große Kammer des EuGH hat im Urteil Schneider IV vom 16. Juli 20091 anhand der Haftung für eine Fusionskontrollentscheidung der Kommission zu Fragen der Kausalität und Verantwortlichkeitsverteilung im Bereich der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union Stellung bezogen. Im Folgenden sollen die haftungsrechtlichen Grundsätze, die der Entscheidung des EuGH zugrunde liegen, herausgearbeitet und kritisch reflektiert werden. Dazu wird zunächst der Ablauf der europäischen Kontrolle der Fusion von Legrand und Schneider skizziert (II.) Sodann wird die Schadensersatzklage vor dem EuG erörtert (III.) und das Rechtsmittel gegen das EuG-Urteil sowie das EuGH-Urteil dargestellt (IV.). Dem folgen die Bewertung des EuGH-Urteils (V.) und eine Schlußbetrachtung (VI.) II. Europäische Kontrolle der Fusion von Legrand und Schneider 1. Überblick über das Spannungsfeld und die Bedeutung der EuGH-Entscheidung Der Zusammenschluß von Unternehmen berührt eine Vielzahl von Interessen, und häufig stehen große Geldsummen auf dem Spiel. Daher überrascht es nicht, daß Fusionskontrollentscheidungen der Kommission nicht nur angefochten werden, sondern auch zu Haftungsklagen wegen außervertraglicher Haftung der EU führen.2 In diesem Bereich hat als letztes Kapitel der fehlgeschlagenen Übernahme des Un1 2
EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-6413 (Schneider IV). Vergleichbarer Fall: EuG, Rs. T-342/99, Slg. 2002, II-2585 (MyTravel).
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ternehmens Legrand durch das Unternehmen Schneider die Große Kammer des EuGH eine Entscheidung des Europäischen Gerichts, die Schadensersatz wegen einer rechtswidrigen Fusionskontrollentscheidung vorsah, zum Teil bestätigt und zum Teil aufgehoben. Das Urteil des EuGH ist deswegen von erheblicher Bedeutung, weil die Entscheidung des Europäischen Gerichts die erste war, die die EU in diesem Bereich für haftungsrechtlich verantwortlich hielt.3 Darüber hinaus werden vom EuGH grundsätzliche Fragen der außervertraglichen Haftung der Union angesprochen. Im Ergebnis wird – wieder einmal – deutlich, daß die außervertragliche Haftung der EU zu den schwierigen Feldern des Europarechts gehört, und daß Klagen gegen die EU in diesem Bereich nicht allzu häufig erfolgreich sind.4 2. Hintergrund: Fusion, Kontrollverfahren und EuG-Urteile a) Fusion und Kontrollverfahren Die französischen Unternehmen Schneider und Legrand, beide Hersteller und Verkäufer von Elektroerzeugnissen, meldeten im Februar 2001 bei der Kommission förmlich ein öffentliches Angebot zum Umtausch der Legrand-Aktien in SchneiderAktien an. Ziel des Aktientauschangebotes war, daß Schneider die Kontrolle über die Gesamtheit des Unternehmens Legrand erwerben sollte. Nach den Regeln der Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen5 (im Folgenden: Fusionskontrollverordnung) war dieses Vorgehen Gegenstand der Überwachung durch die Kommission. Nach den Vorgaben der Fusionskontrollverordnung darf ein Zusammenschluß nicht vollzogen werden, ehe die Kommission entweder dem Zusammenschluß zugestimmt oder innerhalb einer bestimmten Frist darüber nicht entschieden hat. Dies steht allerdings nach Art. 7 Abs. 2 – zur Zeit des Aktientauschangebotes Art. 7 Abs. 3 – der Fusionskontrollverordnung der Verwirklichung eines öffentlichen Tauschangebotes nicht entgegen, sofern der Erwerber die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht ausübt oder nur zur Erhaltung des vollen Wertes seiner Investition und aufgrund einer von der Kommission erteilten Befreiung ausübt. Schneider beabsichtigte, Legrand mit Rücksicht auf diese Ausnahmereglung zu erwerben. Der Erwerb erfolgte dann mit Wirkung zum 6. August 2001; zu diesem Zeitpunkt hatte Schneider eine Beteiligung von als 98,1 % am Legrand-Kapital erreicht und damit den Zusammenschluß vollzogen.
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Dazu Corr, BrookLRev 74 (2008 – 2009), S. 159, 161. Tridimas, CMLRev 38 (2001), S. 301, 327; Hilson, CMLRev 42 (2005), S. 677, 678. Siehe auch – nach dem Schneider IV-Urteil des EuGH – die Entscheidung des EuG, verb. Rs. T-252/07 (Sungro), T-271/07 (Eurosemillas) und T-272/07 (Surcotton), die eine außervertragliche Haftung der EU gleichfalls mangels Kausalität ablehnen. 5 Verordnung (EWG) Nr. 4064/89, ABl. 1989, L 395/1 und Amtsbl. 1990, L 257/13, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1310/97, Ambtsbl. 1997, L 180/1. 4
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Bereits zuvor hatte allerdings die Kommission ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit des Zusammenschlusses mit dem Gemeinsamen Markt geäußert und deshalb im März 2001 ein eingehendes Prüfungsverfahren eröffnet. Falls sich im Lauf einer solchen Prüfung Bedenken gegen den Zusammenschluß konkretisieren, muß die Kommission diese Einwände gemäß Art. 18 Abs. 1 der Fusionskontrollverordnung den betroffenen Unternehmen mitteilen und ihnen Gelegenheit geben, sich zu den ihnen gegenüber geltend gemachten Einwänden zu äußern. Nach Art. 18 Abs. 3 der Fusionskontrollverordnung darf die Kommission ihre Entscheidung über die Vereinbarkeit der Fusion mit dem Gemeinsamen Markt nur auf die Einwände stützen, zu denen die betroffenen Unternehmen Stellung nehmen konnten. Die Kommission hatte ihre Beschwerdepunkte kurz vor der Übernahme, nämlich am 3. August 2001, Schneider mitgeteilt und ausgeführt, daß nach ihrer Ansicht durch den Zusammenschluß eine beherrschende Stellung auf einer Reihe von nationalen Einzelmärkten begründet oder verstärkt werde. Schneider und Legrand erhoben in ihrer Antwort Mitte August 2001 Einwände gegen die Bestimmung der Märkte sowie gegen die Auffassung der Kommission über die Auswirkungen des Zusammenschlusses auf diese Märkte. Zudem schlugen die beiden Unternehmen der Kommission mehrere Korrekturmaßnahmen vor, um die Bedenken der Kommission zu zerstreuen. Die Kommission blieb aber bei ihrer Position und erklärte die Fusion im Oktober 2001 als unvereinbar mit dem Gemeinsamen Markt.6 Die Unvereinbarkeitsentscheidung wurde damit begründet, daß der Zusammenschluß eine beherrschende Stellung begründen oder verstärken werde, durch die ein wirksamer Wettbewerb auf näher bestimmten nationalen Einzelmärkten erheblich behindert würde. Zudem wurden die von den Unternehmen angebotenen Korrekturmaßnahmen als nicht hinreichend angesehen, um die festgestellten Wettbewerbsbedenken auszuräumen. Da der Zusammenschluß der Unternehmen bereits vollzogen worden war, gab die Kommission zudem mit einer Entscheidung vom Januar 2002 Schneider auf, sich binnen einer Frist von neun Monaten, die am 5. November 2002 auslief, von Legrand zu trennen.7 Schneider erhob beim EuG sowohl gegen die Unvereinbarkeitsentscheidung als auch gegen die Trennungsentscheidung Nichtigkeitsklage. Mit Rücksicht auf diese Verfahren verlängerte die Kommission im Mai 2002 die Schneider gesetzte Frist für die Trennung von Legrand bis zum 5. Februar 2003. Zugleich bereitete Schneider die im Fall einer Abweisung der beiden Nichtigkeitsklagen durchzuführende Veräußerung von Legrand vor. Schneider schloß im Juli 2002 mit dem Konsortium Wendel/ KKR einen Übertragungsvertrag, der spätestens am 10. Dezember 2002 durchgeführt werden sollte. Der Vertrag räumte Schneider die Möglichkeit ein, im Fall der Nichtigerklärung der Unvereinbarkeitsentscheidung den Vertrag gegen Zahlung von 180 Millionen EUR bis zum 5. Dezember 2002 zu kündigen. 6 7
Entscheidung 2004/275/EG, ABl. 2004, L 101/1. Entscheidung 2004/276/EG, ABl. 2004, L 1010/134.
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b) EuG-Urteile Schneider I und Schneider II Mit Urteil vom 22. Oktober 2002 erklärte das EuG sowohl die Unvereinbarkeitsentscheidung (Schneider I)8 als auch die Trennungsentscheidung (Schneider II)9 für nichtig. Nach Ansicht des Gerichts waren dabei zum einen Analyse und Würdigung der Auswirkungen des Zusammenschlusses auf die außerhalb Frankreichs liegenden nationalen Einzelmärkte fehlerhaft. Zum anderen waren Verteidigungsrechte Schneiders verletzt worden, da die Mitteilung der Beschwerdepunkte es Schneider nicht ermöglicht hatte, die von der Kommission festgestellten Wettbewerbsbedenken wegen der Fusion auf dem französischen Markt zu erfassen. Damit sei Schneider zum einen die Möglichkeit genommen worden, die Richtigkeit der Auffassung der Kommission sachgerecht in Frage zu stellen. Zum anderen habe Schneider infolgedessen keine Gelegenheit gehabt, sachgerecht und rechtzeitig Vorschläge für angemessene Korrekturmaßnahmen zu unterbreiten. Daher seien die Analyse sowohl der Auswirkungen des Zusammenschlusses auf die französischen Einzelmärkte als auch der von der Klägerin vorgeschlagenen Korrekturmaßnahmen rechtsfehlerhaft geworden. Die Kommission legte gegen die Urteile Schneider I und Schneider II kein Rechtsmittel ein. c) Kontrollverfahren nach den EuG-Urteilen Allerdings leitete die Kommission bereits im November 2002 die Wiederaufnahme des Fusionskontrollverfahrens ein und teilte Schneider die Beschwerdepunkte mit. Deren Schwerpunkt lag auf den Vorwurf, daß durch bedeutende Überschneidungen der Marktanteile von Schneider und Legrand, den Wegfall ihres bisherigen Konkurrenzverhältnisses, die Bedeutung der Marken der Einheit Schneider/ Legrand, die Macht dieser Einheit gegenüber den Großhändlern und die Tatsache, daß kein Wettbewerber den Wettbewerbsdruck ersetzen könne, den Legrand vor dem Zusammenschluß ausgeübt habe, die Fusion den Wettbewerb auf einigen französischen Einzelmärkten beeinträchtigen könne. Die im folgenden von Schneider angebotenen Korrekturen wurden von der Kommission am 29. November 2002 als nicht ausreichend zurückgewiesen. Zu diesem Zeitpunkt mußte Schneider entscheiden, ob es an der vertraglich vereinbarten Übertragung ihrer Legrand-Beteiligung an Wendel/KKR festhalten oder den Vertrag gegen Zahlung von 180 Millionen EUR kündigen sollte. Schneider entschied sich für den Verkauf und teilte dies der Kommission am 2. Dezember 2002 mit. Am 10. Dezember 2002 trat Scheider – wie mit Wendel/KKR vertraglich vereinbart – ihre Legrand-Beteiligung an Wendel/KKR ab und setzte die Kommission davon in Kenntnis. Die Kommission stellte daraufhin das Prüfverfahren wegen Gegenstandslosigkeit ein. 8 9
EuG, Rs. T-310/01, Slg. 2002, II-4071 (Schneider I). EuG, Rs. T-77/02, Slg. 2002, II-4201 (Schneider II).
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III. EuG-Urteil Schneider III Im Oktober 2003 erhob Schneider vor dem Gericht erster Instanz Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch Rechtsverstöße im Verfahren zur Kontrolle der angemeldeten Fusion entstanden sei. Schneider stützte sich dabei auf Art. 340 Abs. 2 AEUV (zuvor Art. 288 Abs. 2 EG), wonach die Union außervertraglich für Schaden, den ihre Organe oder Bedienstete in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht haben, nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen haftet, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. 1. Urteilsausspruch Mit Urteil vom 11. Juli 200710 (Schneider III) wurde eine außervertragliche Haftung der Europäischen Gemeinschaft im Grundsatz angenommen. Die EG wurde dazu verurteilt, Schneider zum einen die Kosten, die dieser durch die Beteiligung an dem nach den Urteilen Schneider I und Schneider II wiederaufgenommenen Fusionskontrollverfahren entstanden sind, zu ersetzen. Zum anderen hatte die EG zwei Drittel des Schadens zu ersetzen, der Schneider aufgrund des Nachlasses auf den Preis für die Übertragung der Legrand entstanden ist, dem Schneider dem Erwerber als Gegenleistung für den Aufschub des Termins für die tatsächliche Durchführung des Verkaufs von Legrand bis zum 10. Dezember 2002 einräumen mußte. Abgelehnt wurde dagegen eine Haftung der EG für alle weiteren finanziellen Konsequenzen, die sich aus der Pflicht zur Übertragung der Legrand-Beteiligung ergaben, insbesondere also auch eine Haftung für weitere Wertverluste oder für möglicherweise entgangenen Gewinn bei einer erfolgreichen Fusion. 2. Urteilsbegründung Im Urteil nennt das Gericht zunächst die Voraussetzungen einer außervertraglichen Haftung nach Art. 340 Abs. 2 AEUV: Das dem Organ vorgeworfene Verhalten muß rechtswidrig sein; es muß ein Schaden entstanden sein; und zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden muß ein Kausalzusammenhang bestehen.11 a) Rechtswidrigkeit des Organverhaltens Falls das rechtswidrige Organverhalten im Erlaß eines Rechtsaktes besteht, muß dieser nach der Rechtsprechung der Uniongerichte einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsnorm des Europarechts darstellen, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Während bei Entscheidungen ohne oder mit nur 10
EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 113 (Schneider III). Vgl. auch Bailey, CMLRev 44 (2007), S. 101, 108. 11
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geringem Ermessen die bloße Verletzung von Gemeinschaftsrecht ausreichen kann, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen, liegt bei Ermessensentscheidungen ein hinreichend qualifizierter Verstoß nur dann vor, wenn das Gemeinschaftsorgan die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat.12 Um einen solchen Verstoß darzulegen, hatte Schneider zum einen die Fehler in der wirtschaftlichen Analyse der Kommission angeführt, die das Gericht erster Instanz in Schneider I in Bezug auf die räumliche Reichweite festgestellt hatte, und die zu einer fehlerhaften Anwendung von Art. 2 Abs. 3 der Fusionsverordnung geführt hatten.13 Im Rahmen der außervertraglichen Haftung der EG verwarf das Gericht allerdings dieses Argument, da die Kommission die Fusion auch ohne diesen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht in unverändertem Zustand nicht hätte genehmigen können, weshalb dieser Fehler keinen Einfluß auf die Feststellung der Unvereinbarkeit der Fusion mit dem Gemeinsamen Markt, zu der die Kommission in der Unvereinbarkeitsentscheidung im Ergebnis gelangte, haben konnte.14 Daher konnte das Gericht auch explizit offen lassen, ob dieser Fehler angesichts des Ermessensspielraums der Kommission in Wettbewerbsfragen die Grenze überschreitet, ab der die außervertragliche Haftung der EG greift.15 Das Vorbringen Schneiders war aber insoweit erfolgreich, als das Gericht in Bezug auf die in Art. 18 Abs. 1 und Abs. 3 der Fusionskontrollverordnung vorgesehenen Verteidigungsrechte Schneiders einen hinreichend qualifizierten Verstoß annahm.16 Denn im Gegensatz zum Zweck dieser Regelungen, durch eine Mitteilung der Beschwerdepunkte den an einer Fusion beteiligten Unternehmen zu ermöglichen, zum einen die Richtigkeit der Auffassung der Kommission sachgerecht in Frage zu stellen und zum anderen eine Gelegenheit zu haben, sachgerecht und rechtzeitig Vorschläge für angemessene Korrekturmaßnahmen zu unterbreiten, hatte die Kommission ihre Unvereinbarkeitsentscheidung auf Überlegungen gestützt, die Schneider zuvor nicht oder zumindest nicht hinreichen mitgeteilt worden waren: Der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 3. August 2001 war nicht zu entnehmen, daß die Stärkung der Position Schneiders in einem bestimmten nationalen Marktsektor nicht nur aus der hinzukommenden Position Legrands in diesem Marktsektor gefolgert wurde, sondern auch aus einer Gesamtbetrachtung der Position Legrands in anderen Marktsektoren,17 und diese Stärkung der Position Schneiders war letztlich einer der Hauptgründe für die Unvereinbarkeitsentscheidung. In Unkenntnis dieses spezifischen Problems war Schneider nicht in der Lage, Korrekturmaßnahmen vorzuschlagen, die der Erlangung oder Stärkung der betreffenden marktbeherrschenden 12 13 14 15 16 17
EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 115 – 117 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 191 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 134 – 139 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 133 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 152 (Schneider III). EuG, Rs. T-310/01, Slg. 2002, II-4071, Rn. 449 – 458 (Schneider I).
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Position hinreichend entgegenwirken konnten. Das Gericht folgerte deshalb, daß das Verhalten der Kommission einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen eine Rechtsnorm des Europarechts darstellt, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen b) Schaden und Verursachung In Bezug auf Schaden und Verursachung hatte Schneider sämtliche geldwerten Kosten und Nachteile geltend gemacht, die sich aus der Pflicht zur Übertragung der Legrand-Beteiligung sowie die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ergaben, insbesondere auch Verminderungen des Wertes der an der Fusion beteiligten Unternehmen und deren Anteile. Das Gericht erkannte einen hinreichend unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem der Unvereinbarkeitserklärung anhaftenden hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht und zum einen den Kosten, die Schneider aufgrund der Teilnahme an dem nach den Urteilen Schneider I und Schneider II wiederaufgenommenen Fusionskontrollverfahren sowie zum anderen dem Nachlaß auf den Preis für die Übertragung der Vermögenswerte von Legrand, der Wendel/ KKR in den Vertragsverhandlungen eingeräumt worden war, um einen Aufschub des Termins für die Übertragung zu erreichen.18 Nach Ansicht des Gerichts war Schneider wegen der zwar rechtswidrigen, aber bis zu den Urteilen Schneider I und Schneider II bestehenden Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidungen gezwungen, Verhandlungen über die Veräußerung der Legrand-Anteile zu führen und hinreichend rechtzeitig eine Vereinbarung abzuschließen, die eine Übertragung vorsah, gleichzeitig aber bis zu einem bestimmten, für einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz hinreichend späten Zeitpunkt für den Fall eines die Entscheidungen aufhebenden Gerichtsurteils ein Behalten der Legrand-Anteile ermöglichte. Eine Haftung für den möglicherweise entgangenen Gewinn einer erfolgreichen Fusion lehnte das Gericht mangels Kausalität ab, da die Nichtigerklärung der Unvereinbarkeitsentscheidung auf Gründen beruhte, die die Möglichkeit einer rechtmäßigen Unvereinbarkeitsentscheidung durch die Kommission unberührt ließen.19 Zudem betonte das Gericht, daß selbst bei Annahme einer rechtswidrigen Beeinträchtigung der Möglichkeit, eine Vereinbarkeitserklärung zu erreichen, die Realisierung der Chance von Parametern abhängig gewesen wäre, die zu unwägbar seien, um für einen Schadensersatzanspruch hinreichend quantifiziert zu werden.20 Dieses Problem stellte sich auch bei der Bemessung der Schadenshöhe durch den Nachlaß auf den Preis für die Übertragung der Vermögenswerte von Legrand, aber in dieser Frage ordnete das Gericht die Erstattung eines Gutachtens durch einen Sachverständigen an.21 18 19 20 21
EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 317 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 260 – 287 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 283 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 324 (Schneider III).
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c) Mitverantwortung des Geschädigten Schließlich reduzierte das Gericht die Höhe des Ersatzes wegen des Wendel/KKR in den Vertragsverhandlungen eingeräumten Nachlasses auf den Preis für die Übertragung der Vermögenswerte von Legrand wegen der Mitverantwortung des Geschädigten für die Entstehung dieses Schadens. Nach Ansicht des Gerichts hatte Schneider selbst zum Entstehen des Schadens beigetragen durch Eingehen des Risikos, daß der zunächst unter Rückgriff auf die Ausnahmeregelung des Art. 7 Abs. 3 – jetzt Art. 7 Abs. 2 – der Fusionsverordnung vollzogene Zusammenschluß später von der Kommission für unvereinbar erklärt und der zwangsweise Verkauf der erworbenen Vermögenswerte nötig werden würde.22 Mit Rücksicht darauf erschien es dem Gericht angemessen, daß Schneider ein Drittel des ersatzfähigen Schadens trägt, der aufgrund des Wendel/KKR eingeräumten Nachlasses auf den Preis für die Übertragung entstanden ist.23 IV. Rechtsmittel gegen EuG-Urteil Schneider III und EuGH-Urteil Schneider IV 1. Rechtsmittel der Kommission gegen EuG-Urteil Schneider III Die Kommission legte gegen das EuG-Urteil Schneider III Rechtsmittel ein und stütze dies auf eine Reihe von Gründen,24 die auf die Haftungsvoraussetzungen eines hinreichend qualifizierten Rechtsverstoßes sowie eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs Bezug nahmen. Da die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Rechtsverstoßes im Urteil Schneider III vor allem auf den Defiziten der Mitteilung der Beschwerdepunkte beruhte, behauptete die Kommission, daß der EuG die besonderen Schwierigkeiten bei der Abfassung der Beschwerdepunkte verkannt habe, die durch die Komplexität der zu regelnden Situation bedingt waren. Zudem bestritt die Kommission das Bestehen eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen dem Rechtsverstoß der Kommission und dem Schaden, der Schneider durch den Nachlaß auf den Preis für die Veräußerung von Legrand entstanden sei. Selbst wenn dies anders gesehen würde, hätte der EuG den Ersatz dieses Schadens Schneider nach Ansicht der Kommission nicht zusprechen dürfen, da Schneider diesen Schaden nicht geltend gemacht habe, weshalb der EuG den Grundsatz ne ultra petita verletzt habe. 2. Schlußantrag des Generalanwalts Generalanwalt Colomer führte in seinem Schlußantrag aus, daß das Urteil des EuG Schneider III teilweise aufzuheben sei. Nach seiner Ansicht besteht ein Scha22 23 24
EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 332 (Schneider III). EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 334 (Schneider III). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-6413, Rn. 84 (Schneider IV).
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densersatzanspruch Schneiders nur wegen der Kosten, die Schneider aufgrund der Teilnahme an dem nach den Urteilen Schneider I und Schneider II wiederaufgenommenen Fusionskontrollverfahren entstanden sind. Dagegen ist der Schaden, der Schneider durch den Nachlaß auf den Preis für die Veräußerung von Legrand entstanden ist, nicht direkt, unmittelbar und ausschließlich durch den Rechtsverstoß der Kommission entstanden. GA Colomer räumt zwar ein, daß die Unvereinbarkeits- und die Trennungsentscheidungen der Kommission Schneider veranlaßte, sich nach einem Käufer für seine Anteile an Legrand umzusehen.25 Obwohl die rechtswidrige Entscheidung der Kommission damit ein wichtiger Faktor auf dem Weg zu diesem Schaden Schneiders war, sei aber eine unmittelbare Kausalverbindung zwischen der Kommissionsentscheidung und dem Schaden nicht gegeben. Denn dieser Schaden ist auf den Abschluß des Vertrags mit Wendel/KKR im Juli 2002 zurückzuführen, und der Vertragsschluß steht in keiner adäquaten Verbindung mit den Fehlern der Mitteilung der Beschwerdepunkte. Im Juli 2002 Bestand noch keine Notwendigkeit, einen Vertrag über die Anteilsübertragung zu schließen, da die Kommission die Schneider gesetzte Frist für die Trennung von Legrand bis zum 5. Februar 2003 verlängert hatte. Der Schneider durch den im Vertrag eingeräumte Nachlaß auf den Preis für die Veräußerung von Legrand entstandene Schaden sei daher der eigenverantwortlichen Entscheidung Schneiders, der schwachen Verhandlungsführung durch den Vertreter Schneiders sowie dem Druck anderer Akteure, insbesondere den Anteilseignern von Schneider und Legrand zuzuschreiben. Im Ergebnis besteht deshalb zwischen dem Rechtsverstoß und diesem Schaden kein direkter, unmittelbarer und ausschließlicher Zusammenhang im Sinne von Ursache und Folge.26 3. EuGH-Urteil Schneider IV a) Urteilsausspruch Der EuGH schloß sich im Urteil Schneider IV27 im Wesentlichen dem Ergebnis des Schlußantrags von GA Colomer an, nicht jedoch den von diesem ausgeführten Gründen. Das Urteil des EuG Schneider II wurde aufgehoben, soweit damit die EG verurteilt worden war, zwei Drittel des Schadens zu ersetzen, der Schneider aufgrund des Nachlasses auf den Preis für die Übertragung der Legrand entstanden ist, dem Schneider dem Erwerber als Gegenleistung für den Aufschub des Termins für die tatsächliche Durchführung des Verkaufs von Legrand bis zum 10. Dezember 2002 einräumen mußte. Dagegen wurde die Haftung der EG für die Kosten, die Schneider 25 Schlußantrag GA Colomer vom 3. Februar 2009, Rs. C-440/07, Rn. 141 (Schneider IV), Download: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007C0440: EN:HTML. 26 Schlußantrag GA Colomer vom 3. Februar 2009, Rs. C-440/07, Rn. 140 (Schneider IV), Download: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007C0440: EN:HTML. 27 EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-6413 (Schneider IV).
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durch die Beteiligung an dem nach den Urteilen Schneider I und Schneider II wiederaufgenommenen Fusionskontrollverfahren entstanden sind, vom EuGH bestätigt. b) Urteilsbegründung aa) Rechtsverstoß hinreichend qualifiziert Hinsichtlich der Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Rechtsverstoßes wies der EuGH das Vorbringen der Kommission zurück. Da für eine hinreichende Mitteilung der Beschwerdepunkte gemäß Art. 18 Abs. 1 und Abs. 3 der Fusionsverordnung die Kommission das Problem der Verflechtung, das einer Erklärung der Fusion für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar entgegenstehen kann, nur hinreichend klar und deutlich zu benennen hatte, war nach Ansicht des EuGH die vom EuG vorgenommene Beurteilung, daß die Benennung des Problems der Verflechtung keine besonderen technischen Schwierigkeiten beinhaltete, nicht zu beanstanden.28 bb) Kausalität als entscheidender Punkt Die weiteren zentralen Teile der Entscheidung betrafen Fragen der Kausalität. Zunächst bestätigte der EuGH das Urteil des EuG über die Haftung der Gemeinschaft für die Kosten, die Schneider durch die Beteiligung an dem nach den Urteilen Schneider I und Schneider II wiederaufgenommenen Fusionskontrollverfahren entstanden sind.29 Dieser Haftungsanspruch wurde später vom EuGH mit 50.000 EUR beziffert.30 Das Rechtsmittel der Kommission war aber insoweit erfolgreich, als es sich gegen die Haftung für den Schaden, der Schneider durch den Nachlaß auf den Preis für die Veräußerung von Legrand entstanden war, richtete. Der EuGH erkannte keine hinreichend unmittelbare Kausalverbindung zwischen dem Verteidigungsrecht von Schneider und dem Preisnachlaß im Vertrag mit Wendel/KKR. Als unmittelbare Ursache für diesen Schaden sah das Gericht die von Schneider getroffene Entscheidung, die Übertragung von Legrand zum 10. Dezember 2002 wirksam werden zu lassen und das vertraglich vereinbarte Kündigungsrecht nicht auszuüben, an.31 Nach Ansicht des EuGH hätte dagegen die logische rechtliche Folge einer Nichtigerklärung der Unvereinbarkeitsentscheidung und der Trennungsentscheidung darin bestanden, daß sich Schneider am wiederaufgenommenen Verfahren zur eingehenden Prüfung der Fusion bis zu dessen Abschluß beteiligt und auf eine Vereinbarkeitsentscheidung hingearbeitet hätte.32 Schneiders gegenläufige Entscheidung beruhte vor allem auf der Befürchtung, daß die eingehende Prüfung trotz 28 29 30 31 32
EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 132 (Schneider IV). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 213 (Schneider IV). Entscheidung vom 9. Juni 2010, ABl. 2010, C 288/13. EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 205 (Schneider IV). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 204 (Schneider IV).
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möglicherweise vorgeschlagener Korrekturmaßnahmen zu einer Unvereinbarkeitsentscheidung führen würde.33 Das Risiko einer Unvereinbarkeitsentscheidung wohnt aber jedem Kontrollverfahren inne, und zwar von Anfang an ebenso wie nach der Nichtigerklärung einer ersten Unvereinbarkeitsentscheidung im Rahmen einer Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens.34 Daher gehört auch die aus einer Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung folgende Pflicht zur Übertragung bereits erworbener Unternehmensanteile zu dem Risiko, daß ein Unternehmen eingeht, wenn es von der in Art. 7 Abs. 3 – jetzt Art. 7 Abs. 2 – der Fusionsverordnung vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, eine Fusion mittels eines öffentlichen Aktientauschangebots vor dem Erlaß der Entscheidung der Kommission über diese Fusion durchzuführen.35 Zudem ist eine Unvereinbarkeitsentscheidung in jedem Fall der Kontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte unterworfen.36 Aus dieser Perspektive hätte Schneider sein vertragliches Kündigungsrecht gegenüber Wendel/KKR ausüben sollen. Diese Schlußfolgerung wird nach Ansicht des EuGH nicht dadurch in Frage gestellt, daß Schneider bei der Ausübung des Kündigungsrechts dem Risiko einer Zahlungspflicht in Höhe von 180 Millionen EUR ausgesetzt war, denn dieses Risiko ergab sich aus dem Übertragungsvertrag, den Schneider geschlossen hatte. V. Bewertung 1. Generelle Stellungnahmen Die Entscheidungen Schneider I-IV haben erhebliche Aufmerksamkeit erlangt. Während Schneider I und II die Fusionskontrolle betreffen, fokussieren Schneider III und IV auf die außervertragliche Haftung der EU. Das Urteil Schneider IV ist dabei aus mehreren Gründen kritisiert worden, wobei der Schwerpunkt der Kritik darin bestand, daß für Klagen gegen Unvereinbarkeitsentscheidungen der Kommission die Schleusen geöffnet würden, was die künftigen Entscheidungsfindungen der Kommission sowie den Haushalt der EU gefährden könnten.37 Dagegen bewerteten andere Stellungnahmen diese Sorgen als überzogen, da seit Erlaß der Fusionsverordnung bislang nur 20 Fusionen als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt worden sind.38 2. Haftungsrechtsdogmatische Aspekte In Bezug auf das Haftungsrecht sind zwei Aspekte der Urteile von besonderer Bedeutung: Die Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Rechtsverstoßes und 33
EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 203 (Schneider IV). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 203 (Schneider IV). 35 EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 204 (Schneider IV). 36 EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 203 (Schneider IV). 37 Dazu – mit Bezug auf das EuG-Urteil Schneider III – nur Corr, BrookLRev 74 (2008 – 2009), S. 159, 160 m.w.N. 38 Steinle/Schwartz, BB 2007, 1743. 34
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die Frage der Kausalität. Da der EuGH trotz der Komplexität von Fusionskontrollen keinen Grund sah, sich mit der Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Rechtsverstoßes näher auseinanderzusetzen, steht im Folgenden die Frage der Kausalität im Mittelpunkt. In Haftungsfällen verursacht die Bestimmung der Kausalverbindung häufig beträchtliche Probleme.39 Allgemein läßt sich dazu im europäischen Recht der außervertraglichen Haftung der EU festhalten, daß die Generalanwälte sich an Ansätzen zu orientieren scheinen, die den nationalen Rechtsordnungen entstammen, während die Gerichte zu einer stärker auf den Einzelfall bezogenen Vorgehensweis tendieren, bei der eine detaillierte Analyse der Fakten des jeweiligen Einzelfalls im Vordergrund steht.40 Diese Einschätzung trifft auch auf die Schneider-Urteile zu. a) Erfordernis einer unmittelbaren oder direkten Kausalverbindung Als allgemeines Prinzip deliktischer oder außervertraglicher Haftung erfordert Kausalität zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem Schaden eine Verbindung, die unmittelbar oder direkt ist. Was genau aber bedeutet dies? aa) conditio sine qua non-Test Die klassische Methode zur Bestimmung einer Kausalverbindung ist der conditio sine qua non-Test.41 Er beruht auf einem Ausschlußvorgehen und ermöglicht eine Bestimmung der natürlichen Ursache-Folge-Beziehung: Würde das Ereignis B auch dann eingetreten sein, wenn das Ereignis A nicht eingetreten wäre? Falls die Antwort auf diese Frage negativ ist, besteht nach der conditio sine qua non-Betrachtung zwischen A und B eine Kausalverbindung. Allerdings erwähnen weder die Gerichte noch der Generalanwalt ausdrücklich die conditio-Betrachtung. Während die Ausführungen des EuGH zum Erfordernis der unmittelbaren oder direkten Verbindung insgesamt recht vage ausfallen, scheint der Schlußantrag von GA Colomer eine systematischere Annäherung an die Frage der Kausalität zu ermöglichen. Er ordnet die Probleme der Kausalität den Bereichen der Adäquanz und der Unterbrechung des Kausalverlaufs durch eigenverantwortliches Handeln des Geschädigten zu. In diesem Zusammenhang betont GA Colomer, daß die Unvereinbarkeits- und die Trennungsentscheidung der Kommission Schneider dazu veranlaßt haben, einen Käufer für seine Legrand-Anteile zu suchen.42 Mit dieser Betrachtung wendet GA Colomer 39
Übersicht bei Durant, in: Koziol/Schulze (Eds.), Tort law of the European Community, 2008, S. 47 ff. 40 Magnus/Bitterich, in: Winiger/Koziol/Koch/Zimmermann (Eds.), Digest of European Tort Law, Volume 1: Essential Cases on Natural Causation, 2007, S. 93. 41 Durant, in: Koziol/Schulze (Eds.), Tort law of the European Community, 2008, S. 47, 56 ff. 42 Schlußantrag GA Colomer vom 3. Februar 2009, Rs. C-440/07, Rn. 141 (Schneider IV), Download: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007C0440: EN:HTML.
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aber auch ohne ausdrückliche Nennung den conditio-Test an und bestätigt ihn zugleich. bb) Mehrheit von Kausalfaktoren und ihre Adäquanz In nahezu allen Fällen ist der conditio-Test aber nicht genügend, um die Frage der Verursachung zu beantworten, denn stets gibt es mehrere Handlungen oder Unterlassungen die zu dem Ereignis führen, daß als Schaden qualifiziert wird. Der Schneider-Fall ist ein gutes Beispiel dieses Problems. Während für GA Colomer entscheidend ist, ob zwischen der fehlerhaften Mitteilung der Beschwerdepunkte und dem Vertrag Schneiders mit Wendel/KKR eine adäquate Verbindung besteht,43 sieht der EuGH als maßgeblichen Faktor die Entscheidung Schneiders, vom Kündigungsrecht keinen Gebrauch zu machen, an.44 Die unterschiedlichen Perspektiven führen zwar im Fall nicht zu unterschiedlichen Bewertungen: Sowohl der EuGH als auch GA Colomer lehnen im Ergebnis eine Kausalität ab. Während aber der EuGH sich auf die Unterlassung der Kündigung bezieht und Schneiders Verhalten als nicht zutreffende rechtliche Folge qualifiziert, stellt GA Colomer auf den Vertragsschluß Schneiders mit Wendel/KKR ab und bewertet diesen als nicht adäquat. cc) Zusätzliche Anforderungen und psychische Verursachung Mit dem Begriff der Adäquanz belegt der Fall Schneider zugleich, daß Kausalität im Recht – und auch im Europarecht – üblicherweise mehr verlangt als eine schlichte conditio-Verursachung. Die Probleme und Grenzen des conditio-Tests treten vor allem in Fällen hervor, in denen der Schaden letztlich auf einem Verhalten des Geschädigten beruht, wie dies auch im Schneider-Fall geschehen war: Wenn Schneider den Vertrag mit Wendel/KKR nicht geschlossen hätte, wäre der Schaden – der Nachlaß auf den Preis – nicht eingetreten. Die Annahme einer Kausalverbindung zwischen dem fehlerhaften Verhalten der Kommission und dem Schaden, der aus dem Preißnachlaß folgt, hängt daher wesentlich von der psychischen Wirkung ab, die dem fehlerhaften Verhalten der Kommission auf Schneiders Verhalten zukommt. Diese Art der Verursachung kann als psychische Verursachung bezeichnet werden, um zu kennzeichnen, daß in solchen Fällen die causa nicht unmittelbar zu einem bestimmten Ergebnis führt, sondern dieses Ergebnis wahrscheinlich oder vernünftig macht, indem sie Gründe für ein entsprechendes Verhalten liefert. In solchen Konstellationen hat das Recht eine Einschätzung zu treffen darüber, ob das Verhalten einer Person einen Reaktion auf das Fehlverhalten einer anderen Person ist.45 Dies trifft auch auf den Schneider-Fall zu, denn Schneiders Verhalten wird durch die fehlerhafte Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht zwingend oder unüberwindbar 43
Schlußantrag GA Colomer vom 3. Februar 2009, Rs. C-440/07, Rn. 140, 145 ff. (Schneider IV), Download: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CE LEX:62007C0440:EN:HTML. 44 EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 204 (Schneider IV). 45 Siehe von Bar, The Common European Law of Torts, Volume 2, 2000, S. 443.
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bestimmt; die Mitteilung liefert nur einen Grund – vielleicht einen genügenden und vernünftigen – für die Entscheidung Schneiders. Vor diesem Hintergrund werden deshalb zur Bewältigung der Unsicherheiten in subjektiven Dingen, zu denen die psychische Verursachung gehört, verschiedene Ansätze diskutiert, die darauf hinauslaufen, gegebenenfalls entweder das eigene Verhalten des Geschädigten als nichtkausale Folge auszugrenzen oder die Höhe des Schadensersatzes wegen einer Mitverantwortung des Geschädigten zu reduzieren.46 dd) Vergleich der Ansätze von GA Colomer und EuGH Wie sind nun die miteinander verbundenen Probleme der Wahl eines Verhaltens als entscheidender Faktor der Kausalität und die Einschätzung der Adäquanz dieses Verhaltens zu bewältigen? Ein zusammenfassender Vergleich zwischen dem Schlußantrag von GA Colomer und dem Urteil des EuGH mag die Vor- und Nachteile der beiden Ansätze belegen. Für GA Colomer ist die Frage entscheiden, ob zwischen der fehlerhaften Mitteilung der Beschwerdepunkte und dem Vertrag Schneiders mit Wendel/KKR eine adäquate Verbindung besteht; Colomer sieht den Abschluß dieses Vertrags zu einem so frühen Zeitpunkt als inadäquat an. Dagegen sieht der EuGH Schneiders Entscheidung, das Kündigungsrecht nicht auszuüben, als entscheidenden Faktor an; das Gericht beurteilt dieses Verhalten Schneiders als nicht logische rechtliche Folge. Zur besseren Analyse des Unterschiedes ist zwischen den Entscheidungen Schneiders im Juli und im Dezember 2002 deutlich zu unterscheiden: Im Juli vereinbarten Schneider und Wendel/KKR die Übertragung von Legrand mit Wirkung zum 10. Dezember, falls Schneider die Vereinbarung nicht bis zum 5. Dezember kündigt. Im Dezember entschied Schneider, von diesem Kündigungsrecht keinen Gebrauch zu machen. GA Colomer stellt bei seiner Betrachtung auf den Vertragsschluß im Juli ab. Er führt den Schaden auf den Abschluß des Vertrags zu einem so frühen Zeitpunkt zurück und verneint deshalb einen direkten, unmittelbaren und ausschließlichen Kausalzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen Verhalten der Kommission und dem Preisnachlaß.47 Diese Schlußfolgerung mag auf den ersten Blick überraschen, da der conditio-Test erfüllt ist: Ohne die Unvereinbarkeits- und die Trennungsentscheidung hätte Schneider seine Legrand-Anteile nicht an Wendel/KKR veräußert. Allerdings ist fraglich, ob die Entscheidung Schneiders auch adäquat war. Nach Ansicht von GA Colomer verpflichtete Schneider nichts dazu, die Kaufverträge zu einem so frühen Zeitpunkt fertig zu stellen und abzuschließen, da die von der Kommission bis zum 5. Februar 2003 gewährte Frist zur Veräußerung der Legrand46 Dazu Toth, in: Heukels/McDonnell (Eds.), The Action for Damages in Community law, 1997, S. 195 ff. 47 Schlußantrag GA Colomer vom 3. Februar 2009, Rs. C-440/07, Rn. 140 ff. (Schneider IV), Download: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62007C0 440:EN:HTML.
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Anteile ausreichend erscheint, auch noch später einen geeigneten Käufer zu finden. Colomer gesteht Schneider zwar zu, sich nach einem Käufer umschauen, um sich für einen möglicherweise negativen Ausgang des Gerichtsverfahrens zu wappnen. Allerdings folgert er aus dem frühen Zeitpunkt des Vertragsschlußes – neben anderen Aspekten –, daß Schneider beabsichtigte, der Transaktion mit Wendel/KKR Vorrang einzuräumen und die Fortsetzung der Fusion als hypothetisch zu betrachten. Im Ergebnis sieht er deshalb den Schaden als Folge einer freiwilligen Entscheidung Schneiders, schwacher Verhandlungsleistung und starker anderweitiger Drücke in Richtung einer Veräußerung an Wendel/KKR. Während GA Colomer einen Haftungsanspruch Schneiders wegen des frühen Zeitpunktes des Vertragsschlußes verneint, scheint er EuGH den frühen Vertragsschluß einschließlich des Preisnachlasses als adäquates Verhalten anzuerkennen.48 Allerdings bezieht der EuGH sich mit seinen Betrachtungen der Kausalität des Schadens auf ein anderes Verhalten Schneiders: Die Nichtausübung des Kündigungsrechts trotz der gerichtlichen Aufhebung der Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidung im Oktober 2002. Nach Ansicht des Gerichts war die unmittelbare Ursache des Schadens die von Schneider getroffene Entscheidung, die Übertragung von Legrand zum 10. Dezember 2002 wirksam werden zu lassen, und zu dieser Entscheidung war Schneider rechtlich weder durch den Vertrag noch durch das Fusionsverfahren gezwungen.49 Aus dieser Perspektive erfordert Kausalität im Sinne des conditio-Tests, daß ohne das Fehlverhalten der Kommission die Nichtausübung der Kündigung nicht stattgefunden hätte, also die Kündigung erfolgt wäre. Dies ist allerdings nicht der Fall: Hätte die Kommission keine rechtswidrige Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung erlassen, wäre die Situation für Schneider nicht anders gewesen. Denn in beiden Szenarien kam der Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidung zum Zeitpunkt der Nichtausübung des Kündigungsrechts keine rechtliche Wirkung zu: Die Entscheidungen wäre entweder nicht ergangen oder – wie tatsächlich geschehen – gerichtlich aufgehoben. Dem entsprechend ist die Annahme, daß Schneider sich auch ohne das Fehlverhalten der Kommission nicht anders verhalten hätte, höchst plausibel. Oder, im Sinne des conditio-Tests gefragt: Wäre die Nichtausübung der Kündigung auch dann erfolgt, wenn die Kommission Schneiders Verteidigungsrechte nicht verletzt hätte? Wohl sehr wahrscheinlich ja. Daraus folgt, daß im Ergebnis bereits die Anforderungen des conditio-Tests nicht erfüllt sind; das Fehlverhalten der Kommission hat zum Schaden Schneiders nicht kausal beigetragen. Diese Betrachtung wird durch Schneiders Einlassung weiter gestützt. Schneider versucht zwar implizit darzulegen, daß das Kündigungsrecht ausgeübt worden wäre, falls die Kommission nicht so eine unnachgiebige Haltung gegenüber der Fusion eingenommen hätte. Das Fehlverhalten der Kommission scheint aber tatsächlich für das Verhalten Schneiders nur eine untergeordnete Bedeutung gehabt zu haben, denn 48 49
EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 200 (Schneider IV). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 205 (Schneider IV).
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die Kündigung erfolgte nicht automatisch mit der gerichtlichen Aufhebung der Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidung. Zudem führt er EuGH zutreffend aus, daß Schneider seine Position durch die gerichtliche Aufhebung der Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidung eigentlich hätte als gestärkt betrachten sollen. Daß Schneider den Vertrag dennoch nicht kündigte, beruhte daher wohl auf anderen Gründen. Dennoch war es für Schneider nicht „unlogisch“, am Vertrag festzuhalten. Zum einen wäre Schneider bei einer Kündigung das Risiko eingegangen, sowohl 180 Mio. EUR an Wendel/KKR zahlen als auch sich möglicherweise später von Legrand trennen zu müssen: Da eine Verletzung von Art. 18 der Fusionsverordnung – auf der die Nichtigerklärung der Unvereinbarkeits- und der Trennungsentscheidung beruhte – auf die Vereinbarkeit der Fusion mit dem Gemeinsamen Markt keine Rückschlüsse zuläßt, hätte die Kommission im wiederaufgenommenen Kontrollverfahren den Fehler vermeiden und so zu einer rechtmäßigen Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung gelangen können. Zum anderen wäre auch bei einer Ausübung des Kündigungsrechts ein wirtschaftlicher Schaden entstanden, nämlich durch die Zahlungspflicht im Umfang von 180 Mio. EUR. Der Ansatz des EuGH könnte deshalb darauf hinauslaufen, daß Schneider zumindest diese Summe als Mindestschaden, der aufgetreten wäre, ersetzt verlangen könnte. Der EuGH sucht diese Folge dadurch zu vermeiden, indem er den Schaden auf die spezifische Vertragsklausel, die im Vertrag im Juli vereinbart wurde, zurückführt.50 Diese Überlegungen würden dann aber gleichfalls für das Kündigungsrecht Schneiders greifen. Der Abschluß des Vertrages im Juli 2002 ist deshalb notwendiger Bestandteil der Kausalverbindung zwischen Fehlverhalten der Kommission, Nichtausübung des Kündigungsrechts und eingetretenem Schaden. Aus dieser Perspektive scheinen die Überlegungen des GA zutreffender zu sein als die des EuGH. Eine entsprechende Debatte über den Vertrag zwischen Schneider und Wendel/KKR hätte vom EuGH verlangt auszuführen, in welchem Umfang fusionierende Unternehmen ihr Verhalten an einer sie betreffenden Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung der Kommission, die gerichtlich angefochten wird, ausrichten dürfen. Stattdessen ordnet der EuGH das Risiko einer – im Ergebnis bestätigten und Bestand habenden – Unvereinbarkeitsentscheidung vollständig den fusionierenden Unternehmen zu. Das Urteil des EuGH scheint deshalb sehr einseitig zu sein. ee) Zuordnung von Verantwortlichkeiten Dennoch ist dem EuGH im Ergebnis zuzustimmen, wenn er im zu beurteilenden Fall die Frage der – psychischen – Kausalität anhand der Risiken beantwortet, die Schneider mit seinem Vorgehen eingegangen ist. Es darf nicht außer Betracht gelassen werden, daß Schneider die Legrand-Anteile ohne vorherige Zustimmung der 50
EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 206 (Schneider IV).
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Kommission erworben hat. Diese Möglichkeit ist zwar in Art. 7 Abs. 2 – früher Art. 7 Abs. 3 – der Fusionsverordnung vorgesehen. Dennoch impliziert ein solches Vorgehen immer und notwendigerweise das typische Risiko einer Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung der Kommission. Daher ist die Frage entscheidend, wer dieses evidente Risiko zu tragen hat. Der EuGH stimmt dem EuG darin zu, das Schneider dieses Risiko zu tragen hat, weicht aber in der dogmatischen Verortung des Risikos vom EuG ab. Das EuG sieht das von Schneider eingegangene Risiko lediglich als Mitverantwortung des Geschädigten bei der Entstehung des Schadens,51 wogegen nach Ansicht des EuGHs mit dem Vorgehen Schneiders die Übernahme des Risikos aller Nachteile verbunden sind, die aus einer Unvereinbarkeitsentscheidung folgen können.52 An diesem Punkt unterstützen Wortlaut und Inhalt der Fusionsverordnung die Ansicht des EuGH. Art. 7 Abs. 2 – früher Art. 7 Abs. 3 – der Fusionsverordnung eröffnet Unternehmen die Möglichkeit, mittels eines öffentlichen Übernahme- oder Tauschgebotes den Zeitraum zwischen dem öffentlichen Gebot und der vollen rechtlichen Wirksamkeit der Fusion zu verkürzen, sofern der Erwerber die mit den Anteilen verbundenen Stimmrechte nicht oder nur in bestimmten Fällen ausübt. Diese Möglichkeit ist eine Ausnahme vom Grundsatz des Art. 7 Abs. 1 der Fusionsverordnung, wonach ein Zusammenschluß nicht vollzogen werden darf, ehe die Kommission entweder dem Zusammenschluß zugestimmt oder innerhalb einer bestimmten Frist darüber nicht entschieden hat. Vor diesem Hintergrund muß die Regelung des Art. 7 Abs. 2 als seine Ausnahme allein vom Vollzugsverbot des Art. 7 Abs. 1 Fusionsverordnung verstanden werden, nicht dagegen als generelle Eröffnung einer Freiheit zum Fusionsvollzug. Denn nach den Regeln der Fusionsverordnung liegt es stets bei der Kommission, eine Fusion als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu erklären – oder innerhalb einer bestimmten Frist über diese Frage nicht entschieden. Schlußendlich wird damit auch klar, daß durch außervertragliche Haftungsansprüche, die nach der Verwerfung von Fusionen geltend gemacht werden können, weder künftige Entscheidungsfindungen der Kommission noch der Haushalt der EU gefährdet werden. Die zusätzlichen Anforderungen, die zur Etablierung einer hinreichend direkten oder unmittelbaren Verbindung zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem erlittenen Schaden nötig sind, können dogmatisch mit dem Ansatz einer adäquaten Kausalität eingefangen werden.53 Adäquate Verursachung bedeutet dabei aber mehr als die schlichte Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten; normative Aspekte müssen stets miterfaßt werden. Insbesondere muß eine umfassende und differenzierte Bewertung der verschiedenen rechtlichen Zuordnung von Risiken und Verantwortlichkeiten erfolgen. 51
EuG, Rs. T-351/03, Slg. 2007, II-2237, Rn. 332 (Schneider III). EuGH, Rs. C-440/07, Slg. 2009, I-641, Rn. 204 (Schneider IV). 53 Detterbeck, AöR 124 (2000), S. 202, 216; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 459. 52
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Der Schneider-Fall ist dafür ein gutes Beispiel: Eine entsprechende Bewertung der Fusionsverordnung zeigt nicht nur, daß Art. 7 der Fusionsverordnung das Risiko einer – korrekten – Unvereinbarkeitsentscheidung im Grundsatz den fusionierenden Unternehmen auferlegt, sondern macht auch deutlich, daß die Ausnahmeregelung für öffentliche Übernahme- oder Tauschgebote diese Zuordnung nicht ändert. Daher besteht auch kein hinreichender Grund zu einer Änderung dieser Risikoverteilung, falls die Kommission im Kontrollverfahren einen Verfahrensverstoß begeht, der nicht inhaltliche Grundlage der späteren Unvereinbarkeitsentscheidung ist, die in der Sache zu Recht ergeht. Das Risiko einer Unvereinbarkeitsentscheidung, die nicht auf einem Verfahrensverstoß der Kommission beruht, haben deshalb die fusionierenden Unternehmen zu tragen, nicht die Kommission. b) Gefahr eines doppelten Haftungsstandards? Der EuGH führte im Jahr 1996 zur Haftung der Mitgliedstaaten für Europarechtsverletzung aus: „Der Schutz der Rechte, die der einzelne aus dem Gemeinschaftsrecht herleitet, kann nämlich nicht unterschiedlich sein, je nachdem, ob die Stelle, die den Schaden verursacht hat, nationalen oder Gemeinschaftscharakter hat.“54 Diese Passage zielte darauf ab, die recht strikten Grundsätze der Haftung der Mitgliedstaaten für Gemeinschaftsrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Im Lichte des Schneider IV-Urteils mag es angezeigt sein, diese Passage noch einmal zu betrachten, aber mit umgekehrter Stoßrichtung. Denn die Schneider IV-Entscheidung könnte auch verstanden werden als ein erster Schritt auf dem Weg zu einem doppelten Standard außervertraglicher Haftung für Gemeinschaftsrechtsverletzungen. Einerseits ist der EuGH sehr auf die Wirksamkeit von Sanktionen für Gemeinschaftsrechtsverletzungen der Mitgliedstaaten bedacht. Nach Ansicht des EuGH ist die Verhütung von gemeinschaftsrechtswidrigem Verhalten in diesem Rahmen ein wichtiges Argument zur Begründung einer strikten Haftung, das sogar private Schadensersatzklagen für von Bürgern begangene Verletzungen des gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsrechts einschließt.55 Im Gegensatz dazu scheint der EuGH mit den Organen der Gemeinschaft – im Schneider-Fall die das Verfahrensrecht verletzende Kommission – nachsichtig zu sein. Da der EuGH sich mit den materialen Aspekten der Fusionskontrolle nur ungern näher auseinandersetzen möchte, ist die Chance einer erfolgreichen Haftungsklage wegen einer von der Kommission begangenen Verletzung von Gemeinschaftsrecht recht gering, uns derartige Klagen erscheinen als eine besondere juristische Form von viel Lärm um Nichts (oder Wenig). Aus einer generellen Perspektive mag diese Kritik bedenkenswert sein. Im Fall Schneider ist das Urteil des EuGH aber zutreffend, weil diese Entscheidung nicht die 54
EuGH, Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 42 (Brasserie du PÞcheur). EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rn. 26 f. (Courage); verb. Rs. C-295/04 bis C298/04, Slg. 2006, I-6619, Rn. 60 (Manfredi). 55
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außervertagliche Haftung der Union für Gemeinschaftsrechtsverletzungen ihrer Organe im allgemeinen behandelt, sondern einen Verstoß der Kommission gegen das Fusionskontrollverfahren. In dieser Konstellation erlegt Art. 7 der Fusionsverordnung das Risiko einer Unvereinbarkeitsentscheidung im Grundsatz den fusionierenden Unternehmen auf, und die Ausnahmeregelung des Art. 7 Abs. 2 für öffentliche Übernahme- oder Tauschgebote ändert diese Zuordnung nicht. Es besteht daher kein Grund zu einer Änderung dieser Risikoverteilung, falls die Kommission im Kontrollverfahren einen Verfahrensverstoß begeht, der nicht inhaltliche Grundlage der späteren Unvereinbarkeitsentscheidung ist, die in der Sache zu Recht ergeht. In dieser Konstellation folgt aus Art. 7 der Fusionsverordnung, daß das Risiko nicht auf einen Verfahrensverstoß der Kommission zulasten der fusionierenden Unternehmen geht und nicht von der Kommission zu tragen ist. VI. Schlußbetrachtung Das EuGH-Urteil Schneider IV hat die Frage geklärt, wer bei Unternehmensfusionen, die ohne vorherige Zustimmung der Kommission erfolgen, welches Risiko zu tragen hat. Bei Verfahrensverstößen, die auf die inhaltlichen Aspekte der Kommissionsentscheidung keine Auswirkungen haben, wird die Kausalität des Verstoßes für spätere Nachteile mit Rücksicht auf Art. 7 der Fusionsverordnung restriktiv bestimmt. Aus Art. 7 der Fusionsverordnung folgt, daß das Risiko einer Unvereinbarkeitsentscheidung die fusionierenden Unternehmen zu tragen haben, und nicht die Kommission. Ein Unternehmen, daß ein öffentliches Tausch- oder Übernahmegebot abgibt, sollte sich daher bewußt sein, daß es alle Nachteile einer späteren – korrekten – Unvereinbarkeits- und Trennungsentscheidung zu tragen hat. Allerdings bleiben im Bereich der außervertraglichen Haftung der EU die einzelnen Kriterien, die bei einer psychischen Kausalität relevant sein können, ein Stück weit ungeklärt, obwohl der Fall eine weitere Konkretisierung erlaubt hätte. Zudem sollte der EuGH künftig beachten, keinen doppelten Haftungsstandard für Gemeinschaftsrechtsverletzungen zu etablieren, bei dem die Mitgliedstaaten deutlich strikter haften als die EU. Insgesamt verdient das Schneider IV-Urteil des EuGH aber Zustimmung, da es ein Verständnis von Kausalität zugrunde legt, das auf der normativen Zuordnung von Risiken56 und Verantwortlichkeiten beruht – ein vorzugswürdiges Konzept nicht nur, aber auch für das Europarecht.
56 Zur Entwicklung von Risikosphären mittels des Kriteriums der Zurechnung auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 40. Aufl., 2009, Art. 288 EGV Rn. 107 m.N.
Die Präklusionsregelung des § 47 Abs. 2a VwGO bei der Normenkontrolle Von Annette Guckelberger* Mit seiner überaus großen Vielzahl von Veröffentlichungen zum Verwaltungsprozessrecht hat der Jubilar Wolf-Rüdiger Schenke dieses Rechtsgebiet erheblich geprägt. Beispielsweise hat sich das BVerwG in Einklang mit der zuvor von ihm vertretenen Ansicht dafür ausgesprochen, dass Flächennutzungspläne mit Darstellungen i. S. d. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB analog § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO normenkontrollfähig sind.1 Da der Verwaltungsrechtsschutz einen Schwerpunkt des wissenschaftlichen Oeuvres von Schenke bildet, tut man sich schwer, ein Thema ausfindig zu machen, das noch nicht bis ins letzte Detail erarbeitet ist.2 Am ehesten kommt noch der durch das Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung eingefügte § 47 Abs. 2a VwGO3 in Betracht, der mit Wirkung zum 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist. Bekanntermaßen ziehen neue Rechtsnormen oft neue Rechtsprobleme nach sich.4 Da sich § 47 Abs. 2a VwGO erst auf nach seinem Inkrafttreten erlassene Bebauungspläne sowie Satzungen nach § 34 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, 3 oder § 35 Abs. 6 BauGB bezieht, verwundert es nicht, dass diese Norm zunächst einmal keine besondere Bedeutung erlangte. Erst jüngst sind dazu einige instruktive Gerichtsentscheidungen ergangen. Dies lässt einen Blick auf die neu eingefügte Sachurteilsvoraussetzung der abstrakten Normenkontrolle reizvoll erscheinen. I. Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des § 47 Abs. 2a VwGO Mit dem Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung wollte man u. a. die Flächeninanspruchnahme vermindern und für diesbezügli* Die Autorin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes. 1 Siehe Schenke, NVwZ 2007, 134 (140 ff.) sowie ders., Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), 2009, S. 181 f.; BVerwGE 128, 382 (384 ff.); BVerwG, BRS 73 Nr. 54. 2 Siehe Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009; speziell zur abstrakten Normenkontrolle Schenke, NJW 1978, 671 ff.; ders., DVBl. 1979, 169 ff.; VerwArch 90 (1999), 301 ff.; GS für Ferdinand O. Kopp, 2007, S. 114 ff. 3 BGBl. 2006 I S. 3316 ff. 4 So Schübel-Pfister, JuS 2010, 976 (979 f.).
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che Vorhaben das Planungsrecht vereinfachen sowie beschleunigen.5 Aus diesem Grund wurde die Einführung einer Regelung befürwortet, wonach ein Normenkontrollantrag in Bezug auf Bebauungspläne unzulässig sein soll, wenn der Betroffene die Gelegenheit nicht nutzt, seine Einwände gegen den Plan und dessen Rechtmäßigkeit bereits während des dafür vorgesehenen Beteiligungsverfahrens bei der Planaufstellung vorzubringen.6 Der ursprünglich anvisierte § 47 Abs. 2a VwGO lautete: Der Normenkontrollantrag einer natürlichen oder juristischen Person, der einen Bebauungsplan zum Gegenstand hat, ist unzulässig, soweit der Antragsteller Einwendungen erhebt, die er im Rahmen der öffentlichen Auslegung oder der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit nicht oder verspätet geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können, wenn hierauf bereits im Rahmen der Beteiligung hingewiesen worden ist.7 Die heute maßgebliche Gestalt des § 47 Abs. 2a BauGB geht auf die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zurück.8 Danach ist der Normenkontrollantrag einer natürlichen oder juristischen Person, der einen Bebauungsplan oder eine Satzung nach § 34 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 und 3 oder § 35 Abs. 6 BauGB betrifft, unzulässig, wenn die den Antrag stellende Person nur Einwendungen erhebt, die sie im Rahmen der öffentlichen Auslegung oder im Rahmen der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit nicht oder nur verspätet vorgebracht hat, aber hätte geltend machen können, und auf diese Rechtsfolge bei der Beteiligung hingewiesen wurde. Während mit der Einbeziehung der Satzungen nach § 34 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 und 3 sowie § 35 Abs. 6 BauGB in die Präklusionsregelung eine Anregung des Bundesrates aufgegriffen wurde, sollte mit der weiteren Änderung das Gewollte präziser zum Ausdruck gebracht werden, „nämlich dass der Antrag unzulässig ist, wenn der Antragsteller ausschließlich Einwendungen geltend macht, die er im Rahmen der Beteiligung nicht oder verspätet geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können.“9 Diese Modifizierung des § 47 Abs. 2a VwGO hat zu einer erheblichen Entschärfung der Neuregelung beigetragen. Mit den Worten von Gronemeyer wäre nach der ursprünglichen Fassung des Regierungsentwurfs die Rechtsschutzmöglichkeit der Normenkontrolle gegen Bebauungspläne faktisch auf eine Frist von einem Monat verkürzt10 und nach Ziekow weitgehend versubjektiviert worden.11 Die neue Präklusionsvorschrift zur abstrakten Normenkontrolle ist gesetzgeberisch missglückt. Denn man hat es unterlassen, die in § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB geregelte Hinweispflicht auf die Unzulässigkeit eines Normenkontrollantrags an den im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens modifizierten § 47 Abs. 2a VwGO anzupassen. Dort heißt es nach wie vor, bei der Bekanntmachung der Auslegung des Be5
BT-Drucks. 16/2496, S. 9. BT-Drucks. 16/2496, S. 11. 7 BT-Drucks. 16/2496, S. 8. 8 BT-Drucks. 16/3308, S. 13. 9 BT-Drucks. 16/3308, S. 20. 10 Gronemeyer, BauR 2007, 815 (824). 11 Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 47 Rn. 257b; ders., BauR 2007, 1169 (1174). 6
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bauungsplans sei darauf hinzuweisen, dass ein Antrag nach § 47 VwGO unzulässig ist, soweit mit ihm Einwendungen geltend gemacht werden, die vom Antragsteller im Rahmen der Auslegung nicht oder verspätet geltend gemacht wurden, aber hätten geltend gemacht werden können. Weil sich die Hinweispflicht und die in § 47 Abs. 2a VwGO neu eingeführte Zulässigkeitshürde für die abstrakte Normenkontrolle nicht decken, war vorprogrammiert, dass dieser Punkt die höchstgerichtliche Rechtsprechung beschäftigen würde. Da im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung während der Planauslegung jeder „Stellungnahmen“ zu den Entwürfen der Bauleitplanung für die Dauer eines Monats abgeben kann, hätte man sich bei der Ausgestaltung der Hinweispflicht auch an dieser Terminologie orientieren können.12 „Stellungnahmen“ gehen über den herkömmlichen Einwendungsbegriff hinaus, weil sie auch kreative und konstruktive Anregungen beinhalten können.13 Da die Antragsbefugnis natürlicher und juristischer Personen bei der Normenkontrolle nach § 47 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 VwGO mit der Geltendmachung einer Rechtsverletzung in Verbindung gebracht wird, ist die Verengung der Hinweispflicht auf „Einwendungen“ letztlich nicht zu beanstanden. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 47 Abs. 2a VwGO wird mit der neu eingeführten Präklusion in Bezug auf die Normenkontrolle im Ergebnis „einer bereits im EAG Bau angelegten europarechtlich geprägten und auch in anderen Rechtsbereichen stattfindenden Entwicklung Rechnung getragen, die darauf zielt, die Beteiligungsrechte der Bürger im Verwaltungsverfahren zu betonen und zugleich den Rechtsschutz im Interesse der Investitions- und Rechtssicherheit unter Wahrung seiner Effizienz auf ein sachgerechtes Maß zu orientieren.“14 Diese Begründung ist insoweit ungenau, als es sich beim Erlass eines Bebauungsplans und den anderen in § 47 Abs. 2a VwGO genannten Satzungen nicht um herkömmliche, auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtete Verwaltungsverfahren i. S. d. § 9 VwVfG,15 sondern um Rechtsetzungsverfahren handelt. Im Unterschied zu rechtswidrigen Verwaltungsakten, die rechtswirksam werden und bestandskräftig werden können, sind fehlerhafte Rechtsnormen mangels abweichender Regelungen (z. B. § 214 BauGB) nichtig.16 Indem zu spät vorgetragene Einwendungen, etwa gegen einen Bebauungsplan, zur Unzulässigkeit eines Normenkontrollantrags führen können, sollen die von dem Entwurf der ausgelegten baurechtlichen Satzung Betroffenen dazu veranlasst werden, ihre Einwendungen bereits während des Aufstellungsverfahrens geltend zu machen, selbst wenn es dabei um private Belange gehen mag, welche für die planende Gemeinde auch ohne Einwendung erkennbar wären.17 Mit dem VGH München verstärkt die Präklusionsregel die Bedeutung des Planaufstellungsverfahrens für die Betroffenen, 12
Gronemeyer, BauR 2007, 815 (824). Guckelberger, NuR 2010, 835 (839); s. auch Krautzberger, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 94. Erg.-Lfg. 2010, § 3 Rn. 52. 14 BT-Drucks. 16/2496, S. 11. 15 So die enge Definition des Verwaltungsverfahrens in § 9 VwVfG. 16 BVerwG, NVwZ 2006, 85 (86); Schmitt/Ehlers, LKV 2008, 497 (499). 17 VGH München, DVBl. 2010, 387 f. 13
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erhöht so den Druck, Einwendungen vorzutragen, und beugt dadurch etwaigen Planungsmängeln vor. Je nach Lage des Falles kann so Streitigkeiten über die Erkennbarkeit eines privaten Belangs vorgebeugt werden.18 Nach den Gesetzesmaterialien bezweckt die Regelung, die jeweiligen Interessen frühzeitig dem Abwägungsmaterial zuzuführen. Es würde der grundsätzlichen Aufgabenverteilung zwischen Plangeber und Verwaltungsgerichten widersprechen, „wenn sachliche Einwendungen ohne Not erst im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht würden.“19 II. Die Bedeutung des § 47 Abs. 2a VwGO Mit § 47 Abs. 2a VwGO wurde eine neue Sachurteilsvoraussetzung für die abstrakte Normenkontrolle eingeführt. Dies folgt aus ihrer Verortung in der Verwaltungsgerichtsordnung20 sowie der Anordnung, dass bei Einschlägigkeit des § 47 Abs. 2a VwGO ein Normenkontrollantrag „unzulässig“ ist. Die neu eingeführte Regelung bezieht sich vornehmlich auf die Hauptsacheverfahren, in denen das Oberverwaltungsgericht über die Gültigkeit von Satzungen nach dem BauGB befinden soll. Eine Auswertung der Gerichtsentscheidungen zeigt aber, dass § 47 Abs. 2a VwGO bei Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 47 Abs. 6 VwGO) ebenfalls Bedeutung erlangen kann.21 Denn ein Großteil der Gerichte ist – wie Schenke – der Ansicht, dass bei deren Prüfung auch die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache zu berücksichtigen sind, soweit sie sich bereits übersehen lassen.22 Da der einstweilige Rechtsschutz den Hauptsacherechtsschutz komplementieren soll, würde es befremdlich anmuten, wenn eine Person, deren Normenkontrollantrag offensichtlich an der Zulässigkeitshürde des § 47 Abs. 2a VwGO scheitern würde, eine einstweilige Anordnung auf Außervollzugsetzung der Rechtsvorschrift erwirken könnte. 1. Tatbestandsvoraussetzungen § 47 Abs. 2a VwGO bezieht sich auf den Antrag einer natürlichen oder juristischen Person. Da die Norm systematisch an die vorhergehende Regelung in Absatz 2 anschließt, ergibt eine Gesamtschau, dass sie sich nur auf Normenkontrollanträge natürlicher und juristischer Personen bezieht, die eine Rechtsverletzung geltend machen. Die Neuregelung erfasst nicht Anträge von Behörden i. S. d. § 47 Abs. 2 S. 1
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VGH München, DVBl. 2010, 387 f. BT-Drucks. 16/2496, S. 18; BVerwG, DVBl. 2010, 779 f. 20 s. dazu Wolff, in: ders./Decker, Studienkommentar VwVfG/VwGO, 2. Aufl. 2007, § 47 Rn. 49; allgemein dazu Solveen, Die materielle Präklusion im Fachplanungsrecht, 1998, S. 58. 21 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2009, 830 f.; OVG Münster, NWVBl. 2009, 145 f. 22 Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 47 Rn. 152 f.; s. auch OVG Koblenz, BauR 2010, 1195 f.; OVG Schleswig, NordÖR 2006, 359 f.; VGH München, NVwZ 2010, 268 f.; s. dazu, dass die Dringlichkeitsanforderungen nicht mit den Erfolgsaussichten in der Hauptsache gleichgesetzt werden dürfen, VGH München, NVwZ-RR 2010, 44 f. 19
Die Präklusionsregelung des § 47 Abs. 2a VwGO bei der Normenkontrolle
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Alt. 2 VwGO.23 Die Präklusionsnorm kommt auch nicht bei allen nach § 47 Abs. 1 VwGO normenkontrollfähigen Rechtsvorschriften zur Anwendung. Sie beschränkt sich vielmehr auf bestimmte baurechtliche Rechtsvorschriften, nämlich auf Anträge, die einen Bebauungsplan oder eine Innenbereichssatzung nach § 34 Abs. 4 S. 1 Nr. 2, 3 BauGB24 oder Außenbereichssatzungen gem. § 35 Abs. 6 BauGB25 zum Gegenstand haben. Dass § 47 Abs. 2a VwGO nicht für die sog. Klarstellungssatzung i. S. d. § 34 Abs. 4 Nr. 1 BauGB oder den Erlass einer Veränderungssperre nach §§ 14 ff. BauGB Geltung beansprucht, erklärt sich aus einem Blick auf die weiteren Merkmale der Präklusionsnorm. Denn bei den soeben genannten baurechtlichen Satzungen findet keine Öffentlichkeitsbeteiligung statt.26 Sodann ist zu prüfen, welche Einwendungen der Antragsteller in seinem jetzigen Normenkontrollantrag gegen die Satzung erhebt und wie er sich während des Rechtsetzungsverfahrens verhalten hat. Macht er in seinem Normenkontrollantrag nur Einwendungen geltend, die er im Rahmen der öffentlichen Auslegung bzw. der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit nicht oder verspätet geltend gemacht hat? Sollte dies der Fall sein, wird die in § 47 Abs. 2a VwGO vorgesehene Rechtsfolge lediglich ausgelöst, wenn auf diese Wirkung im Rahmen der Beteiligung hingewiesen worden ist. Ohne einen derartigen Hinweis entfaltet § 47 Abs. 2a VwGO keine Wirkung.27 Weil nicht erst im Normenkontrollverfahren, sondern bereits während des dafür vorgesehenen Verfahrensschritts im Normsetzungsverfahren Einwendungen gegen die jeweilige Satzung erhoben werden sollen, ist es geradezu geboten, dass die Präklusionsandrohung die Bürger auch erreicht, indem die öffentliche Bekanntmachung auf die Konsequenzen etwaiger Nachlässigkeiten, nämlich des Unterlassens bzw. zu späten Geltendmachens von Einwendungen während der Planauslegung bzw. Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit, aufmerksam macht.28 Der in § 47 Abs. 2a VwGO vorgesehene Hinweis kann nicht durch den Hinweis nach § 4a Abs. 6 BauGB ersetzt werden, zumal dieser den Ausschluss der Einwendungen an andere Voraussetzungen knüpft.29 Da § 47 Abs. 2a VwGO auf die im Rahmen der öffentlichen Auslegung nach § 3 Abs. 2 BauGB oder der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit nach § 13 Abs. 2 23
s. auch OVG Berlin-Brandenburg, LKV 2009, 469 (470). s. näher zu diesen Satzungen Guckelberger, in: Gröpl/dies./Wohlfarth, Landesrecht Saarland, 2009, § 5 Rn. 69. 25 s. dazu Guckelberger (Fußn. 24), § 5 Rn. 84. 26 s. zur Veränderungssperre Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, 94. Erg.Lfg. 2010, § 16 Rn. 16; zur Klarstellungssatzung Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2009, § 34 Rn. 75. 27 BT-Drucks. 16/2496, S. 18; BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09; Battis/Krautzberger/Löhr, NVwZ 2007, 121 (128); Decker, JA 2010, 653 (656). 28 s. allgemein zum Hinweis auf die prozessualen Folgen bei Präklusionsnormen Oexle, Das Rechtsinstitut der materiellen Präklusion in den Zulassungsverfahren des Umwelt- und Baurechts, 2001, S. 117 f. 29 VGH München, Urt. v. 28.10.2010 – 15 N 09.1351. 24
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Nr. 2, § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB geltend zu machenden Einwendungen Bezug nimmt, kann nunmehr bereits innerhalb der Zulässigkeitsprüfung der Normenkontrolle auf die ordnungsgemäße Durchführung dieser Verfahrensschritte einzugehen sein. Nur wenn z. B. während der förmlichen Öffentlichkeitsbeteiligung tatsächlich für die Dauer eines Monats Gelegenheit zur Stellungnahme bestanden hat (§ 3 Abs. 2 S. 1 BauGB), kann dem Antragsteller vorgehalten werden, er hätte seine Einwendungen gegen den Bebauungsplan nicht rechtzeitig geltend gemacht. In einzelnen OVG-Entscheidungen wird deshalb schon bei der Sachurteilsvoraussetzung des § 47 Abs. 2a BauGB thematisiert, ob z. B. die nach § 3 Abs. 2 S. 2 BauGB notwendige Bekanntmachung mit Anstoßwirkung und die Auslegung des Bebauungsplans in korrekter Weise erfolgten.30 Um nicht „ohne Not“ die an sich zusammenhängende Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans zwischen der Zulässigkeit und Begründetheit der Normenkontrolle „aufspalten“ zu müssen, liegt es nahe, in Konstellationen, in denen die Einschlägigkeit des § 47 Abs. 2a VwGO offensichtlich verneint werden kann, die ordnungsgemäße Durchführung des Beteiligungsverfahrens nach wie vor schwerpunktmäßig in der Begründetheit des Normenkontrollantrags zu erörtern. Ausweislich des Gesetzestexts gilt § 47 Abs. 2a VwGO nur für solche Einwendungen, die der Antragsteller während der öffentlichen Auslegung bzw. Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit „hätte geltend machen können.“ Soweit eine Person also Einwendungen erhebt, die auf erst nach Fristablauf entstandenen Umständen basieren, dürfen diese nachträglich erhoben werden.31 Unzureichend ist es, wenn sich der Antragsteller später darauf beruft, er würde nun gewisse Umstände, die bereits während der Phase der Auslegung bzw. Beteiligung zutage getreten sind, anders einschätzen. Mit bemerkenswerter Schärfe entschied das OVG Lüneburg, dass es bei § 47 Abs. 2a VwGO nicht darauf ankomme, was dem Betroffenen zu dieser Zeit ohne besondere Anspannung seiner geistigen Fähigkeiten eingefallen sein mag. Vielmehr werde von ihm verlangt, dass er die fragliche Planung zum Anlass nimmt, seine Situation und Betroffenheit sorgfältig zu überdenken sowie diesbezügliche Einwendungen bereits während des Beteiligungsverfahrens zu artikulieren.32 Die Rechtsprechung musste sich bislang noch nicht damit befassen, wie mit Einwendungen von Personen umzugehen ist, die erst nach Durchführung der Beteiligung ein Grundstück im Geltungsbereich der jeweiligen Satzung erworben haben. Muss sich in dieser Situation der Erwerber des Grundstücks die Untätigkeit seines Vorgängers entgegenhalten lassen? Richtigerweise wird man dies wohl verneinen müssen.33 30 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3. 5. 2010 – OVG 2 A 18.08; VGH München, DVBl 2010, 387 (388); s. auch BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09; Wolff (Fußn. 20), § 47 Rn. 49. 31 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3. 5. 2010 – OVG 2 A 18.08. 32 OVG Lüneburg, BRS 74 Nr. 52. 33 Wie hier Erbguth, Öffentliches Baurecht, 5. Aufl. 2009, § 5 Rn. 30; Unruh, in: Fehling/ Kastner, Hk-VerwR, 2. Aufl. 2010, § 47 VwGO Rn. 90; Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257 f.; ders., in: Merten, Justizreform und Rechtsstaatlichkeit, 2009, S. 47 (59); a. A. wohl Wilke, in: Quaas/Zuck, Prozesse in Verwaltungssachen, 2008, § 5 Rn. 134.
Die Präklusionsregelung des § 47 Abs. 2a VwGO bei der Normenkontrolle
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Da bei der Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 3 Abs. 2 BauGB jedermann stellungnahmeberechtigt ist, passt es nicht, dass sich eine Person im Wege der Rechtsnachfolge das Verhalten ihres Vorgängers zurechnen lassen muss. Dafür spricht auch der Wortlaut des § 47 Abs. 2a VwGO, wonach es darauf ankommt, ob die den Antrag stellende Person ihre Einwendung bereits früher hätte geltend machen können.34 Einer Person, die erst nach Abschluss der Auslegung des Entwurfs eines Bebauungsplans ein Grundstück erworben hat, kann regelmäßig keine Verletzung etwaiger Mitwirkungsobliegenheiten im Planaufstellungsverfahren zur Last gelegt werden. Zwar ist im Rahmen der förmlichen Öffentlichkeitsbeteiligung bei Bebauungsplänen nach § 3 Abs. 2 BauGB jeder stellungnahmeberechtigt.35 Solange jemand aber noch kein Grundstückseigentum erworben hat, befindet sich diese Person in einer ganz anderen (Betroffenheits-)Situation. Aus diesem Grund wird sie sich möglicherweise nicht zu einem so ausgeprägten Engagement bei der Öffentlichkeitsbeteiligung veranlasst sehen und wegen einer noch nicht abzusehenden Antragsbefugnis für eine etwaige abstrakte Normenkontrolle der Warnfunktion des Hinweises auf die Rechtsfolgen des § 47 Abs. 2a VwGO nicht die nötige Bedeutung beimessen. Im Unterschied zu einem planfestzustellenden konkreten Vorhaben handelt es sich bei den hier zur Debatte stehenden Satzungen um Rechtsvorschriften, die anders als Planfeststellungsbeschlüsse nicht bestandskräftig werden und bei denen Fehler mangels Sonderregelung zur Ungültigkeit führen. Da § 47 Abs. 2a VwGO eine eigenständige Regelung enthält und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen, wie sogleich zu zeigen sein wird, eher schwach sind, lässt sich damit eine weniger strikte Handhabung dieser Sachurteilsvoraussetzung vereinbaren. 2. Rechtsfolgen des § 47 Abs. 2a VwGO Werden in einem Normenkontrollantrag nur Einwendungen geltend gemacht, die der Antragsteller bereits im Rahmen der Beteiligung nach § 3 Abs. 2 BauGB, § 13 Abs. 2 Nr. 2 bzw. § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB hätte geltend machen können, ist sein Normenkontrollantrag unzulässig. Deshalb wird durchaus zutreffend davon gesprochen, dass die nicht rechtzeitige Wahrnehmung der Mitwirkungsobliegenheit zu einer prozessualen Präklusion führt.36 Wie man gut erkennen kann, beschränken sich die prozessualen Folgen der nicht (rechtzeitig) geltend gemachten Einwendungen auf den Rechtsbehelf der abstrakten Normenkontrolle. Klagt die im Normenkontrollverfahren präkludierte Person z. B. auf Erteilung bzw. Aufhebung einer Baugenehmigung, kann sie sich sehr wohl auf die Unwirksamkeit des Bebauungsplans berufen,
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Unruh (Fußn. 33), § 47 VwGO Rn. 90. Krautzberger (Fußn. 13), § 3 Rn. 53. 36 BVerwG, BauR 2007, 1209 (1211); VGH München, DVBl. 2010, 387 (389); Bienek, SächsVBl. 2007, 49 (51); Blechschmidt, ZfBR 2007, 120 (125); Erbguth (Fußn. 33), § 5 Rn. 30; Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 47 Rn. 52a. 35
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dessen Gültigkeit die Verwaltungsgerichte sodann inzident zu prüfen haben.37 Die einem Gerichtsverfahren vorgelagerten Folgen der nicht rechtzeitigen Beteiligung für die mit der Normsetzung betraute Gemeinde werden in § 4a Abs. 6 BauGB geregelt. Diese „kann“ derartige Stellungnahmen bei der Beschlussfassung über den Bauleitplan unberücksichtigt lassen, sofern sie deren Inhalt nicht kannte bzw. nicht hätte kennen müssen und deren Inhalt für die Rechtmäßigkeit des Bauleitplans nicht von Bedeutung ist.38 Für § 47 Abs. 2a VwGO selbst ist allerdings unerheblich, wie die Gemeinde mit den Stellungnahmen umgegangen ist. Im Übrigen wird die an § 47 Abs. 2a VwGO anknüpfende Rechtsfolge je nach Autor als „formelle“,39 „ausschließlich förmliche“40 oder „materielle“ Präklusion41 bezeichnet. Dieser „Begriffswirrwarr“ geht darauf zurück, dass man sich bis heute nicht auf eine einheitliche Terminologie verständigen konnte, wann eine Präklusion formeller bzw. materieller Natur ist. Geht man davon aus, dass bei der formellen Präklusion das Recht zur Geltendmachung von Anregungen nur für das Verwaltungsbzw. hier das Rechtsetzungsverfahren ausgeschlossen wird, während bei einer materiellen Präklusion der Einwendungsausschluss auch anschließende Gerichtsverfahren erfasst,42 kann man durchaus davon sprechen, dass Nachlässigkeiten bei den Mitwirkungsobliegenheiten nach § 3 Abs. 2, § 13 Abs. 2 Nr. 2, § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu einer auf die abstrakte Normenkontrolle „beschränkten“ materiellen Präklusion führen.43 Wird demgegenüber darauf abgestellt, ob die Präklusionsnorm zu einem Untergang der materiell-rechtlichen Rechtspositionen führt,44 ist eine solche bei § 47 Abs. 2a VwGO zu verneinen, da sich der Regelungsgehalt der Norm auf die Unzulässigkeit des Normenkontrollantrags beschränkt. Dies bestätigt der Vergleich zu solchen Rechtsvorschriften, in denen, wie bei § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG, § 10 Abs. 3 S. 5 BImSchG, explizit bestimmt wird, dass alle Einwendungen „ausgeschlossen“ sind.45 Völlig zu Recht kommt Ziekow zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber wegen des Charakters der Bauleitplanung als Gesamtplanung mit guten Grün37
Decker, JA 2010, 653 (656); Ewer, NJW 2007, 3171 (3172); Spannowsky/Uechtritz, BeckÏscher Online-Kommentar Baurecht, Stand: 15. 9. 2010, § 4a Rn. 30 („Prozesspräklusion“); Unruh (Fußn. 33), § 47 VwGO Rn. 90. 38 s. zu den Unterschieden zu § 73 VwVfG Spindler, Geltungsdauer planfeststellungsersetzender Bebauungspläne, 2009, S. 52 ff. 39 von Albedyll, in: Bader, VwGO, 4. Aufl. 2007, § 47 Rn. 94.2; Ewer, NJW 2007, 3171 (3172); Wilke (Fußn. 33), § 5 Rn. 136. 40 Unruh (Fußn. 33), § 47 VwGO Rn. 90; „strikte formelle Präklusion“ bei Stüer, Der Bebauungsplan, 4. Aufl. 2009, Rn. 1439. 41 Ferner, in: ders./Kröninger/Aschke, BauGB, 2. Aufl. 2008, § 3 Rn. 5; Spindler (Fußn. 38), S. 54. 42 Siehe dazu Oexle (Fußn. 28), S. 15, 21; Solveen (Fußn. 20), S. 14 f. 43 So Krautzberger (Fußn. 13), § 4a Rn. 61, 63; W. Schrödter, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 4a Rn. 35. 44 So Wolff (Fußn. 20), § 47 Rn. 48; s. auch Röhl/Ladenburger, Die materielle Präklusion im raumbezogenen Verwaltungsrecht, 1997, S. 12 f. 45 von Albedyll (Fußn. 39), § 47 Rn. 94.2; Stüer (Fußn. 40), Rn. 1442.
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den vom scharfen Schwert der materiellen Präklusion abgesehen hat.46 Auch die Unabhängige Expertenkommission „Novellierung des Baugesetzbuchs“ betonte, dass Bauleitpläne anders als Planfeststellungsbeschlüsse keine mit Konzentrationswirkung ausgestatteten abschließenden Entscheidungen über ein in allen Einzelheiten bekanntes und „durchgeplantes“ Vorhaben enthalten, sondern lediglich einen Rahmen für erst noch konkret zu projektierende Investitionen setzen.47 In Anlehnung an die Gesetzesmaterialien bewertet das Schrifttum § 47 Abs. 2a VwGO zum Teil als Konkretisierung des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses.48 Andere sehen die Norm dagegen in engem Zusammenhang mit der Antragsbefugnis des § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO,49 wofür nicht zuletzt die systematische Stellung des Absatzes 2a spricht.50 Wegen der einfachgesetzlichen Ausgestaltung der Sachurteilsvoraussetzung ergeben sich daraus keine rechtlichen Konsequenzen.51 Wichtig ist, dass ein Normenkontrollantrag lediglich an der Zulässigkeitshürde des § 47 Abs. 2a VwGO scheitert, wenn in ihm „nur“, d. h. ausschließlich Einwendungen geltend gemacht werden, die der Antragsteller bereits im Beteiligungsverfahren hätte geltend machen können, aber dort nicht (rechtzeitig) erhoben hat. Hat der Antragsteller im Rahmen der Auslegung nach § 3 Abs. 2 BauGB oder der Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit nach § 13 Abs. 2 Nr. 2, § 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB nur eine einzige Einwendung rechtzeitig geltend gemacht, ist dem Erfordernis des § 47 Abs. 2a VwGO genügt. Im Übrigen ist der Antragsteller nicht gehindert, sich in diesem Rechtsschutzverfahren auf weitere Einwendungen zu berufen, die er während des Beteiligungsverfahrens nicht zur Sprache gebracht hat.52 § 47 Abs. 2a VwGO führt also zu keiner Teilpräklusion bzw. Teilunzulässigkeit einzelner Einwendungen. Nach Darlegung des Vertreters des Bundesinteresses hätte eine solche Ausgestaltung zu prozessrechtlichen Problemen führen können, weil z. B. das Verhältnis eines teilweise unzulässigen Normenkontrollantrags zur Qualität der Normenkontrolle als Verfahren der objektiven Rechtskontrolle unklar geblieben wäre.53 Aufgrund der Modifizierung des § 47 Abs. 2a VwGO während des Gesetzgebungsverfahrens ist somit der Normen46
Ziekow, BauR 2007, 1169 (1175). Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Hrsg.), Novellierung des Baugesetzbuchs, 2002, Rn. 132. 48 BT-Drucks. 16/2496, S. 18; BVerwG, NVwZ 2010, 782; Giesberts, in: Posser/Wolff, BeckÏscher Online-Kommentar VwGO, Stand: 1. 10. 2010, § 47 Rn. 57a; Schmidt (Fußn. 36), § 47 Rn. 52a; Schübel-Pfister, JuS 2010, 976 (980). 49 Ehlers, in: ders./Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 27 Rn. 41; Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257c; ders., BauR 2007, 1169 (1175); wohl auch Schenke (Fußn. 2), Rn. 895. 50 Unruh (Fußn. 33), § 47 VwGO Rn. 89. 51 Ehlers (Fußn. 49), § 27 Rn. 41. 52 BVerwG, NVwZ 2010, 782 (784); Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09; OVG Münster, NWVBl. 2009, 145; VGH München, DVBl. 2010, 387 (389); Schmidt (Fußn. 36), § 47 Rn. 52a. 53 Wiedergegeben in BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09; s. auch Bienek, SächsVBl. 2007, 49 (52). 47
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kontrollantrag entweder insgesamt oder gar nicht unzulässig.54 Im zuletzt genannten Fall befassen sich die Oberverwaltungsgerichte bei der Begründetheitsprüfung bloß mit der (Un-)Gültigkeit der jeweiligen Norm, unabhängig davon, ob der Antragsteller durch sie tatsächlich in einem subjektiven Recht verletzt wird oder entsprechende Einwendungen vorgetragen hat.55 III. Einzelprobleme zu § 47 Abs. 2a VwGO § 47 Abs. 2a VwGO wirft eine Reihe von Einzelproblemen auf. Unklarheiten sind zum einen beim sachlichen Anwendungsbereich der Norm, aber auch bei der Frage zu verzeichnen, inwieweit sich der Antragsteller auf frühere Einwendungen oder solche von anderen Personen im Normenkontrollverfahren berufen kann. 1. Anwendbarkeit des § 47 Abs. 2a VwGO bei Flächennutzungsplänen? Da im Zeitpunkt des Erlasses des § 47 Abs. 2a VwGO die Normenkontrollfähigkeit von Flächennutzungsplänen i. S. d. § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB umstritten war, hat man sich über eine Einbeziehung dieser Bauleitpläne in die neu eingeführte prozessuale Präklusionsnorm keine Gedanken gemacht.56 Nachdem das BVerwG diese Frage zwischenzeitlich bejaht hat, stellt sich das Folgeproblem, ob § 47 Abs. 2a VwGO analog bei Flächennutzungsplänen anwendbar ist. Jüngst stellte sich das OVG Schleswig auf den Standpunkt, dass in Konsequenz der analogen Anwendung des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auf Flächennutzungspläne auch Absatz 2a analog anzuwenden sei, sofern eine Bürgerbeteiligung nach den dort genannten Vorschriften stattgefunden habe und auf diese Folge hingewiesen worden sei.57 Demgegenüber sprechen sich Teile des Schrifttums unter Berufung auf den Gesetzeswortlaut gegen eine solche Analogie aus.58 Denn während bei der analogen Anwendung des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auf bestimmte Flächennutzungspläne die Rechtsstellung des Antragstellers verbessert wird, ist die Präklusionsvorschrift des § 47 Abs. 2a VwGO belastender Natur.
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VGH München, DVBl. 2010, 387 (389). Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 47 Rn. 75a; Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257e; ders., BauR 2007, 1169 (1174); ders. (Fußn. 33), S. 57, 59. 56 Wolff (Fußn. 20), § 47 Rn. 49; bei der in § 3 Abs. 2 BauGB geregelten Hinweispflicht wurde die Normenkontrollfähigkeit eines Flächennutzungsplans verneint, s. BT-Drucks. 16/ 2496, S. 11. 57 OVG Schleswig, NordÖR 2010, 312 (313); wohl auch VGH München, Urt. v. 28. 10. 2010 – 15 N 09.1351; s. auch Stüer, BauR 2007, 1495 (1502 f.); Unruh (Fußn. 33), § 47 VwGO Rn. 89; Wilke (Fußn. 33), § 5 Rn. 137. 58 Erbguth (Fußn. 33), § 5 Rn. 30; Wolff (Fußn. 20), § 47 Rn. 49; Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257a. 55
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Da Flächennutzungspläne mit den Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen,59 muss sich die Zurückführung einer an und für sich bestehenden Rechtsschutzmöglichkeit für die Betroffenen erkennbar aus dem Gesetz ergeben. In ständiger Rechtsprechung misst das Bundesverfassungsgericht Präklusionsvorschriften im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG einen strengen Ausnahmecharakter bei. Aus Gründen der Rechtsklarheit steht es ihrer entsprechenden Anwendung grundsätzlich ablehnend gegenüber.60 Da nicht alle Darstellungen im Flächennutzungsplan, sondern nur solche mit den Rechtswirkungen des § 35 Abs. 3 S. 3 BauGB normenkontrollfähig sind, macht es durchaus Sinn, wenn sich die momentan in § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB geregelte Hinweispflicht auf die prozessuale Präklusion auf Bebauungspläne beschränkt, die generell der abstrakten Normenkontrolle unterliegen. De lege ferenda sollte man eine Neuformulierung des § 47 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2a VwGO in Erwägung ziehen. 2. Relativierung des Einwendungsausschlusses In manchen Gerichtsverfahren, in denen ein Normenkontrollantrag an und für sich an der Zulässigkeitshürde des § 47 Abs. 2a VwGO scheitern müsste, wurde von den Antragstellern versucht, die angeordnete Präklusionswirkung argumentativ zu relativieren. Unter anderem wurde geltend gemacht, der infrage stehende Belang und seine Abwägungserheblichkeit seien für die planende Gemeinde offensichtlich gewesen, so dass die Geltendmachung einer Einwendung überflüssig gewesen sei. Dem wurde zu Recht entgegengehalten, dass sich eine solche Einschränkung weder mit dem Wortlaut noch dem Sinn und Zweck des § 47 Abs. 2a VwGO vereinbaren lässt.61 Nach dem Gesetzestext des § 47 Abs. 2a VwGO ist allein entscheidend, ob der Antragsteller „im Rahmen der öffentlichen Auslegung (§ 3 Abs. 2 BauGB)“ des zur Debatte stehenden Bebauungsplans rechtzeitig Einwendungen erhoben hat. Um die prozessuale Präklusion zu vermeiden, reicht es daher nicht, wenn sich der Antragsteller im Rahmen der frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung in irgendeiner Weise geäußert hat.62 Könnte sich der Antragsteller auf andere Äußerungen aus früherer Zeit berufen, würde § 47 Abs. 2a VwGO sinnentleert. Damit das Verfahren insgesamt rationeller wird, wurde ganz bewusst eine Sanktion eingeführt, falls der Einzelne nicht während der förmlichen Öffentlichkeitsbeteiligung eine Einwendung gegen den zur Debatte stehenden Planentwurf erhebt.63 Außerdem ist die Einschlägigkeit und inhaltliche Verwertbarkeit von Einwendungen aus früheren Verfahren keinesfalls selbstverständlich, zumal sich in der Zwischenzeit die tatsächlichen 59
BVerwGE 128, 382 (387); BVerwG, BRS 73 Nr. 54. BVerfGE 59, 330 (334); 60, 1 (6); BVerfG, NJW 2003, 3545 (3546); eingehend zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der analogen Rechtsanwendung Guckelberger, Die Verjährung im Öffentlichen Recht, 2004, S. 299 ff. 61 VGH München, DVBl. 2010, 387 (388). 62 OVG Schleswig, NordÖR 2010, 312 (313). 63 OVG Lüneburg, BRS 74 Nr. 52. 60
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und rechtlichen Gegebenheiten durchgreifend geändert haben können. Dementsprechend hält es das OVG Lüneburg für „eine durch nichts zu rechtfertigende Zusatzbelastung der planenden Gemeinde, wenn sie nicht nur das ohnehin anfallende Abwägungsmaterial erfassen müsste – also alles das, was sie ,sehenÏ muss –, sondern darüber hinaus zu der weitergehenden Prüfung verpflichtet wäre, ,altenÏ Einwendungen unter der Fragestellung nachzugehen, ob diese wohl mit der gegenwärtigen Situation noch etwas zu tun haben.“64 Die Fortschreibung von Einwendungen aus der Sphäre des Betroffenen unter Anpassung an gegebenenfalls veränderte Umstände liegt vielmehr in seinem ureigensten Interesse und stellt für ihn weder eine unangemessene Zumutung noch überflüssige Mühewaltung dar.65 Grundsätzlich lässt sich die prozessuale Präklusion nicht mit dem Verweis entkräften, eine andere Person habe die Einwendung im Rahmen der Beteiligung geltend gemacht. Denn § 47 Abs. 2a VwGO stellt darauf ab, dass die den Normenkontrollantrag stellende Person Einwendungen erhebt, die „sie“ während der Öffentlichkeitsbeteiligung bzw. Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit geltend gemacht hat bzw. machen konnte. Damit sich die Gemeinde schon vor der Abwägung ein möglichst umfassendes Bild davon machen kann, was die Einzelnen von dem ausgelegten Entwurf des Bebauungsplans halten und dass die Einstellungen dazu von Person zu Person – wenn auch nur mit Nuancen und möglicherweise abhängig von der jeweiligen Grundstückssituation – variieren können, ist eine Zurechnung geltend gemachter Stellungnahmen anderer grundsätzlich abzulehnen. Ist eine Person derselben Auffassung wie eine andere, kann sie dies durch Abgabe einer eigenen Stellungnahme, aber z. B. auch durch die Mitunterzeichnung einer Sammeleingabe entsprechend zum Ausdruck bringen.66 Um eine Stellungnahme eines anderen als Einwendung des das Normenkontrollverfahren betreibenden Antragstellers behandeln zu können, muss aus dieser mit hinreichender Deutlichkeit hervorgehen, dass damit zugleich das Beteiligungsrecht einer weiteren Person mit deren Billigung wahrgenommen wird.67 In Stellungnahmen, die von Behörden und anderen Trägern öffentlicher Belange im Rahmen der Behördenbeteiligung nach § 4 Abs. 2 BauGB abgegeben werden, kann richtigerweise nicht zugleich die Wahrnehmung des Beteiligungsrechts eines anderen nach § 3 Abs. 2 BauGB hineingelesen werden.68 Denn es handelt sich hierbei um separate Beteiligungsschritte, selbst wenn aus zeitlichen Gründen die Auslegung nach § 3 Abs. 2 BauGB gleichzeitig mit der Einholung der Stellungnahmen nach § 4 Abs. 2 BauGB durchgeführt werden „kann“ (s. § 4a Abs. 2 BauGB). Besonders problematisch sind Konstellationen, in denen zwar einer von mehreren Miteigentümern eines Grundstücks eine Einwendung rechtzeitig geltend gemacht 64
OVG Lüneburg, BRS 74 Nr. 52. OVG Lüneburg, BRS 74 Nr. 52. 66 Krautzberger (Fußn. 13), § 3 Rn. 53; s. auch Kersten, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckÏscher OK, Stand: 15. 9. 2010, § 3 BauGB Rn. 115. 67 OVG Schleswig, NordÖR 2010, 312 (313). 68 A. A. wohl OVG Schleswig, NordÖR 2010, 312 (313). 65
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hat, der Normenkontrollantrag aber von einem anderen Miteigentümer gestellt wird. § 1008 BGB i. V. m. § 744 Abs. 2 BGB, wonach jeder Teilhaber der Bruchteilsgemeinschaft die zur Erhaltung des Gegenstands notwendigen Maßnahmen ohne Zustimmung der anderen Teilhaber treffen darf, passt nicht auf die Beteiligung anlässlich der Aufstellung eines Bebauungsplans. § 3 Abs. 2 BauGB ermöglicht es jedem und damit jedem Miteigentümer unabhängig von der Mitwirkung der anderen seine Belange in den Abwägungsprozess einzubringen.69 In einem Fall, in dem sich die Ehefrau auf eine rechtzeitige Stellungnahme ihres Mannes berief, stellte sich das OVG Lüneburg auf den Standpunkt, ausgehend vom Zweck des § 47 Abs. 2a VwGO, die Personen zu einer rechtzeitigen Mitwirkung bei der Vervollständigung des Abwägungsmaterials anzuhalten, sei es genügend, wenn nur ein am Grundstück Berechtigter im Aufstellungsverfahren der Gemeinde gegenüber die Interessen formuliere, die das „betreffende Grundstück“ an der Planung bzw. ihrem Unterbleiben oder ihrer Modifizierung habe. „Denn Planungsrechte sind in aller Regel grundstücks- und nicht personenbezogen.“70 Abgesehen davon, dass sich diese Ansicht kaum mit dem Wortlaut des § 47 Abs. 2a VwGO vereinbaren lässt, wird dabei verkannt, dass es durchaus Sinn machen kann, wenn sich gleich mehrere an einem Grundstück berechtigte Personen am Aufstellungsverfahren beteiligen, zumal die von ihnen vorgebrachten Einwendungen durchaus unterschiedlich sein können. Mancher mag es begrüßen, wenn künftig mehr Betriebe und Läden im Gebiet angesiedelt werden, während einem anderen mehr am ruhigen Wohnen gelegen ist. Weil die Bürgerbeteiligung den Planbetroffenen auch die Möglichkeit zur Artikulation ihrer Interessen geben soll und sie in den Prozess der Vorbereitung politischer (Planungs-)Entscheidungen der Gemeinde aktiv teilnehmend einbezogen werden sollen,71 verfängt das Argument der reinen Grundstücksbezogenheit der Äußerungen nicht. Jedenfalls wenn nur ein Teil der Miteigentümer eine Stellungnahme unterschrieben hat und in dem Schreiben zugleich darauf eingegangen wird, dass andere Miteigentümer anderer Meinung sind, kann darin keine für alle Miteigentümer wirkende Einwendung erblickt werden.72 Hat die Ehefrau als Miteigentümerin eines Grundstücks rechtzeitig im Beteiligungsverfahren eine Stellungnahme abgegeben, lässt sich diese möglicherweise aufgrund der Gesamtumstände zugleich als konkludente Einwendung ihres Ehemanns interpretieren, wenn eine weitere Erklärung als reine Förmelei erscheinen musste.73 3. Unterschiedliche Präklusionshinweise Nach § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB ist bei der Bekanntmachung des Planentwurfs darauf hinzuweisen, dass ein Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO unzulässig ist, 69
OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3. 5. 2010 – OVG 2 A 18.08. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2009, 830 (831); Jäde, KommP BY 2010, 46 (51). 71 BVerwGE 133, 98 (114); s. auch Guckelberger (Fußn. 24), § 5 Rn. 18. 72 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3. 5. 2010 – OVG 2 A 18.08. 73 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2009, 830 (831). S. zur Verwaltung des Gesamtguts durch einen Ehegatten VGH München, Urt. v. 9.7.2010 – 22 N 06.1741. 70
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„soweit“ mit ihm Einwendungen geltend gemacht werden, die vom Antragsteller im Rahmen der Auslegung nicht oder verspätet geltend gemacht wurden, aber hätten erhoben werden können. Bei unbefangener Lesart lässt sich dieser Hinweis so auffassen, als würde jede nicht oder verspätet erhobene Einwendung im späteren Normenkontrollverfahren präkludiert sein.74 Nach § 47 Abs. 2a VwGO vermag diese Vorschrift aber gerade keine Teilunzulässigkeit des Normenkontrollantrags zu bewirken. Wurde nur eine Einwendung rechtzeitig erhoben, kann sich der Antragsteller in seinem Normenkontrollantrag sehr wohl auf bislang noch nicht oder zu spät erhobene Einwendungen berufen.75 Wohl aufgrund eines Redaktionsversehens wurde die Normfassung des § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB nicht an den im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens geänderten Wortlaut des § 47 Abs. 2a VwGO angepasst.76 Mangels Wortlautidentität der Hinweisformulierung in § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB und in § 47 Abs. 2a VwGO mussten die Gerichte darüber befinden, welche Folgen diese Divergenz für die prozessuale Präklusion hat.77 Die Rechtsprechung löste das Problem, indem sie die von ihr entwickelten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung auf den Hinweis über die Obliegenheit zur Einwendungserhebung überträgt. Danach darf eine derartige Belehrung weder einen irreführenden Zusatz enthalten noch geeignet sein, den Betroffenen von einer rechtzeitigen Geltendmachung der Einwendungen abzuhalten. Verwendet eine Gemeinde einen Hinweis gem. § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB, wird dem Betroffenen deutlich gemacht, dass er sich äußern muss, um sich die Möglichkeit eines späteren Normenkontrollantrags offen zu halten. Gegenüber der Formulierung des § 47 Abs. 2a VwGO lässt ein derartiger Hinweis erst recht keine Zweifel an der Notwendigkeit der Erhebung von Einwendungen aufkommen,78 weil die Folgen der prozessualen Präklusion schwerwiegender geschildert werden, als sie es letztlich sind.79 Da in § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB nur pauschal auf § 47 VwGO Bezug genommen wird, sollen die Betroffenen nicht im Detail über die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines späteren Normenkontrollantrags aufgeklärt werden. „Umso weniger hat eine derartige Belehrung … die Aufgabe, gleichsam taktische Erwägungen zu erleichtern, ob es sinnvoll und Erfolg versprechend ist, einzelne Einwendungen während des Verfahrens nach § 3 BauGB gezielt zurückzuhalten und sie erst im Normenkontrollverfah74 So BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09; VGH München, DVBl. 2010, 387 (389); zu weitgehend VGH Mannheim, Beschl. v. 2.11.2009 – 3 S 3013/08, wonach die Hinweisformulierung gar so verstanden werde könnte, dass die Zulässigkeit des Normenkontrollantrags nur erhalten bleibt, wenn der potenzielle Antragsteller im Rahmen der öffentlichen Auslegung alle Einwendungen erhoben hat. 75 BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09. 76 BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09. 77 OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 3. 5. 2010 – OVG 2 A 18.08; OVG Münster, NWVBl. 2009, 145 (146); VGH Mannheim, DÖV 2010, 239; VGH München, DVBl. 2010, 387 (389). 78 BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09. 79 VGH München, DVBl. 2010, 387 (389).
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ren geltend zu machen.“ Weil auch nichts dafür spricht, dass eine am Wortlaut des § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB orientierte Belehrung Betroffene insgesamt von der Erhebung von Einwendungen abhalten kann, eignet sie sich als Hinweis auf die prozessuale Präklusion.80 Infolge der nicht wortlautidentisch geregelten Hinweispflichten befinden sich nun die Gemeinden in dem Dilemma, ob sie auf die prozessuale Präklusion gemäß § 3 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 BauGB oder in Anlehnung an § 47 Abs. 2a VwGO belehren sollen. Nach dem Gesetz stehen ihnen beide Hinweismöglichkeiten zur Verfügung. Vor dem Hintergrund, dass § 3 Abs. 2 BauGB die von den Gemeinden zu beachtenden Verfahrensschritte bei der förmlichen Öffentlichkeitsbeteiligung regelt, könnte man daran denken, dass sich die Gemeinden vorzugsweise an der dortigen Vorgabe zu orientieren hätten. Zu Recht stellte sich das BVerwG demgegenüber auf den Standpunkt, dass sich die maßgebliche Rechtsfolge unterlassener oder zu spät erhobener Einwendungen aus § 47 Abs. 2a VwGO ergibt und die Gemeinden im Sinne einer bürgerfreundlichen Verwaltung gut beraten sind, sich bei ihren Belehrungen am Wortlaut des § 47 Abs. 2a VwGO zu orientieren.81 Mit keinem Wort gingen die Gerichtsentscheidungen darauf ein, ob die momentanen normativen Vorgaben zu den Präklusionshinweisen nicht wegen Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip unwirksam sind. Nach diesem sind Rechtsnormen so klar zu formulieren, dass die Normadressaten die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten daran ausrichten können.82 Allerdings löst nicht jede gesetzgeberische Ungereimtheit die Nichtigkeitsfolge aus.83 Diese greift vor allem, wenn sich die normativen „Unstimmigkeiten“ nicht im Wege einer berichtigenden Auslegung oder von Kollisionsregeln beheben lassen.84 Da für den Eintritt der prozessualen Präklusion vor allem der Hinweis auf die spätere Unzulässigkeit des Normenkontrollantrags wichtig ist, die an § 47 Abs. 2a VwGO anknüpfenden Rechtswirkungen ohne weiteres durch einen Blick in das Gesetz ermittelbar sind und die Hinweise trotz der Divergenzen tendenziell die gleiche Zielrichtung aufweisen, ist ein relevanter Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip abzulehnen. Alles in allem sollte der Gesetzgeber die Gemeinden aus dem Hinweis-Dilemma befreien, indem die Hinweispflicht klar und in sich stimmig geregelt wird.
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BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09. BVerwG, Urt. v. 27.10.2010 – 4 CN 4.09. 82 Zur Widerspruchsfreiheit BVerfGE 1, 14 (45); 17, 306 (314); 98, 106 (119); 108, 169 (181); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 63. 83 s. auch Kirchhof, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. 8, 3. Aufl. 2010, § 181 Rn. 219, 223 bezogen auf Art. 3 GG. 84 Jarass (Fußn. 82), Art. 20 Rn. 163; ders., AöR 126 (2001), 588 (601). S. zur Möglichkeit einer berichtigenden Auslegung bei einem Redaktionsversehen BVerfG, Beschl. v. 12.10.2010 – 2 BvL 59/06; s. auch BVerfG, NJW 2009, 2588 (2589) sowie zur Berichtigung eines Gesetzesbeschlusses wegen offensichtlicher Unrichtigkeit BVerfGE 105, 313 (334 f.). 81
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4. Zulässigkeit des Normenkontrollantrags bei ergänzendem Verfahren Hat der Antragsteller während der Durchführung der förmlichen Öffentlichkeitsbeteiligung rechtzeitig eine Einwendung erhoben oder kann ihm die prozessuale Präklusion in diesem Verfahrensabschnitt mangels eines Hinweises auf diese Rechtsfolge nicht entgegengehalten werden, scheitert ein die Zulässigkeitshürde des § 47 Abs. 2a VwGO nehmender Normenkontrollantrag nicht nachträglich daran, dass eine Gemeinde während des Normenkontrollverfahrens ein ergänzendes Verfahren durchführt, in dem der Antragsteller keine Einwendung geltend macht. Solange der Antragsteller auf das ergänzende Verfahren nicht mit einer Erledigungserklärung reagiert, bringt er durch seinen Normenkontrollantrag zum Ausdruck, dass sein Abwehrwille gegen den Bebauungsplan auch in der Gestalt, die er durch das ergänzende Verfahren erhalten hat, fortbesteht. Weder aus dem Wortlaut des § 47 Abs. 2a VwGO noch dem Hinweis auf die prozessuale Präklusion lässt sich mit der rechtsstaatlich gebotenen Eindeutigkeit entnehmen, dass ein anhängiger Normenkontrollantrag unzulässig wird, wenn der Antragsteller im Rahmen der erneuten öffentlichen Auslegung des Bebauungsplanentwurfs keine Einwendungen erhebt. Dem Antragsteller kann in einer derartigen Konstellation nicht entgegengehalten werden, er habe seine Einwendungen „ohne Not“ erst im gerichtlichen Verfahren geltend gemacht. Da das ergänzende Verfahren nur der Feststellung der Unwirksamkeit eines Bebauungsplans durch das Oberverwaltungsgericht wegen eines heilbaren Fehlers zuvorkommen soll, rechtfertigt es auch dieser Zweck nicht, zusätzliche Anforderungen an die Zulässigkeit eines bereits anhängigen Normenkontrollantrags zu stellen.85 Offen blieb, welche Konsequenzen es hat, wenn das Oberverwaltungsgericht nach der erneuten Auslegung, aber vor Abschluss des ergänzenden Verfahrens den Bebauungsplan für unwirksam erklärt und die Gemeinde das ergänzende Verfahren anschließend zu Ende führt. Kann der Antragsteller dann gegen den neu bekannt gemachten Bebauungsplan einen zweiten Normenkontrollantrag stellen, selbst wenn er im ergänzenden Verfahren keine Einwendungen erhoben hat? Gute Argumente sprechen dafür, dass dies zu bejahen ist. Es ist häufig reiner Zufall, in welchem Zeitpunkt über den ersten Normenkontrollantrag entschieden wird. Nicht immer wird der Antragsteller abschätzen können, zu welchem Zeitpunkt die OVG-Entscheidung ergehen wird. Da es prozessual nicht ausgeschlossen ist, dass das „im zweiten Durchgang“ erneut angerufene Oberverwaltungsgericht den im ergänzenden Verfahren erlassenen Bebauungsplan aus Gründen für unwirksam hält, die der Antragsteller bereits im früheren Verfahren geltend gemacht hat, die es aber bei seiner früheren Entscheidung nicht mehr prüfen wollte, sollte eine rechtsschutzfreundliche Handhabung der Präklusionsvorschrift erfolgen. Im Unterschied zum Neuerlass eines Bauleitplans baut das „ergänzende“ Verfahren auf das frühere Verfahren auf. Bis zur höchstrichterlichen Klärung empfiehlt es sich für die Betroffenen, im Rahmen einer im ergänzenden Verfahren durchgeführten Beteiligung nach § 3 Abs. 2, § 13 Abs. 2 Nr. 2, 85 BVerwG, NVwZ 2010, 782 (783); s. zur Möglichkeit eines zweiten Normenkontrollantrags BVerwG, BRS 69 Nr. 61; s. auch Schübel-Pfister, JuS 2010, 976 (980).
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§ 13a Abs. 2 Nr. 1 BauGB durchgeführten Beteiligung eine Einwendung vorzubringen. Auch in diesem Punkt wäre zu klären, ob nicht eine spezielle Regelung zur prozessualen Präklusion im Hinblick auf das ergänzende Verfahren sinnvoll sein könnte. Nach dem BVerwG würde es zu einer nicht zumutbaren Rechtsunsicherheit führen, wenn der Präklusionseintritt davon abhängen würde, inwieweit das ergänzende Verfahren eine erneute Abwägung der Belange des Antragstellers erfordert oder jedenfalls erwarten lässt.86 IV. Fazit Angesichts der mit § 47 Abs. 2a VwGO verfolgten Ziele sowie der Tatsache, dass die Vorhaltung der abstrakten Normenkontrolle prinzipiell nicht verfassungsrechtlich geboten ist, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken an dieser Präklusionsnorm.87 Sie trägt dazu bei, dass die Gemeinde frühzeitig die Umstände und Vorbehalte gegen den jeweiligen Satzungsentwurf erfährt. Möglicherweise modifiziert sie daraufhin ihre Planung und kann dadurch sogar einer fehlerhaften Abwägung zuvorkommen. Auch ist für die Betroffenen aufgrund der gesetzlichen Vorschriften ihre Mitwirkungsobliegenheit im Rechtsetzungsverfahren erkennbar und wird für sie der gerichtliche Rechtsschutz gegen die jeweiligen Satzungen insgesamt nicht in unzumutbarer Weise erschwert.88 Eine hiervon zu unterscheidende Frage ist, ob es sich bei § 47 Abs. 2a VwGO um eine sinnvolle Vorschrift handelt. Denn nach ständiger Rechtsprechung muss die Gemeinde private Belange bei ihrer Abwägung ohnehin nur berücksichtigen, wenn diese entweder vom Betroffenen im Beteiligungsverfahren geltend gemacht wurden oder ihr bekannt sind bzw. sich ihr aufdrängen mussten.89 Da bereits die Erhebung einer Einwendung während des Beteiligungsverfahrens ausreicht, um weitere Einwendungen im Normenkontrollverfahren vorbringen zu können, wird § 47 Abs. 2a BauGB nicht ohne Grund als „zahnloser (Präklusions-)Tiger“ bezeichnet.90 Die Auswirkungen des § 47 Abs. 2a VwGO dürften marginal sein.91 In aller Regel wird es mindestens einen Antragsteller geben, der rechtzeitig eine Einwendung vorgebracht hat. Zur Beurteilung der Einschlägigkeit der Präklusionsnorm kann das angerufene Oberverwaltungsgericht nunmehr bereits bei der Zulässigkeit die ordnungsgemäße Durchführung des Beteiligungsverfahrens prüfen müssen. Durch die sich bei § 47 Abs. 2a VwGO auftuenden Einzelprobleme wird die Entlastungswirkung für die Gerichtsbarkeit teilweise infrage gestellt. Auf jeden Fall sollten die Ge86
BVerwG, NVwZ 2010, 782 (783 f.). OVG Lüneburg, BRS 74 Nr. 52; Schmitt/Ehlers, LKV 2008, 497 (500); Stüer, DVBl. 2007, 160 (168); Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257a; zur Präklusion bei Genehmigungsentscheidungen BVerfGE 61, 82 (97); kritisch Grigoleit, in: Spannowsky/Uechtritz, BeckÏscher Online-Kommentar, Stand: 15. 9. 2010, § 4a BauGB Rn. 31. 88 s. zur Präklusion bei der Ausweisung eines Wasserschutzgebiets durch Rechtsverordnung BVerwG, NVwZ 2006, 85. 89 s. nur VGH München, DVBl. 2010, 387 (388); Ziekow, BauR 2007, 1169 (1175) m.w.N. 90 So Erbguth, UPR 2010, 281 (287). 91 So Ziekow (Fußn. 11), § 47 Rn. 257c; ders. (Fußn. 33), S. 60. 87
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setzesformulierungen zum Hinweis auf die Folgen des § 47 Abs. 2a VwGO aufeinander abgestimmt werden.
Das Widerspruchsverfahren als föderales Experimentierfeld – Plädoyer für ein Fakultativmodell, alternative Streitbeilegung und dezentrale Widerspruchsausschüsse1 Von Dirk Hanschel I. Einleitung Das Widerspruchsverfahren, mit dem sich Wolf-Rüdiger Schenke in einer Vielzahl von Publikationen beschäftigt hat, ist in das Fadenkreuz der Debatte über die Verschlankung des Staates geraten.2 Nachdem es lange einen kaum wegzudenkenden Bestandteil des Verwaltungsprozessrechts darstellte, wurde es im Zuge einer jüngeren Diskussion über eine Modernisierung der Verwaltung auf den Prüfstein gestellt, die von Schlagworten wie „Bürokratieabbau, Deregulierung, Effizienzsteigerung und Verfahrensbeschleunigung“ geprägt ist.3 Im Zuge dessen kam es zu landesrechtlichen 1
Der Autor dankt Philip Koeth für seine wertvollen inhaltlichen Kommentare, Thomas Englert für seine engagierte und präzise redaktionelle Arbeit und Dieter Hanschel für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Für verbleibende Ungenauigkeiten und Fehler übernimmt der Autor die alleinige Verantwortung. 2 Biermann, DÖV 2008, 395. Für einen Überblick über Befürworter und Gegner vgl. etwa Landtag NRW, APr 14/467; siehe auch Biermann, DÖV 2008, 395 (399 ff.); Meyer, NdsVBl 2009, 7; zu den Argumenten pro und contra siehe etwa Allesch, GS Kopp, 2007, 16 ff.; zu Reformvorschlägen siehe etwa Schlichter, DVBl 1995, 173 ff. Laut Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (687), „ist rund um das Widerspruchsverfahren in den letzten Jahren eine Dynamik entstanden, die zunehmende literarische Aufmerksamkeit erfährt und auch in Presse und Fernsehen kommentiert wird“. 3 Biermann, DÖV 2008, 395; Biermann, NordÖR 2007, 139; Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 f.; Schoch, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 20 Rn. 93; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 2010, VBem zu § 68 Rn. 16; zur Debatte um das Verwaltungsverfahren „zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag“ siehe Schenke, VBlBW 1982, 313 ff., der den schillernden Begriff der Verwaltungseffizienz kritisch beleuchtet (315 ff.). Zu Recht verweist er darauf, dass sie „als rechtlich beachtlicher Gesichtspunkt nur dann fungieren [kann], wenn man sie als Forderung nach optimaler Erfüllung der der Verwaltung durch das Recht vorgegebenen oder zumindest anerkannten Ziele unter möglichst sparsamem und angemessenem Einsatz von sachlichen und personellen Mitteln ansieht“ (317). Die Effizienz des Verwaltungshandelns ist zu unterscheiden von dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs. 4 GG, zu letzterem siehe Schenke, in: Wolter/Riedel/Taupitz, Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht – Mannheimer Fakultätstagung über 50 Jahre Grundgesetz, 1999, S. 153 (178 ff.). Teilweise können sich beide verstärken, etwa hinsichtlich
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Neuregelungen, die teils einen Ausschluss dieses Rechtsbehelfs, teils seines Suspensiv- oder seines Devolutiveffekts zum Gegenstand haben.4 Dieser Beitrag konzentriert sich auf den landesrechtlichen Ausschluss des Widerspruchsverfahrens und somit auf die Hauptstoßrichtung der Reformen. Zudem befasst er sich mit Variationen zur Modernisierung des Verfahrens, insbesondere mit dem sog. Fakultativmodell sowie mit Elementen alternativer Streitbeilegung. Der Autor vertritt die These, dass das Widerspruchsverfahren sich im Wesentlichen bewährt hat. Es sollte nur dort abgeschafft werden, wo es sich als weitgehend ineffektiv herausgestellt hat, insbesondere bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde. Im Übrigen sollte es erhalten bleiben (insbesondere im Bereich der Massenverwaltung und bei Bagatellsachen), jedoch nach Möglichkeit als Fakultativmodell ausgestaltet werden. Hinzutreten sollten Elemente alternativer Streitbeilegung. Institutionell sind weisungsunabhängige, dezentrale Widerspruchsausschüsse wegweisend. II. Der Bewertungsrahmen: Funktionen des Widerspruchsverfahrens und Kritik Wie Wolf-Rüdiger Schenke treffend ausgeführt hat, liegen die drei Hauptfunktionen des Widerspruchsverfahrens im Rechtsschutz des Bürgers, der Selbstkontrolle der Verwaltung sowie der Entlastung der Verwaltungsgerichte.5 Rüssel fügt als vierte Funktion die „Informiertheit, Akzeptanz und damit letztlich auch [die] Sicherung des Rechtsfriedens“ hinzu.6 Rechtsschutz gewährleisten auch die Verwaltungsgerichte. der Verpflichtung, Rechtsschutz in angemessener Zeit zu leisten, teils kann der Rechtsschutz in seiner geforderten Gründlichkeit die Effizienz des Verwaltungshandelns mindern. 4 Für eine Schnellübersicht vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 2009, § 68 Rn. 16 ff., mit weiteren Nachweisen; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 f.; siehe auch Schoch (Fußn. 3), § 20, Rn. 93; Kothe, AnwBl 2009, 96 (97 ff.); Beaucamp/Ringermuth, DVBl 2008, 426 ff.; Biermann, NordÖR 2007, 139 (142 ff.); zur Einschränkung des Suspensiveffekts und des Devolutiveffekts siehe Biermann, DÖV 2008, 395 (396), der die damit einhergehende Relativierung der „als gesetzgeberisches Leitbild vorgesehene[n] Recht- und Zweckmäßigkeitskontrolle durch die nächsthöhere Behörde“ betont. 5 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 2009, S. 214; Schenke (Fußn. 4), VBem zu § 68 Rn. 1 mit weiteren Nachweisen; Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (62 ff.); Dolde/Porsch (Fußn. 3), VBem zu Rn. 1, die den „Hauptzweck in der Rechtsschutzfunktion“ sehen; speziell zur Rechtsschutzfunktion siehe Kopp, FS Redeker, 1993, 543 ff.; zu den Funktionen siehe auch BVerwGE 26, 161 (166), 40, 25 (28 f.); 51, 310 (314); vgl. auch Biermann, DÖV 2008, 395 (401); Biermann, NordÖR 2007, 139 (141 f.); Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (687 ff.); Ahrens, in Brandt/Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 2009, Abschnitt F Rn. 16; Heins, Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens – Eine rechtliche und rechtstatsächliche Untersuchung der Regelung in Niedersachsen, 2010, S. 41 ff., die auch um eine empirische Validierung der Funktionserfüllung bemüht ist (S. 148 ff.); vgl. auch Rüssel, NVwZ 2006, 523 f., die den Aspekt der Entlastung der Gerichte etwas geringer veranschlagt; zu den Argumenten der Befürworter des Widerspruchsverfahrens siehe auch Biermann, DÖV 2008, 395 (400 f.). 6 Rüssel, NVwZ 2006, 523 f.
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Das Widerspruchsverfahren bietet aber zusätzlichen Rechtsschutz, der zudem zeitnah und – so seine Befürworter – effektiv, kostengünstig, unbürokratisch und bürgernah ist.7 Das ergibt sich vor allem daraus, dass die Hürde der Anrufung des Gerichts wesentlich höher ist, während es dem Bürger leichter fällt, eine Entscheidung im Wege des Widerspruchs anzugreifen.8 Dies kann – je nach Qualität des Widerspruchsverfahrens – zu einer deutlichen Entlastung der Verwaltungsgerichte führen. Rechtsstaatlich geboten ist lediglich der gerichtliche Rechtsschutz, während die verwaltungsinterne Überprüfung von Entscheidungen nicht aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs. 4 GG folgt.9 Die Selbstkontrolle ist deshalb bedeutsam, weil sie eine umfassende tatsächliche und rechtliche Überprüfung ermöglicht, durch die die Qualität einer Entscheidung verbessert werden kann.10 Sie sichert zugleich der Verwaltung einen historisch erstrittenen, substantiellen eigenständigen Bereich gegenüber der Judikative.11 Der Rechtsfriede kann durch das Widerspruchsverfahren insofern gestärkt werden, als es zu einem vertieften Austausch faktischer und rechtlicher Argumente zwischen Bürger und Verwaltung und damit eher zu informierten und akzeptierten Entscheidungen führt.12 Fraglich ist aber, inwieweit das Widerspruchsverfahren diese Zwecke tatsächlich erfüllt. Die Debatte um seine Abschaffung wird deshalb mit Vehemenz geführt.13 Der Umfang der tatsächlich bewirkten Entlastung der Gerichte ist unklar, zumal die Entscheidungen der Widerspruchsbehörden in den weitaus meisten Fällen mit denen der
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Rüssel, NVwZ 2006, 523 (524). Rüssel, NVwZ 2006, 523 (524). 9 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (524); BVerfGE 35, 65 (73) = NJW 1973, 1683; BVerfGE 60, 253 (291) = NJW 1982, 2425; vgl. auch Rennert, in: Eyermann, VwGO, 2006, § 68 Rn. 10; Ipsen, Landtag NRW, APr 14/467, S. 6; Schenke (Fußn. 3), S. 153 ff.; Schenke, in: Dolzer/Kahl/ Waldhoff, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 2009, Art 19 IV GG Rn. 702.; grundsätzlich zur Bedeutung des Art 19 Abs. 4 GG vgl. Schenke, JZ 1988, 317 ff.; zur umgekehrten Frage der Vereinbarkeit eines gerichtlichen Vorverfahrens mit Art 19 Abs. 4 GG siehe Schenke (Fußn. 3), S. 153 (167 f.). 10 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (524). 11 Zu diesem Argument gegen einen Wegfall des Widerspruchsverfahrens siehe Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (497 f.); ebenso Eckertz-Höfer, Rede anlässlich des Wechsels im Amt des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts am 31. Mai 2007 in Leipzig, veröffentlicht im Internet unter http://www.bverwg.de/files/def562bc764d6b330841e1b8d20ba59c/ 5047/Rede_Eckertz-H%C3 %B6fer.pdf (Stand: 14. März 2011), S. 6: „Eine Verwaltung, der die Möglichkeit einer effizienten Selbstkontrolle ihrer Entscheidungen gesetzgeberisch genommen wird, erleidet nicht nur einen Funktionsverlust – und zwar notwendig zugunsten der Gerichte. Sie gibt auch ohne Not ein gewachsenes Instrumentarium außergerichtlicher Streitbeilegung auf.“; gegen eine „Verlagerung der Streitigkeiten auf die gerichtliche Ebene“ auch Biermann, DÖV 2008, 395 (403). 12 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (524); zur Verhältnismäßigkeit von Verwaltungsrechtsentscheidungen siehe Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 245 ff. 13 Vgl. nur Biermann, DÖV 2008, 395 (399 ff.); Biermann, NordÖR 2007, 139 (141 f.); Landtag NRW, APr 14/467. 8
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Ausgangsbehörden übereinstimmen.14 Die Ausgangsbehörde kann ihre Entscheidungen im Vorfeld mit der Widerspruchsbehörde abstimmen; letztere ergänzt ihrerseits häufig nur die Ausführungen der Ausgangsbehörde, indem sie diese „gerichtsfest“ macht.15 Eine Zweckmäßigkeitskontrolle findet in der Praxis allenfalls beschränkt statt; oftmals kommt es nur zu einer Verfahrensverlängerung.16 All dies nährt Zweifel an der Qualität des Rechtsschutzes im Widerspruchsverfahren. Von Seiten seiner stärksten Kritiker wird das Verfahren gar als „Fremdkörper in unserem Rechtsschutzsystem, ein historisches Relikt, das den heutigen Anforderungen an ein bürgerorientiertes Verfahren nicht einmal ansatzweise gerecht wird“, bezeichnet.17 Das Widerspruchsverfahren „führ[e] nicht zur Akzeptanz, sondern zur Frustration“.18 Weiterhin wird das Verfahren als „kompliziert, verfahrensaufwendig, formstreng und damit fehleranfällig“ bezeichnet.19 Es sei „vielfach zu einer Formsache erstarrt und [habe] zweifelsfrei zur Verlängerung von Verwaltungsverfahren geführt“, weshalb es „ein berechtigtes Anliegen des Gesetzgebers [sei], die Verfahrensdauer zu verkürzen und Bürokratien, die sich aufgrund des Widerspruchsverfahrens aufgebaut haben, abzubauen“.20 Inwieweit diese Kritik zutrifft und ggf. die Reformen Abhilfe geschaffen haben, ist nachfolgend zu erörtern. III. Überblick über den Stand der Reformen 1. Rechtliche Grundlage der Reformbemühungen auf der Bundesebene Ein wichtiger Auslöser der Änderungswelle im Landesrecht war die Novellierung des § 68 VwGO durch das Sechste Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsord-
14 Dolde/Porsch (Fußn. 3), VBem zu § 68 Rn. 16, 16a. Zugunsten einer gewissen tatsächlichen Entlastungswirkung allerdings Heins (Fußn. 5), S. 307 f. 15 Vgl. Dolde/Porsch (Fußn. 3), VBem zu § 68 Rn. 16, 16a, die zudem von der Praxis berichten, „stattgebende Widerspruchsentscheidungen durch informelle Abhilfeersuchen, ggf. auch durch fachliche Weisungen zu vermeiden“. Sie gehen von einer durchschnittlichen Erfolgsquote von etwa 11 % aller Widersprüche aus. 16 Vgl. Dolde/Porsch (Fußn. 3), VBem zu § 68, Rn. 16, 16a, die aber auch feststellen, dass „eine Befriedungsfunktion und damit eine Steigerung der Akzeptanz sowie eine Entlastung der Verwaltungsgerichte durch das für den Bürger relativ einfache und kostengünstige Vorverfahren in vielen Fällen nicht zu leugnen [ist]“ (Rn. 16); zugunsten einer gewissen tatsächlichen Kontrolle jedenfalls im Bereich der Rechtsmäßigkeit Heins (Fußn. 5), S. 308. Kothe, AnwBl 2009, 96 (99), regt an, der Anwalt möge versuchen, der in der Praxis oft begrenzten Zweckmäßigkeitsprüfung entgegenzuwirken, was vor allem bei Widerspruchsausschüssen mit mündlicher Erörterung möglich sei. 17 Landtag NRW, APr 14/467, S. 20. 18 Landtag NRW, APr 14/467, S. 20. 19 Landtag NRW, APr 14/467, S. 9. 20 Landtag NRW, APr 14/467, S. 7 f.
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nung mit Wirkung ab dem 01. 01. 1997.21 Ratio legis war eine beschleunigte Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen und damit eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland.22 Bis dahin hatte § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO einen gesetzlichen Ausschluss des Widerspruchsverfahrens nur „für besondere Fälle“ zugelassen; dies wurde überwiegend so verstanden, dass ein Ausschluss nur ausnahmsweise und aufgrund besonderer sachlicher Rechtfertigung zulässig war.23 Darüber hinaus hatte die Rechtsprechung unter Berufung auf die Prozessökonomie weitere Ausnahmen zugelassen, in denen das Vorverfahren statthaft, aber entbehrlich war.24 Die genannte Einschränkung des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO entfiel nun; die Öffnungsklausel wurde entsprechend erweitert.25 Dies betrifft zum einen den Bund; mittlerweile erklären zahlreiche bundesgesetzliche Spezialregelungen das Widerspruchsverfahren für entbehrlich,26 wobei die Klausel insoweit aufgrund des lex-specialis-Grundsatzes nur deklaratorische Wirkung hat.27 Zum anderen werden auch die Länder zu einem weiter gehenden gesetzlichen Ausschluss des Verfahrens ermächtigt, als dies bisher der Fall war. Die Reichweite der Öffnungsklausel ist im Einzelnen umstritten.28 Während manche Autoren von einer unbeschränkten Aufhebungskompetenz ausgehen,29 erkennen 21 6. ÄndGVwGO v. 1. 11. 1996 (BGBl. I S. 1626); zu dieser Novellierung insgesamt Lotz, BayVBl 1997, 257 ff.; Knopp, BB 1997, 1001 ff.; Meissner, VBlBW 1997, 81 ff.; Meier, NVwZ 1998, 688 ff.; zum rechtlichen Rahmen siehe auch Biermann, NordÖR 2007, 139 (146); vgl. auch Biermann, DÖV 2008, 395 (396), der von einer „entscheidende[n] Schwächung des Vorverfahrens“ spricht; kritisch zu der Reform Schenke, NJW 1997, 81 ff., insbesondere mit Blick auf „die Befristung des Normenkontrollverfahrens, die richterliche Aussetzung des Verfahrens zum Zwecke der Heilung von Verwaltungsverfahrensfehlern und die hiermit in Verbindung stehende zeitliche Ausweitung der Heilungsmöglichkeit sowie die vom Gesetzgeber angestrebte Regelung des Nachschiebens von Gründen“. Eine weitere Schwächung erfuhr das Widerspruchsverfahren durch den gleichzeitig geänderten § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO, der seither den – hier nicht näher erörterten – landesrechtlichen Ausschluss des Suspensiveffekts ermöglicht, siehe Biermann, DÖV 2008, 395 (396). 22 Vgl. Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); vgl. Bericht der Unabhängigen Expertenkommission zur Vereinfachung und Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren (1994); Schmieszek, NVwZ 1996, 1151 (1152 f.). 23 Vgl. Biermann, DÖV 2008, 395 (396); siehe auch BVerfGE 35, 65 (75); Kopp, VwGO, 1992, § 68 Rn. 17. 24 Vgl. Schoch (Fußn. 3), § 20 Rn. 96, der als Beispiele die „sog. rügelose Einlassung auf die Sache“ sowie „die Änderung einer behördlichen Ermessensentscheidung“ sowie die „Gewissheit, dass sich an der Haltung der Verwaltung bei Erhebung eines Widerspruchs nichts ändern würde“ nennt; er selber steht diesen Erweiterungen jedoch eher kritisch gegenüber. 25 Biermann, DÖV 2008, 395 (396). 26 Biermann, DÖV 2008, 395 (396); Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2010, § 68 Rn. 121 ff.; Schenke (Fußn. 4), § 68 Rn. 17. 27 Schoch (Fußn. 3), § 20 Rn. 93. 28 Biermann, DÖV 2008, 395 (396); Biermann, NordÖR 2007, 139 (147 ff.). 29 Dolde/Porsch (Fußn. 3), § 68 Rn. 12; Geis (Fußn. 26), § 68 Rn. 125; für eine weite Auslegung wohl auch Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (691 f.), die aber gewisse äußere Grenzen aus dem Willkürverbot des Art 3 GG ableitet.
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andere lediglich eine bereichsspezifische oder anderweitig begrenzte Kompetenz der Länder an.30 Systematik und Entstehungsgeschichte der Norm legen auf den ersten Blick letzteres nahe.31 Im Gesetzgebungsverfahren war ursprünglich nur eine begrenzte Ausnahme intendiert worden, was sich womöglich systematisch in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis von § 68 Abs. 1 S. 1 und S. 2 widerspiegelt.32 Demzufolge wären einige der landesspezifischen Regelungen rechtlich problematisch.33 Der Wortlaut des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO spricht jedoch gegen eine derart enge Auslegung. Objektiver Sinn und Zweck der Vorschrift ist eine unbeschränkte Öffnung zugunsten des Landesrechts.34 Die Vorschrift normiert nach hier vertretener Ansicht keine Ausnahme, sondern legt lediglich fest, dass der Bund seine Gesetzgebungskompetenz nur eingeschränkt ausübt. Im Übrigen sind die Länder zuständig, was im Lichte der Systematik der Art 70 ff. GG gewissermaßen den föderalen Regelfall darstellt. Über die inhaltlichen Grenzen resultierender Landesregelungen ist damit 30
Rennert (Fußn. 9), § 68 Rn. 24; Lindner, BayVBl 2005, 65 (69): „Nach dem Willen des Gesetzgebers müssen …Gründe vorliegen, um das Abweichen von der Grundregel…rechtfertigen zu können“; vgl. auch Biermann, NordÖR 2007, 139 (147); für eine engere Sichtweise siehe auch Schenke (Fußn. 5), Rn. 659; Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (66). Allesch, GS Kopp, 2007, 16 (23) zufolge können zwar „,großflächige AusnahmenÐ vom Widerspruchsverfahren vorgesehen werden“, es müsse aber „,etwas WesentlichesÐ übrig bleiben“. 31 Schenke (Fußn. 4), § 68 Rn. 17, mit weiteren Nachweisen; anders offenbar SteinbeißWinkelmann, NVwZ 2009, 686 (691), die aus dem weiten Wortlaut folgert, dass der Gesetzgeber von dem Gedanken einer bloßen Bereichsausnahme wieder abgerückt sei. Allerdings räumt sie ein, dass der Bundesgesetzgeber „einen so großflächigen Ausschluss des Widerspruchsverfahrens, wie ihn jetzt Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vollzogen haben, wohl nicht vor Augen“ gehabt habe. 32 Vgl. hierzu jeweils Allesch, GS Kopp, 2007, 16 (21 f.). 33 So Biermann, DÖV 2008, 395 (396); ähnlich auch Schenke (Fußn. 4), § 68 Rn. 17; Schenke (Fußn. 5), Rn. 659, der insbesondere auf das Fehlen einer zeitlichen Befristung abstellt. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat diese Frage noch in BayVBl 2007, 79 (80) offen gelassen. Bei enger Auslegung der Öffnungsklausel könnten die Regelungen der Länder nur dann rechtmäßig sein, wenn man das Widerspruchsverfahren dem Verwaltungs- und nicht dem Gerichtsverfahren zuordnet, so dass die Länder insoweit über eine eigene Gesetzgebungskompetenz verfügen, vgl. zu der Problematik etwa Dolde/Posch (2010), VBem § 68 Rn. 5 ff.; Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (66). Mit Schenke (Fußn. 4) § 1, Rn. 10 (mit weiteren Nachweisen), ist davon auszugehen, dass die Bundeskompetenz aufgrund des Sachzusammenhangs mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit gemäß Art 74 Abs. 1 Nr. 1 GG besteht, „soweit das Vorverfahren Voraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage ist“. Unzulässig sind dementsprechend „von § 68 ff. abweichende landesrechtliche Vorschriften über das Widerspruchsverfahren als Vorverfahren, soweit die VwGO die Länder nicht ausdrücklich dazu ermächtigt“, so auch BVerfG 35, 72; vgl. zu der Problematik auch Biermann, NordÖR 2007, 139 (146). 34 Teilweise wird sogar argumentiert, diese Öffnung stelle eine Ersetzungsbefugnis gemäß Art 125 a Abs. 2 GG dar, vgl. zu dieser Argumentation Lindner, BayVBl 2005, 65 (67 ff.). Dies lässt sich dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO jedoch nicht entnehmen. Die Norm intendiert auch nicht, die vor 1994 bestehende Regelung durch die Länder ersetzen zu lassen, sondern die bereits vorhandene Ausnahmevorschrift zu erweitern, im Ergebnis ähnlich Allesch, GS Kopp 2007, 16 (23), wenngleich dieser von einer nur begrenzten Erweiterung des § 68 VwGO ausgeht.
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nichts gesagt. Grenzen setzt lediglich das Willkürverbot; es muss folglich ein irgendwie gearteter sachlicher Grund für die Einschränkungen des Widerspruchsverfahrens gegeben sein.35 Nach dieser Auffassung stehen der Ländergesetzgebung in diesem Bereich keine „durchschlagenden Bedenken“ entgegen.36 2. Nachfolgende Änderungen auf der Landesebene und ihre Evaluation Auf der Grundlage der Öffnungsklausel kam es zu zahlreichen landesrechtlichen Änderungen. Ein weit reichender Ausschluss des Vorverfahrens findet sich in BadenWürttemberg, Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hessen und SachsenAnhalt, ein begrenzter in Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Mecklenburg-Vorpommern führte als erstes Bundesland das fakultative Widerspruchsverfahren ein, welches später auch in Bayern folgte. Die Länder Brandenburg, Bremen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Schleswig-Holstein haben bislang auf Beschränkungen verzichtet. Angesichts der schieren Uferlosigkeit der Regelungen konzentriert sich die nachfolgende Untersuchung exemplarisch auf drei besonders experimentierfreudige Länder, für die jeweils ausführliche Evaluationsergebnisse vorliegen: Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen.37 a) Bayern In Bayern wurde bereits im Jahre 1970 das Vorverfahren im Bereich des Baurechts abgeschafft, allerdings vier Jahre später aufgrund eines massiven Anstiegs von gerichtlichen Baustreitigkeiten wieder eingeführt.38 Im Zeitraum von 1997 – 2007 wurde es sodann aufgrund des Art 15 Abs. 1 Bay AGVwGO schrittweise in vielen Bereichen ausgeschlossen.39 Zusätzlich wurde in Mittelfranken ein dreijähriger Modellversuch von Juli 2004 bis Juni 2007 durchgeführt, bei dem auf das Widerspruchs-
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Wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof ausführt, steht dem Gesetzgeber hier aber ein weiter Ermessensspielraum zu, siehe BayVerfGH, BayVBl 2007, 79 (81), V 2 a.. Das Erfordernis des sachlichen Grundes folgt jedoch, anders als bei Biermann, NordÖR 2007, 139 (147), nach hier vertretener Ansicht nicht aus der Regelung des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO selbst, sondern aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, der eine Ungleichbehandlung durch den Gesetzgeber ohne sachlichen Grund verbietet. Insofern verliert die von ihm dargestellte Kontroverse etwas an Brisanz; der eigentliche Streit bezieht sich wohl eher auf Einschränkungen, die über dieses Minimalerfordernis hinausgehen. 36 Diese Schlussfolgerung findet sich auch bei Schenke (Fußn. 4), § 68, Rn. 17, wenngleich dort eher die Gegenansicht bevorzugt wird. Zu den weiteren Gesetzesänderungen in § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO vgl. Schenke, NJW 1997, 81 (92); BT-Dr. 13/5098, S. 23. 37 Insgesamt zu den verschiedenen Regelungen siehe Biermann, DÖV 2008, 395 (396 ff.). 38 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (66); zur Rechtmäßigkeit der teilweisen Abschaffung im Jahre 1970 siehe Schmitt, BayVBl 1971, 408 ff. 39 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (55 ff.).
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verfahren vollständig verzichtet wurde.40 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof bestätigte anlässlich einer Popularklage die Übereinstimmung dieser Reform mit der Landesverfassung.41 Eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips sei selbst dann nicht zu erkennen, wenn man der Ansicht folge, es handele sich bei der Neuregelung des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO nur um eine bereichsspezifische Öffnung, weil die bayerische Regelung keine „generelle und dauerhafte Abschaffung des Widerspruchsverfahrens“ vorsehe; sie habe vielmehr „experimentellen Charakter“.42 Ebenso wurde eine Verletzung des Gleichheitssatzes verneint, da vernünftige Gründe für die Experimentierklausel vorlägen, so dass der Bereich gesetzgeberischen Ermessens nicht überschritten sei.43 Das Gericht musste sich nicht der Frage stellen, wie weit die Öffnungsklausel des § 68 Abs. 1 S. VwGO reicht; folgt man der hier vertretenen Auslegung (siehe oben III. 1.), ist dem Gericht erst recht beizupflichten. Hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der neuen Regelungen ergab die Evaluation durch eine Arbeitsgruppe, dass durch die vollständige Abschaffung des Widerspruchsverfahrens die Anzahl der Klageeingänge bei den Verwaltungsgerichten deutlich angestiegen war.44 Die Mehrzahl der im Evaluationszeitraum erhobenen Widersprüche habe sich auf bestimmte Sachgebiete, z. B. das Beamtenrecht, das Baurecht sowie das Gebühren- und Beitragsrecht, konzentriert.45 Das Widerspruchsverfahren habe überwiegend seine Funktionen erfüllt; seine probeweise Abschaffung habe das Verwaltungsverfahren insgesamt nicht spürbar beschleunigt.46 Vor allem der Befriedungseffekt des Widerspruchsverfahrens wurde hervorgehoben: Nur etwa auf die Hälfte aller ablehnenden Widerspruchsbescheide folge eine Klage vor den Verwaltungsgerichten.47 Eine Abschaffung wurde lediglich für bestimmte Sachbereiche empfohlen, in denen nur wenige Widersprüche erhoben würden oder aber statistisch gesehen kaum Abhilfeentscheidungen ergingen, so dass eine Verfahrensbeschleunigung und eine Einsparung von Personalkosten auf Behördenseite bewirkt werden könne.48 Im Übrigen regte die Arbeitsgruppe eine mögliche Anreicherung des Vor40
Biermann, DÖV 2008, 395 (397, 401); vgl. auch Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/145, S. 4; vgl. auch Unterreitmeier, BayVBl 2007, 609 ff.; Hüffer, BayVBl 2007, 619 ff.; Müller-Grune/ Grune, BayVBl 2007, 65 ff.; zur Verlängerung des ursprünglich auf zwei Jahre angelegten Versuchs siehe Hofmann-Hoeppel, BayVBl 2007, 73 ff. 41 BayVerfGH, Entscheidung vom 15. 11. 2006, BayVBl 2007, 79; vgl. Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (691); Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (56 ff.); grundsätzlich kritisch zur Verfassungsmäßigkeit der Änderungen Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 ff. 42 BayVerfGH, BayVBl 2007, 79, Leitsatz V 1 a aa) (1). 43 BayVerfGH, BayVBl 2007, 79 (81), Leitsatz V 2. 44 Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ vom 15. 11. 2006, S. 124 ff.; siehe auch Hüffer, BayVBl 2007, S. 619 ff. 45 Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ (Fußn. 44), S. 121 ff. 46 Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ (Fußn. 44), S. 127 ff. Bedenken gegen eine Abschaffung des Widerspruchsverfahrens äußern auch Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (72). 47 Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ (Fußn. 44), S. 125. 48 Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ (Fußn. 44), S. 129 ff.
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verfahrens durch fakultative und mediative Elemente an.49 Eine ähnlich differenzierte Bewertung findet sich auch bei den Kammern, die ihre Mitglieder vor einer kostenpflichtigen Klage bewahren wollen und deswegen angesichts der Reform auf „intensivierten Kontakt mit den Betroffenen“ setzen, um Streitigkeiten bereits im Vorfeld zu beseitigen; bei Massenbescheiden sind diese Möglichkeiten jedoch begrenzt.50 Über die Empfehlung einer lediglich begrenzten Abschaffung des Vorverfahrens durch die Arbeitsgruppe ging der Gesetzgeber in der Folge deutlich hinaus.51 Das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung bewirkte eine weit reichende Umgestaltung des Widerspruchsverfahrens.52 Sein Anwendungsbereich beschränkt sich allerdings auf bestimmte Rechtsgebiete, und das Verfahren ist fakultativ ausgestaltet.53 Dadurch soll das Rechtsbehelfsverfahren zu Gunsten der Betroffenen flexibilisiert und die Verwaltung entlastet werden.54 Soweit der Bürger das Vorverfahren anstrengt, wirkt weiterhin die Filterfunktion zugunsten der Gerichte.55 Laut der Gesetzesbegründung bleibt auch die „Möglichkeit der Selbstkontrolle der Verwaltung […] in diesem Umfang erhalten“, da die „Widerspruchsbehörde […] insoweit ihre Bündelungsfunktion wahrnehmen und auf die Einheitlichkeit der Verwaltungspraxis hinwirken [kann]“.56 Rechtsunsicherheit sei angesichts der Rechtsbehelfsbelehrung des Betroffenen nicht zu befürchten.57 Auch im Hinblick auf das neue Gesetz hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom Oktober 2008 die Übereinstimmung mit der Landesverfassung bejaht, da dem Bürger aufgrund des Fakultativmodells, das ein Minus gegenüber einer vollständigen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens darstelle, in weiten Bereichen die „Option eines Vorverfahrens erhalten“ bleibe.58 Im Bereich der Massenverwaltung wurde al49
Arbeitsgruppe „Widerspruchsverfahren“ (Fußn. 44), S. 212. Regler/Baumbach, GewArch 2007 (53), 466 (468). 51 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); vgl. auch Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 9 ff.; Unterreitmeier, BayVBl 2007, 609 (614); Geiger, BayVBl 2008, 161 ff.; kritisch zu den weit reichenden Regelungen Eibner, Die Abschaffung des verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens in Bayern, 2010, S. 85 ff., der diese teilweise für rechtswidrig hält. 52 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); vgl. auch Unterreitmeier, BayVBl 2007, 609 ff.; Heiß/ Schreiner, BayVBl 2007, 616 (617 ff.); zu den Erwägungsgründen des Landtags siehe Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 1. 53 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); siehe auch im Detail Eibner (Fußn. 51); Heiß/ Schreiner, BayVBl 2007, 616 ff. 54 Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 9. 55 Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 9. 56 Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 9. 57 Bay. Landtag, LT-Drucks. 15/7252, S. 9. 58 BayVerfGH, NVwZ 2009, 716 ff. (insbesondere 717); vgl. zur Frage der Verfassungsmäßigkeit auch Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (691), die wohl ebenfalls einen Verstoß gegen das Willkürverbot verneint, wenngleich sie angesichts der unterschiedlichen landesrechtlichen Regelungen „Zweifel an der Systemgerechtigkeit“ artikuliert. Eibner (Fußn. 51), S. 85 ff., dagegen hält die weit reichende Ausschlüsse des Widerspruchsverfahrens teilweise für rechtswidrig. Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit der bayerischen Rege50
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lerdings eine deutliche Zunahme gerichtlicher Verfahren konstatiert.59 Im Schrifttum sowie in der parlamentarischen Außenbewertung blieb das Fakultativmodell nicht ohne Kritik. So heißt es, dieses Modell „verwässer[e] das gesetzgeberische Ziel“.60 Der in Bayern gewählte Kompromiss habe zur Folge, dass es in bestimmten Bereichen zu einem komplizierten Nebeneinander verschiedener Rechtsbehelfe kommen könne.61 Weitere Studien mit stärker belastbaren Ergebnissen sind hier erforderlich.62 Nach hier vertretener Auffassung erscheint die weit reichende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens aus den von der Arbeitsgruppe genannten Gründen eher kontraproduktiv. Das Fakultativmodell ist dagegen grundsätzlich als Fortschritt zu bewerten, wie nachfolgend zu zeigen ist. b) Mecklenburg-Vorpommern Der Vorläufer der bayerischen Fakultativregelung findet sich in Mecklenburg-Vorpommern. Hier wurde für einen Erprobungszeitraum von Juli 2005 bis Juni 2011 (zunächst bis 31. 12. 2008) mit § 13a des Ausführungsgesetzes zum Gerichtsstrukturgesetz (AGGStrG MV) in Teilbereichen ein fakultatives Vorverfahren eingeführt, bei dem die Betroffenen die Wahl haben, entweder zunächst Widerspruch einzulegen (und bei ausbleibendem Erfolg zu klagen) oder sofort Klage zu erheben.63 Als Minus gegenüber einer vollständigen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens begegnet dieses Fakultativmodell (auch Optionsmodell genannt) keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.64 Es betrifft insbesondere bestimmte Verwaltungsakte im Bereich des Bau- und Immissionsschutzrechts, darüber hinaus Entscheidungen gemäß dem Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen und schließlich bestimmte Entscheidungen im Landesfischereirecht.65 Zudem wurde das Widerspruchsverfahren in ausgewählten anderen Teilbereichen grundsätzlich ablung hegen Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (68), weil der Bürger teilweise nur anhand der Gesetzesbegründung oder anhand der – womöglich fehlerhaften – Rechtsbehelfsbelehrung feststellen könne, ob in seinem Fall ein Widerspruchsverfahren durchzuführen sei. Kritisch im Hinblick auf die Gesetzgebungszuständigkeit des Landes Bayern Holzner, DÖV 2008, 217 ff. 59 BayVerfGH, NVwZ 2009, 716 (717). 60 Vgl. etwa Landtag NRW, APr. 14/467, S. 19. 61 Vgl. Landtag NRW, APr. 14/467, S. 19. 62 Vgl. auch Eibner (Fußn. 51), S. 85 ff., dem zufolge „nicht völlig eindeutig [ist], ob die Abschaffung bzw. fakultative Ausgestaltung sinnvoll war oder nicht“, soweit sie überhaupt rechtmäßig gewesen sei (S. 86). 63 Biermann, DÖV 2008, 395 (398); Biermann, ZUR 2006, 282 ff. 64 Biermann, NordÖR 2007, 139 (149); im Ergebnis ebenso Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (68 f.), wenngleich sie eine „generelle Wahlmöglichkeit zwischen direkter Klage und Einlegung des Widerspruchs…von der Öffnungsklausel des § 68 Abs, 1 VwGO nicht mehr gedeckt“ sieht; zu den Vorläufern des Fakultativmodells in Baden und Rheinland-Pfalz sowie im früheren Sozialgerichtsprozess und dem heutigen Finanzgerichtsprozess siehe Biermann, DÖV 2008, 395 (399); Presting, DÖV 1976, 269; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692). 65 Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 5, 6; vgl. auch Biermann, DÖV 2008, 395 (399).
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geschafft (§ 13b AGGStrG MV); betroffen sind bestimmte Entscheidungen nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz, dem Feiertagsgesetz M-V, dem Betreuungsgesetz sowie Betreuungsrechtsänderungsgesetz, dem Bildungsfreistellungsgesetz sowie dem Waffengesetz.66 Die Regelungen dienen vorrangig dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung.67 Auch in Mecklenburg Vorpommern wurde die befristete Einführung eines fakultativen Widerspruchsverfahrens durch eine Studie begleitet, deren Ergebnisse unlängst dem Landtag vorgestellt wurden.68 Danach wurde bei den Regelungsbereichen des Landesbaurechts und des Waffenrechts „die Erreichung des genannten Ziels“ festgestellt, ohne dass „nennenswerte negative Nebenwirkungen“ eingetreten seien; insbesondere habe die „Arbeitsbelastung der Verwaltungsgerichte nicht zugenommen“.69 Aufgrund der „überwiegend positiven Wirkungen“ komme „eine vorsichtige Ausweitung des Anwendungsbereichs“ der Modifikation in Betracht.70 Zugleich zeigten die Erfahrungen in anderen Bundesländern, dass eine Ausweitung auf Massenverfahren („z. B. kommunale Steuern, Gebühren und Beiträge, Ausbildungsund Studienförderungsrecht, Wohngeldrecht“) nicht sinnvoll sei, weil hier mit „einem deutlichen Anstieg der Klageeingangszahlen…zu rechnen“ sei.71 Folglich wurde zu einer „punktuell[en]“ Ausweitung geraten, wobei „vorrangig das Optionsmodell“ eingesetzt werden solle.72 Die Befragung der betroffenen Stellen ergab, dass eine Ausweitung unter anderem in den Bereichen des Waffenrechts, des Staatsangehörigkeitsrechts sowie des Fahrerlaubniswesens sinnvoll sein könnte.73 Soweit das Widerspruchsverfahren weiter aufrechterhalten wird, sollte es gemäß der Studie „so weiterentwickelt werden, dass die mit ihm verfolgten Zwecke künftig noch besser erreicht werden können“.74 Bedenkenswert erscheine eine deutliche Trennung von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde, weil bei Behördenidentität „die Tendenz der Widerspruchsbehörde bestehen dürfte, an der ursprünglichen (eigenen) Position festzuhalten“.75 Allerdings solle eine „unnötige Doppelverwaltung“ vermieden werden; in Betracht käme auch die Einbeziehung des jeweiligen Rechtsamts der Verwaltung, „um eine gewisse interne Gegenkontrolle zu erreichen“.76 Alternativ werden zentrale Widerspruchseinrichtungen oder Widerspruchsausschüsse mit mündlicher Erörte-
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Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 6. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 3. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 4. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 4. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 4. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 4. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 18, Fn. 9. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 5. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 19. Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 19.
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rung zur stärkeren Befriedung und Entlastung der Gerichte vorgeschlagen.77 Letztere finden sich in Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland.78 In RheinlandPfalz zeigt die Erfahrung, dass nach einer mündlichen Diskussion des Widerspruchs mit dem Beteiligten nur noch in 5 % aller Fälle Klage erhoben wird.79 Dies spricht für die Übernahme dieser Institutionen, gekoppelt mit dem Fakultativmodell. c) Niedersachsen Niedersachsen schließt das Widerspruchsverfahren inzwischen weitgehend aus, ohne es in den verbleibenden Bereichen fakultativ auszugestalten.80 Ziel der Neuregelung ist eine schnellere, bürgernähere und sparsamere Verwaltung, wobei letzteres vor allem durch Einsparung von Verwaltungspersonal erreicht werden soll.81 In einem Erprobungszeitraum von 2005 bis 2009 regelten § 8a Abs. 1 und 2 Nds. AGVwGO mit einigen Bereichsausnahmen die grundsätzliche Abschaffung des Vorverfahrens.82 Diese Regelung wurde im Jahr 2009 unter Aufhebung der Befristung fortgesetzt.83 Die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens während des Erprobungszeitraums 2005 – 2009 wurde durch eine wissenschaftliche Studie begleitet, auf die die Landesregierung in ihrem Gesetzentwurf zur Änderung der Nds. AGVwGO im Jahre 2009 Bezug nimmt.84 Die Analyse ergab, dass sich die Abschaffung des Widerspruchsver77
Landtag M-V, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 5. Zu Rechtsausschüssen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland vgl. bereits Röper, DÖV 1978, 312 (313 ff.). Auch ihm zufolge sollte die „deutlich erkennbare Befriedungswirkung des gerichtsähnlichen Verwaltungsvorverfahrens bei einem Widerspruchsausschuß…Veranlassung geben, generell das Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren in dieser Form zu verzahnen und so die Verwaltungsgerichte zu entlasten“ (313). Es handele sich zwar nicht um eine „förmliche Verlängerung des Rechtsweges, wohl aber um eine Verstärkung der Rechtsstaatlichkeit“, die ein Verwaltungsverfahren erfordere „in dem der Betroffene als Beteiligter mit selbständigen Befugnissen auf die Herbeiführung einer sachlich und rechtlich zutreffenden Entscheidung hinwirken kann“ (319). 79 Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (689). 80 Biermann, DÖV 2008, 395 (397); Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (60 ff.), die sich auch zur Frage der Rechtmäßigkeit äußert und diese im Ergebnis bejaht; vgl. auch Meyer, NdsVBl 2009, 7 ff.; ausführlich zu den Reformen in Niedersachen siehe Heins (Fußn. 5), S. 97 ff.; van Nieuwland, NdsVBl 2007, 38 ff.; grundsätzlich zum Widerspruchsverfahren in Rheinland-Pfalz siehe Ziekow, Das Widerspruchsverfahren in Rheinland-Pfalz – Bestandsaufnahme, Probleme, Perspektive, 2001. 81 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525). 82 Gesetz zur Modernisierung der Verwaltung in Niedersachsen vom 05. 11. 2004, Nds. GVBl. 2004, S. 394; Biermann, DÖV 2008, 395 (397); Meyer, NdsVBl 2009, 7. 83 Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung, u. a. vom 25.112009, Nds. GVBl. 2009, S. 437. 84 Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung, des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum Sozialgesetzbuch und des Niedersächsischen Beamtengesetzes, Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009; Müller-Rommel/Meyer/Heins, Verwaltungsmodernisierung in Niedersachsen – Evaluation zur Aussetzung der gerichtlichen Vorverfahren für den Zeitraum 01.01.2005 – 31.12.2009, Erster 78
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fahrens in bestimmten Bereichen nicht bewährt habe.85 Dies betraf vor allem den Bereich der Kommunalabgaben, das Ausbildungs- und Studienförderungsrecht sowie das Kinder- und Jugendhilferecht.86 Hier würden Bescheide oftmals in Massenverfahren erlassen, die potenziell anfälliger für Rechenfehler seien oder deren Berechnungsgrundlage für die Betroffenen schwer zu durchschauen seien.87 Hervorgehoben wurde überdies die Befriedungsfunktion des Widerspruchsverfahrens im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.88 Insgesamt stellte die Studie fest, dass es im Erprobungszeitraum zu einem massiven Anstieg der Klageeingänge bei den Verwaltungsgerichten gekommen war.89 Zugleich haben die Gemeinden dem Bericht zufolge festgestellt, „dass in jenen Bereichen, in denen die Bürgerinnen und Bürger vor Erlass des Ausgangsbescheides angehört wurden, im Widerspruchsverfahren regelmäßig keine neuen Gesichtspunkte genannt wurden und die Ausgangsentscheidung bestätigt wurde“.90 Frühzeitige Einbindung und Partizipation der Bürger könne folglich die Berücksichtigung entsprechender Belange und eine verbesserte Akzeptanz der letztlich getroffenen Entscheidungen sicherstellen und damit die Bedeutung des Widerspruchsverfahrens reduzieren.91 Es sollten „abseits der klassischen hoheitlichen Handlungsformen … alternative Verfahrenswege beschritten werden, da das Verwaltungsverfahren gemäß § 10 S. 1 VwVfG nicht an bestimmte Formen gebunden ist“.92 Mögliche Instrumente zur Erlangung einer gemeinsamen Lösung sind etwa Anhörungsgespräche, persönliche Gespräche über den jeweiligen Stand des Verfahrens Bericht der vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport beauftragten Gutachtergruppe zur Verwaltungspraxis und den Folgewirkungen der Aussetzung der gerichtlichen Vorverfahren auf der kommunalen Ebene, 2007; Müller-Rommel/Meyer/Heins, Verwaltungsmodernisierung in Niedersachsen – Evaluation zur Aussetzung des gerichtlichen Vorverfahrens für den Zeitraum 01.01.2005 – 31.12.2009. Zweiter Bericht der vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport beauftragten Gutachtergruppe zur Verwaltungspraxis und den Folgewirkungen der Aussetzung der gerichtlichen Vorverfahren auf der Ebene der Körperschaften öffentlichen Rechts, (2008); zu Konzept und Qualität der wissenschaftlich begleiteten Evaluation und den erzielten Ergebnissen siehe auch Meyer, NdsVBl 2009, 7 ff.; eher kritisch Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (479 ff.); van Nieuwland, NdsVBl 2007, 38 (41), wirft gar die Frage auf, „ob die Evaluierung nicht vielleicht doch eher den Charakter einer AlibiVeranstaltung hat und die Entscheidung über die Fortführung oder gar Ausweitung dieser Reform schon von Anfang an beschlossene Sache war“; zu den Ergebnissen der Evaluation siehe Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (487 ff.). 85 Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 4. 86 Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 4. 87 Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 4. 88 Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 4, 5. 89 Nds. Landtag, LT-Drucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 3. Dies gilt vor allem für den Bereich von Massenbescheiden, siehe auch Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Zweiter Bericht 2008, S. 215. 90 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 106. 91 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 106; Nds. Landtag LTDrucks. 16/1414 vom 10. 07. 2009, S. 5; Meyer, NdsVBl 2009, 7 (8 f.). 92 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 106 f.
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und die Gründe für die letztlich getroffene Entscheidung.93 Schließlich werden in dem Bericht in geeigneten Fällen Aushandlungsprozesse als Alternative zu hoheitlichen Handlungsformen empfohlen, etwa „um konkrete Planungen und Maßnahmen im Zusammenwirken mit den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort abzustimmen“.94 Weitere Empfehlungen an die kommunale Ebene sind unter anderem der „Aufbau eines zentralen Beschwerdemanagements“, die „Aufnahme bürgerfreundlicher Hinweise in die Bescheide“, der „Aufbau formloser, verwaltungsinterner Überprüfungsverfahren“ sowie die „Öffentlichkeitsarbeit der Kommunen“.95 Im Ergebnis konstatiert der Bericht verschiedene Folgeprobleme der Aussetzung, „die aber durch Kreativität und informales Verwaltungshandeln vor Ort durchweg gut gelöst“ worden seien.96 Bei anderen Beteiligten, etwa den Kammern, Hochschulen sowie den Studentenwerken, findet sich ein überwiegend skeptischer Tenor.97 Zugleich ist zu beobachten, dass die Verwaltungsgerichte sich offenbar inzwischen auf die neue Situation eingestellt haben; zudem ist die zunächst sprunghaft angestiegene Zahl von Verfahren inzwischen wieder deutlich zurückgegangen.98 Offenbar hat die Aussetzung des Vorverfahrens in Niedersachsen zumindest dazu geführt, dass neue Instrumente erprobt wurden, so dass die Maßnahme einen kreativen Begleiteffekt erzeugt hat. Das Beispiel Niedersachsen zeigt aber ebenso wie Bayern, dass eine Abschaffung des Widerspruchsverfahrens nur in eng umgrenzten Bereichen möglich ist. Wichtiger ist die Umgestaltung durch ein Fakultativmodell sowie die Anreicherung durch mediative Elemente; beides sollte nicht zur Kompensation von Nachteilen der Abschaffung, sondern zur Kombination der Vorteile von Widerspruchsverfahren und Reformelementen eingesetzt werden.
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Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 107. Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 107. 95 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 107; Meyer, NdsVBl 2009, 7 (9 f.), der ferner die „Unterstützung beim Zugang und Ausbau fachlicher Verwaltungsnetzwerke“ nennt (S. 10). 96 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Erster Bericht 2007, S. 107; Meyer, NdsVBl 2009, 7 (10): „Im Wesentlichen wird die Aussetzung des Vorverfahrens von den Mitarbeitern der Kommunen positiv beurteilt, da sie Möglichkeiten schaffe, abseits von Widerspruchs- und Klageverfahren die strittigen Fragen auf informellen Wegen zu klären“. Wohl kritischer spricht Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (487), von „Kompensation durch Informalisierung“; ähnlich auch van Nieuwland, NdsVBl 2007, 38 (40), der den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung anmahnt. 97 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Zweiter Bericht 2008. 98 Müller-Rommel/Meyer/Heins (Fußn. 84), Zweiter Bericht 2008. 94
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IV. Stellungnahme 1. Grundsätzliche Beibehaltung des Widerspruchsverfahrens Das Widerspruchsverfahren ist grundsätzlich bewahrungswürdig; es erfüllt ganz überwiegend seine Funktionen.99 Die Versuche zeigen, dass wesentliche Effizienzgewinne durch seine Abschaffung nicht zu erwarten sind, wenngleich die Bewertungen in den verschiedenen Evaluationsberichten divergieren.100 Eine Verkürzung des gesamten Verfahrens ist nur zu erwarten, sofern der Bürger gegen den betreffenden Bescheid ohnehin Klage erhoben hätte oder sofern vom Widerspruchsverfahren keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.101 Zu einer Beschleunigung des Gerichtsverfahrens dürfte es kaum kommen.102 Andere Instrumente, wie die Zulassungsberufung sowie die Stärkung des Einzelrichters, dürften hier wirksamer sein.103 Aus der Sicht des Betroffenen ist es wesentlich günstiger, einen gegen ihn gerichteten Verwaltungsakt im Widerspruchsverfahren anzugreifen, als gegen ihn zu klagen.104 Das Verfahren stärkt seinen Rechtsschutz. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass auch ohne Widerspruchsverfahren den Voraussetzungen des Art 19 Abs. 4 GG Genüge getan ist.105 Innerhalb des verfassungsrechtlich erlaubten Rahmens kommt es jedoch zu einer spürbaren Einschränkung.106 So erfolgt im Vorverfahren eine Überprüfung nicht nur der Rechtmäßigkeit, sondern – jedenfalls dem Gesetz nach – auch der Zweckmäßigkeit, die vor den Verwaltungsgerichten nur im Rahmen von § 114 VwGO stattfindet.107 Hinsichtlich der Klageerhebung besteht eine wesentlich größere Hemmschwelle, zumal etwa kleinere und mittlere Betriebe oftmals fürchten, dadurch die geschaffene Vertrauensbasis zu zerstören und später nicht mehr in gleicher Weise 99 So auch in einer „Zwischenbilanz“ grundsätzlich Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (689); vehement zugunsten des Widerspruchsverfahrens auch Breuer, FS Steiner, 2009, 93 ff.; bejahend auch für den Bereich „universitärer Abschlussprüfungen“ Bausback, NWVBl 2008, 296 ff. 100 So auch Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (689 f.), der zufolge „[d]iese Bewertungsunterschiede [auch dann] überraschen, wenn man Unterschiede in den Ländern hinsichtlich Vollzugs- und Gerichtssituation in Rechnung stellt“. 101 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); vgl. BT-Drucks. 13/5098, S. 23, 31. 102 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525). 103 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); vgl. Stelkens, NVwZ 2000, 155 (158 ff.); Redeker, NJW 1998, 2790 ff. Wie Dolde/Porsch (Fußn. 3), VBem zu § 68 Rn. 17, ausführen, ist dem gerichtlichen Rechtsschutz im Rahmen von Art 19 Abs. 4 GG eine besondere Bedeutung beizumessen, die über diejenige des Vorverfahrens hinausgeht. 104 Vgl. Rüssel, NVwZ 2006, 523 (526), die darauf hinweist, dass verwaltungsgerichtliche Verfahren im Durchschnitt in etwa das Dreifache des Widerspruchsverfahrens kosten. Sofern ein Rechtsanwalt eingeschaltet wird, liegen die Kosten noch deutlich höher, zumal dieser im gerichtlichen Verfahren regelmäßig weitaus mehr kostet als im Widerspruchsverfahren. 105 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (526). 106 Vgl. auch Müller-Grune/Grune, BayVBl 2007, 65 (67 f.). 107 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (526).
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mit der betreffenden Behörde zusammenarbeiten zu können.108 Die Mehrheit der unternehmerischen Interessenverbände hat sich denn auch für den Fortbestand des Widerspruchsverfahrens ausgesprochen.109 Ihrer Ansicht nach führt dessen Wegfall lediglich zu einer Verschiebung der Überprüfung in den Bereich der Gerichte und eine Verringerung der Befriedungswirkung, die das Widerspruchsverfahren gewährleiste.110 Zugleich könnten sich die Kosten und die Dauer des Verfahrens entgegen der erklärten Absicht verlängern und einen Nachteil für den Wirtschaftsstandort bewirken.111 Bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde reduziere sich allerdings der Gewinn des Widerspruchsverfahrens, weil eine Befriedung hier nur unzureichend erfolgen könne.112 Für die Gerichtsbarkeit dürfte die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens letztlich zu einer deutlichen Mehrbelastung und damit zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer führen, die sich nur durch die Erhöhung der Anzahl der Richterstellen auffangen ließe.113 Derartige Ergebnisse zeigen sich bereits in Niedersachsen.114 Teilweise mag sich die Verwaltung durch unmittelbar drohende Klagen zu einer stärkeren Sorgfalt angehalten sehen; teilweise dürfte gerade das Widerspruchsverfahren disziplinierend wirken.115 Aus der anwaltlichen Warte führt die je nach Landesrecht unterschiedliche Beschränkung des Widerspruchsverfahrens schließlich zu Fallstricken, die das Haftungsrisiko erhöhen und die Anforderungen an die sachgerechte Mandantenbetreuung erhöhen.116 2. Ausnahme nur bei evidenter Ineffektivität Zum Teil mutet die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens somit wie eine Übung an, die mit großem argumentativem Aufwand und entsprechenden Kosten ins Werk gesetzt wurde, aber keine echten, nachweisbaren Vorteile erzeugt. Doch stellt auch die grundsätzliche Bewährung des Widerspruchs einen wichtigen Lerneffekt aus den Experimenten dar. Ferner hat sich gezeigt, dass es Situationen gibt, in denen das Widerspruchsverfahren weitgehend ineffektiv ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde die gleiche ist, weil die Be108 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (526); Fluck, VerwArch 1995 (86), 466 (480): „Die Gefahr, den betreffenden Beamten erheblich zu verärgern, gar das Verhältnis zur Behörde zu beeinträchtigen, steht dann neben den wirtschaftlichen Gesichtspunkten.“ 109 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525). 110 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); vgl. auch Landtag NRW, LT-Drucks. 13/6477. 111 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525); BT-Drucks. 15/1268. 112 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (525). 113 Rüssel, NVwZ 2006, 523 (527). 114 Vgl. Rüssel, NVwZ 2006, 523 (527), die Steigerungsraten der Gerichtsverfahren von bis zu 45 % feststellt. 115 Zu dieser Streitfrage siehe Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692); Beaucamp/ Ringermuth, DVBl 2008, 426 (431). 116 Kothe, AnwBl 2009, 96 (101); zu weiteren Aspekten aus anwaltlicher Warte siehe Wienhues, BRAK-Mitt 2009, 111 ff.
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hörde offenbar nur selten ihre eigenen Entscheidungen aufhebt.117 Hier sollte das Widerspruchsverfahren entweder wegfallen, oder die zuständige Widerspruchsbehörde sollte anders bestimmt werden. Zudem bieten sich Bereichsausnahmen des Widerspruchsverfahrens an, soweit sich empirisch zeigen lässt, dass es weitgehend ins Leere läuft oder das Verfahren erheblich verzögert.118 Die bisherigen Evaluationsergebnisse sind diesbezüglich allerdings recht uneinheitlich; konkrete Sachgebiete lassen sich noch nicht benennen. Unabhängig von der Materie kommt hingegen eine Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Bagatellsachen und Bereichen der Massenverwaltung nicht in Betracht.119 Im Bereich der Massenverwaltung sollte der Verwaltung zunächst die Gelegenheit gegeben werden, sich erneut mit dem Einzelfall zu beschäftigen und so Fehler zu beseitigen, die hier leicht geschehen können. Auch Bagatellfälle dürften häufig bereits im Widerspruchsverfahren gelöst werden, so dass die Inanspruchnahme aufwändiger Gerichtsverfahren vermieden werden kann. 3. Ausgestaltung des Widerspruchsverfahrens als fakultatives Verfahren Rechtlich begegnet das Fakultativmodell keinen durchgreifenden Bedenken, denn es stellt ein Minus gegenüber der von § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO autorisierten Abschaffung des Widerspruchsverfahrens dar.120 Rechtspolitisch ist das Modell vor allem deshalb sinnvoll, weil es den Bürger in den Vordergrund rückt und ihn ermächtigt, selbst zu entscheiden, ob sich ein Vorverfahren im konkreten Fall für ihn lohnen könnte oder nicht.121 Auf diese Weise bleiben die Zwecke des Vorverfahrens voll erhalten; zugleich kann der Bürger das Vorverfahren überspringen, wenn er sich hiervon keinen Erfolg verspricht.122 Der subjektive Rechtsschutz des Bürgers wird dadurch gestärkt, 117
So auch Rüssel, NVwZ 2006, 523 (527). Dolde/Porsch (Fußn 3), VBem zu § 68 Rn. 16a. 119 Diese Fälle erwägt Rüssel, NVwZ 2006, 523 (527), wobei sie ebenfalls angesichts von Schwierigkeiten der Abgrenzung skeptisch ist. 120 Vgl. Biermann, DÖV 2008, 395 (403). Zweifel an diesem Erst-Recht-Schluss könnte man deshalb hegen, weil beim Fakultativmodell anders als bei einem Ausschluss des Vorverfahrens die aufschiebende Wirkung eines (dennoch) eingelegten Widerspruchs nicht gemäß § 74 Abs. 1 VwGO entfällt. Das „Minus“ ist insoweit jedoch nicht mit Blick auf eine mögliche Verfahrensbeschleunigung, sondern auf den Grad der Abweichung vom Regelfall, nämlich der Statthaftigkeit eines Widerspruchs mit aufschiebender Wirkung, zu bestimmen. 121 Ähnlich auch Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (67): „Vor allem in Fällen, bei denen eine Ermessensentscheidung der Behörde im Raum steht, es der gründlicheren Tatsachenerforschung bedarf oder wenn es einen größeren Kreis von Drittbetroffenen (Nachbarn) gibt, würde der Bürger die Chance des Widerspruchs nutzen und nicht sofort klagen“. 122 Nds. Landtag, LT-Drucks. 5/4127 vom 31. 01. 2011, S. 19. Ähnlich auch SteinbeißWinkelmann, NVwZ 2009, 686 (692): „die fakultative Regelung nimmt den Rechtssuchenden nichts weg, gibt ihnen aber mehr Flexibilität“; ähnlich auch Heins (Fußn. 5), S. 311: „Das fakultative Widerspruchsverfahren birgt den Vorteil, dass die Betroffenen bei Bedarf eine verwaltungsinterne Überprüfung der Entscheidung herbeiführen können, die ohne zeitlichen Druck stattfindet und mit einem anfechtbaren Verwaltungsakt abschließt“; siehe auch Bier118
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dass er ihn in bestimmten Grenzen selbst gestalten kann. Der gleiche Effekt träte allerdings auch ohne das Fakultativmodell ein, wenn man der Ansicht zuneigte, ein Widerspruch sei auch dann statthaft, wenn der Gesetzgeber den Wegfall des Vorverfahrens angeordnet habe.123 Der Wortlaut („bedarf es nicht“) spricht zumindest nicht gegen diese Auffassung, wohl aber die Systematik der VwGO, denn nach § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO hat die Erhebung eines nicht erforderlichen Widerspruchs keinen Einfluss auf die Klagefrist.124 Im Ergebnis ist der Widerspruch in diesen Fällen daher nicht statthaft.125 Ohne Fakultativmodell lässt sich der Effekt folglich nicht erreichen. Gravierende Nachteile dieses Verfahrens sind nicht erkennbar; insbesondere bestehen keine unlösbaren prozessrechtlichen Probleme.126 Die Einschätzung, wonach das Verfahren „im Hinblick auf die Kontroll- und Entlastungsfunktion kontraproduktiv“ sei,127 vermag letztlich nicht zu überzeugen. Inwieweit langfristig tatsächlich die Zahl der Klagen ansteigt, bleibt abzuwarten. Außerdem kann eine Entlastung der Gerichte kein Selbstzweck sein, vielmehr ist auch die Arbeitsbelastung der Verwaltung zu berücksichtigen. Die Selbstkontrolle der Verwaltung dürfte sich in der Tat verringern, was aber hoffen lässt, dass die Verwaltung von vornherein noch größere Sorgfalt walten lässt und der Ausgangsentscheidung interne Kontrollmechanismen vorschaltet. 4. Alternative Mittel der Streitbeilegung a) Keine Ersetzung, sondern Ergänzung des Widerspruchsverfahrens Das Widerspruchsverfahren ist ein Instrument der Konfliktlösung; es wird durch weitere Instrumente des Verwaltungsverfahrensrechts, insbesondere den Untersuchungsgrundsatz sowie die Pflicht zur Anhörung, verstärkt.128 Die sog. Verfahren mann, DÖV 2008, 395 (403 f.), der resultierende „verwaltungspraktische Probleme der Erstellung einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung“ für lösbar hält; zur Thematik vgl. auch Allesch, GS Kopp, 2007, 16 (31 ff.). Die von Allesch ebenfalls ins Spiel gebrachte Alternativlösung der „Freigabe des Klagewegs durch die Widerspruchsbehörde“ (31) ist dem Fakultativmodell jedoch nicht gleichwertig, da hier die Entscheidung nicht dem Bürger, sondern der Verwaltung überlassen wird. 123 Vgl. zu diesem Streit etwa Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (69 f.). 124 Zu diesem Argument siehe Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (69 f.). 125 So Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (69 f.); Schenke (Fußn. 4), § 68 Rn. 16; zur Gegenmeinung siehe Kothe, in Redeker/von Oertzen, VwGO, 2010, § 68 Rn. 9a, der „[j]e nach Formulierung des Ausschlusses“ einen dennoch erhobenen Widerspruch für statthaft hält. Das überzeugt nur insoweit, als ein landesrechtlich ausdrücklich als fakultativ bezeichneter Ausschluss auch als solcher wirkt. Sofern jedoch im jeweiligen Ausführungsgesetz lediglich unter Berufung auf § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO Bereiche normiert werden, in denen es des Widerspruchsverfahrens nicht bedarf, ist davon auszugehen, dass gemäß der Systematik der VwGO auch die Statthaftigkeit dennoch eingelegter Widersprüche ausgeschlossen werden soll. 126 So auch Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692), mit weiteren Nachweisen. 127 So Dolde/Porsch (Fußn 3), VBem zu § 68 Rn. 16 b. 128 Siehe Meyer, NdsVBl 2009, 7 (8).
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der alternativen Streitbeilegung wie Mediation, informelle Absprachen etc. können dieses Instrumentarium nicht ersetzen.129 Womöglich bewirkt der Wegfall der formellen Barriere des Widerspruchs einen weniger formellen und dadurch effektiveren Dialog mit der Verwaltung und damit einen Gewinn an Bürgernähe.130 Da die Verwaltung jedoch stets dem Risiko einer Klage ausgesetzt ist, dürfte sie dem Bürger zumindest nicht weniger formell gegenübertreten als bei der Möglichkeit eines vorgelagerten Widerspruchs. Ein „Paradigmenwechsel vom hoheitlichen Anordnungsstaat zum Verhandlungsstaat“ hat nicht stattgefunden und wird sich vermutlich auch künftig nicht vollziehen.131 Verhandlungslösungen dürfen im Übrigen nicht dazu führen, dass die Verwaltung sich ihrer Letztverantwortung entledigt.132 Zudem muss klar sein, inwieweit jeweils eine Bindung intendiert ist oder nicht.133 Alternative Verfahren der Streitbeilegung sollten deshalb ein Widerspruchsverfahren nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen.134 Mechanismen alternativer Streitbeilegung können so zu besser ausgewogenen Verwaltungsentscheidungen führen, die zudem eine verwaltungsinterne Revision durch das Vorverfahren weniger wichtig erscheinen lassen.135 Das kann durchaus eine Beschleunigung des Verwaltungshandelns, mithin eine größere Effizienz bewirken. Alternative Konfliktlösung kann Kosten sparen und eine stärkere Befriedung der Parteien erzeugen. Der Nutzen solcher Instrumente ist jedoch empirisch genau zu untersuchen.136 Verschiedene Varianten der Ausgestaltung sind
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Dolde/Porsch (Fußn 3), VBem § 68 Rn. 16c: „Die Durchführung eines freiwilligen Mediationsverfahrens im Widerspruchsverfahren kommt als alternatives Mittel zur Streitbeilegung nur in wenigen geeigneten Fällen in Betracht“. 130 Vgl. hierzu Rüssel, NVwZ 2006, 513 (525). 131 Eine solchen Paradigmenwechsel postulierte jedoch tendenziell im Juni 2009 der niedersächsische Innenminister, kritisch hierzu Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 ff. 132 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Riedel, Die Bedeutung von Verhandlungslösungen im Verwaltungsverfahren, Länderberichte und Generalbericht der 28. Tagung für Rechtsvergleichung 2001 in Hamburg, 2002, der dies vor allem in der deutschen Verwaltungswissenschaft konstatiert. 133 Schmidt-Aßmann (Fußn. 132), S. 21. 134 So auch für den Bereich der Mediation Schmidt-Aßmann (Fußn. 132), S. 34. Grundsätzlich gelte danach: „Wo nach Maßgabe des Gesetzes eine staatliche Entscheidung zu treffen ist, kann sie nicht durch Substitution oder automatische Rezeption einer von privaten Konfliktparteien festgelegten Lösung entstehen“. 135 Vgl. zur Thematik Schenke, FS Zezschwitz, 2005, 130 ff.; Groß, Die Verwaltung 2001 (34), 371 (393 f.); zu Verhandlungslösungen im Verwaltungsverfahren siehe Riedel, Die Bedeutung von Verhandlungslösungen im Verwaltungsverfahren, Länderberichte und Generalbericht der 28. Tagung für Rechtsvergleichung 2001 in Hamburg, 2002; Schmidt-Aßmann (Fußn. 132), S. 9; zu Verhandlungslösungen in anderen rechtlichen Kontexten siehe Hanschel, Verhandlungslösungen im Umweltvölkerrecht, 2003. Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692), hebt in ihrem Ausblick das Thema Mediation hervor; vgl. zur Thematik auch Vetter, Mediation und Vorverfahren – Ein Beitrag zur Reform des verwaltungsgerichtlichen Vorverfahrens, 2004; Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (70 ff.). 136 Deutlich kritisch zum Thema der Informalisierung Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (493 ff.), der insbesondere „Unverbindlichkeit“, „Uneinheitlichkeit und Diskriminie-
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zu betrachten, die sich unter dem Begriff des informellen Verwaltungshandelns zusammenfassen lassen. Laut Ossenbühl rechnen dazu „alle Verwaltungshandlungen, die sich nicht unter die herkömmlichen rechtlich formalisierten Handlungsformen der Verwaltung rubrizieren lassen“.137 b) Mediation, Verhandlungen und informelle Absprachen Hervorzuheben sind vor allem Mediation bzw. Verhandlungen sowie sog. informelle Absprachen zwischen der Verwaltung und dem Bürger, mittels derer Kompromisse geschlossen werden können, die beide Seiten zufrieden stellen (etwa in Form von Ratschlägen, Empfehlungen, „gentlemenÏs agreements“, etc.). Sie setzen häufig schon vor Erlass des Ausgangsbescheids ein bzw. können diesen nachträglich „ergänzen“. Sie stellen ein Instrument des informellen Verwaltungshandelns dar, das in den 80er Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.138 Verhandlungen können zwischen Bürger und Verwaltung stattfinden. Bei den komplizierteren Fällen drei- oder mehrpoliger Verwaltungsrechtsverhältnisse, etwa im Bereich des Nachbarschutzes, kann die Behörde mit bestimmten Einschränkungen als Mediator in Erscheinung treten.139 Soweit es in erster Linie auf die Entscheidung streitiger Rechtsfragen ankommt oder Entscheidungen im Massenverfahren getroffen werden, ist Mediation problematisch, da wenig effektiv bzw. kaum praktikabel.140 Dies heißt aber nicht, dass kein Raum für Verhandlungsaspekte besteht. Zu Verhandlung bzw. Mediation kann es berungspotential“ sowie das Dilemma der Erzeugung zusätzlicher Kosten oder der Nutzlosigkeit solcher Verfahren bemängelt. 137 Ossenbühl, UTR 1987, 27 (29 f.). Gemeint sind nicht nur die verschiedenen Formen der informellen Zusammenarbeit zwischen Staat und Bürger, sondern auch „einseitiges Hoheitshandeln“, etwa behördliche Warnungen, Auskünfte, Ratschläge und Empfehlungen; hinzu treten „administrative Regelbildungen und Normsetzungen, die sich außerhalb der verfassungsrechtlich formalisierten Rechtserzeugungsverfahren vollziehen, aber in ihrer praktischen Bedeutung nicht hinter den herkömmlichen klassischen Rechtsquellen, also Gesetz und Rechtsverordnung zurückstehen“. 138 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2009, S. 418 f.; zu Verhandlungslösungen siehe Riedel (Fußn. 135); Schmidt-Aßmann (Fußn. 132), S. 9 ff. 139 Zur Mediation im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vgl. auch Schenke, FS Zezschwitz, 2005, 130 ff., der allerdings zu Recht darauf hinweist, dass der Mediation im öffentlichen Recht durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung „engere materiellrechtliche Schranken“ gesetzt werden als im Zivilrecht (131, 139 ff.). Hinzu kommen verfahrensrechtliche Probleme insoweit, als „öffentlichrechtliche Rechtsverhältnisse oftmals multipolar strukturiert sind und dadurch eine Vielzahl von Rechtsträgern tangieren, so daß die Konfliktfelder entsprechend weit ausfallen“ (142); zu den Problemen einer Mediation im öffentlichen Recht im Einzelnen siehe Schenke, FS Zezschwitz 2005, 130 (137 ff.); zu „Mediation und Vorverfahren“ siehe Vetter (Fußn. 135); zu „Möglichkeiten der Integration mediativer Elemente in das Widerspruchsverfahren“ siehe Rapp, Mediation im Verwaltungsrecht – Möglichkeiten der Integration mediativer Elemente in das Widerspruchsverfahren, 2004; zu „Verhandlungslösungen im Verfahren der Mediation“ siehe auch Schmidt-Aßmann (Fußn. 132), S. 30 ff. 140 Dolde/Porsch (Fußn 3), VBem § 68 Rn. 16 c.
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reits vor Beginn des Verwaltungsverfahrens kommen, aber auch parallel oder im Nachgang hierzu.141 Informelle Absprachen als mögliche Resultate von Verhandlungs- und Mediationsprozessen liegen nicht innerhalb des Bereichs der „traditionellen Rechtsformen des Verwaltungshandelns“, sondern wollen diese vielmehr „vorbereiten oder ersetzen“.142 Soweit die Behörde eine Bindungswirkung abschließend vermeiden will, entstehen Konflikte mit den Garantien des Rechtsstaats. Insoweit kommen sie nur als vorbereitende Instrumente in Betracht. c) Intensivierung des Informationsaustauschs, insbesondere erweiterte Anhörung Mediation, Verhandlungen und informelle Absprachen basieren auf gegenseitiger Information. Ihr dienen Gespräche zum Zweck der Anhörung, der Information über den Stand des Verfahrens sowie der Begründung von Entscheidungen.143 Die Erfahrung legt nahe, dass eine frühe Einbeziehung des Bürgers in den Entscheidungsfindungsprozess, insbesondere eine gründliche Anhörung, die Akzeptanz einer Entscheidung durch den Bürger wesentlich erhöhen kann.144 Der Anhörung im Verwaltungsverfahren kommt im Hinblick auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren ein „zentraler Stellenwert“ zu.145 Dem trägt die seit 2005 bestehende sog. Anhörungsrüge gemäß § 152 a VwGO Rechnung, mit der unanfechtbare Entscheidungen der Fachgerichte wegen möglicher Verletzung des rechtlichen Gehörs überprüft werden können.146 Die vorgeschlagene Einführung eines fakultativen Widerspruchsverfahrens kann zusätzlich zur „Disziplinierung“ der Ausgangsbehörde beitragen, indem sie ihre förmliche Anhörungspflicht vor Erlass belastender Verwaltungsakte gemäß § 28 VwVfG ernst nimmt oder die Anhörung gar über den gesetzlich erforderlichen Rahmen hinaus ausdehnt.147 Vielfach besteht aber aus Sicht 141 Schenke, FS Zezschwitz 2005, 130 (143 ff.). Wie Wolf-Rüdiger Schenke treffend ausgeführt hat: „Je zeitiger die Mediation einsetzt, um so eher wird sie die ihr zugeschriebene und sie mitlegitimierende verfahrensökonomische Zielsetzung entfalten, und um so größer wird sich in der Regel auch der Verhandlungsspielraum für eine Mediation darstellen…“. 142 Maurer (Fußn. 138), S. 418. 143 Grundsätzlich zur Bedeutung der Begründung staatlicher Entscheidungen siehe Schenke, VBlBW 1982, 313 (324 f.); Kischel, Die Begründung – Zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2003. 144 Zur Bedeutung der Anhörung im Verwaltungsverfahren vgl. auch Schenke, VBlBW 1982, 313 (320 ff.). 145 Schenke, VBlBW 1982, 313 (320); siehe auch Kothe, AnwBl 2009, 96 (100 f.); vgl. zu den Anforderungen an eine Heilung nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG auch Schenke, VerwArch 2006 (97), 592 (608 f.). 146 Siehe Schenke, NVwZ 2005, 729, der eine analoge Anwendung bei der Verletzung sonstiger „verfassungsrechtlich garantierte[r] Verfahrensrechte“ befürwortet. 147 Vgl. auch Heins (Fußn. 5), S. 309, die die Vorteile einer Ausdehnung der Anhörungspflicht betont: „Die Ausdehnung der Anhörungspflicht der Behörde bietet erhebliche Vorteile für den Rechtsschutz der Betroffenen, die eine Gelegenheit erhalten, sich im Voraus in das
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der Behörden die „Versuchung“, auf die Anhörung vor Erlass des (belastenden) Ausgangsbescheids zu verzichten, weil sie bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden kann (§ 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG).148 Verstöße vor Erlass des Ausgangsbescheides können folglich im Widerspruchsverfahren und vor Gericht nachgeholt werden, Verstöße im Widerspruchsverfahren vor Gericht.149 Zumindest eine Heilungsmöglichkeit würde durch die Abschaffung des Widerspruchsverfahrens entfallen.150 Für ein Fakultativmodell dürfte hingegen die höchstrichterliche Rechtsprechung gelten, wonach die bloße Möglichkeit, Widerspruch einzulegen, schon etwaige Anhörungsmängel heilt, sofern diese nicht auf eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist.151 Da dieses Modell jedoch aus den oben genannten Gründen vorzugswürdig ist, liegt es nahe, die Heilungsmöglichkeit nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG de lege ferenda entfallen zu lassen oder zumindest zu modifizieren. d) Formlose Rechtsbehelfe Der informellen Verwaltungskontrolle dienen schließlich bereits vorhandene Rechtbehelfe wie die Gegenvorstellung sowie die Fach- und Dienstaufsichtsbeschwerde.152 Vor allem in widerspruchsträchtigen Bereichen ist in Erweiterung des vorhandenen Instrumentariums an „verwaltungsinterne Überprüfungsverfahren“ zu denken, etwa die Einrichtung „zentraler Beschwerde- und Informationsstellen“ bzw. Ombudsstellen.153 Da es sich bei dem Beschwerdeverfahren nicht um ein formelles Verfahren handelt, dürften Feststellungen einer solchen Stelle keine eigenständige Verpflichtung entfalten. Die Ausgangsbehörde wird jedoch zu einer erneuten Prüfung im Lichte dieser Feststellung angehalten, die ggf. zur Aufhebung des erlassenen Verwaltungsaktes führt. Hier geht es darum, langfristig eine stärkere Kultur der Beachtung informeller Verfahren durch die Verwaltung zu etablieren, um nach Möglichkeit die ihnen oft zugeschriebenen Attribute „formlos, fristlos und fruchtlos“ zu widerlegen.
Verwaltungsverfahren einzubringen und auf die Entscheidung der Verwaltung Einfluss zu nehmen“. 148 Schenke, NJW 1997, 81 (87); zur Heilungsmöglichkeit gemäß § 45 VwVfG siehe auch Schenke, VerwArch 2006 (97), 592 ff., speziell zur Anhörung siehe S. 608 ff. („Unerlässlich ist überdies, dass durch die Heilung des Verwaltungsakts die Verfahrensrechte der Betroffenen nicht verkürzt werden“). 149 Zur Unterscheidung beider Verfahren siehe Kothe, AnwBl 2009, 96 (100 f.). 150 Kothe, AnwBl 2009, 96 (101). 151 BVerwGE 66, 111 (114); BVerwG, NVwZ-RR 1991, 337; vgl. hierzu Kothe, AnwBl 2009, 96 (101). 152 Ahrens (Fußn. 5), Abschnitt F Rn. 3 ff. 153 Heins (Fußn. 5), S. 299 f.
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5. Das Modell der Widerspruchsausschüsse Modellhaft sind schließlich die überwiegend gemäß § 73 Abs. 2 VwGO eingerichteten Widerspruchsausschüsse, die eine sorgfältige Prüfung der Beschwer ermöglichen und das Widerspruchsverfahren mit Leben erfüllen.154 Um Bürgernähe und Effizienz zu wahren, sollten solche Widerspruchsausschüsse dezentral eingerichtet werden. In größerem Rahmen existieren sie auf der Landesebene bisher nur in Hessen, Hamburg, Rheinland-Pfalz und im Saarland.155 Optimal erscheint das etwa in Rheinland-Pfalz praktizierte Modell der weisungsfreien Kreis- und Stadtrechtsausschüsse, die sich aus einem Vorsitzenden (dem Landrat, also dem Oberbürgermeister, oder einem von ihm ermächtigten Beamten) sowie zwei ehrenamtlichen Beisitzern zusammensetzen.156 Sie ähneln insoweit Gerichten, sind aber bürgernäher und effizienter. Hier findet eine sinnvolle Trennung von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde statt. Die bloße Hinzuziehung des Rechtsamts durch die Ausgangsbehörde ist demgegenüber keine gleichwertige Alternative, da dieses womöglich eher ihre Position verteidigen wird. Angelegenheiten, die vor den Widerspruchsausschüssen ausführlich mündlich erörtert wurden, gelangen sehr selten noch vor die Verwaltungsgerichte, so dass eine deutliche Entlastung der Gerichtsbarkeit gegeben ist.157 Zur Kontrolle dieser weisungsfreien Organe haben Rheinland-Pfalz und das Saarland das Instrument der Beanstandungsklage eingeführt.158
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Siehe hierzu auch Kothe, AnwBl 2009, 96 (99); Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (73 ff.). Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (74), wobei die Widerspruchsausschüsse in Hessen nur eine beratende Funktion innehaben und deshalb nach überwiegender Auffassung nicht von § 73 Abs. 2 VwGO erfasst werden; speziell zu den Besonderheiten im Saarland siehe Guckelberger/ Heimpel, LKRZ 2009, 246 ff. 156 Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (74 f.), die auch auf die gesetzgeberische Weiterentwicklung des Verfahrens im Jahre 2003 zur Steigerung der Effizienz hinweist, vgl. insoweit § 6a AGVwGO RP sowie § 16 Abs. 5 AGVwGO RP; zur rechtlichen Bewertung der Weisungsfreiheit dieser Ausschüsse siehe Härtel, VerwArch 2007 (98),54 (S. 75 f.). Damit dürften sich Probleme der erhöhten Verfahrensdauer, die auch Guckelberger/Heimpel, LKRZ 2009, 246 (249), anführen, weitgehend lösen lassen. 157 Laut Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (74), werden 95 % aller Widersprüche von den rheinland-pfälzischen Widerspruchsausschüssen erledigt. Die mündliche Erörterung sei dazu „geeignet, gemeinsam ,kreativeÐ Lösungen zu entwickeln“ und die Selbstkontrolle der Verwaltung zu verstärken, da „hier die tatsächliche Seite des Falls um einiges besser aufgearbeitet werden kann, als dies in einem schriftlichen Verfahren der Fall ist“; zu den Vorteilen der Widerspruchsausschüsse auch Guckelberger/Heimpel, LKRZ 2009, 246 (248 f.). Die von ihr als Nachteil erwähnten erhöhten Kosten dürften durch die Effektivität des Verfahrens mehr als wettgemacht werden. Das Laienelement mag gelegentlich die fachliche Kompetenz schmälern; die ggf. geringeren rechtlichen Kenntnisse können aber durch den Vorsitzenden ergänzt werden, während die Laien oft eine besondere Orts- und Sachnähe sowie Erfahrung mitbringen, vgl. Guckelberger/Heimpel, LKRZ 2009, 246 (249). 158 Kintz, LKRZ 2009, 5; zu Kompetenzfragen, etwa im Hinblick auf die reformatio in peius sowie auf den Verpflichtungswiderspruch, siehe Jutzi, LKRZ 2008, 212 ff. 155
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V. Fazit Die vorstehende Analyse hat gezeigt, dass das Widerspruchsverfahren grundsätzlich bewahrenswürdig ist. Angesichts der politisch aufgeladenen Debatte um den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ und die allenthalben betonte Notwendigkeit der Kostensenkung ist es heilsam, sich den historisch tradierten Nutzen dieses Kontrollmechanismus zu vergegenwärtigen und zugleich den Bürger im Verwaltungsverfahren stärker zu „emanzipieren“. Es sollte daher nicht vorschnell als „historische[s] Relikt … aus Kaiserzeiten“ bezeichnet werden.159 Entbehrlich ist das Widerspruchsverfahren nur bei evidenter Ineffektivität, insbesondere bei Identität von Ausgangsund Widerspruchsbehörde und ggf. in bestimmten, gegenwärtig noch nicht klar definierbaren Sachbereichen. Als besonders wirkungsvoll hat es sich hingegen in den Bereichen der Massenverwaltung sowie bei Bagatellsachen erwiesen. Das Widerspruchsverfahren sollte aber in Zukunft nicht mehr zwingend ausgestaltet sein. Sinnvoller erscheint das Fakultativmodell, da es die Vorteile des Vorverfahrens aufrechterhält, ohne für den Betroffenen zur Last zu werden. Dadurch wird die Position des Bürgers, insbesondere seine Eigenverantwortlichkeit, im Verfahren auf sinnvolle Art und Weise gestärkt.160 Dieses Fakultativmodell sollte durch alternative Streitbeilegungsmechanismen angereichert und gestärkt werden. Alternative Verfahren der Konfliktlösung, in Kombination mit einer fakultativ ausgestalteten Form des Widerspruchsverfahrens, eignen sich besser zur Verfolgung der Ziele der Kostenersparnis, Verfahrensbeschleunigung und Stärkung des Wirtschaftsstandorts als eine Abschaffung.161 Ansonsten besteht die Gefahr einer zu weit reichenden Reduktion und Zerstörung gewachsener sinnvoller Strukturen.162 Es bedarf weiterer, vertiefender empi-
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So aber Rüssel, NVwZ 2006, 523 (528). Vgl. auch Biermann, DÖV 2008, 523 (404), dem zufolge das Optionsmodell darüber hinaus „eine Partizipation des Bürgers bei einer rechtspolitisch strittigen Entscheidung [ermöglicht], weil der Einzelne durch sein Wahlverhalten aktiv über Fortbestand oder Abschaffung des Widerspruchsverfahrens mitentscheiden kann“. 161 Vgl. auch Eckertz-Höfer (Fußn. 11), S. 6, die in ihrer Antrittsrede als Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts die Diskussion um eine Modernisierung des Vorverfahrens begrüßte und als mögliche Lösungen das Fakultativmodell oder auch „die Anreicherung des Widerspruchsverfahrens mit Mediationselementen oder ein fakultatives Mediationsverfahren anstelle eines Widerspruchsverfahrens“ nannte. Zu Recht betont sie, dass „[g]erichtliche Verfahren – bei aller Bürgerfreundlichkeit um die wir uns bemühen – …nun einmal für die Bürger eine andere Qualität [haben] als dies außergerichtliche Verfahren haben können“, so dass ein „niedrigschwelliges Angebot zur Streitbeilegung – in welcher Form auch immer“ wichtig sei. Vgl. auch Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (77), die, ähnlich wie hier, für eine grundsätzliche Bewahrung des Widerspruchsverfahrens als Fakultativmodell mit möglichen mediativen Elementen eintritt; institutionell präferiert sie das Modell der Widerspruchsausschüsse. Auf diese Weise könne das Vorverfahren „als effektives Konfliktlösungsmodell ausgestaltet werden“. 162 So auch die Äußerungen des Verwaltungsrichters Addicks, vgl. Landtag NRW, APr 14/ 467, S. 15; vgl. auch Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467, der einen künftigen Formalisierungsprozess als Antwort auf die aus seiner Sicht zu weitgehenden Informalisierungsbestrebungen, etwa in Niedersachsen, erwartet. 160
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rischer Untersuchungen,163 selbst wenn sich auch hierdurch nicht alle Fragen klären lassen.164 Der Wert eines mit alternativen Konfliktlösungselementen angereicherten fakultativen Widerspruchsverfahrens könnte sich aber durch seine Erprobung langfristig von selber herausstellen. Teilweise wird kritisiert, die Verlagerung der Entscheidung auf die Länder mute wie ein „Wettlauf um eine möglichst weitgehende Demontage des Widerspruchsverfahrens“ an und führe zu einem „föderalen Flickenteppich“.165 Die föderale Komponente birgt jedoch viele Vorteile: Auch wenn legitime Kostenargumente eine Rolle spielten, wurde vor allem die Fähigkeit des Föderalismus, durch Experimentieren zum besten Ergebnis zu gelangen, erprobt. Diese Fähigkeit ist eine der größten Stärken des ansonsten oft gescholtenen Bundesstaatsmodells. Ähnlich wie bei der neuen Abweichungsgesetzgebung im Rahmen des Art. 72 GG kann sich auch hier im Wettbewerb unterschiedlicher Lösungen idealiter die beste durchsetzen; zugleich können regionale Eigenheiten die notwendige Berücksichtigung finden. Die erwünschte Herausbildung von „best practice“ kann zudem durch den Rechtsvergleich mit dem Ausland weiter befördert werden, wo eher ein Trend zum Ausbau der Rechtsbehelfe zu bestehen scheint.166 So zeigt der Blick auf den französischen „recours administratif“, dass das fakultative Widerspruchsverfahren andernorts längst etabliert ist.167 Die bisherigen Ergebnisse des föderalen Wettbewerbs in Deutschland sowie der Blick über den nationalen Tellerrand legen dem deutschen Verwaltungsrecht ein solches Fakultativmodell nahe, das mit Elementen alternativer Streitbeilegung gekoppelt und durch weisungsunabhängige dezentrale Widerspruchsausschüsse institutionalisiert werden sollte.
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Der Autor ist dabei zuversichtlicher als Cancik, Die Verwaltung 2010 (43), 467 (498), demzufolge es hinsichtlich der Evaluierung der Folgekosten der gegenwärtigen Reformen „[i]n Deutschland…an ausreichend verwaltungswissenschaftlich-empirischer Forschungskapazität [fehle] beziehungsweise dem Willen, diese ein- oder ihre Ergebnisse umzusetzen“. 164 Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692), plädiert dafür, „der Rechtstatsachenbeobachtung mehr Gewicht“ zu geben, gleichzeitig aber auch die Grenzen solcher empirischer Untersuchungen betont. 165 Biermann, DÖV 2008, 395 (396). 166 Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692); Sydow/Neidhardt, Verwaltungsinterner Rechtsschutz, Möglichkeiten und Grenzen in rechtsvergleichender Perspektive, 2007; vgl. auch Woehrling, NVwZ 1998, 462 ff. 167 Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 (692); Härtel, VerwArch 2007 (98), 54 (69).
Von der „heimlichen Normenkontrolle“ zur umfassenden Gerichtskontrolle exekutiver Normsetzung Von Friedhelm Hufen I. Einleitung – Problemstellung Die Befassung Wolf-Rüdiger Schenkes mit dem Phänomen des normativen Unrechts ist in seinem wissenschaftlichen Werk keineswegs nur inzident, sondern originär und prinzipal. Spätestens mit seiner das Feld seit ihrem Erscheinen besetzenden Habilitationsschrift1 und über die 12 Auflagen seines erfolgreichen Lehrbuchs zum Verwaltungsprozessrecht hinweg hat er sich immer mit diesem Thema befasst. Der Rechtsschutz bei normativem Unrecht außerhalb des § 47 VwGO ist ihm in diesem Lehrbuch einen eigenen, immerhin mehr als 20 Seiten umfassenden Exkurs wert2. Dreh- und Angelpunkt ist die Erkenntnis, dass schon nach Art. 19 IV GG i.V. mit Art. 1 III GG auch normatives Unrecht nicht von der unmittelbaren gerichtlichen Kontrolle freigestellt ist. Dafür sprechen nicht nur der nicht auf Einzelentscheidungen beschränkte Wortlaut („durch die öffentliche Gewalt“) und die systematische Stellung von Art. 19 IV GG3, sondern auch die weitgehende Austauschbarkeit der Rechtsformen Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung) und Rechtsnorm in der Praxis des Verwaltungshandelns4. Gleichwohl ist die Entwicklung der gerichtlichen Kontrolle normativen Unrechts von einem eigentümlichen Zwiespalt gekennzeichnet. Schon wegen ihres statistisch wohl häufigsten Anwendungsfalles, der Normenkontrolle gegenüber Bebauungsplänen, ist § 47 VwGO in den Sog der „Standortdebatte“ geraten und musste seit 1997 unter dem Stichwort „Grundsatz der Planerhaltung“ zahlreiche Beschränkungen hinnehmen. Daran änderte auch nichts, dass die „verschärfte Antragsbefugnis“ des § 47 n.F. VwGO in der Praxis kaum die einschränkende Wirkung erzeugt hat, die ihr ursprünglich durch den Gesetzgeber zugedacht war5. In einigen Bundesländern blieb die Normenkontrolle wegen der Subsidiaritätsklausel in § 47 I Nr. 2 VwGO von vornherein auf Rechtsvorschriften nach dem BauGB beschränkt, d. h. sie haben von der 1
Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, 1979. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 1062 ff. 3 Schenke (Fußn. 1), S. 28; ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1063. 4 Schenke (Fußn. 1), S. 55; ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1063. 5 Dazu Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 19 Rn. 19 ff. und die Mainzer Dissertation von C. Herr, Die „neue“ Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren nach § 47 II VwGO, 2002. 2
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Möglichkeit der Normenkontrolle bei anderen im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften keinen oder nur eingeschränkten Gebrauch gemacht6. In Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen fehlt sie ganz; in Rheinland-Pfalz ist sie im Falle von Rechtsverordnungen der Landesregierung ausgeschlossen. Hartnäckig halten sich Argumente, wonach die Normenkontrolle in einer besonderen Spannungslage zur Demokratie, Gewaltenteilung und zur Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 II GG stehe7. Anders als das BVerwG8 hat das BVerfG von Anfang an den verfassungsrechtlich zwingenden Charakter prinzipaler Normenkontrolle für Art. 19 IV GG verkannt9 und lapidar festgestellt, diese sei verfassungsrechtlich nicht geboten. Der Preis, den das BVerfG für diese sonst unübliche Zurückhaltung zu zahlen hatte, bestand darin, dass es in zahllosen nicht selten banalen Fällen selbst zum „prinzipalen Normenkontrollgericht“ wurde, denn untergesetzliche Rechtsnormen sind ohne Zweifel öffentliche Gewalt i.S. von § 90 I BVerfGG und können wegen ihres in der Regel höheren Konkretisierungsgrades sehr wohl gegenwärtig und unmittelbar in die Grundrechte von Bürgern eingreifen. Mangels Rechtsweg landeten solche Fälle dann sozusagen erstinstanzlich auf den Schreibtischen der Verfassungsrichter in Karlsruhe. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass das Gericht den Trend zur „heimlichen Normenkontrolle“ durch die Inzidenter-Prüfung im Rahmen der Feststellungsklage mit Wohlwollen begleitet und als zunächst zu erschöpfenden Rechtsweg behandelt hat10. Die Öffnung der Feststellungsklage zur Überprüfung von Normen ist bemerkenswert. Anders als im „Normalfall“ der Inzidenter-Überprüfung einer Rechtsnorm im Rahmen einer z. B. gegen einen Verwaltungsakt gerichteten Anfechtungsklage, fehlt es bei der Feststellungsklage an einem umzusetzenden Rechtsakt als Streitgegenstand. Inhaltlich geht es vielmehr um das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses aus einer Norm, was – wie im Einzelnen darzulegen sein wird – der prinzipalen Normenkontrolle jedenfalls im Ergebnis sehr nahe kommt. Dass die Gerichte mehr und mehr dazu übergegangen sind, solche Feststellungsklagen zu ermöglichen, zeigt, dass es durchaus ein Bedürfnis einer gerichtlichen Kontrolle von Rechtsnormen gibt. Die vorwiegend kritischen Stimmen in der Literatur zu diesem Phänomen haben daran jedenfalls bis jetzt nichts ändern können11. Vor diesem Hintergrund geht es im vorliegenden Beitrag zunächst um eine kurze Sichtung der Anwendungsfälle und -voraussetzungen der Inzidenter-Kontrolle von Rechtsnormen im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage (II.). Sodann wird gefragt, ob diese die bestehenden Lücken bei der prinzipalen Normenkontrolle nach 6 Übersicht bei Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 19 Rn. 16; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 876. 7 Zu diesen Bedenken Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 19 Rn. 2. 8 BVerwGE 80, 355 (361). 9 BVerfGE 31, 364 (370). 10 Spätestens seit der Entscheidung BVerfGE 115, 81 (91). 11 Rupp, NVwZ 2002, 286; ders., FS Isensee, 2007, 283; Weidemann, NVwZ 2007, 1268.
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§ 47 VwGO schließen kann (III.). Im Mittelpunkt des abschließenden Kapitels soll die Frage stehen, ob und unter welchen Voraussetzungen es eine prinzipale Normenkontrolle nach § 47 VwGO in Fällen des untergesetzlichen Bundesrechts geben kann (IV.). II. Die Feststellungsklage auf Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses aus Rechtsnormen Trotz der im allgemeinen auch gegenüber der Normenkontrolle (§ 47 VwGO) bestehenden Subsidiarität der Feststellungsklage hat sich diese in der Praxis als Inzidenter-Prüfung von Rechtsnormen weitgehend durchgesetzt, und das BVerwG hat mehrfach geklärt, dass § 47 VwGO gegenüber solchen Klagen keine Sperrwirkung entfaltet12. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer solchen Klage richten sich folglich nach § 43 VwGO, nicht nach § 47 VwGO. Sie sind nur auf den ersten Blick unkompliziert, auf den zweiten Blick aber äußerst schwierig. 1. Rechtsweg und zuständiges Gericht Da es sich bei der Inzidenter-Kontrolle durch die Feststellungsklage nicht um eine Normenkontrolle nach § 47 VwGO handelt, richtet sich der Rechtsweg nach der allgemeinen Vorschrift des § 40 I 1 VwGO. Die Frage, ob es sich bei der Normenkontrolle letztlich um eine verfassungsrechtliche Streitigkeit handelt13, stellt sich insofern nicht. Zuständig ist nach § 45 VwGO das Verwaltungsgericht, nicht etwa das Oberverwaltungsgericht nach § 47 VwGO. Das führt zu der (noch aufzugreifenden) Widersprüchlichkeit, dass die Kontrolle der Wirksamkeit nachrangigen Landesrechts den Oberverwaltungsgerichten vorbehalten ist, während einfache Verwaltungsgerichte über bundesweit geltende Rechtsverordnungen zu befinden haben. 2. Beteiligte Erste Schwierigkeiten bestehen im Hinblick auf die Parteien des Rechtstreits. Beteiligter auf der beklagten Seite kann nämlich – wie bei allen Feststellungsklagen – nur der Träger der Behörde sein, die sich des Bestehens eines konkreten Rechtsverhältnisses „berühmt“ hat. Folgt dieses Rechtsverhältnis aus einer Rechtsnorm, dann ist nicht etwa der Träger des Normgebers, sondern die konkret normanwendende Be-
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Exemplarisch BVerwG, NJW 2000, 3584 – Flugrouten; BVerwG, NVwZ 2007, 1311 – Einwegverpackung; angedeutet auch bereits in BVerwG, DVBl. 2000, 636 – FrischzellenVO; maßgeblich zur Klärung der notwendigen Konkretheit des Rechtsverhältnisses sodann BVerwG, NVwZ 2010, 1300 – Mindestlohn-VO; ausführlich zum Ganzen Möstl, Beck-OnlineKommentar, § 43 Rn. 28 ff. 13 So hinsichtlich § 47 VwGO nach wie vor Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 130.
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hörde beteiligt und auch passivlegitimiert14. Auch das führt zu kritikwürdigen Widersprüchlichkeiten, auf die noch einzugehen sein wird. 3. Konkretheit des Rechtsverhältnisses Voraussetzung für die Statthaftigkeit der allgemeinen Feststellungsklage ist ein hinreichend konkretes Rechtsverhältnis zwischen Kläger und Beklagtem. D.h., es muss sich um eine aus einem konkreten Sachverhalt ergebende öffentlich-rechtliche Beziehung von Person zu Person oder Person zu einer Sache handeln. Da die öffentlich-rechtliche Beziehung in dieser Fallkonstellation sich ausschließlich aus der Gültigkeit oder Nichtgültigkeit einer Rechtsnorm ergibt, ist in diesen Fällen die Abgrenzung zur (nicht zur Statthaftigkeit führenden) abstrakten Rechtsfrage besonders schwierig und gelingt in der Regel nur unter Vorgriff auf Aspekte wie Schutznormtheorie und Rechtsbetroffenheit. So hat das BVerwG erst jüngst klar gestellt, dass der Kläger durch die Norm selbst und unmittelbar in seinen Rechten betroffen sein muss15. Das war im konkreten Fall (Geltungserstreckung eines Tarifvertrags durch Verordnung) vergleichsweise leicht zu prüfen, kann aber in anderen Fallkonstellationen große Schwierigkeiten bereiten. Allerdings kann die ausgefeilte und vielschichtige Rechtsprechung des BVerfG zur Unmittelbarkeit der Rechtsverletzung bei einer gegen eine Norm gerichteten Verfassungsbeschwerde wichtige Anhaltspunkte liefern. Interessant ist im Übrigen, dass das BVerwG im soeben genannten Fall aus der Konkretheit des Rechtsverhältnisses sogar ein Anhörungsrecht des Betroffenen vor Erstreckung der Rechtsnorm auf ihn selbst konstatiert hat. 4. Klagebefugnis Bestehen ein hinreichend konkretes Rechtsverhältnis einerseits und das Feststellungsinteresse andererseits, so ist zumindest nach herkömmlicher Auffassung eine analoge Anwendung von § 42 II VwGO jedenfalls in der Regel entbehrlich, weil insofern keine Regelungslücke besteht. Bekanntlich verlangt das BVerwG aber auch bei der Feststellungsklage nach § 43 VwGO über die bekannten Fälle Organstreit, Nichtigkeitsfeststellungsklage und Fortsetzungsfeststellungsklage hinaus eine Klagebefugnis i.S. von § 42 II VwGO16. Nicht zuletzt die zitierte Entscheidung des BVerwG, die schon für das Vorliegen des konkreten Rechtsverhältnisses eine unmittelbare Rechtsbetroffenheit verlangte, zeigt, dass es in der Tat eines Rückgriffs auf § 42 II VwGO in diesen Fällen nicht bedarf. Allerdings muss die Möglichkeit der Rechtsverletzung aus der Rechtsnorm und nicht nur das „Betroffensein“ vorliegen. Auch damit nähert sich die Prüfung durchaus derjenigen der Antragsbefugnis nach § 47 VwGO an. 14 So mit großer Klarheit BVerwG, NVwZ 2007, 1311 – VerpackVO; a. A. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 43 Rn. 8 f.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1076. 15 BVerwG, NVwZ 2010, 1300. 16 Kritisch dazu Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 26.
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5. Feststellungsinteresse Kaum Schwierigkeiten weist die Prüfung des Feststellungsinteresses auf. Dieses dürfte kaum zu verneinen sein, wenn die Voraussetzungen der unmittelbaren Rechtsbetroffenheit laut BVerwG17erfüllt sind, denn dann hat der Betroffene in der Regel ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Rechtsverhältnisses gerade aus dieser Norm und gerade gegenüber dem Beklagten. Insbesondere kann ihm nicht entgegen gehalten werden, er solle zunächst die Anwendung des ihn belastenden Verwaltungsakts oder gar den Bußgeldbescheid abwarten, bevor dass Rechtsverhältnis geklärt wird18. III. Zum fortbestehenden Bedürfnis nach prinzipaler Normenkontrolle 1. Möglichkeiten und Grenzen der Inzidenter-Kontrolle Seinem dogmatischen Ansatz entsprechend (Normenkontrolle als verfassungsrechtliche Streitigkeit)19 steht der Jubilar der prinzipalen Normenkontrolle eher skeptisch gegenüber und räumt der Inzidenter-Kontrolle durch Feststellungsklage größte Bedeutung ein. Für ihn ist diese nicht nur „heimlich“ und indirekt, sondern die angemessene Form, die die prinzipale Normenkontrolle entbehrlich machen kann. Das Normgebungsrecht selbst als Rechtsverhältnis i.S. des § 43 VwGO anzusehen, scheint ihm umso mehr ausgeschlossen, weil es sich um eine vorbeugende prinzipale Normenkontrolle handeln würde20. Eine Rechtsschutzlücke sieht er nur in den Fällen, in denen die verwaltungsgerichtliche Feststellungsklage nichts nützt; vor allem dann, wenn es um ein durch die Norm begründetes, geändertes oder aufgehobenes Rechtsverhältnis geht. Dazu kann es kommen, wenn eine rechtswidrige Norm ausnahmsweise rechtswirksam ist oder in Fällen, in denen ein effektiver Rechtsschutz nur durch prinzipale Nichtigerklärung eines Gesetzes bewerkstelligt werden kann. Ersteres sei z. B. der Fall, wenn eine Norm eine gleichheitswidrige Belastung beinhalte21. Da auch in diesen Fällen § 47 VwGO nicht analog angewandt werden kann, bleibt de lege lata nur die Verfassungsbeschwerde als Rechtsschutzmöglichkeit. Unzweifelhaft kommt der Inzidenter-Kontrolle besondere Bedeutung zu, wenn es um einen konkreten Streitgegenstand – beispielsweise eine die Norm vollziehende Regelung geht –, die zugleich den Streitgegenstand inhaltlich umgrenzt. Erfolgt die Inzidenter-Kontrolle aber im Rahmen der Feststellungsklage, dann schleppt diese Lösung gleichsam deren Schwächen im Hinblick auf die Konkretisierbarkeit des Rechtsverhältnisses mit. Auch die Klarstellung des BVerwG, wonach ein solches 17 18 19 20 21
BVerwG, NVwZ 2010, 1300. Dazu Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18 Rn. 14. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 130. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1075. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1077.
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Rechtsverhältnis nur dann besteht, wenn die Norm Rechte und Pflichte der Betroffenen begründet, ohne dass eine Konkretisierung oder Individualisierung der rechtlichen Beziehung zwischen Normgeber und Normadressat durch Verwaltungsvollzug erforderlich ist22, verschiebt das Problem nur auf eine andere Ebene. Auch „Anleihen“ bei der Rechtsprechung zur unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit bei der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze helfen nicht. Hinzu kommen weitere prinzipielle Bedenken. So muss schon gefragt werden, ob überhaupt eine lediglich inzidente Normenkontrolle den Anforderungen von Art. 19 IV GG gerecht wird, der nach wohl richtiger Auffassung einen unmittelbaren Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt und nicht lediglich mittelbare Gerichtskontrolle verlangt. Hier kann die Inzident-Kontrolle grundsätzlich kein Ausgleich für Rechtsschutzdefizite und Gewährleistung der Bindung auch des Normgebers an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) sein23. Sie wirkt grundsätzlich nur inter partes, d. h. das Gericht stellt zwar die Rechtswidrigkeit fest, die Norm bleibt aber bestehen und wird auch nicht nach Art. 100 GG einer Klärung zugeführt. Verschiedene Verwaltungsgerichte können im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit derselben untergesetzlichen Norm unterschiedlich entscheiden, ja dieselbe Behörde muss die Norm weiter anwenden, deren Rechtswidrigkeit ihr in einem konkreten Anwendungsfall soeben bescheinigt worden ist; sie hat auch – anders als bei § 47 VwGO – keinerlei Möglichkeiten, die Norm einer gerichtlichen Kontrolle zuzuführen. Hinzu kommt, dass die Inzident-Kontrolle letztlich die Begrenzungen des § 47 VwGO unterläuft, die man als solche für bedenklich halten mag, die aber geltendes Recht sind. Das gilt insbesondere im Hinblick auf den Landesvorbehalt und die Begrenzung auf untergesetzliche Normen. Insgesamt führt die erkennbare Scheu vor prinzipaler Normenkontrolle letztlich zu einer weit diffuseren und der Gleichheit vor dem Gesetz nicht eben förderlichen Form der Einzelkontrolle durch Feststellungsklage – ein sowohl für die Rechtsschutz als auch für die Rechtssicherheit und die Gewaltenteilung nicht eben erfreuliches Ergebnis. Es handelt sich im Ergebnis um eine Normenkontrolle, die aber an der eigentlich vorgesehenen Form des § 47 VwGO gleichsam „vorbei“ erfolgt und deshalb nicht zu Unrecht mit „heimlicher Normenkontrolle“ bezeichnet wird. Im Ergebnis entscheidet das OVG über untergesetzliches Recht auf Landesebene, während die gerade durch § 47 VwGO nicht erfassten Rechtsnormen des Bundes den einfachen Verwaltungsgerichten und dort womöglich nach § 6 VwGO sogar dem Einzelrichter überantwortet werden, denn es scheint keineswegs ausgemacht, dass die Inzidenter-Kontrolle über geltendes Recht immer als Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung oder besonderer Schwierigkeit aufgefasst wird. Bereits angedeutet wurden die Probleme der Passivlegitimation. Über die Inzident-Kontrolle wird die Behörde in einen Rechtsstreit über ein Rechtsverhältnis hineingezogen, das in Wirklichkeit der
22
BVerwG, NVwZ 2010, 1300. So explizit Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 19 Rn. 3 – anscheinend missverstanden von Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1064, dort in Fußn. 2. 23
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Normgeber zu verantworten hat, der aber – wie oben betont – grundsätzlich nicht Beteiligter des Rechtsstreits und auch nicht passivlegitimiert ist24. Es gibt also genügend Gründe, die Korrektur normativen Unrechts über die Inzidenter-Kontrolle durch Feststellungsklagen als unbefriedigend zu empfinden25. 2. Aufgaben für den Gesetzgeber So unerfreulich der damit umschriebene Zustand ist, so deutlich ist, dass die Klarstellung der Inzidenter-Überprüfbarkeit von Normen im Rahmen der Feststellungsklage das Maximum dessen darstellt, was die Rechtsprechung aus eigener Kraft zu leisten im Stande ist. Eine analoge Anwendung von § 47 VwGO scheitert zwar nicht an einer erkennbaren Rechtslücke – diese existiert nach dem Gesagten sehr wohl –; sie scheitert aber am eindeutigen Wortlaut des § 47 VwGO, der sowohl die Ausdehnung auf untergesetzliches Bundesrecht als auch auf das vom konkretisierenden Landesgesetzgeber nicht „freigegebene“ Landesrecht ausschließt26. Einigkeit besteht ferner darin, dass sowohl Art. 20 III als auch Art. 100 GG eine Erstreckung prinzipaler Normenkontrollen auf förmliche Parlamentsgesetze ausschließt, auch wenn diese inhaltliche Detailregelungen enthalten, die Gegenstand einer Rechtsverordnung sein könnten und/oder unmittelbare Rechte des einzelnen Bürgers berühren. Die Normenkontrolle von Gesetzen haben das Grundgesetz und die Landesverfassungen aus guten Gründen den Verfassungsgerichten vorbehalten. Im Hinblick auf untergesetzliche Rechtsnormen spricht aber nichts dagegen, dass der Gesetzgeber selbst den Anwendungsbereich von § 47 VwGO erweitert. Dabei sollte die Normenkontrolle für alle im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsnormen des Landesrechts bundesweit eröffnet, der Zusatz „soweit das Landesrechts dies bestimmt“ also schlicht gestrichen werden. Noch einfacher wäre dieses Ziel natürlich zu erreichen, wenn diejenigen Länder, die bisher die Normenkontrolle nicht oder nicht vollständig vorsehen, die bestehenden Lücken in den Landes-Ausführungsgesetzen zur VwGO schließen würden. Die meisten der oben angeführten Beispiele der „heimlichen Normenkontrolle“ betrafen aber nicht Landesrecht, sondern Rechtsverordnungen des Bundes. Für diese erscheint die Eröffnung einer prinzipalen Normenkontrolle durch Änderung des § 47 VwGO zwar auf den ersten Blick ungewöhnlich, wäre aber bei näherem Hinsehen durchaus geeignet – und im Hinblick auf Art. 19 IV GG und die gezeigten Defizite der Inzidenter-Kontrolle auch erforderlich. Deshalb wird es im letzten Abschnitt dieses Beitrags um die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines (gedachten) Antrags auf Normenkontrolle einer untergesetzlichen Norm des Bundesrechts gehen. 24 BVerwG, NVwZ 2007, 1311 – Verpackungsverordnung; a. A. insoweit allerdings Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 43 Rn. 8 f. 25 So auch Seiler, DVBl. 2007, 538. 26 So auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 1080.
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IV. Voraussetzungen einer prinzipalen Normenkontrolle von untergesetzlichem Bundesrecht 1. Rechtsweg und zuständiges Gericht Auch die Kontrolle von Normen des Bundesrechts könnte nach § 47 VwGO nur „im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ erfolgen. Es müsste sich also um Streitigkeiten des öffentlichen Rechts nichtverfassungsrechtlicher Art handeln. Auch abdrängende Verweisungen wären zu beachten. Rechtsverordnungen auf dem Gebiet des Steuerrechts, des Sozialrechts usw. wären also nicht in § 47 VwGO zu regeln. Das gilt umso mehr für Rechtsnormen auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts, also wenn es etwa dem Normgeber einfallen würde, Unterhaltsätze im Familienrecht durch Rechtsverordnung zu regeln. Zuständiges Verwaltungsgericht im Hinblick auf die prinzipale Normenkontrolle von Bundesnormen könnte naturgemäß nur das BVerwG sein. § 47 VwGO wäre insofern zu ergänzen. 2. Statthaftigkeit Gegenstand der Normenkontrolle nach § 47 VwGO können nach dem zuvor Gesagten nur die im Rang unter dem Bundesgesetz stehenden Rechtsnormen sein. Ausscheiden müssen also förmliche Parlamentsgesetze, aber auch Regelungen, die mangels Außenwirkung nicht als Rechtsnormen anzusehen sind, also Verwaltungsvorschriften des Bundes einschließlich normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften, technischer Anweisungen usw. Anders als die Geschäftsordnungen der kommunalen Selbstverwaltungsorgane27 könnten weder die Geschäftsordnung des Bundestages oder der übrigen obersten Bundesorgane noch deren gemeinsame Geschäftsordnungen Gegenstand der Normenkontrolle sein, weil es sich insofern eindeutig um Fälle „beiderseitiger Verfassungsunmittelbarkeit“, also verfassungsgerichtliche Streitigkeiten handelt. Denkbar wäre aber die Normenkontrolle gegen Geschäftsordnungen und Satzungen rechtsfähiger Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des Bundes sowie Geschäftsverteilungspläne, die nicht Bestandteil des Verfassungsrechts sind. 3. Antragsbefugnis Hinsichtlich der Antragsbefugnis würde eine prinzipale Normenkontrolle gegen Bundesrecht keine besonderen Fragen aufwerfen. Hier würde uneingeschränkt § 47 II VwGO greifen, wonach den Antrag jede natürliche oder juristische Person stellen kann, die geltend macht, durch die Rechtsvorschriften oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Antrags-
27 Diese sind nach inzwischen wohl herrschender Auffassung geeignete Gegenstände der Normenkontrolle nach § 47 VwGO. BVerwG, NVwZ 1988, 1119; VGH Mannheim, DÖV 2002, 912; weitere Beispiele bei Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 19 Rn. 14.
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befugt wären gleichfalls Behörden des Bundes und der Länder, die die angegriffene Rechtsnorm anzuwenden haben. Beteiligte des Verfahrens wären stets (und nur) der Antragssteller einerseits und der Träger des Normgebers, also der Bund, andererseits. V. Schlussfolgerung und Ausblick Wolf-Rüdiger Schenke hat stets betont, dass der verwaltungsprozessuale Rechtsschutz der Vielfalt heutiger Handlungsform und den Problemen der Praxis folgen muss. Hier sind in jüngster Vergangenheit interessante Verschiebungen zu beobachten, so etwa die Abnahme der Bedeutung von Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen und die Bedeutungszunahme von Unterlassungs- und Leistungsklagen. Dass auch die Feststellungsklage bestehende Rechtsschutzlücken zumindest vorübergehend erfolgreich füllen kann, beweist nicht zuletzt die geschilderte Karriere der Inzidenter-Prüfung. Die gleichfalls geschilderten Defizite zeigen aber, dass dies allenfalls eine vorübergehende Lösung sein kann. Bei der Notwendigkeit des unmittelbaren und prinzipalen Rechtsschutzes gegen hoheitliches Handeln aller Ebenen sollte der Rechtsstaat nicht „über die Bande“ spielen. Er sollte vielmehr für exekutives Handeln mit Außenwirkung aller Formen und Ebenen einen nicht nur indirekten, sondern direkten Weg gerichtlicher Kontrolle vorsehen und damit die Legitimität und die Akzeptanz staatlicher Entscheidungen in komplexen Handlungsfeldern sichern.
Rechtsschutz gegen den Ruhestand Von Christian Hug I. Einführung Der Jubilar ist seit dem Frühjahr 2007 emeritiert. Deswegen zu behaupten, er befinde sich im „Ruhestand“, würde allerdings schon den tatsächlichen Befund1 ganz offenkundig nicht zutreffend beschreiben. Zur Freude und zum großen Nutzen von Wissenschaft und Praxis hat er sich augenscheinlich dazu entschlossen, das Erreichen von etwaigen gesetzlich definierten Altersgrenzen nicht zum Anlass zu nehmen, in beruflicher Hinsicht Ruhe einkehren zu lassen. Diese Entscheidung scheint auf der Linie einer vielleicht noch nicht herrschenden, aber doch im Vordringen befindlichen Meinung zu liegen. Diese Annahme legt jedenfalls ein Blick in die jüngere Rechtsprechung zu einem der Forschungsschwerpunkte des Jubilars nahe. So zeigt eine Durchsicht der Entscheidungen zum Recht des öffentlichen Dienstes, dass so manch ein Beamter und Richter zwar nicht den ungleich eleganteren Weg des Jubilars beschritten hat, den Ruhestandseintritt schlicht faktisch zu verschieben, jedoch darum bemüht war, mit rechtlichen Mitteln auf ein Hinausschieben seines Ruhestands hinzuwirken. Zu nennen sind hier zum einen diejenigen Verfahren, in denen geltend gemacht wurde, dass die im Beamten- und Richterrecht vor1 Vgl. nur zum Stand Februar 2011 u.v.a. Schenke, VerwArch 2007, 448 ff., 561 ff.; dens., NVwZ 2007, 134 ff.; dens., FS Frotscher, 2007, 765 ff.; dens., JZ 2008, 732 ff.; dens., NVwZ 2008, 938 ff.; dens. mit Wolter/Hilger/Ruthig/Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und Europäischer Datenschutz, 2008; dens., FS Stober, 2008, 221 ff.; dens., in: Seok/Ziekow (Hrsg.), Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung staatlicher Aufgaben, 2008, 199 ff.; dens., FS Schnapp, 2008, 655 ff.; dens., NVwZ 2008, 938; dens., in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2008, 115 ff.; dens., NJW 2008, 2833 f.; dens., in: BK-GG, 2009, Drittbearbeitung der Kommentierung des Art. 19 Abs. 4 GG; dens., in: Merten/ Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, 923 ff.; dens., NVwZ 2009, 801 ff.; dens., FS Hyun Seok, 2009, 49 ff.; dens., FS Steiner, 2009, 682 ff.; dens., DVBl. 2009, 368 f.; dens., Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), 2009; dens., NVwZ 2009, 290; dens., JZ 2010, 992 ff., 1046 ff.; dens., in: Kuhlen/ Lorenz/Riedel/Schäfer/Schmidt/Wiese (Hrsg.), Probleme des Binnenschifffahrtsrechts XII, 2010, 1 ff.; dens., in: Böhm/Schmehl (Hrsg.), Verfassung – Verwaltung – Umwelt, 2010, 19 ff.; dens., in: Bähr (Hrsg.), Handbuch des Versicherungsaufsichtsrechts, 2010, 1 ff.; dens., in: BKGG, 2010, Zweitbearbeitung der Kommentierungen der Art. 66 und 69 GG; dens., in: Seok/ Ziekow (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Recht, 2010, 155 ff.; sowie die Neubearbeitungen der Standardwerke von dems. zum Verwaltungsprozessrecht (11. Aufl. 2007, 12. Aufl. 2009), zum Polizei- und Ordnungsrecht (5. Aufl. 2007, 6. Aufl. 2009) und zur Verwaltungsgerichtsordnung (Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, 16. Aufl. 2009).
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gesehenen Regelaltersgrenzen gemeinschaftsrechtswidrig und deshalb unanwendbar seien2. Zu denken ist zum anderen an die noch zahlreicheren Fälle, in denen sich die Betroffenen zwar nicht gegen das Gesetz selbst gewandt, aber doch vorgetragen haben, der Dienstherr habe es in ihrem Fall zu Unrecht abgelehnt, die im Dienstrecht vorgesehenen Möglichkeiten zum Hinausschieben des Ruhestands zu ergreifen3. Zu der ersten Frage nach der Vereinbarkeit von gesetzlichen Höchstaltersgrenzen mit dem gemeinschaftsrechtlichen Altersdiskriminierungsverbot ist das letzte Wort zwar noch nicht gesprochen4. Die jüngste Rechtsprechung des EuGH lässt aber doch vermuten, dass Angriffen auf gesetzliche Regelungen, mit denen Regelaltersgrenze festgelegt werden, in Deutschland im Ergebnis kein Erfolg beschieden sein wird5. Umso größere Bedeutung werden daher künftig die gesetzlichen Bestimmungen erlangen, die es dem Dienstherrn erlauben, den Ruhestandseintritt eines Bediensteten auf seinen Antrag hin über die Regelaltersgrenze hinauszuschieben. Sie sollen deshalb im Mittelpunkt der folgenden Betrachtung stehen. Ob und in welchen prozessualen Bahnen ein Beamter Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann, wenn es der Dienstherr ablehnt, eine solche Hinausschiebung zu verfügen, war schon bisher Gegenstand einer lebhaften Debatte6. Sie hat neue Nahrung bekommen, nachdem der baden-württembergische Landesgesetzgeber die maßgeblichen Regelungen durch das am 01. 01. 2011 in Kraft getretene Dienstrechtsreformgesetz (DRG)7 für Beamte neu gefasst und für Richter überhaupt erstmals zur Anwendung gebracht hat. Nach einem Überblick zur Gesetzeslage (II.) soll daher näher betrachtet werden, welche Rechtsschutzmöglichkeiten im Hauptsache- (III.) und Eilverfahren (IV.) bestehen. 2 Vgl. VG Karlsruhe, Beschl. v. 28.07.2010 – 4 K 1239/10; VG Düsseldorf, Urt. v. 08.03.2010 – 13 K 6883/09; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 30.09.2009 – 1 B 1412/09; dass., Beschl. v. 26.05.2009 – 1 B 653/09; HessVGH, Beschl. v. 28.09.2009 – 1 B 2487/09; VG München, Beschl. v. 30. 09. 2009 – M 5 E 09.4285; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 19.02.2010 – 12 K 1310/08; alle nach juris. 3 Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 16; VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10; BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34); dens., VGHE 46, 39 ff.; VG München, Beschl. v. 19. 12. 2005 – M 12 E 05.5229, juris, Rn. 16; OVG Rheinland-Pfalz, BeckRS 2004, 24635; VG Mainz, Beschl. v. 21.09.2006 – 7 L 683/06.MZ, Rn. 4; VG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2008 – 5 B 18/08, Rn. 4; VG Koblenz, Beschl. v. 31.07.2009 – 6 L 823/09.KO, juris, Rn. 4; VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 27.07.2010 – 6 L 779/10.NW, juris, Rn. 5; VG Minden, Urt. v. 18.11.2010 – 4 K 1893/10, juris, Rn. 13. 4 Vgl. zur Diskussion etwa Gutmann, VBlBW 2006, 339; Kämmerer, ZBR 2008, 325 ff.; Baßlsperger, ZBR 2008, 339 ff.; Summer, PersV 2007, 223 (227); dens., PersV 2009, 164; VG Frankfurt a.M., Beschl. v. 29.03.2010 – 9 K 3854/09.F, juris, Rn. 250 ff. 5 Vgl. EuGH, NZA 2011, 29 ff. – Georgiev. So auch die schon nach der Entscheidung EuGH, NZA 2007, 1219 ff. – Palacios de la Villa, gestellte Prognose von Battis, BBG, 4. Aufl. 2009, § 51 Rn. 2, und die in der Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte vorherrschende Auffassung (vgl. die Nachweise in Fußn. 2). 6 Näher dazu unter III. 3. 7 Gesetz zur Reform des öffentlichen Dienstrechts vom 09. 11. 2010 (GBl. S. 793).
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II. Der Eintritt in den Ruhestand im öffentlichen Dienstrecht Der Eintritt in den Ruhestand richtet sich für Beamte (1.) und Richter (2.) nach ähnlichen, aber doch Unterschiede aufweisenden Regelungen. 1. Beamtenrecht „Beamte auf Lebenszeit treten nach Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand.“ Diese Vorgabe hat der Bundesgesetzgeber den Ländern bei der mit Gesetz vom 17. 06. 2008 erfolgten Regelung des Statusrechts ihrer Beamten gemacht (vgl. § 25 BeamtStG) und für seine eigenen Beamten ebenfalls umgesetzt (vgl. § 51 BBG). Bundesrechtlich haben die Länder daher zwar inzwischen die Freiheit zu bestimmen, wann diese Altersgrenze durch ihre Beamten erreicht wird8. Festgelegt sind sie jedoch weiterhin auf die Grundentscheidung, dass der Wechsel vom Status des aktiven Beamten hin zu dem des Ruhestandsbeamten beim Erreichen der Altersgrenze kraft Gesetzes9 erfolgt, ohne dass es dazu eines Antrags seitens des Beamten oder eines Verwaltungsverfahrens bedürfte10, in dem individuelle Umstände des Einzelfalls wie beispielsweise der Wunsch des Beamten an einem Verbleib im Dienst oder die diesbezüglichen Interessen des Dienstherrn geprüft würden. Diese grundlegende Weichenstellung hin zu einem System des ipso iure erfolgenden Übertritts in den Ruhestand war keineswegs zwingend. So war das Beamtenrecht in Deutschland noch bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik von dem Gedanken geprägt, dass ein Beamter grundsätzlich unbegrenzt im aktiven Dienst steht, weshalb der Eintritt in den Ruhestand erst auf seinen Antrag oder auf Betreiben des Dienstherren individuell festgesetzt wurde. Erst in den 1920er Jahren wurde dieses
8 Die Vorgängerregelung des § 25 Abs. 1 Satz 2 BRRG gab die Altersgrenze noch bundeseinheitlich vor. Darauf sollte mit dem gem. § 63 Abs. 1 BeamtStG am 20. 06. 2008 in Kraft getretenen § 25 BeamtStG bewusst verzichtet werden, vgl. die Begründung zu § 26 BeamtStGE (BT-Drs. 16/4027, S. 28). 9 Vgl. Battis (Fußn. 5), § 53 Rn. 2; Plog/Wiedow, BBG, 2009, § 41 Rn. 3; Wichmann/ Langer, Öffentliches Dienstrecht, 6. Aufl. 2007, Rn. 287; Schütz, Beamtenrecht, 2001, BBG, § 44 Rn. 4. Dementsprechend hat auch die beim Eintritt in den Ruhestand ausgehändigte „Ruhestandsurkunde“ keinen rechtsgestaltenden, sondern nur ehrenden Charakter; vgl. Summer, ZBR 2007, 368; Baßlsperger, ZBR 2008, 339 (344); VG des Saarlandes, Beschl. v. 10.08.2010 – 2 L 547/10, juris, Rn. 5. Ebenso im Richterrecht, vgl. Fürst, GKÖD, Bd. I, Teil 4, 2010, DRiG, § 48 Rn. 4; Schmidt-Räntsch, DRiG, 6. Aufl. 2009, § 48 Rn. 6. Vgl. auch BGH, NJW 2010, 3783, zu § 47 Nr. 1 BNotO. 10 Anders dagegen in den Fällen, in denen der Dienstherr vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze eine „Versetzung in den Ruhestand“, etwa wegen Dienstunfähigkeit, verfügt: Hier beendet er durch einen rechtsgestaltenden Verwaltungsakt das (aktive) Beamtenverhältnis und wandelt es in das Ruhestandsverhältnis um (vgl. Plog/Wiedow [Fußn. 9], § 47 Rn. 4; Summer, in: Fürst, GKÖD, Bd. I, Teil 2a, 2009, § 47 Rn. 9; Kunig, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 6. Kap., Rn. 116).
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System zunächst in Preußen11 und dann durch die „Verordnung zur Herabminderung der Personalausgaben des Reichs“ vom 27. 10. 192312 für das Reich und verpflichtend auch für die übrigen Länder aufgegeben und durch feste Altersgrenzen ersetzt. Wie der Titel dieser Verordnung andeutete, waren dafür finanzpolitische Gründe ausschlaggebend: Der Systemwechsel sollte dazu dienen, die Beamtenschaft in dem infolge des 1. Weltkriegs finanziell belasteten und territorial geschrumpften Reich zu verkleinern13. Die Entscheidung für ein Modell des grundsätzlich einzelfallunabhängigen Eintritts in den Ruhestand hat der Bundesgesetzgeber auch bei der im Zuge der Föderalismusreform I erfolgten Neuordnung des Dienstrechts beibehalten, ohne dies noch einmal näher zu begründen14. a) Beamte im Bundesdienst Für seine Beamten hat er die Regelaltersgrenze dabei auf die Vollendung des 67. Lebensjahrs festgesetzt und damit entsprechend der Neuregelung im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung15 und nach näherer Maßgabe von Übergangsbestimmungen16 im Vergleich zur vorherigen Rechtslage um zwei Jahre angehoben (vgl. § 51 Abs. 1 Hs. 1 BBG). In § 53 BBG hat der Gesetzgeber aber zugleich die Möglichkeit eröffnet, von dieser „Regelaltersgrenze“ im Einzelfall abzuweichen17: Danach kann der Eintritt der Bundesbeamten in den Ruhestand auf Antrag „um bis zu drei Jahre hinausgeschoben werden, wenn dies im dienstlichen Interesse liegt“ (§ 53 Abs. 1 Satz 1 BBG). In dieser rechtspolitisch nicht unumstrittenen18 Möglichkeit des „Hinausschiebens“ klingen letzte Erinnerungen an das bis in die 1920er Jahre maßgebliche „individuelle“ Ruhestandsmodell an.
11 Preußisches Gesetz betreffend die Einführung einer Altersgrenze vom 15. 12. 1920 (GS. S. 621). 12 RGBl. I S. 999 (1000, 1007). 13 Näher dazu m.w.N. Summer, ZBR 2007, 368; ders., PersV 2009, 164 f.; Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 48 Rn. 3. 14 Vgl. die Begründung zu § 26 des Entwurfs eines Beamtenstatusgesetzes (BT-Drs. 16/ 4027, S. 28) sowie die Begründung zu Art. 1 § 51 des Entwurfs eines Dienstrechtsneuordnungsgesetzes (BR-Drs. 720/07, S. 208). 15 Vgl. das RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. 04. 2007 (BGBl. I S. 554) und § 35 SGB VI n.F. 16 Die neue Regelaltersgrenze wird nach § 51 Abs. 2 BBG nach einer schrittweisen Anhebung ab 2012 bis 2029 erreicht, vgl. Battis (Fußn. 5), § 51 Rn. 1, 4. 17 Eine weitere Abweichung von der „Regelaltersgrenze“ stellen die „besonderen“ Altersgrenzen dar, die für einzelne Beamtengruppen, bspw. im Feuerwehrdienst, normiert wurden, vgl. § 51 Abs. 1 Hs. 2 BBG. 18 Summer etwa spricht sich in PersV 2009, 164 (167), und in: Fürst, GKÖD (Fußn. 10), § 41 Rn. 10, vehement dafür aus, die Regelungen zum Hinausschieben abzuschaffen.
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b) Beamte im Landesdienst Baden-Württemberg, auf dem im Folgenden der Fokus liegen soll, hat sich in seinem am 01. 01. 2011 in Kraft getretenen DRG dazu entschlossen, „aus demografischen, finanz- und sozialpolitischen Erwägungen“ einen an das Bundesmodell angelehnten Weg zu beschreiten19 : So erreichen auch die Beamten des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts die Regelaltersgrenze künftig grundsätzlich mit Ablauf des Monats, in dem sie das 67. Lebensjahr vollenden (vgl. §§ 1, 36 Abs. 1 LBG)20. Auch die damit geregelte Anhebung der Regelaltersgrenze erfolgt freilich nur schrittweise. Sie beginnt mit dem Geburtsjahrgang 1947 und wird im Jahr 2029 abgeschlossen sein. Die Stufen der Anhebung betragen dabei zunächst einen und ab dem Geburtsjahrgang 1959 zwei Monate pro Geburtsjahrgang. Für alle nach dem Jahr 1963 Geborenen gilt dann die Regelaltersgrenze von 67 Jahren (vgl. Art. 62 § 3 Abs. 2 DRG)21. Wie das Bundes- sieht auch das Landesrecht ferner die Möglichkeit vor, den durch die Altersgrenze abstrakt bestimmten Eintritt in den Ruhestand auf Antrag des Beamten individuell hinauszuschieben, „wenn dies im dienstlichen Interesse liegt“22. Besonderheiten bestehen dabei allerdings während der bis zum Ablauf des Jahres 2028 andauernden Übergangszeit: In diesem Zeitraum „ist“ dem Antrag eines Beamten auf Hinausschiebung des Eintritts in den Ruhestand bis zu dem Ablauf des Monats, in dem er das 68. Lebensjahr vollendet, stattzugeben, „soweit dienstliche Interessen nicht entgegenstehen“ (vgl. Art. 62 § 3 Abs. 1 DRG). Für die immerhin 18 Jahre umfassende Übergangsphase hat der Landesgesetzgeber das Hinausschieben also auf der Tatbestandsseite von geringeren Anforderungen abhängig gemacht, indem das „normative Nadelöhr“23 des „dienstlichen Interesses“ nicht mehr für eine Verlängerung positiv festgestellt, sondern gleichsam umgekehrt für eine Versagung der Verlängerung vom Dienstherrn als entgegenstehend nachgewiesen werden muss. Auf der Rechtsfolgenseite wurde die Bestimmung zudem von einer Kann- zu einer Ist-Bestimmung modifiziert. 2. Richterrecht Das Grundgesetz hat es den Gesetzgebern in Art. 97 Abs. 2 Satz 2 GG ausdrücklich frei gestellt, ob sie für Richter eine prinzipiell unbegrenzte, erst durch eine individuelle Entscheidung zu beendende aktive Dienstzeit vorsehen oder den Ruhestandseintritt beim Erreichen einer bestimmten Altersgrenze kraft Gesetzes bewirken 19
Vgl. LT-Drs. 14/6694, S. 375. Auch das Landesrecht kennt hiervon abweichende „besondere“ Altersgrenzen, bspw. im Polizei- und allgemeinen Vollzugsdienst, vgl. § 36 Abs. 2 bis 4 LBG. 21 Vgl. LT-Drs. 14/6694, S. 607 f. 22 Dies allerdings nicht länger als bis zum Ablauf des Monats, in dem der Beamte das 68. Lebensjahr vollendet, vgl. § 39 Satz 1 LBG. 23 Schäfer, ZBR 2009, 301 (302). 20
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wollen. Der Bundes- und der Landesgesetzgeber haben sich im Ergebnis für die zweite Möglichkeit entschlossen, dabei aber Sonderregelungen gegenüber dem Beamtenrecht geschaffen: a) Richter im Bundesdienst Für die Rechtsverhältnisse der Richter im Bundesdienst gelten zwar nach § 46 DRiG grundsätzlich die Vorschriften für Bundesbeamte. Eine hiervon abweichende Vorschrift besteht aber gerade für den Eintritt in den Ruhestand. So hat der Bundesgesetzgeber zwar die Regelaltersgrenze für Richter – insoweit wie für Beamte – auf die Vollendung des 67. Lebensjahres bezogen (vgl. § 48 Abs. 1 DRiG). Die Möglichkeit, den Eintritt in den Ruhestand über diese Grenze hinauszuschieben, hat er dagegen für Richter im Bundesdienst ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. § 48 Abs. 3 DRiG). Dem lag die Erwägung zugrunde, dass es mit der in Art. 97 Abs. 1 GG gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit nicht zu vereinbaren wäre, wenn es wie bei Bundesbeamten im Ermessen des Dienstherrn stünde, über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit eines einzelnen Richters zu entscheiden24. b) Richter im Landesdienst Anders gestaltet sich die Rechtslage für Richter im Landesdienst. Ähnlich wie für Landesbeamte hat sich der Bundesgesetzgeber insoweit darauf beschränkt, den Ländern vorzugeben, dass Richter auf Lebenszeit nach Erreichen der Regelaltersgrenze ipso iure in den Ruhestand treten (§ 76 Abs. 1 DRiG). Wann diese Grenze erreicht wird, können die Länder dagegen für „ihre“ Richter wiederum selbst bestimmen. Außerdem lässt es das Bundesrecht zu, dass die Länder „besondere Altersgrenzen“ bestimmen können, bei deren Erreichen der Richter „auf seinen Antrag“ in den Ruhestand zu versetzen ist (vgl. § 76 Abs. 2 DRiG). In dem so gezogenen Rahmen hat sich Baden-Württemberg bei der zum 01. 01. 2011 erfolgten Novellierung seines Dienstrechts dazu entschlossen, die Regelaltersgrenze für „seine“ Richter bis zum Jahr 2029 um zwei Jahre anzuheben und künftig ebenfalls an die Vollendung des 67. Lebensjahre anzuknüpfen (vgl. § 6 Abs. 1 LRiG, Art. 62 § 3 Abs. 2 DRG). Anders als das bis zum 31. 12. 2010 geltende Landesrecht, das ein „Hinausschieben“ bei Richtern noch ausdrücklich untersagte25, sieht das neue Richterrecht ergänzend vor, dass der Eintritt in den Ruhestand wegen Erreichens der Altersgrenze auf Antrag nun bis zu einem Jahr, längstens bis zu dem Ablauf des Monats, in dem der Richter das 68. Lebensjahr vollendet, hinausgeschoben „wird“ (§ 6 Abs. 2 Satz 1 LRiG n.F.).
24 25
Vgl. Fürst (Fußn. 9), § 48 Rn. 5; Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 48 Rn. 8. Vgl. § 6 Abs. 2 LRiG a.F.
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Damit unterscheidet sich das Landesrichterrecht nicht nur vom Bundesrichterrecht, das ein Hinausschieben für die Bundesrichter26 nach wie vor gänzlich untersagt, sondern auch vom Landesbeamtenrecht. Denn anders als bei diesem ist das Hinausschieben bei Richtern auf der Tatbestandsseite von keinerlei Voraussetzungen („dienstliches Interesse“) abhängig und auf der Rechtsfolgenseite durchweg – und nicht nur für eine Übergangszeit – als Ist-Vorschrift ausgestaltet. Der Landesgesetzgeber ist bei der Ausgestaltung dieser Regelung davon ausgegangen, dass der Eintritt in den Ruhestand bei Richtern wegen der ihnen garantierten Unabhängigkeit zwar in der Tat nicht von einer Ermessensentscheidung der Exekutive abhängig sein soll, dass dies aber nicht dazu zwingt, auf ein Hinausschieben gänzlich zu verzichten27. III. Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren Stellt ein Beamter oder Richter einen Antrag auf Hinausschieben seines Ruhestands und lehnt der Dienstherr diesen Antrag ab, so mag sich der Betroffene dazu veranlasst sehen, Klage zu erheben. Dazu muss er über den Rechtsweg (1.), die statthafte Klageart (2.), seine Klagebefugnis (3.) und die übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen (4.) Klarheit gewinnen. 1. Rechtsweg Für eine Klage, mit der ein Beamter das Hinausschieben seines Ruhestandseintritts sicherstellen will, ist unproblematisch der Verwaltungsrechtsweg gegeben (§ 54 Abs. 1 BeamtStG)28. Bei Richtern wird eine solche Klage zwar selten in Betracht gezogen werden müssen, da das Landesrecht, wie gezeigt, diesen anders als Beamten einen gebundenen Anspruch auf das Hinausschieben ihres Ruhestands eingeräumt hat (vgl. § 6 Abs. 2 LRiG). Ausgeschlossen sind Rechtstreitigkeiten aber auch hier keineswegs29. Für diese Fälle bedarf die Frage, welchen Rechtsweg der Richter zu beschreiten hat, einer näheren Betrachtung. 26
Aber auch nur für diese. Wenn dagegen Müller/Beck, Das Beamtenrecht in BadenWürttemberg, Stand Juni 2010, LBG, § 51 Rn. 2, meinen, der Landesgesetzgeber sei durch § 48 Abs. 2 DRiG daran gehindert, ein Hinausschieben der Altersgrenze für die Richter im Landesdienst einzuführen, übersehen sie, dass diese Vorschrift ausweislich ihrer Stellung im Zweiten Teil des DRiG nur für die Richter im Bundesdienst gilt. 27 Vgl. LT-Drs. 14/6694, S. 585, 607; und zum Verzicht auf ein Ermessen des Dienstherrn auch Greßmann, DRiZ 2009, 133 (134); Fürst (Fußn. 9), § 48 Rn. 5; Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 48 Rn. 8. 28 Vgl. statt aller VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris. 29 Denkbar sind etwa Auseinandersetzungen über die Rechtzeitigkeit und Wirksamkeit des nach § 6 Abs. 2 Satz 2 LRiG erforderlichen Antrags, über die Folgen einer vor der Versagung möglicherweise unterbliebenen Anhörung (vgl. dazu Summer, Fußn. 10, § 41 Rn. 12), oder zu der Frage, ob der Richter verlangen kann, dass auch bei einem verspätet gestellten Antrag noch in der Sache – dann gar nach Ermessen? – entschieden wird.
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Grundsätzlich ist zwar auch für alle Klagen von Richtern aus dem Richterverhältnis der Verwaltungsrechtsweg gegeben (vgl. § 71 DRiG i.V.m. § 54 Abs. 1 BeamtStG)30. Es bleibt aber zu prüfen, ob für die vorliegend interessierende Fallkonstellation eine abdrängende Sonderzuweisung besteht, haben doch die als „besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit“31 eingerichteten Richterdienstgerichte – und nicht die „allgemeinen“ Verwaltungsgerichte – nach näherer Maßgabe der §§ 62, 78 DRiG, 63 LRiG immerhin über die Entlassung eines Richters, über seine Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit und über andere gesetzlich näher bezeichnete Maßnahmen im Zusammenhang mit der Beendigung seines aktiven Dienstverhältnisses zu entscheiden. Die Zuständigkeiten des Dienstgerichts des Bundes32 sind in § 62 DRiG geregelt. In dem dort normierten Aufgabenkatalog sind Streitigkeiten über Entscheidungen zum Hinausschieben des Ruhestands nicht aufgeführt. Das ist für das Bundesrecht auch nicht weiter verwunderlich, da dieses für „seine“ Richter, wie gezeigt, ein Hinausschieben ausdrücklich untersagt (§ 48 Abs. 3 DRiG). In einem weiteren Katalog hat der Bundesgesetzgeber darüber hinaus auch den Ländern vorgegeben, welche Zuständigkeiten sie „ihren“ Dienstgerichten zuzuweisen haben (vgl. § 78 DRiG)33. Auch diese Bundesnorm führt Streitverfahren zum Hinausschieben nicht ausdrücklich auf. Möglicherweise34 deshalb hat auch der Landesgesetzgeber solche Gegenstände nicht in die von ihm normierte Aufzählung der Aufgaben aufgenommen, in denen „sein“ Richterdienstgericht35 zur Entscheidung berufen sein soll (vgl. § 63 LRiG), obwohl er ein solches Hinausschieben für „seine“ Richter seit dem 01. 01. 2011 zugelassen hat. Dieser landesrechtliche Befund mutet systemfremd an. Denn die Dienstgerichte wurden mit ihrer besonders geregelten personellen Zusammensetzung (vgl. §§ 61 Abs. 2 und 3, 77 Abs. 2 bis 4 DRiG, 68 f. LRiG) eingerichtet, um „die richterliche Unabhängigkeit, Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit als konstitutive und unverzichtbare Elemente des Richterdienstverhältnisses mit einem besonders wirkungs-
30 Vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 40 Rn. 75; BVerfG, DtZ 1993, 20 (22); BVerwG, NJW 1983, 2589; BGH (Dienstgericht des Bundes), NJW 1984, 2531 (2533); Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 62 Rn. 2, § 78 Rn. 2. 31 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 143. 32 Das als besonderer Senat des BGH gebildet wurde, vgl. § 61 Abs. 1 DRiG, der auf Art. 96 Abs. 4 GG beruht (vgl. Schenke, Fußn. 31, Rn. 143). 33 § 78 DRiG begründet allerdings nicht selbst die Zuständigkeiten der Länderdienstgerichte, sondern nur eine Verpflichtung der Landesgesetzgeber, solche Zuständigkeiten zu normieren, ist also auf Umsetzung angewiesen, vgl. Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 78 Rn. 6 f., 12. 34 Die Gesetzesbegründung zum DRG erläutert die Entscheidung nicht, vgl. LT-Drs. 14/ 6694, S. 585 ff. 35 Das baden-württembergische „Dienstgericht für Richter“ ist bei dem LG Karlsruhe eingerichtet (§ 62 Abs. 2 LRiG).
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vollen Schutz zu umgeben“36. Bei der Schaffung der Vorschriften über das Hinausschieben des Ruhestands war sich der Landesgesetzgeber nun aber, wie gezeigt, gerade bewusst, dass eine Entscheidung über ein solches Hinausschieben bei Richtern von besonderer Bedeutung für ihre (persönliche) Unabhängigkeit ist. Aus eben diesem Grunde sah er sich für den Bereich des materiellen Rechts denn auch dazu veranlasst, besondere Regelungen zum Schutz dieser Unabhängigkeit zu schaffen und nicht, wie sonst in weitem Umfang geschehen (vgl. § 8 LRiG), das Beamtenrecht für entsprechend anwendbar zu erklären (vgl. § 6 Abs. 2 LRiG und oben II. 2. b)). Diesen im materiellen Recht beschrittenen Sonderweg scheint der Landesgesetzgeber im Prozessrecht auf den ersten Blick nicht weitergegangen zu sein. Denn der Wortlaut der Zuständigkeitsvorschrift des § 63 LRiG wurde im Zuge der Dienstrechtsreform nicht geändert, sodass dort auch keine ausdrücklichen Spezialregelungen zur Zuständigkeit der Richterdienstgerichte für „Hinausschiebungsstreitigkeiten“ aufgenommen wurden. Bezieht man jedoch neben dieser rein grammatischen auch eine teleologische Betrachtung der maßgeblichen Vorschriften mit ein, sprechen die besseren Gründe für die Annahme, dass nicht die „allgemeinen“ Verwaltungsgerichte, sondern die Richterdienstgerichte dazu berufen sind, ggf. darüber zu entscheiden, ob es der Dienstherr zu Recht abgelehnt hat, den Ruhestand eines Richters hinauszuschieben. Denn für solche Streitigkeiten ist von einer ungeschriebenen Zuständigkeit der Richterdienstgerichte auszugehen. Dabei soll nicht verkannt werden, dass bei der Annahme von ungeschriebenen (abdrängenden) Rechtswegzuweisungen grundsätzlich Zurückhaltung geboten ist. Das folgt zwar nicht schon aus dem Umstand, dass § 40 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 VwGO eine „ausdrückliche“ Zuweisung an andere als die Verwaltungsgerichte verlangt37, denn der Gesetzgeber wollte mit diesem Tatbestandsmerkmal lediglich eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte „kraft Überlieferung“ ausschließen38. Für ungeschriebene Rechtswegzuständigkeiten ist aber deshalb nicht viel Raum, weil der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet ist, „klare und bestimmte“ Rechtswegvorschriften zu schaffen, die dem rechtssuchenden Bürger den zu beschreitenden Weg zweifelsfrei weisen und den gesetzlichen Richter klar bestimmen39. Im Bereich des Richterdienstrechts gilt insoweit nichts anderes und dementsprechend wird auch der Zuständigkeitskatalog aus § 78 DRiG als grundsätzlich abschließend angesehen40.
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Rn. 6. 37
BVerfG, DtZ 1993, 20 (22); vgl. auch Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 26 Rn. 58, § 62
So aber wohl Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 2010, § 40 Rn. 490. Vgl. BVerwG, NJW 1989, 412 (413), unter Hinweis auf BT-Dr III/55, S. 30. 39 Vgl. BVerfG, NJW 1981, 1154 m.w.N.; Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 40 Rn. 49; Sodan in: Sodan/Ziekow VwGO, 3. Aufl. 2010, § 40 Rn. 491; Ehlers (Fußn. 37), § 40 Rn. 484; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 40 Rn. 100. 40 Vgl. BVerfG, DtZ 1993, 20 („nahezu“ abschließend); BVerwG, NJW-RR 2010, 272 (273); VGH Baden-Württemberg, BeckRS 2009, 39801; Ehlers (Fußn. 37), § 40 Rn. 85; Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 62 Rn. 6, § 78 Rn. 3, 5; Fürst (Fußn. 9), § 78 Rn. 1. 38
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Daraus folgt nun aber auf der anderen Seite nicht, dass alle Vorschriften, die abdrängende Sonderzuweisungen enthalten, restriktiv ausgelegt werden müssten41. Insbesondere in den Fällen, in denen der Gesetzgeber eine besondere Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet und dieser bestimmte Rechtsmaterien zugewiesen hat, darf bei der Auslegung vielmehr grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass er diese Materie dann auch insgesamt der speziellen Gerichtsbarkeit zugeordnet hat und Rechtswegzersplitterungen und -überschneidungen vermeiden will („Auslegungsgrundsatz der Spartengerichtsbarkeit“42). Auch in dieser Hinsicht weist das Richterdienstrecht keine Besonderheiten auf. So ist es weitgehend anerkannt, dass der Landesgesetzgeber die bundesrechtliche Grundnorm des § 78 DRiG weit auslegen darf und dabei nicht darin gehindert ist, „seinen“ Dienstgerichten über den Wortlaut des § 78 DRiG hinaus solche Verfahren zuzuweisen, die in einem engen sachlichen Zusammenhang mit den dort genannten Verfahren stehen43. Berücksichtigt man den „Grundsatz der Spartengerichtsbarkeit“ im nächsten Schritt auch bei der Auslegung der § 78 DRiG umsetzenden landesrechtlichen Norm des § 63 LRiG, spricht dies dafür, die Richterdienstgerichte kraft Sachzusammenhangs auch für Verfahren zuständig zu erachten, in denen die Beteiligten darüber streiten, ob der Dienstherr die beantragte Hinausschiebung des Eintritts in den Ruhestand zurecht versagt hat. Denn für alle anderen denkbaren Entscheidungen, welche die Beendigung eines aktiven Richterverhältnisses zum Gegenstand haben, ist der Weg zu den Dienstgerichten schon nach dem Wortlaut des § 63 LRiG eröffnet44. Sogar Verfahren, die nicht die vollständige Beendigung, sondern nur die Bestimmung des Umfangs des richterlichen Dienstes zum Gegenstand haben, sind „schon“ den Richterdienstgerichten zugewiesen (vgl. § 63 Nr. 3 lit. e, Nr. 4 lit. g LRiG). All diesen ausdrücklichen Tatbeständen liegt die Annahme zugrunde, dass solche das Ob oder den Umfang des aktiven Dienstes betreffende Entscheidungen die persönliche Unabhängigkeit der Richter in besonderer Weise tangieren und deshalb auch dem besonderen, durch die Richterdienstgerichte zu gewährleistenden Schutz zuzuordnen sind. Wenn nun aber sowohl der Bundes- wie der Landesgesetzgeber selbst zum Ausdruck gebracht haben, dass sie Entscheidungen über das Hinausschieben des Ruhestands eine besondere Bedeutung für die richterliche Unabhängigkeit zumessen (vgl. oben II.2.), besteht auch ein hinreichender Sachzusammenhang zu den in § 78 DRiG und § 63 LRiG ausdrücklich normierten Zuständigkeiten der Dienstgerichte. 41
Vgl. Sodan (Fußn. 39), § 40 Rn. 491 f.; Rennert (Fußn. 39), § 40 Rn. 100; a.A. Ehlers (Fußn. 37), § 40 Rn. 490. 42 Rennert (Fußn. 39), § 40 Rn. 100; ähnl. Sodan (Fußn. 41), § 40 Rn. 492. 43 Vgl. BVerfG, DtZ 1993, 20; BGH, NJW 1981, 2011; VGH Baden-Württemberg, BeckRS 2009, 39801. Beispiele für landesrechtliche Zuständigkeitsregelungen, die über den Wortlaut des § 78 DRiG hinausgehen, führt Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 62 Rn. 6, § 78 Rn. 9 f., an, der von einer zulässigen „teleologischen Erweiterung des Tatbestands“ spricht. 44 Dies betrifft die Entfernung aus dem Richterverhältnis in einem Disziplinarverfahren, die Entscheidung über die Nichtigkeit oder Rücknahme einer Ernennung, die Entlassung aus dem Dienstverhältnis, die Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit oder, im Falle von Richtern auf Probe und kraft Auftrags, Verfügungen des Dienstherrn dahingehenden Inhalts.
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Dass dieser von dem Landesgesetzgeber gesehene Bezug zu den Besonderheiten des richterlichen Amts in § 63 LRiG nicht ausdrücklich niedergeschrieben wurde, kann der Annahme einer Zuständigkeit der Richterdienstgerichte vor diesem Hintergrund nicht entgegenstehen45. Ob das Bundesverwaltungsgericht die hier befürwortete Auslegung mittragen würde, muss im Lichte seiner jüngsten Rechtsprechung zur Rechtwegabgrenzung freilich als wenigstens offen bezeichnet werden. Der Bundesgerichtshof hatte 1979 noch aus §§ 62, 78 DRiG und sich daran anlehnenden landesrechtlichen Bestimmungen den weitreichend formulierten Grundsatz abgeleitet, dass „für alle Verfahren, die den Bestand eines Richterverhältnisses zum Gegenstand haben oder haben können, die Dienstgerichte für Richter zuständig sein sollen“, wobei er sich dazu befugt sah, angefochtene Maßnahmen vollumfänglich auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen46. Dem ist das Bundesverwaltungsgericht jedenfalls für die Fälle nicht gefolgt, in denen sich Richter gegen „Maßnahmen der Dienstaufsicht“ im Sinne des § 26 DRiG wenden. Zwar eröffnet das Richterrecht auch für die Anfechtung solcher Maßnahmen den Weg zu den Richterdienstgerichten, dies allerdings mit dem einschränkenden Zusatz, dass die Anfechtung „aus den Gründen des § 26 Abs. 3 DRiG“, also mit der Behauptung, die fragliche Maßnahme habe die richterliche Unabhängigkeit verletzt, erfolgen müsse (vgl. §§ 62 Abs. 1 Nr. 4 lit. e, 78 Nr. 4 lit. e DRiG, 63 Nr. 4 lit. f LRiG). Aus dem zitierten Teilsatz hat das Bundesverwaltungsgericht gefolgert, dass der Rechtsweg zu den Richterdienstgerichten „nur für einen bestimmten Klagegrund“ – nämlich die Behauptung einer Verletzung der Unabhängigkeit – eröffnet sei. Daraus folge zum einen, dass der Richter durch seine Klagebegründung selbst bestimmen könne, ob er überhaupt diesen oder stattdessen den Weg zu den Verwaltungsgerichten beschreiten wolle. Falls er das Richterdienstgericht anrufe, könne dieses außerdem nur über eine mögliche Verletzung der Unabhängigkeit entscheiden, die angefochtene Maßnahme aber nicht umfassend auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen; insoweit bleibe es vielmehr bei der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte47. Der Bundesgerichtshof hat diese Auslegung der Rechtswegvorschriften für „Maßnahmen der Dienstaufsicht“ akzeptiert48.
45 Die hier befürwortete erweiternde Auslegung wäre zwar dann ausgeschlossen, wenn sich der Gesetzgeber mit dieser Rechtswegfrage ausdrücklich befasst und sie bewusst in dem Sinne einer verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeit entschieden hätte. Das aber ist nicht der Fall, da die Gesetzesmaterialien zu dem DRG keinen Hinweis darauf enthalten, dass die hier erörterte Frage Gegenstand der Erwägungen des Landesgesetzgebers waren (vgl. LT-Drs. 14/6694, S. 585 ff.). 46 BGH, NJW 1979, 1710; fortgeführt von dems., NJW 1981, 2011; zust. VG Sigmaringen, Beschl. v. 22.04.2009 – 1 K 157/08, juris, Rn. 4 ff.; offen gelassen bei VGH Baden-Württemberg, NJW-RR 2009, 403. 47 BVerwG, NJW 1983, 2589 f.; dass, NJW-RR 2010, 272 (273 f.); ebenso Nds. OVG, NVwZ-RR 1998, 695 f. 48 Vgl. BGH, NJW 1984, 2531 (2532 f.).
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Die Auslegung führt freilich zu einer „Zuständigkeitszersplitterung“49, die dem Grundgedanken des eingangs genannten „Auslegungsgrundsatzes der Spartengerichtsbarkeit“ widerspricht. Diesen Widerspruch mag man für die Zuständigkeit von Maßnahmen der Dienstaufsicht hinnehmen, weil das Gesetz selbst den dafür einschlägigen Zuständigkeitstatbestand auf einen bestimmten Klagegrund („aus den Gründen des § 26 Abs. 3 DRiG“) beschränkt. Es besteht aber kein Anlass, den genannten Widerspruch auch für die anderen richterdienstgerichtliche Zuständigkeitstatbestände als die Anfechtung von „Maßnahmen der Dienstaufsicht“ zu akzeptieren50. Denn die Richtergesetze des Bundes und des Landes beziehen einzig die Anfechtung von Dienstaufsichtsmaßnahmen auf den genannten Klagegrund (vgl. §§ 62, 78 DRiG, 63 LRiG)51. Die übrigen der in diesen Vorschriften geschriebenen Zuständigkeitstatbestände enthalten eine dahingehende Einschränkung dagegen gerade nicht. Eine jüngere Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts legt allerdings die Annahme nahe, dass das Gericht (jedenfalls) für etwaige ungeschriebene Zuständigkeiten der Richterdienstgerichte eine Beschränkung auf den Klagegrund einer „Unabhängigkeitsverletzung“ annehmen will. Diese Entscheidung betraf die Anordnung des Dienstherrn an einen Richter, sich wegen Zweifeln an seiner Dienstfähigkeit amtsärztlich untersuchen zu lassen. Da das maßgebliche baden-württembergische Landesrecht bei einer Weigerung, einer solchen Anordnung Folge zu leisten, unter Umständen eine Dienstunfähigkeit fingiert (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 4 LBG a.F.), und da über die Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit wiederum die Dienstgerichte zu entscheiden haben (vgl. § 63 Nr. 3 lit. d LRiG), hatten die verwaltungsgerichtlichen Vorinstanzen noch die Dienstgerichte als kraft Sachzusammenhangs für zuständig erachtet52. Das Bundesverwaltungsgericht hat stattdessen den Verwaltungsrechtsweg als eröffnet angesehen und dabei herausgestellt, dass sich der Richter im zu entscheidenden Fall jedenfalls „in erster Linie“ nicht wegen einer Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit, sondern unter Hinweis auf sein Persönlichkeitsrecht gegen die Anordnung gewandt habe53. Auch hier waren also Betrachtungen zum „Klagegrund“ maßgeblich für den als gegeben erachteten Rechtsweg.
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Wie das BVerwG, NJW 1983, 2589, einräumt. So wohl auch Fürst (Fußn. 9), § 26 Rn. 78. 51 Ebenso VG Sigmaringen, Beschl. v. 22.04.2009 – 1 K 157/08, juris, Rn. 7; VGH BadenWürttemberg, BeckRS 2009, 39801; die eingangs zitierte Entscheidung des BGH, NJW 1981, 2011, ist deshalb insoweit auch keineswegs „als überholt anzusehen“, wie das Nds. OVG, NVwZ-RR 1998, 695 f., meint (VG Sigmaringen ebd.). 52 VG Sigmaringen, Beschl. v. 22.04.2009 – 1 K 157/08, juris; VGH Baden-Württemberg, BeckRS 2009, 39801. 53 Vgl. BVerwG, NJW-RR 2010, 272 (273 f.). 50
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Ob diese gegen die Vorinstanzen und die wohl h.L.54 gefallene Entscheidung für den Bereich des Dienstunfähigkeitsrechts überzeugt, sei dahingestellt. Eine „Zuständigkeitszersplitterung“ nach dem „Klagegrund“ ist jedenfalls für die hier interessierenden Verfahren zum Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand abzulehnen. Denn die von dem Bundesverwaltungsgericht für möglich gehaltene Differenzierung danach, ob sich der Richter – wenigstens „in erster Linie“ – auf eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit oder andere Gründe berufe, ist zumindest bei Hinausschiebungsverfahren nicht zulässig. Denn sowohl der Bundes- als auch der Landesgesetzgeber sind ersichtlich davon ausgegangen, dass Entscheidungen über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit immer (jedenfalls auch) die richterliche Unabhängigkeit tangieren: Dem Bundesgesetzgeber war dies sogar Anlass, auf die Einführung von Vorschriften, auf deren Grundlage der Dienstherr über das Hinausschieben entscheiden würde, gänzlich zu verzichten (vgl. oben II. 2. a)). Und der Landesgesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des materiellen Richterdienstrechts zum Ausdruck gebracht, dass er der Entscheidung über das Hinausschieben in den Ruhestand losgelöst vom Einzelfall eine besondere Bedeutung für die richterliche Unabhängigkeit beimisst, und deshalb Sondervorschriften zu dem Beamtenrecht geschaffen (vgl. oben II. 2. b)). Angesichts dieser Wertungen wäre es nicht überzeugend anzunehmen, dass es zur Disposition des einzelnen Richters oder gar des Dienstherrn stünde, im Einzelfall festzulegen, ob „in erster Linie“ die richterliche Unabhängigkeit betroffen ist oder nicht, wenn der Dienstherr einen Antrag auf Hinausschiebung ablehnt. Die hier befürwortete Zuständigkeit des Richterdienstgerichts ist deshalb unabhängig davon gegeben, aus welchen Gründen sich der Richter gegen eine Entscheidung über seinen Antrag auf Hinausschieben des Ruhestands im Einzelnen wendet. 2. Statthafte Klageart Der bei der Rechtswegfrage für Beamte einerseits und Richter andererseits mithin geteilte Pfad trifft sich wieder bei der Entscheidung über die statthafte Klageart: Entscheidet sich der Dienstherr dazu, dem Antrag eines Beamten oder Richters auf Hinausschiebung des Ruhestands zu entsprechen, so verlängert er das aktive Beamten- oder Richterverhältnis, betrifft den Bediensteten dadurch nicht nur als Amtsperson, sondern auch in seinem persönlichen Rechtsstatus – in seinem „Grundverhältnis“ – und trifft folglich55 eine auf Außenwirkung im Sinne des § 35 Satz 1 der
54 Vgl. Schmidt-Räntsch (Fußn. 9), § 62 Rn. 18, § 78 Rn. 17, sowie die w.N. bei BVerwG, NJW-RR 2010, 272 (273). 55 Näher zur Prüfung der Außenwirkung einer Maßnahme im Beamtenverhältnis und zu der dafür nach wie vor hilfreichen Abgrenzung von Grund- und Betriebsverhältnis Schenke (Fußn. 31), Rn. 214 ff.; ders., in: BK-GG, Art. 19 Abs. 4, 2009, Rn. 292; ders., in: Merten, Das besondere Gewaltverhältnis, 1985, 83 (95); Kopp/Schenke (Fußn. 30), Anh § 42 Rn. 68 f. m.w.N.; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 199 („Faustformel“); a.A. Knack/Henneke, VwVfG, 9. Aufl. 2010, § 35 Rn. 37.
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VwVfGe gerichtete Entscheidung, die als Verwaltungsakt einzuordnen ist56. Fällt die Entscheidung des Dienstherrn dagegen negativ aus, indem er sich dazu entscheidet, das begehrte Hinausschieben zu versagen, so hat der Beamte57 oder Richter58 konsequenterweise eine Verpflichtungsklage i.S.d. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO zu erheben. Soweit dagegen vereinzelt die Ansicht vertreten wird, gegen eine ablehnende Entscheidung des Dienstherrn sei die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) statthaft59, überzeugt das nicht. Der Anfechtungsklage kann zwar nicht entgegengehalten werden, bei der ablehnenden Entscheidung des Dienstherrn handle es sich anders als bei der stattgebenden nicht um einen Verwaltungsakt, weil der Status des Beamten oder Richters in jenem Fall ja gerade nicht verändert werde60. Ein solcher Einwand verfinge nicht, weil die Ablehnung eines Antrags auf Erlass eines Verwaltungsakts immer auch selbst einen Verwaltungsakt darstellt61. Gegen die Erhebung einer „isolierten“ Anfechtungsklage, mit der nur die Aufhebung der Ablehnung des begünstigenden Verwaltungsakts und nicht sogleich die Begünstigung selbst geltend gemacht wird, spricht aber, dass die Verpflichtungsklage, die immer auch (konkludent) einen Antrag auf Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsakts (und ggf. Widerspruchsbescheids) mit einschließt, insoweit als spezieller anzusehen ist. Dies schließt, von hier nicht einschlägigen Ausnahmekonstellationen abgesehen, richtigerweise bereits die Statthaftigkeit einer „isolierten“ Anfechtungsklage aus62. 56
Vgl. nur Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 8, 14; Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 11; Plog/ Wiedow (Fußn. 9), § 41 Rn. 4e; VG Koblenz, Beschl. v. 31.07.2009 – 6 L 823/09.KO, juris, Rn. 8. 57 Vgl. dazu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 5, 14; VG Aachen, Urt. v. 03.11.2005 – 1K 1200/05, juris, Rn. 6, 11; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.03.2008 – 1 M 17/08, juris, Rn. 8; VG Koblenz, Beschl. v. 31.07.2009 – 6 L 823/09.KO, juris, Rn. 8; VG des Saarlandes, Beschl. v. 10.08.2010 – 2 L 547/10, juris, Rn. 8; VG Neustadt/ Weinstraße, Urt. v. 16.11.2010 – 6 K 753/10.NW, juris, Rn. 13, 28; VG Minden, Urt. v. 18.11.2010 – 4 K 1893/10, juris, Rn. 6, 13. 58 Dem steht bei Richtern nicht entgegen, dass § 63 LRiG für die Richterdienstgerichte ausdrücklich nur die „Anfechtung“ von, aber nicht die „Verpflichtung“ zu Entscheidungen des Dienstherrn nennt, denn die Vorschrift ist (auch) insoweit einer erweiternden Auslegung zugänglich (vgl. BGHZ 174, 213 (216 f.), zu §§ 34 Nr. 4 lit. g, 50 SächsLRiG). 59 So Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 13, der dies gar als „allgemeine Auffassung“ bezeichnet. 60 So aber Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 13, die einer versagenden Entscheidung die Außenwirkung absprechen; offen gelassen bei VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 15. 61 Vgl. Knack/Henneke (Fußn. 55), § 35 Rn. 15; BayVGH, DÖV 1975, 210. Das ist auch in der vorliegenden Konstellation überzeugend, denn auch eine Entscheidung, den Eintritt in den Ruhestand nicht hinauszuschieben, hat eine mögliche Veränderung des Grundstatus des Beamten zum Gegenstand (vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 30), Anh § 42 Rn. 23), womit es weder an einer „Regelung“ noch an der „Außenwirkung“ des § 35 VwVfG fehlt; im Ergebnis ebenso Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 13. 62 Vgl. Schenke (Fußn. 31), Rn. 282; dens., JZ 1996, 998 (1005); Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 6, 30; a.A. etwa BVerwG NJW 1971, 2004 (2005), wenn sich die Klage, wie hier, gegen eine öffentlich-rechtliche Körperschaft richtet, von der „man angesichts ihrer verfassungsmäßig verankerten festen Bindung an Recht und Gesetz die Respektierung von Ge-
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3. Klagebefugnis Wie (fast63) jede andere Verpflichtungsklage ist auch die auf ein Hinausschieben des Ruhestands gerichtete nur dann zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung seines Antrags in seinen Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO). a) Beamte Die Frage, ob die landesrechtlichen Vorschriften über das Hinausschieben des Ruhestands dem einzelnen Beamten ein subjektives Recht gegen seinen Dienstherrn verleihen, war bereits vor dem Inkrafttreten des DRG lebhaft umstritten, und verdient nach der zum 01. 01. 2011 erfolgten Novellierung des Landesbeamtenrechts erneuter Betrachtung. In der Rechtsprechung wird allerdings teils die Auffassung vertreten, bei der Prüfung der Klagebefugnis könne man es bei der Feststellung belassen, dass diese Frage umstritten sei. Angesichts dieses Befundes könne nämlich, so wird argumentiert, jedenfalls nicht behauptet werden, dass es „offensichtlich und nach jeder Betrachtungsweise“ ausgeschlossen sei, dass dem klagenden Beamten ein subjektives Recht zustehe64. Bei dieser Argumentation wird jedoch der Inhalt der von der h.M. und auch hier zugrunde gelegten sog. Möglichkeitstheorie verkannt. Denn nach dieser Lehre genügt es zwar für die Klagebefugnis, dass der unter einen Rechtssatz zu subsumierende Sachverhalt „möglicherweise“ besteht; die abstrakte Eignung dieses Rechtssatzes, subjektive Rechte zu begründen, muss aber realiter bestehen65. Der Rechtsanwender kommt deshalb nicht umhin, auf der Ebene der Zulässigkeit zu klären, ob die im jeweiligen Einzelfall maßgeblichen Vorschriften (zumindest auch) die Interessen des einzelnen Beamten zu schützen bestimmt sind oder nicht66. Die Rechtsprechung in Baden-Württemberg hat diese Frage für das eigene Landesrecht bislang skeptisch bis ablehnend beantwortet67. In seiner bis zum 12. 05. richtsurteilen auch ohne dahinterstehenden Vollstreckungsdruck erwarten darf“. Die These vom „nicht erforderlichen Vollstreckungsdruck“ überzeugt freilich schon deshalb nicht, weil sie vom Gesetzgeber ausweislich der §§ 170, 172 VwGO so nicht geteilt wird; vgl. Ehlers, Jura 2007, 179 (186). 63 Näher zu den hier nicht relevanten Ausnahmen Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 180 ff. 64 So OVG Rheinland-Pfalz, BeckRS 2004, 24635; wohl auch VG Mainz, Beschl. v. 21.09.2006 – 7 L 683/06.MZ. 65 Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 66, 71. 66 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 85 und allg. dazu Vorb § 40 Rn. 10. 67 VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 16; VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10; im Ergebnis ebenso BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34); ders., VGHE 46, 39 ff.; VG München, Beschl. v. 19. 12. 2005 – M 12 E 05.5229, juris, Rn. 16, jeweils zu § 41 Abs. 2 BBG a.F.; ebenso Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 12; Summer, ZBR 2007, 368; offengelassen bei OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.03.2008 – 1 M 17/08, juris, Rn. 2; Wichmann/Langer (Fußn. 9), Rn. 287 (Fußn. 140).
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2005 geltenden Fassung sah § 51 LBG zunächst vor, dass der Eintritt in den Ruhestand über das 65. Lebensjahr hinaus „mit Zustimmung“ des Beamten für eine bestimmte Frist hinausgeschoben werden konnte, wenn „dringende dienstliche Rücksichten“ der Verwaltung im Einzelfall die Fortführung der Dienstgeschäfte durch einen bestimmten Beamten erforderten. Von einem „Antrag“ des Beamten machte das Landesrecht das Hinausschieben hingegen – anders als (schon damals) andere deutsche Beamtengesetze – nicht abhängig. Eine solcherart antragsunabhängig ausgestaltete Vorschrift bot nach Ansicht des VGH Baden-Württemberg „keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Dienstherr bei der in seinem Ermessen stehenden Entscheidung über das Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand auch die Interessen des betroffenen Beamten in den Blick nehmen müsste“, weshalb diesem auch kein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zustehe68. Diese Argumentation konnte allerdings nach einer zum 13. 05. 2005 erfolgten Neufassung des Landesbeamtenrechts nicht mehr ohne weiteres fortgeführt werden. Denn seitdem bestimmt auch das baden-württembergische Landesrecht, dass der Eintritt in den Ruhestand „auf Antrag“ des Beamten hinausgeschoben werden kann, wenn dafür ein „dienstliches Interesse“ besteht. Rechtsprechung und Literatur haben in der Einführung des Antragserfordernisses dennoch keinen Anlass erblickt, die Frage des Drittschutzes im Landesrecht nun im Ergebnis anders zu entscheiden69. Verwiesen wird dazu auf die Begründung des der Gesetzesänderung zugrunde liegenden Gesetzentwurfs, in der erläutert wird, dass es „künftig […] nicht mehr Voraussetzung sein [soll], dass dringende dienstliche Rücksichten die Fortführung der Dienstgeschäfte durch den Beamten erfordern. Vielmehr soll dies […] bereits im dienstlichen Interesse möglich sein. Ein Anspruch des Beamten auf Fortsetzung des Beamtenverhältnisses wird damit nicht begründet“70. Diese Gesetzesbegründung spreche gegen die Annahme, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des Antragserfordernisses eine subjektiv-rechtliche Rechtsposition des Beamten habe schaffen wollen71. Zur Stützung dieses Ergebnisses wird auf die insbesondere in der bayerischen Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 41 Abs. 2 BBG a.F. (vgl. jetzt § 53 BBG) vertretene Auffassung verwiesen, wonach die Einführung eines „Antragsrechts“ ohnehin nicht als Indiz für einen subjektivrechtlichen Gehalt gewertet werden könne. Aus einem solchen „Mitwirkungsrecht“ könne nämlich deshalb nicht auf eine Subjektivierung der Norm geschlossen werden, weil damit „nur“ sichergestellt werden solle, dass der Eintritt in den Ruhestand nicht gegen den Willen des Beamten hinausgeschoben werde72. Andere Anhaltspunkte für eine Subjektivierung bestünden eben68
VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 17. Vgl. VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10; Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 7. 70 LT-Drs. 13/3783, S. 18 f.; Hervorh. d.d.Verf. 71 Vgl. VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10. 72 Vgl. VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10; BayVGH, NVwZRR 1994, 33 (34); VG München, Beschl. v. 19. 12. 2005 – M 12 E 05.5229, juris, Rn. 17; Müller/ Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 12. 69
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falls nicht. Die einzige weitere Tatbestandsvoraussetzung – das „dienstliche Interesse“ – ziele ausschließlich auf die Wahrung staatlicher Interessen73. Gegen die Annahme eines subjektiven Rechts auf (wenigstens) ermessensfehlerfreie Entscheidung spreche zudem, dass sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Beamtenrechts für ein System des ipso iure erfolgenden Ruhestandseintritts und gegen das frühere Modell einer individuell zu beendenden aktiven Dienstzeit entschieden habe. Der damit verfolgte Zweck, durch die festen Altersgrenzen „Unsicherheiten und mögliche Rechtsstreitigkeiten über die Dienstfähigkeit des Beamten zu vermeiden“, werde unterlaufen, wenn man den Vorschriften über das Hinausschieben des Ruhestands Individualrechte der Beamten entnehme74. Im Ergebnis überzeugen diese Bedenken jedoch nicht. Bei der Prüfung, ob die §§ 39 LBG n.F., 51 LBG 2005 einen individualschützenden Gehalt aufweisen, ist ausgehend von der Schutznormtheorie75 zunächst einmal der Wortlaut dieser Vorschriften heranzuziehen76. Hier greift es jedenfalls zu kurz, wenn die Gegenauffassung aus dem Tatbestandsmerkmal der „dienstlichen Interessen“ den Schluss zieht, dass der Beamte durch die Vorschriften allenfalls reflexartig begünstig werde. Denn selbst wenn eine ermessensbegründende Vorschrift für die Ausübung des Ermessens allein das staatliche Interesse für maßgebend erklärt, folgt daraus keineswegs zwingend, dass die Ermächtigung zur Ausübung dieses Ermessens nicht (auch) dem Individualinteresse dient und den Bewerber lediglich reflexartig begünstigt. Auch wenn nämlich Maßstab einer gesetzlich vorgesehenen Begünstigung das öffentliche Interesse ist, kann das Gesetz nach Maßgabe dieses Maßstabes zugleich das Interesse des einzelnen an der Begünstigung rechtlich schützen, sodass dieser eine rechtsfehlerfreie Entscheidung beanspruchen kann77. Der Umstand allein, dass der Wortlaut der §§ 39 LBG n.F., 51 LBG 2005 auf die „dienstlichen Interessen“ abstellt, ist deshalb für sich genommen nicht aussagekräftig. Damit gewinnt es umso größeres Gewicht, dass die einzig verbleibende Tatbestandsvoraussetzung ein den einzelnen Beamten in den Blick nehmendes Antragserfordernis darstellt. Nun kann zwar aus der Einräumung eines Verfahrensrechts in der Tat nicht ohne weiteres auf ein subjektives Recht geschlossen werden78. Für den subjektivrechtlichen Gehalt einer Vorschrift spricht es aber, wenn diese dem Normbetroffenen nicht nur das Recht auf Beteiligung an einem von anderen eingeleiteten Verfahren zuspricht, sondern darüber hinaus auch ein Recht auf Durchführung dieses Ver73
Vgl. BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34). BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34); VG München, Beschl. v. 09. 08. 2004 – M 12 E 04.3393, juris, Rn. 17. 75 Näher dazu Schenke, in: BK-GG (Fußn. 55), Rn. 442 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 71, 78 ff., 83 ff.; vgl. auch dens., JZ 1988, 317 (321). 76 Vgl. Schenke, in: BK-GG (Fußn. 55), Rn. 444; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. III, 2010, Art. 19 Abs. 4 Rn. 137; Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, 1914, S. 48 f. 77 Vgl. BVerwG, NJW 1987, 856 (857). 78 Vgl. Schenke, in: BK-GG (Fußn. 55), Rn. 446. 74
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fahrens79. So aber liegt der Fall, wenn der Gesetzgeber wie in § 39 LBG und in § 51 LBG 2005 geschehen dem Beamten ein Antragsrecht einräumt. Wenn Teile der Rechtsprechung darin dennoch keinen Hinweis auf den individualschützenden Charakter der Norm sehen wollen, überzeugt das auch deshalb nicht, weil die Rechtsprechung die Antragsabhängigkeit einer Verwaltungsentscheidung in anderem Zusammenhang durchaus als Indiz für die Einräumung eines subjektiven öffentlichen Rechtes ansieht80, sodass nicht verständlich ist, warum im vorliegenden Zusammenhang etwas anderes gelten soll. Insbesondere kann dagegen nicht die (nicht näher belegte) Behauptung angeführt werden, das Antragserfordernis solle nur dazu dienen sicherzustellen, dass der Ruhestand nicht gegen den Willen des Beamten geschehe. Denn wenn der Gesetzgeber tatsächlich nur dieses Ziel verfolgt hätte, wäre zu erwarten gewesen, dass er die Entscheidung des Dienstherrn – wie nach dem bis 2005 geltenden Landesrecht ja auch vorgesehen – von der „Zustimmung“ des Beamten abhängig gemacht hätte81. Der Einräumung gerade eines Antragserfordernisses hätte es dazu nicht bedurft82. Wenn dies doch und in Kenntnis der terminologischen Differenzierungsmöglichkeit geschehen ist, spricht dies dafür, dass die §§ 39 LBG n.F., 51 LBG 2005 jedenfalls auch dem Schutz der Interessen des Beamten zu dienen bestimmt sind83. Die Entstehungsgeschichte der fraglichen Vorschriften lässt sich dagegen nicht ins Feld führen. Kein anderes Ergebnis rechtfertigt insbesondere der Hinweis darauf, dass der Landesgesetzgeber bei der 2005 erfolgten Novellierung des LBG erläutert hat, mit der Schaffung der „erleichterten Voraussetzungen“84 für ein Hinausschieben des Ruhestands sei kein „Anspruch des Beamten auf Fortsetzung des Beamtenverhältnisses […] begründet“85 worden86. Der 2005 neugefasste § 51 LBG war – wie 79
Vgl. zu dieser Unterscheidung Schmidt-Aßmann (Fußn. 76), Rn. 151. Vgl. BVerwG, NJW 1987, 856 (857); VG Oldenburg, NVwZ 1987, 529; OVG RheinlandPfalz, Urt. v. 15.08.2003 – 10 A 10842/03, juris, Rn. 28. 81 Vgl. VG Oldenburg, NVwZ 1987, 529. 82 Die Notwendigkeit dieser Differenzierung übersieht auch der BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34), wenn er erklärt, aus der Einräumung eines „Mitwirkungsrechts“ könne nicht auf den Charakter als Schutznorm geschlossen werden. Aus demselben Grund überzeugt es nicht, wenn Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 12, dem Umstand, dass das Hinausschieben „auf Antrag“ an die Stelle und nicht zu der zuvor geltenden Regelung hinzugetreten ist, ein Gewicht bei der Beantwortung der Frage nach der subjektivrechtlichen Bedeutung der Vorschrift beimessen wollen. 83 Im Ergebnis ebenso OVG Rheinland-Pfalz, BeckRS 2004, 24635; VG Mainz, Beschl. v. 21.09.2006 – 7 L 683/06.MZ, juris, Rn. 4; VG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2008 – 5 B 18/08, juris, Rn. 4; VG Koblenz, Beschl. v. 31.07.2009 – 6 L 823/09.KO, juris, Rn. 4; VG Neustadt/ Weinstraße, Beschl. v. 27.07.2010 – 6 L 779/10.NW, juris, Rn. 5; VG Minden, Urt. v. 18.11.2010 – 4 K 1893/10, juris, Rn. 13; Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 10 f., 13; Plog/Wiedow (Fußn. 9), § 41 Rn. 4d. 84 LT-Drs. 13/3783, S. 1, 18. 85 LT-Drs. 13/3783, S. 18 f.; Hervorh. d.d.Verf. 86 Vgl. VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 10. 80
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der seit dem 01. 01. 2011 geltende § 39 LBG – nicht als Ist-Vorschrift ausgestaltet, sondern räumte der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite Ermessen ein87. Deshalb hat ein Beamter auch bei Annahme eines interessenschützenden Charakters der fraglichen Vorschriften in der Tat keinen Anspruch „auf Fortsetzung des Beamtenverhältnisses“, sondern lediglich einen solchen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Verwaltung88. Die Gesetzesbegründung enthält keinen Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber auf etwas anderes als diese Unterscheidung hinweisen wollte. Das zeigt auch der Kontext, in dem die zitierte Passage aus der Gesetzesbegründung steht. Die Verfasser des Entwurfs haben nämlich unmittelbar zuvor erläutert, dass die Voraussetzungen für ein Hinausschieben auf Tatbestandsseite mit der Gesetzesänderung im Vergleich zu der bis dahin geltenden Rechtslage erleichtert wurden89. Dann lag es nahe klarzustellen, dass eine Änderung auf der Rechtsfolgenseite (Ermessen) demgegenüber nicht beabsichtigt war. Der Gesetzesbegründung eine darüber hinausgehende – gar ablehnende – Aussage zur subjektivrechtlichen Bedeutung des § 51 LBG 2005 zu entnehmen, würde den knappen Text aus der Landtagsdrucksache 13/ 3783 hingegen überfrachten90. Auch die in der Rechtsprechung teils angestellten Erwägungen zu der Grundentscheidung der Bundes- und Landesgesetzgeber gegen ein System des „individuellen“ Ruhestandseintritts und für einen solchen „kraft Gesetzes“ schließlich erlauben es nicht, den Schutznormcharakter der §§ 39 LBG n.F., 51 LBG 2005 in Abrede zu stellen. Zwar trifft es zu, dass die Gesetzgeber diese in der Weimarer Republik getroffene Weichenstellung nicht mehr geändert haben (vgl. oben II.1.). Es überzeugt aber nicht, vor diesem Hintergrund zu behaupten, sie verfolgten mit den Regelaltersgrenzen den Zweck, „Unsicherheiten und mögliche Rechtsstreitigkeiten über die Dienstfähigkeit des Beamten zu vermeiden“, und dieser Zweck werde unterlaufen, wenn man den Vorschriften über das Hinausschieben des Ruhestands Individualrechte der Beamten entnehme91. Denn zum einen bleibt bereits die Prämisse unbewiesen, die Gesetzgeber hielten an Regelaltersgrenzen fest, weil sie Rechtsstreitigkeiten über die Dienstfähigkeit der Beamten vermeiden wollten. Für den Wechsel von dem System des „individuellen“ Ruhestandseintritts hin zu dem „Regelalterseintritt“ standen jedenfalls ursprünglich nicht solche, sondern, wie gezeigt, vornehmlich finanzielle Überlegungen im Vordergrund (vgl. oben II.1.). Und selbst wenn man annehmen wollte, der Gesetz87 Vgl. Müller/Beck (Fußn. 26), § 51 Rn. 7; Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 11; Plog/Wiedow (Fußn. 9), § 41 Rn. 4d. 88 Näher zur Unterscheidung von materiellen und formellen subjektiven öffentlichen Rechten Schenke (Fußn. 31), Rn. 497a. 89 LT-Drs. 13/3783, S. 19. 90 Vgl. dazu, dass die Frage nach dem Schutzzweck einer Norm nach der heute herrschenden objektiven Variante der Schutznormtheorie ohnehin nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig anhand des historischen Willens des Gesetzgebers zu beantworten ist, Schenke, in: BK-GG (Fußn. 55), Rn. 442 f.; Schmidt-Aßmann (Fußn. 76), Rn. 138. 91 So aber BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34); VG München, Beschl. v. 09. 08. 2004 – M 12 E 04.3393, juris, Rn. 17.
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geber verfolge mit den Regelaltersgrenzen inzwischen auch das Ziel, individuelle Prüfungen der Dienstfähigkeit zu vermeiden, würde dies nicht erlauben, den individualschützenden Charakter von antragsabhängigen Hinausschiebungsvorschriften zu verneinen. Denn bei den Vorschriften über das Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand handelt es sich gerade um Ausnahmen zu dem Grundsatz des prüfungsunabhängigen Ruhestandseintritts kraft Gesetzes92. Ist nach alledem bereits eine Vorschrift wie § 39 LBG als individualschützend anzusehen, gilt dies erst recht für die Übergangsvorschriften, die in Baden-Württemberg für das Hinausschieben des Eintritts in den Ruhestand bis zum Jahr 2028 maßgeblich sind (vgl. Art. 62 § 3 Abs. 1 DRG und oben II.1.b). Da sich der Gesetzgeber dazu entschlossen hat, die im Zuge der Dienstrechtsreform heraufgesetzte Regelaltersgrenze nur schrittweise und über einen vergleichsweise langen Übergangszeitraum von 18 Jahren anzuheben, werden zahlreiche Landesbeamte in den nächsten beiden Jahrzenten jedenfalls nicht kraft Gesetzes bis zu dem Monat Dienst leisten, in dem sie das 67. Lebensjahr vollenden. Um dennoch einen Anreiz für eine längere Lebensarbeitszeit zu schaffen, wollte der Gesetzgeber mit den Übergangsvorschriften zum Hinausschieben eine „Initiative für freiwillige Weiterarbeit“ gesetzlich verankern: „Die Voraussetzungen für das Hinausschieben des Ruhestandes bis zur Vollendung des 68. Lebensjahrs sollen dazu erleichtert und attraktiv gemacht werden“93 Dadurch sollte es ermöglicht werden, dass „Beamte unter erleichterten Voraussetzungen freiwillig länger im Dienst bleiben können“94. Auch wenn man dem für die Übergangsphase modifizierten Wortlaut von der nur bei „entgegenstehenden Gründen“ möglichen Versagung allein noch keinen Hinweis für die Frage des Schutznormcharakters des Art. 62 § 3 Abs. 1 DRG entnehmen mag95, spricht jedenfalls diese auf „Freiwilligkeit“ und „Attraktivität“ Bezug nehmende Gesetzesbegründung dafür, dass der Landesgesetz92 Nicht überzeugend deshalb VG München, Beschl. v. 09. 08. 2004 – M 12 E 04.3393, juris, Rn. 17, das aus dem Ausnahmecharakter der Vorschriften auf den fehlenden Individualschutz schließen will. Dass ein solcher Schluss verfehlt wäre, zeigt wohl auch das Unbehagen, das einige Vertreter der Gegenauffassung bei dem von ihnen gefundenen Ergebnis offenbar empfinden. Denn auch diejenigen, die selbst antragsabhängigen Vorschriften zum Hinausschieben des Ruhestands den Schutznormcharakter absprechen, wollen dem antragstellenden Beamten teils eine Hintertür offen halten, indem sie ihm – ohne dies näher zu begründen – zugestehen, dass er sich gegen „reine Willkürentscheidungen“ oder „absichtliche Benachteiligungen“ doch gerichtlich zur Wehr setzen könne; vgl. BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34); VG München, Beschl. v. 09. 08. 2004 – M 12 E 04.3393, juris, Rn. 20; dass., Beschl. v. 19. 12. 2005 – M 12 E 05.5229, juris, Rn. 18. 93 LT-Drs. 14/6694, S. 376, Hervorh. d. d. Verf. 94 LT-Drs. 14/6694, S. 607. 95 In einer solchen Gesetzesformulierung sieht der BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33 (34), ein Indiz für einen Individualschutz; im Ergebnis ebenso VG Minden, Urt. v. 18.11.2010 – 4 K 1893/10, juris, Rn. 13, zu § 51 LBG NW. Zwingend ist das freilich nicht, weil mit solchen Formulierungsänderungen zunächst einmal nur die materielle Beweislast geändert wird (vgl. zum Bundesrecht BT-Drs. 12/1455, S. 61 f.), was für sich betrachtet noch keinen Schluss auf den subjektivrechtlichen Gehalt der Norm zulassen muss (vgl. Plog/Wiedow [Fußn. 9], § 41 Rn. 4b).
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geber „seinen“ Beamten in der bis Ende 2028 dauernden Übergangsphase – nach dem oben zu § 39 LBG Gesagten: erst recht – ein subjektives Recht eingeräumt hat, das sie im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO zur Klage befugt. b) Richter im Landesdienst Für die Richter im Landesdienst ist die soeben erörterte Frage einfacher zu beantworten. Nach § 6 Abs. 2 LRiG „wird“, wie gezeigt, der Eintritt in den Ruhestand wegen Erreichens der Altersgrenze auf Antrag hinausgeschoben. Da diese Vorschrift im Vergleich zum Beamtenrecht gerade zum Schutz der (persönlichen) Unabhängigkeit der Richter sowohl auf Tatbestands- wie auf Rechtsfolgenseite besonders ausgestaltet wurde, könnte nicht überzeugend in Abrede gestellt werden, dass diese Vorschrift zumindest auch den Interessen des einzelnen antragstellenden Richters zu dienen bestimmt ist96, zumal die bei Beamten vorgebrachten Gegeneinwände aus dem Gesetzeswortlaut („dienstliche Interessen“) und der Gesetzesbegründung zu § 51 LBG a.F. hier von vornherein nicht verfangen. 4. Vorverfahren, Klagefrist Vor der Erhebung einer Verpflichtungsklage hat der Beamte oder Richter ein Vorverfahren durchzuführen. Dies gilt entgegen der Grundregel des § 68 Abs. 2 Nr. 1 Hs. 1 VwGO auch dann, wenn die Entscheidung über das Hinausschieben – wie dies in Baden-Württemberg bei Richtern immer und bei Beamten teilweise der Fall ist (vgl. §§ 45 Abs. 1 Satz 1 LBG, 1 f. ErnG) – von einer obersten Landesbehörde getroffen wurde (vgl. §§ 54 Abs. 2 Satz 2 BeamtStG, 71 DRiG). Mit der Zustellung eines ggf. zurückweisenden Widerspruchsbescheids beginnt dann die Klagefrist des § 74 Abs. 1 VwGO. IV. Rechtsschutz im Eilverfahren Mit derselben Sorgfalt, mit der ein Beamter oder Richter den Lauf von Widerspruchs- und Klagefristen beobachtet, sollte er freilich den Ablauf seiner Regeldienstzeit im Blick behalten. Denn hat er die Regelaltersgrenze erst einmal erreicht, tritt er, wie gezeigt, ipso iure in den Ruhestand (vgl. oben II.1.). Diesen kraft (Bundes-)Gesetzes (vgl. §§ 25 BeamtStG, 76 Abs. 1 DRiG) bewirkten Wechsel vom Status des aktiven Beamten oder Richters hin zu demjenigen des Ruhestandsbeamten oder -richters zu revidieren
96 Daran ändert es nichts, dass die mit der richterlichen Unabhängigkeit verbundenen Privilegien „kein Grundrecht und kein Standesprivileg“ sind, sondern der Erfüllung des Justizgewährleistungsanspruchs im gewaltenteilenden Staat dienen (vgl. dazu Schmidt-Räntsch, Fußn. 9, § 26 Rn. 22 m.w.N.).
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ist der Dienstherr rechtlich nicht mehr in der Lage97. Deshalb böte nicht nur eine auf das Hinausschieben gerichtete Verpflichtungsklage keine Aussicht auf Erfolg mehr98, sondern auch eine auf eine „Neueinstellung“ zielende Klage würde (zudem aus haushaltsrechtlichen Gründen, vgl. § 48 LHO BW) scheitern99. Weil das Dienstrecht dem Dienstherrn keine Rechtsgrundlage an die Hand gibt, vermittels derer er einen einmal erfolgten Statuswechsel rückgängig machen könnte, verspräche es auch keinen Erfolg, eine auf eine behauptete Fürsorgepflichtverletzung gestützte Schadensersatzklage gegen den Dienstherrn zu richten. Auf diesem Wege könnte sich der Bedienstete nach seinem Eintritt in den Ruhestand allenfalls einen finanziellen Ausgleich zwischen Besoldung und Versorgung erhoffen100, nicht aber eine als Naturalrestitution zu gewährende Fortführung seines aktiven Dienstverhältnisses, dies selbst dann nicht, wenn die Planstelle, in die der in den Ruhestand getretene Beamte oder Richter eingewiesen war, noch verfügbar wäre101. Erst recht nicht dazu geeignet, die Fortführung des Dienstverhältnisses zu erreichen, ist schließlich die nach dem Ruhestandseintritt denkbare, analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage, mit der die Feststellung begehrt würde, dass die Ablehnung des Hinausschiebens rechtswidrig gewesen sei102. Da der gegen einen Versagungsbescheid zu erhebende Widerspruch selbstverständlich auch keine „aufschiebende Wirkung“ ge-
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Vgl. Battis (Fußn. 5), § 53 Rn. 2; Schütz (Fußn. 9), § 44 Rn. 4; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 14; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.03.2008 – 1 M 17/08, juris, Rn. 6; VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 27.07.2010 – 6 L 779/ 10.NW, juris, Rn. 3; VG des Saarlandes, Beschl. v. 10.08.2010 – 2 L 547/10, juris, Rn. 10; VG Neustadt/Weinstraße, Urt. v. 16.11.2010 – 6 K 753/10.NW, juris, Rn. 28. 98 Das VG München, Beschl. v. 03. 01. 2011 – M 5 E 10.5852, juris, Rn. 10, will für diesen Fall das Rechtsschutzbedürfnis ausschließen. Tatsächlich dürfte es bereits an der analog § 42 Abs. 2 VwGO zu fordernden Antragsbefugnis (vgl. Kopp/Schenke, Fußn. 30, § 123 Rn. 20) fehlen, denn wenn der Antragsteller in den Ruhestand getreten ist, kommt es aus tatsächlichen Gründen „nach keiner Betrachtungsweise“ mehr in Betracht, dass ihm ein Anspruch auf Hinausschiebung zusteht. 99 Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 14 f. 100 Vgl. VG des Saarlandes, Urt. v. 14.09.2010 – 2 K 605/09, juris, Rn. 22 ff.; dafür auch Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 13; allg. zum Schadensersatz wegen dienstherrlicher Pflichtverletzungen Schenke, FS Mühl, 1981, 571 (574). 101 Vgl. dazu, dass die Übertragung eines Amtes das Vorhandensein einer Planstelle voraussetzt und in Ermangelung einer solchen schon aus diesem Grund keine Naturalrestitution möglich ist, Schenke (Fußn. 100), S. 574, 576; ferner dazu, dass auch Art. 33 Abs. 2 GG kein Recht auf Schaffung einer Planstelle begründet, dens., FS Schnapp, 2008, 655 (668). 102 Zumindest eine (wohl) allgemeine Feststellungsklage wurde erwogen vom VGH BadenWürttemberg, Urt. v. 08.11.1994 – 4 S 2641/94, juris, Rn. 16; vgl. auch den bei VG Neustadt/ Weinstraße, Urt. v. 16.11.2010 – 6 K 753/10.NW, juris, Rn. 19, gestellten Antrag. Statthaft wäre allerdings nicht die allgemeine, sondern allein die Fortsetzungsfeststellungsklage, die wegen ihrer engen systematischen Verwandtschaft zur Verpflichtungsklage die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO verdrängt, vgl. Schenke (Fußn. 31), Rn. 417 f.; Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 43 Rn. 5 u. § 113 Rn. 109.
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genüber der kraft Gesetzes eintretenden Statusänderung entfaltet103, ist der Beamte oder Richter, dem die Zeit im zuvor erörterten Sinne abläuft, nach alledem gut beraten, einen Antrag auf Erlass einer einstweiliegen Anordnung nach § 123 VwGO zu stellen104. V. Schlussbetrachtung Die vorstehenden Überlegungen erlauben das Resümee, dass ein Beamter oder Richter durchaus effektiven „Rechtsschutz gegen den Ruhestand“ erlangen kann. Die Erfolgsaussichten einer zulässigen Klage oder eines zulässigen Eilrechtsantrags sollen hier zwar keineswegs überwertet werden, haben doch die Verwaltungsgerichte bei der Prüfung des „dienstlichen Interesses“ in der Vergangenheit vielfach auf das dem Dienstherrn zustehende Organisationsermessen und die damit verbundenden Einschränkungen einer gerichtlichen Überprüfung hingewiesen105. Auch in den Fallgestaltungen, in denen ein „dienstliches Interesse“ positiv festgestellt werden muss, hat die Anerkennung von Rechtsschutzmöglichkeiten aber unabhängig vom Ausgang konkreter Streitverfahren eine begrüßenswerte, weil disziplinierende Wirkung, denn die Verwaltung wird auf diese Weise zur Begründung ihrer Entscheidungen gezwungen. Den Beamten und Richtern kommt damit die Rolle einer „Instanz der Kontrolle der Personalgewalt“ zu, eine Entwicklung, die der Jubilar auch auf anderen Gebieten des Beamtenrechts schon früh gefordert hat106. Die damit verbundene Erkenntnis, dass der Rechtsanwender auch auf dem hier betrachteten Rechtsgebiet im Ergebnis nur auf Wegen wandeln sollte, die der Jubilar schon längst gewiesen hat, bekräftigt die Hoffnung, dass er in seinem wissenschaftlichen Wirken auch weiterhin keine Ruhe einkehren lassen wird.
103 Näher dazu, dass die aufschiebende Wirkung gegenüber Verwaltungsakten, mit denen Anträge abgelehnt werden, grundsätzlich nicht in Betracht kommt bzw. ohne rechtliche Bedeutung ist, Kopp/Schenke (Fußn. 30), § 80 Rn. 40. 104 Vgl. BayVGH, NVwZ-RR 1994, 33; OVG Rheinland-Pfalz, BeckRS 2004, 24635; VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 27.07.2010 – 6 L 779/10.NW, juris, Rn. 1; VG des Saarlandes, Beschl. v. 10.08.2010 – 2 L 547/10, juris, Rn. 5; VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/ 10, juris, Rn. 8; VG Minden, Beschl. v. 22.11.2010 – 4 L 589/10, juris, Rn. 2; Summer (Fußn. 10), § 41 Rn. 13. Bei Richtern wäre auch insoweit das Richterdienstgericht anzurufen, vgl. dazu oben (III.1.) und Fürst (Fußn. 9), § 78 Rn. 1. 105 Vgl. VG Mainz, Beschl. v. 21.09.2006 – 7 L 683/06.MZ, juris, Rn. 4; VG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2008 – 5 B 18/08, juris, Rn. 10; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 14.03.2008 – 1 M 17/08, juris, Rn. 10; VG Koblenz, Beschl. v. 31.07.2009 – 6 L 823/09.KO, juris, Rn. 5; VG Neustadt/Weinstraße, Beschl. v. 27.07.2010 – 6 L 779/10.NW, juris, Rn. 7 f.; VG Freiburg, Beschl. v. 29.09.2010 – 1 K 1676/10, juris, Rn. 14. 106 Vgl. Schenke (Fußn. 100), S. 594, zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage.
Verwaltungsrechtsschutz des Baunachbarn unmittelbar aus Art. 14 GG versus „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“ Von Martin Ibler I. Ein konkreter Ausgangspunkt Das OVG Münster entschied kürzlich über die Klage eines Nachbarn gegen eine Verfügung, mit der die zuständige Behörde einem Landwirt bekannt gegeben hatte, sie werde die formell und materiell baurechtswidrige Nutzungsänderung seines Hofs in einen Gartenbaubetrieb dauerhaft dulden. Der Nachbar, über dessen Grundstück der einzige Weg zu diesem Betrieb führte, befürchtete, der Verkehr auf seinem Privatweg werde überhandnehmen. Die Behörde bestritt die Klagebefugnis des Nachbarn, weil die Duldung kein nachbarschützendes öffentliches Recht verletze. Ob ihr Verwaltungsakt möglichweise objektiv rechtswidrig sei, habe das Gericht bei einer Nachbarklage nicht zu beurteilen. VG1 und OVG2 aber gaben der Klage statt: Der Nachbar sei unmittelbar aus Art. 14 Abs. 1 GG klagebefugt, denn die ausdrückliche und dauerhafte („aktive“3) Duldung des Gartenbaus habe zur Folge, dass das Grundstück des Nachbarn künftig mit LKW überquert werde. Das durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentum des Nachbarn sei auch verletzt, weil dem Landwirt kein entsprechendes Notwegerecht zustehe. Der Fall gibt Anlass, erneut über einen alten Streit nachzudenken: Lassen sich die Klagebefugnis des benachbarten Grundeigentümers und der Erfolg seiner Drittklage gegen die von der Behörde dem Bauherrn (der Nutzungsänderung) gewährte Begünstigung unmittelbar aus Art. 14 GG herleiten,4 oder ist beides anhand des einfachen Rechts zu ermitteln, das ggf. verfassungskonform ausgelegt werden muss?5
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VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe. OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris = BauR 2010, 1213. 3 Vgl. OVG Münster, B. v. 24.1.2006 – 10 B 2159/05 – juris Rn. 12: „… dass die Baubehörde in Kenntnis der formellen und ggf. materiellen Illegalität eines Vorhabens zu erkennen gibt, dass sie sich auf Dauer mit dessen Existenz abzufinden gedenkt (sog. aktive Duldung)“. 4 Dezidiert dafür z. B. Schenke, Baurechtlicher Nachbarschutz, NuR 1983, 81 (86 ff.); ders., Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 517; vgl. auch Dürr, Hat Art. 14 GG für das öffentliche Baurecht noch Bedeutung?, VBlBW 2000, 457 (460 f.); vgl. in diesem Sinne auch BVerwG, U. v. 21.4.2009 – 4 C 3.08 – BVerwGE 133, 347 (354). 5 Dafür z. B. Bönker, Baurechtlicher Nachbarschutz aus Art. 14 Abs. 1. S. 1 GG?, DVBl. 1994, 506 (508 ff.); Kraft, Entwicklungslinien im baurechtlichen Nachbarschutz, 2
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II. Zum Verhältnis von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG zu Art. 1 Abs. 3 GG Dass überhaupt über diese Frage gestritten wird, scheint erstaunlich, bindet doch Art. 1 Abs. 3 GG jede Staatsgewalt an die Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“, also auch die Baurechtsbehörde und das Verwaltungsgericht unmittelbar an Art. 14 Abs. 1 GG. Dazu garantiert Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG den verwaltungsgerichtlichen Schutz gegen jede mögliche Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts, auch gegen die Verletzung von Grundrechten. Der erwähnte Streit überrascht aus verschiedenen Gründen dann doch weniger: Die in Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete unmittelbare Grundrechtsbindung wird durch andere Verfassungsnormen ergänzt, begrenzt oder sonst modifiziert. Ergänzt wird sie etwa, indem Art. 20 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung zusätzlich „an Gesetz und Recht“ bindet,6 begrenzt durch in Grundrechten ausdrücklich genannte Schranken und sonst modifiziert, z. B., indem Art. 100 Abs. 1 GG dem Richter verbietet, entscheidungserhebliche, aber verfassungswidrige Gesetze ohne Vorlage an das BVerfG zu verwerfen.7 Eine besondere Spannung – der auch der Jubilar schon mehrfach nachgespürt hat –8 herrscht zwischen Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, nach dem Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt werden.9 Gemeint sind hier Gesetze im materiellen Sinn, neben Gesetzen des Parlaments auch Rechtsverordnungen und Satzungen der Exekutive.10 Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG begründet keinen Parlamentsvorbehalt zur Bestimmung des Eigentumsinhalts – dies übergehen viele Stellungnahmen zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, die die Gestaltungsmacht des demokratisch legitimierten Parlaments bei dieser Inhaltsbestimmung hervorheben.11 Der im Baurecht häufigste Fall exekutiver Eigentumsinhalts- und Schrankenbestimmung durch Satzung ist der Bebauungsplan. Als Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmende Rechtsverordnung ist im Baurecht vor allem die Baunutzungsverordnung zu nennen. Grundlegende parlamentsgesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums enthalten (u. a.) die Bauordnungen der Länder und das VerwArch 89 (1998), 264 (278 ff.); vgl. zum Streit auch Schwerdtfeger, Grundrechtlicher Drittschutz im Baurecht, NVwZ 1982, 5 ff. 6 Dazu Bethge, Der Anwendungsvorrang des einfachen Rechts, GS Tettinger, 2007, 369 (371, 394). 7 Dazu Bethge (Fußn. 6), GS Tettinger, 2007, 369 (375). 8 Schenke (Fußn. 4), NuR 1983, 81 (87 und passim); ders., Besteuerung und Eigentumsgarantie, FS Armbruster, 1976, 177 f., 183, 191 (zu Art. 1 Abs. 3 und 14 Abs. 1 GG). 9 Vgl. dazu z. B. Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, 401 (404): Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG als „Herausforderung des Verfassungstextes an die Interpreten“. 10 Vgl. z. B. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 14 Rn. 37 m. w. N.; Seidel, Art. 14 Abs. 1 GG als Maßstab legislativer Ausgestaltungsbefugnis und bestandsschutzorientierter Rechtsanwendung, ZG 2002, 131 (133). 11 Z. B. bei Wahl (Fußn. 9), NVwZ 1984, 401 (406, 407); H. Dreier, Grundrechtseingriff contra Gesetzesbindung, Die Verwaltung 36 (2003), 105 (121); Kraft, Entwicklungslinien im baurechtlichen Nachbarschutz, VerwArch 89 (1998), 264 (279).
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Baugesetzbuch des Bundes. Also kann prinzipiell jede einfachrechtliche Norm bestimmen, was als Eigentum grundrechtsgeschützt sein soll und wo Schranken liegen.12 Die in Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete Bindung des Gesetzgebers und der Exekutive ist jedoch relativiert, wenn Inhalt und Schranken eines Grundrechts, auf das die Anordnung zielt, von den Gebundenen selbst (mit)bestimmt werden. Immerhin reduziert Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG die Bedeutung des Art. 1 Abs. 3 GG für das Eigentumsgrundrecht nicht auf Null.13 Dies widerspräche nicht nur dem Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG, der sich ohne Einschränkung auf „die nachfolgenden Grundrechte“ bezieht, sondern auch seinem Zweck, den Grundrechten einen Vorrang vor einfachem Recht einzuräumen.14 Das Grundgesetz stärkt dieses Ziel planvoll, z. B.15 ermöglicht es die Grundrechtsverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und die Richtervorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG) und erschwert die Änderung der Verfassung (Art. 79 GG). Auch die Entstehung des Art. 1 Abs. 3 GG stützt diesen Befund: Gewollt war eine Abkehr von der Weimarer Verfassung, deren Grundrechte oft nur als Programmsätze verstanden wurden.16 Immerhin versuchte damals die Grundrechtsdogmatik gleichwohl, mithilfe der Lehre von den Einrichtungsgarantien, auch den Gesetzgeber an das Eigentumsgrundrecht des Art. 153 Abs. 1 WRV zu binden.17 Art. 1 Abs. 3 GG erteilt nunmehr einem Verständnis der Grundrechte als bloße Programmsätze eine noch deutlichere Absage.18 Wenn vor diesem Hintergrund Parlament und Exekutive Inhalt und Schranken des Eigentums i. S. von Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG bestimmen, kann es sich im Ergebnis nur um eine Mitbestimmung beim Eigentumsschutz handeln. Diese muss nicht nur sonstige Vorgaben der Verfassung achten (z. B. Zuständigkeits- und Verfahrensregeln, Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz), sondern auch in Art. 14 GG selbst enthaltene.19 Dazu zählen neben der Pflicht zum Bewahren der Einrichtung Eigentum (Institutsgarantie) und der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) vor allem der Erhalt der Privatnützigkeit, der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis und des Innehabens konkret 12 Isensee, in: Isensee/Kirchhof, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2000, § 111 Rn. 51; einschränkend Schwerdtfeger (Fußn. 5), NVwZ 1982, 5 (8). 13 Vgl. Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2002, § 18 Rn. 35; Ibler, in: Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 (2002), Rn. 123; Seidel (Fußn. 10), ZG 2002, 131 (133). 14 Vgl. z. B. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 3 Rn. 1 (2005). 15 Weitere Beispiele bei Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 1 Rn. 152 f. 16 Vgl. z. B. auch Jarass (Fußn. 10), Art. 1 Rn. 31. 17 Zu diesen Ansätzen vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 11. August 1919, Kommentar, 14. Aufl. 1933, Nachdruck 1965, Art. 153 Anm. 5 m. w. N. Zur heutigen Bedeutung der Einrichtungsgarantien neben Art. 1 Abs. 3 GG vgl. auch Ibler (Fußn. 13), Art. 19 IV (2002), Rn. 34 ff. 18 Vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 6 Rn. 21. 19 Näher z. B. Ibler, Die Eigentumsdogmatik und die Inhalts- und Schrankenbestimmungen i. S. v. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG im Mietrecht, AcP 197 (1997), 565 (567 ff.).
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vorhandener Gegenstände in der Hand ihres Eigentümers.20 Ein Objekt, das jemand aufgrund einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (z. B. im Einklang mit einem Bebauungsplan oder mit § 34 oder mit § 35 BauGB) erworben oder errichtet hat, innehat und/oder nutzt, wird kraft Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG als Eigentum geschützt. Ein vollständiger oder teilweiser Entzug dieser Rechtsposition ist an Art. 14 Abs. 3 GG zu messen,21 ihre Belastung an Art. 14 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 GG sowie an den genannten sonstigen Vorgaben der Verfassung. Das Eigentumsgrundrecht hat folglich auch einen originär verfassungsrechtlichen Gehalt, der nicht erst durch einfaches Recht bestimmt werden muss. An ihn sind Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung i. S. von Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar gebunden. Festgehalten werden kann bis hierhin zweierlei. Einerseits bestimmt nicht das einfache Recht allein den von Art. 14 Abs. 1 GG garantierten Eigentumsschutz. Andererseits erlangt das einfache Recht für den Eigentumsschutz von Verfassung wegen, genauer: kraft Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, ein Gewicht, wie es bei anderen Grundrechten nicht ähnlich klar zum Ausdruck kommt (sieht man von dem auch in Art. 14 Abs. 1 GG geschützten, uns hier nicht interessierenden Erbrecht ab). III. Art. 14 GG als Abwehrrecht oder als Schutzpflicht im Baunachbarrecht? Für das in unserem Beispiel einschlägige Baunachbarrecht treten Aspekte hinzu, die das hier bestehende Verhältnis von Grundrecht und einfachem Recht weiter aufhellen könnten. In der Literatur wird für Nachbarklagen oft gesagt, bei ihnen sei das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn nicht als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe einschlägig, es gehe vielmehr um eine aus dem objektiven Wertgehalt des Art. 14 Abs. 1 GG folgende staatliche Schutzpflicht. Sie verpflichte den Staat, den benachbarten Eigentümer vor Übergriffen privater Dritter zu schützen;22 dazu werde sie vom Gesetzgeber ausgestaltet. Häufig heißt es sogar, ohne diese Ausformung durch Gesetz, d. h. ohne einfachrechtliche Schutznorm, gebe es keinen Nachbarschutz.23 Art. 14 GG gebiete den Nachbarschutz, sei aber nicht selbst die Grundlage von Abwehrrechten des Nachbarn.24 Gegen diese spezielle Sicht der Schutzpflichtthese 20 Z. B. BVerfG, B. v. 16.2.2000 – 1 BvR 242/91, 315/99 – BVerfGE 102, 1 (15) m. w. N.; Schwerdtfeger (Fußn. 5), NVwZ 1982, 5 (8). 21 Vgl. z. B. BVerfG, B. v. 12. 6. 1979 – 1 BvL 19/76 – BVerfGE 52, 1 (27 f.). 22 Vgl. z. B. Calliess, Die grundrechtliche Schutzpflicht im mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis, JZ 2006, 321 (321). 23 Z. B. Wahl, Abschied von den Ansprüchen aus Art. 14 GG, FS Redeker, 1993, 245 (267); Depenheuer, in v.Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 14 Rn. 123. 24 Wahl (Fußn. 23), FS Redeker, 1993, 245 (267); auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Schutzpflichtdimension der Grundrechte vertreten z. B. von Seidel (Fußn. 10), ZG 2002, 131 (134 m. w. N.).
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spricht indes wiederum Art. 1 Abs. 3 GG: Sofern es in Baunachbarfällen überhaupt um eine Schutzpflichtdimension des Eigentumsgrundrechts geht, umfasst die von Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete unmittelbare Bindung aller Staatsgewalt auch den Schutzpflichtgehalt des Grundrechts.25 Art. 14 Abs. 1 GG ist also so oder so nicht nur Programmsatz, kein bloßer Auftrag an den Gesetzgeber. Die grundsätzlichere Frage, ob in Baunachbarfällen Art. 14 Abs. 1 GG als Abwehrrecht des Nachbarn einschlägig ist oder als von Gesetzgebung, ausführender Gewalt und Rechtsprechung zu erfüllende Schutzpflicht, ist komplizierter. Die Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, obwohl viel und eingehend diskutiert, ist noch längst nicht so erschlossen wie der Charakter jedes Grundrechts als Abwehrrecht gegen den Staat.26 Wer die Schutzpflicht als Grundrechtsgehalt prinzipiell anerkennt, erstreckt sie zumeist auch auf Art. 14 Abs. 1 GG.27 In unserem Beispiel spricht indes manches dafür, dass nicht eine Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Nachbarn im Mittelpunkt steht, sondern das Bestreben des Nachbarn, einen staatlichen Eingriff abzuwehren. Der Nachbar wendet sich mit der Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, von dem er sich belastet fühlt und dessen Bestandskraft er verhindern will. Entsprechend gingen VG28 und OVG29 sowie für vergleichbare Fälle das BVerwG30 davon aus, dass ein Eingriff in das Eigentum des Nachbarn abzuwehren sei. Andererseits ist nicht einmal zweifelsfrei, ob die Belastung des Nachbarn wirklich vom Staat ausgeht, der die baurechtswidrige Gartenbaunutzung duldet. Duldung ist weder Genehmigung noch sonst Freigabe; sie ist nicht einmal per se rechtswidrig; immerhin stellt die Bauordnung ein Einschreiten der Baurechtsbehörde in deren Ermessen (vgl. z. B. § 65 S. 2 LBO BW, § 61 Abs. 1 S. 2 BauO NRW). Baurechtswidrig genutzt wird hier das Grundstück des (ehemaligen) Landwirts, er und seine Lieferanten und Kunden fahren dazu auch über das Nachbargrundstück. Verlangt der Nachbar also in Wahrheit staatlichen Schutz vor den Übergriffen dieser Privaten? Diese angedeuteten Unsicherheiten veranlassen mich, einem klugen Ratschlag zu folgen. Weil die Schutzpflichtdogmatik Lücken im Grundrechtsschutz schließen soll, gilt als dogmatische Faustregel: im Zweifel an der Abwehrfunktion des Grundrechts ansetzen.31 Deren Maßstäbe sind im Ausgangspunkt klar: Schutzbereich, Eingriff, Eingriffsrechtfertigung.
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Vgl. z. B. Isensee (Fußn. 12), § 111 Rn. 90. s. z. B. Isensee (Fußn. 12), § 111 Rn. 12, 86 f. 27 Vgl. z. B. Calliess (Fußn. 22), JZ 2006, 321 (322); Isensee (Fußn. 12), § 111 Rn. 86; Steinberg, Grundfragen des öffentlichen Nachbarrechts, NJW 1984, 457 (458 f.). 28 VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe, Rn. 27. 29 OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris, Rn. 13. 30 BVerwG, B. v. 11.5.1998 – 4 B 45/98 – NJW-RR 1999, 165 (165 f.). 31 Vgl. Isensee (Fußn. 12), § 111 Rn. 117. 26
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IV. Zur Bedeutung eines Verwaltungsakts, der die baurechtswidrige Nutzung eines Grundstücks ausdrücklich duldet, für das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn Im Detail birgt Art. 14 Abs. 1 GG aber auch dann dogmatische Schwierigkeiten, wenn ein Baunachbar ihn als Abwehrrecht gegen den Staat geltend macht. In unserem Beispiel wird das Grundstück des Nachbarn benutzt, damit ist dessen Eigentumsgrundrecht immerhin thematisch einschlägig. Ein klassischer Grundrechtseingriff ist die bekämpfte Duldungsverfügung aber nicht. Sie begünstigt ihren Adressaten, den Bauherrn (der Nutzungsänderung); den Nachbar belastet, was nach ihr geschieht: Der Begünstigte kann nunmehr ohne Furcht vor einer Nutzungsuntersagung, insoweit risikofrei, Gartenbau betreiben; er, seine Kunden und Lieferanten befahren dazu das Nachbargrundstück. Ist diese Wirkung der Duldungsverfügung ein staatlicher Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn? Immerhin: Ohne die ausdrückliche Duldung durch die Behörde hätte ein vernünftiger, wirtschaftlich handelnder Landwirt die Gartenbaunutzung nicht fortgeführt. Mangels eigener Zufahrt des Betriebsgrundstücks war für jeden absehbar, dass künftig auch Kunden und Lieferanten des Gartenbaubetriebs über das Grundstück des Nachbarn fahren. Diese Folge als Eingriff dem Staat zuzurechnen, könnte noch zu verneinen sein, falls der Nachbar den privaten Nutzern die Benutzung seines Grundstücks verwehren könnte. Auf ein eigenmächtiges Sperren seines Privatwegs ist der Nachbar nicht zu verweisen; das wäre auch nicht zielführend, weil in einem Fall wie diesem droht, dass der Bauherr sich auf ein Notwegerecht beruft. Aber auch eine zivilrechtliche Unterlassungsklage des Nachbarn gegen den Bauherrn (§§ 985, 1004 BGB) bliebe erfolglos, falls dieser sich auf ein Notwegerecht stützen kann (§ 917 Abs. 1 S. 1 BGB: „Fehlt einem Grundstück die zur ordnungsmäßigen Benutzung notwendige Verbindung mit einem öffentlichen Wege, so kann der Eigentümer von den Nachbarn verlangen, dass sie bis zur Hebung des Mangels die Benutzung ihrer Grundstücke zur Herstellung der erforderlichen Verbindung dulden.“). Gegen eine „ordnungsmäßige Benutzung“ des Vorhabengrundstücks spricht hier, dass der Gartenbaubetrieb formell und nach Feststellung der Gerichte auch materiell illegal war. Für eine „ordnungsmäßige Benutzung“ könnte allerdings sprechen, dass die Baurechtsbehörde diese Nutzung duldet und nach dem Wortlaut der Ermächtigung in der Bauordnung (z. B. § 65 S. 2 LBO BW, § 61 Abs. 1 S. 2 BauO NRW) auch dulden darf. Tatsächlich stimmen Verwaltungs- und Zivilrechtsprechung darin überein, dass auch eine baurechtswidrige Grundstücksbenutzung „ordnungsmäßig“ i. S. des § 917 Abs. 1 S. 1 BGB mit der Folge eines Notwegerechts über Nachbargrundstücke ist, wenn sie von der Baurechtsbehörde genehmigt oder ausdrücklich geduldet ist.32 So bewirkt die behördliche Duldungsverfügung zugunsten des Bauherrn hier am Schluss eine Duldungspflicht des Nachbarn, die diesen 32
Z. B. BGH, U. v. 7. 7. 2006 – V ZR 159/05 – NJW 2006, 3426 (3427) – Baugenehmigung; BVerwG, U. v. 26. 3. 1976 – IV C 7. 74 – BVerwGE 50, 282 (290 f.) – Baugenehmigung; VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe, Rn. 33 – aktive Duldung; OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris Rn. 17 ff. = BauR 2010, 1213 (1214 f.) – aktive Duldung.
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partiell von der Nutzung seines Grundstücks ausschließt und die er nur durch eine Anfechtungsklage abwehren kann. Es handelt sich um einen staatlichen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn.33 Dieser Eingriff ist verfassungswidrig, sofern keine Schranke des Art. 14 GG ihn deckt. Aber weder das Eigentumsgrundrecht des Bauherrn noch dessen Berufsfreiheitsgrundrecht schützen eine baurechtswidrige Nutzung. Auch kein einfaches Recht – hier käme allenfalls die Norm der Bauordnung in Betracht, die das Einschreiten gegen eine baurechtswidrige Nutzung in das Ermessen der Behörde stellt – schützt hier den Bauherrn. Folglich verletzt die angefochtene Duldungsverfügung den Nachbarn in seinem Eigentumsgrundrecht; sie ist aufzuheben. V. Der sog. Anwendungsvorrang des einfachen Rechts VG und OVG haben den Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG mit vertretbarem Arbeitsaufwand bejaht, ohne dass sie den angedeuteten dogmatischen Streitfragen nachspüren mussten. Aber gelänge ihnen dies ähnlich leicht in anderen Baunachbarfällen? Wie lautet die unmittelbar auf Art. 14 Abs. 1 GG gestützte Lösung, wenn kein Notwegerecht in Rede steht, dessen Folgen für den Nachbarschutz in der Zivil- und in der Verwaltungsrechtsprechung übereinstimmend (vgl. oben IV.) als geklärt gelten? Wie wäre es, wenn das Grundstück des Nachbarn nicht körperlich durch Fahrzeugverkehr, sondern unkörperlich durch Immissionen beeinträchtigt wird? Wie wäre es, wenn die Behörde nicht ausdrücklich durch Verwaltungsakt die („aktive“) Duldung erklärt, sondern die baurechtswidrige Nutzung des Vorhabengrundstücks („passiv“) duldet, indem sie nicht dagegen vorgeht? Genügt dann noch die Abwehrrechtsdogmatik, vielleicht mit Hilfe der Figur eines Eingriffs durch Unterlassen?34 Lassen sich solche Fragen etwa nur richtig beantworten, wenn man statt der Abwehrrechtsdie Schutzpflichtdogmatik bemüht? Gibt es dazu verlässliche Prüfungsmaßstäbe oder verliert sich der Rechtsschutz in einem case-law, dessen Ergebnisse nicht mehr voraussehbar sind? Auch wenn diese Fragen hier nicht alle beantwortet werden können, nähren sie doch Zweifel, ob der unvermittelte Rückgriff auf Grundrechte zulässig und geboten ist. Ein wichtiger Gegenvorschlag ist der sog. Anwendungsvorrang des einfachen Rechts. Begriff, Inhalt, Reichweite und Rechtfertigung dieser Figur sind aber noch umstritten und unscharf, auch im Baunachbarrecht. Die strengste Sicht schließt für den Schutz des Baunachbarn jeden unmittelbaren Rückgriff auf dessen Eigentumsgrundrecht aus; dieses sei nur ein Auslegungsmaßstab. Führe die Auslegung des einfachen Gesetzes gleichwohl nicht zum Nachbarschutz, bleibe der Nachbar schutz33 Vgl. BVerwG, U. v. 26. 3. 1976 – IV C 7. 74 – BVerwGE 50, 282 (292); VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe, Rn. 33; OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris Rn. 23 = BauR 2010, 1213 (1214). Vgl. ferner BayVGH, U. v. 7.12.2010 – 14 B 09.2292 – juris Rn. 17. 34 Vgl. dazu z. B. Isensee (Fußn. 12), § 111 Rn. 118 f.
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los.35 Die Argumente für diese These vom „Nachbarschutz nur nach Maßgabe einfachen Rechts“ sind aber zu abstrakt und zu unscharf: Der Anwendungsvorrang folge aus dem Bedürfnis nach Selbständigkeit des einfachen Rechts gegenüber Verfassungsrecht,36 er gründe im rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und sei deshalb selbst ein Verfassungsgebot.37 Aber daraus ergibt sich nicht, dass die Selbständigkeit des einfachen Rechts und der Vorrang des Gesetzes die in Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete unmittelbare Grundrechtsbindung auch der ausführenden Gewalt und der Rechtsprechung verdrängen können.38 Die strenge Sicht des Anwendungsvorrangs des einfachen Rechts ist – trotz Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG (vgl. o. II.) – mit Art. 1 Abs. 3 GG unvereinbar. Sie kann den Vorrang der Verfassung vor einfachem Recht, der außer aus Art. 1 Abs. 3 GG auch aus Art. 20 Abs. 3 GG39 und Art. 79 GG folgt, nicht in sein Gegenteil verkehren. Nach einer weniger strengen Sicht bedeutet „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“, dass Verwalter und Richter für ihre Entscheidung zuerst die förmlichen einfachen Gesetze und die Rechtsverordnungen und Satzungen heranziehen müssen, statt sogleich und nur im Grundgesetz nach einer Lösung zu suchen.40 Nur wenn die einfachrechtliche Regelung Lücken aufweist, sei direkt auf das einschlägige Grundrecht zuzugreifen.41 Anders als die nicht haltbare These vom „Nachbarschutz nur nach Maßgabe einfachen Rechts“ höhlt diese weniger strenge Sicht die unmittelbare Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG nicht aus. Die von ihr ins Feld geführten Gründe sind zudem konkreter und schärfer: Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt, dass Verwaltung und Rechtsprechung – auch – kein einfaches Recht verletzen dürfen. Dies wird in Baunachbarklagen vornehmlich wichtig, wenn das (verfassungskonform auszulegende) einfache Recht den Baunachbarn besser schützt, als dies durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG von Verfassung wegen gefordert ist. So soll das (dem BVerwG zufolge in den §§ 31, 34, 35 BauGB und § 15 BauNVO enthaltene)42 baurechtliche Rücksichtnahmegebot den Nachbarn einfachrechtlich auch schon im Vorfeld dessen schützen, was ihm als Eigentümer zusteht,43 etwa vor Maßnahmen auf einem anderen Grundstück, welche die Grundstücksnutzung des Nachbarn noch nicht schwer und unerträglich stören. Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen eines (verfassungskonformen) einfachgesetzlichen Nachbarrechts meist viel präziser sind als die des Eigentums35
Wahl (Fußn. 23), FS Redeker, 1993, 245 (267); Depenheuer (Fußn. 23), Art. 14 Rn. 123. Wahl (Fußn. 9), NVwZ 1984, 401 (408); Bethge (Fußn. 6), GS Tettinger, 2007, 369 (388). 37 Bethge (Fußn. 6), GS Tettinger, 2007, 369 (394). 38 Vgl. dazu auch H. Dreier, Grundrechtseingriff contra Gesetzesbindung, Die Verwaltung 36 (2003), 105 (105). 39 Vgl. z. B. Jarass (Fußn. 10), Art. 20 Rn. 32. 40 Vgl. H. Dreier (Fußn. 38), Die Verwaltung 36 (2003), 105 (105). 41 Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 8 Rn. 11 ff.; Muckel, Der Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht – Grundlagen und aktuelle Entwicklungen, JuS 2000, 132 (136). 42 Z. B. BVerwG, U. v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 (78). 43 Vgl. z. B. BVerwG, U. v. 5.8.1983 – 4 C 96.79 – BVerwGE 67, 334 (337). 36
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grundrechts; um dessen verfassungseigenen Gehalt (vgl. o. II.) festzustellen, müssen oft schwierige Fragen der Grundrechtsdogmatik, der Auslegung und der Abwägung beantwortet werden. Verwaltung und Gericht können ihre Entscheidung zugunsten des Nachbarn in diesem Fall in der Regel leichter und schneller einfachrechtlich begründen. Steht dem Nachbarn (verfassungskonform) ein einfaches Recht zu, ist der auf dieses gestützte Rechtsschutz i. S. des Art. 19 Abs. 4 GG effektiv. Zulasten des Nachbarn darf nur entschieden werden, wenn weder einfaches Nachbarrecht noch ein Grundrecht entgegensteht. VI. Der Anwendungsvorrang des einfachen (Baunachbar)Rechts im Licht der Rechtsschutzgarantie Bis hierhin lautet das Ergebnis: Im Baunachbarrecht heißt „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“, dass Baurechtsbehörde und Verwaltungsgericht für die Entscheidung zuerst die förmlichen einfachen Gesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen heranziehen müssen, statt sogleich und nur im Grundgesetz nach der Lösung zu suchen. Von den Gründen dafür – 1. Das einfache Recht weitet den Nachbarschutz häufig über den unmittelbar durch Art. 14 GG erzielbaren hinaus aus; 2. das einfache Recht nennt regelmäßig präzisere Voraussetzungen als das sehr knapp formulierte und schwierige Auslegung und Abwägung erfordernde Grundrecht; und 3. die Effektivität des Rechtsschutzes – möchte ich aus Anlass des eingangs genannten Beispiels die Effektivität des Rechtsschutzes noch einmal beleuchten. VG und OVG haben nicht näher erörtert, ob hier nachbarschützendes einfaches Baurecht verletzt sein könnte: „Ungeachtet des Fehlens einer zugunsten Dritter wirkenden Schutznorm des einfachen Rechts können Nachbarn öffentlich-rechtliche Abwehrrechte nämlich auch dann zustehen, wenn die rechtswidrige Entscheidung der Behörde oder die Ausnutzung dieser Entscheidung durch den Begünstigten den Nachbarn in seinem durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentum verletzen.“44 Der Sache nach beschränken sich die Entscheidungsgründe darauf, dass die angefochtene Verfügung das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn verletzt. Beide Gerichte haben sich also – zu Recht – nicht an die strenge Sicht vom Anwendungsvorrang des einfachen Rechts (s. o. V.) gehalten. Aber auch die Vertreter der weniger strengen Sicht würden hier wohl vermissen, dass die Richter nicht zuvor gezeigt haben, dass keine Nachbarschutznorm des einfachen Rechts verletzt wurde, etwa das baurechtliche Rücksichtnahmegebot, und dass das einfache Recht damit lückenhaft ist.45 Das Rücksichtnahmegebot, das den Rückgriff auf das Eigentumsgrundrecht des Nachbarn erübrigen soll,46 besagt (in einer Formulierung des BVerwG): „Je emp44
OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris, Rn. 13 = BauR 2010, 1213 (1214); vgl. auch VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe, Rn. 27 ff. 45 Vgl. z. B. Maurer (Fußn. 41), § 8 Rn. 11 ff.; Muckel (Fußn. 41), JuS 2000, 132 (136). 46 Vgl. z. B: BVerwG, U. v. 26.9.1991 – 4 C 5.87 – BVerwGE 89, 69 (78); Brohm (Fußn. 13), § 18 Rn. 29.
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findlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist, denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, um so mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen.“47 Das Gebot verlangt, nach einer anderen Formulierung des BVerwG: „Es sind die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung, die Interessen des Bauherrn und das, was beiden Seiten billigerweise zumutbar oder unzumutbar ist, gegeneinander abzuwägen. Feste Regeln lassen sich dabei nicht aufstellen; erforderlich ist vielmehr eine Gesamtschau der von dem Vorhaben ausgehenden Beeinträchtigungen.“48 Es hätte sich im Eingangsfall wahrscheinlich begründen lassen, dass die Gartenbaunutzung nicht aktiv hätte geduldet werden dürfen, weil sie die gebotene Rücksicht auf den Nachbarn vermissen lasse, so dass das einfachrechtliche nachbarschützende Rücksichtnahmegebot verletzt sei. Allerdings birgt das Rücksichtnahmegebot im Baunachbarrecht ähnlich große dogmatische Unsicherheiten wie die erwähnten grundrechtlichen Schutzpflichten und wie der Anwendungsvorrang des einfachen Rechts. Inhalt, Grundlage und Reichweite dieser Rechtsfigur sind noch nicht in jeder Hinsicht und für jede denkbare Fallkonstellation geklärt.49 Selbst Grundfragen werden nicht einmütig beantwortet: Wer ist eigentlich Adressat der Rücksichtnahmepflicht – der Bauherr?, die Baurechtsbehörde?, beide?50 Ist auch der Nachbar seinerseits zur Rücksichtnahme auf den Bauherrn verpflichtet? Schützt das baurechtliche Rücksichtnahmegebot typischerweise vor baurechtswidrigen Bauten und Nutzungen oder sind auch außerbaurechtliche Auswirkungen (z. B. eine Erhöhung der Gefahr von Terroranschlägen)51 eines im Übrigen baurechtmäßigen Vorhabens einzubeziehen? Der Vorwurf, das baurechtliche Rücksichtnahmegebot sei ein „Irrgarten des Richterrechts“52, steht deshalb bis heute im Raum.53 Das Gebot sei zu kompliziert; stattdessen wäre ein direkter Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG dogmatisch einfacher und einleuchtender.54 Auch der Jubilar hält deshalb an der Möglichkeit des Rückgriffs auf Art. 14 GG fest.55 47
BVerwG, U. v. 25. 2. 1977 – IV C 22.75 – BVerwGE 52, 122 (126). BVerwG, U. v. 25.1.2007 – 4 C 1.06 – BVerwGE 128, 118 (124). 49 Zu Entwicklung und Entwicklungsstand des baurechtlichen Rücksichtnahmegebots vgl. z. B. Gaentzsch, Das Gebot der Rücksichtnahme bei der Zulassung von Bauvorhaben, ZfBR 2009, 321; Brohm (Fußn. 13), § 18 Rn. 27 ff.; Stühler, Das Gebot der Rücksichtnahme als allgemeines Rechtsprinzip im öffentlichen Nachbarrecht, BauR 2009, 1076 ff. 50 So z. B. Seibel, Das Rücksichtnahmegebot im öffentlichen Baurecht, BauR 2007, 1831 (1831 f.). 51 Vgl. BVerwG, U. v. 25.1.2007 – 4 C 1.06 – BVerwGE 128, 118 = juris. 52 Breuer, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme – ein Irrgarten des Richterrechts, DVBl. 1982, 1065. 53 Vgl. Gaentzsch (Fußn. 49), ZfBR 2009, 321 (322, 324); Seibel (Fußn. 50), BauR 2007, 1831 (1832). 54 Vgl. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 516 f.; Brohm (Fußn. 13), § 18 Rn. 35. 48
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Wenn das Gericht sich hier nur auf Art. 14 Abs. 1 GG stützt, knüpft es an eine ständige Rechtsprechung zum Baunachbarrecht in den sog. Notwegefällen an und verzichtet dadurch auf komplizierte Ausführungen zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, zum Anwendungsvorrang des einfachen Rechts und zum Rücksichtnahmegebot.56 Die gefestigte Notwegerechtsprechung im Baunachbarrecht macht auch die Entscheidung im Eingangsfall vorhersehbar, und das Anknüpfen an diese Rechtsprechung erlaubt ein Ergebnis in angemessener Zeit, ein wichtiges Merkmal effektiven Rechtsschutzes. Auch die Entwicklung einer gefestigten (nicht: unabänderlichen) Rechtsprechung selbst fördert Rechtssicherheit und Rechtsschutz. Diese Rechtspflegeaufgabe der Fachgerichte57 erstreckt sich wegen Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG auch auf das Eigentumsgrundrecht. Im Licht der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) ist dazu selbst die weniger strenge Sicht vom Anwendungsvorrang des einfachen Rechts weiter zu lockern. VII. Ergebnis „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“ heißt: Die Verwaltungsbeamten und -richter sollen für ihre Entscheidung zuerst die einfachen Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen und Satzungen heranziehen, statt sogleich und nur in der Verfassung nach einer Lösung zu suchen. Sie müssen auf das einschlägige Grundrecht zurückgreifen, wenn die einfachrechtliche Regelung Lücken hat. Sie dürfen sogleich auf das Grundrecht abstellen, wenn ein Verfassungsverstoß überzeugend und einfacher zu begründen ist.
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Z. B. in Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 517. OVG Münster, B. v. 29.1.2010 – 10 A 2430/08 – juris = BauR 2010, 1213 (1214) = juris Rn. 22 ff.; VG Düsseldorf, U. v. 16.7.2008 – 9 K 2284/07 – www.justiz.nrw.de/nrwe, Rn. 31 ff. Dementsprechend sieht der BayVGH, U. v. 7.12.2010 – 14 B 09.2292 – juris Rn. 17, 23 in einem Baunachbarklage-Notwegerechts-Fall Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG als verletzt und lässt ausdrücklich offen, ob auch gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen sei. 57 Vgl. dazu Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, 1999, S. 70. 56
Das Recht auf eine gute Verwaltung, insb. auf ein faires Verwaltungsverfahren Von Hans D. Jarass Der Jubilar war und ist in vielen Feldern des öffentlichen Rechts tätig. Besondere Bedeutung kam und kommt aber dem Verwaltungsprozessrecht und dem Rechtsschutz zu, wie sein Lehrbuch zum Verwaltungsprozessrecht, sein Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung und die äußerst umfangreiche Kommentierung zu Art. 19 Abs. 4 GG im Bonner Kommentar zum Grundgesetz zeigen.1 Bei all diesen Arbeiten spielt naturgemäß die Sicherung eines fairen Verfahrens vor Gericht eine wichtige Rolle. Vergleichbare Fragen stellen sich auch im Verwaltungsverfahren. Daher ist es von Interesse, dass die zum 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein Grundrecht enthält, das insbesondere ein faires Verwaltungsverfahren gewährleisten soll. Den mit diesem Grundrecht verbundenen Aspekten wird im Folgenden nachgegangen. I. 1. Die Grundrechtecharta enthält in Art. 41 GRCh ein Recht, das in der Überschrift als „Recht auf eine gute Verwaltung“ bezeichnet wird. Diese Kennzeichnung ist für den deutschen Betrachter eher ungewöhnlich und stammt aus dem Recht anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union. In der Sache sind die Gehalte aber auch im deutschen Recht nicht unbekannt, wie sich zeigen wird. In systematischer Hinsicht ist unsicher, ob Art. 41 GRCh ein einheitliches Grundrecht enthält, worauf vielleicht die Überschrift hindeuten könnte, oder aber mehrere selbständige Rechte. Im zweiten Fall ist zudem zu klären, wie die einzelnen Rechte zugeschnitten sind. Was zunächst die beiden ersten Absätze des Art. 41 GRCh angeht, so spricht für eine Mehrzahl von Rechten, dass der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung die in Abs. 2 aufgeführten Rechte auf Anhörung, auf Akteneinsicht und auf Begründung jeweils selbständig behandelt hat. Andererseits macht der Beginn des Abs. 2 („Dieses Recht umfasst insbesondere“) deutlich, dass die Rechte des Abs. 2 Unterfälle des in Abs. 1 geregelten Rechts sind. Das spricht dafür, dass
1 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2009; Schenke, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff (Hg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 IV, Drittbearbeitung 2009.
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Abs. 1 und Abs. 2 zusammen ein einheitliches Grundrecht bilden.2 Dagegen wird man in der Schadensersatzregelung des Art. 41 Abs. 3 GRCh ein eigenständiges Recht zu sehen haben, da es inhaltlich andere Fragen betrifft und auch einen deutlich weiteren Anwendungsbereich besitzt. Zudem ist es parallel in Art. 340 AEUVals eigenes Recht geregelt. Das Kommunikations- und Sprachenrecht in Art. 41 Abs. 4 GRCh steht dagegen inhaltlich in einem näheren Zusammenhang mit dem Grundrecht des Abs. 1, 2. Andererseits ist es durch die Regelung des Abs. 3 deutlich getrennt und vor allem ist es zusätzlich als eigenständiges Recht in Art. 24 Abs. 4 AEUV normiert. Das spricht dafür, auch in Art. 41 Abs. 4 GRCh ein eigenständiges Recht zu sehen. Insgesamt enthält damit Art. 41 GRCh drei Grundrechte: Das Grundrecht des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh, das man als Recht auf gute Verwaltung im engeren Sinn kennzeichnen kann, das Grundrecht auf Schadensersatz in Art. 41 Abs. 3 GRCh und das Kommunikations- und Sprachenrecht in Art. 41 Abs. 4 GRCh. Alle Rechte zusammen kann man der Überschrift des Art. 41 GRCh entsprechend als Recht auf gute Verwaltung im weiteren Sinn bezeichnen. Im Folgenden wird es allein um das Recht auf gute Verwaltung im engeren Sinn gehen. 2. Was die Entstehungsgeschichte des Art. 41 GRCh angeht, so wird die Regelung in den Charta-Erläuterungen, die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh bei der Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen sind, auf die Rechtsprechung des EuGH gestützt, die u. a. eine gute Verwaltung als allgemeinen Rechtsgrundsatz festgeschrieben hat.3 Was speziell die Vorgaben des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh betrifft, so werden sie auf weitere Entscheidungen des EuGH (bzw. des EuG) gestützt.4 Speziell für die Pflicht zur Begründung wird auf Art. 296 AEUV und allgemein auf die Vorgabe einer offenen, effizienten und unabhängigen europäischen Verwaltung in Art. 298 AEUV verwiesen.5 Vor diesem Hintergrund waren die Anforderungen des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh in der Sache und im Wesentlichen bereits vor Inkrafttreten der Charta geltendes Primärrecht. Zudem wird deutlich, dass bei der Auslegung des Grundrechts die Rechtsprechung des EuGH zu den vom Grundrecht angesprochenen Fragen, jedenfalls soweit sie sich auf der Ebene des primären Rechts bewegt, maßgeblich heranzuziehen ist, weshalb sie im Folgenden auch immer wieder herangezogen wird. 3. Sucht man die Bedeutung und den Gegenstand der Gewährleistung des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh näher herauszuarbeiten, dann ist festzuhalten, dass sie das „Behandeln“ von Angelegenheiten durch die Verwaltung betrifft und damit einen prozedu2 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, 2009, Rn. 4556; Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 125. 3 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/28 unter Hinweis auf EuGH, Rs. 255/90 - Burban, Slg. 1992, I-2253 und EuG, Rs. 167/94, Slg. 1995, II-2589; Rs. 231/97, Slg. 1999, II-2403 Rn. 38 ff. 4 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/28 unter Hinweis auf EuGH, Rs. 222/86 - Unectef, Slg. 1987, I-4097 Rn. 15; Rs. 374/87 - Orkem, Slg. 1989, 3283; Rs. 269/90 - TU München, Slg. 1991, I-5469 Rn. 14 sowie EuG, Rs. 450/93, Slg. 1994, II-1177 Rn. 42 ff; Rs. 167/ 94, Slg. 1995, II-2589 Rn. 73 ff. 5 Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303/28.
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ralen bzw. Verfahrenscharakter hat.6 Daher kann man sie auch als Recht auf „faires Verwaltungsverfahren“ bezeichnen. Der EuGH spricht von einem „Anspruch auf ein faires Verfahren“, von „ordnungsgemäßer Verwaltung“.7 Besonderes Gewicht kommt den Vorgaben zum Verwaltungsverfahren dort zu, wo dem zuständigen Organ ein Beurteilungsspielraum oder ein Ermessen eingeräumt ist.8 Das Recht auf gute Verwaltung (im engeren Sinn) dient einerseits den von dem Verfahren betroffenen Bürgern, indem es sicherstellt, dass fair mit ihnen umgegangen wird. Andererseits hat es die Aufgabe, die Leistungsfähigkeit und Effizienz der EU-Verwaltung zu gewährleisten. Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh enthält zweifellos ein einklagbares Recht, keinen bloßen Grundsatz im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRCh, trotz des Umstands, dass Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh vor allem Leistungsgehalte aufweist. Für den Charakter als (unmittelbar) einklagbares Recht spricht vor allem die im Bereich dieses Grundrechts einschlägige Rechtsprechung des EuGH, die durchweg von unmittelbar anwendbaren Rechten ausgegangen ist. Der Funktion nach geht es um ein Abwehr- wie um ein Leistungsgrundrecht, je nachdem, ob die Verfahrensregelung an belastende Maßnahmen anknüpft oder nicht. 4. Was die Folgen eines Verstoßes gegen das Grundrecht angeht, so zeigen sich im Bereich des Art. 41 GRCh einige Besonderheiten. Verfahrensfehler können durch das Nachholen der unterlassenen Schritte geheilt werden. Allerdings ist das nur begrenzt möglich. So kann die fehlende oder unzureichende Begründung nach Erlass der Entscheidung nicht mehr nachgeholt werden.9 Insb. ist eine Heilung im gerichtlichen Verfahren ausgeschlossen.10 Auch unabhängig von einer Nachholung führen Verstöße gegen die Verfahrensvorgaben des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh nicht generell zur Rechtswidrigkeit der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung. Vielmehr kommt es darauf an, ob sich der Verfahrensfehler auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt haben könnte (mögliche Kausalität).11 Nur unter dieser Voraussetzung führt ein Verfahrensfehler
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Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, 424; Kan´ska, ELJ 2004, 301. Ersteres bei EuGH, Rs. 341/04 – Eurofood, Slg. 2006, I-3813 Rn. 65; Letzteres bei EuGH, Rs. 255/90 - Burban , Slg. 1992, I-2253 Rn. 7; EuG, Rs. 73/95, Slg. 1997, II-381 Rn. 32; Rs. 231/97, Slg. 1999, II-2403 Rn. 39; Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, 429. 8 EuGH, Rs. 269/90 - TU München, Slg. 1991, I-5469 Rn. 14; EuG, Rs. 167/94, Slg. 1995, II-2589 Rn. 73; Rs. 13/99, Slg. 2002, II-3305 Rn. 171. 9 EuGH, Rs. 137/92 - BASF, Slg. 1994, I-2555 Rn. 67 f. 10 EuG, Rs. 305/94, Slg. 1999, II-931 Rn. 1022; Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, 299 f. 11 EuGH, Rs. 30/78 - Distillers, Slg. 1980, 2229 Rn. 26; Rs. 142/87 – Belgien/K, Slg. 1990, I-959 Rn. 48; EuG ÖD, Rs. 51/07 v. 11.9.08, Rn. 81; Gundel, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 14; Ehricke, in: Streinz (Hg.), EUV/ EGV, 2003, Art. 230 EG Rn. 73; kritisch Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, § 37 Rn. 1097. 7
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zur Rechtswidrigkeit der abschließenden Entscheidung.12 Allerdings genügt eine geringe Möglichkeit der Kausalität.13 Das Erfordernis der Kausalität gilt auch im Bereich des Rechts auf Anhörung14 und des Rechts auf Begründung der Entscheidung.15 Bezieht sich der Fehler auf Schriftstücke, ist bedeutsam, ob sie zur Verteidigung hätten eingesetzt werden können.16 Beim Recht auf Entscheidung in angemessener Frist kommt es ebenfalls darauf an, ob bewiesenermaßen die Verteidigungsrechte beeinträchtigt wurden,17 obgleich damit der Verstoß meist ohne Einfluss auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung bleibt; Schadensersatzansprüche sind aber möglich.18 Die möglichen Auswirkungen des Verfahrensfehlers auf die Verteidigungsrechte bzw. die Entscheidung sollen vom Betroffenen darzulegen sein.19 5. Der „Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis“, der 2005 vom Europäischen Bürgerbeauftragten erlassen wurde, wird über Art. 41 GRCh nicht zum verbindlichen Recht.20 Andererseits liefert er Anhaltspunkte für die Bestimmung des Rechts aus Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh. Gleiches gilt für den von der Kommission 2000 als Teil ihrer Geschäftsordnung erlassenen „Kodex für gute Verwaltungspraxis“.21 Er kann außerdem im Wege der Selbstbindung bedeutsam werden; die primärrechtliche Grundlage findet sich insoweit allerdings eher im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 20 GRCh als in Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh. II. 1. Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh wird zunächst dadurch bestimmt, dass es um Verfahren der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union gehen muss. Der Begriff der Stellen wird wie in Art. 51 Abs. 1 S.1 GRCh, also weit zu verstehen sein. Weiter kommt Art. 41 GRCh allein in Verwaltungsverfahren zum Tragen, da es laut Überschrift um das Recht auf eine gute Verwaltung geht.22 Entscheidend ist dabei nicht, ob ein Verwaltungsorgan oder eine sons12 Z.T. wird ohne Kausalität bereits der Verfahrensfehler verneint; etwa EuG, Rs. 44/00, Slg. 2004, II-2223 Rn. 55; Rn. 22 zu Art. 48; anders wohl EuGH, Rs. 142/87 – Belgien/K, Slg. 1990, I-959 Rn. 48. 13 Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, 443. 14 EuGH, Rs. 301/87 – Frankreich/K, Slg. 1990, I-307 Rn. 29; Rs. 288/96 - Deutschland/K, Slg. 2000, I-8237 Rn. 101; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 12. 15 Vgl. Gellermann, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 253 EG Rn. 15. 16 EuGH, Rs. 238/99 - Maatschappij, Slg. 2002, I-8375 Rn. 318; EuG, Rs. 67/01, Slg. 2004, II-49 Rn. 64. 17 EuG, Rs. 67/01, Slg. 2004, II-49 Rn. 40, 44; Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hg.), GRCh, 2006, Art. 41 Rn. 38. 18 EuG ÖD, Rs. 51/07 v. 11.9.08, Rn. 84; Kan´ska, ELJ 2004, 314. 19 EuG, Rs. 67/01, Slg. 2004, II-49 Rn. 45; Rs. 60/05 v. 12. 9. 2007 Rn. 56. 20 GA Trstenjak, Rs. 308/07 v. 11.9.08, Nr. 93. 21 ABl 2000 L 267/63. 22 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 41 GRCh Rn. 8.
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tige Verwaltungsstelle handelt, sondern ob es in der Sache um Verwaltung und nicht um Gesetzgebung oder Rechtsprechung geht.23 Besondere Bedeutung hat Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh im Kartellverfahrensrecht. Soweit Gesetzgebungsorgane oder Gerichte ausnahmsweise Verwaltungsentscheidungen treffen, dürfte Art. 41 Abs. 1, 2 zu beachten sein. Nicht erfasst wird der Erlass von generellen Rechtsakten, insb. von Verordnungen und Richtlinien, soweit sie nicht ausnahmsweise individueller Natur sind.24 Im Übrigen gilt Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh, wie sich noch zeigen wird, nur für Tätigkeiten, die einen spezifischen Bezug zu einem Grundrechtsträger aufweisen. Unklar ist, ob der Erlass von Durchführungsvorschriften im Sinne des Art. 290 AEUV unter Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh fällt.25 Zudem ist unsicher, ob Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh auch für das Vorverfahren vor einem Vertragsverletzungsverfahren gilt, obwohl es eine Vorstufe des gerichtlichen Verfahrens bildet. Die Frage dürfte zu bejahen sein.26 Nach dem Wortlaut nicht erfasst werden Verfahren der Mitgliedstaaten, selbst wenn sie Unionsrecht durchführen, da Art. 41 Abs. 1 GRCh nur für die Behandlung von Verwaltungsangelegenheiten durch „Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union“ gilt.27 Andererseits ergeben sich im Bereich der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten ganz ähnliche Pflichten aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen.28 Besonders fragwürdig ist die Nichtanwendung des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh im Bereich des Verwaltungsverbundes zwischen Union und Mitgliedstaaten.29 Das spricht dafür, Art. 41 GRCh über den Wortlaut hinaus auf Verfahren der Mitgliedstaaten analog anzuwenden, soweit sie Unionsrecht durchführen.30 Auf der anderen Seite sind auch die Rechte des Art. 41 Abs. 3, 4 GRCh nicht auf die Durchführung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten anwendbar. Insgesamt gilt es die Rechtsprechung des EuGH abzuwarten. Im Übrigen werden die Mitgliedstaaten auch dann, wenn man der engeren Auffassung zuneigt, verpflichtet, die Union bei der Einhaltung des Grundrechts nicht zu behindern.31 23
Kan´ska, ELJ 2004, 310. Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 58. 25 Dafür Kan´ska, ELJ 2004, 310. Die Frage ist wegen des zusätzlichen Erfordernisses der „Angelegenheiten“ des Grundrechtsträgers nur von begrenzter Bedeutung. 26 Ebenso Kan´ska, ELJ 2004, 311 f. 27 Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 9; Streinz, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 41 GRCh Rn. 14; Lais, ZEuS 2002, 457; Greszick, EuR 2006, 168; a.A. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, Rn. 1094; Heselhaus, in: Heselhaus/ Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 133. 28 Vgl. v.Vormizeele, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 41 Rn. 5; Gundel, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 6. 29 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007 Art. 41 GRCh Rn. 9. 30 GA Kokott, Rs. 392/08 v. 10.12.09, Nr. 16; Kan´ska, ELJ 2004, 309 f. 31 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4535. 24
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2. Träger des Grundrechts aus Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh ist nach dem Wortlaut der Vorschrift jede natürliche Person. Da sich die Norm im Titel V „Bürgerrechte“ befindet, ist allerdings denkbar, sie auf Unionsbürger zu beschränken. Das wird man aber nach dem klaren Wortlaut („jede Person“) und den abweichenden Formulierungen in den anderen Artikeln des Titels verneinen müssen.32 Darüber hinaus sind juristische Personen Grundrechtsträger,33 da von „Person“ gesprochen wird.34 Dies entspricht der bisherigen Rechtsprechung des EuGH im Anwendungsbereich des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh.35 Schließlich können sich wohl sogar Personen des öffentlichen Rechts auf Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh berufen, selbst die Mitgliedstaaten.36 Wie Art. 41 Abs. 1 GRCh verdeutlicht, kann sich eine Person auf das Grundrecht nur berufen, wenn es um „ihre Angelegenheiten“ geht. Das betreffende Verwaltungsverfahren muss Angelegenheiten betreffen, die einen spezifischen Bezug zum (Grund-)Rechtsträger aufweisen. Das ist der Fall, wenn die abschließende Entscheidung gegen ihn gerichtet ist bzw. voraussichtlich gerichtet werden wird. Der spezifische Bezug wird aber auch dadurch hergestellt, dass die abschließende Entscheidung den Grundrechtsträger in der Sache berührt.37 Wird ein Dritter zum Verwaltungsverfahren zugelassen oder hat er einen Anspruch auf Zulassung zum Verfahren aus sonstigem Recht, liegt darin ein Indiz, dass es auch um „seine Angelegenheiten“ geht.38 Nicht erfasst werden Verbände, die Allgemeinbelange verfolgen.39 Keine Rolle spielt, ob das Verwaltungsverfahren von einem Grundrechtsträger oder von einem Grundrechtsverpflichteten eingeleitet wurde.40 Die Angelegenheiten des Grundrechtsträgers setzen nicht notwendig eine „nachteilige“ Betroffenheit voraus, also eine belastende Entscheidung.41
32 Kan´ska, ELJ 2004, 308; Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hg.), GRCh, 2006, GRCh, Art. 41 Rn. 23; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, § 37 Rn. 1093; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007 Art. 41 GRCh Rn. 5. 33 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007 Art. 41 GRCh Rn. 6; v.Vormizeele, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 41 GRCh Rn. 5; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3.Auf.2011, Art. 41 Rn. 8. 34 Vgl. Jarass, GRCh, 2010, Art. 41 Rn. 11. 35 Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 8. 36 EuGH, Rs. 3/00 - Dänemark/K, Slg. 2003, I-2643 Rn. 46 ff; vgl. aber auch EuGH, Rs. 475/98 - Kommission/Österreich, Slg. 2002, I-9797 Rn. 37 f. 37 Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2007 Art. 41 GRCh Rn. 7. 38 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. IV, 2009, Rn. 4531. Auf die unmittelbare Betroffenheit kommt es nicht an. 39 EuGH, Rs. 170/89 – Unions de Consommateurs, Slg. 1991, I-5709 Rn. 19; Kan´ska, ELJ 2004, 317; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4531. 40 So Kan´ska, ELJ 2004, 317, für das Recht auf Gehör. 41 Auf die Sondersituation im Bereich des Rechts auf Gehör wird noch eingegangen.
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III. 1. Das Recht auf gute Verwaltung wird zunächst gem. Abs. 1 beeinträchtigt, wenn die Behandlung der Angelegenheiten nicht „unparteiisch“ erfolgt. Eine Beeinträchtigung liegt daher vor, wenn das entscheidende Organ mit befangenen Personen besetzt ist.42 Keine an der Entscheidung beteiligte Person darf Zweifel an ihrer Objektivität erwecken. Insb. darf sie kein finanzielles Interesse an der Entscheidung haben. Die vom EuGH zur richterlichen Unparteilichkeit festgehaltenen Konkretisierungen dürften im Wesentlichen auch hier gelten.43 2. Weiter wird das Recht auf gute Verwaltung beeinträchtigt, wenn die Behandlung der Angelegenheit nicht „gerecht“ erfolgt, wie Abs. 1 festhält. In der englischen Fassung wird von „handled … fairly“, in der französischen von „trait¦es … ¦quitablement“ gesprochen. Diese Vorgabe dürfte sich v. a. auf das Verfahren beziehen, wie das in der englischen Fassung anklingt.44 Jedenfalls darf man den Begriff des Gerechten nicht umfassend im Sinne von Gerechtigkeit verstehen. Lädt man Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh zu sehr mit materiellen Gehalten auf, etwa mit den Geboten der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit,45 dann verliert das Grundrecht jegliche Konturen und mutiert zum Supergrundrecht, das die Gehalte vieler Grundrechte und Rechtsgrundsätze aufnimmt.46 Solche Gehalte werden – dem Charakter des Grundrechts entsprechend – nur dann erfasst, wenn es primär um das Verwaltungsverfahren geht, etwa bei der Verhältnismäßigkeit von Vollstreckungs- und Erzwingungsmaßnahmen. Allenfalls die Gleichbehandlung durch die Verwaltung mag im Hinblick auf die französische Fassung des Art. 41 Abs. 1 GRCh mit einzubeziehen sein; doch besteht dafür angesichts des Art. 20 GRCh kein wirklicher Bedarf.47 Eine gerechte Behandlung im Sinne des Abs. 1 verlangt zunächst die Einhaltung der Verfahrenspflichten des Abs. 2 („insbesondere“). Weiter wird man hier die als allgemeinen Rechtsgrundsatz entwickelte Pflicht zu sorgfältiger Verwaltung einordnen können. Danach sind alle relevanten Umstände genau zu untersuchen.48 Die vom Betroffenen vorgebrachten Gesichtspunkte sind „angemessen“ zu prüfen.49 Die Pflicht ähnelt dem Untersuchungsgrundsatz und verlangt, alle relevanten tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Falles zu berücksichtigen, soweit sie für die abschließende 42
Kan´ska, ELJ 2004, 312 f. Zu diesen Konkretisierungen Jarass, GRCh, 2010, Art. 47 Rn. 22. 44 Vgl. Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hg.), GRCh, 2006, Art. 41 Rn. 41; tendenziell Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 116. 45 So aber Streinz, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 41 GRCh Rn. 12. 46 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4586. 47 A.A. Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 116. 48 EuG, Rs. 167/94, Slg. 1995, II-2589 Rn. 73; Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, 2. Aufl. 2004, 522 ff; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4591. 49 EuG, Rs. 263/07 v. 23. 9. 2009, Rn. 112. 43
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Entscheidung bedeutsam sein können.50 Sie greift insb. dann, wenn es um wissenschaftliche Fragen geht.51 3. Darüber hinaus wird das Recht auf gute Verwaltung beeinträchtigt, wenn die das Verfahren abschließende Entscheidung nicht in „angemessener Frist“ ergeht, wie Abs. 1 festhält. Eine derartige Pflicht hat der EuGH bereits allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen.52 Die zügige Behandlung der Angelegenheiten ist ein wichtiger Aspekt guter Verwaltung,53 deren Bedeutung immer wieder unterschätzt wird. Geboten ist eine zügige und effiziente Durchführung des Verfahrens. Einen Orientierungspunkt für die angemessene Zeit liefert die Zwei-Monats-Frist des Art. 265 Abs. 2 AEUV.54 Allerdings sind zudem die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen.55 Eine Verzögerung bedarf ausreichender Rechtfertigung.56 4. Weiter wird das Recht auf gute Verwaltung beeinträchtigt, wenn die Vorgaben des Abs. 2 nicht eingehalten werden, also das Recht auf Anhörung, das Recht auf Akteneinsicht und das Recht auf Begründung. Darauf wird noch eingegangen. Die beiden ersten Teilrechte werden in der Rechtsprechung auch als Verteidigungsrechte gekennzeichnet.57 Man kann auch von „Verfahrensrechten“ sprechen.58 Diese Verfahrenspflichten obliegen der Behörde, die gegenüber dem Bürger auftritt. Behörden, die die nach außen auftretende Behörde lediglich leiten oder unterstützen, werden grundsätzlich nicht verpflichtet. Davon ist in Fällen grenzüberschreitender Entscheidungen, an denen eine nationale Behörde und die Kommission beteiligt sind, eine Ausnahme zu machen. Damit sind Fälle gemeint, in denen nach außen eine nationale Behörde auftritt, im Innenverhältnis aber wesentliche Entscheidungen von der Kommission getroffen werden,59 etwa bei der Verwaltung von Beihilfen der Union. In Fällen dieser Art können die Verfahrenspflichten auch die Kommission 50
Kan´ska, ELJ 2004, 322. Zu Ersterem EuG, Rs. 167/94, Slg. 1995, II-2589 Ls.7, zu Letzterem EuGH, Rs. 269/90 – TU München, Slg. 1991, I-5469 Rn. 22. 52 EuGH, Rs. 282/95 – Gu¦rin, Slg. 1997, I-1503 Rn. 37 f; Rs. 238/99 – Maatschappij, Slg. 2002, I-8375 Rn. 166 ff; EuG, Rs. 242/02, Slg. 2005, II-2793 Rn. 51; Rs. 276/04, Slg. 2008, II-1277 Rn. 39. 53 Kan´ska, ELJ 2004, 313. 54 So Art. 17 EKGV; Kan´ska, ELJ 2004, 313; Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern (Hg.), GRCh, 2006, Art. 41 Rn. 37. 55 EuG, Rs. 81/95, Slg. 1997, II-1265 Rn. 65. 56 EuGH, Rs. 223/85 – RSV, Slg. 1987, 4617 Rn. 14. 57 EuGH, Rs. 32/95 – Lisrestal, Slg. 1996, I-5373 Rn. 21; Rs. 462/98 – Mediocurso, Slg. 2000, I-7183 Rn. 36; Rs. 395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rn. 51; EuG, Rs. 231/97, Slg. 1999, II-2403 Rn. 42; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 11. Die Figur geht auf das französische Recht zurück; Classen, Gute Verwaltung im Recht der EU, 2008, 139 ff. 58 So EuGH, Rs. 28/05 – Dokter, Slg. 2006, I-5431 Rn. 74. 59 Dazu Gundel, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 61 f. 51
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treffen: So muss sie den Betroffenen anhören, wenn sie von der Bewertung des Sachverhalts durch die nationale Behörde abweichen will,60 oder wenn ein Gesichtspunkt als maßgeblich herangezogen wird, zu dem der Antragsteller nicht Stellung nehmen konnte.61 Gleiches gilt für die Gewährung von Akteneinsicht.62 Andernfalls würde die gestufte Zuständigkeit die Verfahrensrechte des Betroffenen gefährden. 5. Über die in Abs. 1, 2 ausdrücklich angesprochenen Konkretisierungen des Rechts auf gute Verwaltung hinaus kann man dem Recht noch andere Vorgaben zum Verfahren zuordnen, die die Rechtsprechung als allgemeine Rechtsgrundsätze entwickelt hat und die Angelegenheiten des Grundrechtsträgers betreffen. Dies gilt zunächst für das Recht, sich durch einen Anwalt beraten und unterstützen zu lassen.63 Das Recht schützt auch die Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwalt und Mandanten im Rahmen der Rechtsberatung für das betreffende Verfahren.64 Weiter kann man das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, Art. 41 Abs. 1, 2 zuordnen. Doch ist unsicher, ob es in jedem Verwaltungsverfahren gilt.65 Insoweit spricht einiges dafür, es auf Verwaltungsverfahren mit strafähnlichen Sanktionen zu beschränken. Jedenfalls kann dieses Recht in regulären Verwaltungsverfahren besonders weit eingeschränkt werden. Schließlich wird das Recht auf gute Verwaltung verletzt, wenn die Behörde an die Nichtbeachtung verfahrensrechtlicher Vorgaben Sanktionen knüpft, obwohl die Nichtbeachtung Folge des behördlichen Verhaltens ist.66 6. Einschränkungen bzw. Beeinträchtigungen des Rechts auf gute Verwaltung aus Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh können nach der allgemeinen Beschränkungsklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh gerechtfertigt sein. Auch der EuGH geht davon aus, dass die Verfahrensrechte eingeschränkt werden können; die Beschränkungen müssen aber, wie auch Art. 52 Abs. 1 S.2 GRCh zu entnehmen ist, tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf die verfolgten Zwecke unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen.67 Es kommt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Tragen. Unsicher ist hingegen, ob und wieweit Einschränkungen des Grundrechts generell einer gesetzlichen Grundlage bedürfen, geht es hier doch häufig um die Leistungsfunktion.
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EuG, Rs. 186/97, Slg. 2001, II-1337 Rn. 152, 155. EuGH, Rs. 269/90 – TU München, Slg. 1991, I-5469 Rn. 25. 62 EuG, Rs. 42/96, Slg. 1998, II-401 Rn. 79 ff; Rs. 50/96, Slg. 1998, II-3773 Rn. 62 f. 63 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4587; Kan´ska, ELJ 2004, 316. 64 EuGH, Rs. 155/79 – AM&S, Slg. 1982, 1575 Rn. 18 ff; Schütz/Bruha/König, Casebook Europarecht, 2. Aufl. 2004, 513 f. 65 So wohl Kan´ska, ELJ 2004, 316. 66 EuGH, Rs. 428/05 – Laub, Slg. 2007, I-5069 Rn. 25. 67 EuGH, Rs. 28/05 – Dokter, Slg. 2006, I-5431 Rn. 75. 61
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IV. 1. Das in Art. 41 Abs. 2 lit.a GRCh aufgeführte Recht der Anhörung bildet eine wesentliche Ausprägung des Rechts auf Gehör im weiteren Sinn bei Verwaltungsentscheidungen.68 Es kommt zum Tragen, wenn gegenüber dem Grundrechtsträger eine nachteilige individuelle Maßnahme getroffen werden soll. Als Maßnahmen kommen vor allem (individuelle) Regelungen in Betracht, aber auch Realakte.69 Regelungen sind individuell, wenn sie an eine oder mehrere bestimmte Personen adressiert sind, womit generelle Regelungen meist nicht erfasst werden. Nicht erforderlich ist dagegen, dass die Regelung auch an denjenigen adressiert ist, der das Recht aus Art. 41 GRCh geltend macht.70 Zudem muss die Maßnahme, wie Art. 41 Abs. 2 lit.a GRCh ausdrücklich sagt, nachteilig sein, und zwar für denjenigen, der das Recht aus Art. 41 GRCh geltend macht. Die Maßnahme muss die finanziellen oder sonstigen Interessen dieser Person nachteilig berühren.71 Der Nachteil kann dabei rechtlicher oder faktischer Natur sein.72 Ist eine Maßnahme sowohl begünstigend wie belastend, dürfte es entscheidend auf das Übergewicht ankommen.73 Schließlich wird man einen spürbaren Nachteil verlangen müssen.74 Das rechtliche Gehör wird beeinträchtigt, wenn eine der folgenden Vorgaben nicht gewahrt ist:75 Zunächst ist eine Unterrichtung des Betroffenen durch die Verwaltungsbehörde über die vorzuwerfenden Tatsachen76 und über die geplante Maßnahme geboten.77 Die Unterrichtung muss hinreichend genau sein.78 Weiter ist der Betroffene berechtigt, eine Stellungnahme zu den von der Behörde angeführten Tatsachen und
68 Dazu EuGH, Rs. 32/95 – Lisrestal, Slg. 1996, I-5373 Rn. 21; Rs. 462/98 – Mediocurso, Slg. 2000, I-7183 Rn. 35 f; Rs. 315/99 – Ismeri, Slg. 2001, I-5281 Rn. 30; EuG, Rs. 199/99, Slg. 2002, II-3731 Rn. 55; Rs. 340/00, Slg. 2003, II-811 Rn. 136. 69 Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 85. 70 Kan´ska, ELJ 2004, 316. 71 Kan´ska, ELJ 2004, 316. 72 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007 Art. 41 GRCh Rn. 14. 73 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd.IV, 2009, Rn. 4559. 74 EuGH, Rs. 17/74 – Transocean Marine Paint, Slg. 1974, 1063 Rn. 15; Rs. 32/95 – Lisrestal, Slg. 1996, I-5373 Rn. 21; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 12. 75 Teilweise wird das Recht auf Einsatz eines Anwaltes als weiteres Teilelement eingestuft (Kan´ska, ELJ 2004, 316). Doch wird man darin einen eigenständigen (und übergreifenden) Teilbereich des Art. 41 zu sehen haben. 76 EuGH, Rs. 462/98 – Mediocurso, Slg. 2000, I-7183 Rn. 35, 43 f. 77 EuGH, Rs. 17/74 – Transocean Marine Paint, Slg. 1974, 1063 Rn. 15; EuG, Rs. 305/94, Slg. 1999, II-931 Rn. 263. 78 EuG, Rs. 170/06, Slg. 2007, II-2601 Rn. 188, 196 ff.
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Umständen abzugeben.79 Eine mündliche Anhörung kann nicht verlangt werden.80 Schließlich hat der Betroffene ein Recht auf Berücksichtigung seiner Stellungnahme bei der zu treffenden Entscheidung.81 Eine Bindung der Verwaltungsstelle an die Stellungnahme besteht naturgemäß nicht. Einschränkungen des Rechts auf Anhörung sind grundsätzlich möglich.82 Sie bedürfen wohl einer gesetzlichen Grundlage. Zudem kommen sie nur in Betracht, wenn sie aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls erforderlich sind; insoweit ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten. So kann auf eine Anhörung vor einer Durchsuchung verzichtet werden, wenn dadurch der Zweck der Durchsuchung vereitelt wird. 2. Im Schutzbereich des Art. 41 Abs. 1, 2 GRCh steht jeder Person gem. Art. 41 Abs. 2 lit.b GRCh ein Recht auf Einsicht in die „sie betreffenden Akten“ zu, wie das bereits vor Inkrafttreten der Charta als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt war.83 Unter Akten wird man alle Unterlagen der Verwaltungsstellen zu verstehen haben, unabhängig von Form und Technik des Datenträgers. Der Anspruch erfasst nicht den Gesamtbestand der Akten, sondern nur die Akten, die als Entscheidungsgrundlage dienen.84 Die Akten müssen den Grundrechtsträger betreffen. Das setzt nicht voraus, wie man der englischen Fassung entnehmen könnte, dass die Akte primär den Grundrechtsträger betreffen muss, sozusagen die Akte des Grundrechtsträgers ist. Auch Akten mit primärem Bezug zu Dritten werden erfasst, sofern es um Angelegenheiten des Grundrechtsträgers geht;85 dafür sprechen auch die in Art. 41 Abs. 2 lit.b GRCh vorgesehenen Einschränkungen. Anders als der Anspruch auf Gehör dürfte der Anspruch auf Akteneinsicht gem. Art. 41 Abs. 2 lit.b GRCh nicht voraussetzen, dass es um ein Verfahren geht, das mit einer belastenden Entscheidung enden soll.86 Dementsprechend kommt der Akteneinsichtsanspruch etwa auch im Verfahren auf Erteilung einer Subvention zur Anwendung. Das Recht wird beeinträchtigt, wenn die Akteneinsicht völlig verweigert oder nur unzureichend gewährt wird. In welcher Form die Akteneinsicht gewährt wird, dürfte 79 EuGH, Rs. 135/92 – Fiskano, Slg. 1994, I-2885 Rn. 40; Rs. 28/05 – Dokter, Slg. 2006, I5431 Rn. 75; ähnlich EuGH, Rs. 395/00 – Cipriani, Slg. 2002, I-11877 Rn. 51; EuG, Rs. 613/ 97, Slg. 2000, II-4055 Rn. 85. 80 EuGH, Rs. 209/78 – van Landewyck, Slg. 1980, 3125 Rn. 18; EuG, Rs. 199/99, Slg. 2002, II-3731 Rn. 58. 81 EuGH, Rs. 315/99 – Ismeri, Slg. 2001, I-5281 Rn. 31 f. 82 Lais, ZEuS 2002, 465. 83 EuG, Rs. 10/92, Slg. 1992, II-2667 Rn. 39; Rs. 42/96, Slg. 1998, II-401 Rn. 76; Rs. 305/ 94, Slg. 1999, II-931 Ls.27; Gundel, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 10. 84 EuGH, Rs. 85/76 - Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rn. 11. 85 Zu eng Kan´ska, ELJ 2004, 318 f. 86 Anders als in Abs. 2 lit. a findet sich in Abs. 2 lit. b keine Beschränkung auf „nachteilige“ Maßnahmen.
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sich primär nach dem Begehren des Antragstellers richten.87 Wegen der räumlichen Entfernung wird meist eine schriftliche Benachrichtigung, eventuell auch ein Internetzugang zu Daten angebracht sein. Gegebenenfalls kann ein zusammenfassender Vermerk über den wesentlichen Inhalt der Akten genügen. Das Recht auf Aktenzugang besteht gem. Art. 41 Abs. 2 lit.b GRCh nicht, wenn dem das „legitime Interesse der Vertraulichkeit sowie des Berufs- oder Geschäftsgeheimnisses“ entgegensteht.88 Das Interesse der Vertraulichkeit bezieht sich zum einen auf die Interessen der Union und gegebenenfalls der Mitgliedstaaten, weshalb die Vorlage interner Schriftstücke nicht verlangt werden kann.89 Des Weiteren bezieht sich die Vertraulichkeit auf die Interessen einzelner Betroffener, wie sie insb. durch den Schutz personenbezogener Daten gem. Art. 8 GRCh und in Art. 16 AEUV gesichert werden. Der Hinweis auf das Berufs- und Geschäftsgeheimnis macht deutlich, dass auch die Geheimhaltungsinteressen von juristischen Personen und Personenvereinigungen zu einer Einschränkung des Rechts auf Akteneinsicht führen können. Das Einsichtsrecht tritt nicht bei jedem entgegenstehenden Interesse zurück; notwendig ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung und damit eine Abwägung. So ist im Hinblick auf die Erforderlichkeit zu erwägen, ob nicht eine Fassung der Unterlagen erstellt werden kann, die das Geschäftsgeheimnis weniger beeinträchtigt und gleichwohl den Interessen der Gegenseite ausreichend Rechnung trägt.90 Generell ist eine Abwägung zwischen dem Recht aus Art. 41 Abs. 2 GRCh und den entgegenstehenden Interessen notwendig.91 3. Das Recht auf Begründung gem. Art. 41 Abs. 2 lit.c GRCh entspricht dem Recht auf Begründung nach Art. 296 Abs. 2 AEUV, worauf die Charta-Erläuterungen hinweisen. Dementsprechend wird man den Entscheidungsbegriff weit zu verstehen haben. Erfasst werden daher nicht nur individuelle, sondern auch generelle Entscheidungen.92 Weiter werden belastende und begünstigende Entscheidungen erfasst.93 Andererseits geht es nach dem klaren Wortlaut des Art. 41 Abs. 2 lit.c GRCh nur um Entscheidungen der Verwaltung. Nicht erfasst werden Akte der Gesetzgebung. 87 Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 97. 88 Ebenso EuG, Rs. 36/91, Slg. 1995, II-1847 Rn. 98; Rs. 305/94, Slg. 1999, II-931 Ls.27. Das Adjektiv „berechtigte“ in der Charta des Grundrechte-Konvents wurde durch das Adjektiv „legitime“ ersetzt. 89 EuG, Rs. 305/94, Slg. 1999, II-931 Rn. 1015; krit. Nehl, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 55 Rn. 53. 90 GA Sharpston, Rs. 450/06 – Varec, Slg. 2008, I-581 Rn. 64 ff. 91 Vgl. EuGH, Rs. 322/81 – Nederlandsche Banden, Slg. 1983, 3461 Rn. 7 f; Rs. 53/85, Slg. 1986, 1965 Rn. 28; EuG, Rs. 5/97, Slg. 2000, II-3755 Rn. 229; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 13. 92 Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak (Hg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 57 Rn. 57. 93 GA Kokott, Rs. 413/06 v. 13.12.07, Nr. 98.
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Gleiches gilt für Entscheidungen des EuGH (und des EuG), es sei denn, es geht ausnahmsweise materiell um Verwaltungstätigkeiten. Zudem können sich im Hinblick auf die Rechtsschutzgewährleistung Begründungspflichten der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht ergeben. Die Begründung soll dem Betroffenen die Wahrung seiner Rechte gegenüber der Entscheidung ermöglichen und die Rechtskontrolle der Entscheidung gewährleisten.94 Dementsprechend steht das Recht auf Begründung der fraglichen Person nur bei ihren Angelegenheiten zu. Das Recht wird beeinträchtigt, wenn keine oder nur eine unzureichende Begründung gegeben wird. Die Begründung muss in der Entscheidung selbst enthalten sein;95 ein Nachschieben von Gründen soll grundsätzlich ausgeschlossen sein.96 Der Inhalt der Begründung muss die der Entscheidung zugrunde liegenden Überlegungen in einer so klaren Weise zum Ausdruck bringen, dass der Betroffene die tragenden Gründe erkennen kann und das Gericht in die Lage versetzt wird, ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.97 Alle einschlägigen Tatsachen und rechtlichen Erwägungen sind aufzuführen.98 Andererseits beschränkt sich die Begründungspflicht auf die tragenden Gründe.99 Weiter gilt sie nur für die rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen des Urhebers, also der entscheidenden Verwaltungsbehörde. Die Auffassungen Dritter müssen nicht aufgeführt werden, auch wenn sie im Verfahren vorgetragen wurden. Die Anforderungen an die Detailliertheit fallen unterschiedlich aus: Geringer sind die Anforderungen bei einer ständigen Verwaltungsübung, höher bei Abweichungen von der laufenden Praxis.100 Hoch sind die Anforderungen zudem bei schwerwiegenden Folgen einer Entscheidung für den Betroffenen, etwa bei der Kürzung eines zunächst bewilligten Zuschusses.101 Weiter sind die Anforderungen hoch bei Ermessensentscheidungen und bei Entscheidungen mit begrenzter gerichtlicher Kontroll-
94 EuGH, Rs. 137/92 – BASF, Slg. 1994, I-2555 Rn. 66; Rs. 233/94 - Deutschland/R, Slg. 1997, I-2405 Rn. 25; Magiera, in: Meyer (Hg.), GRCh, 3. Aufl. 2011, Art. 41 Rn. 15. 95 EuGH, Rs. 240/82 – Stichting, Slg. 1985, 3831 Rn. 8. 96 Lais, ZEuS 2002, 469. 97 EuGH, Rs. 228/99 – Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 27; Rs. 41/00 – Interporc, Slg. 2003, I-2125 Rn. 55; EuG, Rs. 82/00, Slg. 2001, II-1241 Rn. 24; Gundel, in: Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 10. 98 EuGH, Rs. 41/69 – Chemiefarma, Slg. 1970, 661 Rn. 76/78; Rs. 260/91 – Diversinte, Slg. 1993, I-1885 Rn. 12 f; Gellermann, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 253 EG Rn. 10. 99 EuGH, Rs. 122/94 – K/R, Slg. 1996, I-881 Rn. 29; EuG, Rs. 5/93, Slg. 1995, II-185 Rn. 29; Rs. 206/99, Slg. 2001, II-1057 Rn. 44. 100 Gellermann, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 253 EG Rn. 11. 101 EuG, Rs. 450/93, Slg. 1994, II-1177 Rn. 52.
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dichte.102 Einschränkungen ergeben sich hingegen aus den bereits im Verwaltungsverfahren vermittelten Erkenntnissen.103
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EuGH, Rs. 185/85 – Usinor, Slg. 1986, 2079 Rn. 20 ff; Gellermann, in: Streinz (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 253 EG Rn. 13. 103 EuGH, Rs. 54/91 – Deutschland/K, Slg. 1993, I-3399 Rn. 10 f; Rs. 50/94 – Griechenland/K, Slg. 1996, I-3331 Rn. 9 f; EuG, Rs. 504/93, Slg. 1997, II-923 Rn. 53 f.
Privatisierung kommunaler Einrichtungen – eine rechtliche Bestandsaufnahme Von Karl-Hermann Kästner Allgemein wird die Aufgabe von Rechtswissenschaft und Rechtsdogmatik darin gesehen, der Rechtsanwendung und insbesondere der Rechtsprechung eine Anleitung bei der Lösung konkreter Rechtsfälle zu geben, welche über die zu entscheidenden Einzelfälle hinausreicht und in ein systematisches Gesamtkonzept eingebettet ist. Dieses Ideal eines arbeitsteiligen Austausches von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis muss jedoch versagen, soweit es der Rechtsprechung an konkreten Rechtsfällen fehlt, anhand derer Erkenntnisse der Rechtswissenschaft umgesetzt werden könnten. So liegen die Dinge bei den mit der Privatisierung kommunaler Einrichtungen verbundenen Rechtsfragen: Der Umfang der Erörterung, welche die Zulässigkeit und die Grenzen einer Privatisierung in der kaum noch zu überschauenden Literatur gefunden haben1, kontrastiert deutlich zu der Anzahl höchstrichterlicher Entschei1 Vgl. die Habilitationsschriften von Burgi, Funktionale Privatisierung und Verwaltungshilfe, 1999; Kämmerer, Privatisierung, 2001; Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, 2002; Remmert, Private Dienstleistungen in staatlichen Verwaltungsverfahren, 2003; ferner die Gutachten für den Deutschen Juristentag von Burgi, Privatisierung öffentlicher Aufgaben, Band 1 Teil D, 2008, und Ehlers, Empfiehlt es sich, das Recht der öffentlichen Unternehmen im Spannungsfeld von öffentlichem Auftrag und Wettbewerb national und gemeinschaftsrechtlich neu zu regeln?, Band 1 Teil E, 2002; monographisch auch Lämmerzahl, Die Beteiligung Privater an der Erledigung öffentlicher Aufgaben, 2007; Hellermann, Örtliche Daseinsvorsorge und gemeindliche Selbstverwaltung, 2000; Lee, Privatisierung als Rechtsproblem, 1997; v. Arnim, Rechtsfragen der Privatisierung, 1995; Däubler, Privatisierung als Rechtsproblem, 1980; Grabbe, Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatisierung kommunaler Aufgaben, 1979; das Thema war überdies mehrfach Gegenstand der Staatsrechtslehrertagung: Ossenbühl, VVDStRL 1971 (29), 137; Gallwas, VVDStRL 1971 (29), 211; Hengstschläger, VVDStRL 1995 (54), 165; Osterloh, VVDStRL 1995 (54), 204; Bauer, VVDStRL 1995 (54), 243; Jaag, VVDStRL 1995 (54), 287; Heintzen, VVDStRL 2002 (62), 220; Voßkuhle, VVDStRL 2002 (62), 266; aus der Kommentarund Handbuchliteratur Burgi, in: Isensee/Kirchhof, HbStR IV, 3. Aufl., 2006, § 75; ders., in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 10 Rn. 7 ff.; Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 89 bis § 95; aus der Aufsatzliteratur Katz, NVwZ 2010, 405; Kahl/Weißenberger, JURA 2009, 194; Wieland, NdsVBl. 2009, 33; Kämmerer, DVBl. 2008, 1005; ders., JZ 1996, 1042; Gersdorf, JZ 2008, 831; F. Kirchhof, FS Rengeling, 2008, 127; Schoch, JURA 2008, 672; ders., DVBl. 1994, 962; ders., DVBl. 1994, 1; Stober, NJW 2008, 2301; G. Kirchhof, AöR 2007 (132), 215; Langrehr, FS Faber, 2007, 89; Dreier, DÖV 2002, 537; Mayen, DÖV 2001, 110; Di Fabio, JZ 1999, 585; Ronellenfitsch, DÖV 1999, 705; Peine, DÖV 1997, 353; Hofmann, VBlBW 1994, 121; Lecheler, BayVBl. 1994, 555; Graf Vitzthum, AöR 1979 (104), 580.
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dungen, die sich mit dieser Frage beschäftigen2. Dies überrascht auch deshalb, weil in der kommunalen Praxis die Tendenz zur Privatisierung kommunaler Einrichtungen aufgrund der anhaltenden Finanznot der Gemeinden und weiterhin wachsenden Aufgaben ungebrochen ist und weil gerade im Bereich der kommunalen Daseinsvorsorge ein Schwerpunkt der gegenwärtigen Privatisierungsvorhaben ausgemacht werden kann3. Allerdings finden die für Privatisierungen vorgebrachten Gründe4 –vor allem vermeintliche Effizienzgewinne durch privatrechtliche Organisations- und Handlungsformen, eine erhoffte Einbindung privaten Sachverstandes und die Vermeidung des öffentlichen Dienstrechts – nicht mehr ungeteilten Zuspruch; im Zeichen der globalen Wirtschaftskrise werden vielmehr zunehmend Rufe nach einer stärkeren Rolle des Staates laut, was sich in Tendenzen zur Rekommunalisierung niederschlägt5. Umso mehr Aufmerksamkeit hat deshalb die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Mai 2009 erfahren, in der das Gericht die Privatisierung des Offenbacher Weihnachtsmarktes wegen Verstoßes gegen Verfassungs- und hessisches Kommunalrecht für unzulässig erklärt hat6. Dass diese Entscheidung fast durchweg auf zum Teil heftige Ablehnung gestoßen ist7, dürfte wesentlich daran liegen, dass das Bundesverwaltungsgericht das Angebot der Rechtswissenschaft in Gestalt einer ausdifferenzierten und mittlerweile auch konsolidierten Privatisierungsdogmatik nur ansatzweise aufgegriffen8 sowie auf methodisch fragwürdige Weise aus der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG eine Selbstverwal2 Dies konstatiert auch Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 7. – Zu nennen wären hier insbesondere BerlVerfGH, LVerfGE 10, 96, zur Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe (dazu Hecker, VerwArch 2001 [92], 261; Ochmann, Rechtsformwahrende Privatisierung von öffentlich-rechtlichen Anstalten, 2005), BremStGH, NVwZ 2003, 81, zu Fragen der Beleihung im Bereich der Leistungsverwaltung, sowie SächsOVG, SächsVBl. 2005, 14, zur Privatisierung der Wasserversorgung. 3 Zu letzterem Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR I, 2006, § 12 Rn. 99. 4 Vgl. Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 9; zu den Gründen und Zielen von Privatisierungsmaßnahmen ferner Schoch, JURA 2008, 672 (674); Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR I, 2006, § 1 Rn. 59; Schliesky, Die Gemeinde 2005, 34 (36 f.). 5 Dazu Brüning, VerwArch 2009 (100), 453; gegen Privatisierungen sprechende Argumente werden auch genannt bei Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 1), § 89 Rn. 39. 6 BVerwG, DVBl. 2009, 1382, mit Anm. Ehlers, DVBl. 2009, 1456; Winkler, JZ 2009, 1169; Schönleiter, GewArch 2009, 485, und Braun, KommJur 2009, 426; so nunmehr im Anschluss auch die Vorinstanz HessVGH, DÖV 2010, 184; anders noch die mit dem Urteil vom 27. 5. 2009 aufgehobene Berufungsentscheidung HessVGH, DÖV 2008, 607. 7 So insbesondere Schoch, DVBl. 2009, 1533; ferner Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81; Ehlers, DVBl. 2009, 1456; differenzierend Stein, DVBl. 2010, 563; Katz, NVwZ 2010, 405; zustimmend Schönleiter, GewArch 2009, 485. 8 Eine „weitgehende Ignoranz“ gegenüber der in der Literatur entwickelten Privatisierungsdogmatik konstatiert Burgi, Kommunalrecht, 3. Aufl., 2010, § 17 Rn. 85; methodische Kritik üben ferner Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1535 f.); Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 (83 ff.); Donhauser, NVwZ 2010, 931 (933); Winkler, JZ 2009, 1169 (1170): „eigentümlich folkloristisch“.
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tungspflicht und verfassungsunmittelbare Privatisierungsschranke hergeleitet hat. Der vorliegende Beitrag nimmt diese Entscheidung zum Anlass, einige mit der Privatisierung kommunaler Einrichtungen verbundene verfassungs- und verwaltungsrechtliche Fragen, die zugleich „tägliches Brot“ der kommunalen Verwaltungspraxis sind, in den von der Rechtsdogmatik aufbereiteten größeren Zusammenhang zu stellen. I. Typologie der Privatisierungsformen In der Rechtswissenschaft hat sich heute ein dreiteiliges (bzw. – bei Einbeziehung der Vermögensprivatisierung – vierteiliges) Begriffsraster zur Einteilung der Privatisierungsarten eingebürgert: die Organisations- bzw. formelle Privatisierung, sodann als deren Gegenpol die Aufgaben- bzw. materielle Privatisierung, die auch als Erfüllungsprivatisierung bezeichnete funktionale Privatisierung und – sofern man diese als eigenständige Privatisierungsform anerkennt – die Vermögensprivatisierung9. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um Rechtsbegriffe, und es resultieren hieraus auch keine unmittelbaren Rechtsfolgen; dieses Begriffsschema ist als Produkt der auf Systematisierung bedachten Rechtswissenschaft zunächst nur von heuristischem Wert. Doch besagt dies nicht, dass es an einer normativen Dimension schlechthin fehlt. Die Diskussion um die „Ordnungsidee“ des Allgemeinen Verwaltungsrechts10 hat gezeigt, dass dessen Rechtsbegriffen die Funktion zukommt, als „Speicher“ für eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsfolgen zur Verfügung zu stehen,
9 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 23 Rn. 61; Schoch, JURA 2008, 672 (676); ders., DVBl. 1994, 962 (962 f.); Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., 2008, § 1 VwVfG Rn. 124 ff.; Geis, Kommunalrecht, 2008, § 12 Rn. 100; ohne Nennung der funktionalen Privatisierung Ronellenfitsch, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 2 Rn. 15 ff.; Krebs, in: Isensee/Kirchhof, HbStR V, 3. Aufl., 2007, § 108 Rn. 14; Remmert, Private Dienstleistungen (Fußn. 1), 189 f.; Bauer, VVDStRL 1995 (54), 243 (251); ebenso bereits Graf Vitzthum, AöR 1979 (104), 580 (588 ff., 593 ff.); unter Weglassung der Vermögensprivatisierung Stober, NJW 2008, 2301 (2302); Gersdorf, JZ 2008, 831 (831 f.); Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 6 ff.; F. Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Januar 2009), Art. 83 Rn. 99; Schliesky, Die Gemeinde 2005, 34 (36); Ipsen, FS Rengeling, 2008, 75 (75); zum Gesamten ferner Schulze-Fielitz, in: GVwR I (Fußn. 3), § 12 Rn. 108 ff., der diesen „Idealtypen“ unter Rn. 113 ff. eine Vielzahl an „Realtypen“ gegenüberstellt, die aus der Kombination und einer lediglich teilweisen Verwirklichung der Idealtypen resultieren. – Andere Typologie nunmehr bei Burgi, der in seinem Gutachten zum 67. Deutschen Juristentag 2008 Aufgabenprivatisierung, Public-Private-Partnership (PPP) auf Vertragsbasis und andere Formen der funktionalen Privatisierung, Institutionalisierte PPP sowie Beleihung und Akkreditierung unterscheidet (Burgi, Gutachten D [Fußn. 1], D 28 ff., D 32 ff.). Eine abweichende Typologie findet sich auch bei Gregor Kirchhof, der ausgehend von den Rechtsfolgen zwischen Privatisierung der Handlungsform, Privatisierung der Organisationsform, Privatisierung der ausführenden Hand, Privatisierung der Aufgabe und Privatisierung der Verantwortung unterscheidet (G. Kirchhof, AöR 2007 [132], 215 [232 ff., 236 ff.]). 10 Grundlegend Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2006.
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auf die dann vom Besonderen Verwaltungsrecht zurückgegriffen werden kann11. In diesem Sinne ist auch die obige Typologie als „Speicher“ für jeweils unterschiedliche Fragen der Zulässigkeit und Grenzen von Privatisierungen zu verstehen12. Allgemein kann Privatisierung definiert werden als „Transfer von bisher vom Staat wahrgenommenen Aufgaben auf Private“13. Allerdings stellt dies angesichts der genannten Privatisierungsformen nur eine „Grobdefinition“ dar, welche für jede Privatisierungsform der Konkretisierung und Differenzierung bedarf. Leider trägt der in § 7 Abs. 1 S. 2 BHO verwendete Privatisierungsbegriff hierzu nichts bei, da bereits semantisch unklar ist, wie sich die dort genannten Begriffe der „Ausgliederung“, „Entstaatlichung“ und „Privatisierung“ zueinander verhalten14. 1. Organisationsprivatisierung a) Erscheinungsformen Die Organisations- (oder formelle) Privatisierung ist dadurch gekennzeichnet, dass eine bislang unmittelbar vom Staat (bzw. von der Gemeinde) wahrgenommene Aufgabe auch weiterhin von dieser wahrgenommen wird, jedoch nunmehr in einer privatrechtlichen Organisationsform15. Hierbei sind die Eigengesellschaften, d. h. juristische Personen des Privatrechts, die vollständig im Eigentum des Staates bzw. der Gemeinde stehen16, und die gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften, an denen auch private Anteilseigner beteiligt sind, zu unterscheiden17. Der Betrieb kommunaler Ein11 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fußn. 10), Rn. 1/4; am Beispiel des Verhältnisses von Verwaltungshilfe und funktionaler Privatisierung auch F. Kirchhof, in: FS Rengeling (Fußn. 1), 130 f. 12 Zur diesbezüglichen Bedeutung des Allgemeinen Verwaltungsrechts Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 7. 13 So Remmert, Private Dienstleistungen (Fußn. 1), 189. 14 § 7 Abs. 1 S. 2 BHO verpflichtet bei Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten „durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können“. Unklar ist hier, ob „Privatisierung“ der Gegenbegriff zum Begriffspaar „Ausgliederung und Entstaatlichung“ oder Ausgliederung der Gegenbegriff zum Begriffspaar „Entstaatlichung oder Privatisierung“ ist. Dazu Kämmerer, Privatisierung (Fußn. 1), 8 f. 15 Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 11; Schmitz, in: VwVfG (Fußn. 9), § 1 VwVfG Rn. 124; monographisch Mann, Die öffentlich-rechtliche Gesellschaft, 2002. 16 Hellermann, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 7 Rn. 91; vgl. ferner die Legaldefinition in § 92 Abs. 2 Nr. 3 BbgKVerf: „Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit in einer Form des Privatrechts, deren Anteile vollständig der Gemeinde gehören (Eigengesellschaften)“; ähnlich § 108 Abs. 2 Nr. 2 NdsGO. 17 Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 92 Rn. 38; Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 14; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 9), § 23 Rn. 61; Oebbecke, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 8 Rn. 4. – Da die Gemeindeordnungen die Errichtung eines
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richtungen in privatrechtlicher Rechtsform weist bereits eine lange Tradition auf. Dabei bilden Eigen- und gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften als „öffentliche Unternehmen“ der Gemeinden18 den wichtigsten Anwendungsfall der kommunalen Privatisierungspraxis. Das Betätigungsfeld dieser öffentlichen Unternehmen umfasst sowohl den Bereich kommunaler Wirtschaftstätigkeit als auch nichtwirtschaftliche Betätigungsfelder, insbesondere auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge19, etwa Unternehmen der Versorgung mit Strom und Wasser sowie der Entsorgung und Unternehmen in den Bereichen Verkehr, Soziales und Kultur20. Grund für Organisationsprivatisierungen war und ist eine von der Privatrechtsform erhoffte höhere Wirtschaftlichkeit der Aufgabenwahrnehmung, eine größere Flexibilität der zu treffenden unternehmerischen Entscheidungen und die Überwindung der Bindungen des öffentlichen Dienstrechts. Bei gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften kommt hinzu die Einbindung privaten Sachverstands und Kapitals.
Unternehmens in einer Rechtsform des privaten Rechts nur erlauben, wenn die Haftung der Gemeinde begrenzt wird (beispielsweise § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 GemO BW), kommen praktisch nur die GmbH und mit deutlichem Abstand die Aktiengesellschaft in Betracht. Der Nachrang der Aktiengesellschaft findet seinen Ausdruck ferner in § 103 Abs. 2 GemO BW, wonach die Gemeinde ein Unternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft nur errichten, übernehmen oder sich daran beteiligen darf, wenn der öffentliche Zweck des Unternehmens nicht ebenso gut in einer anderen Rechtsform erfüllt wird oder erfüllt werden kann. – Neben GmbH und Aktiengesellschaft finden auch weitere privatrechtliche Organisationsformen Verwendung, so etwa im Kulturbereich der eingetragene Verein, der jedoch eine Beteiligung weiterer Mitglieder voraussetzt. 18 Zum Begriff der „öffentlichen Unternehmen“ Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 13; ders., Kommunalrecht (Fußn. 8), § 17 Rn. 4; ferner Püttner, Die öffentlichen Unternehmen, 2. Aufl., 1985; Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, 2000; Storr, Der Staat als Unternehmer, 2001. 19 Zu dieser Abgrenzung Ronellenfitsch/Stein, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 4 Rn. 1 ff., 4 ff.; zum Begriff der wirtschaftlichen Betätigung ferner Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl., 2009, Rn. 294 ff. – Dazu, dass sich die Kategorien der kommunalen Wirtschaftstätigkeit und des Betreibens öffentlicher Einrichtungen, insbesondere solcher der Daseinsvorsorge, nicht ausschließen, Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Schmidt-Aßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2008, 1. Kap. Rn. 116. – Zu beachten ist ferner, dass die Gemeindeordnungen die Abgrenzung wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Betätigung nicht als trennscharfe konzipiert haben, sondern sich hier regelmäßig der Fiktion bedienen und bestimmte Betätigungsbereiche als nichtwirtschaftlich definieren (so nach § 102 Abs. 4 GemO BW Unternehmen, zu deren Betrieb die Gemeinde gesetzlich verpflichtet ist [Nr. 1], Einrichtungen des Unterrichts-, Erziehungsund Bildungswesens, der Kunstpflege, der körperlichen Ertüchtigung, der Gesundheits- und Wohlfahrtspflege sowie öffentliche Einrichtungen ähnlicher Art [Nr. 2], und Hilfsbetriebe, die ausschließlich zur Deckung des Eigenbedarfs der Gemeinde dienen [Nr. 3]). Zudem verzichten einzelne Gemeindeordnungen inzwischen völlig auf diese Abgrenzung (so §§ 86 ff. bayGO). 20 Hierzu Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 17), § 92 Rn. 28 ff.
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b) Einflusssicherung als zentrales Problem der Organisationsprivatisierung Da die Errichtung einer Eigengesellschaft die gemeindliche Aufgabenträgerschaft unberührt lässt, wechselt die Gemeinde gewissermaßen nur das organisatorische „Kleid“, in welchem sie die Aufgabe wahrnimmt21, weshalb diese Form der Privatisierung teilweise auch als „unechte“ bezeichnet wird22. Zentrales Problem der Organisationsprivatisierung ist die Sicherung des gemeindlichen Einflusses auf die Gesellschaft, da rechtlich verselbständigte Verwaltungsträger die Tendenz haben, sich vom Muttergemeinwesen auch politisch zu emanzipieren. Diese Probleme potenzieren sich bei der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft, da hier zugleich private Anteilseigner vorhanden sind, welche ebenfalls auf die Gesellschaft Einfluss nehmen und nicht der staatlichen Handlungsrationalität verpflichtet sind, sondern ihrem privaten Gewinnstreben folgen. Der hier aufbrechende Zielkonflikt bedarf stets der Austarierung im Einzelfall durch Wahl geeigneter Organisationsformen und entsprechender vertraglicher Gestaltung. Aufgrund dieser Steuerungsschwierigkeiten kommunaler Gesellschaften haben verschiedene Bundesländer in den vergangenen Jahren die überkommenen Formen kommunaler Wirtschaftstätigkeit in Gestalt des Eigenund Regiebetriebs23 um neue öffentlich-rechtliche Organisationsformen ergänzt, die den Gemeinden als Alternative zur Organisationsprivatisierung dienen sollen24. c) Abgrenzung zum Begriff der Public-Private-Partnership Die gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft bedarf ferner der Abgrenzung zu dem quer zur Privatisierungstypologie liegenden Begriff der Public-Private-Partnership (PPP) bzw. Öffentlich-Privaten-Partnerschaft (ÖPP)25. Diesem Begriff, der insbesondere in den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften zum quasi omnipräsen-
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Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 1), § 89 Rn. 14. Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 1), § 89 Rn. 14. 23 Zu diesen Organisationsformen Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 22 ff., 31 ff. 24 Vorreiter war Bayern mit dem „Kommunalunternehmen“ in Art. 89 – 91 bayGO; Ermächtigungen zur Errichtung rechtsfähiger Anstalten des öffentlichen Rechts finden sich jetzt ferner in §§ 113a-g NdsGO; § 114a GO NRW; §§ 86a, 86b GemO Rh-Pf; § 116 Abs. 1 GO LSA; § 106a GO Schl-H und § 94 BbgKVerf; dazu jeweils m.w.N. Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 62 ff.; Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 126; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), Rn. 307; Waldmann, NVwZ 2008, 284. 25 Aus der mittlerweile sehr umfangreichen Literatur Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 162 ff.; Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 93; Bauer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR II, 2008, § 36 Rn. 42 ff.; Budäus/Eichhorn, Public Private Partnership, 1997; Tettinger, NWVBl. 2005, 1; Ziekow, VerwArch 2006 (97), 626; Hetzel/Früchtl, BayVBl. 2006, 649; Mehde, VerwArch 2000 (91), 540; Habersack, ZGR 1996, 544. 22
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ten Modewort geworden ist26, kommt keine normative Aussagekraft zu, da er ausschließlich zur beschreibenden Zusammenfassung verschiedenartiger Formen der Kooperation des Staates mit Privaten dient27. Als Hauptformen werden unterschieden die Vertrags-PPP und die institutionalisierte PPP28. Während letztere das Zusammenwirken von Staat und Privaten in einem gemeinsam getragenen Rechtssubjekt bezeichnet und deckungsgleich ist mit dem Begriff der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft, fallen unter die Vertrags-PPP höchst unterschiedliche Vertragsformen, welche zumeist die Einbeziehung Privater im Rahmen funktionaler Privatisierung zum Gegenstand haben29. Da diese Begriffe gegenüber der Privatisierungstypologie keine eigenständige Strukturierungsleistung erbringen, ist auf sie im Folgenden nicht näher einzugehen. d) Abgrenzung zur Beleihung Wenn teilweise zur Organisations- bzw. formellen Privatisierung auch die Beleihung gerechnet wird30, so kann sich diese Ansicht darauf stützen, dass dort ebenfalls eine natürliche oder juristische Person des Privatrechts staatliche Aufgaben im eigenen Namen wahrnimmt. Indes ist diese Einordnung insofern irreführend, als die Gleichsetzung mit der Errichtung von Eigen- oder gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaften nicht hinreichend in Betracht zieht, dass der Beliehene gerade zum Einsatz spezifisch hoheitlicher Handlungsformen berechtigt ist31. Zudem kann die Beleihung bei Vorhandensein entsprechender Rechtsgrundlagen auch im Rahmen einer funktionalen Privatisierung zum Einsatz kommen, woran deutlich wird, dass die Beleihung weniger auf die Organisations-, als vielmehr auf die Handlungsform bezogen ist, in der staatliche Aufgaben durch Private wahrgenommen werden, und somit quer liegt zur obigen Privatisierungstypologie. Der Streit um die zutreffende Einordnung kann
26 Dazu die bei Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 25), § 93 vor Rn. 1, nachgewiesene Literatur. 27 Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 166; ferner Schulze-Fielitz, in: GVwR I (Fußn. 3), § 12 Rn. 96: „Empirischer Sammel-Begriff“; ähnlich Battis/Kersten, LKV 2006, 442 (443): „typologische(r) Sammel- und Kompaktbegriff für sehr unterschiedliche Kooperationsmodelle zwischen privater und öffentlicher Hand bei der Gewährleistung, Finanzierung und Durchführung öffentlicher Aufgaben“; positiver in der Bewertung Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 25), § 93 Rn. 4. 28 Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 167; Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 25), § 93 Rn. 31. 29 Zu den Erscheinungsformen die Übersicht bei Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 25), § 93 Rn. 7 ff. 30 So Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 25; anders Burgi, Gutachten D (Fußn. 1), D 29. 31 Zur Beleihung, die in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erlebt hat (dazu Brüning, SächsVBl. 1998, 201; Stadler, Die Beleihung in der neueren Bundesgesetzgebung, 2002), allgemein Burgi, FS Maurer, 2001, 581; Freitag, Das Beleihungsrechtsverhältnis, 2005; Schmidt am Busch, DÖV 2007, 533; Steiner, FS R. Schmidt, 2006, 293; Weisel, Das Verhältnis von Privatisierung und Beleihung, 2003.
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hier indes dahinstehen, da die Beleihung beim Betrieb kommunaler Einrichtungen keine Rolle spielt32. 2. Aufgabenprivatisierung a) Erscheinungsformen Gegenpol zur Organisationsprivatisierung ist die materielle bzw. Aufgabenprivatisierung. Hier entledigt sich der Staat nach allgemeiner Definition vollständig einer bislang von ihm wahrgenommenen Aufgabe und überträgt diese auf einen Privaten bzw. überlässt die Aufgabe privater Betätigung33. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass hier in vielen Fällen eine vollständige Entledigung gerade nicht stattfindet, sondern sich der Staat eine Garantenstellung für die ordnungsgemäße Erbringung der privaten Leistung vorbehält; das ist vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen unterschiedlichen Verantwortungsstufen bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben zu sehen und unter dem Stichwort des „Gewährleistungsstaates“ in jüngster Zeit umfangreich erörtert worden34. Weiterhin ist zu bedenken, dass der Begriff der staatlichen (bzw. gemeindlichen) Aufgabe möglicherweise relativ ist, soweit innerhalb einer bestimmten Aufgabe (etwa dem Betrieb eines kommunalen Schwimmbades) Unter- bzw. Teilaufgaben gebildet werden können (etwa Reinigung des Schwimmbades durch private Reinigungskräfte). Eine solche Privatisierung von Unter- bzw. Teilaufgaben durchführenden oder vorbereitenden Charakters ist Gegenstand der funktionalen Privatisierung. Im Übrigen werden den Privaten hier nicht eigentlich staatliche Aufgaben übertragen; vielmehr verändern diese, sobald ihre Erfüllung vom Staat vollständig aufgegeben wird, ihren Charakter und wechseln aus staatlicher Gebundenheit in gesellschaft32 Demgegenüber ist eine Beleihungsermächtigung enthalten in § 85 Abs. 6 GO Rh-Pf, wonach die Gemeinde durch Satzung, die der Genehmigung der Aufsichtsbehörde bedarf, „juristischen Personen des Privatrechts, an denen ausschließlich sie und andere kommunale Körperschaften beteiligt sind, das Recht verleihen (kann), bei der Erfüllung von einzelnen Selbstverwaltungsaufgaben an ihrer Stelle tätig zu werden, wenn Gründe des Gemeinwohls nicht entgegenstehen“. 33 Dazu Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 94 Rn. 1. 34 Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, 400 ff., 917 ff. und passim; ders., Die Verwaltung 1998 (31), 415; Trute, in: Schuppert, Jenseits von Privatisierung und „schlankem“ Staat, 1999, 13; Voßkuhle, VVDStRL 2002 (62), 266 (268 ff., 304 ff.); Kämmerer, Privatisierung (Fußn. 1), 474 ff.; Weiß, Privatisierung (Fußn. 1), 291 ff.; aus der mittlerweile sehr umfangreichen Literatur ferner Britz, Die Verwaltung 2004 (37), 145; Franzius, Gewährleistung im Recht, 2009; ders., Der Staat 2003 (42), 493; ders., VerwArch 2008 (99), 351; Glöckner, Kommunale Infrastrukturverantwortung und Konzessionsmodelle, 2009; Hoffmann-Riem, FS Vogel, 2000, 47; ders., in: Bauer/Czybulka/Kahl/Voßkuhle, FS R. Schmidt, 2006; Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004; Linke, Die Gewährleistung des Daseinsvorsorgeauftrags im öffentlichen Personennahverkehr, 2010; Masing, VerwArch 2004 (95), 151; Ruge, Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State, 2004; Schoch, NVwZ 2008, 241; Schuppert, Der Gewährleistungsstaat, 2005; Waechter, Verwaltungsrecht im Gewährleistungsstaat, 2008.
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liche Freiheit: Sofern eine vom Staat aufgegebene Aufgabe von gesellschaftlichen Kräften übernommen wird, machen die Privaten von ihrer wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit Gebrauch. Hiervon zu unterscheiden ist der sogleich zu betrachtende Fall, dass der Staat zwar die Erfüllung einer Aufgabe vollständig aufgibt, sich jedoch Möglichkeiten vorbehält, auf die Betätigung der Privaten Einfluss zu nehmen. b) Aufgabenprivatisierung und Gewährleistungsverantwortung Will man den zuletzt genannten Befund adäquat würdigen, muss er vor dem Hintergrund des grundlegenden Wandels betrachtet werden, den die Staatsaufgabenlehre im Lichte der Herausbildung unterschiedlicher Verantwortungsstufen staatlicher Aufgabenwahrnehmung erfahren hat. Danach sind vereinfacht gesprochen eine Erfüllungs-, Gewährleistungs- und Auffangverantwortung zu unterscheiden35: Da der Staat aufgrund schwindender finanzieller Ressourcen bei gleichzeitig wachsenden Aufgaben nicht mehr alle Leistungen selbst erbringen kann, was einer staatlichen Erfüllungsverantwortung entspräche, zieht er sich auf eine Gewährleistungsverantwortung zurück, d. h. er hat dafür zu sorgen, dass entsprechende Leistungen von Privaten in gemeinwohlkonformer Weise erbracht werden. Subsidiär kommt dem Staat eine Auffangverantwortung zu, wenn die Leistung durch Private nicht oder nicht zufriedenstellend erbracht wird. Die Gewährleistungsverantwortung, die teilweise als Paradigmenwechsel im Verständnis der Daseinsvorsorge gesehen wird, äußert sich primär in Regulierung, d. h. in rechtlichen Vorgaben an die Erbringung von Leistungen durch Private36. Die verbreitete und teilweise auch von der Politik propagierte Gleichsetzung von Privatisierung und Deregulierung ist insofern irreführend, als Privatisierung jedenfalls dann, wenn dem Staat eine Gewährleistungsverantwortung zukommt, nicht weniger, sondern mehr bzw. neuartige Regulierung erfordern kann. Der Staat darf sich dann zwar dauerhaft von Aufgaben trennen und diese Privaten überlassen; er behält jedoch möglicherweise nach Maßgabe seiner Gewährleistungsverantwortung die Pflicht, regulierend auf deren Tätigkeit einzuwirken. Daher ist dem Recht der Privatisierung ein Privatisierungsfolgenrecht – verstanden als Recht zur gemeinwohlkonformen Regulierung der Privatisierungsfolgen – zur Seite zu stellen37, dessen Ausgestaltung regelmäßig über die Rechtmäßigkeit bzw. Zulässigkeit der Privatisierung insgesamt entscheidet. Ob dem Staat bzw. der Gemeinde eine Gewährleistungsverantwortung zukommt, ist dabei für jede Sachmaterie im Einzelfall zu bestimmen.
35 Dazu jeweils m.w.N. und weiterer Differenzierung Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (Fußn. 10), Rn. 3/109 ff.; Schulze-Fielitz, in: GVwR I (Fußn. 3), § 12 Rn. 148 ff.; Schuppert, Verwaltungswissenschaft (Fußn. 34), 404 ff.; Schoch, NVwZ 2008, 241 (244). 36 Schoch, NVwZ 2008, 241 (245). 37 Bauer, VVDStRL 1995 (54), 243 (277 ff.); Kämmerer, Privatisierung (Fußn. 1), 426 ff.; Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 28 ff.; ders., NVwZ 2001, 601.
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3. Funktionale Privatisierung a) Erscheinungsformen Die funktionale Privatisierung steht zwischen Organisations- und Aufgabenprivatisierung und bezeichnet den Fall, dass eine Aufgabe nicht vollständig Privaten überlassen wird, sondern dies bloß für einzelne Teile der Aufgabe geschieht38. Damit sind einerseits Fallkonstellationen erfasst, die früher mit dem Begriff des „Verwaltungshelfers“ bezeichnet wurden39. Andererseits reicht der Begriff der funktionalen Privatisierung insoweit weiter, als er auch Tätigkeiten umfasst, die selbständig, aber unter Aufsicht und Gesamtverantwortung der übertragenden staatlichen Körperschaft wahrgenommen werden. Darunter fallen insbesondere Funktionen, die der Vorbereitung oder Durchführung einer Verwaltungsmaßnahme dienen. Die Spanne der funktionalen Privatisierung reicht deshalb vom Abschleppunternehmer im Dienste der Polizei bis hin zu privaten Planungsbüros, welche im Rahmen der Bauleitplanung Planentwürfe erarbeiten, und der Beratung staatlicher Stellen durch Sachverständige aller Art40. Dabei differiert das Maß der Selbständigkeit des Verwaltungshelfers notwendigerweise jeweils nach der Art der übertragenen Aufgabe. Gemeinsam ist allen Formen der funktionalen Privatisierung die Gesamtverantwortung, welche der Staat bzw. die Gemeinde für das Ergebnis trägt41. Wenn gerade Formen funktionaler Privatisierung im kommunalen Bereich besonders häufig sind, liegt dies wesentlich an der Flexibilität dieses Rechtsinstitutes; es ermöglicht nicht nur, variabel zu bestimmen, welche Aufgabenteile in welcher Form Privaten zur Vorbereitung oder Durchführung übertragen werden, sondern bietet zugleich einen Mittelweg zwischen einem mit der Aufgabenprivatisierung verbundenen vollständigen Rückzug von der Aufgabe und einer Beibehaltung der vollen Aufgabenträgerschaft in lediglich veränderter Organisationsform42. 38 Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 31; monographisch ders., Funktionale Privatisierung (Fußn. 1). 39 Nach herkömmlichem, vom Amtshaftungsrecht geprägtem Verständnis ist der Verwaltungshelfer durch sein unselbständiges und weisungsgebundenes Handeln gekennzeichnet (dazu m.w.N. Wieland, in: Dreier, GG II, 2. Aufl., 2007, Art. 34 Rn. 40). Damit sollte begründet werden, dass das Handeln des Verwaltungshelfers im Rahmen der sog. Werkzeugtheorie dem beauftragenden Verwaltungsträger haftungsrechtlich zuzurechnen ist. Nachdem im Amtshaftungsrecht die Werkzeugtheorie zwischenzeitlich aufgegeben wurde (grundlegend BGHZ 121, 161 [165 f.]; weitergehend teilweise die Literatur, die maßgeblich auf die Rolle als Erfüllungsgehilfe abstellt – etwa Wieland, in: GG II [Fußn. 39], Art. 34 Rn. 40, und Papier, in: Maunz/Dürig [Januar 2009], Art. 34 Rn. 113), findet das Erfordernis der Unselbständigkeit dort keine Stütze mehr und ist für die Figur des Verwaltungshelfers insgesamt aufzugeben (so auch Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht [Fußn. 1], § 10 Rn. 32; Stober, in: Wolff/Bachof/ Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 91 Rn. 1 ff.; kritisch F. Kirchhof, in: FS Rengeling [Fußn. 1], 132 f., der im organisationsrechtlichen Kontext für eine Beibehaltung des Kriteriums der Unselbständigkeit plädiert). 40 Zu diesen Beispielen Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 31. 41 Schoch, JURA 2008, 672 (678 f.). 42 So zu Recht Burgi, NVwZ 2001, 601 (603).
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b) Betreiber-, Betriebsführungs- und Konzessionsmodell Neben allgemeinen vertraglichen Formen, die im Rahmen funktionaler Privatisierung zum Einsatz kommen, haben sich insbesondere für den Betrieb kommunaler Einrichtungen verschiedene Modelle der Einbeziehung Privater herausgebildet: das Betreiber-, Betriebsführungs- und Konzessionsmodell43. Während beim Betreibermodell ein Privater gegen ein von der Gemeinde zu zahlendes Entgelt Planung, Bau, Finanzierung und Betrieb der Einrichtung übernimmt, bleibt die Gemeinde beim Betriebsführungsmodell selbst Betreiber der Einrichtung, wohingegen der Private lediglich die Betriebsführung nach Weisung und im Namen der Gemeinde übernimmt. Bei den soeben genannten Modellen bestehen Rechtsbeziehungen der Nutzer der Einrichtung ausschließlich gegenüber der Gemeinde als Trägerin44; demgegenüber betreibt beim Konzessionsmodell der Private, der hierfür regelmäßig eine Konzessionsabgabe an die Gemeinde zu zahlen hat, die Einrichtung im eigenen Namen und auf eigene Rechnung45. Er tritt bei diesem Modell daher selbst in eine unmittelbare Rechtsbeziehung zu den Nutzern, die ihm auch das Entgelt für die erbrachten Leistungen schulden. In der Literatur ist bezweifelt worden, ob das Konzessionsmodell noch der funktionalen oder nicht vielmehr der Aufgabenprivatisierung zuzurechnen ist46; diese Frage wird insbesondere dann relevant, wenn man kommunale Pflichtaufgaben zwar einer funktionalen Privatisierung für zugänglich hält, nicht jedoch einer Aufgabenprivatisierung47. Für eine Aufgabenprivatisierung spricht zwar, dass sich die Gemeinde beim Konzessionsmodell so weit aus der Aufgabenwahrnehmung zurückzieht, dass dem Nutzer rechtlich nur noch der Konzessionär gegenüber tritt. Andererseits wird die Konzession regelmäßig befristet erteilt, so dass die Gemeinde neben der Möglichkeit, den Inhalt der Konzession vertraglich auszugestalten, auch das Recht – und bei Schlechterfüllung zugleich die Pflicht – hat, die Konzession an einen anderen Konzessionär zu vergeben. Der Gemeinde verbleiben damit Einflussmöglichkeiten in einem Maße, welches der Annahme entgegensteht, sie habe sich der Aufgabe vollständig entledigt und sei darauf angewiesen, im Rahmen der allgemeinen Gesetze regulierend auf den Privaten einzuwirken.
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Dazu mit weiterer Differenzierung Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 190 ff.; Tettinger, NWVBl. 2005, 1 (3 f.), wo ferner Betriebsüberlassungs-, Kurzzeit-Betreiber-, Kooperations-, Management- und Beratungsmodelle genannt werden. 44 So das Verständnis der Literatur zum Betreibermodell; demgegenüber scheint das BVerwG davon auszugehen, dass im Rahmen eines Betreibermodells der Betrieb der Einrichtung auch dergestalt einem Privaten übertragen werden kann, dass Rechtsbeziehungen nur noch zwischen ihm und den Nutzern bestehen (BVerwGE 123, 159 [164]; dazu Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen [Fußn. 16], § 7 Rn. 190). 45 Allgemein zur Dienstleistungskonzession Burgi, Gutachten D (Fußn. 1), D 36 f.; Ruhland, Die Dienstleistungskonzession, 2006. 46 So Püttner, LKV 1994, 193 (195). 47 Dazu etwa Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 182.
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c) Vergaberechtliche Folgefragen Die funktionale Privatisierung wirft im Rahmen der Auswahl des beauftragten Privaten eine Vielzahl vergaberechtlicher Folgefragen auf, die wesentlich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestimmt werden und bislang nicht restlos geklärt sind; im Folgenden können sie nur angedeutet werden48. Danach fallen unter das Vergaberecht grundsätzlich sämtliche Formen der Verwaltungshilfe, welche auf einem entgeltlichen Vertragsverhältnis zum öffentlichen Auftraggeber beruhen (vgl. § 99 Abs. 1 GWB), nicht hingegen die Dienstleistungskonzession, da dieser kein entgeltliches Vertragsverhältnis zu Grunde liegt49. 4. Vermögensprivatisierung a) Erscheinungsformen Als weitere Privatisierungsart wird die Vermögensprivatisierung genannt. Inwieweit dieser gegenüber den unter 1. bis 3. genannten Arten eigenständige Bedeutung zukommt, ist differenziert zu beantworten: Sofern eine Gemeinde lediglich Vermögensgegenstände ohne Bezug zur Wahrnehmung konkreter kommunaler Aufgaben an Private veräußert („Verkauf des Tafelsilbers“), ergeben sich keine spezifischen Privatisierungsprobleme; die Zulässigkeit entsprechender Veräußerungen richtet sich vielmehr ausschließlich nach kommunalem Haushaltsrecht50. Steht der zu veräußernde Vermögensgegenstand hingegen im Kontext einer gemeindlichen Aufgabe, geht die Vermögensprivatisierung in den bereits angesprochenen Privatisierungsarten auf, da mit der Veräußerung dann zugleich die Art und Weise der Wahrnehmung der damit verbundenen Aufgabe betroffen ist. So kann der Verkauf kommunaler Wohnungen an einen privaten Investor bedeuten, dass die Gemeinde sich dauerhaft von der Aufgabe der lokalen Wohnraumversorgung trennen und diese dem Markt überlassen möchte. In diesem Fall kommt dem vermögensbezogenen gegenüber dem aufgabenbezogenen Aspekt der Privatisierung kein eigenständiger Gehalt zu; deshalb ist nach Zulässigkeit und Grenzen der damit verbundenen Aufgabenprivatisierung und nach dem Vorliegen einer kommunalen Gewährleistungsverantwortung zu fragen. Umgekehrt kann die Veräußerung von im Eigentum der Gemeinde stehenden Wohnungen an eine kommunale Gesellschaft bedeuten, dass die Aufgabe im Zuge einer Organisationsprivatisierung zukünftig von dieser Gesellschaft wahrgenommen werden und diese mit der Veräußerung das ge48 Zum Überblick Burgi, Gutachten D (Fußn. 1), D 75 ff.; ders., NVwZ 2001, 601 (603 ff.); ders., GewArch 2001, 217; ferner Otting/Ohler, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 14; Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 12 Rn. 108 ff. 49 Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 33; ders., Gutachten D (Fußn. 1), D 76; Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 205. 50 Historisch kam ferner den seit 1959 durchgeführten Vermögensprivatisierungen (VEBA, Preussag, VW) eigenständige Bedeutung zu, da damit die Vermögensbeteiligung breiter Bevölkerungsschichten gefördert werden sollte (dazu Kämmerer, Privatisierung [Fußn. 1], 74 ff.).
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genständliche Substrat dieser Tätigkeit erhalten soll. Auch hier orientieren sich Zulässigkeit und Grenzen der Veräußerung am Maßstab der Organisationsprivatisierung. Ferner ist die Übertragung von Anteilen an kommunalen Gesellschaften als ein Mittel der Organisationsprivatisierung zu betrachten, wenn bislang im Eigentum der Gemeinde stehende Gesellschaftsanteile an Private veräußert und diese dadurch in die Gesellschaft einbezogen werden51. In den soeben angesprochenen Fällen kommt der Vermögensprivatisierung gegenüber den anderen Privatisierungsformen kein eigenständiger Gehalt zu52. Das bedeutet allerdings keineswegs, dass dann nicht zusätzlich zugleich auch Vorschriften des kommunalen Haushaltsrechts zu beachten sind; doch weisen diese Vorschriften keine spezifische Privatisierungsrelevanz auf. b) Vermögensprivatisierung zur Finanzierung von Vorhaben Eigenständige Bedeutung gewinnt die Vermögensprivatisierung demgegenüber im Rahmen der Kapitalbeschaffung und Finanzierung kommunaler Vorhaben. Hier haben in der Vergangenheit Leasingkonstruktionen und das Cross-Border-Leasing im Besonderen eine gewisse Bedeutung erlangt. Da Letzteres für Gemeinden spezifische Risiken birgt, sollen seine Zulässigkeit und seine Grenzen am Ende dieses Beitrags knapp angesprochen werden. II. Zulässigkeit und Grenzen der Organisationsprivatisierung 1. Betrieb öffentlicher Einrichtungen durch kommunale Eigengesellschaften Der Betrieb öffentlicher Einrichtungen durch kommunale Eigengesellschaften ist dadurch gekennzeichnet, dass die jeweilige Funktion ihren Charakter als gemeindliche Aufgabe behält und lediglich in verändertem organisationsrechtlichem „Gewand“ wahrgenommen wird. Zwar ist Träger der öffentlichen Einrichtung nunmehr eine juristische Person des Privatrechts, doch steht hinter dieser zu hundert Prozent die Gemeinde als Rechtsträger. Probleme erwachsen dabei aus der mit der Organisationsprivatisierung verbundenen Verselbständigung des Trägers der öffentlichen Einrichtung und der Sicherung des Einflusses der Gemeinde auf diesen. Handelt die Gemeinde in privatrechtlicher Form, so gilt dies auch für die Rechtsverhältnisse zu den Nutzern der Einrichtung53, da es für eine Beleihung, welche öffentlich-rechtliche 51
Kämmerer, DVBl. 2008, 1005 (1006 ff.). Zum fehlenden Aufgabenbezug auch Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 7; Stein, DVBl. 2010, 563 (566). 53 Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 113; Gern, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 9. Aufl., 2005, 294. 52
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Handlungsformen ermöglichen würde, an den erforderlichen Rechtsgrundlagen fehlt54. a) Verfassungsrechtliche Grenzen aa) Staatsstrukturbestimmungen Das Grundgesetz enthält keine ausdrücklichen Aussagen zur Zulässigkeit von Privatisierungen. Diese müssen daher im Wege der Auslegung denjenigen Bestimmungen entnommen werden, die Regelungen über zulässige Verwaltungsstrukturen treffen. Insoweit ist zunächst an Art. 83 ff. GG zu denken, die indes für die vorliegende Thematik nicht weiterführen, da sie lediglich für die Bundesverwaltung gelten55. Aussagen zur Verwaltungsstruktur enthalten ferner die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, hier insbesondere das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 und 2 GG i.V.m. Art. 28 Abs. 1 S. 1 und 2 GG. Da auch kommunale Eigengesellschaften beim Betrieb einer öffentlichen Einrichtung eine gemeindliche und somit letztlich staatliche Aufgabe wahrnehmen, üben sie nach zutreffendem Verständnis Staatsgewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG aus, weshalb auch für Eigengesellschaften das Erfordernis demokratischer Legitimation gilt56. Anderenfalls könnte sich die Gemeinde allein durch den Wechsel der Organisationsform den Anforderungen des Demokratieprinzips entziehen. Da allerdings die zum Gebot demokratischer Legitimation nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG entwickelten Grundsätze der institutionellen, personellen und sachlich-inhaltlichen Legitimation57 auf privatrechtlich verfasste Verwaltungsträger nicht ohne Modifikation übertragen werden können, mündet das Legitimationserfordernis hier primär in Weisungs- und Aufsichtsbefugnisse der Gemeinde gegenüber der Eigengesellschaft, welche in praktisch wirksamer Weise sicherstellen müssen, dass die wesentlichen Entscheidungen von den hierfür zuständigen kommunalen Organen getroffen werden (Einwirkungspflicht)58. Einen weiteren 54 Dazu Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 99; zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für die Beleihung etwa Stober, in: Wolff/Bachof/ Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl., 2010, § 90 Rn. 47; F. Kirchhof, in: FS Rengeling (Fußn. 1), 136 f. 55 Zusammenfassend zur Zulässigkeit privatrechtsförmiger Bundesverwaltung Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 87 Rn. 15 f.; Ibler, in: Maunz/Dürig (Mai 2008), Art. 86 Rn. 110 ff.; Schoch, JURA 2008, 672 (679 f.). 56 Aus verfassungsrechtlicher Sicht Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HbStR II, 3. Aufl., 2004, § 24 Rn. 13; Dreier, in: Dreier, GG II, 2. Aufl., 2007, Art. 20 (Demokratie) Rn. 137; Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Januar 2010), Art. 20, Teil II Rn. 95 ff.; ferner bereits früher Graf Vitzthum, AöR 1979 (104), 580 (625 ff.). 57 Dazu grundlegend Böckenförde, in: HbStR II (Fußn. 56), § 24 Rn. 14 ff. 58 Grundlegend Püttner, DVBl. 1975, 353; vgl. ferner Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 21; Schoch, JURA 2008, 672 (680). – Diese Einwirkung vollzieht sich nach der Auffassung vom Vorrang des Gesellschaftsrechts grundsätzlich über diejenigen Möglichkeiten, die das private Gesellschaftsrecht bietet (vgl. etwa Oebbecke, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 9 Rn. 2; Schmidt, ZGR 1996, 345 [350 f.]). Nicht durchgesetzt hat sich demgegenüber die Sichtweise eines sog. Verwaltungsgesellschaftsrechts, welche das Gesellschaftsrecht durch bestimmte öffentlich-
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Grund findet diese Einwirkungspflicht im Rechtsstaatsgebot; denn in dem Maße, in welchem die Gemeinde selbst aufgrund mangelnder Trägerschaft nicht mehr von den gesetzlichen Bindungen erfasst wird, ist sie verpflichtet, durch Einwirkung auf die Eigengesellschaft für eine Beachtung durch diese zu sorgen. Gleiches folgt aus den Grundrechten der Nutzer der Einrichtung, sofern man mit einer verbreiteten und zutreffenden Ansicht die Eigengesellschaft nicht bereits nach Art. 1 Abs. 3 GG als unmittelbar grundrechtsgebunden betrachtet59. Wenn teilweise Organisationsprivatisierungen im Hinblick auf das Demokratieprinzip für bedenklich gehalten werden, weil die Entscheidungsmacht auf die private Gesellschaft verlagert und eine Selbstentmachtung der kommunalen Vertretungsorgane bewirkt werde60, so ist dieser Einwand differenziert zu bewerten. Es trifft zu, dass die Wahrnehmung von Einwirkungs- und Kontrollrechten gegenüber der privaten Gesellschaft im Verhältnis zur unmittelbaren Entscheidung einer die kommunale Einrichtung betreffenden Frage durch die Gemeinde sachlich ein minus darstellt61. Doch gebietet das Demokratieprinzip nicht, dass jede denkbare Sachentscheidung von den kommunalen Vertretungsorganen selbst getroffen wird; es lässt vielmehr Organisationsprivatisierungen dann zu, wenn Einwirkungs- und Kontrollrechte in einem Maße vorhanden sind, welches den kommunalen Vertretungsorganen tatsächlich eine effektive Steuerung der privaten Gesellschaft ermöglicht – ohne dass freilich das insoweit gebotene Niveau der Ingerenz ein für allemal fest stünde. Jedenfalls muss gewährleistet sein, dass die Gemeinde ihre öffentlich-rechtlichen Bindungen im Ergebnis auf die private Gesellschaft erstrecken kann. bb) Beamtenrechtlicher Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG Lediglich eingeschränkte Wirkung als Privatisierungsschranke entfaltet der beamtenrechtliche Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG, wenn man ihn verbreiteter rechtliche Grundsätze überlagern möchte (so v. Danwitz, AöR 1995 [120], 595; Krebs, Die Verwaltung 1996 [29], 309; Kraft, Das Verwaltungsgesellschaftsrecht, 1982). Gegen diese Auffassung spricht nicht nur, dass der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz für das Gesellschaftsrecht im Rahmen von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG abschließend Gebrauch gemacht hat, sondern auch, dass für ein Verwaltungsgesellschaftsrecht kein Bedürfnis besteht; denn wenn bestimmte öffentlich-rechtliche Bindungen über das Gesellschaftsrecht nicht umgesetzt werden können, darf die Gemeinde eine entsprechende privatrechtliche Gestaltung nicht vornehmen. Davon gehen auch die Gemeindeordnungen aus, wenn sie anordnen, dass eine privatrechtliche Organisationsform nur gewählt werden darf, sofern der Gemeinde im konkreten Fall ausreichende Einflussrechte zukommen (ebenso Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen [Fußn. 58], § 9 Rn. 2). 59 So die wohl h.M.; vgl. (jeweils m.w.N. auch zur gegenteiligen Auffassung) etwa Dreier, in: Dreier, GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 1 III Rn. 69; Kempen, in: Merten/Papier, HGR II, 2006, § 54 Rn. 54 f.; Höfling, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 1 Rn. 102 ff. 60 Langrehr, in: FS Faber (Fußn. 1), 102 f. 61 Zu diesen „Steuerungseinbußen“ Schoch, DVBl. 1994, 1 (9 f.); Schliesky, Die Gemeinde 2005, 34 (40 f.).
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Ansicht nach dahin interpretiert, dass er zwar eine institutionelle Garantie des Berufsbeamtentums enthält, nicht aber die Gewährleistung eines Bestandes hoheitsrechtlicher Befugnisse62. Hiernach greift diese Bestimmung zwar, wenn hoheitsrechtliche Befugnisse ausgeübt werden; sie trifft aber keine Aussage darüber, ob Aufgaben auch so wahrgenommen werden dürfen, dass sie nicht mit der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse verbunden sind63. Diese Interpretation ist insofern problematisch, als sie einer tendenziellen Reduktion des Anwendungsbereichs der Norm Vorschub leisten kann. Sie erscheint deshalb nur dann akzeptabel, wenn in qualitativer und quantitativer Hinsicht ein Mindestbestand an Aufgaben gefordert wird, welcher hoheitsrechtlich wahrgenommen werden muss und insoweit dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG unterliegt64. Art. 33 Abs. 4 GG wirkt dann auch als Privatisierungsschranke. b) Kommunalrechtliche Grenzen aa) Vorschriften über den Betrieb öffentlicher Einrichtungen In kommunalrechtlicher Hinsicht stellt sich zunächst die Frage, ob Einrichtungen, die von privatrechtlichen kommunalen Gesellschaften betrieben werden, noch öffentliche Einrichtungen im Sinne der Gemeindeordnungen darstellen65. Diese Frage wird in Literatur und Rechtsprechung zu Recht weithin bejaht66 : So wie die Gemeinde bei öffentlich-rechtlich betriebenen Einrichtungen im Rahmen ihrer Formenwahlfreiheit berechtigt ist, Benutzungsverhältnisse privatrechtlich auszugestalten, folgt das Recht zur Verwendung privatrechtlicher Organisationsformen67 aus der Selbstverwaltungs-
62 Masing, in: Dreier, GG II, 2. Aufl., 2007, Art. 33 Rn. 62; Grigoleit, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 33 Rn. 49; Stober, NJW 2008, 2301 (2305 f.); Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 21; zum Gesamten ferner Strauß, Funktionsvorbehalt und Berufsbeamtentum, 2000. 63 Grigoleit, in: Grundrechte-Kommentar (Fußn. 62), Art. 33 Rn. 49: „Politische oder rechtliche Entscheidung darüber, ob eine Aufgabe staatlich oder privat wahrzunehmen ist, sind der Vorschrift also vorgelagert“. 64 So im Ergebnis auch Masing, in: GG II (Fußn. 62), Art. 33 Rn. 62; Kunig, in: Münch/ Kunig, GG II, 5. Aufl., 2001, Art. 33 Rn. 42; zum Gesamten ferner Haug, NVwZ 1999, 816. 65 Zum Begriff der öffentlichen Einrichtung Mann, in: Mann/Püttner, HKWP I, 3. Aufl., 2007, § 17 Rn. 19; Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 16 Rn. 5 ff. 66 Vgl. etwa Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 105; Mann, in: HKWP I (Fußn. 65), § 17; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), Rn. 248; Gern, Kommunalrecht BW (Fußn. 53), 290; Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 16 Rn. 13; Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 10 Rn. 18. – Danach ist es für das Vorliegen einer öffentlichen Einrichtung irrelevant, in welcher Rechtsform sie betrieben wird und in welchem Maße sie verselbständigt ist, sofern sich die Gemeinde nur maßgeblichen Einfluss auf Zweckbestimmung und Betrieb vorbehalten hat (Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht [Fußn. 19], 1. Kap. Rn. 106). 67 Vgl. auch Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 10 ff., der insoweit von einer einheitlichen Wahlfreiheit hinsichtlich Organisations- und Handlungsform ausgeht.
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garantie in Gestalt der Organisationshoheit68. In beiden Fällen soll die Gemeinde allerdings lediglich in die Lage versetzt werden, eine Handlungs- und Organisationsform zu wählen, die der Verwirklichung des mit der öffentlichen Einrichtung verfolgten Zwecks am besten dienlich ist; nicht aber soll ihr eine Handhabe verschafft werden, sich der öffentlich-rechtlichen Bindungen zu entledigen, welche die Gemeindeordnungen insbesondere durch den Anspruch der Gemeindeeinwohner auf Nutzung (beispielsweise § 10 Abs. 2 S. 2 GemO BW) mit dem Vorliegen einer öffentlichen Einrichtung verknüpfen. Insoweit unterliegen auch kommunale Einrichtungen in der Trägerschaft kommunaler Eigengesellschaften den Vorschriften der Gemeindeordnungen über öffentliche Einrichtungen, wobei allerdings deren Anwendung – vor allem im Blick auf die Geltendmachung – Modifikationen erfahren kann. Für den Zulassungsanspruch der Einwohner ist das ausführlich erörtert worden69. Insbesondere kann die Zulassung nicht unmittelbar von der Gemeinde verlangt werden, da diese nicht mehr Trägerin der öffentlichen Einrichtung ist; es besteht vielmehr ein Verschaffungsanspruch, der darauf gerichtet ist, dass die Gemeinde mit den ihr zustehenden Einwirkungsrechten auf die private Gesellschaft einwirkt, um die Zulassung zu gewährleisten70. Hieran erweist sich deutlich die Unverzichtbarkeit einer entsprechenden Einflusssicherung seitens der Gemeinde; die Ingerenz muss so beschaffen sein, dass die Gemeinde dem Einwohner die Zulassung auch tatsächlich verschaffen kann. Ist demgegenüber ihr Einfluss nur unzureichend gesichert, kann dies zur Rechtswidrigkeit der Organisationsprivatisierung führen. Da der Verschaffungsanspruch öffentlich-rechtlicher Natur ist, ist hierfür der Verwaltungsrechtsweg eröffnet71. Darüber hinaus kann auch ein Zulassungsanspruch unmittelbar gegenüber der Eigengesellschaft bestehen; er folgt allerdings nicht aus den einschlägigen kommunalrechtlichen Vorschriften, welche nur die Gemeinde verpflichten, sondern aus Grundsätzen des Verwaltungsprivatrechts72. Daher ist dieser Anspruch privatrechtlicher Natur und gegebenenfalls im Zivilrechtsweg geltend zu machen.
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Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 13 f. Zum Gesamten Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 109 ff., 112. – Die einschlägigen Normen der einzelnen Gemeindeordnungen sind aufgeführt bei Mann, in: HKWP I (Fußn. 65), § 17 Rn. 17 mit Fußn. 38. 70 Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), Rn. 256; Mann, in: HKWP I (Fußn. 65), § 17 Rn. 30; Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 16 Rn. 38 f.; Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 10 Rn. 27; Kahl/Weißenberger, JURA 2009, 194 (196). 71 Mann, in: HKWP I (Fußn. 65), § 17 Rn. 30. 72 Hierzu Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 3 Rn. 86 ff.; Burgi, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, GVwR I, 2006, § 18 Rn. 64 ff.; Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl., 2007, § 23 Rn. 1 ff., 61 ff.; Stelkens, Verwaltungsprivatrecht, 2005. 69
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bb) Anschluss- und Benutzungszwang Weitergehende Fragen werden aufgeworfen, wenn mit der öffentlichen Einrichtung ein Anschluss- und Benutzungszwang verbunden ist. Ein solcher kann von der Gemeinde auf Grundlage einer entsprechenden Satzungsermächtigung (beispielsweise § 11 GemO BW) auch für öffentliche Einrichtungen begründet werden, welche in privater Trägerschaft stehen73. Das setzt neben dem Vorliegen eines qualifizierten öffentlichen Bedürfnisses aber jedenfalls voraus, dass das dem Anschluss- und Benutzungszwang korrelierende Nutzungsrecht im gleichen Maße gewährleistet ist, wie es bestünde, wenn die Einrichtung durch die Gemeinde selbst betrieben würde; das erforderliche Maß an Versorgungssicherheit ist durch hinreichende kommunale Einwirkungsrechte sicherzustellen74. cc) Anwendungsbereich Diese Grundsätze gelten sowohl für freiwillige kommunale Aufgaben als auch für Pflichtaufgaben bzw. Auftragsangelegenheiten75. Während im Bereich der freiwilligen Aufgaben die Freiheit der Organisationswahl nach Maßgabe des Selbstverwaltungsrechts voll zum Tragen kommt, wird sie im Bereich der Pflichtaufgaben bzw. Auftragsangelegenheiten dadurch überlagert, dass mit einer staatlich auferlegten Pflicht zur Aufgabenwahrnehmung zugleich die Verantwortung der Gemeinde für eine der Verpflichtung entsprechende ordnungsgemäße Erfüllung verbunden ist. Doch bedeutet dies keinen prinzipiellen Hinderungsgrund für eine Organisationsprivatisierung; denn die Gemeinde bleibt insoweit Trägerin der Aufgabe und hat durch geeignete Einwirkungsrechte sicherzustellen, dass sie der damit verbundenen Verantwortung auch gegenüber dem die Wahrnehmungspflicht begründenden Staat entsprechen kann. Allerdings findet der Einsatz von Eigengesellschaften dort seine Grenze, wo die Aufgabenwahrnehmung jeweils spezifische öffentlich-rechtliche Handlungsformen bedingt. dd) Kommunalwirtschaftsrechtliche Grenzen Nach der Theorie vom Vorrang des Gesellschaftsrechts76 hat die Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform zur Konsequenz, dass sich die Binnenorganisation der Gesellschaft und ihre Rechtsbeziehungen zur Gemeinde primär nach bürgerli73
BVerwGE 123, 159 (161 ff.); dazu Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 184. 74 Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 102; BVerwGE 123, 159 (164 f.). 75 Zu den unterschiedlichen Aufgabenarten und der zwischen dualistischem und monistischem Modell differierenden Terminologie Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 33 ff.; Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 8 Rn. 1 ff., 12 ff., 19 ff. 76 Dazu bereits oben Fußn. 58. – Vgl. zum Folgenden insbesondere die Darstellungen in den Handbüchern von Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, und Westermann/Cronauge, Kommunale Unternehmen, 5. Aufl., 2006.
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chem Gesellschaftsrecht bestimmen, das teils dispositiven Charakter hat und insoweit der Gemeinde Raum für Gestaltung lässt, überwiegend jedoch zwingende Vorgaben trifft. An solche Spielräume knüpfen die Gemeindeordnungen an, wenn sie Regelungen zu dem mit der Errichtung verfolgten Zweck, zur Begrenzung des wirtschaftlichen Risikos, zur Sicherstellung des kommunalen Einflusses und zu Wirtschaftsführung und Rechnungslegung treffen77. Indem die Gemeindeordnungen vorschreiben, dass im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung sichergestellt sein muss, dass der öffentliche Zweck des Unternehmens erfüllt wird78, soll eine Dominanz wirtschaftlicher Motive gegenüber den einschlägigen öffentlichen Zwecken verhindert werden. Darüber hinaus sehen die Gemeindeordnungen vor, dass die Haftung der Gemeinde auf einen ihrer Leistungsfähigkeit angemessenen oder wenigstens der Höhe nach bestimmten Betrag begrenzt sein muss79. Ferner hat sich die Gemeinde durch organisatorische Gestaltung einen angemessenen Einfluss, insbesondere im Aufsichtsrat oder in einem entsprechenden Überwachungsorgan des Unternehmens, zu sichern. Damit sind allerdings komplexe gesellschaftsrechtliche Fragen verbunden, die hier nur angedeutet werden können: Während die GmbH angesichts ihrer weitgehend dispositiven Verfassung in hohem Maße offen ist für kommunale Gestaltungswünsche, hat sich als neuralgischer Punkt die Aktiengesellschaft erwiesen, bei der als am weitesten verselbständigter Organisationsform ein direkter Durchgriff der Eigentümer auf die Geschäftsführung nur schwer möglich ist80. Erwähnt seien schließlich Vorschriften über Wirtschaftspläne und Rechnungslegung81. c) Spezialgesetzliche Grenzen Im Folgenden sollen drei Bereiche näher betrachtet werden, in denen die Zulässigkeit bzw. die Grenzen von Privatisierungen eine spezialgesetzliche Normierung erfahren haben: Abfallbeseitigung, Abwasserbeseitigung und Wasserversorgung82. 77
Dazu Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 17), § 8 Rn. 32 ff. Vgl. etwa § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GemO BW; Übersicht über die einschlägigen Normen bei Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 17), § 8 Rn. 38 Fußn. 50. 79 Beispielsweise § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 GemO BW; weitere Normen bei Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 17), § 8 Rn. 44 f. mit Fußn. 62 und 63. 80 Zur Weisungsfreiheit des Vorstands der Aktiengesellschaft vgl. § 76 Abs. 1 AktG. – Zu weiteren Fragen der Steuerung der Eigengesellschaft durch die Gemeinde, insbesondere zu den gesellschaftsrechtlichen Grenzen des Weisungsrechts der Gemeinde gegenüber den von ihr in die Gesellschaftsorgane entsandten Vertretern (etwa nach § 104 Abs. 1 S. 3 GemO BW) Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 58), § 9 Rn. 29 ff., 39 ff.; Brenner, AöR 2002 (127), 222; Häußermann, Die Steuerung der kommunalen Eigengesellschaft, 2004. – Ferner zur Anwendbarkeit des Konzernrechts Siegels, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 13. 81 Vgl. etwa § 103 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 GemO BW; dazu Oebbecke, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 17), § 8 Rn. 65 ff. 82 Zur Abfallbeseitigung Scholler/Broß, BayVBl. 1978, 7; Schoch, DVBl. 1994, 1; Schoepke, VBlBW 1995, 417; Kahl, in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 13. – Zur 78
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§ 16 Abs. 1 KrW-/AbfG ermächtigt die nach § 15 Abs. 1 KrW-/AbfG zur Abfallentsorgung verpflichteten öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger (regelmäßig kreisfreie Städte und Landkreise), Dritte mit der Erfüllung ihrer Pflichten zu beauftragen. Weitergehend erlaubt § 16 Abs. 2 KrW-/AbfG unter den einschränkenden Voraussetzungen der Absätze 2 bis 4 eine Übertragung der Entsorgungspflicht auf Dritte, welche gemäß § 15 Abs. 2 KrW-/AbfG befreiende Wirkung für die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger entfaltet. Die Organisationsprivatisierung ist nicht unmittelbar Gegenstand dieser Vorschriften, da Abs. 1 die funktionale und Abs. 2 die Aufgabenprivatisierung regelt. Mittelbar wird jedoch auch eine Aussage über die Organisationsprivatisierung getroffen, da nach überwiegender Auffassung „Dritte“ im Sinne der Absätze 1 und 2 auch Eigen- und gemischt-wirtschaftliche kommunale Gesellschaften sein können83. Eine Parallelregelung zu § 16 KrW-/AbfG fand sich in dem bis 2010 gültigen § 18a Abs. 2 und 2a WHG a.F.: Während § 18a Abs. 2 S. 2 WHG a.F. die zur Abwasserbeseitigung Verpflichteten – regelmäßig die kommunalen Gebietskörperschaften – ermächtigte, sich zur Erfüllung ihrer Pflichten Dritter zu bedienen, enthielt Abs. 2a die Ermächtigung der Länder zur Regelung, unter welchen Voraussetzungen eine öffentlich-rechtliche Körperschaft ihre Pflicht zur Abwasserbeseitigung ganz oder teilweise befristet und widerruflich auf einen Dritten übertragen konnte84. Wenn demgegenüber der seit 2010 gültige § 56 S. 1 WHG lediglich vorsieht, dass sich die zur Abwasserbeseitigung Verpflichteten zur Erfüllung ihrer Pflichten Dritter bedienen können, so ist damit ausweislich der Gesetzesmaterialien eine inhaltliche Veränderung nicht beabsichtigt; es soll vielmehr lediglich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass nach Wegfall der Rahmengesetzgebungskompetenz durch die Föderalismusreform I eine ausdrückliche Ermächtigung der Länder nicht mehr erforderlich ist85.
Abwasserbeseitigung Bauer, BayVBl. 1990, 292; Bodanowitz, Organisationsformen für die kommunale Abwasserbeseitigung, 1993; Dierkes, SächsVBl. 1996, 269; Brüning, Der Private bei der Erledigung kommunaler Aufgaben, 1997; Zacharias, DÖV 2001, 454; Ahmann, Öffentlich- und privatrechtliche Organisationsformen kommunaler Einrichtungen der Daseinsvorsorge, 2009; Wachsmuth, ThürVBl. 2010, 53. – Zur Wasserversorgung Burgi, in: Papier, Umweltschutz, Wirtschaft und kommunale Selbstverwaltung, 2001, 101; Frenz, ZHR 2002 (166), 307; Weiß, Liberalisierung der Wasserversorgung, 2004; Masing, VerwArch 2004 (95), 151; Emmerich-Fritsche, BayVBl. 2007, 1; Kahl, GewArch 2007, 441; ders., in: Fehling/ Ruffert, Regulierungsrecht, 2010, § 14; Schmidt, LKV 2008, 193; Sander, VBlBW 2009, 161; Brehme, Privatisierung und Regulierung der öffentlichen Wasserversorgung, 2010. 83 Dazu m.w.N. Beckmann/Kersting, in: Landmann/Rohmer, UmweltR III, § 16 KrW-/ AbfG Rn. 6 ff. 84 Unmittelbar regelten damit auch § 18a Abs. 2 und 2a WHG a.F. lediglich die funktionale und die Aufgabenprivatisierung, wobei auch hier die Frage diskutiert wurde, inwieweit Eigenund gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften „Dritte“ im Sinne dieser Bestimmungen seien; dazu Schulz, in: Giesberts/Reinhardt, 2007, WHG § 18a Rn. 13. 85 BT-Drs. 16/12275, S. 68.
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Aussagen zur Privatisierung der Wasserversorgung enthält das WHG 2010 nicht; auch soll ausweislich der Gesetzesmaterialien durch § 50 Abs. 1 WHG n.F., welcher die öffentliche Wasserversorgung als Aufgabe der Daseinsvorsorge definiert, nicht ausgeschlossen werden, dass diese Aufgabe auch durch private Aufgabenträger erfüllt wird86. Entsprechend haben die für die fragliche Regelungsmaterie kompetenziell zuständigen Länder Regelungen erlassen, die jedoch die Aufgabenprivatisierung betreffen und daher nachfolgend unter IV. behandelt werden. 2. Betrieb öffentlicher Einrichtungen durch gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften Die Eigengesellschaft wird zur gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft, wenn private Anteilseigner einbezogen oder später Anteile an Private veräußert werden. In diesem Fall erfolgt nicht nur ein „Kleiderwechsel“ der öffentlichen Hand, sondern es werden „echte“ Private an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben beteiligt. Dies hat zur Folge, dass bereits innerhalb der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft unterschiedliche Handlungsrationalitäten aufeinanderprallen. Darin liegt auch die zentrale Problematik der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft im vorliegenden Kontext – im Erfordernis eines Ausgleichs zwischen der Wahrung der öffentlich-rechtlichen Bindungen und des gemeinwohlorientierten öffentlichen Zwecks einerseits und der Schaffung eines Freiraums andererseits, in welchem sich privates Gewinnstreben und private Initiative so entfalten können, dass der öffentliche Zweck gefördert und die Gemeinde entlastet wird87. Durch vertragliche und organisatorische Gestaltung muss dafür gesorgt werden, dass die öffentlich-rechtlichen Bindungen88 der öffentlichen Anteilseigner auf die gesamte Gesellschaft „durchschlagen“. Ist dies gesichert, 86
BT-Drs. 16/12275, S. 66. Zu diesem „Kernproblem“ jeglicher Privatisierung bereits Graf Vitzthum, AöR 1979 (104), 580 (628 f.). 88 Nach wie vor sind Grundrechtsbindung und Grundrechtsberechtigung gemischt-wirtschaftlicher Gesellschaften nicht restlos geklärt: Bezüglich der Grundrechtsbindung möchte eine Auffassung gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften mit der Folge einer Grundrechtsbindung wie Eigengesellschaften behandeln (m.w.N. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 1 Rn. 40; ebenso BVerwG, BVerwGE 113, 208 [211]), während die Gegenansicht lediglich den staatlichen Anteilseigner für grundrechtsverpflichtet hält (Kempen, in: HGR II [Fußn. 59], § 54 Rn. 56; Dreier, in: GG I [Fußn. 59], Art. 1 III Rn. 70; Höfling, in: GG [Fußn. 59], Art. 1 Rn. 104). Hinsichtlich der Grundrechtsberechtigung steht einer Ansicht, welche aufgrund der Beteiligung auch privater Anteilseigner eine solche grundsätzlich bejahen möchte (Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 19 Rn. 77 ff.; wohl auch Sachs, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 19 Rn. 112) die überwiegende Auffassung entgegen, die – mit unterschiedlicher Begründung und Abweichungen im Detail – eine Grundrechtsberechtigung verneint, wenn die gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft vom Staat beherrscht wird (so insbesondere BVerfG [1. Senat 3. Kammer], NJW 1990, 1783; ebenso jetzt BVerfG [1. Senat 1. Kammer], NVwZ 2009, 1282 [1283]; ferner Dreier, in: Dreier, GG I [Fußn. 59], Art. 19 III Rn. 72 ff.; umfassend zum Streitstand Remmert, in: Maunz/Dürig [Mai 2009], Art. 19 Abs. 3 Rn. 65 ff.; Selmer, in: Merten/Papier, HGR II, 2006, § 53 Rn. 9 ff., 35 ff.). 87
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so ist die Errichtung gemischt-wirtschaftlicher Gesellschaften in demselben Umfang zulässig wie die von Eigengesellschaften. Folgefragen ergeben sich im Blick auf das Vergaberecht89 : Während die Übertragung einer Aufgabe auf eine kommunale Eigengesellschaft als sog. In-house-Geschäft – ebenso wie die Errichtung der gemischt-wirtschaftlichen Gesellschaft und der reine Anteilsverkauf – jedenfalls im Grundsatz vergabefrei ist, gilt dies nicht, wenn auch private Anteilseigner an der Gesellschaft beteiligt sind. III. Zulässigkeit und Grenzen der Aufgabenprivatisierung 1. Eingreifen von Privatisierungsgeboten Eine Erörterung der Zulässigkeit und der Grenzen einer Aufgabenprivatisierung hat mit der Frage nach dem Bestehen von Privatisierungsgeboten zu beginnen; denn im Rahmen der Aufgabenprivatisierung geht es prinzipiell um die Frage, inwieweit eine einmal wahrgenommene staatliche Aufgabe künftig weiter wahrzunehmen ist bzw. künftig noch wahrgenommen werden darf. Für beide Aspekte hält das Recht Aussagen bereit; es normiert nicht nur Pflichten zur Wahrnehmung einer Aufgabe, sondern setzt der Wahrnehmung einer Aufgabe durch staatliche Rechtsträger auch Grenzen. Ist danach eine Aufgabenprivatisierung geboten, so wird damit notwendig zugleich eine Aussage über deren Zulässigkeit getroffen. Eine allgemeine Pflicht zur Privatisierung kann zwar weder dem Grundgesetz noch dem Europäischen Unionsrecht entnommen werden90. Wenn allerdings die Gemeindeordnungen eine kommunale Wirtschaftstätigkeit im Rahmen der Subsidiaritätsklauseln an die Voraussetzung knüpfen, dass der Zweck nicht ebenso gut und wirtschaftlich bzw. – in noch vereinzelter Formulierung – nicht besser durch einen privaten Dritten erfüllt werden kann91, ist damit eine Aufgabenkritik verbunden, die gegebenenfalls in eine Aufgabenprivatisierung zu münden hat92. Faktische Privatisie89
Dazu und zum Folgenden m.w.N. Burgi, Gutachten D (Fußn. 1), D 75 f.; ders., in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 10; Otting/Ohler, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 48), § 14 Rn. 20 ff., 42 ff. 90 Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 33), § 94 Rn. 7 ff.; Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 22; zum mittelbaren Privatisierungsdruck des europäischen Rechts Schliesky, Die Gemeinde 2005, 34 (37 ff.). 91 Übersicht bei Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 120 in Fußn. 505. 92 Insoweit ist ferner auf Vorschriften zu verweisen, die ausdrücklich Privatisierungsprüfpflichten anordnen. So schreibt etwa § 61 Abs. 2 S. 2 bayGO vor, dass Aufgaben „in geeigneten Fällen daraufhin untersucht werden (sollen), ob und in welchem Umfang sie durch nichtkommunale Stellen, insbesondere durch private Dritte oder unter Heranziehung Dritter, mindestens ebenso gut erledigt werden können“ (ähnlich auch § 121 Abs. 7 hessGO). – Weitergehend im Sinne einer ausdrücklichen Privatisierungspflicht § 91 Abs. 3 S. 1 BbgKVerf, wonach die Gemeinde dafür zu sorgen hat, dass „Leistungen, die von privaten Anbietern in mindestens gleicher Qualität und Zuverlässigkeit bei gleichen oder geringeren Kosten erbracht
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rungspflichten können bestehen, soweit ausgabenwirksame Aufgaben durch die Gemeinde aufgrund fehlender Haushaltsmittel nicht mehr rechtmäßig wahrgenommen werden können. In diesem Fall wird sich die Pflicht freilich selten auf die Privatisierung einer ganz bestimmten Aufgabe reduzieren; hier ist vielmehr eine politische Entscheidung darüber gefordert, welche Aufgaben die Gemeinde künftig im Rahmen der vorhandenen Haushaltsmittel überhaupt wahrnehmen möchte. Einschlägige Fragen haben durch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Privatisierung des Offenbacher Weihnachtsmarktes vom 23. Mai 2009 an Aktualität gewonnen, der zufolge die Übertragung der Veranstaltung eines kulturell, sozial und traditionsmäßig bedeutsamen Weihnachtsmarktes auf einen privaten Verein mit der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG nicht vereinbar sein soll93. Im Ergebnis folgert das Gericht somit aus dem Selbstverwaltungsrecht des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG eine Selbstverwaltungspflicht94, was zur Konsequenz hätte, dass sich eine Gemeinde von Aufgaben, die sie einmal freiwillig übernommen hat, nur noch eingeschränkt trennen könnte. Dass diese These kritikwürdig ist, erweist sich bereits an dem soeben erwähnten Zielkonflikt zwischen den Gründen einerseits, die für die Fortführung einer einmal übernommenen Aufgabe sprechen mögen, und dem kommunalen Haushaltsrecht andererseits, welches dann, wenn Haushaltsmittel nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, einer undifferenzierten Fortführung sämtlicher Aufgaben nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich entgegensteht95. Sieht man von dem Sonderfall einer extremen Haushaltsnotlage ab, in der ein politischer Gestaltungsspielraum der Gemeinde faktisch nicht mehr existiert, hat die Gemeinde im Regelfall abzuwägen, welche Aufgaben sie künftig nicht mehr wahrnehmen will. Dieses Wahlrecht kommt den dafür zuständigen Gemeindeorganen zu; insofern erscheinen richterrechtlich begründete Pflichten zur Aufgabenwahrnehmung auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung als problematisch. Insoweit leidet die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts daran, dass lediglich die zu erwartenden Konsequenzen einer Abgabe der Aufgabe in den privaten Bereich argumentativ in Betracht gezogen wurden96, nicht jedoch auch die möglicherweise nachvollziehbaren Gründe, welche die Stadt Offenbach zu diesem Schritt bewogen hatten.
werden können, diesen Anbietern übertragen werden, sofern dies mit dem öffentlichen Interesse vereinbar ist“. 93 BVerwG, DVBl. 2009, 1382; ebenso Gröpl, GewArch 1995, 367 (372). 94 BVerwG, DVBl. 2009, 1382 (1383 f.). 95 Darauf verweist auch Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1457). 96 BVerwG, DVBl. 2009, 1382 (1384).
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2. Verfassungsrechtliche Grenzen der Aufgabenprivatisierung a) Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG Das Bundesverwaltungsgericht ging in seiner Entscheidung zum Offenbacher Weihnachtsmarkt davon aus, dass die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG eine Grenze der Aufgabenprivatisierung kommunaler Einrichtungen statuiere97. Es begründete diese Auffassung mit einer doppelten Schutzrichtung der Garantie, welche nicht nur die Kommunen vor Eingriffen des Bundes und der Länder in den Kernbereich ihrer eigenen Aufgaben schützen solle; aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG ergebe sich vielmehr auch eine Bindung der Gemeinde selbst im Blick auf die Aufrechterhaltung dieses Aufgabenbestandes und damit die grundsätzliche Pflicht, einmal übernommene Funktionen fortzuführen, sofern sie in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln98. Insofern stehe es gerade nicht im „freien Ermessen“ einer Gemeinde, freiwillige Aufgaben zu übernehmen oder sich dieser jederzeit wieder zu entledigen99. Diese Schlussfolgerung ist als Schutz der Gemeinden vor sich selbst bezeichnet worden100. Doch ging es dem Bundesverwaltungsgericht neben dem Schutz der kommunalen Selbstverwaltung vor einer Aushöhlung durch die Gemeinde selbst wohl auch um den Schutz der Gemeindeangehörigen, wenn es betonte, dass das Recht der Gemeinden, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft anzunehmen, gerade dem Wohl ihrer Einwohner diene. Dem ist insofern zuzustimmen, als die Entscheidung, sich einer Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft anzunehmen oder diese auch wieder abzugeben, stets das Gemeinwohl (welches hier im Wohl der Einwohner besteht) berücksichtigen muss und sich nicht in einem quasi „privatautonomen“ Raum vollzieht. Überdies war auch bislang schon anerkannt, dass derartige Entscheidungen nicht auf eine Aushöhlung der Selbstverwaltung innerhalb einer Gemeinde hinauslaufen dürfen101. Darüber geht das Bundesverwaltungsgericht indes weit hinaus und betritt insofern Neuland, als bisher aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG lediglich ein Verbot der Privatisierung 97 Für zulässig hält das Gericht demgegenüber eine Organisations- und funktionale Privatisierung, sofern Kontroll- und Einwirkungsrechte in ausreichendem Maß vorbehalten sind (BVerwG, DVBl. 2009, 1382 [1384]). 98 BVerwG, DVBl. 2009, 1382 (1383 f.). 99 BVerwG, DVBl. 2009, 1382 (1383). 100 Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 6 Rn. 10. 101 Vgl. Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 6 Rn. 10, der als Beispiel die Privatisierung der gesamten gemeindlichen Leistungsverwaltung nennt; ähnlich Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1456): Unzulässig sei ein „genereller Verzicht der Kommunen auf Schaffung oder Beibehaltung öffentlicher Einrichtungen“. – Zu dem der Selbstverwaltungsgarantie innewohnenden „Element der Pflichtigkeit“ ferner Hellermann, in: Epping/Hillgruber, Beck-OK GG, 2009, Art. 28 Rn. 33.5; Winkler, JZ 2009, 1169 (1170); Katz, NVwZ 2010, 405 (406 f.); Graf Vitzthum, AöR 1979 (104), 580 (626 f.); Tomerius/Breitkreuz, DVBl. 2003, 426, die allerdings (S. 432 f.) zwischen freiwilligen Aufgaben und kommunalen Pflichtaufgaben differenzieren.
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von Pflichtaufgaben und Weisungsangelegenheiten abgeleitet worden ist102. Für Weisungsaufgaben ist ein solches Verbot auch unmittelbar einsichtig, da die Gemeinde dem weisungsberechtigten Land für die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben verantwortlich ist, dieser Verantwortung nach erfolgter Aufgabenprivatisierung aber nicht mehr nachkommen kann103. Demgegenüber sind die freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben dadurch gekennzeichnet, dass sie von der Gemeinde im Rahmen der vorhandenen Haushaltsmittel in „frei gebildeter politischer Einschätzung“ übernommen werden104, welche lediglich durch die in den Gemeindeordnungen normierte Verpflichtung der Gemeinde begrenzt wird, „in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl ihrer Einwohner erforderlichen öffentlichen Einrichtungen (zu schaffen)“ (so § 10 Abs. 2 S. 1 GemO BW). Diese Bestimmungen, welche im Rahmen des Gesetzesvorbehalts des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden zulässig ausgestalten105, räumen dabei den zuständigen Gemeindeorganen einen weiten Einschätzungsspielraum ein106. Dies ist insofern konsequent, als das Selbstverwaltungsrecht des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG gerade die Befugnis der Gemeinde begründet, sowohl über das „Ob“ als auch über das „Wie“ der Wahrnehmung einer Aufgabe zu bestimmen107. Im Gegensatz zu den Vorschriften über die Nutzung besteht überdies kein subjektives Recht der Einwohner auf Schaffung einer öffentlichen Einrichtung108.
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Ronellenfitsch, in: Hoppe/Uechtritz, Handbuch kommunale Unternehmen, 2. Aufl., 2007, § 5 Rn. 13; Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 (82 f.); Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 12 Rn. 112; Stein, DVBl. 2010, 563 (569); Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 182; Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1534). – Zur unterschiedlichen Terminologie bezüglich der Aufgabenarten bereits oben Fußn. 75. 103 Gleiches gilt im Ergebnis für die weisungsfreien Pflichtaufgaben, sofern man diese zum Bereich der Selbstverwaltung rechnet (dazu Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht [Fußn. 19], 1. Kap. Rn. 39; Burgi, Kommunalrecht [Fußn. 8], § 8 Rn. 21 ff.; zur Rechtslage in Baden-Württemberg Gern, Kommunalrecht BW [Fußn. 53], 110). Hier steht die Gemeinde zwar nicht in einem Weisungsverhältnis zum Land, doch ist ihr gesetzlich die Pflicht zur Wahrnehmung der Aufgabe auferlegt. 104 Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 8 Rn. 13. 105 Als institutionelle Garantie ist das Selbstverwaltungsrecht nach Maßgabe des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG einer gesetzgeberischen Ausgestaltung zugänglich und bedürftig; Löwer, in: Münch/Kunig, GG II, 5. Aufl., 2001, Art. 28 Rn. 59; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., 2008, Art. 28 Rn. 49; Nierhaus, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 28 Rn. 59 ff. 106 Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), Rn. 241; Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1457); Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 (83). 107 Dreier, in: Dreier, GG II, 2. Aufl., 2007, Art. 28 Rn. 114; Hellermann, in: Beck-OK GG (Fußn. 101), Art. 28 Rn. 42; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 28 Rn. 16; Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 19; Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1535). 108 Statt anderer Mann, in: HKWP I (Fußn. 65), § 17 Rn. 18; Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 10 Rn. 23.
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Demzufolge ist eine Gemeinde berechtigt, eine öffentliche Einrichtung auch wieder zu schließen, wenn keine Rechtspflicht zur Fortführung gegeben ist109. Eine solche Pflicht besteht, soweit die Einrichtung für das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl der Einwohner erforderlich ist – wobei insofern ein Einschätzungsspielraum der zuständigen Gemeindeorgane und gegebenenfalls eingetretene Veränderungen in den örtlichen Lebensverhältnissen zu berücksichtigen sind110. Da die Vorschriften über die Schaffung öffentlicher Einrichtungen das Selbstverwaltungsrecht im Rahmen des Gesetzesvorbehalts des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG konkretisieren, ist damit zugleich eine verfassungsgemäße Lösung von Kollisionen gegeben, welche im Blick auf kommunale Einrichtungen aus den durch Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG statuierten Selbstverwaltungsrechten und Selbstverwaltungspflichten aufbrechen können111. Darüber hinausgehende unmittelbar aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG resultierende Gesichtspunkte, die zu einer verfassungsunmittelbaren Pflicht zur Schaffung oder Fortführung einer öffentlichen Einrichtung führen könnten, sind nicht ersichtlich; die Herleitung einer entsprechenden Pflicht durch das Bundesverwaltungsgericht ist deshalb als Verkehrung des Selbstverwaltungsrechts abzulehnen. Angesichts der Überlappungen beider Bereiche112 gilt das sowohl für Einrichtungen, welche der wirtschaftlichen Betätigung der Gemeinden zuzurechnen sind, als auch für solche nicht-wirtschaftlicher Art113. Darf sich eine Gemeinde hiernach von einer Aufgabe vollständig trennen, so kann ihr deren Privatisierung ebenso wenig verwehrt sein114 ; denn es bedeutet keinen Unterschied, ob die Kommune eine solche Funktion einfach aufgibt mit der Folge, dass Private diese zukünftig aus eigener Initiative besetzen, oder aber diese ausdrücklich auf Private überträgt. Besteht allerdings insoweit eine Gewährleistungsverantwortung der Gemeinde, so ist eine Aufgabenprivatisierung nur unter der Voraussetzung 109
Dazu Gern, Kommunalrecht BW (Fußn. 53), 302. Überdies kann sich eine Pflicht zur zumindest befristeten Fortführung einer Einrichtung auch aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben. 111 In diesem Zusammenhang ist in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Veranstaltung von Weihnachtsmärkten keineswegs zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung gehöre, der vor einer Aufgabenprivatisierung durch die Gemeinde zu schützen sei; Donhauser, NVwZ 2010, 931 (933 f.). 112 Dazu bereits oben Fußn. 19. 113 Nicht überzeugend ist es daher, wenn das BVerwG Einrichtungen, die der wirtschaftlichen Betätigung zuzurechnen sind, solche mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Charakter gegenüberstellt und erstere in höherem Maße für privatisierbar hält (BVerwG, DVBl. 2009, 1382 [1384]). Wie hier Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 (85); Donhauser, NVwZ 2010, 931 (933 f.). 114 Ebenso Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1456); HessVGH, DÖV 2008, 607 (607). Einschränkend Ronellenfitsch, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 102), § 5 Rn. 15 (eher im Ansatz, als im Ergebnis, wonach eine Aufgabenprivatisierung unzulässig sei, wenn „freiwillige Aufgaben die Identität der Gemeinden prägen oder die soziale Grundsicherung der Gemeindeeinwohner nur durch die Gemeinde selbst gewährleistet werde kann“; denn in diesen Fällen dürfte auch nach allgemeinen Grundsätzen eine Rechtspflicht zur Fortführung der Einrichtung bestehen). 110
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zulässig, dass kommunale Einflussmöglichkeiten in einem der Gewährleistungsverantwortung gerecht werdenden Maß gesichert sind. Sofern sich die Gemeinde insoweit Einflussrechte in einem Ausmaß vorbehält, welches darauf hindeutet, dass sie die Aufgabe im Grunde nicht vollständig aufgegeben hat, liegt keine Aufgabenprivatisierung, sondern eine funktionale Privatisierung vor. Dem trug die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum Offenbacher Weihnachtsmarkt im Ansatz nicht hinreichend Rechnung; denn die Stadt hatte die Durchführung des Weihnachtsmarktes lediglich befristet und mit verschiedenen Vorgaben auf einen Privaten übertragen115. Es hätte sich daher nicht die Frage gestellt, ob eine vollständige Aufgabe der Durchführung des Weihnachtsmarktes zulässig war, sondern vielmehr die, ob der konkreten Übertragung der Durchführung auf Private ein ausreichendes Maß an Einflussrechten korrespondierte – ob mithin die gewählte Form der funktionalen Privatisierung zulässig war116. b) Notwendige Staatsaufgaben als Privatisierungsgrenzen Im Rahmen der Konkretisierung der Staatsaufgaben117 wird zu Recht allgemein davon ausgegangen, dass es Funktionen gibt, welche zwingend vom Staat wahrzunehmen sind118. Dabei handelt es sich insbesondere um solche, die gegebenenfalls den Einsatz hoheitlichen Zwangs erfordern119. Wenngleich die Grenzen dieses Bereichs schwer zu bestimmen sein mögen, ist innerhalb der Staatsaufgaben ein privatisierungsfester Kernbereich anzuerkennen. Gerade die Diskussion um den Einsatz privater Sicherheitsdienste120 verdeutlicht, dass die Bestimmung dieses Bereichs vielfach nicht nur auf verfassungsrechtlicher Auslegung beruht, sondern auch von politischen Vorstellungen bestimmt wird. Für öffentliche Einrichtungen der Gemeinden spielt diese Diskussion allerdings nur eine untergeordnete Rolle, da sie hauptsächlich im Bereich der leistenden Verwaltung angesiedelt sind.
115 Die Vorinstanz hatte eine Aufgabenprivatisierung im Blick auf den Weihnachtsmarkt dahin charakterisiert, dass „die Kommune jegliche kommunalrechtliche Beziehung zu der Veranstaltung aufgibt und sich öffentlich-rechtlich auf die Wahrnehmung ihrer Pflichtaufgaben, die gewerberechtliche, straßenrechtliche und ordnungsrechtliche Vorbereitung und Überwachung der Veranstaltung, beschränkt“ (HessVGH, DÖV 2008, 607 [607]), war jedoch ungeachtet dieses zutreffenden Ansatzes vom Vorliegen einer materiellen Privatisierung ausgegangen. 116 Zutreffend Winkler, JZ 2009, 1169 (1171). 117 Vgl. dazu auch oben Fußn. 35 m.w.N. 118 Ronellenfitsch, DÖV 1999, 705 (708 f.); Schoch, JURA 2008, 672 (680); Schmitz, in: VwVfG (Fußn. 9), § 1 VwVfG Rn. 122. 119 Vgl. Schoch, JURA 2008, 672 (680). 120 Dazu im Überblick m.w.N. Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 33), § 94 Rn. 12.
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c) Staatsstrukturprinzipien und Grundrechte als Privatisierungsgrenzen Im Gegensatz zur Organisationsprivatisierung ergeben sich aus dem Demokratieund dem Rechtsstaatsprinzip keine Grenzen für die Aufgabenprivatisierung, da beide Staatsstrukturprinzipien staatliches Handeln voraussetzen, welches nach einer Aufgabenprivatisierung definitionsgemäß nicht mehr vorliegt121. Grundrechte bilden eine Privatisierungsgrenze insofern, als sie in Gestalt staatlicher Schutzpflichten auch nach erfolgter Übertragung an einen Privaten Handlungsverpflichtungen des Staates begründen können, welche die Grundlage einer Gewährleistungsverantwortung darstellen122. Insofern können die Grundrechte eine Ausgestaltung des Privatisierungsfolgenrechts gebieten, die eine Einflussnahme der Gemeinde auf den Privaten ermöglicht. Das Maß der Gewährleistungsverantwortung hängt dabei von den betroffenen Grundrechtsgütern und den ihnen möglicherweise drohenden Gefährdungen ab, was für jeden Regelungsbereich im Einzelnen zu bestimmen ist und dazu führen kann, dass im Falle der Betroffenheit besonders hochwertiger Grundrechtsgüter – beispielsweise im Rahmen der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – eine Aufgabenprivatisierung schlechterdings ausgeschlossen ist123. Nicht gegeben ist eine aus grundrechtlichen Schutzpflichten resultierende spezifische Gewährleistungsverantwortung regelmäßig bei der Veranstaltung von Festen und Märkten124 ; anders liegen die Dinge hingegen bei einer Privatisierung der Wasserversorgung125. Von besonderer Bedeutung für den kommunalen Bereich ist schließlich das Sozialstaatsprinzip, soweit daraus die Aufgabe folgt, Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu betreiben. Allerdings ist auch diese Funktion prinzipiell nicht unbedingt „eigenhändig“ von der Gemeinde auszufüllen; sie begründet in erster Linie eine Gewährleistungspflicht126. Sind deren Anforderungen erfüllt, ist eine Aufgabenprivatisierung grundsätzlich zulässig. 3. Kommunalrechtliche Grenzen Hat eine Gemeinde im Rahmen der Aufgabenprivatisierung eine Tätigkeit bzw. Veranstaltung vollständig aufgegeben, verliert diese die Qualität als öffentliche Einrichtung im Sinne der Gemeindeordnungen127 mit der Folge, dass die dort normierten 121
Stein, DVBl. 2010, 563 (568). Vgl. Gersdorf, JZ 2008, 831 (836). 123 Kahl/Weißenberger, JURA 2009, 194 (199). 124 Zutreffend Kahl/Weißenberger, LKRZ 2010, 81 (84). 125 Kahl, GewArch 2007, 441 (442). 126 Stober, in: Verwaltungsrecht II (Fußn. 33), § 94 Rn. 13; Stein, DVBl. 2010, 563 (568); Peine, DÖV 1997, 353 (356). 127 Schmidt-Aßmann/Röhl, in: Besonderes Verwaltungsrecht (Fußn. 19), 1. Kap. Rn. 107; Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 12 Rn. 111; Kahl/Weißenberger, JURA 2009, 194 (196). 122
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öffentlich-rechtlichen Bindungen auch dann leerlaufen, wenn ein Privater die Tätigkeit oder Veranstaltung fortführt. Besteht allerdings eine Gewährleistungspflicht, kann die Kommune verpflichtet sein, im Rahmen des Privatisierungsfolgenrechts eine gemeinwohlkonforme Erbringung der Leistung durch den Privaten sicherzustellen. Anders liegen die Dinge, wenn eine Gewährleistungspflicht nicht besteht und sich die Gemeinde gleichwohl Einfluss gesichert hat. Letzteres deutet darauf hin, dass eine vollständige Trennung von der Aufgabe nicht beabsichtigt ist; es handelt sich vielmehr lediglich um eine funktionale Privatisierung, deren Zulässigkeit nach Maßgabe der vorbehaltenen Einflussrechte zu beurteilen ist. Weitere kommunalrechtliche Grenzen der Aufgabenprivatisierung ergeben sich, soweit Vorschriften die Veräußerung eines Unternehmens oder von Anteilen an einem solchen nur erlauben, wenn hierdurch die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinde nicht beeinträchtigt wird (so beispielsweise § 106 GemO BW). Ebenso bestehen teilweise Einschränkungen für den Abschluss von Konzessionsverträgen auf dem Gebiet der Energie- und Wasserversorgung (etwa § 107 GemO BW). Ferner enthalten die Gemeindeordnungen regelmäßig Vorschriften, wonach Maßnahmen oder Rechtsgeschäfte der soeben bezeichneten Art einer kommunalaufsichtlichen Genehmigung bedürfen (so § 108 GemO BW). 4. Spezialgesetzliche Grenzen Eine spezialgesetzliche Regelung der Aufgabenprivatisierung enthält für die Abfallentsorgung § 16 Abs. 2 KrW-/AbfG als Ermächtigung zur optionalen, konkret-individuellen Aufgabenprivatisierung durch Verwaltungsakt128, die nach § 15 Abs. 2 KrW-/AbfG für die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger befreiende Wirkung hat und nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 bis 4 KrW-/AbfG zulässig ist. Hervorzuheben ist, dass die Übertragung den Übergang öffentlich-rechtlicher Pflichten auf den Dritten bewirkt129 und nach Abs. 4 nur befristet zulässig ist. Für den Bereich der Abwasserbeseitigung findet sich eine Ermächtigung zur Aufgabenprivatisierung etwa in dem aufgrund § 18a Abs. 2a WHG a.F. normierten § 45c Abs. 1 S. 1 WG BW, wonach eine abwasserbeseitigungspflichtige Körperschaft diese Pflicht ganz oder teilweise auf Dritte übertragen kann. Regelungen zur Aufgabenprivatisierung der Wasserversorgung schließlich sind in verschiedenen Landeswassergesetzen enthalten130. Bei Unterschieden im Einzelnen können diese Regelungen dahin zusammengefasst werden, dass sie Ausnahmen von den Vorschriften darstellen, welche die öffentliche Wasserversorgung als kommunale 128
Kahl, in: Regulierungsrecht (Fußn. 82), § 13 Rn. 4. Zu dem Streit, ob in diesem Pflichtenübergang zugleich eine Teilbeleihung zu sehen ist, m.w.N. Dippel, in: Giesberts/Reinhardt, KrW-/AbfG, 2007, § 16 Rn. 38. 130 So etwa § 39 Abs. 2 hessWG; § 47a Abs. 1 S. 2 LWG NRW; § 46a Abs. 1 LWG Rh-Pf; § 57 Abs. 3 S. 2 sächsWG. Dazu Kahl, in: Regulierungsrecht (Fußn. 82), § 14 Rn. 17 f. 129
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Pflichtaufgabe definieren131, und in Anlehnung an § 16 KrW-/AbfG sowohl dazu ermächtigen, Dritte in die Erfüllung der Versorgungspflicht einzubinden (funktionale Privatisierung), als auch dazu, diese Pflicht auf Dritte zu übertragen, d. h. eine Aufgabenprivatisierung vorzunehmen. Der letztgenannte Fall ist dabei an einschränkende Voraussetzungen geknüpft, indem der Dritte bestimmten Anforderungen zu genügen hat132 bzw. eine ordnungsgemäße Wasserversorgung im Gemeindegebiet gewährleistet sein muss133. Auch werden die obersten Landesbehörden ermächtigt, durch Rechtsverordnung weitere Voraussetzungen zu normieren134. IV. Zulässigkeit und Grenzen der funktionalen Privatisierung 1. Verfassungsrechtliche Grenzen Private, die im Rahmen funktionaler Privatisierung für einen staatlichen Aufgabenträger tätig werden, verbleiben in ihrem privaten Status und werden nicht Teil der staatlichen bzw. kommunalen Verwaltungsorganisation135. Jedes andere Verständnis würde dem Zweck der funktionalen Privatisierung zuwiderlaufen, nicht nur den Staat bzw. die Gemeinde zu entlasten, sondern private Handlungsrationalitäten und Initiative in den Aufgabenvollzug einzubinden. Daher üben diese Privaten weder (mit der Folge, dass ihr Handeln demokratischer Legitimation bedürfte) Staatsgewalt im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG aus, noch sind sie an das Rechtsstaatsprinzip und an die Grundrechte gebunden. Andererseits leisten sie einen Beitrag, der nicht nur auf die Erfüllung einer staatlichen bzw. kommunalen Aufgabe bezogen ist, sondern auch auf deren Wahrnehmung durch die Gemeinde ausstrahlen und sie bei 131
Anderes gilt in den Ländern, in welchen die Wasserversorgung keine kommunale Pflichtaufgabe darstellt (etwa in Baden-Württemberg, vgl. § 43 WG BW). Hier sind die allgemeinen Grundsätze zugrunde zu legen, denen zufolge bei der Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge eine Aufgabenprivatisierung zulässig ist, sofern die Anforderungen an die staatliche Gewährleistungsverantwortung eingehalten werden (dazu Kahl, in: Regulierungsrecht [Fußn. 82], § 14 Rn. 17). Letztere wird dadurch qualifiziert, dass mit dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit der Wassernutzer besonders hochwertige Grundrechtsgüter betroffen sein können. 132 So darf nach § 39 Abs. 3 S. 2 hessWG eine Übertragung nur erfolgen, wenn (1.) der Dritte fachkundig, zuverlässig und leistungsfähig ist, (2.) die Erfüllung der übertragenen Pflichten dauerhaft sichergestellt ist und (3.) der Übertragung keine überwiegenden öffentlichen Interessen entgegenstehen; vgl. auch 46a Abs. 1 S. 4 Nr. 1 – 3 LWG Rh-Pf. sowie § 57 Abs. 3 S. 2 und 4 i.V.m. § 63 Abs. 4 sächsWG. 133 § 47a Abs. 1 S. 2 LWG NRW. 134 § 39 IV hessWG; § 57 Abs. 3 S. 3 sächsWG. 135 Burgi, Funktionale Privatisierung (Fußn. 1), 327 ff., 337 ff.; ders., in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 35; Schoch, JURA 2008, 672 (678). Anders F. Kirchhof, in: Maunz/Dürig (Fußn. 9), Art. 83 Rn. 116; ders., in: FS Rengeling (Fußn. 1) Rn. 128 f.; er geht davon aus, dass in den Fällen unselbständiger Verwaltungshilfe Staatsgewalt ausgeübt werde.
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gemeinwohlwidriger Erfüllung gleichsam „infizieren“ kann136. Auf diesen Befund reagiert die bereits angesprochene Gewährleistungsverantwortung, indem ihr zufolge die Ausgestaltung des Auftragsverhältnisses so zu erfolgen hat, dass die privaten Handlungsbeiträge gemeinwohlkonform erbracht werden. Nach Maßgabe der damit gegebenen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer rechtmäßigen funktionalen Privatisierung muss die Gemeinde in den Verträgen mit den Betreibern die Möglichkeit einer effektiven Einwirkung und einer wirksamen Überwachung sicherstellen137. Im Einzelnen sind als in diesem Sinne notwendige Regelungsgegenstände genannt worden138 : Befristungsklauseln, Kündigungsklauseln, Anpassungsklauseln bei Nicht- oder Schlechterfüllung, ein möglicher Vorbehalt der Aufgabenrückübertragung auf die Gemeinde, Bestimmungen über die Folgen bei Vertragsbeendigung, insbesondere Regelungen über die Übereignung übertragener Vermögensgegenstände, Vorgaben für die Berechnung des Verkaufspreises und die Modalitäten der Rückübertragung, beispielsweise Personalübernahmevereinbarungen und Einweisungspflichten des Privaten. Mithin wandelt sich bei der funktionalen Privatisierung die kommunale Erfüllungs- in eine Leitungsverantwortung139. Zentrale Bedeutung kommt ferner der Auswahl des Privaten zu, welche, wie bereits gesagt, weithin durch das Vergaberecht gesteuert wird140. 2. Kommunalrechtliche Grenzen Kommunalrechtliche Grenzen resultieren wiederum zunächst aus dem Recht der öffentlichen Einrichtungen. Jedenfalls dann, wenn sich die Gemeinde hinreichende Einwirkungsmöglichkeiten vorbehalten hat, ist der Betrieb der Einrichtung durch einen Verwaltungshelfer der Gemeinde zuzurechnen, so dass die zur Organisationsprivatisierung entwickelten Grundsätze (oben II. 1.) greifen und die öffentliche Einrichtung mithin diese Eigenschaft nicht dadurch verliert, dass sie von einem Privaten betrieben wird. Ist dieser Einfluss gesichert, kann es auch nicht entscheidend darauf ankommen, ob ein Benutzungsentgelt weiterhin von der Gemeinde oder vom Verwaltungshelfer als Dienstleistungskonzessionär erhoben wird. Im Gegensatz zur Aufgabenprivatisierung ist eine funktionale Privatisierung auch für kommunale Pflichtaufgaben zulässig141; denn durch die funktionale Privatisierung werden, wie bereits gesagt, die Verantwortungsstrukturen, welche der Aufga136 Zutreffend Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 28; Schmitz, in: VwVfG (Fußn. 9), § 1 VwVfG Rn. 134. 137 BVerwGE 123, 159 (165). 138 Aufzählung nach Sander, VBlBW 2009, 161 (163); zusammenfassend Burgi, in: Allgemeines Verwaltungsrecht (Fußn. 1), § 10 Rn. 35. 139 Burgi, Kommunalrecht (Fußn. 8), § 17 Rn. 90; ferner Schoch, JURA 2008, 672 (683): „Leitungs- und Kontrollverantwortung“. 140 Dazu mit Nachweisen bereits oben Fußn. 48 f. 141 Zutreffend Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 182; Burgi, NVwZ 2001, 601 (603); vgl. im Übrigen die Nachweise oben in Fußn. 102.
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benwahrnehmung zugrunde liegen, weder gegenüber den Nutzern der Einrichtung noch gegenüber dem die Pflicht begründenden Land verändert. Ist die Tätigkeit des Privaten ihrerseits mit der Vergabe von Aufträgen oder Tätigkeiten verbunden, so ist aufgrund der Grundrechtsrelevanz dieser Entscheidungen für die Bewerber im Rahmen der Ausgestaltung der Einwirkungsrechte dafür zu sorgen, dass die maßgeblichen Anforderungen an die Vergabe eingehalten werden142. Insbesondere im Rahmen der Veranstaltung von Messen, Märkten und Volksfesten ist demzufolge die Entscheidung über die Zulassung der Standbetreiber von den dafür zuständigen Gemeindeorganen selbst zu treffen; sie darf nicht einem privaten Schaustellerverband oder einem „Volksfestbeirat“ überlassen werden, der weder Organ der Gemeinde ist noch die Mehrheitsverhältnisse im Gemeinderat widerspiegelt143. Wird – etwa im Rahmen eines Konzessionsmodells – dem Privaten auch die Zulassung der Standbetreiber übertragen, muss sich die Kommune insoweit jedenfalls hinreichende Einwirkungsrechte – etwa in Gestalt eines Letztentscheidungsrechts – vorbehalten, um ihrer Verantwortung für eine rechtlich einwandfreie Auswahl nachkommen zu können144. 3. Spezialgesetzliche Grenzen Eine spezialgesetzliche Regelung der funktionalen Privatisierung enthält zunächst für die Abfallentsorgung § 16 Abs. 1 KrW-/AbfG145, der in Satz 1 die Beauftragung Dritter mit der Erfüllung der Entsorgungspflichten der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger erlaubt. Satz 2 stellt klar, dass hierdurch die Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger für die Erfüllung der Pflichten unberührt bleibt, und Satz 3 normiert mit dem Erfordernis der Zuverlässigkeit eine zentrale Voraussetzung für die Auswahl des Dritten. Für die Abwasserbeseitigung findet sich eine entsprechende Regelung nunmehr in § 56 S. 3 WHG 2010; damit sollte ausweislich der Gesetzesmaterialien lediglich ein „Grundsatz des allgemeinen Verwaltungsrechts“ klargestellt und an die in der Praxis eingesetzten Privatisierungsmodelle angeknüpft werden146. Regelungen für die funktionale Privatisierung der Wasserversorgung finden sich schließlich in verschiedenen Landeswassergesetzen, indem die Träger der öffentli-
142 Hierzu Donhauser, NVwZ 2010, 931 (934); Geis, Kommunalrecht (Fußn. 9), § 10 Rn. 41. 143 VGH München, NVwZ 1999, 1122 (1124); VGH München, NVwZ-RR 2004, 599 (600 f.); dazu Donhauser, NVwZ 2010, 931 (632 f.). 144 Gröpl, GewArch 1995, 367 (371). 145 Zur Einordnung als funktionale Privatisierung Kahl, in: Regulierungsrecht (Fußn. 82), § 13 Rn. 6; Dippel, in: KrW-/AbfG (Fußn. 129), § 16 Rn. 7 („Erfüllungsprivatisierung“). 146 BT-Drs. 16/12275, S. 68.
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chen Wasserversorgung ermächtigt werden, sich zur Erfüllung ihrer Versorgungspflichten Dritter zu bedienen147. V. Vermögensprivatisierung Die Grenzen der Vermögensprivatisierung ergeben sich neben den bereits genannten Vorschriften zur Veräußerung kommunaler Unternehmen oder von Anteilen an solchen (etwa § 106 GemO BW) aus dem kommunalen Haushaltsrecht. Danach darf die Gemeinde Vermögensgegenstände unter der Voraussetzung veräußern, dass sie diese in absehbarer Zeit nicht zur Erfüllung ihrer Aufgaben benötigt – auch dann allerdings prinzipiell nur zu ihrem vollen Wert; dies gilt entsprechend auch für die Überlassung der Nutzung eines Gegenstandes (§ 92 Abs. 1 und 2 GemO BW). Ferner sind die im Einzelnen differierenden Vorschriften über Kreditaufnahmen zu berücksichtigen, welche regelmäßig auch einer Kreditaufnahme wirtschaftlich gleichkommende (kreditähnliche) Rechtsgeschäfte erfassen und hierfür kommunalaufsichtliche Genehmigungsvorbehalte begründen (so beispielsweise § 87 Abs. 5 GemO BW). 1. Leasingfinanzierung kommunaler Investitionen Angesichts kommunaler Finanznöte hat in den vergangenen Jahren die Leasingfinanzierung kommunaler Investitionsvorhaben eine gewisse Verbreitung gefunden. Hierbei wird eine von der Gemeinde benötigte Anlage von einem privaten Investor finanziert und errichtet, der sie anschließend an die Gemeinde vermietet. Ob derartige Leasingmodelle als Kreditaufnahme im Sinne des kommunalen Haushaltsrechts zu qualifizieren sind, ist umstritten; da sie bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise im Ergebnis einer Kreditfinanzierung gleichkommen, sind sie haushaltsrechtlich als kreditähnliche Rechtsgeschäfte zu qualifizieren148. 2. Cross-Border-Leasing im Besonderen Besondere Aufmerksamkeit hat in den vergangenen Jahren das Cross-Border-Leasing (CBL) erlangt149. Wurde CBL in den 1990er Jahren noch als neue, innovative Finanzierungsform gepriesen, die geeignet schien, klammen Gemeinden in Zeiten schwerer Finanznot dringend benötigte Einnahmen zu verschaffen, so ist diese Einschätzung heute nicht nur allgemein einer Ernüchterung gewichen, sondern es deuten 147 Etwa § 39 Abs. 2 hessWG; § 57 Abs. 3 S. 1 sächsWG; § 61 Abs. 2 i.V.m. § 58 Abs. 4 S. 2 ThürWG; dazu Kahl, in: Regulierungsrecht (Fußn. 82), § 14 Rn. 16. 148 Ebenso Elicker, DÖV 2004, 875 (875 f.); Hellermann, in: Handbuch kommunale Unternehmen (Fußn. 16), § 7 Rn. 208. 149 Nach Schätzung von Experten wurden zwischen 1995 und 2000 in Deutschland zwischen 150 und 200 Cross-Border-Leasing-Verträge abgeschlossen (Weber, NJW 2009, 2927 [2932]).
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sich zunehmend gravierende Konsequenzen für die finanzielle Situation und die politischen Entscheidungsspielräume der betreffenden Kommunen an. Wenngleich angesichts einer Änderung des US-amerikanischen Steuerrechts inzwischen keine neuen CBL-Verträge mehr abgeschlossen werden, rechtfertigt sich im vorliegenden Zusammenhang ein knapper Blick darauf, weil die Folgen – befördert durch die globale Finanzkrise des Jahres 2008 – zunehmend sichtbar werden und betroffene Gemeinden bzw. Aufsichtsbehörden noch lange mit Herausforderungen konfrontieren dürften. a) Eigenart des Cross-Border-Leasing Die äußerst komplexen Verträge über CBL sind im Kern dadurch gekennzeichnet150, dass die Gemeinde kommunale Vermögensgegenstände im Rahmen eines Hauptmietvertrags (sog. Headlease) langfristig (meist für 99 Jahre) an einen von einem US-amerikanischen Investor gegründeten Trust vermietet, um sie anschließend mittels eines Untermietvertrags (sog. Sublease) wieder für einen relativ kurzen Zeitraum – in der Regel 25 bis 30 Jahre – zurück zu mieten. Nach Ende des Untermietvertrages ist die Gemeinde berechtigt, den Hauptmietvertrag vorzeitig durch Kündigung und Zahlung eines Geldbetrags aufzulösen. Zu Beginn der Transaktion erbringt der Trust den aus dem Hauptmietvertrag geschuldeten Mietzins in Form einer einmaligen Zahlung, welche die Gemeinde einem hinsichtlich der Kreditwürdigkeit näher bezeichneten Finanzinstitut zu überlassen hat, das auch die Zahlungen an den Trust aus dem Untermietvertrag übernimmt. Demgegenüber bleibt der Gemeinde der Barwertvorteil aus einer Differenz zwischen der Zahlung des Trusts einerseits und den Leistungen an das Finanzinstitut einschließlich der Transaktionskosten andererseits. Sie ergab sich nach früherem US-amerikanischem Steuerrecht daraus, dass der Investor aufgrund der langen Laufzeit des Hauptmietvertrages als wirtschaftlicher Eigentümer der kommunalen Vermögensgegenstände bestimmte steuerliche Abschreibungen vornehmen konnte. Diese Möglichkeiten sind mittlerweile rechtlich versperrt, so dass CBL-Geschäfte nicht mehr getätigt werden151. Die Verträge wurden durchweg in englischer Sprache geschlossen und haben teilweise einen Umfang von 1500 – 1700 Seiten152. Sie sehen detaillierte Verpflichtungen der betreffenden Gemeinde im Blick auf den Umgang mit den vermieteten Vermögensgegenständen vor – insbesondere im Hinblick auf Pflege, Erhaltung, Ersetzung und sonstige Maßnahmen, welche einem Genehmigungsvorbehalt des Investors unterliegen.
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Dazu und zum Folgenden Laudenklos/Pegatzky, NVwZ 2002, 1299 (1300 f.); Smeets/ Schwarz/Sander, NVwZ 2003, 1061 (1062 f.); Elicker, DÖV 2004, 875 (877); Rietdorf, KommJur 2008, 441 (441); Böhm/Stepputat, DÖV 2009, 984 (985). 151 Dazu Weber, NJW 2009, 2927 (2932). 152 Laudenklos/Pegatzky, NVwZ 2002, 1299 (1303).
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b) Problempunkte des Cross-Border-Leasing Mit der Finanzkrise des Jahres 2008 ging einher, dass US-amerikanische Banken, die in den Vollzug des Untermietvertrags eingeschaltet worden sind, in ihrer Kreditwürdigkeit herabgestuft wurden; einzelne Gemeinden mussten deshalb mit der Folge einer erheblichen Mehrbelastung ihrer Haushalte neue Sicherheiten bzw. Kredite bestellen153. Darüber hinaus können die im Hinblick auf den Umgang mit den vermieteten Vermögensgegenständen vereinbarten Pflichten dazu führen, dass öffentliche Einrichtungen nicht mehr veränderten Umständen entsprechend zu betreiben sind; so liegen die Dinge, wenn Leitungsnetze nicht zurückgebaut oder vorhandene Kapazitäten nicht neuen Erfordernissen angepasst werden dürfen. Ferner erfordert der Vollzug der Verträge juristisches Fachwissen, über welches viele Gemeinden nicht verfügen und das daher teuer eingekauft werden muss. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass angesichts der in englischer Sprache verfassten und äußerst umfangreichen Verträge sehr viele kommunale Entscheidungsträger allenfalls eine rudimentäre Vorstellung vom Inhalt der Verträge hatten und haben. Auch schränken die übernommenen Verpflichtungen und Folgekosten den kommunalen Spielraum im Blick auf die Art und Weise des Betriebs der betroffenen öffentlichen Einrichtungen für lange Zeit sehr stark ein. Schließlich ist der Rechtsschutz gegenüber Maßnahmen des Investors aufgrund des grenzüberschreitenden Charakters der Verträge und der Vielzahl an ungeklärten Rechtsfragen mit einem äußerst hohen Maß an Unsicherheit verbunden. c) Durch Cross-Border-Leasing aufgeworfene Rechtsfragen Mit CBL sind eine Vielzahl rechtlicher Fragen verbunden, die weit über das Öffentliche Recht hinaus reichen und auch das internationale Privat- und Verfahrensrecht betreffen154. Im vorliegenden Kontext können lediglich die Genehmigungsbedürftigkeit derartiger Geschäfte, mögliche haftungsrechtliche Folgen bei Verletzung kommunalaufsichtlicher Pflichten und die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit derartiger Verträge knapp angedeutet werden. Die insoweit geltenden Grundsätze sind für einzelne Bundesländer je nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften der Gemeindeordnungen möglicherweise zu modifizieren. Die Genehmigungsbedürftigkeit von CBL-Geschäften ist zu bejahen, da sowohl der Hauptmiet- als auch der Untermietvertrag jeweils einen Genehmigungstatbestand erfüllen: einerseits die Überlassung der Nutzung eines kommunalen Vermögensgegenstandes an einen Dritten beim Hauptmietvertrag und andererseits der aus der Verpflichtung zur Zahlung von Leasingraten über einen längeren Zeitraum hinweg resultierende Charakter als kreditähnliches Geschäft beim Untermietvertrag155. 153
Rietdorf, KommJur 2008, 441 (441); Weber, NJW 2009, 2927 (2932 f.). Hierzu Rahm, NVwZ 2010, 288 (290 ff.); Böhm/Stepputat, DÖV 2009, 984 (989 ff.). 155 Ebenso Laudenklos/Pegatzky, NVwZ 2002, 1299 (1303 f.); Elicker, DÖV 2004, 875 (877 f.); Böhm/Stepputat, DÖV 2009, 984 (987 f.). 154
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War das Leasinggeschäft genehmigungspflichtig und wurde die Genehmigung von der Kommunalaufsichtsbehörde pflichtwidrig erteilt mit der Folge, dass der Gemeinde ein Vermögensschaden entsteht, so kann dies nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Fall Oderwitz einen Amtshaftungsanspruch der Gemeinde gegen den Träger der Kommunalaufsichtsbehörde zur Folge haben156. Die Frage nach der Wirksamkeit bzw. Durchsetzbarkeit des Vertrags stellt sich, wenn die Gemeinde ihren vertraglichen Pflichten nicht nachkommt und der Investor von seinem Recht Gebrauch macht, die Herausgabe der kommunalen Vermögensgegenstände zu verlangen157. Hier ist davon auszugehen, dass CBL-Verträge nach deutschem Recht jedenfalls dann gemäß § 134 BGB nichtig sind, wenn sie Vermögensgegenstände betreffen, welche seitens der Gemeinde zur Erfüllung wichtiger kommunaler Aufgaben benötigt werden158. Sollte der Investor demgegenüber versuchen, vor US-amerikanischen Gerichten einen Titel zu erlangen, dürfte die Gemeinde nach Maßgabe von § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO vor einer Zwangsvollstreckung geschützt sein. Danach ist die Anerkennung des Urteils u. a. dann ausgeschlossen, wenn dies zu einem Ergebnis führen würde, welches mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere wenn die Anerkennung gegen Grundrechte verstieße159. Davon ist jedenfalls dann wegen eines Verstoßes gegen Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) in Verbindung mit den Grundrechten der Einwohner auszugehen, wenn die betreffende öffentliche Einrichtung der auch grundrechtlich gebotenen Versorgung der Bevölkerung dient und diese durch das Herausgabeverlangen beeinträchtigt würde160. Freilich wird die Gemeinde im Falle fehlender Realisierbarkeit des Herausgabeanspruchs dann möglicherweise Schadensersatzansprüchen des Investors ausgesetzt sein.
VI. Schluss Es zeigt sich, dass sowohl das Verfassungsrecht als auch das „einfache“ Gesetzesrecht den Gemeinden vielfältige Möglichkeiten zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen eröffnen und hierbei Grenzen weniger dem „Ob“ der Privatisierung als vielmehr deren konkreter Ausgestaltung – insbesondere im Rahmen des Privatisierungsfolgenrechts – ziehen. Die Entscheidung über eine Privatisierung öffentlicher Einrichtungen hängt deshalb nur ausnahmsweise von juristischer Subsumtion ab161; gerade in Zeiten leerer Kassen ist sie vielmehr primär als Frage der Politik von den demokratisch legitimierten Gemeindeorganen jeweils nach Maßgabe der örtlichen Verhältnisse vorzunehmen. Das Recht hat hier im Wesentlichen lediglich den 156 157 158 159 160 161
BGHZ 153, 198. Dazu Pegatzky, LKV 2003, 451; Elicker, DÖV 2004, 875 (878). Smeets/Schwarz/Sander, NVwZ 2003, 1061 (1067 f.). Näher hierzu Böhm/Stepputat, DÖV 2009, 984 (988 f.). Dies gilt nach § 723 Abs. 2 S. 2 ZPO auch für die Vollstreckung eines Urteils. So zu Recht mit eingehender Begründung Böhm/Stepputat, DÖV 2009, 984 (991 f.). Zutreffend Wieland, NdsVBl. 2009, 33 (33).
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Charakter einer Rahmenordnung162, innerhalb derer verantwortungsvolle und juristisch konsistente Entscheidungen im Einzelfall gefragt sind.
162
Burgi, in: HbStR IV (Fußn. 1), § 75 Rn. 13; Wieland, NdsVBl. 2009, 33 (33).
Verwaltungsprozessuale Probleme der reformatio in peius Von Wolfgang Kahl I. Einleitung Die reformatio in peius im Widerspruchsverfahren ist, wie Wolf-Rüdiger Schenke treffend angemerkt hat, ein „Dauerthema“.1 Das anhaltende praktische und wissenschaftliche Interesse an dieser Figur verwundert wenig, geht es doch um Fälle, in denen sich der Bürger mit dem Widerspruch gegen einen ihn belastenden Verwaltungsakt wendet und statt Abhilfe eine Verböserung des Verwaltungsakts zu seinen Lasten erfährt,2 mithin um sowohl rechtlich als auch tatsächlich heikle Situationen. Die Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit der reformatio in peius im Verwaltungsverfahren außerhalb ausdrücklicher Normierungen3 ist viel diskutiert und wird – wenngleich nicht ohne bedenkenswerten Widerspruch4 – heute mit Recht mehrheitlich bejaht. Weitgehend konsentiert ist, dass die Zulässigkeit der reformatio in peius im konkreten Fall nicht der VwGO, sondern dem einschlägigen Bundes- oder Landesrecht zu entnehmen ist.5 Über die genauen Voraussetzungen der Zulässigkeit der Verböserung, insbesondere in Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde6 und die materielle Rechtsgrundlage,7 besteht hingegen nach wie vor keine Einigkeit. 1 Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), 2009, S. 114. 2 Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 68 Rn. 10. Zu unterscheiden ist die reformatio in peius von den Fällen, in denen ein Verwaltungsakt aufgrund des Widerspruchs eines Dritten zu Lasten des Adressaten verbösert wird, sowie den Fällen, in denen die Widerspruchsbehörde gleichsam „bei Gelegenheit“ eine den Widerspruchsführer stärker belastende Entscheidung trifft, die aber über den Gegenstand des Widerspruchsverfahrens hinausgehen; vgl. mit Beispielen Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 688 ff. 3 Z.B. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO. 4 Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 9 Rn. 17; Ule/Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, § 46 Rn. 5, § 61 Rn. 7; Lindner, DVBl. 2009, 224 (226). 5 BVerwGE 51, 310 (313 f.); 115, 259 (265); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 68 Rn. 10a. 6 Sie ist unproblematisch gegeben bei Identität von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde. Bei fehlender Identität divergieren die postulierten Anforderungen; vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 68 Rn. 10b (Selbsteintrittsrecht der Widerspruchsbehörde nötig); Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 372 (Weisungsbefugnis im Rahmen der Fachaufsicht); Schoch, in: Ehlers/ders., Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2008, § 20 Rn. 70 (§ 73 i.V.m. § 68 VwGO); Renz, DÖV 1991, 138 (143 f.) (Gewohnheitsrecht).
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Diese Fragen sollen hier nicht erneut aufgeworfen, sondern stattdessen von der grundsätzlichen8 Zulässigkeit der reformatio in peius ausgegangen werden. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen sollen allein die verwaltungsprozessualen Probleme der reformatio in peius stehen. Konkret geht es dabei um die Fragen des Klagegegenstandes (II.), des Verhältnisses von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage (III.), des richtigen Beklagten (IV.) sowie der Aufhebungsentscheidung des Gerichts (V.). II. Klagegegenstand Nach einer reformatio in peius im Widerspruchsverfahren stehen mit dem Ausgangsverwaltungsakt und dem Widerspruchsbescheid stets zwei Verwaltungsakte im Raum. Wird in dieser Situation gerichtlicher Rechtsschutz gesucht, regelt § 79 VwGO, was Gegenstand einer Anfechtungsklage sein kann. 1. Ursprünglicher Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheids In § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist normiert, dass Gegenstand der Anfechtungsklage „der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid erfahren hat“, ist. Dadurch wird für diese sog. Einheitsklage das Verhältnis der beiden Verwaltungsakte zueinander dahingehend bestimmt, dass Ausgangsverwaltungsakt und Widerspruchsbescheid zu einer prozessualen Einheit zusammengefasst werden und als solche einen einheitlichen Angriffsgegenstand bilden und zwar auch, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde unterschiedlichen Rechtsträgern angehören.9 Bei diesem einheitlichen Angriffsgegenstand stellt sich insbesondere die
7 Siehe beispielsweise Schenke (Fußn. 2), Rn. 694 f. (§§ 48 ff. VwVfG als Rechtsgrundlage) einerseits und Schoch (Fußn. 6), § 20 Rn. 72 (Rechtsgrundlage des Ausgangsverwaltungsaktes) andererseits; ferner Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl. 2010, § 40 Rn. 12 ff. m.w. Nachw. 8 Ausnahmen werden von der herrschenden Meinung beispielsweise angenommen, wenn die Widerspruchsbehörde eine reine Rechtsbehelfsbehörde ist, wie z. B. die rheinland-pfälzischen Rechtsausschüsse nach § 7 I RhPfAGVwGO; vgl. OVG Koblenz, NVwZ-RR 2004, 723; Pietzner, VerwArch 80 (1989), 501 (504 ff.); a.A. Schröder, NVwZ 2005, 1029 ff.; ferner im Wideraufgreifensverfahren nach § 51 VwVfG, da hier eine Sachentscheidung nur im Rahmen des Antrags möglich sein soll; vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, § 51 Rn. 9, 20a; a.A. Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, 3. Aufl. 1993, S. 332. Im Prüfungsrecht wird nur von einer teilweisen Zulässigkeit ausgegangen; vgl. BVerwGE 109, 211 (216 f.); Kingreen, DÖV 2003, 1 (6 ff.). In weisungsfreien Angelegenheiten, insbesondere in Selbstverwaltungsangelegenheiten, ist eine reformatio in peius durch eine Widerspruchsbehörde, die einem anderen Rechtsträger als dem der Ausgangsbehörde angehört, unstreitig ausgeschlossen; vgl. VGH München, BayVBl. 2006, 434 (435); Hüttenbrink, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 68 Rn. 11; Hufen (Fußn. 4), § 9 Rn. 19. 9 Vgl. BVerwGE 19, 327 (330); Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Gesamtwerk: Mai 2010, § 79 Rn. 3; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungs-
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Frage, was das Gericht inhaltlich zu überprüfen hat, sprich, was noch als „Gestaltgebung“ durch den verbösernden Widerspruchsbescheid anzusehen ist. Einigkeit besteht darüber, dass der (verbösernde) Widerspruchsbescheid hinsichtlich Inhalt (Tenor) und der (tragenden) Gründe das letzte Wort hat und insoweit die Gestalt des Angriffsgegenstands maßgebend prägt.10 Demgegenüber will die wohl herrschende Meinung Verfahrenshandlungen nicht als gestaltgebend ansehen.11 Richtigerweise muss bei dieser Problematik jedoch differenziert werden. Die These der fehlenden Gestaltgebung von Verfahrenshandlungen im Widerspruchsverfahren trifft für die Fälle zu, in denen ein (materiell verbösernder) Widerspruchsbescheid in einem korrekt durchgeführten Widerspruchsverfahren ergangen ist, der Ausgangsverwaltungsakt aber an einem formellen Fehler leidet. Die durch § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO angeordnete prozessuale Einheit hat nämlich nicht zur Folge, dass im Ausgangs- sowie Widerspruchsverfahren gesondert vorzunehmende Verfahrensschritte als verschmolzen betrachtet werden. Vielmehr ist auf allen Verfahrensstufen einzeln zu prüfen, ob eine Belastung des Bürgers vorliegt. Eine materielle Belastung im Ausgangsverwaltungsakt wird zwar durch eine berichtigende Entscheidung der Widerspruchsbehörde stets aufgehoben. Dies liegt aber daran, dass die (materielle) Anordnung, die dem Bürger gegenüber ergeht, eindeutig sein muss, weshalb bei nicht kongruenten materiellen Inhalten von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid eine Entscheidung, welche Anordnung maßgeblich ist, getroffen werden muss.12 Eine vergleichbare Entscheidung muss für Verfahrensfehler nicht getroffen werden, denn unterschiedlich durchgeführte Verfahren irritieren den Adressaten des Rechtsbefehls nicht bei dessen Befolgung. Weil inhaltliche Konflikte ausgeschlossen sind, können unterschiedliche Verfahrenshandlungen nebeneinander bestehen bleiben. Da Verfahrensfehler von der Rechtsordnung auch als eigenständige Belastungen anerkannt werden, ist gerade unter der Ägide eines effektiven Rechtsschutzes kein Grund erkennbar, Fehler im Ausgangsverfahren für unbeachtlich zu erklären. Nicht § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO, sondern die spezielleren §§ 45, 46 VwVfG13 bestimmen, wie mit dem Verfahrensfehler umzugehen ist.14 Anders sind wirkung im Öffentlichen Recht, 1995, S. 171 ff. Daraus folgt nicht, dass der Angriffsgegenstand unteilbar sein müsste (Detterbeck, ebd., S. 173 f.). 10 BVerwGE 62, 80 (81); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 1; Happ, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 79 Rn. 5, 9. 11 Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 1; Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 9 f.; Brenner, in: Sodan/ Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 79 Rn. 23; ebenso, wenngleich zweifelnd, Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 4a. 12 Dies gilt auch für die tragenden Gründe des Verwaltungsaktes. Die erforderliche Begründung des Verwaltungsaktes (§ 39 Abs. 1 VwVfG) stützt und erläutert dessen Tenor und ist deshalb inhaltlich mit ihm verbunden. Bei Ermessensentscheidungen wird dies besonders deutlich (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG). 13 Bzw. die entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften. 14 Vgl. Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 10. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die Widerspruchsbehörde auf Grundlage von § 45 Abs. 1 VwVfG eine Heilung vornimmt, vgl. Kopp/ Schenke (Fußn. 2), § 68 Rn. 11 m. Nachw. Beispielhaft für die besonders problematische
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hingegen die Fälle zu beurteilen, in denen auf ein formell fehlerfreies Ausgangsverfahren ein formell fehlerhaftes Widerspruchsverfahren folgt und damit gleichsam eine formelle Verböserung vorliegt. Das bedeutet freilich nicht, dass der formelle Fehler im Widerspruchsverfahren in diesen Konstellationen auf das Ausgangsverfahren derart durchschlägt, dass auch letzteres als formell fehlerhaft anzusehen wäre. Die Verfahrensschritte werden, wie gesehen, durch § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gerade nicht verschmolzen. Dass hieraus aber bisweilen gefolgert wird, formelle Fehler des Widerspruchbescheides blieben bei Klagen gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO unberücksichtigt,15 kann nicht überzeugen. Diese Schlussfolgerung ist zwar vor dem Hintergrund zu sehen, dass ihre Befürworter den Verfahrensfehler (nur) bei Klagen gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO für beachtlich halten.16 Das hieße aber in Fällen, in denen ein formell rechtmäßiger, aber materiell rechtswidriger Ausgangsverwaltungsakt durch einen formell rechtswidrigen, aber materiell rechtmäßigen Widerspruchsbescheid abgeändert wird, im Rahmen einer Klage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zum Nachteil des Bürgers eine Belastung zu ignorieren und ihm eventuell eine neue Sachentscheidung der Behörde vorzuenthalten, was aufgrund des nur ihr zukommenden Ermessens bedeutsam sein kann. Dieser Missstand wird zwar umgangen, wenn der Bürger auf zwei Klagen verwiesen wird.17 Dieser Weg ist aber – wie zu zeigen sein wird – mit Abgrenzungsschwierigkeiten und praktischen Problemen verbunden und deshalb im Lichte von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zumindest bedenklich.18 Angesichts dessen ist es vorzugswürdig, Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren durchaus als Gestaltgebung anzusehen.19 Die unterschiedliche Behandlung von fehlerfreien und fehlerhaften Verfahrenshandlungen im Widerspruchsverfahren ist dabei auch nicht inkonsequent. Zweck des Verwaltungsprozessrechts ist die Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Dem entspricht es, eine Perspektive einzunehmen, aus der heraus auf alle Belastungen des Bürgers möglichst einfach reagiert werden kann. Nicht gesagt ist damit, dass die Gestaltgebung durch Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren dazu führt, dass wegen ihr auch der Ausgangsverwaltungsakt aufgehoben werden müsste. Die Bejahung der Gestaltgebung macht den Verfahrensfehler im Rahmen von Klagen gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO überprüfbar. Hieraus folgt aber nicht die Notwendigkeit einer einheitlichen Aufhebungsentscheidung, wenn bereits durch die isolierte Beseitigung der im Widerspruchsverfahren erfolgten Belastung ein ursprünglich rechtmäßiger Zustand wieder hergestellt werden kann.20
Nachholung der Anhörung des Betroffenen Schenke, VerwArch 97 (2006), 592 (608 f.); Schoch, JURA 2007, 28 (29 f., 31). 15 So Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 9; a.A. zu Recht BVerwGE 13, 195 (198). 16 Vgl. BVerwG, Buchholz 310 § 79 VwGO Nr. 7, 18; Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 29. 17 Dafür Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 29; vgl. auch Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 4a. 18 Vgl. unten sub III. 19 So auch Möstl, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 79 Rn. 13; Detterbeck (Fußn. 9), S. 179 ff. 20 Siehe unten sub V.
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Neben der Verfahrensfehlerproblematik ist zudem die Annahme verbreitet, der sog. Selbsteintritt sei keine Gestaltgebung mehr.21 Angesprochen sind die Fälle, in denen die Widerspruchsbehörde durch ihre Entscheidung den Verfahrensgegenstand sprengt, das heißt bei Gelegenheit des Widerspruchsverfahrens von diesem nicht erfasste zusätzliche Fragen „mitregelt“. Der Selbsteintritt ist kein Fall der reformatio in peius, sondern von dieser zu trennen, da nicht eine Entscheidung verbösert, sondern eine gänzlich neue Entscheidung getroffen wird.22 Deshalb soll vorliegend auf diese Problematik nicht weiter eingegangen werden, wenngleich beachtliche Gründe auch in diesen Fällen für die Annahme einer Gestaltgebung sprechen.23 Insgesamt ist Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO mithin weit zu verstehen und erfasst insbesondere auch Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren. 2. Widerspruchsbescheid Abweichend von der Einheitsklage eröffnet § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO dem Bürger die Möglichkeit, eine sog. isolierte Anfechtungsklage zu erheben, deren Angriffsgegenstand allein der Widerspruchsbescheid ist.24 Hierfür muss der Widerspruchsbescheid eine zusätzliche selbstständige Beschwer enthalten. Die Merkmale „zusätzlich“ und „selbstständig“ sind vom Gesetzeszweck her synonym zu verstehen, so dass jede Änderung des Ausgangsverwaltungsaktes zuungunsten des Betroffenen als zusätzliche selbstständige Beschwer anzusehen ist.25 Bei einer reformatio in peius ist es deshalb immer möglich, gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO mit der Anfechtungsklage nur den Widerspruchsbescheid anzugreifen. Andere Ansichten, die ausgehend von einem abweichenden Verständnis des Selbstständigkeitserfordernisses für Klagen nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine „Wesensänderung“ des Ausgangsverwaltungsaktes durch den Widerspruchsbescheid fordern26 bzw. diesen Ansatz weiterführend eine isolierte Anfechtungsklage bei einer reformatio in peius nie zulassen möchten,27 sind abzulehnen. Mit ihnen sind unnötige Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden. Außerdem ist die Annahme, der praktisch häufige Fall einer isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids bei einer reformatio in peius sei nicht eigenständig geregelt, sondern über eine Teilanfechtung im Rahmen von § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO zu konstruieren, die dann auch noch gegen die Ausgangsbehörde gerichtet 21
Brenner (Fußn. 11), § 79 Rn. 44; Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 10, 22. Vgl. hierzu Scheerbarth, Die verwaltungsbehördliche reformatio in peius und ihre prozessuale Problematik, 1996, S. 34 ff. sowie die Nachw. in Fußn. 2. 23 Siehe Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 13 m. Nachw. 24 Der Widerspruchsbescheid ist alleiniger Angriffsgegenstand auch bei Klagen gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Dieser ist in Fällen der reformatio in peius aber nicht einschlägig, da er eine erstmalige Beschwer erfordert; eine Verböserung reicht mithin nicht aus. 25 BVerwGE 17, 148 (150); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 11; Juhnke, BayVBl. 1991, 136 (138); Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 12. 26 Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 79 Rn. 9. 27 Scheerbarth (Fußn. 22), S. 78 ff., 98 ff. 22
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ist, die den Widerspruchsbescheid nicht in jedem Fall zu verantworten hat, nicht plausibel.28 Das Erfordernis einer zusätzlichen selbstständigen Beschwer ist somit weit zu verstehen. Gleichwohl wird beständig eine Ausnahme diskutiert, die auch für die reformatio in peius von Bedeutung ist. Bisweilen wird nämlich das Vorliegen einer zusätzlichen selbstständigen Beschwer bestritten, wenn der Widerspruchsbescheid nicht den Tenor des Ausgangsverwaltungsaktes, sondern lediglich dessen Begründung ändert; dies soll selbst dann gelten, wenn die neue Begründung Ermessensfehler erkennen lässt.29 Dies überzeugt nicht. Aus § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO wird deutlich, dass es für das Vorliegen einer zusätzlichen Beschwer nicht auf eine Änderung des Tenors ankommt.30 Eine Auswechslung der Begründung ist zwar auch Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Weshalb eine solche aber das Vorliegen einer zusätzlichen Beschwer ausschließen sollte,31 ist nicht ersichtlich.32 So ist gerade der klassische Fall der reformatio in peius durch für den Widerspruchsführer nachteilige Änderung des Tenors sowohl Gestaltgebung als auch zusätzliche selbstständige Beschwer. Mithin kann auch eine Begründungsänderung – wie jede andere Belastung aus dem Widerspruchsbescheid – Gestaltgebung und zusätzliche Beschwer zugleich sein. Ob dies jeweils der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen. Unabhängig davon wird, insbesondere vom Bundesverwaltungsgericht, vertreten, ein Verfahrensmangel im Widerspruchsverfahren führe bei gebundenen Verwaltungsentscheidungen grundsätzlich nicht dazu, dass der Widerspruchsbescheid wie von § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO gefordert auf ihm „beruht“, weshalb einer nur gegen den Widerspruchsbescheid gerichteten Anfechtungsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehle.33 Dass dem in dieser Pauschalität nicht zuzustimmen ist, hat Wolf-Rüdiger Schenke überzeugend herausgearbeitet,34 worauf hier verwiesen sei. Auch das Bundesverwaltungsgericht korrigiert sich insofern ein Stück weit selbst und ist der Ansicht, dass im Falle einer unterbliebenen Anhörung vor einer reformatio in peius die gebundene Widerspruchsentscheidung auf dem Verfahrensfehler beruht, also ohne den Fehler möglicherweise anders ausgefallen wäre. Denn wenn eine Anhörung erfolgt wäre, hätte der Widerspruchsführer seinen Widerspruch eventuell zurückgenommen, so dass die Entscheidung der Widerspruchsbehörde auf Einstellung des Verfahrens hätte lauten müssen.35 Hieran wird deutlich, dass auch bei gebundenen 28
Zum Ganzen zutreffend Brenner (Fußn. 11), § 79 Rn. 40. Vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1990, 1085 (1086); Detterbeck (Fußn. 9), S. 184 m. Fn. 153. 30 Schenke, JZ 1996, 998 (1010); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 11, § 113 Rn. 15. 31 So offenbar VGH Mannheim, NVwZ 1990, 1085 (1086). 32 Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 13. 33 BVerwGE 78, 93 (94 ff.); BVerwG, NVwZ 1988, 346 (347); Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 15. 34 Schenke, JZ 1996, 998 (1011); ders. (Fußn. 1), S. 72 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 14. 35 BVerwG, NVwZ 1999, 1218 (1219). 29
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Entscheidungen in jedem Einzelfall genau geprüft werden muss, ob sie auf dem Verfahrensfehler beruhen. Dies gilt umso mehr, als dass Verfahrensfehler ohne weiteres selbstständige Belastungen darstellen können. Die Annahme, der Wortlaut von § 79 Abs. 2 Satz 2 VwGO deute darauf hin, Verfahrensfehler würden lediglich als Beschwer fingiert, ist seinem Alter geschuldet und durch das spätere Inkrafttreten des VwVfG und die heutige Verfahrensfehlerfolgendogmatik überholt. Das Erfordernis effektiven Rechtsschutzes verbietet es, Belastungen des Bürgers durch Verfahrensfehler ohne Einzelfallprüfung zu übergehen. Damit ist einer isolierten Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO insgesamt ein weites Anwendungsfeld eröffnet. III. Verhältnis von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage Der Adressat von Ausgangsverwaltungsakt und Widerspruchsbescheid muss entsprechend seiner Interessen- und der von ihm für richtig gehaltenen Rechtslage entscheiden, ob er beide oder nur die verbösernde Regelung gerichtlich angreifen will. Wie gesehen kommt bei einer reformatio in peius sowohl eine Einheitsklage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO als auch eine isolierte Anfechtungsklage nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO in Betracht. Das Verhältnis der Klagen zueinander ist entscheidend für die Frage, mit welchem Klageantrag der Rechtsschutzsuchende das seinem Interesse entsprechende Begehren durchsetzen kann. Teilweise wird das Verhältnis von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage dahingehend verstanden, dass sie nebeneinander erhoben werden könnten.36 Diese Sichtweise beruht jedoch auf einem zu engen Verständnis der Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Nach ihr sind beispielsweise Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren keine Gestaltgebung und deshalb nicht im Rahmen der Einheitsklage überprüfbar. Hierfür müsste zusätzlich eine isolierte Anfechtungsklage erhoben werden.37 Um alle Belastungen, die aus Ausgangs- und Widerspruchsverfahren hervorgehen können, gerichtlich überprüfen zu lassen, müsste der Bürger somit oftmals zwei Klagen erheben. Dies ist im Lichte von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zumindest bedenklich. Die unter den Prämissen dieser Ansicht im Einzelnen höchst diffizile Abgrenzungsfrage, ob eine Gestaltgebung oder eine zusätzliche selbstständige Beschwer vorliegt, würde auf den Bürger abgewälzt.38 Jedenfalls der anwaltlich nicht Beratene kann diese Abgrenzung kaum leisten und wüsste nicht immer, welcher Antrag bzw. welche Kombination von Anträgen seinem Begehren entspricht. Er liefe dann Gefahr, trotz Erhebung einer Einheitsklage nicht das volle Maß an gerichtlicher Kontrolle zu bekommen, zumal die spätere Erhebung einer isolierten Anfechtungs36 BVerwG, Buchholz 310 § 79 Nr. 18; VGH Mannheim, NVwZ 1990, 1085 (1085 f.); Dawin, NVwZ 1987, 872 (874). 37 Vgl. die Nachw. in Fußn. 36. 38 Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 13.
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klage an deren Verfristung scheitern könnte. Dies ist rechtsstaatlich problematisch, muss doch der Weg zur gerichtlichen Überprüfung staatlicher Entscheidungen für den Rechtssuchenden klar und bestimmt sein.39 Hinzu kommen erhebliche prozessuale Probleme.40 Erwähnt sei nur der Fall, in dem der Kläger mit der Einheitsklage obsiegt, daraufhin aber seine vorsorglich erhobene isolierte Anfechtungsklage ins Leere geht, weil der Widerspruchsbescheid schon mit aufgehoben worden ist. Sofern sich die Klagen – was häufig der Fall sein wird41 – gegen unterschiedliche Beklagte richten und damit die Möglichkeit einer Eventualklagehäufung ausscheidet, entstehen neue Abgrenzungsprobleme, denn es muss ermittelt werden, ob zur Vermeidung des Unterliegens und der damit verbundenen Kostentragungspflicht eine Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zu erheben oder der Rechtsstreit einseitig für erledigt zu erklären ist.42 Diese praktischen Erwägungen stützen das oben gefundene Ergebnis, sowohl Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO als auch zusätzliche selbstständige Beschwer im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO weit zu verstehen. Beide erfassen jede zusätzliche Belastung durch den Widerspruchsbescheid und decken sich somit.43 Deshalb hat das Gericht im Rahmen der Einheitsklage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auch alle die Aspekte zu prüfen, die im Rahmen einer isolierten Anfechtungsklage zu prüfen wären. Mithin wird durch die Einheitsklage auch der Widerspruchsbescheid „als solcher“ mit angegriffen.44 Der Zulässigkeit einer neben der Einheitsklage erhobenen isolierten Anfechtungsklage gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO steht dann aber wegen der Identität der Streitgegenstände der Einwand der anderweitigen Rechtshängigkeit (§ 17 Abs. 1 Satz 2 GVG) entgegen.45 Sofern die Klagen gegen unterschiedliche Beklagte zu richten wären, sind die Streitgegenstände in subjektiver Hinsicht zwar nicht identisch. Die Zulässigkeit scheitert dann aber am fehlenden Rechtsschutzbedürfnis, so dass es der Konstruktion eines „Mitverklagtseins“ der Widerspruchsbehörde bzw. ihres Rechtsträgers46 nicht bedarf.47 Somit kann das Verhältnis von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage richtigerweise nur als solches der
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Vgl. BVerfGE 57, 9 (21 f.); 87, 48 (65); 107, 395 (416 f.). Hierzu Detterbeck (Fußn. 9), S. 177 ff. 41 Vgl. unten sub IV. 42 Vgl. beispielsweise den Fall bei BVerwG, Buchholz 310 § 161 Nr. 89. 43 So auch Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 13; weitestgehend auch Pietzcker (Fußn. 9), § 79 Rn. 13. 44 VGH München, BayVBl. 1990, 370 (371); Brenner (Fußn. 11), § 79 Rn. 19; Detterbeck (Fußn. 9), S. 181 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 4; a.A. BVerwG, Buchholz 310 § 79 VwGO Nr. 18; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1997, 447; Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 6 f.; H.J. Müller, NJW 1982, 1370 (1371). 45 Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 2; ausdrücklich für die reformatio in peius Happ (Fußn. 10), § 79 Rn. 21. 46 So VGH München, BayVBl. 1990, 370 (371). 47 Detterbeck (Fußn. 9), S. 186. 40
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strikten wechselseitigen Ausschließlichkeit verstanden werden.48 Dieses Ergebnis wird von Systematik und Wortlaut des § 79 VwGO gestützt, deutet die Formulierung in Absatz 2 („kann“) doch auf die Einräumung eines Wahlrechts zwischen beiden Rechtsbehelfen hin.49 Somit kann immer nur entweder die Einheitsklage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO oder die isolierte Anfechtungsklage nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO erhoben werden. Hiergegen spricht nicht, dass die Erstbehörde für eventuelle Fehler der Widerspruchsbehörde prozessual einzustehen hat, denn diese Folge ist den §§ 78, 79 VwGO immanent.50 Abgesehen davon erfordert dieses „Einstehen“ ohnehin nicht, dass die Erstbehörde die Sachentscheidung der Widerspruchsbehörde „auf Gedeih und Verderben“ verteidigen muss. Materiell-rechtlich stünden der Erstbehörde die §§ 48, 49 VwVfG zur Verfügung, um die Entscheidung – ggf. auch im Wege eines Neuerlasses – zu korrigieren.51 Entsprechend kann von ihr nicht verlangt werden, im Verwaltungsprozess die Rechtsansichten der Widerspruchsbehörde in jedem Punkt zu teilen respektive zu verteidigen. Für die Durchsetzung des Begehrens des Rechtsschutzsuchenden ergibt sich damit, dass sofern Ausgangs- und Widerspruchsbescheid angegriffen werden sollen, eine Einheitsklage nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO erhoben werden muss, in der dann beide Verwaltungsakte in Hinblick auf alle Belastungen überprüft werden. Soll nur der Widerspruchsbescheid angegriffen werden, ist eine isolierte Anfechtungsklage gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO statthaft. Ein auf den Widerspruchsbescheid beschränkter Antrag nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO widerspräche der Systematik des § 79 VwGO.52 IV. Klagegegner Nach hier vertretener Ansicht kann sich der Bürger also entscheiden, ob er Ausgangs- und Widerspruchsbescheid gemeinsam oder nur den Widerspruchsbescheid gerichtlich angreift. Die Bescheide werden aber häufig von unterschiedlichen Behörden erlassen. Sofern diese unterschiedlichen Rechtsträgern angehören stellt sich die Frage, gegen wen die Klage zu richten ist.53 Dabei ist nach dem Aufhebungsbegehren zu differenzieren.
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Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 13; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 79 Rn. 2. Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 13. 50 BVerwGE 78, 3 (6); Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 3, 13. 51 Vgl. zu den Grenzen eines solchen Vorgehens BVerwG, NVwZ 2002, 1252 (1253 f.): die Ausgangsbehörde ist zu einer isolierten Aufhebung nur des Widerspruchbescheids nicht befugt. 52 Möstl (Fußn. 19), § 79 Rn. 14; Detterbeck (Fußn. 9), S. 184. 53 Gehören die Behörden demselben Rechtsträger an, ist stets dieser der richtige Klagegegner, sofern das Rechtsträgerprinzip des § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO greift. Greift das Behördenprinzip des § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, gelten die im Folgenden vorgeschlagenen Lösungsansätze entsprechend. 49
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1. Einheitsklage gegen Ausgangs- und Widerspruchsbescheid Unproblematisch ist die Antwort, wenn Gegenstand der Anfechtungsklage gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der Ausgangsverwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheids ist. Die Klage ist in diesen Fällen – gleichgültig ob der Widerspruchsbescheid verbösernd ist oder nicht – der Regel des § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO folgend stets gegen den Rechtsträger der Ausgangsbehörde bzw. sofern das Landesrecht das Behördenprinzip anordnet gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO gegen die Ausgangsbehörde selbst zu richten.54 2. Isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids Wird (nur) die Aufhebung des im Widerspruchsverfahren verböserten Teils der Entscheidung begehrt, liegen die Dinge etwas komplizierter. Sofern gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine isolierte Anfechtungsklage gegen den Widerspruchsbescheid erhoben wird, ordnet § 79 Abs. 2 Satz 3 VwGO die entsprechende Anwendung von § 78 Abs. 2 VwGO an. Aus diesem Normbefund ergibt sich, dass bei isolierten Anfechtungsklagen gegen den Widerspruchsbescheid der Rechtsträger der Widerspruchsbehörde der richtige Klagegegner ist.55 Vereinzelt wird zwar in dieser Konstellation der Rechtsträger der Ausgangsbehörde als richtiger Klagegegner angesehen und hierfür vorgebracht, die Verweisung in § 79 Abs. 2 Satz 3 VwGO erfasse nur die Fälle, in denen ein durch den Widerspruchsbescheid erstmals beschwerter Dritter eine Klage anstrenge.56 Hierbei wird jedoch übersehen, dass diese Fälle schon von § 78 Abs. 2 VwGO selbst erfasst werden.57 Hintergrund der Mindermeinung und ihrer am Ergebnis orientierten Argumentation ist dabei wohl ein Missverständnis der isolierten Anfechtung des Widerspruchsbescheids als (bloßes) minus gegenüber der Anfechtung des Ausgangsbescheids in Gestalt des Widerspruchbescheids.58 Zwar decken sich beide Anträge hinsichtlich Klagegegenstand und gerichtlichem Prüfungsumfang teilweise. Aus der oben festgestellten Alternativität von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage folgt aber, dass die jeweiligen Anträge formal strikt zu unterscheiden sind und eine Überprüfung nur des Widerspruchsbescheids nicht durch einen inhaltlich beschränkten Antrag nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO erreicht werden kann.59 Mithin ist der Antrag gerichtet auf isolierte Auf-
54 BVerwG, Buchholz 310 § 78 VwGO Nr. 12; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 78 Rn. 13; Würtenberger (Fußn. 6), Rn. 605. 55 Schenke, JZ 1996, 1055 (1060); Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 78 Rn. 13, § 79 Rn. 11 a.E.; Kastner, in: Fehling/ders., Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 79 VwGO Rn. 16. 56 So VGH München, BayVBl. 1978, 16 (LS 1; 17). 57 Theuersbacher, BayVBl. 1978, 18 (19). 58 Vgl. VGH München, BayVBl. 1978, 16 (17). 59 Siehe oben sub III a.E.
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hebung des Widerspruchsbescheids gegenüber der Einheitsklage (formal) ein aliud und kein minus. Diese Feststellung ist auch von Bedeutung für die Klärung der schwierigeren Frage, wer richtiger Beklagter ist, wenn der Kläger seinen ursprünglich auf eine Klage gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO gerichteten Antrag nachträglich auf eine isolierte Anfechtung nur des verbösernden Widerspruchsbescheids beschränkt. Gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO war zunächst der Rechtsträger der Ausgangsbehörde richtiger Beklagter. Entsprechend dem oben Gesagten müsste es nach Umstellung des Klageantrags der Rechtsträger der Widerspruchsbehörde sein. Gleichwohl vertritt die wohl herrschende Meinung, bei nachträglicher Umstellung des Klageantrags bleibe der Rechtsträger der Ausgangsbehörde der richtige Klagegegner.60 Will man hierfür mehr als pragmatische Erwägungen, die dem Rechtsschutzsuchenden die Antragsformulierung erleichtern sollen, aber im Lichte von § 86 Abs. 3 VwGO wenig überzeugen können, anführen, bleibt als dogmatisch sauberer Weg nur, in der nachträglichen Beschränkung des Antrags eine teilweise Klagerücknahme gemäß § 92 Abs. 1 VwGO zu sehen.61 Unabhängig davon, dass die Konsequenz des Zustimmungserfordernisses gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 VwGO – soweit ersichtlich – nicht gezogen wird, kann die Beibehaltung des ursprünglichen Klagegegners über diesen Weg ebenfalls nicht überzeugen. Denn eine teilweise Klagerücknahme ist nur denkbar, wenn man in dem nachträglich gestellten Antrag auf isolierte Anfechtung der verbösernden Widerspruchsentscheidung einen beschränkten Antrag nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO sieht. Ein solcher Antrag würde aber wie gesehen der Systematik des § 79 VwGO widersprechen und kann deshalb nicht gestellt werden.62 Sofern der Kläger (nachträglich) allein die Verböserung angreifen möchte, bleibt ihm nur der Weg über § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO, das heißt er muss auf einen solchen Antrag umstellen. Damit zwingt die Alternativität von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage dazu, die nachträgliche Beschränkung des Klageantrags stets als Klageänderung gemäß § 91 Abs. 1 VwGO anzusehen.63 Da bei Anträgen nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO richtiger Klagegegner der Rechtsträger der Widerspruchsbehörde ist, ist mit der Umstellung des Klageantrags wegen §§ 79 Abs. 2 Satz 3, 78 Abs. 2 VwGO
60 BVerwG, Buchholz 310 § 79 VwGO Nr. 30; NVwZ 1987, 215; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 78 Rn. 13, § 79 Rn. 11 a.E.; Schenke, JZ 1990, 1055 (1060); Brenner (Fußn. 11), § 78 Rn. 32; Kintz, in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 78 Rn. 42. 61 Das Argument, es gäbe einen Grundsatz des Inhalts, ein Rechtsstreit müsse zwischen den Beteiligten fortgeführt werden, zwischen denen er begonnen wurde (so VGH München, BayVBl. 1978, 16 [17]), überzeugt nicht. Selbst wenn es einen solchen Grundsatz gäbe, würde er durch die Regelungssystematik der §§ 78, 79 VwGO durchbrochen; vgl. Theuersbacher, BayVBl. 1978, 18 (19). 62 Siehe oben sub III a.E. 63 A.A. Happ (Fußn. 10), § 78 Rn. 24, der darauf abstellt, ob der Kläger eine Klageumstellung will. Was der Kläger will ist aber irrelevant, soweit er – wie hier – von Rechts wegen in der Art seiner Antragstellung beschränkt ist.
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ein gewillkürter Parteiwechsel verbunden.64 Somit ist richtiger Klagegegner bei der nachträglichen Beschränkung des Klagebegehrens auf die Aufhebung der Verböserung stets der Rechtsträger der Widerspruchsbehörde. Hinsichtlich der Zulässigkeit und den Anforderungen an eine derartige Antragsbeschränkung ist für die einzelnen Verfahrensabschnitte entsprechend den gesetzlichen Vorschriften zu differenzieren: In der ersten Instanz ist die Antragsbeschränkung immer möglich, sofern die anderen bisher Beteiligten zustimmen oder das Gericht die Klageänderung für sachdienlich hält (vgl. § 91 Abs. 1 VwGO). Letzteres wird regelmäßig der Fall sein. Der neue Klagegegner muss seine Zustimmung nicht erklären.65 Ob die Klageänderung durch den Beklagtenwechsel gleichzeitig eine Klagerücknahme gegenüber dem Ausscheidenden darstellt, was ggf. dessen Zustimmung nach § 92 Abs. 1 Satz 2 VwGO erforderlich machen würde, ist umstritten.66 Zweck des Zustimmungserfordernisses bei einer Klagerücknahme ist, dass der Kläger sich im fortgeschrittenen Verfahren nicht einer Entscheidung durch Urteil entziehen können soll.67 Dass diese Gefahr in den Fällen der vorliegenden Art nicht droht, spricht eher gegen die Notwendigkeit einer Zustimmung des bisherigen Klagegegners. In der Berufungsinstanz ist die Antragsbeschränkung unter den gleichen Voraussetzungen möglich (vgl. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), allerdings muss der neue Klagegegner in diesem Stadium zwingend zustimmen, weil ihm sonst eine Instanz genommen wird.68 Im Revisionsverfahren ist eine nachträgliche Beschränkung des Antrags auf die Verböserung nicht mehr möglich, da hier eine Klageänderung unzulässig ist (vgl. § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar kann die Revision als Teilanfechtung auf die Verböserung beschränkt werden, jedoch führt der hierin liegende Rechtsmittelverzicht zu einem rechtskräftigen teilweisen Unterliegen in der Vorinstanz.69 Dass in den unterschiedlichen Verfahrensabschnitten unterschiedliche Anforderungen gelten 64
Vgl. Ehlers, in: ders./Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 22 Rn. 59; Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Gesamtwerk: Mai 2010, § 78 Rn. 44; Juhnke, BayVBl. 1991, 136 (140 f.). 65 Str., soweit es um die Verwertbarkeit der bisherigen Prozessergebnisse gegenüber der neuen Partei geht, vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 91 Rn. 16 einerseits und Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 91 Rn. 36 andererseits. 66 Dagegen: BVerwG, NVwZ-RR 2001, 406 (407); Ortloff/Riese, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, Stand Gesamtwerk: Mai 2010, § 91 Rn. 17, 39 m. Fn. 1; a.A. Rennert (Fußn. 65), § 91 Rn. 22. 67 BT-Drs. 3/55, S. 41 (zu § 93 des Entwurfs). 68 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 91 Rn. 16; Rennert (Fußn. 65), § 91 Rn. 22 m. Nachw. auch zur unzutreffenden Gegenansicht. 69 Der Rechtsschutz des Bürgers wird hierdurch nicht eingeschränkt. Der Bürger hatte in zwei Instanzen die Möglichkeit, seinen Antrag seinem Rechtsschutzbegehren anzupassen. Zudem kann er inhaltlich auch in der Revision noch die gewünschte Entscheidung über die Verböserung erstreiten. Sein einziger Nachteil ist die teilweise Kostentragungspflicht.
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bzw. die Umstellung in der Revisionsinstanz gar nicht mehr möglich ist, spricht nicht gegen diese Lösung.70 Die Uneinheitlichkeiten sind Folge der Anwendung des Gesetzes und den Besonderheiten des jeweiligen Verfahrensabschnitts angepasst. V. Aufhebungsentscheidung des Gerichts Eine weitere Streitfrage bei der verwaltungsprozessualen Behandlung der reformatio in peius stellt sich hinsichtlich der Reichweite der Aufhebungsentscheidung des Gerichts. Keine besonderen Schwierigkeiten bereitet die Beantwortung dieser Frage bei isolierten Anfechtungsklagen nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Dem Klageantrag entsprechend (§ 88 VwGO) kann das Gericht gemäß §§ 115, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur den verbösernden Widerspruchsbescheid aufheben, sofern dieser rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Geschieht dies, ist über den Widerspruch erneut zu entscheiden.71 Problematisch ist demgegenüber, wie die Aufhebungsentscheidung des Verwaltungsgerichts bei Einheitsklagen gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO auszusehen hat, wenn der Ausgangsbescheid rechtmäßig war und nur die verbösernde Widerspruchsentscheidung rechtswidrig ist. Streitig ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen in diesen Konstellationen das Verwaltungsgericht nur den Widerspruchsbescheid aufzuheben und die Klage im Übrigen als unbegründet abzuweisen bzw. zeitweise auszusetzen hat. Denkbar wäre, wegen der „prozessualen Einheit“ bei der Einheitsklage stets nur eine einheitliche Aufhebungsentscheidung für möglich zu halten.72 Allerdings fordert ein einheitlicher Angriffsgegenstand keine einheitliche Aufhebungsentscheidung. Die Möglichkeit von Teilaufhebungen ist anerkannt, wie nicht zuletzt der Wortlaut von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO („soweit“) zeigt. Dementsprechend wird zu Recht überwiegend von der Möglichkeit einer isolierten Aufhebung des Widerspruchbescheids im Rahmen der Einheitsklage ausgegangen,73 lediglich die Voraussetzungen hierfür stehen in Streit. Vorgebracht wird zunächst, eine isolierte Aufhebung sei nur möglich, sofern die Voraussetzungen von § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO – bzw. des im vorliegenden Rahmen nicht interessierenden § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO – gegeben seien.74 Nach der hier vertretenen Ansicht, die Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO und zu70
So aber BVerwG, NVwZ 1987, 215; dagegen Meissner (Fußn. 64), § 78 Rn. 44. Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Gesamtwerk: Mai 2010, § 115 Rn. 2. 72 So BVerwG, Buchholz 310 § 79 VwGO Nr. 18; VGH Mannheim, NVwZ 1990, 1085; Dawin, NVwZ 1987, 872 (874): Eine isolierte Aufhebung sei nur im Rahmen einer zusätzlich zu erhebenden Klage nach § 79 Abs. 2 VwGO möglich. 73 BVerwGE 13, 195 (198); Brenner (Fußn. 11), § 79 Rn. 19; Schenke (Fußn. 2), Rn. 808a; Detterbeck (Fußn. 9), S. 181 ff.; Emmenegger, in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 113 VwGO Rn. 60; Kopp, JuS 1994, 742 (746 f.); Scheerbarth (Fußn. 22), S. 68 ff. (71). 74 Vgl. BVerwGE 13, 195 (197 f.); 70, 196 (197). 71
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sätzliche Beschwer im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO als einander entsprechend versteht, bereitet diese Anforderung keine Probleme. Wird nach einer reformatio in peius eine Einheitsklage erhoben, liegen immer auch die Voraussetzungen von § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO vor. Sofern dies anders gesehen wird, sprechen zumindest Gründe des effektiven Rechtsschutzes und der Verfahrensökonomie für die Möglichkeit einer isolierten Aufhebung im Rahmen der Einheitsklage.75 Es sind nämlich Fallgestaltungen denkbar, in denen ein Verfahrensfehler im Widerspruchsverfahren nicht als Gestaltgebung angesehen würde und deshalb (im Rahmen der Einheitsklage) komplett unberücksichtigt bliebe, obwohl der Bürger eine Klage erhoben hat76 oder in denen eine Begründungsauswechslung im Widerspruchsverfahren nicht als zusätzliche Beschwer angesehen würde und deshalb eine Aufhebung auch des Ausgangsbescheids erfolgt,77 obwohl dieser sofort mit gleichem Inhalt neu erlassen werden könnte. Wenn ferner gefordert wird, im Rahmen der Einheitsklage müsste eine isolierte Aufhebung des Widerspruchbescheids ausdrücklich beantragt werden,78 kann dem nicht gefolgt werden.79 Einheitsklage und isolierte Anfechtungsklage stehen in einem strikten Ausschließlichkeitsverhältnis. Im Rahmen der Einheitsklage einen entsprechenden Antrag zu fordern hieße jedoch, eine zusätzliche Klage nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu verlangen80 bzw. käme dem zumindest sehr nahe, sofern das Antragserfordernis hier „untechnisch“ verstanden werden sollte. Beide Varianten würden jedoch die Systematik von § 79 VwGO umgehen. Das Gericht kann die isolierte Aufhebung mithin ohne einen hierauf gerichteten Antrag vornehmen, was sich auch daraus ergibt, dass – wie gesehen – der Widerspruchsbescheid bereits „als solcher“ mit der Einheitsklage angegriffen ist.81 Zwar nimmt der Wortlaut von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Hinblick auf die Rechtswidrigkeit nur „den Verwaltungsakt“ in Bezug, weshalb man sich auf den Standpunkt stellen könnte, die Rechtswidrigkeit (nur) des Widerspruchsbescheids unterfalle im Rahmen der Einheitsklage nicht § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Näher liegt aber, dass § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO mit „Verwaltungsakt“ nicht allein den Ausgangsverwaltungsakt, sondern den einheitlichen Angriffsgegenstand des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO als ganzes meint. Nur so wird ein Gleichlauf von gerichtlichem Prüfprogramm und Entscheidungsausspruch sichergestellt. Konzediert sei, dass die gesonderte Erwähnung des „etwaigen Widerspruchsbescheid(s)“ in § 113 Abs. 1 Satz 1 75 Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 113 Rn. 15; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 113 Rn. 142; a.A. OVG Bautzen, NVwZ-RR 2002, 409 (410). 76 Vgl. oben sub III. 77 Vgl. BVerwGE 19, 327 (330). 78 Vgl. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 113 Rn. 2. 79 So auch Wolff (Fußn. 75), § 113 Rn. 143. 80 So in der Tat BVerwG, Buchholz 310 § 79 VwGO Nr. 18; VGH Mannheim, NVwZ 1990, 1085 (1085 f.). 81 Siehe oben sub III. Vgl. zum Folgenden insbesondere Brenner (Fußn. 11), § 79 Rn. 19.
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VwGO dann irritierend ist. Gleichwohl zeigt gerade sie an, dass auch im Rahmen von Klagen nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO das Gericht in Hinblick auf den Widerspruchsbescheid eine Aufhebungsentscheidung treffen kann, denn für Klagen nach § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO müsste der Weg über die Verweisung in § 115 VwGO genommen werden. Da die VwGO in § 79 Abs. 2 Satz 1 (und § 79 Abs. 1 Nr. 2) auch selbst von der Teilbarkeit von Ausgangsverwaltungsakt und Widerspruchsbescheid ausgeht, muss die anerkannte Möglichkeit einer Teilaufhebung gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch hinsichtlich des Widerspruchsbescheids im Rahmen der Einheitsklage greifen.82 Diese Sichtweise widerspricht nicht dem wechselseitigen Ausschlussverhältnis von Einheitsklage und isolierter Anfechtungsklage. Im Gegenteil würde die Annahme einer stets einheitlichen Aufhebungsentscheidung im Rahmen der Einheitsklage in vielen Fällen die Systematik des § 79 VwGO unterlaufen, weil der Kläger verleitet sein kann, beide Verwaltungsakte anzugreifen, obwohl er den Ausgangsbescheid für rechtmäßig hält.83 Somit ist im Rahmen der Einheitsklage die isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheids möglich. Geschieht dies und wird die Klage im Übrigen als unbegründet abgewiesen, wird der Ausgangsverwaltungsakt nicht unanfechtbar, sondern bleibt in der Schwebe, bis die Widerspruchsbehörde erneut über den Widerspruch entschieden hat.84 VI. Schluss Die verwaltungsbehördliche reformatio in peius wirft im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Reihe, zum Teil schwieriger und nach wie vor nicht abschließend geklärter Probleme auf. Ausgehend von einem weiten Verständnis von Gestaltgebung im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO und zusätzlicher selbstständiger Beschwer im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 VwGO sowie dem daraus folgenden Ausschließlichkeitsverhältnis von Einheits- und isolierter Anfechtungsklage ergibt sich indes ein konsistentes Konzept, in dessen Rahmen auch stimmige Lösungen für Einzelfragen gefunden werden können.
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Wolff (Fußn. 75), § 113 Rn. 142; Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 113 Rn. 15. Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 2), § 113 Rn. 15 a.E. 84 BVerwGE 13, 195 (198); 70, 196 (197); BVerwG, DVBl. 1989, 1152; Schenke (Fußn. 2), Rn. 808a. 83
Die verwaltungsgerichtlichen Klagearten in Korea* Von Hae Ryoung Kim Vorrede Zunächst gratuliere ich Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke herzlich zu seinem 70. Geburtstag. Prof. Schenke hat sich in seinem Leben als Rechtswissenschaftler immer wieder mit dem Thema „Rechtsschutz des Bürgers gegen die staatliche Gewalt“ beschäftigt und damit zur Entwicklung des Rechtsschutzes im modernen Staat viel beigetragen. Seine hochbeachteten Werke sind ein sicherer Wegweiser für den Aufbau eines modernen Rechtsstaats besonders in den Entwicklungsländern. Professor Schenke hat aber nicht nur durch seine Werke, sondern auch durch das freundschaftliche Verhalten, das er ausländischen Wissenschaftlern und Schülern stets entgegenbrachte, diesen vielfach wissenschaftliche und persönliche Hilfe geleistet. Die von ihm mitveranstaltete deutsch-koreanische Tagung zum Thema „Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea“ im Juli 2005 bleibt mir unvergesslich. Es ist mir eine sehr große Ehre, dass ich an der Professor Schenke anlässlich seines 70. Geburtstags gewidmeten Festschrift mitwirken kann. Ich wünsche Herrn Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke Gesundheit und alles Gute. I. Einleitung Nach § 1 der alten koreanischen VwGO (KVwGO), die im Jahr 1951 erlassen wurde, wurde zwischen der Anfechtungsklage und der Partei-Klage, die Streitigkeiten über das Bestehen bzw. den Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses betraf, unterschieden.1 Daraus hat man die Folgerung gezogen, dass früher (bis zum Jahr 1984) in Korea im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit nur eine Gestaltungsklage gegenüber Verwaltungsakten und eine Art von Feststellungsklage in der Form der ParteiKlage, die öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse zum Gegenstand hatte, statthaft * Aktualisierte und erweiterte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes, zuerst erschienen in: Wolf-Rüdiger Schenke/Jong Hyun Seok (Hrsg.), Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea. Deutsch-Koreanisches Symposium. Berlin 2006, S. 81 – 95. 1 Vgl. Lee, Sang-Kyu, Verwaltungsprozessrecht, 1985, S. 248 ff.
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gewesen seien. Typische Beispiele für solche öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisse bilden öffentlich-rechtliche Vertragsverhältnisse und das Beamtenverhältnis.2 Obwohl diese Partei-Klage, die Streitigkeiten über öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis zum Gegenstand hat, den Charakter einer Feststellungsklage aufweist, wurde sie als eine Gestaltungsklage gegenüber bestimmten Verwaltungsakten angesehen, deren Erlass ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis begründet. Das Urteil über das Nichtbestehen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses hat eine ähnliche Rechtswirkung wie die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts. Diese Partei-Klage wurde auch zur Feststellung der Bestehens oder Nichtbestehens eines durch einen Verwaltungsakt begründeten Rechtsverhältnisses nutzbar gemacht.3 Es kann damit auch bei rechtswidrigen Verwaltungsakten, die (ausnahmsweise) nichtig sind, dazu benutzt werden, das Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses festzustellen, auf dessen Begründung der VA gerichtet ist. Trotz der Anwendbarkeit der Parteiklage zur Abwehr rechtswidriger Verwaltungsakte erscheint mir der Rechtsschutz des Bürgers in Korea noch nicht ausreichend ausgebaut zu sein. Das gegenwärtige System der Verwaltungsgerichtsbarkeit Koreas wurde im Großen und Ganzen durch die Novellierung der KVwGO im Jahr 1984 ausgebaut. Die damalige Gesetzesnovellierung bezweckte, ein ausreichendes verwaltungsprozessuales Rechtsschutzsystem zu schaffen, das der Zielsetzung des Art. 27 der Koreanischen Verfassung gerecht wird.4 Art. 27 der koreanischen Verfassung regelt, dass Jedermann durch Gerichte geschützt wird, soweit er in seinem eigenen Recht verletzt wird. Diese Vorschrift macht deutlich, dass Korea ein Rechtsstaat ist. Dieser hängt wesentlich davon ab, dass ausreichende Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Verwaltungshandlungen eingeräumt werden. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Beitrag die verwaltungsgerichtlichen Klagearten in Korea und deren Problematik behandelt sowie zugleich Verbesserungsvorschläge unterbreitet. II. Verwaltungsprozessuale Klagearten in Korea § 3 KVwGO schreibt folgende vier Arten von Klagen bzw. Streitigkeiten vor: 1. die Anfechtungsklage, 2. die Partei-Klage, die Streitigkeiten über ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zum Gegenstand hat, 3. die Organstreitigkeiten, 4. die Popularklage. 2
Vgl. Park, Youn-Heun, Verwaltungsrechtslehre (I), 2000, S. 959 ff. Vgl. Seok, Jong-Hyun/Song, Dong-su, Verwaltungsrecht I, 2010, S. 835. 4 Während die alte KVwGO im Jahr 1951 wurde nach Bild von damaligem japanischem Recht aufgestellt und nur 14 Paragraphen gehabt hatte, hat die geltende KVwGO insgesamt 52 Paragraphen. 3
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Da die Organstreitigkeiten nur Streitigkeiten zwischen bzw. innerhalb von Staatsorganen zum Gegenstand haben, gewähren sie keinen Rechtsschutz für den einzelnen Bürger.5 Die Wahlstreitigkeit ist die einzige Popularklage in Korea. Mit ihr wird die Ungültigkeit einer Wahl geltend gemacht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nur die ersten beiden oben genannten Klagarten Rechtsschutzverfahren darstellen, die den einzelnen vor einer Verletzung durch die öffentliche Gewalt schützen. Deshalb werden in meinem Vortrag die Organstreitigkeiten und die Popularklage nicht näher behandelt. 1. Über die Anfechtungsklage Die Anfechtungsklage umfasst nach § 4 KVwGO drei verschiedene Klagearten, die alle nur gegenüber Verwaltungsakten erhoben werden können. – die Klage auf Aufhebung des Verwaltungsaktes bzw. Widerspruchsbescheides (sog. Aufhebungsklage) – die Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit des Verwaltungsaktes – die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit der Verwaltung. (Anders bezeichnet: Die Klage zur Feststellung des Bestehens einer Verpflichtung der Behörde) Die Klage auf Aufhebung des VAs (sog. Aufhebungsklage) zielt auf die ganze oder teilweise Aufhebung oder Änderung des rechtswidrigen VAs und des entsprechenden Widerspruchsbescheides. Eine isolierte Klage gegen den Widerspruchsbescheid kann nur darauf gestützt werden, dass dieser einen selbständigen Fehler aufweist. Anderenfalls muss die Anfechtungsklage gegen den ursprünglichen VA gerichtet werden.6 Statt der Klage auf die Feststellung der Nichtigkeit des VAs kann aus Gründen der Rechtssicherheit auch die Aufhebungsklage erhoben werden. Hat eine solche Klage Erfolg, besteht der angegriffene Verwaltungsakt vom Moment des Urteils an nicht mehr. Mit der Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untätigkeit der Verwaltung soll die Verwaltung zu einer Leistung, das heißt einem Handeln oder Dulden, angehalten werden. Aus diesem Grund kann sich das Begehren des Klägers auf die Feststellung des Bestehens einer Verpflichtung der Verwaltung gegenüber dem Bürger richten. Das gerichtliche Urteil verpflichtet die Verwaltung dabei aber nicht zur Erfüllung des Anspruchs des Klägers. Das Urteil hat für diesen Anspruch nur mittel-
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Kim, Chol-Yong, Verwaltungsrecht I, 2005, S. 549 f. § 19 KVwGO.
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bare Bedeutung, da es nur die Rechtswidrigkeit der Untätigkeit der Verwaltung feststellt. Über die Verpflichtung der Verwaltung zur Erfüllung des Anspruchs des Klägers wird hingegen nicht in Rechtskraft entschieden. An Stelle einer solchen Feststellungsklage sollte nach der Ansicht vieler Autoren in die KVwGO eine Verpflichtungsklage eingeführt werden. Trotz aller sich hier noch stellenden Probleme haben die drei Arten von Anfechtungsklagen den Sinn, den Rechtsschutz der Einzelnen und die Rechtsmäßigkeit der Verwaltung sicherzustellen. Das gilt aber nur in Bezug auf Verwaltungsakte.7 Zudem stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, aus welchem Grund § 4 KVwGO die Klage auf Feststellung der Nichtigkeit von Verwaltungsakten und die Klage wegen Untätigkeit der Verwaltung der Anfechtungsklage zuordnet. Diese Frage könnte aus folgenden Gesichtspunkten gestellt werden: Bei einer Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines VA ist zu beachten, dass ein Verwaltungsakt mit offensichtlichem und schwerem Fehler ohne weiteres unwirksam bzw. nichtig und deshalb werden durch ihn keine Rechtsverhältnisse begründet, die durch Gestaltungsurteil zu beseitigen sind. Ähnliches gilt für die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untätigkeit der Verwaltung. Die Untätigkeit der Verwaltung kann kein Rechtsverhältnis mit sich bringen. Aus diesen Gründen hat der Gesetzgeber die beiden Rechtsschutzbegehren als Klagen, die auf Feststellung gerichtet sind, zugelassen. Ein weiterer Grund hierfür ergibt sich ferner daraus, dass alle drei Klagen Rechtsschutzmittel darstellen, mit denen sich der Kläger gegen eine Behörde gerichtlich wehren kann, die hoheitliche Macht innehat.8 Nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 KVwGO ist die Untätigkeit der Verwaltung zu bejahen, wenn die Verwaltungsbehörde trotz eines Antrags des Klägers ihrer Verpflichtung nicht in angemessener Zeit nachkommt. Obwohl die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit der Verwaltung ihrer Funktion nach mit der Verpflichtungsklage in Deutschland vergleichbar ist, besteht doch gegenüber der letzteren ein großer Unterschied9. Bei der Klage nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 KVwGO ordnet das Gericht nicht die Erfüllung der Pflicht der Verwaltung an, sondern beschränkt sich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit. Obwohl nur eine Feststellungsentscheidung ergeht, kann das Gericht auf Antrag des Klägers bestimmen, dass die Behörde wegen der Verzögerung bzw. Verweigerung des Verwaltungsakts dem Kläger eine bestimmte Entschädigung zu leisten hat.10
7 Kim, Nam-Jin, Probleme des Novellierungsentwurf der KVwGO, in: Gosikye-Zeitschrift, April 1985, S. 91. 8 Hango bedeutet Beschwerde gegen die hoheitliche Gewalt. 9 Wolf-Rüdiger Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, § 6, Rn. 260 ff. 10 § 34 Abs. 1 KVwGO.
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Es wäre effektiver, wenn an Stelle dieser indirekten Möglichkeiten, mit denen die Verwaltung zur Erfüllung ihrer Verpflichtung angehalten werden kann, eine auf den Erlass des Verwaltungsakts gerichtete Verpflichtungsklage eingeführt würde. 2. Die Ermöglichung einer Fortsetzungsfeststellungsklage durch die KVwGO Wie oben erwähnt wurde, wird in der KVwGO eine Fortsetzungsfeststellungsklage nicht ausdrücklich geregelt. Wenn z. B. die Geltungsdauer eines befristeten Verwaltungsakts bereits abgelaufen ist und der Kläger deshalb durch die in ihm getroffene Anordnung nicht mehr beschwert ist, ist es in Korea nicht möglich, in diesem Fall eine Anfechtungsklage zu erheben. Eine Anfechtungsklage ist nur dann zulässig, wenn hierfür ein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Wenn sich der angefochtene VA vor oder während des verwaltungsprozessualen Verfahrens erledigt, wird dem Kläger mit der Aufhebung des VAs nicht mehr geholfen. Das heißt, dass ihm die Aufhebung nichts nützt. Der VA hat sich erledigt, wenn die Vollzugsfolgen des VAs nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Es gibt aber in der KVwGO eine Regelung, die inhaltlich eine Fortsetzungsfeststellungsklagen ermöglicht. Bei dieser Vorschrift handelt sich um die Klagebefugnis für die Anfechtungsklage. § 12 Satz 1 KVwGO schreibt vor, dass die Anfechtungsklage nur dann möglich ist, „wenn der Kläger ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts hat.“ Nach der herrschenden Meinung und der Rechtsprechung muss dieses Interesse ein rechtlich geschütztes sein (so die sog. Schutznormtheorie). Aber § 12 Satz 2 KVwGO besagt weiter, dass „die wegen Zeitablaufs nicht mehr geltenden Verwaltungsakte oder die bereits erledigten Verwaltungsakte auch angefochten werden können, soweit daran ein berechtigtes Interesse besteht.“ Inhaltlich zielt auch die Anfechtungsklage auf die Feststellung, dass der angefochtene VA rechtswidrig war. Unter diesen Umständen ist § 12 Satz 2 koreanischen VwGO mit § 113 Abs. 1 Satz 4 deutschen VwGO inhaltlich vergleichbar.11 Nach der Rechtsprechung des koreanischen obersten Gerichts ist ein berechtigtes Interesse zu bejahen bei einem Rehabilitationsinteresse, bei einem Interesse an der Vorbereitung einer Amtshaftungsklage sowie bei Wiederholungsgefahr. Umstritten ist hierbei, ob diese Interessen rechtlich geschützte Interessen sind oder ob bereits tatsächliche Interessen genügen. Manche Autoren äußern sich nicht zu dieser Frage. Meines Erachtens bedarf es dabei keines rechtlich geschützten Interesses. Es genügt, dass der Kläger ein Interesse hat, die Rechtswidrigkeit des VAs festzustellen. Dieses Interesse kann auch anerkannt werden, wenn sich der angefochtene VA während des
11 Erledigt sich der VA vor Klageerhebung, so ist nach ganz h.M. § 113 Abs. 1 Satz 4 analog anzuwenden.
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verwaltungsprozessualen Verfahrens erledigte. Die Klagemöglichkeit ergibt sich hier bereits aus der Zulässigkeit einer Anfechtungsklage.12 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob § 12 Satz 2 KVwGO auch auf eine Klage gerichtet auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untätigkeit der Verwaltung analog Anwendung findet. Im inhaltlichen Sinne hat diese Klage mit der Verpflichtungsklage enge Verwandtschaft. Meines Erachtens kann sie in dem Fall angewendet werden, in dem dem Kläger wegen Zeitablaufs nicht mehr mit dem Erlass eines VAs geholfen werden kann. Zu beachten ist, dass eine Fortsetzungsfeststellungsklage (in Korea kann sie nur im Rahmen einer Anfechtungs- bzw. Aufhebungsklage erhoben werden) nur dann zulässig ist, wenn die in der Sache zunächst erhobene Anfechtungsklage zulässig war oder zulässigerweise noch hätte erhoben werden können. Meines Erachtens sollte die Fortsetzungsfeststellungsklage als eine eigene Klageart in die koreanische Verwaltungsgerichtsordnung eingeführt werden. Der an die Klagebefugnis des § 12 KVwGO anknüpfende bisherige Rechtsschutz erscheint mir unpassend. 3. Anwendungsmöglichkeit der Anfechtungsklage gegenüber solchem Verwaltungshandeln, das keinen Verwaltungsakt beinhaltet Weil nach der KVwGO die verwaltungsrechtliche Anfechtungsklage nur in bezug auf Verwaltungsakte anerkannt wird, wurde schon früher der Versuch unternommen, den Begriff des Verwaltungsakts zu erweitern, um auf diese Weise den verwaltungsgerichtlichen Schutz auszudehnen. Es ist in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung, den Begriff des VAs nach der KVwGO zu erwähnen. § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVwGO, der mit der Novellierung von 1984 erneut eingeführt wurde, definiert als Verwaltungsakte (Chobun) „die Ausübung oder Nichtausübung der öffentlichen Gewalt durch eine Verwaltungsbehörde in Anwendung von Rechtsnormen auf bestimmte konkret-einzelne Fälle und ein vergleichbares Verwaltungshandeln sowie Widerspruchsbescheide im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens.“ Diesen Begriff des VAs nennt man in Korea in der Regel Verwaltungsakt im Sinne des Verwaltungsprozessrechts. Bei der Interpretation dieses Begriffes stellt sich die Frage, welche Verwaltungstätigkeiten dem „vergleichbaren Verwaltungshandeln“ zugehören. In den Lehrbüchern werden als Beispiele die Festsetzung des Bebauungsplans, die Allgemeinverfügung sowie bestimmte hoheitliche Realakte, Verwaltungszusagen sowie vorläufige Verwaltungsakte u.s.w. genannt.13 Außer diesen typischen Beispielen wurden einige bestimmte Rechtsverordnungen bzw. Satzungen nach der 12
Dagegen sieht § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO vor, dass der Kläger in diesem Fall von der Anfechtungsklage zur Fortsetzungsklage übergehen kann. Das Klageziel ändert sich dann von einem Gestaltungsbegehren in ein bloßes Feststellungsbegehren. 13 Vgl. Park, Kyun-Sung, Verwaltungsprozessrecht, 2000, S. 282.
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Rechtsprechung des obersten Gerichts Koreas als Verwaltungsakte in diesem Sinne anerkannt.14 Unter diesen Umständen ergibt sich in Korea aus der die Ausdehnung des Verwaltungsaktbegriffs ein weiter Anwendungsbereich für die Anfechtungsklage. In jüngster Zeit hat das Oberste Gericht Koreas zur Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten großzügig einige Verwaltungshandlungen als Verwaltungsakt qualifiziert, deren Rechtsnatur in der Literatur umstritten ist. Deshalb ist es gegenwärtig unsicher, welche Verwaltungshandlungen bei zukünftigen Rechtsstreitigkeiten in der Tat vom Obersten Gericht Koreas als Verwaltungsakte anerkannt werden. 4. Über die Partei-Klage zur Klärung von Streitigkeiten über öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse Nach § 4 KVGO kann man vor den Verwaltungsgerichten Partei-Klage erheben, um Streitigkeiten über ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zu klären, an dem ein Verwaltungsträger als Partei beteiligt ist. Ein typisches Beispiel hierfür stellt die Streitigkeit über die Gültigkeit eines Verwaltungsvertrages oder das Bestehen eines Staatshaftungsverhältnisses u.s.w. dar. Diese Klage ist auch möglich, wenn man aus dem Beamtenverhältnis klagt, um die Bezahlung eines Gehaltsanspruchs zu sichern.15 Der Partei-Klage unterfällt auch eine Streitigkeit in Verbindung mit der Gültigkeit eines Verwaltungsakts. Bei ihr klagt der Kläger nicht auf die Aufhebung des ihn beschwerenden Verwaltungsaktes, sondern auf dessen Nichtigkeit bzw. das Nichtbestehen eines durch den Verwaltungsakt angestrebten Rechtsverhältnisses. 5. Über den numerus clausus der Klagearten Die wichtigsten Klagearten gegenüber der Verwaltung sind die oben genannten drei Arten der Anfechtungsklage, die nur gegenüber Verwaltungsakte erhoben werden können. Es ist umstritten, ob nach der KVwGO auch die Möglichkeit besteht, in Form einer atypischen Anfechtungsklage Rechtsschutz zu gewähren, wie z. B. durch eine Klage auf Unterlassung eines VAs, obwohl die KVwGO eine solche nicht ausdrücklich vorsieht. Z. T. wird die Statthaftigkeit einer solchen Klage befürwortet. Nach dieser Meinung kann man alle Klagebegehren geltend machen, soweit diese nicht durch die KVwGO ausgeschlossen werden.16 14 Für die Rechtsverordnung: Urteil des Obersten Gerichts Koreas am 19. August 1954, 4286 Haengsang 37; Für die Satzung: Dumil Zweige Schule, Urteil des Obersten Gerichts Koreas am 20. November 1996, 95 Nu 8003. 15 Vgl. Kim, Do-Chang, Verwaltungsrecht I, 2000, S. 840. 16 Vgl. Kim, Do-Chang, Verwaltungsrecht I, S. 681 f.; Kim, Chol Yong, Verwaltungsrecht I, 2009, S. 565 f.; Seok, Jong Hyun/Song, Dong-su, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2010, S. 851 ff.
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Das koreanische oberste Gericht lehnt diese Auffassung jedoch mit der Begründung strikt ab, dass nur die in KVwGO genannten Klagearten den Bürgern Rechtssicherheit geben würden.17 Das heißt, dass das Gericht den numerus clausus der Klagearten der KVwGO beibehalten will. Daraus folgt, dass in Korea in der Tat keine Möglichkeit besteht, außer der Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte und der Partei-Klage, die Streitigkeiten über öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse zum Gegenstand hat. Eine Klage gegenüber anderem Verwaltungshandeln ist damit ausgeschlossen. Unter diesen Umständen sind in Korea folgende Klagearten im formellen Sinn ausgeschlossen: Die allgemeine Leistungsklage, die vorbeugende Unterlassungsklage, die Verpflichtungsklage und die verwaltungsgerichtliche abstrakte Normkontrolle u.s.w. In Verbindung mit der ebenfalls ausgeschlossenen Verpflichtungsklage stellt sich die Frage, warum bei der Novellierung der KVwGO im Jahr 1984 statt der Verpflichtungsklage im echten Sinne nur eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit der Behörde eingeführt worden ist. Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass man annahm, die Einführung der Verpflichtungsklage stehe nicht mit dem Gewaltenteilungsprinzip im Einklang, da bei der Verpflichtungsklage das Gericht gegenüber der Verwaltung ein Tun oder Dulden anordnet. 6. Über die Organstreitigkeiten und die Popularklage § 4 KVwGO regelt nicht nur die Anfechtungsklage und Partei-Klage betreffend Streitigkeiten über ein öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnis, sondern auch die Organstreitigkeit und die Popularklage. Diese Vorschrift ist hinsichtlich der Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Korea dient nicht nur dem Rechtsschutz des Bürgers, sondern auch der Klärung von Streitigkeiten in Innenrechtsverhältnisse und der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verwaltung. Die Popularklage in Korea ist nur statthaft, wenn sie in einzelnen Gesetzen geregelt wird. Sie findet sich momentan nur in Wahlgesetzen. III. Das Fehlen von Klagearten zur Sicherung eines angemessenen Rechtsschutzes 1. Allgemeine Leistungsklage ist nicht statthaft Wegen des numerus clausus der Klagearten ergibt sich die Frage, ob und wie man in Korea die Fälle auffängt, in denen behördliches Handeln nicht in Form von Verwaltungsakten, sondern schlicht hoheitlich erfolgt. Hier wird ein Rechtsschutz im Allgemeinen verneint.18 17 18
KOGH, Urteil vom 19 August 1986, 86 Nu 223; vom 10. März 1995, 94 Nu 14018. KOGH, Urteil vom 24. März 1987, 86 Nu 182.
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Damit besteht eine große Rechtsschutzlücke für den Bürger. Es gibt keine Klagemöglichkeit gegen Einzelakte in der Form des schlichten Verwaltungshandelns. Auf ein Tun, Dulden oder Unterlassen der Verwaltung, kann man nicht Klage erheben, wenn sie keinen Verwaltungsaktcharakter aufweisen. Für Fälle, wie z. B. Ansprüche auf Beseitigung der Folgen von rechtswidrigen Verwaltungshandeln, Ansprüche auf Umsetzung eines Beamten, Ansprüche aus öffentlich-rechtlichen Verträgen, ist es zweifelhaft, welche Klagen hier in Korea gestattet sind. In diesen Fällen wäre die allgemeine Leistungsklage angemessen. Aber eine solche Klage wird in Korea nicht anerkannt, weil sie nicht ausdrücklich in der koreanischen VwGO geregelt wird. Einige Autoren sind der Auffassung, dass im Hinblick auf die Justizgewähr des Art. 27 der koreanischen Verfassung diese Klageart anerkannt werden kann.19 Obwohl in Korea eine allgemeine Leistungsklage nicht ausdrücklich anerkannt wird, läßt sich aber teilweise auf andere Weise der gebotene Rechtsschutz verwirklichen. Zur Geltendmachung der Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Vertrag kann man in Korea mit der Partei-Klage die Rechte aus einem solchen Vertrag gerichtlich geltend machen. Bezüglich des Anspruches auf Beseitigung der Folgen rechtswidrigen Verwaltungshandelns kann man die Anfechtungsklage erheben. Aber man muss in diesem Fall darauf warten, dass der Anspruch auf Beseitigung der Folgen rechtswidriger Verwaltungshandeln von der Behörde verneint wird. Gegenüber dieser Verneinung kann man Anfechtungsklage erheben. Wenn die Behörde nichts unternimmt, dann kann hier eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der behördlichen Untätigkeit erhoben werden. Dagegen ist es nicht leicht, gegenüber der Umsetzung eines Beamten Klage zu erheben, weil bei der Umsetzung eines Beamten dessen Rechte und Pflichten grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden können. Aber die Beeinträchtigung des Rechts eines Beamten durch eine Umsetzung ist dann zu bejahen, wenn sie einer Sonderverordnung der Verwaltung widerspricht. In diesem Fall kann man in Korea gegenüber der Umsetzung eine Anfechtungsklage erheben. Da in Korea keine allgemeine Leistungsklage anerkannt wird, besteht auch die Schwierigkeit, verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz in Verbindung mit einer durch die Verwaltung nicht erfüllten behördlichen Zusicherung zu erlangen. Gegenwärtig ist es nämlich in Korea sehr umstritten, welche Rechtsnatur eine Zusicherung der Verwaltung hat. Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass sie im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 KVwGO eine mit dem VA vergleichbare tatsächliche Wirkung aufweise und dass sie deshalb als VA zu beurteilen sei. Dagegen ist die Rechtsprechung 19 In Deutschland ist die allgemeine Leistungsklage in allgemein anerkannt. Obwohl sie nicht ausdrücklich in der VwGO geregelt ist, ist sie als eine im Hinblick auf die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG erforderliche Auffangklage für die Fälle, zu beurteilen, in denen die Verwaltung nicht in Form von Verwaltungsakten, sondern schlicht hoheitlich handelt.
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des koreanischen Obersten Gerichts dieser Ansicht nicht gefolgt. Unter diesen Umständen besteht in Korea keine Möglichkeit, in Verbindung mit Zusicherungen Klage zu erheben. 2. Keine vorbeugende Unterlassungsklage Da in Korea nur gegen einen bereits erlassenen VA die Anfechtungsklage erhoben werden kann, ist die vorbeugende Unterlassungsklage ausgeschlossen20. Das heißt, dass die KVwGO nicht die Gewährung vorbeugenden, sondern nur die Gewährung nachträglichen Rechtsschutzes kennt. Das steht im Gegensatz dazu, dass in Deutschland die vorbeugende Unterlassungsklage in Rechtsprechung21 und Literatur als eine besondere Form der allgemeinen Leistungsklage anerkannt wird.22 Diese Klage zielt auf das Unterlassen schlichten Verwaltungshandelns bzw. auf das Unterlassen eines VAs. Wegen eines für eine solche Klage bestehenden Rechtsschutzbedürfnisses ist es erforderlich, die vorbeugende Klage in Korea einzuführen. Einige Autoren in Korea sind der Meinung, dass die Einführung einer vorbeugenden Unterlassungsklage große Schwierigkeiten für die Verwaltung mit sich bringen würde und das Tor zu einer untragbaren Popularklage eröffnete. Aber eine vorbeugende Unterlassungsklage könnte nur dann in Betracht kommen, wenn ein besonderes Rechtsschutzinteresse für sie anzuerkennen wäre.23 Diese vorbeugende Unterlassungsklage könnte deshalb nur in solchen Fällen anerkannt werden, in denen ein besonderes Rechtsschutzinteresse besteht, weil durch Widerspruchverfahren, Anfechtungsklage und Verpflichtungsklage kein ausreichender Rechtsschutz gewährt werden kann. 3. Kein verwaltungsgerichtliches abstraktes Normenkontrollverfahren Nach der koreanischen Verfassung ist die Überprüfung der Vereinbarkeit von Rechtsnormen mit höherrangigem Recht sowie die allgemein verbindliche Entscheidung über die Gültigkeit des überprüften Rechtssatzes die Sache des Verfassungsgerichts oder des Obersten Gericht Koreas. Das heißt, dass die Zuständigkeit der Normenkontrolle auf zwei Gerichte verteilt ist. Nach Art. 107 Abs. 1 der koreanischen Verfassung ist auf Antrag eines Gerichts das Verfassungsgericht für die Überprüfung von Gesetzen auf deren Vereinbarkeit mit der Verfassung zuständig. Das Oberste Gericht Koreas ist nach Art 107 Abs. 2 20 Chung, Ha-Jun, Möglichkeit zur Einführung der vorbeugenden Unterlassungsklage, Zeitschrift-Gosiyoungu, November 1999, S. 150; Kim, Chol-Yong, Verwaltungsrecht I, 2009, S. 619. 21 BVerwG, v. 23. 5. 1989, BVerwGE 82, 76. 22 Redeker/v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2010, § 42 VwGO, Rn. 37. 23 Parallelproblem bei der vorbeugenden Feststellungsklage sowie BVerwG v. 8. 9. 1972, BVerwGE 40, 323.
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der koreanischer Verfassung für die Überprüfung von untergesetzlichen Normen auf deren Vereinbarkeit mit höherrangigen Rechtsnormen zuständig. Daraus ergeben sich schwierige Meinungsstreitigkeiten bezüglich der Frage, ob das Verfassungsgericht überhaupt eine Zuständigkeit für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von untergesetzlicher Rechtsnorm besitzt. Nach der h.M und der Rechtsprechung kann das Verfassungsgericht die untergesetzliche Rechtsnorm dann überprüfen, wenn eine Verfassungsbeschwerde nach § 68 Abs.12 des koreanischen Verfassungsgerichtsgesetzes erhoben wird. Das konkrete Normenkontrollverfahren wird in Korea auf jeden Fall in Verbindung mit anderen verwaltungsgerichtlichen Klage anerkannt. Darüber hinaus besteht in Korea keine Möglichkeit, die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht überprüfen zu lassen. 4. Die Möglichkeit einer Normerlassklage? Im Hinblick auf den numerus clausus der Klagearten nach § 4 KVwGO ergibt sich noch die Frage, ob man in Korea auf den Normerlass gerichtlich klagen kann. Nach Rechtsprechung und h. M. in der Literatur ist eine verwaltungsgerichtliche Normerlassklage in Korea nicht statthaft. Nach Art. 107 Abs. 2 Koreanischen Verfassung ist die Überprüfung der Gültigkeit von untergesetzlichen Rechtsnormen nur durch das oberste Gericht eröffnet. Diese Regelung wird nur auf bereits erlassene Rechtsnormen angewendet, deshalb findet diese Vorschrift auf eine Klage zum Normerlass keine Anwendung. Die Frage nach der Statthaftigkeit einer auf den Normerlass gerichtete Klage ist seit Anfang der 90er Jahre in Korea aktuell. Mit dieser umstrittenen Frage hatte sich ein Urteil des koreanischen Verfassungsgerichts zu befassen. Nach dem Gesetz über Rechtsberatungsangelegenheiten hat es das Oberste Gericht Koreas zum Erlass einer Sonderverordnung für die Prüfung der Rechtsberater verpflichtet. Das Oberste Gericht hatte lange Zeit den Erlass dieser Sonderverordnung verzögert. Da in Korea keine verwaltungsprozessrechtliche Normerlassklage möglich ist, hatte ein Bürger nach § 68 Abs. 2 des Verfassungsgerichtsgesetzes eine Verfassungsbeschwerde mit der Begründung erhoben, dass die Verzögerung des Erlasses dieser Sonderverordnung sein ihm von der Verfassung garantiertes Grundrecht auf Freiheit der Berufswahl verletzt habe.24 Das Verfassungsgericht Koreas hielt die Verfassungsbeschwerde für begründet und stellte fest, dass das oberste Gericht diese Sonderverordnung innerhalb angemessener Zeit zu erlassen hat. Heutzutage spielt die Verfassungsbeschwerde in Korea zur Sicherung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes eine große Rolle. Eine Verfassungsbeschwerde 24
KVerfG, Urteil vom 17. März 1989, 88 Huenma 1.
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kann nach § 68 Abs. 2 des Verfassungsgerichtsgesetzes erhoben werden, wenn das Grundrecht des Bürgers durch einen hoheitlichen Akt der Verwaltungsbehörde verletzt wird und für ihn keine Rechtsschutzmöglichkeit beim Verwaltungsgericht eröffnet ist.25 So kann beispielsweise die Versetzung eines Beamten den Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde bilden. Da die Versetzung eines Beamten nach koreanischer Auffassung keinen VA darstellt und daher nicht mit einer Anfechtungsklage angefochten werden kann, besteht die Möglichkeit eines verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes, soweit die Versetzung nicht mit dem Gleichheitsprinzip im Einklang steht. IV. Jüngste Vorhaben zur Novellierung der KVwGO Im Jahr 2003 wurde eine Forschungskommission bei dem Obersten Gerichtshof Koreas gebildet, um die KVwGO zu erneuern. Diese Kommission hat im Oktober 2004 einen Novellierungsentwurf der VwGO aufgestellt.26 Ein Schwerpunkt bei diesem Novellierungsentwurf der KVwGO liegt darin, das System der Klagearten zu erweitern. Die zwei wichtigste Aspekte bilden dabei die Einführung der Verpflichtungsklage und des verwaltungsgerichtlichen abstrakten Normkontrollverfahrens.27 Zu beachten ist, dass man in diesem Entwurf versucht hat, das Normenkontrollverfahren im Rahmen der Anfechtungsklage durchzuführen. Nach der Ansicht der Autoren dieses Entwurfs kam dieser Versuch aus folgenden zwei Gründen in Betracht:28 Erstens ist die untergesetzliche Rechtsnorm eine Art von Verwaltungshandeln, das im Rahmen der Gesetze stattzufinden hat. Zweitens hat die Anfechtungsklage nicht nur den Charakter einer Gestaltungsklage, sondern auch den Charakter einer Feststellungsklage, bei der über die Rechtmäßigkeit eines Hoheitsakts zu urteilen ist.29 Dieses Gesetzesnovellierungsvorhaben ist von Bedeutung, da es auf die Novellierung der verschiedenen Klagearten zielt. Aber dieses Novellierungsvorhaben wurde hart kritisiert und aus folgenden Gründen verworfen:30
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Vgl. Seong, Nak-In, Verfassungslehre, 2009, S. 1053 ff. Oberster Gerichtshof Koreas, Novellierungsentwurf der KVwGO, Oktober, 2004. 27 Vgl. Park, Jeong-Hun, Gegenstände der Anfechtungsklage und ihre Arten, Vortragsbericht beim Symposium für Novellierung der KVwGO, Oberster Gerichtshof Koreas, Oktober 2004, S. 27 ff. 28 Vgl. Park, Jeong-Hun, a.a.O., S. 28; ders., Die Struktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit und deren Funktion, 2006, S. 165 f. 29 Vgl. Choi, Song-Hwa, Die Überlegung zur Novellierung der KVwGO, Untersuchung der Verwaltungsrechtsprechung, Heft 8, 2003, S. 432 ff. 30 Kim, Hae-Ryoung, Kritische Bemerkung über die Novellierungsentwurf der KVwGO, Gosikye-Zeitschrift, Juli, 2004, S. 110 ff. 26
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Der Novellierungsentwurf der koreanischen VwGO versucht durch Erweiterung des Verwaltungsaktbegriffs eine Ausweitung des Klagegegenstands der Anfechtungsklage: § 4 dieses Entwurfs schreibt vor, dass alles Verwaltungshandeln, das sich auf den Bürger auswirkt, als VA zu begreifen ist, so dass nicht nur der klassische VA im engeren Sinne, sondern auch die Rechtsverordnung und die öffentlich-rechtlichen Realakte in den erweiterten Begriff des VAs eingeschlossen werden. Dieser Gesetzesentwurf hat das System der verwaltungsprozessualen Klagearten im Grund genommen erhalten, nämlich die Klage auf Aufhebung des VAs und die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von VA. Der Versuch des Gesetzentwurfs, untergesetzliche Rechtsnormen als Verwaltungsakte zu qualifizieren, hat eine intensive Debatte verursacht. Einen anderen für den Rechtsschutz des Bürgers vorteilhaften Aspekt beinhaltet der in dem Gesetzentwurf unternommene Versuch, statt der Klage auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Untätigkeit der Verwaltung eine Verpflichtungsklage als eine Leistungsklage in der koreanischen VwGO einzuführen. Zu erwähnen ist ferner, dass dieser Novellierungsentwurf der KVwGO auch die vorbeugende Unterlassungsklage einführen will.31 Was den Versuch zur Einführung der Verpflichtungsklage und der vorbeugenden Unterlassungsklage angeht, besteht im Moment kein beachtlicher Widerstand. Widerstand gegenüber dem Gesetzesnovellierungsverfahren kommt aber aus der Verwaltung. Sehr umstritten ist jedoch der Versuch zur Einbeziehung der untergesetzlichen Rechtsnormen in den Begriff der VA. Für die Befürwortung dieser Einbeziehung werden folgende Argumente angeführt: Erstens ist die Rechtsverordnung eine Form des Verwaltungshandelns und weist sowohl den Charakter eines Rechtsetzungsakts wie auch den eines Rechtsanwendungsakts auf. Zweitens hat die Anfechtungsklage nicht nur den Charakter einer Gestaltungsklage, sondern auch den einer Feststellungsklage. In rechtsvergleichender Hinsicht behaupten die Befürworter des Entwurfs, dass die Anfechtungsklage gegenüber einer Rechtsverordnung, mit dem französischen recours pour exce¯s de pouvoir (Amtsüberschreitungsklage: Wulgon sosong) verglichen werden könne.32 Aber diese Argumentation stößt auf starke Kritik. Die Kritik lässt sich wie folgt zusammenfassen:33 Einmal könnte der Versuch, die Rechtsverordnung in den Begriff des VA einzubeziehen, das Verwaltungsrechtssystem gefährden. Die Rechtsverordnung hat als 31
§ 4 Nr. 4 Novellierungsentwurf der VwGO im Jahr 2004. Park, Jeong-Hun, a.a.O., S. 19 ff.; Kim, Chol-Jong, Verwaltungsrecht I, 2009, S. 615 ff. 33 Kim, Hae-Ryoung, a.a.O., S. 111 f.; Chung, Ha-Jung, Probleme der Novellierungsentwurf der KVwGO, Korean Law Journal am 4. November, 2004; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, 2009, S. 670 ff.; Kim, Jung-Kyun, Überlegung zum Novellierungsentwurf der KVwGO, Korean Law Journal am 18. November, 2004. 32
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Rechtssetzungsakte eine allgemeine Bindungswirkung. Demgegenüber beinhaltet der Verwaltungsakt eine Regelung für einzelne konkrete Fälle. Die gegenwärtige Verwaltungsrechtsdogmatik in Korea differenziert nach dem Vorbild des deutschen Rechts zwischen verschiedenen Handlungsformen der Verwaltung. Deshalb wird der Begriff des Verwaltungsakts in einem engeren Sinne verstanden. Obwohl die Ausdehnung des Verwaltungsaktbegriffs nicht für das materielle Verwaltungsrecht gelten soll, sondern in dem Entwurf auf das Verwaltungsprozessrecht begrenzt wird, ist dies nicht rational, weil angesichts der Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit als Schutzwaffe gegen das Verwaltungshandeln dadurch die Verwaltungsrechtstheorie in einer verwirrenden Weise umstrukturiert werden soll. Die begriffliche Differenzierung zwischen verschiedenem Verwaltungshandeln ist nicht nur im Bereich der materiellen Verwaltungsrechts, sondern auch im Bereich der verwaltungsprozessrechts von Bedeutung34. Aus diesem Grund sollte bei der Ausgestaltung der Klagearten deren Zusammenhang mit der verwaltungsrechtliche Handlungsformlehre Rechnung getragen werden.35 Da die jeweilige Verwaltungshandlungsform ihre eigene Wirkung hat und sie an die jeweiligen Rechtsfehler anknüpft,36 erscheint es unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzes vernünftig, wenn die Klagearten an die Handlungsformen der Verwaltung anknüpfen37. Die Einordnung der Klagearten allein nach den verwaltungsrechtlichen Handlungsformenlehre vermag zwar nicht immer zu befriedigen. Aber sie entspricht dem Verwaltungsrechtssystem. Nicht zuletzt zu erwähnen ist, dass die Klagearten wesentlich von den Fehlerfolgen des jeweiligen Verwaltungshandelns abhängen.38 Die Fehlerfolgenlehre steht deshalb mit der Unterscheidung zwischen Gestaltungsklage, Feststellungsklage und Allgemeiner Leistungsklage in einem engen Bezug. Da eine Rechtsverordnung allgemein verbindlich ist und damit noch kein konkretes Rechtsverhältnis begründet, ist zur Sicherung des Rechtsschutzes gegen eine gesetzwidrige Rechtsverordnung kein Gestaltungsurteil, sondern nur ein Feststellungsurteil nötig. Aus der Fehlerfolgenlehre ergibt sich, dass eine gegen höherrangiges Recht verstoßende Rechtsverordnung unwirksam bzw. nichtig ist und daher keine Gestaltungsklage erforderlich ist. Wenn die Rechtsverordnung in den Begriff des VA einbezogen wird, ergibt sich die Frage, ob man dann gegen die Verwaltungsbehörde eine Verpflichtungsklage erheben kann, um sie damit anzuhalten, eine untergesetzliche Rechtsnorm zu erlassen? In der Regel gibt es keine Verpflichtung der Behörde, eine zur Anwendung gegenüber bestimmten Einzelnen dienende untergesetzliche Rechtsnorm zu erlassen und 34
Kim, Nam-Jim, Verwaltungsrecht I, 2002, S. 747; Friedhelm Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 10, Rn. 7 ff. 35 Vgl. F. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, 17. Aufl., 2011, § 42 Rn. 13. 36 Vgl. W.-R. Schenke, Rechtsschutz bei Divergenz von Form und Inhalt staatlichen Verwaltungshandelns, VerwArch 1981, S. 181. 37 W. R. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, § 4, Rn. 171 ff. 38 Vgl. T. Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 264.
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selbstverständlich damit auch kein entsprechendes Recht des Einzelnen. Aus diesem Grund ist diese Verpflichtungsklage im üblichen Sinn zu verneinen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Klagearten der Rechtsnatur des Verwaltungshandelns angepasst und dadurch der Rechtsschutz des Klägers erhöht werden sollte. Der Versuch zur Eingrenzung der Klagearten in Bezug auf verschiedene Verwaltungshandlungen ist zu vergleichen mit dem Versuch, verschiedene Speisen gleichzeitig in einem Topf zu kochen. Dieses von dem Novellierungsentwurf der KVwGO angestrebte System wird in Korea als ein „unter einem Dach Wohnen von drei Familien“ bezeichnet,39 was vor einigen Jahren der Titel eines Schauspiels im Fernsehen war. Wenn dieses Novellierungsvorhaben bezüglich der KVwGO wie geplant durchgesetzt wird, vergrößert sich die Tendenz zum Justizstaat. Danach könnte der Richter das konkrete Begehren des Klägers im Hinblick auf die Notwendigkeit der Gewährung von Rechtsschutz nach seiner eigenen Ansicht beurteilen. Im Hinblick darauf sollte die Urteilswirkung einer Gestaltungsklage auf die Aufhebung eines VAs beschränkt werden. Dagegen ist Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens die Feststellung der Nichtigkeit einer untergesetzlichen Rechtsnorm. Nach dem Gewaltenteilungsprinzip sollte diese Feststellungsklage nicht zu einem vollstreckbaren Urteil führen. Daher sollten die Klagearten so geordnet werden, dass jedes denkbare Rechtsschutzbegehren des Bürgers in einer seiner Besonderheit entsprechenden Weise behandelt wird. Diese Ansicht entspricht dem Gedanken, dass der Kläger selbst entscheiden soll, was das Ziel seiner Klage ist. Zwischen den Klagearten und den Urteilswirkungen muss eine Verbindung hergestellt werden. Bei der Einordnung der Klagearten sollen das Gewaltenteilungsprinzip und die Ziele des Rechtsschutzbegehrens des Bürgers maßgeblich sein. Der Gesetzesvorschlag der beim obersten Gericht Koreas eingesetzten Forschungskommission40 hat aufgrund der scharfen Kritik, die an ihm geübt wurde, keinen Erfolg gehabt. Im Jahre 2007 brachte die Koreanische Regierung einen anderen Gesetzentwurf zur Novellierung der KVwGO ein. Die wichtigsten Punkte betrafen die Erweiterung der Rechtsschutzmöglichkeiten durch die Einführung einer Verpflichtungsklage und einer vorbeugenden Unterlassungsklage (§ 4), die Zuständigkeitsverteilung zwischen den örtlichen Verwaltungsgerichten und den örtlichen Zivilgerichten (§ 8) und die einstweilige Anordnung gegen Verwaltungsakte (§ 26). Ferner enthielt er eine Reihe anderer nicht so bedeutsamer Vorschläge. Aber dieser Novellierungsentwurf erledigte sich mit Abschluss der 17. Parlamentsperiode des koreanischen Parlaments am 29. Mai 2008 automatisch41. In jüngster Zeit wird die Diskus39 Hong, Jung-Sun, Diskussionsbeitrag betreffend den Gesetzentwurf der KVwGO, Tagung der koreanischen Gesellschaft für öffentliches Recht, 26. September 2007. 40 Dieser Gesetzesvorschlag wurde im Jahre 2006 (8. September) dem Parlament vorgelegt. 41 Hong, Jung-sun, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2009, S. 1023 ff.
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sion über die Erneuerung der KVwGO wieder aufgenommen. Novellierungspunkte sind dabei wiederum insbesondere die Einführung einer Verpflichtungsklage gegen Verwaltungsakte, die einstweilige Anordnung gegen Verwaltungsakte sowie die vorbeugende Unterlassungsklage42. Außerdem ist zu überlegen, ob die bisherige Ausgestaltung der Parteiklage in der KVwGO beibehalten werden sollte. Meines Erachtens ist es sinnvoll, zwischen der Anfechtungsklage gegen Verwaltungsakte und der Parteiklage für sonstige öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zu differenzieren. Dadurch würde es möglich, für das jeweilige Klagebegehren (Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsakts, Klage auf sonstige Leistungen der Verwaltung sowie Klage auf Feststellung des Bestehens eines Rechtsverhältnisses) die ihm angemessene Klageart zu wählen. V. Schluss Von Art. 27 Koreanischen Verfassung her betrachtet, reichen die in § 4 KVwGO geregelten Klagearten nicht für die Durchsetzung subjektiver Rechte und damit die Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus. Das heißt, dass mit der Beschränkung des Rechtsschutzes auf Verwaltungsakte der in der Verfassung garantierte Rechtsschutz nicht ausreichend gesichert ist. Das Ziel einer Klage beurteilt sich nach dem gestellten Antrag, den der Kläger mit dem Begehren vor dem Gericht gestellt hat. Das Gericht hat die tatsächlichen Rechtsschutzziele zu ermitteln. Nach der verwaltungsprozessualen Rechtstheorie darf es nicht über das gestellte Klagebegehren hinausgehen. Aus diesem Grund sollten die Novellierungsvorhaben der KVwGO so ausgestaltet sein, dass die Klagearten nach dem jeweiligen Rechtsschutzbegehren der Einzelnen einzuordnen sind und den verschiedenen Handlungsformen der Verwaltung angepasst werden.
42 Han, Gyun-Woo, Zum Novellierungsbedarf der KVwGO, Bericht auf der Tagung der koreanischen Gesellschaft für Verwaltungsrecht am 21. 07. 2011, S. 1 ff.
Von der rechtmäßigen zur auch guten Verwaltung. Zum Instrument einer selbst gesetzten Behördenverfassung Gute Verwaltung – good administration – ist mehr als nur rechtlich gesteuertes, sanktioniertes Verwaltungshandeln Von Franz Ludwig Knemeyer I. Bemühungen um eine Gute Verwaltung – Der Hintergrund In unserem demokratischen Rechtsstaat – mehr und mehr empfunden (zu empfinden) auch als „Staat der Zugehörigen“1 – muss es um mehr gehen als „oben und unten“, als rechtmäßig und rechtswidrig. So sind dann auch die Governance-Diskussionen – geprägt durch eine Steuerungs- und Regelungsperspektive auf Realitäten in Staat und Gesellschaft – selbst bei den deutschen Staatsrechtslehrern breiter angelegt, haben ihren Schwerpunkt jedoch immer noch im formalrechtlich fassbaren2 – Governance by Law.3 Bezeichnend dafür sind die Referate und Diskussionen bei der Staatsrechtslehrertagung 2007 unter dem Titel: Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch.4 Mit Aufkommen der Governance-Diskussion5 ist der steuerungswissenschaftliche 1 Paul Kirchhof, Demokratischer Rechtsstaat – Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts IX, 1997, § 221, S. 957 ff. 2 Zum Aufkommen der Governance-Diskussion siehe etwa die Referate von Ivo Appel und Martin Eifert bei der Staatsrechtslehrertagung 2007 unter dem Thema: Das Verwaltungsrecht zwischen klassisch dogmatischem Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL (67), 2008, insbes. S.245 f. und S. 334 ff. mit umfangreichen Nachweisen. Den besten Überblick und Einblick gibt Gunnar Folke Schuppert, Governance Forschung, 2. Aufl. 2006. Zur Entwicklung einer verwaltungs-rechtlichen Perspektive siehe Hans-Heinrich Trute/Doris Kühlers/Arne Pilrisch, Rechtswissenschaftliche Perspektiven, in: Arthur Benz/ Susanne Lütz u. a., Handbuch Governance, 2007, 240 ff. 3 Christoph Engel in seinem Festvortrag zur Eröffnung der Graduate School Law, Economics and Society in Würzburg am 23. 11. 2010. 4 VVDStRL (67), 2008, S. 226 ff. Siehe auch Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung- Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, 2005; ders., Was ist und wozu Governance?, Die Verwaltung, 2007, 463 ff.; Hans-Heinrich Trute/Wolfgang Denkhaus/ Doris Kühlers, Governance in der Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 2004, 451 ff. 5 Zum kaum noch zu übersehenden Governance-Schrifttum Ivo Appel, (Fußn. 2) VVDStRL (67), 2008, S. 245 mit entsprechenden Nachweisen.
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Ansatz zur Förderung guter Verwaltung ergänzt und/oder auch nur begleitet durch Aspekte eines Good Government. Kennzeichnend für die gesamte Theorie-Diskussion um Neubau, Umbau, innere Ausgestaltung oder vollständige Veränderung modernen Verwaltens und den Stellenwert von steuerungswissenschaftlichem Ansatz und Governance Ansatz ist der Diskussionsbeitrag von Josef Isensee: „Eigentlich braucht die deutsche Staatsrechtslehre Good-Governance-Prinzipien und Steuerungsmodelle nicht aus Amerika zu importieren. Die Lehre von der guten Verwaltung, der „guten Policey“, hat in Deutschland beachtliche Tradition.“6 Nur zaghaft wird der Blick auch in Bereiche des „soft-law“ gerichtet7, hin zu einer rechtlich nicht verordneten auch moralisch ethischen, integren „Guten Verwaltung“. Zwei Aspekte hin zu einer Guten Verwaltung seien hier aufgegriffen: Die formalrechtliche Normierung des Prinzips zügigen Verwaltungshandelns in den Verwaltungsverfahrensgesetzen als bedeutsames Beispiel für eine weitere rechtliche Einzäunung des Verwaltungshandelns und in Ergänzung dazu im 3. Teil die in so genannten Kodizes von der einzelnen Verwaltungsbehörde selbst gesetzten Handlungsleitlinien8 für eine Gute Verwaltung; ich möchte sie – in Abgrenzung zu „von oben“ gesetzten Verwaltungsvorschriften – bezeichnen als (innere) Behördenverfassungen.9 Fremd gesetzte Steuerung und Regelung soll durch eigengesetztes Soft Law ergänzt werden. Good Governance ist heute – vor allem in der globalen Unternehmenskritik und der Forderung nach einer selbstverpflichteten Unternehmensethik – in Mode gekommen.10 Die Zeit ist vorbei, da man mit Forderungen nach ethischem, in Kodizes gefasstem Handeln „nur ein müdes Lächeln“ geerntet hat. Im Gegensatz zur Unternehmenssteuerung ist die „Ethik-Botschaft“ in der Verwaltung noch nicht überall angekommen. War die Erforschung von Koordinierungs- und Regelungsmechanismen – gefasst unter dem schillernden Begriff der Governance – vor gut zehn Jahren für viele Fachleute und erst Recht für die Öffentlichkeit noch ein Fremdwort, so hat Governance – schwergewichtig in der Unternehmensforschung gründend – mittlerweile seinen Siegeszug in viele Bereiche der Sozialwissenschaften angetreten.11 Analysen und Vor6 Josef Isensee, ebenda VVDStRL (67), 2008, S. 338 f. mit Hinweis auf Hans Maiers Habilitationsschrift und die Schriften von Robert von Mohl. 7 Grundlegend jetzt aber Matthias Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, Tübingen 2010: „Auf der Großbaustelle des öffentlichen Rechts ist die rechtswissenschaftliche Befassung mit Soft Law noch nicht wesentlich über den Aushub einer Baugrube hinausgekommen, in der es als „öffentlich-rechtlicher“ Wildwuchs gedeiht.“ 8 Bewusst nicht bezeichnet als Handlungs-Anweisungen – Richtlinien. Sie kennzeichnen verpflichtende, von oben gesetzte Regeln. 9 Die Verwendung dieses Begriffes mag zunächst zum Missverständnis führen, soll jedoch verdeutlichen, dass einem derartigen Instrument eine höhere Akzeptanz zukommen sollte als einer „Behördenleitlinie“. Zur Akzeptanzfrage hinten in Teil 3. 10 Siehe nur das in Neuauflage herausgebrachte vierbändige Handbuch der Wirtschaftsethik: Wilhelm Korff u. a. (Hrsg.), Ökonomie und Ethik – ein Handbuch, Berlin 2009. 11 Benz/Kühling u. a. (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007 Einleitung S. 9 ff.
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schläge zur Verbesserung von Steuerungs- und Regelungssystemen sind umfassend und münden zum Teil als ein Heilmittel in „Governance Kodizes“. Sie sollen Teil der Unternehmensstrategie – bezeichnet als Compliance – werden und – mittlerweile auch ins Deutsche übertragen – als Leitfaden für ein selbstverantwortliches unternehmerisches Handeln dienen. Markt und Moral sollten keine Gegensätze mehr sein. Auf dem Wege über die Öffentlichen Unternehmen12 haben diese Governance Gedanken selbst gesetzter Verhaltenskodizes Einzug auch in die Öffentliche Verwaltung gefunden. Der Begriff und der Aspekt einer „Guten – öffentlichen – Verwaltung“ – Good Administration – aber wird von der Rechtswissenschaft bislang noch vornehmlich im Zusammenhang mit der Europäischen Grundrechtecharta und dem in Art. 41 ausdrücklich normierten „Recht auf Gute Verwaltung“ erörtert.13 Dem Postulat einer administratio semper reformanda folgend, bemühen sich Wissenschaft und Praxis, eine Uraltforderung nach ständiger Verbesserung der Verwaltung auf den verschiedensten Wegen voranzubringen: Gute Verwaltungsgliederung – Gebietsreformen: Gute Verwaltungsorganisation und richtige Aufgabenzuordnung – Funktionalreformen; Entschlackung überwucherter Verwaltung – Deregulierung; Beschleunigung von Genehmigungsverfahren: eigenständige Beschleunigungsgesetze und neuerdings Bemühungen auch um ethisch-moralisch gutes Verwaltungshandeln – Good Government Kodizes“. Die Uraltforderung nach einer guten Verwaltung ist in Deutschland schon länger als 500 Jahre nachweisbar: Gute Polizei14 – in heutiger Terminologie gute Verwaltung – herzustellen und zu garantieren wird seit den neunziger Jahren – dem Jahrzehnt der Bürger15 – mehr und mehr durch die Erwartungshaltung der Bürger bestimmt. So ist dann auch – wie bereits vermerkt – erstmals auf Europäischer Ebene ein GrundRecht auf gute Verwaltung etabliert und unsere rechtlich geprägte Verwaltungswissenschaft erfasst gute Verwaltung – wenn überhaupt schon so bezeichnet – im Rahmen der Bürger-Anspruchs-Diskussion. Gute Verwaltung muss jedoch – wie im 3. Teil zu zeigen sein wird – mehr sein als ein gut geordnetes, rechtlich erfasstes Verwaltungsverfahren. Außenrechtlich durch Parlamente und Ministerien bestimmtes Verwaltungshandeln – geregelt in Verwaltungsvorschriften – muss unterfüttert werden durch eine von den Bediensteten selbst geschaffene Verwaltungskultur in Form von selbst gesetzten Handlungsleitlinien, um 12 Norbert Meier publiziert ein „Muster eines Public Corporate Governance Kodex“ als Handlungsempfehlung für kommunale Unternehmen, stark angelehnt an Kodizes der Privatwirtschaft, in: KommJur 2008, 451 ff. 13 Art. 41 EuGrCh und Art. II-101 EuVerfV. 14 Knemeyer, Polizeibegriffe, AöR 92 (1967), 153 ff. „Gute Polizei“ bestand, wenn das Gemeinwesen in guter Ordnung war. Die Herstellung guter Ordnung umfasste die gesamte Staatstätigkeit, später Verwaltungstätigkeit, sowohl der Gefahrenabwehr als auch der Wohlfahrtspflege. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. München 2007, Rn. 2 ff. 15 Knemeyer, Good Governance und Bürger-Verantwortung, Festschrift Schnapp, Berlin 2008, S. 629 ff.
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auf diese Weise jeden einzelnen Mitarbeiter für auch ethisch-moralisches Handeln zu sensibilisieren. Diese Innensicht der Verwaltung, in den Sozialwissenschaften schon geraume Zeit im Zentrum16, stellt im Rahmen der (good) governance Bemühungen einen kleinen Ausschnitt dar. Ihn näher zu betrachten und gegenüber einem der Kernprinzipien legislativ bestimmten Verwaltungshandelns – dem Grundsatz zügiger Verwaltungsverfahren – abzugrenzen, sei Aufgabe dieser Festgabe für einen hochgeschätzten Kollegen. Die Forderung nach modernen (guten) Verwaltungsgliederungen – wird herkömmlich an der Person des Freiherrn vom Stein und seinen Reformschriften festgemacht17. Für die letzten großen Gebietsreformen steht beispielhaft der Name Frido Wagener18 Die Forderungen nach einer modernen Verwaltungsorganisation und Aufgabenverteilung werden erfasst unter dem Kürzel Funktionalreform. Mit Forderungen zur Funktionalreform sind Forderungen und Maßnahmen zur Deregulierung einhergegangen. Ziele waren unter anderem eine Verschlankung der Verwaltung und die Beschleunigung von Verwaltungsverfahren. Da Verwaltung nicht statisch ist, immer wieder der Anpassung bedarf, nimmt es nicht Wunder, dass z. B. Joachim Jens Hesse jüngst seine Reformvorschläge unter dem Titel: Verwaltung erfolgreich modernisieren, präsentiert hat.19 Das Ziel einer insgesamt „guten Verwaltung“ wird aber nur selten umfassend angesprochen. Während die immer noch vom Rechtsstaatsprinzip geprägte Verwaltungsrechtswissenschaft den – noch nicht wirklich klaren Begriff der Governance20 namentlich in der Diskussion um die etablierte Steuerungswissenschaft verwendet21 und der Begriff eines „Good Government“ – einer guten Verwaltung – kaum vorkommt, findet man in der „Europäischen Rechtssprache“ den Begriff der Good Administration – bonne administration – sogar rechtlich verortet in Art. 41 Abs. 1 der Charta der
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Siehe etwa Benz/Kühling u. a. (Hrsg.), Handbuch Governance, 2007. Franz-Ludwig Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln/Berlin, 1970, insbes. S. 83 ff. 18 Frido Wagener, Neubau der Verwaltung – Gliederung der öffentlichen Aufgaben und ihrer Träger nach Effektivität und Integrationswert, Berlin 1969. Einen ersten Überblick gibt Herbert-Fritz Mattenklodt, Gebiets- und Verwaltungsreform in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1972. 19 Schriftenreihe Staatsreform in Deutschland und Europa, Band 11, Baden-Baden, 2009/ 2008. 20 Dazu Trute/Kühlers, Governance in der Verwaltungswissenschaft, Die Verwaltung 2004, 452 ff., (459 f.) und Schuppert, Was ist und wozu Governance, Die Verwaltung, 2007, 463 ff. 21 Siehe etwa Renate Mayntz, Governance – Theorie als fortentwickelte Steuerungstheorie? MPIfG Working Paper 04/01, 2004. 17
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Grundrechte der Europäischen Union.22 Sie normiert unter dem „Recht auf gute Verwaltung“ neben dem Grundrecht auf unparteiisches und gerechtes Verwaltungshandeln auch den Anspruch, dass die Angelegenheiten des Einzelnen „innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“.23 Zwei Kernbereiche im Bemühen um eine Gute Verwaltung seien im Folgenden näher beleuchtet: Die Bedeutung zügigen Verwaltungshandelns als – seit 1996 ausdrücklich – formalisiertes Außenrecht (Teil 2) und die noch wenig konturiert zu erfassende allgemeine Forderung nach einer auch materiell Guten Verwaltung unter dem Aspekt auch ethischen integren Verwaltungshandelns, niedergelegt in von Behörden selbst gesetzten Verwaltungs-Kodizes (Teil 3). II. Zügige Verwaltungsverfahren – zügiges Verwaltungshandeln – ein zentrales Ziel guter Verwaltung Gehen wir von der Europäischen Grundrechte Charta aus, so ist Verwaltung gut, wenn sie „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist handelt.“24 Ist der Grundsatz unparteiischen Verwaltungshandelns noch am ehesten rechtlich erfasst und setzt man gerecht mit rechtmäßig gleich, so bleibt die angemessene Handlungsfrist ein Postulat, das zwar im Einzelfall nicht leicht zu fassen ist, aber doch vom Verwaltungsverfahrensrecht mittlerweile weitgehend erfasst ist. 1. Rechtliche Grundsatzregelungen für zügige Verwaltungsverfahren Gehörte lange Zeit der zügige Ablauf eines Verwaltungsverfahrens und das zügige auch faktische Verwaltungshandeln zu den selbstverständlichen Tugenden deutschen Verwaltens, so musste sich der Gesetzgeber dieses Bereichs annehmen, als unzumutbare Verfahrensdauer und sogar Verfahrensverschleppung nicht nur angeprangert,25 sondern zu einem nicht akzeptablen Hemmnis für einen Neustart nach der Wende in den „ Neuen Ländern“ zu werden drohte. Speziell für diesen Bereich erlassene Be22 Das in dieser Norm enthaltene Recht auf ein zügiges Verfahren wird in § 6 Abs. 1 EMRK zwar ausdrücklich nur auf gerichtliche Verfahren bezogen, der EUGH hat den Anspruch und die korrespondierende Handlungsanweisung jedoch auch auf Verfahren der Europäischen Kommission erweitert. 23 Dazu etwa Schwarz, in: Fehling/Kastner (Hrsg.), Verwaltungsrecht, VwVfG, VwGO, Nebengesetze, 2. Aufl., Baden-Baden 2010, § 10 VwVfG Rn. 4. Zum Problembereich insgesamt etwa: Ralf Bauer, Das Recht auf gute Verwaltung im europäischen Gemeinschaftsrecht, Frankfurt a.M. 2002. 24 Dazu insbesondere Kerstin Pfeffer, Das Recht auf eine gute Verwaltung, Art. II – 101 der Grundrechtecharta des Vertrages für eine Verfassung für Europa, Baden-Baden 2006. 25 Zu Klagen vor allem aus Wirtschaft und Wissenschaft: Friedhelm Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 3. Aufl., Baden-Baden, 1998, Rn. 369 a mit Nachw. in Fußn. 106 sowie Rn. 56 Fußn. 32.
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schleunigungsgesetze haben nach „erfolgreich bestandener Erprobung“ in einem allgemeinen Verfahrensleitsatz Eingang in die Verwaltungsverfahrensgesetze gefunden. Hatten diese zunächst nur vorgeschrieben, ein Verwaltungsverfahren „einfach und zweckmäßig“ durchzuführen, so ist § 10 Satz 2 VwVfG durch das Genehmigungsbeschleunigungsgesetz vom 12. 9. 1996 um das Prinzip der Zügigkeit ergänzt worden. Wenn auch diese Gesetzesergänzung keine wirkliche inhaltliche Erweiterung darstellt – der Aspekt der Zügigkeit war schon in den Grundsätzen der Einfachheit und Zweckmäßigkeit enthalten26 – so hat die Einfügung doch Signalwirkung entfaltet. Die besondere Betonung der Zügigkeit ist für die Adressaten der Norm – Verwaltung wie Bürger – höher zu werten als eine Hervorhebung der zeitlichen Komponente des Prinzips der Verwaltungseffizienz.27 Das Prinzip der Zügigkeit hat – und das zeigen Normierungen in Spezialregelungen etwa der §§ 71 a ff VwVfG – eine eigenständige Bedeutung gewonnen. Zeitgleich mit der Einfügung des Prinzips der Zügigkeit in die allgemeine Regelung des § 10 Satz 2 VwVfG ist die „Beschleunigung von Genehmigungsverfahren“ im Abschnitt 1a in den neuen Vorschriften der §§ 71a – 71 d verankert worden. Zwar enthält auch dieser Teil des Gesetzes nicht unbedingt Neues, ihre Bedeutung gewinnt die Regelung jedoch durch die klare Verankerung einzelner Aspekte des allgemeinen Prinzips. Weiter konkretisiert und verschärft wurden diese Regelungen durch die Umsetzung der EU Dienstleistungsrichtlinie28. Sie sieht für den Gesamtbereich des Fachrechts29 die Festlegung bestimmter Verfahrensfristen vor, nach deren Ablauf die Genehmigung als erteilt gilt. Gerade diese Genehmigungsfiktion (§ 42a VwVfG) dient wirksam der Beschleunigung und damit der Umsetzung des Prinzips der Zügigkeit.30 2. Zur Rechtsnatur und Bedeutung des Prinzips der Zügigkeit Hufen weist in seiner Würdigung der Einführung des Zügigkeitsprinzips darauf hin, dass die Regelungen sich lesen „wie ein rechtspolitischer Appell an die Behörden, die ermuntert werden sollen, beschleunigungswirksame Verfahrensgestaltungen, die auch nach bisherigem Recht möglich sind, auch wirklich anzuwenden.“31 Einigkeit besteht aber darin, dass die ausdrückliche Verankerung des Zügigkeitsprinzips weit mehr ist als ein Appell. In der Bürgerrichtung der Norm dient sie – un26
Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl., München 2008, § 10 Rn. 25. 27 So unter anderem Hufen, Verwaltungsverfahren (Fußn. 25), Rn. 56. 28 RL 2006/123/EG. Siehe dazu auch etwa Markus Krajewski, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Die Europäische Dienstleistungsrichtlinie, KWI Schriften Bd. 3, Potsdam 2010, 37 ff. 29 Zur Ausgestaltung des Prinzips der Zügigkeit in Spezialbereichen siehe etwa Hufen, Verwaltungsverfahren (Fußn. 25), Rn. 394. 30 Dazu näher etwa Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 11. Aufl., München 2010, § 10 Rn. 17 ff. und zur Genehmigungsfiktion ebenda, § 42a Rn. 1. 31 Hufen, Verwaltungsverfahren (Fußn. 25), Rn. 368 a unter Verweis auf die Amtliche Begründung BT Drucksache 13/3995, S. 8 und mit weiteren Nachw. in Fußn. 106.
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abhängig von der Möglichkeit, gegebenenfalls eine Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO zu erheben – zumindest auch dem Schutz des Antragstellers und der sonstigen Betroffenen. § 10 Satz 2 VwVfG verleiht ein subjektiv öffentliches Recht freilich nicht auf ein bestimmtes Verfahren aber doch ein Recht auf fehlerfreie Ermessenshandhabung auch in Bezug auf eine zügige Verfahrensabwicklung.32 3. Zügigkeit außerhalb von Verwaltungsverfahren im Sinne von § 9 VwVfG Das bisher zum Prinzip der Zügigkeit ausgeführte gilt von Gesetzes wegen nur für Verwaltungsverfahren im Sinne von § 9 VwVfG, der den Begriff der öffentlichrechtlichen Verwaltungstätigkeit im Sinne von § 1 VwVfG konkretisiert. Es gilt also für die nach außen gerichtete Verwaltungstätigkeit zu „Produktion“ von Verwaltungsakten und/oder öffentlich-rechtlichen Verträgen. Nicht auf Verwaltungsakte oder öffentlich-rechtliche Verträge gerichtetes Verwaltungshandeln wird durch das normierte Zügigkeitsprinzip also nicht erfasst. Zügigkeit muss jedoch nicht allein als Grundsatz spezieller Verfahrensgestaltung sondern auch jenseits dessen für alles Verwaltungshandeln gelten, so zum Beispiel für Realakte33, Organisationsakte und anderes verwaltungsinterne Handeln. Unabhängig davon, dass zum Beispiel ein Realakt nicht anfechtbar ist, kann der von einer Missachtung des Zügigkeitsprinzips Betroffene sich mit einer Unterlassungsklage bzw. einer allgemeinen Unterlassungsklage auf Widerruf, Richtigstellung usw. wehren.34 Letztlich zu begründen ist dies dadurch, dass jegliches Verwaltungshandeln der Verwirklichung unseres repräsentativen Rechtsstaats zu dienen hat. Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass seine Repräsentanten und die für sie handelnden Institutionen ihre Aufgaben insgesamt nicht nur nach Recht und Gesetz sondern auch effektiv und damit auch zügig erfüllen. Auch unterhalb dieser rechtlichen Dimension guter Verwaltung gibt es – wenn auch schwerer fassbar – Handlungsanforderungen, deren Beachtung insgesamt Verwaltung erst zu einer „guten Verwaltung“ macht.
32 33 34
Siehe etwa Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl., Stuttgart 2010, Rn. 10. Zu verschiedenen Arten siehe etwa Hufen, Verwaltungsverfahren (Fußn. 25), Rn. 476 ff. Siehe etwa Hufen, Verwaltungsverfahren (Fußn. 25), Rn. 484.
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III. Das allgemeine Prinzip guter Verwaltung – Good Administration. Gute Verwaltung – Bürgerrecht und Leitlinie für eine integre Verwaltung. Gute Verwaltung durch selbst gesetzte Behördenverfassung 1. Erweiterung des Blicks in nicht formalrechtlich fassbares Verwaltungshandeln Wiewohl eine Vielzahl von Facetten einer guten Verwaltung rechtlich ausgestaltet und im Interesse der Bürger auch gerichtlich bewehrt – zum Teil in der Europäischen Charta der Grundrechte35 verankert – sind, bleibt ein weites Feld von weichen Handlungsaspekten, die Verwaltungshandeln zu einer Good Administration, Bonne Administration, einer Guten Verwaltung machen.36 Nur langsam geraten formalrechtlich nicht ausgestaltete weiche Faktoren in den Blick, getragen durch die Umorientierung zu mehr bürgerbezogenem Handeln und vermehrter Aufmerksamkeit für den Verwaltungsinnenbereich. Das Leitbild moderner Verwaltung lässt die „polizeirechtliche Perspektive“ – die Störerperspektive – mehr und mehr in den Hintergrund treten und wandelt sich bis hin zu partnerschaftlichem Verwaltungshandeln.37 Vom Erwartungshorizont des Bürgers aus soll die dem Bürger als Souverän dienende Verwaltung in allen Aspekten, innen und außen als „gut“ und integer empfunden werden können. Im demokratischen Rechtsstaat als „Staatsform der Zugehörigen“38 darf der Blick nicht auf das Außenrecht und Ansprüche der Bürger beschränkt bleiben. Parallel zu den Forderungen nach zügigem, gutem Verwaltungshandeln als „Bürgerrecht“ werden auch in der deutschen Verwaltungswissenschaft neben Konzepten eines besseren Qualitätsmanagements39 Überlegungen zur Förderung guten Verwaltungshandelns erörtert.40 Nicht allein der Bürger-Rechts-Aspekt sondern auch eine ethisch-moralische Sicht sollten bestimmen, was „Gute Verwaltung“ ist. Bislang wird in der wissenschaftlichen Diskussionen noch weitgehend vernachlässigt, dass weiche Faktoren des Verwaltungshandelns jenseits formalrechtlicher 35
Teil des Reformvertrages von Lissabon 2007. Zur Begriffsvielfalt im EU-Kontext etwa Ralf Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Frankfurt/M u. a. 2002, S. 21 ff. 37 Siehe dazu etwa Hill, Die Verwaltung als Partner der Wirtschaft, BayVBl. 2010, 485 ff. Zu diesem Wandel von der Partizipativen Revolution der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zu umfänglichen Aktivitäten zur Etablierung guter Verwaltung diskutiert unter dem Kürzel Good Governance auch Franz-Ludwig Knemeyer, Good Governance und Bürger-Verantwortung, in: Festschrift für Friedrich E. Schnapp, Berlin 2008, S. 629 ff. 38 Paul Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts IX, (Fußn. 1), § 221 Rn. 5 ff. 39 Hill, Qualitätsmanagement im 21. Jahrhundert – Ein Neuansatz, DÖV 2008, 789 ff.; ders., Die Good-Practice-Verwaltung, Speyerer Arbeitshefte Nr. 147. DHV Speyer, Speyer 2002. 40 Bourquain, Die Förderung guten Verwaltungshandelns durch Kodizes, DVBl. 2008, 1224 ff. 36
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Fassbarkeit gesamtgesellschaftliche Werte darstellen, die zwar letzen Endes auch dem Bürger dienen, vornehmlich aber eine allgemeine Verbesserung, Selbstreinigung und Rückgewinnung von Akzeptanz der öffentlichen Verwaltung bewirken sollen.41 2. Auslöser für Good-Administration-Aktivitäten So wie für die ausdrückliche gesetzliche Verankerung des Prinzips der Zügigkeit unzumutbar lang gewordene Verfahren bestimmend waren, bildeten den Auslöser für Good-Administration-Aktivitäten diagnostizierte Unregelmäßigkeiten, Versäumnisse, Machtmissbrauch, Diskriminierung, Mobbing und Fairnisverstöße. Der Bürger vermisst mehr und mehr eine gute Verwaltung, auf die er bauen und in die er vertrauen kann. Misstrauen in die öffentliche Verwaltung aber führt zur Abwendung vom Staat, einem Staat, der doch getragen sein sollte von seinen Bürgern. Besondere Aufmerksamkeit haben die „Verbesserungs-Aktivitäten“ erlangt durch eine in Deutschland nie für möglich gehaltene Häufung von Korruptionsfällen auf allen Ebenen. Die Transparenz-Bemühungen waren und sind neben „Anti-Korruptionsrichtlinien“42 eine erste wesentliche Antwort.43 Sie müssen jedoch münden in das gesamte Verwaltungshandeln bestimmende „Regelungen“ unter Einschluss von unten selbst gesetzter Verhaltensverpflichtungen. Für derart selbst gesetztes „Innenrecht“44 hat sich die Bezeichnung Kodex eingebürgert. „Anti-Korruptions-Kodizes“ können einen ersten Akt der Selbstverpflichtung darstellen und die Mitarbeiter eines öffentlichen Betriebes oder einer Behörde für korruptionsanfällige Situationen im Arbeitsalltag sensibilisieren. Als interne Handlungsleitlinien formulieren diese Kodizes klare Regeln zum Schutz vor Korruption, ethische Verhaltensanweisungen, deren Befolgung von Führungskräften und Mitarbeitern erwartet wird. Sie sollen Orientierung geben und gleichermaßen Identifikation mit dem eigenen Unternehmen, der eigenen Behörde stiften.45 Um zu einer insgesamt Guten auch vom Bürger akzeptierten Verwaltung zu gelangen, muss der eingesetzte Prozess der Sensibilisierung verbreitert werden. Über die geläufige Beachtung außengesetzter Verhaltensnormen – zum Beispiel den Grundsatz zügigen Verwaltungsverfahrens – und die von oben gesetzten Verhaltensrichtlinien hinaus bedarf es der Beachtung auch ethischer Maßstäbe. 41
Knemeyer, FS Schnapp (Fußn. 37), S. 629 ff. Die UN-Charta gegen Korruption – mittlerweile von über 140 Staaten ratifiziert – wird langsam auch auf Staatlicher und lokaler Ebene fassbar. 43 Zu Transparenz- und Informationsfreiheitsgesetzen etwa Kühling, DVBl. 2008, 1101 ff.; Flick, Verwaltungstransparenz durch Informationsfreiheit, DVBl. 2006, 1406 ff. Zum Ruf nach Transparenz auch Knemeyer, FS Schnapp (Fußn. 37), 638 ff. 44 Dieter H. Scheuing, Selbstbindung der Verwaltung, VVDStRL (40) 1982, S. 153 ff., 160 hat in seinem Staatsrechtslehrertagungsreferat vom Halbdunkel des Verwaltungs-Innenrechts gesprochen. 45 Zu Antikorruption siehe etwa von Arnim/Heiny/Ittner, Korroption – Begriff, Bekämpfungs- und Forschungslücken, DHÖV Speyer FÖV 33, Speyer, 2006. 42
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3. Erweiterung von Kodizes zu einem umfassenden Behörden-Innenrecht, einer eigenständig gesetzten selbständigen „Behördenverfassung“ Gesetze und andere rechtliche Leitplanken scheinen heute nicht mehr auszureichen. Kodizes, allgemeine Unternehmens- oder Behördenverfassungen, können der Weg zu einer „Guten Verwaltung“ sein. Als Corporate-Governance-Kodizes46 oder zu Deutsch: Verhaltensprogramme oder -leitlinien gehen sie über den Teilaspekt etwa einer Antikorruptions-Leitlinie47 hinaus und sind auch gegenüber staatlich gesetzten Richtlinien48 und Dienstanweisungen abzugrenzen. Sie ersetzen diese nicht, ergänzen sie aber. Jenseits formalrechtlicher Vorgaben für eine gute Verwaltung gewinnen Bestrebungen an Gestalt, dem Außenrecht ein selbst geschaffenes Verwaltungs-Innenrecht als Soft Law zur Seite zu stellen, angesiedelt unter von übergeordneter Stelle gesetzte Verwaltungsrichtlinien. Es geht um von einzelnen Behörden selbst gesetzte Verhaltensleitlinien. Wollten früher Kodizes für „Gute Policey“ – Gute Verwaltung – „gutes und richtiges Verhalten der Bürger steuern“,49 so sollen Verwaltungs-Kodizes heute gutes Verhalten der Verwaltungsbediensteten insgesamt steuern. Dabei geht es nicht um Störerbezogenes und Befugnis-getragenes Verwaltungshandeln, sondern um ehrenhaftes, moralisches Verwaltungshandeln, ein Handeln, das der Bürger jenseits der Einhaltung aller rechtlichen Vorgaben von seiner Verwaltung erwarten kann. Derartige Kodizes müssen mehr sein als das, wozu der Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis Vorbild sein soll, denn er enthält in erster Linie Handlungspflichten, die unser deutsches Verwaltungsverfahrensrecht (schon) als Rechtpflichten normiert hat50. Sie sollen auch mehr bringen als in der Europäischen Grundrechte Charta normiert ist: Eine Verwaltung wird als „gut“ bezeichnet, wenn sie „unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist“ handelt. Dazu gehören insbesondere die Anhörung, Akteneinsicht, Vertraulichkeit und Begründung von Entscheidungen (Art. 41 EuGrCh). Das aber reicht – wie schon dargelegt – nicht aus. Gegenüber dem „EU-Bürger-Recht auf gute Verwaltung“ sollen die Verwaltungskodizes, die selbst gesetzten „Behördenverfassungen“ – wie ich sie in Abgrenzung 46 Zum aus der Betriebswirtschaft stammenden und dann auch auf öffentliche Unternehmen transponierten Begriff siehe etwa Norbert Meier, Muster eines Public Corporate Governance Kodex, KommJur, 2008, 451 ff. Siehe dort auch zum Begriff Compliance-Programm = Verhaltenskodex S. 456. 47 Abzugrenzen zu staatlich gesetzten Antikorruptions-Richtlinien in Form der Dienstanweisungen. 48 Etwa der von der Bayerischen Staatsregierung gesetzten Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung von Korruption in der Öffentlichen Verwaltung vom 13. 4. 2004. 49 Im Einzelnen dazu Knemeyer, Polizeibegriffe (Fußn. 14). 50 Dazu näher Bourquain,(Fußn. 40), DVBl 2008, 1224 ff. und zu Entstehung, Geltungsbereich und Quellen dieses Kodex.
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lieber bezeichnen möchte – einen erheblichen Mehrwert bringen. Sie gehen über bislang im Vordergrund stehende rechtsförmig ausgestaltete Verhaltensweisen hinaus und stellen einen formulierten Grundkonsens über moralisch einwandfreies Verwaltungshandeln dar. Sie sollen – einem Gesellschaftsvertrag ähnlich – Orientierung geben und moralisches Fehlverhalten minimieren. Bedienstete sollten selbst überlegen, wie sie ihre Aufgabenerfüllung verstehen, wie sie mit ihrem „Kunden“, dem Souverän, umgehen und seinen Anliegen entsprechen wollen, um eine akzeptierte Verwaltungs- und Vertrauenskultur (wieder) aufzubauen. Auch nach außen vermittelte selbst gewählte und nicht „von oben verordnete Bürgernähe“ schafft Vertrauen und führt auch in edukatorischer Wirkung zugleich zu einem gewissen Maß an Selbstreinigung. Als präventive Handlungsanleitungen und interne Steuerungsinstrumente sollen sie auf der Basis unserer staatlichen Rechtsordnung dem Bürger bessere und von ihm akzeptierte Leistungen erbringen. In seinem grundlegenden Beitrag stellt Knut Bourquain ein Konzept guten Verwaltungshandelns dar, das sich nicht nur an der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidungen und des Verfahrens, sondern auch an bewährten Praktiken und anerkannten Prinzipien der Verwaltung orientiert, die eben nicht gesetzgeberischen Ursprungs sein müssen und auch nicht auf justitiable Verwaltungsgrundsätze beschränkt sind.51 Sie ergänzen „von oben“ fremdgesetzte Steuerungs- und Regelungsmechanismen durch „von unten“ eigengesetzte Selbstverpflichtungen. Die eigentliche Bedeutung sollen Verwaltungs-Kodizes im hier diskutierten Sinne von Behördenverfassungen jedoch entfalten als „moralische Bezugspunkte für Inhaber öffentlicher Ämter“52, unabhängig davon, dass sie zum Teil auch zwingendes Verwaltungsverfahrensrecht enthalten (wiederholen). Ihre Hauptbedeutung mag, wie Bourquain abschießend feststellt,53 „ in der Erzeugung von mehr materiell guten Entscheidungen“ liegen. Eine bessere Akzeptanz von Entscheidungen und eine Stärkung von Vertrauen in die Verwaltung lässt sich letztlich auch durch die Einrichtung eines Bürgerbeauftragten in der Behörde flankieren. Derartige Kodizes könnten mit der Zeit zum Teil auch in Außenrecht hineinwachsen.54 Im Gegensatz zu unserem auf nachträgliche Überprüfung angelegten Verwaltungsrechtssystem kann eine präventiv erarbeitete und auf Prävention angelegte Be51
Bourquain (Fußn. 40), DVBl. 2008, 1224 ff. 1226. So ausdrücklich auch eine Sachverständigenerklärung für das Europäische Parlament, Europäisches Parlament, Leitfaden für die Pflichten der Beamten und Bediensteten des Europäischen Parlaments (Verhaltenskodex), ABl. Nr. C 97 vom 5. 4. 2000 S. 1 ff. 3. 53 Bourquain (Fußn.40) DVBl 2008, 1224 ff. (1233). 54 Zum rechtlichen Stellenwert von Soft Law sei nochmals hingewiesen auf die Habilitationsschrift von Matthias Knauff, (Fußn. 7). 52
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hördenverfassung die Akzeptanz bei denjenigen schaffen und erhöhen, die auf der Basis dieser Verfassung arbeiten sollen. Der „Mehrwert“ einer solchen Verfassung liegt vor allem in der „Erzeugung informellen Zwangs“ und eines erhöhten Rechtfertigungsdrucks. Zudem schaffen entsprechende Publikationen durch die Medien Kontrolle durch öffentliche Aufmerksamkeit55 und stärken damit auch das Vertrauen der Bürger in ihre Verwaltung, eine „Gute Verwaltung“.
55
Bourquain (Fußn.40), DVBl. 2008, S. 1224 ff. (1230).
Baden verboten am Rheinischen Lido Ein Beitrag zur polizeirechtlichen Problematik von Badeverboten Von Jürgen Kohl I. Einleitung Als der Jubilar im Jahr 1979 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht in Mannheim und damit die Nachfolge seines Vorgängers Mußgnug und Vorvorgängers sowie Lehrstuhlgründers Bartlsperger antrat, war der Verfasser dieses Beitrags bereits seit 1975 in die Dienste des Landes Baden-Württemberg eingetreten und als Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe tätig, nachdem er in den Jahren 1970 bis 1975 an diesem Lehrstuhl unter der Obhut seines Lehrmeisters Bartlsperger wissenschaftlich tätig gewesen und seine Liebe zum Öffentlichen Recht entdeckt hatte. Diese und die fast dreißigjährige Tätigkeit seiner Ehefrau als Sekretärin des Jubilars begründen eine besondere Beziehung zu diesem Lehrstuhl und seinem langjährigen Inhaber, der sich mit bewundernswerter und nie endender Schaffenskraft in unzähligen Beiträgen, mehreren Lehrbüchern und dem Standardkommentar zur VwGO bleibende Verdienste im Öffentlichen Recht erworben hat. Neben den Schwerpunktthemen des Staatsorganisations-, des Verwaltungs- und des Verwaltungsprozessrechts galt das besondere Augenmerk des Jubilars dem Recht der Öffentlichen Sicherheit. Sein Lehrbuch des Polizei- und Ordnungsrechts1 gilt als Standardwerk und ist nicht nur für Studenten in der Ausbildung, sondern auch für Praktiker eine Fundgrube und Orientierung. So nimmt es nicht wunder, dass sich der Jubilar auch der Problematik von Badeverboten2 zuwendet. Während seiner über 30-jährigen Tätigkeit an der Universität Mannheim, die im Schloss am Rhein untergebracht ist, haben ihn seine Schritte häufig zu den Ufern dieses Flusses geführt, wo er Entspannung und Erholung finden konnte. Ob der Jubilar aber jemals in die Fluten dieses herrlichen Flusses gestiegen ist, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers, sicher ist aber, dass ihm das Strandbad von Mannheim, auch Lido3 genannt, nicht unbekannt geblieben ist. Mit dem vorliegenden Beitrag will der Verfasser nicht nur seine größte Hochachtung vor der wissenschaftlichen Leistung des Jubilars zum Ausdruck bringen, sondern auch die besondere Zuneigung des Jubilars zur Stadt und zum Fluss, der ihr ein besonderes Gepräge verleiht, würdigen. 1 2 3
Schenke, Polizei-und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009. Rn. 328, 349, 436, 471. s. SWR 2002 Landesschau unterwegs, der Rheinische Lido.
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II. Die geschichtliche Entwicklung des Rheinstrandbades in Mannheim Die Stadt Mannheim, die erst 400 Jahre alt ist, liegt an der Mündung des Neckars in den Rhein und ihr Stadtkern, die sog. Quadrate werden von beiden Flüssen begrenzt und geprägt. Während das Schwimmen und Baden im Neckar sich keiner besonderen Beliebtheit erfreute, und soweit ersichtlich keine ausgewiesenen offiziellen Bademöglichkeiten aufwies, war und ist der Rhein stets Ziel ungetrübten Naturgenusses und freier Badefreuden gewesen. Aus dem Sendschreiben des Dr. Franz Anton May über den Gebrauch und Missbrauch der Rheinbäder aus dem Jahre 1778 wird die Bedeutung des noch „wilden“ Badebetriebs im Rhein deutlich, wenn dieser u. a. feststellt, dass die beste Zeit, „das Rheinbad zu gebrauchen, bei schönem heiterem Himmel morgens zwischen 10 und 11 und abends zwischen 6 und 7 Uhr liegt, da in diesen Zeiten „gemeiniglich der Magen von Speisen leer ist“. Um das wilde und ungezügelte Baden im Rheine in vernünftige Bahnen zu lenken, wurden zunächst Flussbäder errichtet, die als schwimmende Gebilde am Ufer des Rheins bzw. im Industriehafen verankert wurden4. Sie besaßen Schwimmbecken, die von Schwimmern (Pontons) getragen wurden und von Umkleidekabinen bzw. Aufenthaltsräumen umgeben waren. Die malerischen Holzbauten besaßen einen weißen Anstrich, einen grünen Sockel und ein lebhaft rotes Dach. So verfügte Mannheim im Jahre 1906 über sieben große Flussbäder, die sich im Rhein und eines davon im Industriehafen befanden. Da die Flussbäder aber den großen Zustrom von Badenden nicht aufnehmen konnten, beschloss der Gemeinderat im Jahr 1925 die Errichtung eines Rheinstrandbades zwischen den Rheinkilometern 419 und 420 (damals Rheinkilometer 249 bis 250). Für dieses Unternehmen wurden 190.000,– Mark zur Verfügung gestellt. Als rechtliche Grundlage erließ der Oberbürgermeister mit Zustimmung des Stadtrates die ortspolizeiliche Vorschrift „Strandbadordnung betreffend“ aufgrund der §§ 12 Ziff. 3 und 116 Ziff. 2 des Badischen Wassergesetzes vom 3. 4. 1913 sowie §§ 23, 30, 58, 75, 87a, 109, 120 Badisches Polizeistrafgesetzbuch vom 31. 10. 1863 und § 366 Ziff. 10 des Reichsstrafgesetzbuches. Die Vorschrift wurde im Badischen Generalanzeiger vom 25. 5. 1927 bekannt gemacht. Sie erlaubte in § 1 das freie Baden im Rheine zwischen Kilometer 249 und 250 (heute 419 und 420) während der Tageszeit von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Eine Haftung übernahm die Stadt jedoch nicht. Die Notwendigkeit einer solchen ortspolizeilichen Vorschrift ergab sich insbesondere aus dem Umstand, dass tausende ja zehntausende Badende zum Rhein strömten, wie sich einer Meldung in der Badischen Zeitung vom 10. 6. 1925 entnehmen lässt. Bei der Eröffnung des Standbades meldete die Presse etwa 40.000 Besucher und noch Jahre später berichtete die Neue Badische Zeitung vom 22. 8. 1932 von 30.000 Besuchern und 5.000 Fahrrädern. Die jeweils für ein Jahr erlassenen polizeilichen Vorschriften mündeten schließlich in die Strandbadordnung vom 19. 6. 1933. Gleichzeitig stellte der Oberbürgermeister fest, dass die Benutzung des Strandbades unentgelt4 s. Bildband Mannheim und seine Bauten 1907 – 2002 Band 4, S. 158 Flussbäder, S. 159 Strandbad Neckarau.
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lich sei und ausschließlich auf Gefahr der Badenden geschehe. Die Stadt Mannheim lehnte jede Haftung für körperliche und sachliche Schäden ab. Am 1. 1. 1958 trat die Strandbadordnung außer Kraft, nachdem der Gemeinderat gem. § 4 Abs. 1 Gemeindeordnung vom 25. 7. 1955 eine Betriebsordnung für das städtische Strandbad und die Flussbäder erlassen hatte. Nach § 1 dieser Betriebsordnung war das Strandbad eine der Volksgesundheit dienende öffentliche Einrichtung, die Badezeiten wurden jährlich in der Presse entsprechend bekannt gemacht. Im Zuge zunehmender Verschmutzung des Rheins durch ungeklärte Abwässer fand das bislang ungestörte und freie Baden im Rheine sein jähes rechtliches Ende durch den Erlass der Polizeiverordnung durch die Ortspolizeibehörde der Stadt Mannheim über das Baden in öffentlichen Gewässern im Stadtkreis Mannheim vom 14. 12. 19765. Aufgrund § 10 Abs. 1, § 1 Abs. 1 Polizeigesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. 1. 1968 (GesBl. S. 61), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. 3. 1976 (GesBl. S. 228) wurde mit Zustimmung des Gemeinderates verordnet, dass das Baden, Schwimmen und Waschen im Rhein von Stromkilometer 411,25 bis Stromkilometer 436,00 (rechtes Ufer) verboten ist. Diese Rechtsverordnung wurde durch die Rechtsverordnung der Stadt Mannheim über den Gemeingebrauch an öffentlichen Gewässern vom 28.7. 1978 abgelöst6. An diesem Rechtszustand hat sich bis heute nichts geändert. Was war geschehen? Nach den Erfahrungen bei den Rhein- und Neckarwasseruntersuchungen oberhalb und unterhalb Mannheims, die durch das Städtische Chemische Untersuchungsamt Mannheim seit 1907 durchgeführt wurden, konnte noch im Jahre 1937 festgestellt werden, dass der Rhein das Mannheimer Stadtgebiet in verhältnismäßig reinem Zustand betritt. Ein Unterschied zwischen beiden Flussseiten und der Flussmitte war nicht vorhanden. Die Abwässer der Industriewerke in Rheinau und Neckarau hatten den Flusszustand nicht merkbar verändert. Erst die Abwässer der Stadt Ludwigshafen riefen eine größere Verschmutzung hervor7. Demgegenüber bot der Neckar in chemischer Hinsicht ein völlig anderes Bild als der Rhein. Für die oberhalb der Rheinbrücke gelegenen Flussbäder und das Strandbad bedeutete dies, dass von keinen Gefahren für die Badenden oder die Fischerei auszugehen war. Dieser Zustand sollte sich im Zuge der industriellen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch verändern. Wie sich den Erkenntnissen des Umweltbundesamtes8 entnehmen lässt, nahm der Sauerstoffgehalt im Rhein seit 1955 durch die Einleitung stickstoff- und phosphathaltiger Abwässer bis 1971 kontinuierlich ab. Gleichzeitig erreichte im Jahr 1971 auch die Artenzahl an Insekten ihren tiefsten Punkt. Seit 1971 stieg aber die Sauerstoffkonzentration im Rhein wieder kontinuierlich an, ebenso die Artenzahl an Insekten im Rhein. Die Verbesserung war vor allem auf den Ausbau von Kläranlagen in Deutsch5 6 7 8
s. Mannheimer Morgen (MM) vom 22. 12. 1976. s. Sammlung Stadtrecht der Stadt Mannheim, bekannt gemacht MM v. 28. 7. 1978. s. Egger, Gesundheitsingenieur 1938, 27. Daten zur Umwelt 1997.
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land mit biologischen Reinigungsstufen zurückzuführen. Die von der Stadt Mannheim als Ortspolizeibehörde im Jahr 1976 erlassene Polizeiverordnung über das Baden in öffentlichen Gewässern im Stadtkreis Mannheim, durch welche das Baden, Schwimmen und Waschen im Rhein zwischen Rheinkilometer 411,95 und 436,00 allgemein verboten wurde9, ging zwar auf diese damaligen Erkenntnisse über die Verschmutzung des Rheins zurück, aufgrund der mittlerweile nachhaltig eingetretenen Verbesserungen der Wasserqualität im Rhein, dürfte sie nunmehr aber keine ausreichende Rechtsgrundlage mehr darstellen10. Schon bei Erlass der Verordnung war ihre Aufhebung für den Fall in Aussicht gestellt worden, dass eine Verbesserung der Wasserqualität erreicht werden kann. Auch nach den Feststellungen des BUND sind nach jahrzehntelangen Konflikten die Flüsse und Bäche am Oberrhein wesentlich sauberer geworden11. Dies wird auch durch den Bericht der Internationalen Rheinschutzkommission12 bestätigt, danach geht es mit dem Rhein bergauf. Die Wasserqualität hat sich stark verbessert, weil weniger verunreinigte Abwässer in den Rhein geleitet werden. Der Anschluss von Kommunen an kommunale und Industriekläranlagen stieg zwischen 1985 und 2000 auf 95 %. Auch die Tierwelt im Rhein hat sich erholt, Rheinfische außer Aalen sind wieder essbar. Mit 63 Arten ist die Fischfauna des alten Rheins fast komplett, es fehlt nur der Stör. Dank neugebauter Fischpässe in den Wehren können heute Wanderfische, z. B. Lachs und Meerforelle, von der Nordsee bis in den Oberrhein und einige Nebenflüsse im Elsass und im Schwarzwald aufsteigen und dort laichen. Bis Anfang 2003 sind mehr als 1.900 erwachsene Lachse nachweislich in das Rheinsystem zurückgekehrt. Insbesondere nach dem schweren Chemieunfall der Firma Sandoz, wo riesige Mengen hochgiftiger Chemikalien in das Rheinwasser gelangten, einigten sich die Rheinanliegerstaaten auf ein umfangreiches Aktionsprogramm Rhein, das nunmehr als großer Erfolg gewertet und als Vorbild für andere Flüsse angesehen werden kann. Aus dem Rhein kann wieder Wasser für die Trinkwasseraufbereitung genutzt werden, und die Lachse schwimmen über 700 km flussaufwärts13. Die Internationale Kommission zum Schutze des Rheins (IKSR) erarbeitete im Jahr 2000 ein neues Grundsatzprogramm mit dem Titel „Rhein 2020 – Programm zur nachhaltigen Entwicklung des Rheins“ und die Rhein-Ministerkonferenz in Straßburg beschloss am 19. 1. 2001 die Realisierung dieses Programms. Am 1. 1. 2003 ist das neue Übereinkommen zum Schutze des Rheins in Kraft getreten14. Es dehnt den Geltungsbereich des früheren Rheinschutzabkommens aus und schafft die Grundlagen für den integrierten und nachhaltigen Ansatz der künftigen Rheinschutzpolitik. Die am 22. 12. 2000 in 9
s. o. Fußn. 5. s. MM vom 13. 8. 1985 Qualität des Rheinwassers ist besser geworden, s. auch Zils, UPR 1992, 413. 11 s. BUND Regionalverband Südlicher Oberrhein v. 3. 7. 2003. 12 s. Bericht Nr. 180 www.iksr.org Wasserqualität, s. a. Rheingütebericht 2000 der DKSR. 13 s. Bericht IKSR, BMU Stand November 2008. 14 BGBl. II, S. 849. 10
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Kraft getretene Europäische Wasserrahmenrichtlinie15 setzt für die EU-Mitgliedstaaten in der Wasserpolitik neue Maßstäbe. Ziel ist es, in allen Gewässern bis 2015 den guten Zustand bzw. das gute Potential zu erreichen. Mit dem Rheingütebericht 2000 wurde eine mehrere Jahre betrachtende Bewertung im Rhein vorgenommen. Der Rheingütebericht und weitere Messdaten zeigen, dass sich die Gewässergüte des Rheins durch Maßnahmen der Abwassersanierung in Bezug auf den Eintrag von organischen Substanzen und Nährstoffen in den 80er Jahren wesentlich verbessert hat. Nach der Einstellung des Kalibergbaus im Elsass stellt auch Chlorit keinen Belastungsfaktor mehr dar. Im Bereich der Schwermetalle sind die Zielvorgaben der Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) und der IKSR weitgehend erreicht. Dennoch zeigen Zink und Kupfer noch erhöhte Konzentrationen (Güteklasse 3), und auch für die absorbierbaren organischen Halogenverbindungen (AOX) ist der Zielwert Güteklasse 1 noch nicht durchgängig erreicht. Von den speziell organischen Mikroverunreinigungen ist insbesondere der Stoff Hexachlorbenzol (HCB) problematisch. Dieser Stoff wurde 1999 einmalig in erhöhten Konzentrationen gefunden als Folge außergewöhnlicher Hochwässer. In den Jahren danach waren die Konzentrationen aber wieder unauffällig. Aufgrund der Bemühungen der IKSR wurde eine deutliche Verbesserung der Wasserqualität des Rheins erreicht und ein Programm zur nachhaltigen Entwicklung des Rheins verabschiedet16. Eine Gesamtstrategie Sedimentmanagement Rhein soll dazu beitragen, die Belastung des Ökosystems Rhein durch frühere Verschmutzungen deutlich zu verbessern. Auch wenn noch gewisse Probleme durch diffuse Stickund Schadstoffeinträge aus der Landwirtschaft bestehen, kann mittlerweile nicht mehr von einer Gesundheitsgefahr für Schwimmer und Badende im Rhein ausgegangen werden. So setzt sich die IKSR dafür ein, dass Rheinfische, Muscheln und Krebse ohne Einschränkung verzehrt werden können. Das Schwimmen im Rhein ist deshalb heute längst nicht mehr so problematisch wie früher, da die organischen und Schwermetallkonzentrationen abgenommen haben17. Der Rhein als Trinkwasserquelle ist wieder zulässig und der Verzehr von fettarmen Fischen aus dem Rhein ist unbedenklich, da bei diesen Fischen kaum Schadstoffe nachgewiesen werden. Die IKSR gilt nach der erfolgreichen Sanierung des Rheins als Modellbeispiel für andere Flusskommissionen. Trotz dieser Erkenntnisse hat die Stadt Mannheim an dem seit 1976 bestehenden Badeverbot am Strandbad festgehalten und es unverändert auch in die (bislang letzte) Satzung über die Benutzung des Strandbades vom 30. 3. 201018 aufgenommen unter Hinweis auf die Polizeiverordnung vom 28. 7. 1978. Dies rief nicht nur im Gemeinderat19 Verwunderung hervor, sondern stieß auch bei der Bürgerinitiative zur Erneue15 16 17 18 19
WRRL, Richtlinie 2000/60/EG, Abl. L327/1. s. Rhein-Ministerkonferenz 2001; S. auch die Broschüre Rhein 2020 als Pdf-Datei. s. Umweltlexikon online Stichwort Rhein. Amtsblatt Nr. 14 vom 8. 4. 2010. s. MM vom 31. 3. 2010.
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rung des Strandbades20 auf Ablehnung. Das festgeschriebene Badeverbot lag nicht in ihrer Absicht, vielmehr wurde ein Badebetrieb ausdrücklich gewünscht. Bislang ist die Stadt Mannheim diesen berechtigten Wünschen in der Bevölkerung nicht nachgekommen. Eine gerichtliche Klärung erscheint damit unvermeidbar. III. Rechtliche Grundlagen 1. Gemeingebrauch an öffentlichen Gewässern Nach § 25 (zuvor 23) S.1 WHG21 darf jede Person oberirdische Gewässer in einer Weise und in einem Umfang benutzen, wie dies nach Landesrecht als Gemeingebrauch gestattet ist, soweit nicht Rechte anderer dem entgegenstehen und soweit Befugnisse oder der Eigentümer- oder Anliegergebrauch anderer dadurch nicht beeinträchtigt werden. Ergänzend dazu bestimmt § 26 Abs. 1 S. 1 Wassergesetz BadenWürttemberg22, dass der Gebrauch der oberirdischen Gewässer zum Baden, Waschen, Schöpfen mit Handgefäßen, Tränken, Schwemmen und zu ähnlichen unschädlichen Verrichtungen, zum Fahren mit kleinen Fahrzeugen ohne eigene Triebkraft und als Eisbahn, vorbehaltlich des § 28 Abs. 2 und des § 30 Abs. 2 als Gemeingebrauch jedermann gestattet ist. Unter Baden sind vor allem die herkömmlichen Formen des Badens von Menschen in einem Gewässer zu verstehen. Beim Baden in diesem Sinne wird der Körper ohne besondere technische Vorkehrungen zum Zwecke der Säuberung, der sportlichen Ertüchtigung oder der Erholung mit dem Wasser in Verbindung gebracht. Auch moderne Formen des Badens, etwa das Schwimmen mit Taucherbrille, Schnorchel und Schwimmflossen fallen darunter. Ebenso fällt das Tauchen im Taucheranzug mit Sauerstoffgerät unter den Begriff des Gemeingebrauchs23, letzeres ist allerdings umstritten24. Damit ist zweifellos das Baden und Schwimmen im Rhein grundsätzlich vom Gemeingebrauch umfasst und kann nur eingeschränkt werden, wenn hierfür eine mit der Verfassung vereinbare gesetzliche Grundlage gegeben ist. Dabei kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob das Recht auf Teilhabe am Gemeingebrauch mit der (teilweisen) Entziehung eines Gewässers entfällt25, da in Bezug auf den Rhein keine Einziehung des Gewässers stattgefunden hat oder demnächst zu erwarten wäre. Einschränkungen des Gemeingebrauchs bei der Nutzung von Gewäs-
20 Es gab heftige Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten über die Errichtung eines Neubaus für ein Restaurant und die damit verbundene Nutzung, s. MM v. 24. 7. 2010 u. v. 31. 12. 2010. 21 I.d.F. v. 31. 7. 2009 (BGBl. I S. 2585). 22 I.d.F. v. 20. 1. 2005 (GBl. S. 219) z.g.d. Art. 3 d. G. v. 17. 12. 2009 (GBl. Nr. 23 S. 802). 23 s. Bulling/Finkbeiner, Wassergesetz für Baden-Württemberg, 3. Aufl. 2010, § 26 Rn. 28; Czychowski/Reinhardt, WHG, 10. Aufl. 2010, § 25 Rn. 23. 24 s. hierzu VGH Bad.-Württ, Urt. v. 11. 7. 1997, VBlBW 1998, 25; Urt. v. 22. 12. 2000, VBlBW 2001, 324 (325); BayVGH, Urt. v. 13. 5. 2009, BayVBl. 2009, 528. 25 s. hierzu BVerwG, Urt. v. 25.6.1969 – 4 C 77.67 – BVerwGE 32, 222 (225).
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sern sind jedoch sowohl durch das Bundeswasserstraßengesetz als auch durch die Wassergesetze der Länder eröffnet. 2. Einschränkungen des Gemeingebrauchs an Gewässern a) Durch das Bundeswasserstraßengesetz Nach § 6 Bundeswasserstraßengesetz26 kann der Gemeingebrauch durch Rechtsverordnung nach § 46 Nr. 3 geregelt, beschränkt oder untersagt werden, soweit es zur Erhaltung der Bundeswasserstraßen in einem für die Schifffahrt erforderlichen Zustand notwendig ist. Unter der gleichen Voraussetzung können die Behörden der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes durch Verfügung den Gemeingebrauch regeln, beschränken oder untersagen. Von dieser Ermächtigung hat die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes mehrfach Gebrauch gemacht und in § 8.10 Ziff.1 Binnenschifffahrtsstraßen-Ordnung27 bestimmt, dass das Baden verboten ist a) 100 m ober- und unterhalb von Brücken, Wehren und Hafeneinfahrten, b) im Schleusenbereich, c) an den von den zuständigen Behörde bezeichneten Stellen. Nach Ziff 2 bleiben Vorschriften, die das Baden in Flüssen und Kanälen an anderen als den in Nr. 1 genannten Stellen einschränken oder verbieten, unberührt. Eine hierauf gestützte binnenschifffahrtsrechtliche Einschränkung des Badens und Schwimmens im Bereich des Strandbads Mannheim besteht nicht28. b) Einschränkungen des Gemeingebrauchs durch § 28 Abs. 2 bzw. § 30 Abs. 2 WasG BW Nach § 28 Abs. 2 WasG können die Wasserbehörden und die Ortspolizeibehörde die Ausübung des Gemeingebrauchs und des Anliegergebrauchs aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere der Ordnung des Wasserhaushalts, der Sicherstellung der Erholung, des Schutzes der Natur oder der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung durch Rechtsverordnung oder im Einzelfall regeln, beschränken oder verbieten sowie das Verhalten im Uferbereich regeln. Von dieser Ermächtigung ist in zahlreichen Fällen aus Gründen des Naturschutzes Gebrauch gemacht worden29. Die Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 2 WasG wurde aber nicht nur aus Gründen des Natur- und Umweltschutzes zur Einschränkung des Gemeingebrauchs herangezogen, sondern auch aus sonstigen Gründen des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere 26
Neugefasste Bekanntmachung vom 23. 5. 2007 BGBl. I S. 962. Eine ähnliche Regelung findet sich in Art. 11.04 der Bodensee-Schifffahrtsordnung v. 8. 12. 2005 (GBl. S. 730). Sie findet ihre Rechtsgrundlage allerdings in § 30 Abs. 2 WG BW. 28 s. die Verordnung über das Baden in den Bundeswasserstraßen Rhein, Neckar, Main, Lahn, Mosel und Saar im Bereich der WSD Mainz vom 18. 3. 1970 § 2 Nr. 4, VkBl. 1970, 280. 29 s. hierzu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22. 12. 2000, VBlBW 2001, 324 (325); Urt. v. 9. 7. 1999, VBlBW 2000, 26; Urt. v. 7. 11. 1997, VBlBW 1998, 174 (175). 27
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aus Gründen der Gesundheitsgefahr. So kann der Gemeingebrauch auch eingeschränkt werden bei gesundheitsgefährdender Verschmutzung eines Gewässers – wie im vorliegenden Fall – oder bei sonstigen Gefahren, die beispielsweise durch die Strömungsverhältnisse bedingt sind oder von Tieren im Wasser ausgehen können30. In Anwendung des § 28 Abs. 2 WasG hat deshalb die Stadt Mannheim am 28. 7. 1978 eine Rechtsverordnung über den Gemeingebrauch von öffentlichen Gewässern erlassen und darin das Baden im Rhein von Stromkilometer 411,95 bis Stromkilometer 436,66 rechtes Ufer und im Bereich des Sandhofer Altrheins verboten. Anlass für den Erlass der Rechtsverordnung waren die vom Gesundheitsamt seit längerer Zeit festgestellten gesundheitsgefährdenden Verschmutzungen im genannten Streckenabschnitt des Rheins. Bei Erlass der Verordnung wurde jedoch eine Überprüfung und Änderung in Aussicht gestellt für den Fall, dass sich die Verhältnisse im Rhein deutlich verbessern würden. Die Stadt Mannheim geht hiervon aber nach wie vor nicht aus. Zwar hat sich auch nach Auffassung des Gesundheitsamts Mannheim die Wasserqualität des Rheins seit jener Zeit deutlich verbessert31, das Gesundheitsamt hat aber nach wie vor Bedenken, eine Aufhebung des Badeverbots zu befürworten. In seiner bislang letzten Stellungnahme vom 13. 8. 2010 kommt das Gesundheitsamt Mannheim zum Ergebnis, dass der Rhein keine konstanten Werte aufweise und nach wie vor durch Mikroorganismen belastet sei. Die Aufhebung des Badeverbots wurde deshalb nicht empfohlen unter Hinweis darauf, dass sonst die EU-Richtlinie über Badegewässer zur Anwendung käme. Situationen wie an der Isar, wo das Klärwasser mit UV-Licht bestrahlt und dadurch Mikroorganismen getötet würden, seien am Rhein nicht erreichbar. Außerdem müsste der Rhein im Abstand von 2 Wochen überprüft und bei gefährlichen Konzentrationen ein aktuelles Badeverbot verhängt werden. Dies sei nicht zumutbar bzw. praktikabel. Dementsprechend hat die Stadt Mannheim das Badeverbot auch in der neuesten Betriebsordnung für das Strandbad wieder mit aufgenommen32. c) Beschränkung des Gemeingebrauchs durch Benutzungsordnungen für öffentliche Einrichtungen Soweit Kommunen künstlich angelegte öffentliche Badeanstalten als öffentliche Einrichtung betreiben und hierzu entsprechende Benutzungsordnungen erlassen, finden diese Vorschriften ihre Rechtsgrundlage in der Satzungshoheit der Gemeinden als Ausdruck ihrer Selbstverwaltungsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG. Eine Einschränkung des Gemeingebrauchs an natürlichen öffentlichen Gewässern durch das Satzungsrecht für öffentliche Einrichtungen erscheint dagegen nicht zulässig, da es sich 30
s. Krokodilalarm im Rhein, Skeptiker 4/2001. s. z. B. schon MM vom 13. 8. 1985: Die Qualität des Rheins ist besser geworden. Er gilt als mäßig verunreinigt und fällt in die Güteklasse II. 32 s. gleichlautend die Betriebsordnungen von 1979, 1990, 2001 und zuletzt 2010. 31
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dann nicht um öffentliche Einrichtungen im Sinne der Gemeindeordnung handelt. Eine Ausnahme wird man nur dort annehmen können, wenn dem Badeverbot in der Benutzungsordnung nur deklaratorische Bedeutung zukommt, da es nur auf bereits bestehende Badeverbote, die aufgrund sondergesetzlicher Bestimmungen ergangen sind, hinweisen will. Eine eigenständige rechtliche Bedeutung dürfte ihnen jedoch nicht zukommen33. d) Einschränkungen des Gemeingebrauchs durch Allgemeines Polizeirecht Soweit spezialgesetzliche Vorschriften über die Einschränkung des Gemeingebrauchs auf Gewässern eingreifen, haben diese Vorschriften nach dem Grundsatz der Spezialität Vorrang vor den allgemeinen polizeilichen Vorschriften der Polizeigesetze der Länder. Dies gilt sowohl für die Vorschriften des Bundesrechts auf der Grundlage des Bundeswasserstraßengesetzes, die die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf Bundeswasserstraßen gewährleisten sollen, als auch für die einschlägigen Vorschriften in den Landeswassergesetzen, wonach aus Gründen des Wohls der Allgemeinheit, insbesondere der Ordnung des Wasserhaushalts, der Sicherstellung der Erholung, des Schutzes der Natur oder der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch die Wasserbehörden und die Ortspolizeibehörden Verordnungen oder Einzelmaßnahmen auch in Form von Allgemeinverfügungen erlassen werden können. Ein Rückgriff auf die Ermächtigung der §§ 1 Abs. 1, 10 Abs. 1 PolG ist damit weder notwendig noch erscheint er zulässig34. Denkbar bleiben jedoch Einzelfälle polizeilicher Gefahrensituationen, die durch Maßnahmen Dritter ausgelöst werden und eine meist zeitlich begrenzte Gefährdung für Benutzer der Gewässer auslösen35. 3. Gedanke der Selbstgefährdung Ein Recht des Staates, den einzelnen Bürger an ihn ausschließlich selbst gefährdenden Unternehmungen zu hindern, wird allgemein verneint. In der Literatur wird dies z. T. damit begründet, dass es in einem solchen Fall an einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder an einem öffentlichen Interesse für ein polizeiliches Eingreifen fehle36. Überwiegend wird jedoch damit argumentiert, dass Art. 2 Abs. 1 GG in
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s. allg. Peine, JZ 2006, 607. Vgl. hierzu VGH Bad-Württ, Urt. v. 22. 6. 1987, VBlBW 1988, 255 (256) und Urt. v. 7. 11. 1997, VBlBW 1998, 174 und Urt. v. 22. 12. 2000, VBlBW 2001, 324 (325); OVG Saarland B. v. 11.2.2003 – 9 W 1/03 sowie allgemein Kibele, VBlBW 1988, 329. 35 s. Sandoz-Unfall oder Hai- bzw. Alligatorenalarm. 36 Vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl. 2008, § 4 Rn. 28; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 403, Schenke (Fußn. 1) Rn. 57. 34
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gewissen Grenzen ein Recht auf Selbstgefährdung beinhalte37. Die Grenzen dieses Rechts werden dann dort gezogen, wo der sich selbst Gefährdende die Tragweite seines Handelns nicht selbst erkennen kann, da er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befindet oder die Tragweite seines Tuns nicht übersehen bzw. abschätzen kann. In der Rechtsprechung38 findet das in Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Persönlichkeitsrecht dort seine Grenze, wo die objektive Wertordnung des Grundgesetzes den Schutz der Bürger (ggf. vor sich selbst) gebietet. So hat der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 11. 7. 199739 ein Tauchverbot im Bodensee wegen der Gefährdung Dritter bei notwendigen Rettungsversuchen verneint. Gemessen an der Vielzahl von Risikosportarten scheint dies nicht ganz unproblematisch, z. B. Klettern und Wandern im Gebirge oder riskante Skiabfahrten, bei denen auch Retter in ernsthafte Gefahren kommen können40. 4. Rechtsschutz Soweit Badeverbote in Form von Rechtsverordnungen erlassene werden, kommt Rechtsschutz nach § 47 VwGO in Form der Normenkontrolle in Betracht. In Bezug auf die Einschränkung des Gemeingebrauchs ist hier allerdings problematisch, ob und inwieweit ein Benutzer des Gewässers, beispielsweise durch Baden oder Schwimmen antragsbefugt ist. Die Frage, ob der wasserrechtliche Gemeingebrauch als subjektives öffentliches Recht zu verstehen ist, ist umstritten, da es auch im Wasserrecht keinen Anspruch des einzelnen Staatsbürgers auf Begründung oder Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs an einem bestimmten Gewässer gibt41. In der Rechtsprechung42 kann jeder, der einen einmal begründeten Gemeingebrauch ausübt oder ausüben will, verlangen, daß bei Eingriffen in diese Rechtsposition die einschlägigen Vorschriften des formellen und materiellen Rechts beachtet werden, und insoweit auch verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz beanspruchen. Das Recht auf Teilhabe am Gemeingebrauch steht als Recht auf Nutzung eines Gewässers aber nur solange unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG wie der Gemeingebrauch (insgesamt) besteht. Das Recht endet dort, wo es um dessen Entzug als solchen geht. Mit der (teilweisen) Einziehung eines Gewässers entfällt das Substrat für die Ausübung des Gemeingebrauchs nach § 25 WHG und den entsprechenden Landeswassergesetzen. In37
Vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 230; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht Baden-Württemberg, 5. Aufl. Rn. 173; Wolf/Stephan/Deger, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2009, § 1, Rn. 50; Gusy, Polizei-und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2009, Rn. 85; Ruder/Schmitt, Polizeirecht Baden-Württemberg, 7. Aufl. 2010, Rn. 166; v. Münch, Grundrechtsschutz gegenüber sich selbst?, FS Ipsen 1986, S. 113 ff., 124. 38 s. BVerwG, Urt. v. 27. 4. 1989, BVerwGE 84, 45 (48 f.). 39 VBlBW 1998, 25. 40 s. dazu Würtenberger, Recht und Sport, Bd. 14, Risikosportarten 1991, 31. 41 Vgl. hierzu Czychowski, (Fußn. 23) § 25, Rn. 14. 42 s. hierzu BVerwG, Beschluß v. 4.10.2007 – 4 BN 40.7 und VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22. 2. 2000 (Fußn. 28), S. 325.
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soweit gilt, dass sich der Rechtsinhaber, d. h. derjenige, der am Gemeingebrauch teil hat, mit dem abfinden muss, was – und wie lange es – geboten wird43. In Anwendung dieser Grundsätze sind die Benutzer des Rheins im Bereich des Strandbads Mannheim antragsberechtigt, da keine Einziehung des Gewässers vorliegt. Was die Zweijahresfrist in § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO angeht, die hier natürlich schon lange verstrichen ist, gilt diese nicht für Normen, die später wegen Veränderung der Sach- und Rechtslage rechtswidrig geworden sind44. Gegen Maßnahmen im Einzelfall auch in Form von Allgemeinverfügungen steht den Betroffenen verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in Form der Anfechtungsklage zur Verfügung. Da die Badeverbote in der Regel als Ordnungswidrigkeiten bußgeldbewehrt sind, ist Rechtsschutz auch über ein Rechtsmittel gegen einen evtl. Bußgeldbescheid möglich. IV. Schlussbetrachtung Nach der oben dargestellten tatsächlichen und rechtlichen Entwicklung der Badesituation im Rhein im Bereich des Strandbades Mannheim fällt auf, dass hier bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts intensiv gebadet wird, was zur Eröffnung mehrerer schwimmender Rheinstrandbäder und der Einrichtung des Strandbades im Jahre 1927 geführt hat. Seit dieser Zeit erfreute sich das Strandbad zunehmender Beliebtheit und erreichte Besucherzahlen, insbesondere an Wochenenden, bis zu 40.000 und mehr. Diese Beliebtheit hielt auch nach dem Zweiten Weltkrieg an, obwohl der Rhein jetzt durch den Zufluss ungeklärter Abwässer aus Industrie und Haushalten immer mehr zur „Kloake“ verkam45. Auf dem Höhepunkt der Rheinverschmutzung in den 70er Jahren erschien daher ein Badeverbot wegen Gesundheitsgefährdung der Badenden dringend geboten, obwohl gleichzeitig erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, um die Wasserqualität des Rheins nachhaltig zu verbessern. Mit der Richtlinie 2006/7/EG46 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 2. 2006 über die Qualität der Badegewässer und deren Bewirtschaftung wurde die Richtlinie 76/160/EWG47 aufgehoben und ein neues Kapitel der Überwachung, Bewertung und Bewirtschaftung der Qualität von Badegewässern eingeleitet. Die Richtlinie wurde von den Ländern durch entsprechende Verordnungen umgesetzt48. Ziel ist es, die Verschmutzung von Badegewässern zu verhindern bzw. zu vermindern und die Bevölkerung umfassend zu informieren.
43
So schon BVerwG Urt. v. 25. 6. 1996, BVerwGE 32, 222 (225). s. VGH Bad.-Württ., VBlBW 1999, 424 und Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 47 Rn. 85. 45 s. Rheinzeitung online, 21. 6. 2001 „Kloake Europas“ sauber wie vor 100 Jahren. 46 Abl. L 64 vom 4. 3. 2006. 47 Abl. L 31 vom 5. 2. 1976. 48 In BW: Badegewässerverordnung (BadegVO) vom 16. 1. 2008 (GBl. 2008, 48). 44
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Badegewässer ist nach § 1 Abs. 3 S. 2 BadegVO jeder Abschnitt eines Oberflächengewässers, bei dem die Gemeinde im Einvernehmen mit der unteren Gesundheitsbehörde und der unteren Wasserbehörde mit einer großen Zahl von Badenden rechnet und für den sie kein dauerhaftes Badeverbot erlassen hat oder nicht auf Dauer vom Baden abrät. Danach wäre das Strandbad derzeit kein Badegewässer, weil noch ein dauerhaftes Badeverbot besteht. Fraglich ist jedoch, ob dieses aus dem Jahr 1976 stammende Verbot den Vorgaben der BadegVO entspricht. Davon kann wohl nicht ausgegangen werden, da mittlerweile durch die genannte Verordnung ein völlig neues Verfahren der Ermittlung und Bewertung der Ursachen von Verschmutzungen vorgeschrieben und dementsprechend eine Einstufung der Badegewässer vorgenommen wird. Zwar wurde und wird die Wasserqualität im Rhein regelmäßig im Rahmen des deutschen Untersuchungsprogramms Rhein (DUR) an derzeit 14 deutschen Stellen untersucht, dies kann aber die spezifische Einstufung als Badegewässer nach der BadegVO und die hierfür notwendigen Untersuchungen bzw. Einschätzungen entsprechend der darin genannten Parameter nicht ersetzen. Zwar hat der Fachbereich Gesundheit in der zuletzt vom Bereich Freizeit und Sport eingeholten Stellungnahme vom 13. 8. 2010 ausgeführt, dass die Wasserqualität des Rheins als Badegewässer entsprechend der Richtlinie 76/160/EWG des Rates vom 8. 12. 1975 über die Qualität der Badegewässer nicht konstant eingehalten werden könne, insbesondere nicht bei Hochwasser, diese Stellungnahmen lässt aber gerade die neue Rechtslage nach der Richtlinie 2006 und der BadegVO außer Acht und kann deshalb eine Aufrechterhaltung des aus dem Jahr 1976 stammenden Verbots und die damit verbundene dauerhafte Einschränkung des Gemeingebrauchs nicht rechtfertigen. Notwendig erscheint vielmehr eine an den Parametern der BadegVO orientierte Untersuchung und Einstufung der Situation am Strandbad und die in der Verordnung vorgesehene Information der Bevölkerung. Erst nach Durchführung eines solchen Verfahrens kann die Rechtmäßigkeit des derzeit noch bestehenden Badeverbots abschließend beurteilt werden. Die Bevölkerung hat hierauf einen Anspruch (§§ 11,12 BadegVO). Außer diesen gesundheitlichen Bedenken, die noch näher zu überprüfen sind, stehen einem Bad im Rhein im Bereich des Strandbades keine Hindernisse entgegen. Der Rhein weist im Bereich des Strandbades weder gefährliche Strudel auf noch stellt die Schifffahrt eine besondere Gefahr dar, wenn die Schwimmer sich außerhalb der Schifffahrtslinie bewegen. Zwar wird von Seiten der Wasserschutzpolizei und dem DLRG49 vor den Gefahren des Schwimmens im Rhein – hauptsächlich bei Köln und Düsseldorf – gewarnt, einzelne Unglücksfälle, die durch Leichtsinn, Un-
49 s. Diskussion um Badeverbot im Rhein, Landeshauptstadt Düsseldorf, Schwimmen im Rhein und Baggerseen, Generalanzeiger Bonn online, Kölns Internetzeitung: Schwimmen im Rhein ist gefährlich.
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wissenheit oder mangelndem Schwimmvermögen immer mal wieder passieren, können aber nicht Anlass für ein generelles Badeverbot sein50. Das Schwimmen im Rhein – außerhalb der Schifffahrtslinie – sich in der Strömung treiben lassen und unter Wasser die Kieselsteine rauschen zu hören, gehört zu den ursprünglichsten Gefühlen des naturverbundenen Schwimmens und sollte ob der deutlichen Verbesserung der Wasserqualität nicht länger verboten sein. Ich würde mir wünschen, zusammen mit dem Jubilar diesen Traum alsbald wieder verwirklichen zu können.
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s. Schenke, (Fußn. 1), Rn. 349.
Der Kommunalverfassungsstreit Von Klaus Lange I. Das Thema Wolf-Rüdiger Schenke hat nicht nur ein umfangreiches Werk geschaffen, sondern vor allem auch eins, in dem die klare und überzeugende Begründung juristischer Lösungen und damit auch das argumentative Infragestellen sonst fraglos übernommener Beurteilungen von zentraler Bedeutung ist. Dankbares Objekt solcher Suche nach juristisch überzeugenden Begründungen dürfte auch der Kommunalverfassungsstreit sein, dessen Verständnis nicht frei von manchen Defiziten zu sein scheint. Das kann nicht wundernehmen. Der Kommunalverfassungsstreit ist eine Streitigkeit zwischen verschiedenen Organen (Interorganstreit) oder innerhalb eines Kollegialorgans (Intraorganstreit) einer kommunalen Gebietskörperschaft über die zwischen diesen Organen bzw. innerhalb des betreffenden Organs bestehenden Rechtsbeziehungen1. Solche Streitigkeiten innerhalb ein und derselben juristischen Person sieht die VwGO nicht vor. Dass sie von der Rechtsprechung trotzdem für zulässig erachtet werden, trägt der Binnenstruktur von Organisationseinheiten, in denen Träger unterschiedlicher Kompetenzen und Aufgaben agieren, Rechnung2. Die Anwendung der hierfür nicht geschaffenen VwGO führt allerdings zu manchen Brüchen. Nicht alle von ihnen sind jedoch unvermeidbar. II. Abgrenzung des Kommunalverfassungsstreits Erhebliche Schwierigkeiten wirft schon die Abgrenzung des Kommunalverfassungsstreits von anderen Verwaltungsrechtsstreitigkeiten auf. Dabei geht es vor allem um die Frage, wann jemand als Organ bzw. Organteil der Kommune oder als natürliche Person klagt3. Dass deren Beantwortung nicht ganz einfach ist, liegt bereits deshalb auf der Hand, weil es immer natürliche Personen sind, die auch als Organe oder Organteile handeln. Nur agieren sie, wenn sie als Organe oder Organteile tätig werden, nicht in ihrer Eigenschaft als natürliche Person mit deren Rechten und Pflichten, sondern in ihrer Eigenschaft als Organ oder Organteil aus dessen besonde1
Vgl. OVG Münster, NVwZ 1983, 485 (486); Bethge, in: Mann/Püttner, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 2007, § 28 Rn. 8. 2 Hierzu ausführlich Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, 2001, S. 37 ff., 601 ff. 3 Vgl. Martensen, JuS 1995, 989 (990).
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rer Rechtsstellung heraus. Auf welche Rechtsstellung sich jemand bei seinem Handeln ausdrücklich oder zumeist stillschweigend bezieht, entscheidet also darüber, ob er als Organ bzw. Organteil oder als natürliche Person handelt und in welcher Eigenschaft der Adressat seines Handelns betroffen ist. Nur für Rechtsstreitigkeiten über das Verhalten als Organ oder Organteil einer kommunalen Gebietskörperschaft und die Betroffenheit solcher Organe oder Organteile ist der Kommunalverfassungsstreit eröffnet; für alles andere reichen die von der VwGO allgemein zur Verfügung gestellten Verfahrensarten. Die Problematik zeigt sich etwa dann, wenn jemandem die Stellung eines Organs oder Organteils einer Gemeinde aberkannt oder verweigert wird. Nach Auffassung des OVG Münster ist das Verfahren über eine Klage gegen die Feststellung des Sitzverlustes im Mandatsprüfungsverfahren kein Kommunalverfassungsstreit, da der Kläger nicht als Organ oder Organteil der Gemeinde Beteiligter eines solchen Rechtsstreits ist, sondern als Privatperson, die geltend macht, Mitglied des Rates zu sein4. Wendet sich ein kommunaler Wahlbeamter, im konkreten Fall ein Bürgermeister, gegen eine Entscheidung der Gemeindevertretung, die seine Wahl für ungültig erklärt, so handelt es sich dem einschlägigen Leitsatz einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zufolge hingegen um eine kommunalverfassungsrechtliche Streitigkeit5. Das OVG Schleswig hält das Verfahren über eine Klage des zum Ersten Stellvertreter des Bürgermeisters Gewählten auf Feststellung der Gültigkeit seiner Wahl offenbar ebenfalls für eine kommunalverfassungsrechtliche Streitigkeit6. Es gehört jedoch nicht zu den organschaftlichen Rechten eines Gemeindeorgans, mit einer bestimmten Person besetzt zu werden oder zu bleiben. Das Recht, mangels entgegenstehender Rechtsvorschriften Bürgermeister oder Gemeindevertreter zu bleiben oder es auf entsprechender gesetzlicher Grundlage zu werden, ist vielmehr ein Recht der natürlichen Person, die dazu gewählt worden ist. Zu seiner gerichtlichen Durchsetzung sind die von der Verwaltungsgerichtsordnung allgemein zur Verfügung gestellten Verfahrensarten eröffnet, ohne dass es des Rückgriffs auf das Kommunalverfassungsstreitverfahren bedarf7. Es wäre auch mit der demokratischen Struktur der kommunalen Selbstverwaltung und den besonderen Mitwirkungsrechten der Bürger 4
NWOVG, Beschluss v. 25.8.2009 – 15 A 1372/09 –, Juris, Leitsatz 3 und Rn. 74. BVerwG, NVwZ-RR 1990, 94 Leitsatz 1. 6 OVG Schleswig, NVwZ-RR 2010, 409. 7 Vgl. auch ThürOVG, Urteil v. 22.4.2010 – 2 KO 568/09 –, Juris, Rn. 40 f., dazu, dass der Streit darüber, ob jemand durch Beschluss der Gemeinschaftsversammlung einer Verwaltungsgemeinschaft rechtmäßig in das Amt des stellvertretenden Gemeinschaftsvorsitzenden gewählt worden ist, kein Kommunalverfassungsstreit ist. Ähnlich VG Trier, Urteil v. 23.2.2010 – 1 K 666/09.TR –, Juris, Rn. 19, wonach die Verpflichtung als Mitglied des Verbandsgemeinderats einer Verbandsgemeinde und die damit verbundene „Amtseinführung“ die organschaftlichen Rechte in Gänze betreffe und nicht etwa einzelne Berechtigungen hieraus, die anderen Organen gegenüber streitig gestellt würden. Ihr komme deshalb Außenwirkung und damit Verwaltungsaktscharakter zu, so dass darauf bezogene Klagen nicht im Kommunalverfassungsstreitverfahren durchzuführen seien. 5
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in ihr nur schwer vereinbar, wollte man etwa dem zum Gemeindevertreter gewählten Bürger ein Recht auf sein Mandat absprechen. Die zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts steht dieser Sicht nicht zwingend entgegen. Dass es sich bei der Klage eines Bürgermeisters gegen eine Entscheidung der Gemeindevertretung um eine Kommunalverfassungsstreitigkeit handelt, kommt allein in einem ihrer Leitsätze zum Ausdruck. In den Gründen ist nur von einer kommunalrechtlichen Streitigkeit die Rede. Sie schließen nicht aus, dass der Kläger als natürliche Person klagte, die sich gegen eine Entscheidung der Gemeindevertretung zur Wehr setzte, welche einen Verlust des Amtes zur Folge haben musste, auf dessen Beibehaltung der Kläger als natürliche Person grundsätzlich ein Recht hatte. Die angeführte Entscheidung des OVG Schleswig lässt eine Begründung dafür vermissen, dass dort von einer kommunalverfassungsrechtlichen Streitigkeit ausgegangen wird. Häufiger und eher noch schwieriger zeigen sich Abgrenzungsprobleme bei der Frage, ob eine Äußerung oder Anordnung in der Gemeindevertretung den Gemeindevertreter, dem sie gilt, als Organ – richtiger: Organteil der Gemeindevertretung – oder als natürliche Person trifft. So war in einem bekannten rheinland-pfälzischen Fall ein Ratsmitglied vom Vorsitzenden des Stadtrats nach dreimaligem Ordnungsruf von der Sitzung ausgeschlossen worden, weil es der Aufforderung des Vorsitzenden nicht nachgekommen war, einen Aufkleber an seiner Kleidung mit der Aufschrift „L./ Atomwaffenfreie Stadt“ zu entfernen. Das OVG Koblenz8 und anschließend das BVerwG9 ordneten das Tragen des Aufklebers dem grundsätzlich, allerdings nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze, durch Art. 5 GG geschützten Bereich privater Meinungsäußerung zu und damit nicht dem Ratsmitglied als Organ, das nicht grundrechtsfähig ist, sondern dem Ratsmitglied als natürlicher Person. Folgerichtig ging das OVG Koblenz davon aus, dass das betroffene Ratsmitglied sich nicht im Kommunalverfassungsstreitverfahren zur Wehr setzen konnte. Aber ist es wirklich richtig, das Tragen eines solchen Aufklebers durch ein Ratsmitglied in der Ratssitzung nur dessen privatem Lebensbereich und nicht wenigstens auch seinem Organstatus zuzuordnen? Wer sich als Ratsmitglied in diesem Outfit in eine Ratssitzung begibt, will damit doch mindestens auch seine Meinung im Rat und als Ratsmitglied kundtun. Gegen Eingriffe in ein solches Vorhaben kann sich das Ratsmitglied, dem das Tragen des Aufklebers ja nicht außerhalb der Ratssitzung untersagt wird, nicht unter Berufung auf seine Grundrechte, sondern nur unter Berufung auf sein – weit zu verstehendes – Mitgliedschaftsrecht verteidigen. Das dafür einschlägige Verfahren ist der Kommunalverfassungsstreit. Komplexer ist die folgende Konstellation: Hier wandte sich ein früheres Gemeinderatsmitglied dagegen, dass der Gemeinderat ihm gegenüber eine Ermahnung wegen unzulässigen Fernbleibens von den Gemeinderatssitzungen ausgesprochen 8 9
OVG Koblenz, NVwZ 1987, 1105. BVerwG, NVwZ 1988, 837.
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hatte. Der VGH Mannheim10 hielt die Klage auch nach dem Ausscheiden des Klägers aus dem Gemeinderat als kommunalverfassungsrechtliche Feststellungsklage für zulässig, weil der Kläger wegen der diskriminierenden Wirkung des Gemeinderatsbeschlusses ein Rehabilitationsinteresse habe. Dieses Rehabilitationsinteresse lässt sich jedenfalls gut vertreten. Der Kläger war durch die ihn diskriminierende Ermahnung nicht nur als Gemeinderatsmitglied, sondern auch in seiner persönlichen Rechtssphäre betroffen. Ein Rechtsstreit hierüber wird während der Dauer der Organstellung nur im Kommunalverfassungsstreit geführt werden können, da sich der diskriminierende Beschluss gegen das Organ richtet. Für eine zusätzliche oder alternative Klage wegen der Verletzung auch der persönlichen Rechtssphäre des Betroffenen dürfte während seiner Mitgliedschaft im Gemeinderat zumindest das Rechtsschutzbedürfnis fehlen11. Nach Ende seiner Organstellung kann entgegen dem VGH Mannheim aber keine – nur den Organen zu Gebote stehende – Klage im Kommunalverfassungsstreit erhoben werden12. Ein anhaltendes Rehabilitationsinteresse wegen Verletzung der persönlichen Rechtssphäre kann dann nur in einem der gesetzlich vorgesehenen gerichtlichen Verfahren gegenüber der Gemeinde geltend gemacht werden. III. Die Beteiligungsfähigkeit Zu den zentralen Problemen des Kommunalverfassungsstreits gehört die Beteiligungsfähigkeit. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Anknüpfungspunkt hierfür, da alle anderen Normen noch weniger passen, am ehesten § 61 Nr. 2 VwGO sein dürfte, wonach „Vereinigungen, soweit ihnen ein Recht zustehen kann“ fähig sind, am gerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein. Zwar sind Organe und Organteile kaum Vereinigungen im Sinne der VwGO, die ihrem Grundverständnis zufolge damit nur Vereinigungen von natürlichen oder juristischen Personen gemeint haben kann. Das schließt eine Übertragung der Norm auf Organe und Organteile aber vor allem dann nicht aus, wenn man deren Sinn darin sieht, Einheiten, denen nach der Rechtsordnung Rechte zustehen können, die Fähigkeit zuzusprechen, diese Rechte auch gerichtlich durchsetzen zu können. Damit konzentriert sich die Beteiligungsfähigkeit im Kommunalverfassungsstreit auf die Frage, ob und inwieweit13 Organen ein Recht zustehen kann. Zu Unrecht wird diese Frage im Zusammenhang mit der Beteiligungsfähigkeit oft übergangen und in 10
VGH Mannheim, NVwZ-RR 1997, 181. Sie tritt hinter die Klagemöglichkeit im Kommunalverfassungsstreitverfahren ebenso zurück, wie etwa beim rechtswidrigen Ausschluss eines Gemeindevertreters wegen Interessenwiderstreits eine auf seine Wahl zum Gemeindevertreter gestützte Klage wegen Verletzung seiner dadurch begründeten persönlichen Rechtsstellung hinter die Klagemöglichkeit im Kommunalverfassungsstreitverfahren zurücktritt. 12 Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (162). 13 Wortlaut und Sinn des § 61 Nr. 2 VwGO dürften dafür sprechen, dass beteiligungsfähig nur ist, wem ein Recht gerade hinsichtlich des konkreten Streitgegenstandes zustehen kann. Vgl. BVerwGE 56, 56 (57); wohl auch BVerwGE 90, 304 (305). 11
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die Prüfung der Klagebefugnis verschoben, obwohl diese die Beteiligungsfähigkeit des Klägers voraussetzt und nicht umgekehrt. Organe haben freilich nur Kompetenzen und keine Rechte im herkömmlichen, auch der VwGO zugrunde liegenden Verständnis, das Rechte nur zwischen Personen und nicht innerhalb einer Person kennt. Will man Streitigkeiten darüber trotzdem einer gerichtlichen Entscheidung zuführen können – und das wird inzwischen sowohl rechtsstaatlich als auch demokratisch als angemessen betrachtet –, so muss man bereit sein, bestimmte dieser Kompetenzen wie Rechte zu behandeln. Und genau das geschieht, indem Organisationsnormen, soweit sie nicht nur den reibungslosen Funktionsablauf zu sichern bestimmt sind, sondern einzelnen Organen oder Organteilen spezifische Aufgaben zuweisen, die diese gegenüber anderen Organen oder Organteilen sollen durchsetzen können, Rechtspositionen dieser Organe bzw. Organteile entnommen werden, die jedenfalls wie subjektive Rechte behandelt werden14. Zur Unterscheidung von den subjektiven Rechten zwischen Personen werden sie oft als organschaftliche Rechte oder Organrechte bezeichnet. Eine so verstandene Beteiligungsfähigkeit im Kommunalverfassungsstreitverfahren lässt sich allerdings nicht einmal mehr auf eine analoge Anwendung des § 61 Nr. 2 VwGO stützen. Dafür fehlt es an einer „planwidrigen Regelungslücke“, da der Gesetzgeber ganz bewusst keine Organstreitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten zulassen wollte15. Es handelt sich vielmehr um eine lediglich an § 61 Nr. 2 VwGO anknüpfende, im Wege der Rechtsfortbildung gewonnene besondere kommunalverfassungsrechtliche Beteiligungsfähigkeit. Darüber, was unter die Beteiligungsfähigkeit begründenden Organrechten zu verstehen ist, gibt es manchen Dissens. Einigkeit besteht zu Recht darüber, dass kein Organ oder Organteil einer kommunalen Gebietskörperschaft ein organschaftliches Recht auf rechtmäßiges Handeln hat. Aber wo liegt hier die Grenze? Grundsätzlich hat kein Ratsmitglied ein Recht darauf, dass kein wegen Interessenwiderstreits ausgeschlossenes Ratsmitglied an der Beratung und Beschlussfassung einer Angelegenheit im Rat mitwirkt. Indessen wird mit gutem Grund die Auffassung vertreten, dass der Erfolgswert der Stimme und damit doch wieder ein organschaftliches Recht eines Mitgliedes der Vertretungskörperschaft dadurch beeinträchtigt sein kann, dass ein wegen Interessenkollision ausgeschlossenes Mitglied des Gremiums rechtswidrigerweise an der fraglichen Abstimmung mitwirkt16. Das überzeugt schon deshalb, weil es kaum konsequent wäre, 14 Vgl. Kisker, JuS 1975, 704 (708 f.); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (159); Roth (Fußn. 2), S. 324 ff., 539 f.: Organrechte als echte subjektive Rechte; Bethge (Fußn. 1), § 28 Rn. 19; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 21 Rn. 17. S. auch OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 376 (376). 15 Vgl. BT-Drucks. I/4278, Anh. 1, S. 39; Erichsen, in: Festschrift Menger, 1985, S. 211 (223); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (159); Schoch, JuS 1987, S. 783 (787). 16 Schoch, JuS 1987, 783 (791 f.); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (160). A.A. OVG Koblenz, NVwZ 1985, 283; NWOVG, Urteil v. 2.5.2006 – 15 A 817/04 –, Juris, Rn. 58 ff.; Meinhard Schröder, NVwZ 1985, 246. Suerbaum, JuS 1994, 324 (330), weist überdies darauf
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wenn den Mitgliedern der Vertretungskörperschaft hier ein Organrecht auf den gesetzlich vorgesehenen Erfolgswert ihrer Stimme abgesprochen würde, nachdem ihnen – doch gerade um des Abstimmungsergebnisses willen – ein Recht auf Teilnahme, Beratung und Abstimmungsbeteiligung sowie das Recht auf Unterbindung von Störungen des ordnungsgemäßen Sitzungsablaufs und bei Wahlen das Recht auf Einhaltung der verfassungsmäßigen Wahlrechtsgrundsätze und sonstigen Vorschriften über das Verfahren bei der Stimmabgabe und der Feststellung des Wahlergebnisses17 zuerkannt wird18. Strittig ist etwa auch die Frage, ob Ratsmitglieder einen Anspruch auf Öffentlichkeit der Ratssitzung haben, soweit diese gesetzlich vorgesehen ist. Nach überzeugender Auffassung verletzt ein rechtswidriger Ausschluss der Öffentlichkeit die Ratsmitglieder in ihrem Organrecht auf freie Mandatsausübung, so dass sie sich dagegen im Kommunalverfassungsstreit zur Wehr setzen können19. Dazu bedarf es nicht der eher umweghaften Begründung, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit die Ratsmitglieder und Ratsfraktionen zur Verschwiegenheit verpflichte und damit in ihrem Recht auf Öffentlichkeitsarbeit beeinträchtige20. Das Recht auf freie Mandatsausübung dürfte schon das Recht umfassen, in der Gemeindevertretung vor den Augen der Öffentlichkeit Position zu beziehen, sofern ein Ausschluss der Öffentlichkeit nicht gerechtfertigt ist. Zu den Rechten, die im Kommunalverfassungsstreitverfahren geltend gemacht werden können, gehören Grundrechte nicht, da diese Personen, nicht aber Organe und Organteile als solche berechtigen21. Das schließt indessen nicht aus, dass Organrechte wie die gesamte Rechtsordnung im Lichte der Grundrechte zu interpretieren sind22. So erklärt es sich, dass einem Kreistagsmitglied wegen des kommunalrechtlichen Zwangs zur Sitzungsteilnahme aufgrund seiner negativen Bekenntnisfreiheit ein Anspruch gegen den Kreistagsvorsitzenden auf Entfernung eines im Sitzungssaal des Kreistags dauerhaft angebrachten Kreuzes zuerkannt worden ist23. Als Rechtshin, dass schon die Mitwirkung eines Ausgeschlossenen an der Beratung die ordnungsmäßige Willensbildung der einzelnen Ratsmitglieder und des Gremiums beeinträchtigen und deshalb Gegenstand des innerorganisatorischen Störungsbeseitigungsanspruchs des einzelnen Ratsmitgliedes sein kann, mit dessen Hilfe alle Störungen abgewehrt werden können, die eine ordnungsgemäße Willensbildung beeinträchtigen. 17 OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1990, 503 (504). 18 Vgl. Schoch, JuS 1987, 783 (790 f.). 19 NWOVG, OVGE 35, 8; NVwZ 1990, 186 (186); NVwZ-RR 2002, 135; Urteil v. 2.5.2006 – 15 A 817/04 –, Juris, Rn. 49; HessVGH, LKRZ 2009, 22 (23 f.). Dagegen VG Gießen, NVwZ-RR 2006, 277 (278); Urteil v. 26.8.2005 – 8 E 5826/03 –, Juris; SaarlVG, Beschluss v. 2.2.2010 – 11 L 88/10 – Juris, Rn. 3. 20 Hierauf stellt aber OVG Münster, NVwZ-RR 2002, 135 (136), entscheidend ab. 21 OVG Münster, NVwZ 1983, 485 (486); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (160). 22 So wird die Äußerung von Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 22, zu verstehen sein, dass Mitwirkungsrechte durch Grundrechtspositionen verstärkt werden können. Ebenso Ogorek, JuS 2009, 511 (515). 23 VGH Kassel, NJW 2003, 2471.
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grundlage hierfür bietet sich der innerorganisatorische Störungsbeseitigungsanspruch24 in Verbindung mit der in Art. 4 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Wertentscheidung der Verfassung zugunsten auch der negativen Bekenntnisfreiheit an. IV. Klageart 1. Kein Ausschluss der Gestaltungsklage Ungelöste Probleme werfen die im Kommunalverfassungsstreit statthaften Klagearten auf. Nach h.M. kommen hierfür je nach Klagebegehren nur die auf Verurteilung zu einer Handlung oder Unterlassung gerichtete Leistungsklage oder die auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gerichtete Feststellungsklage in Betracht25. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage sollen im Kommunalverfassungsstreit nicht erhoben werden können, da sie sich auf Verwaltungsakte und damit auf Maßnahmen beziehen, die nach der Legaldefinition des § 35 Satz 1 VwVfG auf Rechtswirkung nach außen gerichtet sind. Kommunalverfassungsstreitigkeiten betreffen aber begriffsnotwendig Handlungen und Beziehungen innerhalb einer kommunalen Gebietskörperschaft, denen eine solche Außengerichtetheit gerade fehlt26. Allerdings beziehen sich die allgemeine Leistungsklage und die Feststellungsklage nach der VwGO ebenso wenig auf Streitigkeiten innerhalb ein und derselben juristischen Person wie die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage. Die allgemeine Leistungsklage setzt nach herkömmlichem Verständnis eine Außenrechtsbeziehung voraus27, da sie auf die Durchsetzung eines subjektiven Rechts gerichtet ist. Entsprechendes gilt für die auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses gerichtete Feststellungsklage nach § 43 VwGO. Rechtsverhältnisse i.S.d. § 43 Abs. 1 VwGO sind nach h.M. „die aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer Rechtsnorm (des öffentlichen Rechts) sich ergebenden rechtlichen Beziehungen einer Person zu einer anderen Person oder zu einer Sache“28. Diese Definition betrifft nur Rechtsverhältnisse mit Außenwirkung29. 24 Vgl. OVG Münster, NVwZ 1983, 485 (486); DVBl 1991, 498 (498 f.); OVG Lüneburg, DVBl 1989, 935 (935); Suerbaum, JuS 1994, 324 (330). 25 Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (161), m.w.Nachw.; Meister, JA 2004, 414 (415). 26 So BayVGH, BayVBl. 1988, 16 (16); Schoch, JuS 1987, 783 (787 f.); Ehlers, NVwZ 1990, 105 (106); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (161); Bethge (Fußn. 1), § 28 Rn. 42; unter Aufgabe der früheren Meinung jetzt wohl auch Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 10. A.A. Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, vor § 40 Rn. 7, Anh. § 42 Rn. 86 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, § 35 Rn. 146. 27 Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (161). 28 Vgl. BVerwGE 14, 235 (236); 62, 342 (351); Hufen (Fußn. 14), § 18 Rn. 7. 29 Geradezu widersprüchlich formuliert NWOVG, Urteil v. 2.5.2006 – 15 A 817/04 –, Juris, Rn. 40: „Unter einem Rechtsverhältnis in diesem Sinn (gemeint ist die Feststellungsklage, K.L.) verstehen die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung und die Literatur die rechtlichen Beziehungen, die sich auf Grund der Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen
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Wenn aber einmal davon auszugehen ist, dass Innenrechtsstreitigkeiten wie Kommunalverfassungsstreitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten sollen ausgetragen werden können, sind dafür Klagearten unentbehrlich. Um möglichst nahe an den bestehenden gesetzlichen Regelungen zu bleiben, bietet sich im Wege der Rechtsfortbildung der, soweit wie nötig, modifizierte Rückgriff auf die Klagearten der VwGO an30. Das gilt freilich im Prinzip für die Anfechtungs- und die Verpflichtungsklage nicht weniger als für die allgemeine Leistungsklage und die Feststellungsklage31. Einer engen Anlehnung an die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage steht indessen entgegen, dass das Verhältnis kommunaler Organe untereinander sich vom StaatBürger-Verhältnis so sehr unterscheidet, dass die Gründe, die zu der gesetzlichen Ausgestaltung der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage einschließlich von Vorverfahren und Klagefristen geführt haben, nicht ohne Weiteres auf den Kommunalverfassungsstreit übertragbar sind. Deshalb kommt allenfalls eine nicht die Details übernehmende, grobmaschige Übernahme im Wege der Rechtsfortbildung in Betracht. Auch ihrer bedarf es allerdings hinsichtlich der Verpflichtungsklage nicht. Denn wenn mit der h.M. Maßnahmen im Innenverhältnis einer Gemeinde ohnehin mangels Außenwirkung niemals als Verwaltungsakte angesehen werden, dann kann mit der allgemeinen Leistungsklage im Kommunalverfassungsstreitverfahren grundsätzlich die Verurteilung eines Organs oder Organteils zu jeder nur denkbaren Maßnahme erreicht werden. Anders steht es mit einer aus den genannten Gründen zwar nicht deren Einzelheiten, aber mit der gerichtlichen Aufhebung der angegriffenen Maßnahme doch deren Kern beinhaltenden Übernahme der Anfechtungsklage. Die allgemeine Leistungsklage, mit der das Gericht den Beklagten lediglich verurteilen kann, seinerRechts auf einen konkreten Sachverhalt für das Verhältnis von (natürlichen oder juristischen) Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben […]“, um dann unter Rn. 42 fortzufahren: „An einem Rechtsverhältnis im Sinne dieser Definition beteiligt sein können nicht nur natürliche oder juristische Personen, sondern auch kommunale Organe oder Organteile als Träger organisationsinterner Rechte“. Um ein „Rechtsverhältnis im Sinne dieser Definition“ handelt es sich dann sicher nicht mehr. 30 Zur Notwendigkeit der Rechtsfortbildung in diesem Zusammenhang Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (161). 31 Die den Verwaltungsakt nach § 35 VwVfG ausmachende Außengerichtetheit einer Maßnahme ebenso wie der Außenrechtsbezug des Behördenbegriffs des § 35 VwVfG lassen sich darin sehen, dass ein Organ oder Organteil mit einer Maßnahme in ein organschaftliches Recht eines anderen eingreift. Wenn man dieses organschaftliche Recht als einem subjektiven Recht zumindest äquivalent begreift, ist es nur konsequent, darauf gerichtete Eingriffe als außengerichtet anzusehen; insoweit rechtfertigt dies jedenfalls eine Analogie zum Verwaltungsakt. Deshalb kann Bethge (Fußn. 1), § 28 Rn. 42, nicht zugestimmt werden, dem zufolge Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen im Kommunalverfassungsstreit in aller Regel ausscheiden, weil es den Entscheidungen zwischen Organen oder Organteilen im Innenbereich der Verwaltung an der Außenwirkung, an der Behördeneigenschaft und/oder am Über-/Unterordnungsverhältnis fehle. Darauf, dass es an einem Über-Unterordnungsverhältnis nicht fehlt, wenn ein Organ einseitig mit unmittelbarer Wirkung gegenüber einem anderen eine Regelung treffen kann, weist Kopp/Schenke (Fußn. 26), Anh § 42 Rn. 86, zutreffend hin. Nach Kopp/ Schenke, ebd., Anh § 42 Rn. 87, sind deshalb Organakte, die in Organrechte eingreifen, als Verwaltungsakte anzusehen.
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seits einen von ihm getroffenen rechtswidrigen Akt rückgängig zu machen32, ersetzt die unmittelbare Aufhebung eines rechtswidrigen Akts durch das Gericht ebenso wenig, wie sonst die Leistungs- oder die Verpflichtungsklage als eine die Anfechtungsklage entbehrlich machende Klageart angesehen wird. Klageziel im Kommunalverfassungsstreitverfahren ist aber oft gerade die Aufhebung eines durch ein Organ getroffenen Aktes33. Dafür, dass im Kommunalverfassungsstreitverfahren, wenn es denn einmal als solches akzeptiert wird, der Rechtsschutz geringer sein soll als der durch die Anfechtungsklage vermittelte, gibt es keinen Grund. Das spricht dafür, in Anlehnung an die Anfechtungsklage auch im Kommunalverfassungsstreit eine kassatorische Gestaltungsklage als statthaft anzusehen, die die gerichtliche Aufhebung einer angegriffenen Maßnahme gestattet34. Allenfalls in Bezug auf sie kann noch von einer Klage sui generis im Kommunalverfassungsstreit gesprochen werden35. Die Argumente, die gegen eine solche Gestaltungsklage im Kommunalverfassungsstreit vorgetragen werden, sind nicht stichhaltig. Die Beschränkung kassatorischer Entscheidungen in der VwGO auf die Anfechtungsklage36 kann der Annahme einer besonderen Gestaltungsklage im Kommunalverfassungsstreitverfahren schon deshalb nicht entgegenstehen, weil die VwGO ohnehin nicht auf das Kommunalverfassungsstreitverfahren zugeschnitten ist und eine solche kassatorische Gestaltungsklage überdies nicht mehr als eine an den Kommunalverfassungsstreit angepasste Fortbildung der Anfechtungsklage ist. Auch der Gesichtspunkt, dass Gestaltungsurteile als empfindliche Eingriffe in den Exekutivbereich nur nach Maßgabe gesetzlicher Ermächtigung, nicht aber kraft richterlicher Rechtschöpfung zulässig seien37, vermag nicht zu überzeugen. Der Kommunalverfassungsstreit kann überhaupt nur in Fortbildung der Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung als zulässig angesehen werden. Wenn man sich hierfür einmal entschieden hat, führt es aber auch nicht zu weit, eine besondere Gestaltungsklage in Anlehnung an die Anfechtungsklage zu bilden, mit der, wie auch sonst im Kommunalverfassungsstreitverfahren, lediglich dem Umstand Rechnung getragen wird, dass es hier um Innenrechts- statt um Außen32 Wegen dieses Charakters der Leistungsklage qualifiziert Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 11, die vom BayVGH – etwa BayVBl. 1976, 753 (754); 1981, 87 (88) – entwickelte sog. kassatorische Leistungsklage als Widerspruch in sich. In der Tat lässt sich mit der Leistungsklage nicht die unmittelbare Aufhebung einer Maßnahme durch das Gericht erreichen. Im Ergebnis freilich kommt die Rechtsprechung des BayVGH der hier befürworteten Gestaltungsklage eigener Art nahe; vgl. VGH München, NVwZ 1985, 845 (845). 33 Nach OVG Münster, NJW 1979, 1726 (1726), ist das in Kommunalverfassungsstreitigkeiten sogar üblicherweise so. 34 Dafür BayVGH, BayVBl. 1976, 753 (754); OVG Lüneburg, DÖV 1979, 170 (170); Bethge (Fußn. 1), § 28 Rn. 44; Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 14. Dagegen BWVGH, ESVGH 23, 203; Schoch, JuS 1987, 783 (789); Ehlers, NVwZ 1990, 105 (106); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (162). 35 Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 14. 36 Dazu Schoch, JuS 1987, 783 (789). 37 So Schmidt-Aßmann, in: Festschrift Menger, 1985, S. 107 (116).
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rechtsbeziehungen geht. Der Einwand schließlich, einer Gestaltungsklage im Kommunalverfassungsstreitverfahren bedürfe es nicht, weil rechtswidriges Organhandeln ohnehin unwirksam sei38, geht von einer unzutreffenden Voraussetzung aus39. 2. Die Feststellungsklage Bei strenger Interpretation der Feststellungsklage könnte mit ihr nicht die Rechtswidrigkeit oder Nichtigkeit einer Maßnahme festgestellt werden, da eine Maßnahme kein Rechtsverhältnis und die Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit oder Nichtigkeit nicht die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist40. Selbst die Feststellung, dass das klagende Organ durch die angegriffene Maßnahme in seinen Rechten verletzt sei, wirft die Frage auf, ob es sich dabei wirklich um die Feststellung eines Rechtsverhältnisses handelt. Genau genommen, kommt nur die Feststellung in Betracht, dass der Klagegegner dem klagenden Organ gegenüber nicht berechtigt gewesen sei, die angegriffene Maßnahme zu treffen. Eine so enge Sicht widerspricht jedoch dem Sinn des Kommunalverfassungsstreits sowie dem Umstand, dass die Feststellungsklage hier weder in direkter noch in analoger Anwendung des § 43 VwGO, sondern nur im Wege der Rechtsfortbildung, die ihre Anpassung an die Erfordernisse des Kommunalverfassungsstreits gestatten muss, als statthaft angesehen werden kann. Mit der sonstigen Bereitschaft zur flexiblen interpretatorischen Anpassung des Verwaltungsprozessrechts an die Erfordernisse des Kommunalverfassungsstreits ist sie nicht vereinbar. Sie lässt außer Betracht, dass der Kommunalverfassungsstreit dem betroffenen Organ oder Organteil die Möglichkeit geben soll, den Eingriff in seine organschaftlichen Rechte abzuwehren, und nicht nur feststellen zu lassen, dass dessen Urheber zu dem Eingriff nichts berechtigt war. Wenn die Feststellungsklage hier trotz des Subsidiaritätsprinzips des § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO auch dann als zulässig angesehen wird, wenn der Kläger Leistungsklage erheben könnte, geschieht das doch nur deshalb, weil man meint, davon ausgehen zu können, dass der Beklagte dem Feststellungsurteil von sich aus Rechnung tragen wird. Mit der Leistungsklage – und nach hier vertretener Auffassung sogar mit einer kassatorischen Gestaltungsklage – kann der betroffene Gemeindevertreter die Behebung des Eingriffs in seine Organrechte verlangen. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme bleibt dahinter zurück und selbst die Feststellung ihrer Nichtigkeit geht darüber nicht hinaus. Beides sollte daher mit der kommunalverfassungsrechtlichen Feststellungsklage erreicht werden können.
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So Schoch, JuS 1987, 783 (789); Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (162). Vgl. Ehlers, NVwZ 1990, 105 (107 f.); ders., in: Mann/Püttner, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 2007, § 21 Rn. 101; Waechter, Kommunalrecht, 3. Aufl. 1997, Rn. 296; Roth (Fußn. 2), S. 804 ff., 1015. 40 In diesem Sinne Ehlers, NVwZ 1990, 105 (107). Vgl. auch NWOVG, NWVBl. 2003, 267 (267). 39
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Dafür spricht auch, dass § 43 VwGO, aus dem die im Kommunalverfassungsstreit als statthaft angesehene Feststellungsklage im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt worden ist, in seiner zweiten Alternative selbst eine Nichtigkeitsfeststellung vorsieht. Wo sie überhaupt in Betracht kommt, ist diese Nichtigkeitsfeststellung nur die Fortführung der Feststellung, dass der Beklagte nicht berechtigt war, etwas gegenüber dem Kläger zu tun, für den Fall, dass die Rechtwidrigkeit der Maßnahme des Beklagten so gravierend ist, dass sie zu deren Nichtigkeit führt. Dass die Verwaltungsgerichtsordnung sich die Nichtigkeit in § 43 nur für Verwaltungsakte vorstellen kann, liegt an ihrer auf Außenrechtsbeziehungen zwischen mehreren Personen beschränkten Konzeption, die für Kommunalverfassungsstreitigkeiten mit ihrer Innenrechtsorientierung und für die in ihnen zulässigen Klagearten gerade nicht maßgeblich sein kann. Auch deshalb muss im Kommunalverfassungsstreit selbst die Nichtigkeit der angegriffenen Maßnahme, soweit sie sich für eine solche Feststellung eignet, festgestellt werden können. Darüber hinaus spricht das Interesse an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit und damit verbunden an einer weitere Prozesse vermeidenden Prozessökonomie dafür, dass im Kommunalverfassungsstreit die Feststellung der Nichtigkeit oder – als eines dahinter zurückbleibenden Minus – der Rechtswidrigkeit des die organschaftlichen Rechte des klagenden Organs verletzenden Beschlusses verlangt werden kann41. Der Einwand des RhPfOVG, dass die Klage eines Gemeinderatsmitglieds auf Feststellung der Ungültigkeit von Gemeinderatsbeschlüssen wegen Verletzung seiner Mitgliedschaftsrechte auf eine im jeweiligen Land nicht notwendigerweise zugelassene Normenkontrollklage hinauslaufe42, kann nicht überzeugen. Denn eine solche kommunalverfassungsrechtliche Klage richtet sich schon nicht gegen Normen, sondern allenfalls gegen Beschlüsse, die zum Zustandekommen einer Norm erforderlich sind. Auch braucht selbst eine durch die Verletzung organschaftlicher Rechte bewirkte (Außen)Rechtswidrigkeit eines Beschlusses nicht dessen Ungültigkeit zur Folge zu haben. Schließlich ist die auf Gemeindeorgane oder -organteile beschränkte Klagemöglichkeit im Kommunalverfassungsstreitverfahren nicht mit den viel weiter gefassten, gerade auch anderen Personen zu Gebote stehenden Klagemöglichkeiten im Normenkontrollverfahren vergleichbar. Mit der Zulässigkeit einer auf Feststellung der Nichtigkeit oder Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme gerichteten Feststellungsklage im Kommunalverfas41
Dafür OVG Lüneburg, NVwZ 1985, 850; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1997, 181; OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 225; OVG Bautzen, LKV 2009, 466 (467); Otmar Schneider, NWVBl. 1996, 89 (94), unter zutreffendem Hinweis darauf, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit die (Außen)Rechtswidrigkeit des Beschlusses voraussetzt, wofür ein Verstoß allein gegen die Geschäftsordnung nicht genügt; Klaus Lange, LKRZ 2007, 245 (249); 2009, 161 (165 f.). Dagegen RhPfOVG, AS 10, 55 (57); SaarlOVG, Beschluss v. 7.3.2007 – 3 Q 146/06 –, Juris, Rn. 27 (wo auch verkannt wurde, dass der Stadtrat keine Beschlussfassung hätte vornehmen dürfen, nachdem der Oberbürgermeister seiner Pflicht zur Übersendung von Verwaltungsvorlagen zu dem betreffenden Tagesordnungspunkt an die Stadtverordneten nicht nachgekommen war); SaarlVG, LKRZ 2008, 183 (184). 42 RhPfOVG, AS 10, 55 (57).
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sungsstreit kann zugleich der Wertungswiderspruch aufgelöst werden, der darin besteht, dass nach der Rechtsprechung die Ungültigkeit von Geschäftsordnungen auf Antrag der dadurch in organschaftlichen Rechten verletzten Gemeindevertreter nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO gerichtlich festgestellt werden kann43, die Rechtswidrigkeit oder Ungültigkeit anderer Entscheidungen, und seien sie auch von geringerer Bedeutung, hingegen nicht. Gleiches gilt für den Wertungswiderspruch, dass Gemeindevertreter in ganz Deutschland im Wege des Kommunalverfassungsstreits geltend machen können, dass sie durch die – etwa ohne ordnungsgemäße Ladung erfolgte – Beschlussfassung über eine Geschäftsordnung in ihren organschaftlichen Rechten verletzt worden sind, die gerichtliche Feststellung einer Ungültigkeit der Geschäftsordnung aber nur in den Ländern sollen erreichen können, in denen dies nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO vorgesehen ist. Einer Fortsetzungsfeststellungsklage analog oder in Rechtsfortbildung zu § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bedarf es in Anbetracht der Möglichkeit, Feststellungsklage zu erheben, im Kommunalverfassungsstreitverfahren nicht44. Ehlers begründet seine abweichende Auffassung beispielhaft damit, dass ein von der Gemeindevertretung rechtswidrig wegen vermeintlicher Befangenheit ausgeschlossener Mandatsträger nicht erfolgreich auf die Feststellung klagen könne, die Gemeindevertretung sei nicht berechtigt gewesen ihn auszuschließen. Denn das Rechtsverhältnis werde durch die rechtsgeschäftliche Regelung des Ausschlusses konkretisiert, so dass auf die gesetzliche Regelung nicht mehr zurückgegriffen werden könne45. Das überzeugt jedoch deshalb nicht, weil der Ausschluss nichts daran ändert, dass die Gemeindevertretung nicht befugt war, den Betroffenen auszuschließen, und die Feststellungsklage auch die Feststellung eines in der Vergangenheit liegenden Rechtsverhältnisses gestattet46. V. Klagebefugnis Auch wenn man die Frage, ob dem Kläger im Kommunalverfassungsstreit ein organschaftliches Recht hinsichtlich des konkreten Streitgegenstandes zustehen kann, als Voraussetzung der Beteiligungsfähigkeit prüft, bleibt für die Klagebefugnis die Frage übrig, ob dieses Recht durch den angegriffenen Akt verletzt sein kann. Dies kann dann problematisch sein, wenn die Gemeindevertretung unter Verletzung von Mitwirkungsrechten eines Gemeindevertreters einen Beschluss fasst. Dann stellt sich nämlich die Frage, ob das Mitwirkungsrecht des Gemeindevertreters nur durch den Verfahrensfehler als solchen, also die Verhinderung der Mitwirkung, ver43 BVerwG, NVwZ 1988, 1119 (1120); OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2000, 314; VGH Mannheim, NVwZ-RR 2003, 56 (57); HessVGH, LKRZ 2007, 262 (263); VGH München, NVwZ-RR 2007, 405 (405); HessVGH, Urteil v. 3.5.2007 – 8 N 2474/06 –, Juris, Rn. 13. 44 Erichsen/Biermann, Jura 1997, 157 (162); Roth (Fußn. 2), S. 968; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 338. A.A. Ehlers, NVwZ 1990, 105 (107 ff.); Hufen (Fußn. 14), § 21 Rn. 12. 45 Ehlers, DVBl. 1986, 912 (912 f.); NVwZ 1990, 105 (107). 46 Kopp/Schenke (Fußn. 26), § 43 Rn. 18, 25.
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letzt worden sein kann oder auch durch den verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Beschluss. Letzteres wird zu bejahen sein47. Dem BayVGH ist darin zuzustimmen, dass eine Verletzung des Mitgliedschaftsrechts eines Gemeinderates, der zu Unrecht von einer Abstimmung ausgeschlossen wird, nicht allein in dem abstrakten Ausschluss (und in der diesen unmittelbar aussprechenden Entscheidung), sondern auch oder gerade darin liegt, dass das Gemeinderatsmitglied gehindert wird, an der Sachentscheidung des Kommunalorgans mitzuwirken. Es wäre eine nicht hinzunehmende Verkürzung des Individualrechtsschutzes eines in seinem Mitgliedschaftsrecht verletzten Gemeinderates, würde ihm lediglich die Möglichkeit eingeräumt, den ihn unmittelbar ansprechenden Beschluss über seinen Ausschluss von der Abstimmung im Klagewege zu beanstanden, während er von der Beanstandung der in der ohne seine Mitwirkung ergangenen Sachentscheidung liegenden Beeinträchtigung seines Mitgliedschaftsrechts ausgeschlossen bliebe. Damit, dass ein durch eine Beschlussfassung der Gemeindevertretung in seinen organschaftlichen Rechten verletzter Gemeindevertreter zugleich durch das Ergebnis dieser Beschlussfassung, den gefassten Beschluss, in seinen organschaftlichen Rechten verletzt ist, ist allerdings noch nicht gesagt, dass das von dem betroffenen Gemeindevertreter im Kommunalverfassungsstreit angerufene Gericht auf dessen Antrag hin die Rechtswidrigkeit oder sogar Nichtigkeit des Beschlusses festzustellen habe. Hiervon ist indessen bei einem sachgerechten Verständnis der kommunalverfassungsrechtlichen Feststellungsklage auszugehen48. Hält man im Kommunalverfassungsstreitverfahren eine unmittelbar auf gerichtliche Aufhebung eines rechtswidrigen Akts gerichtete Gestaltungsklage eigener Art für zulässig49, so wird dafür schon im Hinblick auf deren strukturelle Ähnlichkeit mit der Anfechtungsklage erst recht eine Klagebefugnis gefordert werden müssen. Soweit im Kommunalverfassungsstreit eine Klagebefugnis erforderlich ist, müssen die Anforderungen konsequenterweise den Besonderheiten des Kommunalverfassungsstreitverfahrens angepasst werden. Das bedeutet, dass das subjektive Recht, dessen Verletzung mindestens möglich sein muss, auch hier weit verstanden werden muss. Es reicht also die mögliche Verletzung einer als organschaftliches Recht zu beurteilenden qualifizierten Kompetenz50. § 44a VwGO, wonach die Rechtsstellung des Einzelnen in der Regel nicht schon durch (vorbereitende) Verfahrenshandlungen, sondern erst durch die abschließende Sachentscheidung des Trägers öffentlicher Gewalt betroffen wird, findet im Kommunalverfassungsstreit keine entsprechende Anwendung, da dieses Verfahren unmittelbar der Klärung dient, welche „Innenrechtsstellung“ ein Organ oder Organteil gegen47
So BayVGH, BayVBl. 1976, 753 (755); OVG Lüneburg, NVwZ 1985, 850 (850); VGH Mannheim, NVwZ 1993, 396; OVG Münster, NVwZ-RR 2003, 376 (376 f.). A.A. SaarlOVG, Beschluss v. 7.3.2007 – 3 Q 146/06 –, Rn. 27, Juris; SaarlVG, LKRZ 2008, 183 (184). 48 Dazu oben IV.2. 49 Dazu oben IV.1. 50 Dazu oben bei Fußn. 14.
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über einem anderen besitzt51. Damit lässt sich die Auffassung kaum in Einklang bringen, dass bei Wahlen durch die Gemeindevertretung Mitgliedschaftsrechte der Gemeindevertreter nur durch solche Verfahrensfehler verletzt sein können, die Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt haben52. Gerade die Bedeutung, die der Feststellungsklage im Kommunalverfassungsstreit zukommt, spricht dafür, dass Verletzungen von Verfahrensrechten der Gemeindevertreter auch dann einer gerichtlichen Feststellung zugeführt werden können, wenn sie sich auf das Abstimmungsergebnis nicht ausgewirkt haben. VI. Kosten Unzureichend gelöste Probleme wirft schließlich die für den Kommunalverfassungsstreit grundlegende Unterscheidung zwischen Organen und Personen bis in die Konsequenzen der Kostenentscheidungen von Kommunalverfassungsstreitverfahren auf. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass das Organ, dem in einem Kommunalverfassungsstreitverfahren die Kosten auferlegt worden sind, die Kosten nicht endgültig zu tragen braucht, sondern einen Erstattungsanspruch gegen die kommunale Gebietskörperschaft hat, deren Organ es ist53. Vorausgesetzt wird dabei allerdings, dass die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens mindestens nicht mutwillig, aus sachfremden Gründen erfolgt ist. Als Rechtsgrundlage für diesen Erstattungsanspruch wird teils der öffentlichrechtliche Erstattungsanspruch angesehen54. Teils soll sich der Kostenerstattungsanspruch aus den dem jeweiligen Funktionsträger kommunalverfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben und Kompetenzen als Ausfluss seiner Organstellung ergeben, ohne dass es eines Rückgriffs auf das Rechtsinstitut des öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruchs bedürfe; jede öffentlichrechtliche Körperschaft habe die Ausgaben zu tragen, die aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben erwüchsen55. Nach anderer Auffassung wurzelt der kommunalverfassungsrechtliche Erstattungsanspruch im Mitgliedschaftsrecht des einzelnen Gemeinderats; die Freistellung von zur wirksamen Rechtsdurchsetzung erforderlichen Aufwendungen gehöre zur Kompensation des verletzten Organrechts56. Auch wird erwogen, den Kostenerstattungsanspruch gegenüber der 51
VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 369 (369 f.). Vgl. auch OVG Bautzen, LKV 2009, 466 (467). 52 So aber OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1990, 503 (504). 53 Vgl. die Nachw. in den folgenden Fußnoten. 54 OVG Münster, NVwZ-RR 1993, 263 (264); Franz, JURA 2005, 156 (161). 55 OVG Münster, NVwZ-RR 2009, 819 (820 f.) m.w.Nachw. Ähnlich bereits OVG Saarlouis, NVwZ 1982, 140, und im Anschluss daran VGH Mannheim, NVwZ 1985, 284. 56 BayVGH, Urteil v. 14.8.2006 – 4 B 05.939 –, Juris, Rn. 28, mit der Maßgabe, dass eine Kostenerstattung nur gerechtfertigt sei, wenn alle zumutbaren Maßnahmen zur außergerichtlichen Durchsetzung der organschaftlichen Rechte ohne Erfolg geblieben sind. Ähnlich VG Magdeburg, Urteil v. 28.10.2010 – 9 A 73/10 –, Juris, Rn. 21.
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Gemeinde auf die Normen über den Auslagenersatzanspruch ehrenamtlich Tätiger zu stützen57. Bei den ersten drei Begründungssträngen wird das Organ selbst als kostenpflichtig angesehen, sonst könnte es keinen Erstattungsanspruch gegen die Gemeinde haben. Rechtssubjektivität ist Organen und Organteilen einer kommunalen Gebietskörperschaft im Kommunalverfassungsstreit aber nur insoweit zuerkannt, als sie Organrechte geltend machen oder diese gegen sie gerichtet sein können. Geldforderungen zur Begleichung von Verfahrenskosten fallen nicht darunter, wie daran besonders deutlich wird, dass Kostenforderungen des Staates offensichtlich keine Organrechte sind. Der Heranziehung des Auslagenersatzanspruchs ehrenamtlich Tätiger geht davon aus, dass die Organwalter als natürliche Personen kostenpflichtig sind. Die Kosten, die in einem Kommunalverfassungsstreit dem unterliegenden Organ auferlegt werden, werden ihm aber nicht als Privatperson, sondern als Organ auferlegt. Auch bei Vermögenslosigkeit des Organs sind die Organwalter weder vorläufig noch endgültig kostenpflichtig58. Denn damit würde die für den Kommunalverfassungsstreit konstitutive Trennung von Organ und natürlicher Person aufgegeben. Die Lösung kann deshalb nur lauten: Soweit Organe einer Gebietskörperschaft durch ihr Handeln Forderungen begründet haben, die nicht als Organrechte ihnen in ihrer Organeigenschaft gegenüber bestehen, wird dadurch, wie immer, nicht das Organ selbst verpflichtet, sondern die Körperschaft, deren Organ es ist. Die Kostenpflicht trifft mithin von vornherein (nur) die Körperschaft59. Wenn der Organwalter die Klage mutwillig60 erhoben und damit seine Treuepflicht61 gegenüber der Gemein57 Dies kommt nach OVG Koblenz, NVwZ 1987, 1105, in Betracht. OVG Magdeburg, NVwZ-RR 2010, 123 (124) m.w.Nachw., lässt die Frage offen, ob einem Ratsmitglied als Kommunalorgan möglicherweise auf der Grundlage des § 33 SachsAnhGO oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Kosten aus einem Kommunalverfassungsstreitverfahren von der Gebietskörperschaft zu erstatten sind; denn die Frage einer etwaigen Kostenerstattungspflicht der Gemeinde sei eine schwierige Rechtsfrage, die im Senat noch nicht geklärt und daher nicht abschließend im Prozesskostenhilfeverfahren zu erörtern sei. Im Ergebnis wie hier gegen eine Anwendung des Auslagenersatzanspruchs VG Magdeburg, Urteil v. 28.10.2010 – 9 A 73/10 –, Juris, Rn. 18 f. 58 Von einer Kostenpflichtigkeit des Organwalters bei Vermögenslosigkeit des Organs geht aber Roth (Fußn. 2), S. 995, aus, der in diesem Fall einen Kostenerstattungsanspruch des Organwalters gegen den Rechtsträger des Organs annimmt. 59 Wenn die gerichtliche Kostenentscheidung sich gleichwohl nur auf die verfahrensbeteiligten Organe bezieht, so entspricht das dem Umstand, dass nur sie Verfahrensbeteiligte sind; vgl. BWVGH, Beschluss v. 13.10.2009 – 9 S 3261/08, – Juris. Es würde aber der Besonderheit des Kommunalverfassungsstreits Rechnung tragen und der Rechtsklarheit dienen, wenn die durch die Kostenentscheidung entstehende Kostenpflichtigkeit des Rechtsträgers der Organe bereits in der Kostenentscheidung deutlich gemacht würde. Das formale Argument, dass damit ein neuer Beteiligter in das Verfahren eingeführt würde, verkennt die Gemengelage des Kommunalverfassungsstreits, in das der Rechtsträger schon deshalb, weil ihm das Handeln seiner Organe stets zugerechnet wird, der Sache nach ohnehin immer involviert ist. 60 Nach SaarlVG, Beschluss v. 15.3.2010 – 11 K 759/09 –, Juris, Rn. 9, ist als mutwillig die Klage beispielsweise dann anzusehen, wenn – in Anlehnung an § 114 ZPO – eine verständige
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de verletzt hat, kann diese sich durch Geltendmachung eines entsprechenden Schadensersatzanspruchs bei ihm schadlos halten. Werden die Kosten vom Organwalter als Privatperson beglichen, so tilgt er ohne Rechtsgrund die Schuld der Körperschaft mit der Folge, dass er gegen sie einen öffentlichrechtlichen Erstattungsanspruch hat.62 Gegen diesen Erstattungsanspruch kann die Gemeinde allerdings mit einem Schadensersatzanspruch aufrechnen, wenn der Organwalter die Klage mutwillig erhoben hat63. VII. Ergebnis Der Abgrenzung des Kommunalverfassungsstreits von anderen Gerichtsverfahren sollte mehr Sorgfalt gewidmet werden, als es gelegentlich geschieht. Bereits im Rahmen der im Wege der Rechtsfortbildung an § 61 Nr. 2 VwGO anknüpfenden kommunalverfassungsrechtlichen Beteiligungsfähigkeit und nicht erst bei der Klagebefugnis ist zu prüfen, ob dem Kläger ein organschaftliches Recht zustehen kann. Im Kommunalverfassungsstreit muss eine kassatorische Gestaltungsklage als statthaft angesehen werden. Mit der Feststellungsklage kann hier auch die Feststellung der Nichtigkeit oder Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme beantragt werden. Die einem Organ im Kommunalverfassungsstreit auferlegte Kostenpflicht trifft unmittelbar dessen Rechtsträger.
Partei, die die Kosten selbst tragen müsste, von einem Prozess absehen würde oder wenn auf eine Vorklärung der Streitfrage im Kommunalbereich, etwa durch Einschaltung der Kommunalaufsicht grundlos verzichtet worden ist oder wenn an der Klärung der Streitfrage zwar ein allgemeines Interesse besteht, die Frage aber im konkreten Sachzusammenhang ohne Bedeutung ist. Bei Erhebung einer Popularklage oder von aus anderen Gründen offensichtlich unzulässigen oder unbegründeten Klagen ist hiernach regelmäßig von Mutwilligkeit auszugehen. 61 Vgl. § 43 Abs. 2 i.V.m. § 32 Abs. 1 Satz 1 NWGO („Treupflicht“); § 21 Abs. 1 Satz 1 RhPfGO; § 30 Abs. 1 Satz 1, 4 i.V.m. § 26 Abs. 1 SaarlKSVG; § 32 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 23 Satz 1 SHGO. Eine solche Treuepflicht ist aber auch ohne ihre ausdrückliche Formulierung einer Reihe auf sie hinweisender Normen zu entnehmen. 62 So bereits Klaus Lange, LKRZ 2007, 245 (250) in Auseinandersetzung mit VG Gießen, Urteil v. 14.12.2005 – 8 E 1066/05 –, Juris, das ähnlich wie VG Darmstadt, NVwZ-RR 1999, 702, eine Vermögensverschiebung darin erblickt, dass dem unterliegenden Organ Kosten für die Klärung einer Rechtsfrage auferlegt worden seien, die zu beantworten letztlich im Interesse der Körperschaft liege. Grundsätzlich gegen eine Erstattungspflicht der Gemeinde ohne gesetzliche Grundlage VG Würzburg, NVwZ-RR 1997, 487 (487). 63 Nach verbreiteter Meinung entfällt dann von vornherein schon der Erstattungsanspruch. Vgl. OVG Saarlouis, NVwZ 1982, 140 (141).
Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter Von Hans-Werner Laubinger I. Einführung in die Problematik Vor 27 Jahren veröffentlichte Wolf-Rüdiger Schenke, dem dieser Beitrag zum 70. Geburtstag in freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist, eine Abhandlung, die fast denselben Titel trug1. Auch danach hat ihn dieses Thema bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder beschäftigt2. Deshalb hoffe ich, dass die folgenden Überlegungen sein Interesse finden werden. Der Jubilar eröffnete seinen Festschriftbeitrag mit dem Satz: „Zu den ungelösten Problemen, die sich in Verbindung mit dem Verhältnis Staat-Kirche stellen, gehören jene des Rechtsschutzes kirchlicher Bediensteter gegenüber ihrem Dienstherrn.“ Daran hat sich seither nicht viel geändert. Nach wie vor wird um die Frage gerungen, ob die Bediensteten der Kirchen die staatlichen Gerichte anrufen können, wenn sie meinen, ihr Dienstherr habe sie in ihren Rechten verletzt. Diese Problematik soll im Folgenden vor allem anhand der Rechtsstellung der Bediensteten der evangelischen Kirchen erörtert werden. II. Die Rechtsstellung der kirchlichen Bediensteten 1. Kirchen und nichtkorporierte Religionsgemeinschaften Die Bediensteten der privatrechtlich (etwa als eingetragene Vereine) verfassten Religionsgemeinschaften stehen notwendigerweise in einem privatrechtlichen (arbeitsrechtlichen) Verhältnis. Die Begründung öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse ist diesen Religionsgemeinschaften verwehrt. Wenn es zu Streitigkeiten über die Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis kommt, gelten die gleichen Grund-
1 Wolf-Rüdiger Schenke, Die verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes kirchlicher Bediensteter, in: Festschrift für Faller, hrsg. von Zeidler/Maunz/Roellecke, München 1984, S. 133 ff. 2 Wolf-Rüdiger Schenke, Kommentierung des Art. 19 Abs. 4 GG im Bonner Kommentar (BK) zum GG, Drittbearbeitung, 143. Aktualisierung/Dez. 2009; ders., Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), Tübingen 2009, S. 15 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., München 2009, § 40 Rn. 38 ff., insbes. 40.
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sätze, die unten (III.) in Bezug auf die privatrechtlich Beschäftigen der korporierten Religionsgemeinschaften dargestellt werden. Diejenigen Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts innehaben, sind berechtigt, die Dienstverhältnisse ihrer Mitarbeiter öffentlich-rechtlich auszugestalten. Gezwungen dazu sind sie nicht, sondern sie können ihre Bediensteten stattdessen auf der Grundlage von bürgerlichrechtlichen Dienstverträgen oder von Arbeitsverträgen beschäftigen. Von dieser Möglichkeit machen die Kirchen regen Gebrauch; die weitaus meisten ihrer Bediensteten stehen in einem Arbeitsverhältnis. Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren, dass nur eine Minderheit der kirchlichen Bediensteten unmittelbar bei den Kirchen beschäftigt ist, während die Mehrheit eine der zahlreichen rechtlich verselbständigten kirchlichen Trabanten (diakonische Einrichtungen, kirchliche Krankenhäuser, kirchliche Schulen usw.) zum Dienstherrn hat3. 2. Kirchenbeamte Einen öffentlich-rechtlichen Status haben die Kirchenbeamten und Pfarrer4 inne5. Deren Rechtsstellung ist – soweit es um die evangelischen Kirchen geht – durch Kirchengesetze und kirchliche Rechtsverordnungen geregelt. Die kirchlichen Beamtengesetze schließen sich eng an das staatliche Beamtenrecht an, weisen aber doch gewisse Eigenheiten auf, die Ausdruck des kirchlichen Selbstverständnisses sind und bei der Frage, ob diese Amtsträger bei den staatlichen Gerichten um Rechtsschutz nachsuchen dürfen, nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Dies sei anhand des Kirchenbeamtengesetzes der EKD (KBG.EKD)6 kurz erläutert. Gemäß § 1 Abs. 1 gründet der Dienst der Kirchenbeamten auf dem Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn Jesus Christus erhalten hat; alle in den kirchlichen Dienst Berufenen wirken an der Erfüllung dieses Auftrags mit. Die „Grundbestimmung“ des § 18 konkretisiert dies: Kirchenbeamte haben ihren Dienst in Bindung an Schrift und Bekenntnis und nach den Ordnungen der Kirche auszuüben. Sie haben die ihnen obliegenden Pflichten mit voller Hingabe, treu, uneigennützig und gewissenhaft zu erfüllen. Sie haben sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhal3
Zahlenangaben bei Heinrich de Wall/Stefan Muckel, Kirchenrecht, 2. Aufl., München 2009, S. 290. 4 Es gibt allerdings auch Pfarrer, die in einem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis stehen; dazu Götz Klostermann, Pfarrdienst und ergänzende pastorale Dienste in privaten Rechtsformen, ZevKR 55 (2010), 249 ff.; Hermann Weber, Die Rechtsstellung des Pfarrers, insbesondere des Gemeindepfarrers, ZevKR 28 (1983), 1 ff., 32 ff. 5 Zum Dienstrecht der Pfarrer und Kirchenbeamten Wolfgang Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, Tübingen 1996, S. 20 ff.; Michael A. Ling, Kirchenamt und Kirchenbeamte in der katholischen Kirche Deutschland, ZBR 2006, 238 ff.; Dietrich Pirson, Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten, HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 845 ff.; de Wall/Muckel (Fußn. 3), S. 265 ff.; Weber (Fußn. 4), ZevKR 28 (1983), 1 ff. 6 Kirchengesetz über die Kirchenbeamtinnen und Kirchenbeamten in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Kirchenbeamtengesetz der EKD – KBG.EKD) vom 10. 11. 2005 (ABl. EKD 2005 S. 551) idF. vom 25. 1. 2010 (ABl. EKD 2010 S. 31), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 10. 11. 2010 (ABl. EKD 2010, S. 342 ).
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ten, dass das Vertrauen in ihre pflichtgemäße Amtsführung gewahrt und die Glaubwürdigkeit der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrages nicht beeinträchtigt wird. § 1 Abs. 2 bestimmt, dass die Kirchenbeamten in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis (Kirchenbeamtenverhältnis) stehen. In das Kirchenbeamtenverhältnis darf gemäß § 8 Abs. 2 nur berufen werden, wer 1. Mitglied einer Gliedkirche der EKD oder einer ihr angeschlossenen Gemeinschaft ist und 2. die Gewähr dafür bietet, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhalten, dass das Vertrauen in seine pflichtgemäße Amtsführung gewahrt und die Glaubwürdigkeit der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrages nicht beeinträchtigt wird. Tritt der Beamte aus der Kirche aus, ist er kraft Gesetzes entlassen (§ 76 Abs. 1 Nr. 1). Er ist (durch kirchlichen Verwaltungsakt) zu entlassen, wenn er sich einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft anschließt, die nicht mit der EKD, einer ihrer Gliedkirchen oder einem gliedkirchlichen Zusammenschluss in Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft steht. Unter der Überschrift „Amtspflichtverletzung“ bestimmt § 32 Abs. 1, dass Kirchenbeamte ihre „Amtspflicht“ verletzen, wenn sie innerhalb oder außerhalb des Dienstes schuldhaft gegen ihnen obliegende Pflichten verstoßen. Welche Folgen das hat, regelt das Disziplinargesetz der EKD (DG.EKD) vom 28. 10. 2009 (ABl. EKD 2009 S. 316), das sich eng an die staatlichen Disziplinargesetze anlehnt. Gleiches gilt für die in § 9 DG.EKD vorgesehenen Disziplinarmaßnahmen vom Verweis bis zur Entlassung aus dem Dienst. Auch die Handhabung der Disziplinargewalt (§§ 24 ff. DG.EKD) obliegt ausschließlich kirchlichen Stellen, nämlich den kirchlichen Behörden und ggf. den Disziplinarkammern der EKD und der Gliedkirchen, deren Mitglieder richterliche Unabhängigkeit genießen (§ 51 Abs. 1 DG.EKD). Auch das kirchliche Beamtenrecht kennt Abordnung, Zuweisung und Versetzung (§§ 56 – 58 KBG.EKD), darüber hinaus die Versetzung in den Wartestand (§§ 60 – 63), die das staatliche Beamtenrecht nach dem Kriege abgeschafft hat und im kirchlichen Bereich immer wieder zu Unmut führt. Ebenso wie sein staatlicher Kollege tritt der Kirchenbeamte mit Erreichen der Altersgrenze oder bei dauernder Dienstunfähigkeit in den Ruhestand (§§ 66, 68). Zum Rechtsschutz der Kirchenbeamten trifft § 87 KBG.EKD folgende Regelung: (1) Bei Rechtsstreitigkeiten aus dem Dienstverhältnis ist nach Maßgabe des in der EKD, den Gliedkirchen und deren Zusammenschlüssen jeweils geltenden Rechts der Rechtsweg zu den kirchlichen Verwaltungsgerichten eröffnet. (2) Die EKD, die Gliedkirchen und deren Zusammenschlüsse regeln je für ihren Bereich, ob vor Eröffnung des Rechtswegs ein Vorverfahren erforderlich ist. (3) Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Abordnung, Zuweisung, Versetzung oder Versetzung in den Wartestand haben keine aufschiebende Wirkung.
3. Pfarrer Auch die Pfarrergesetze der evangelischen Kirchen lehnen sich großenteils eng an das staatliche Beamtenrecht an, weichen von ihm aber da und dort noch etwas stärker als das Kirchenbeamtenrecht ab, um den Besonderheiten des geistlichen Amtes Rechnung zu tragen.
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Das sei anhand des Pfarrdienstgesetzes der EKD (PfDG.EKD)7 kurz erläutert. Nach seinem § 2 ist das Pfarrdienstverhältnis ein kirchengesetzlich geregeltes öffentlichrechtliches Dienstund Treueverhältnis, das grundsätzlich auf Lebenszeit begründet wird. Bei schuldhafter Verletzung seiner Dienstpflichten kann auch der Pfarrer disziplinarisch gemaßregelt werden. Auch sonst finden sich im Pfarrerdienstrecht zahlreiche Institute des Beamtenrechts wieder. Gegenüber dem staatlich und teilweise auch dem Kirchenbeamtenrecht sind im Pfarrerdienstrecht aber auch eine Reihe bedeutsamer Abweichungen zu verzeichnen. Ohne Gegenstück sind beispielsweise die Rechtsinstitute der Ordination8, der Anstellungsfähigkeit (§§ 15 – 18)9 und der Visitation (§ 57)10 sowie der Wartestand (§§ 83 – 86) und die Residenzpflicht (§ 38). Eigengeartet sind ferner die Vorschriften über die Lebensführung des Pfarrers sowie zu Ehe und Familie (§ 39)11, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Familie (insbesondere die Ehefrau des Pfarrers oder der Ehemann der Pfarrerin) stärker im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht und strengeren ethischen Erwartungen ausgesetzt ist als eine „normale“ Familie. Eine Besonderheit des Pfarrerdienstrechts, die weder das staatliche noch das kirchliche Beamtenrecht kennt, ist das Lehrbeanstandungsverfahren12, das zum Amtsverlust führen kann. Dieses Verfahren wird häufig als klassisches Beispiel für die Unüberprüfbarkeit durch staatliche Gerichte angeführt13.
7 Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD) vom 10. November 2010 (ABl. EKD 2010, S. 307). 8 Durch die Ordination vertraut die Kirche dem Betreffenden das Amt der öffentlichen Wortverkündigung an (§ 1 Abs. 1 Satz 3, § 3). Die Ordination ist Voraussetzung für die sog. Anstellungsfähigkeit. Die Versagung der Ordination ist gemäß § 4 Abs. 3 Satz 2 nur insoweit überprüfbar, als Verfahrensmängel geltend gemacht werden. Mit dem Verlust der Ordination geht auch die Anstellungsfähigkeit verloren (§ 5 Abs. 3 Satz 1). 9 Dies ist die Fähigkeit, unter Berufung in ein Pfarrdienstverhältnis auf Lebenszeit eine Stelle, insbesondere in einer Kirchengemeinde, übertragen zu bekommen (§ 15 Abs. 1). Sie wird in der Regel erst nach Bewährung im Pfarrdienstverhältnis auf Probe zuerkannt (§ 16 Abs. 1 Satz 2). 10 In der Visitation leistet die Kirche durch die Inhaber der geistlichen Leitungs- und Aufsichtsämter den Pfarrern und Pfarrerinnen und der Gemeinde einen besonderen Dienst. Die Visitation erstreckt sich auf Amtsführung und Verhalten der Pfarrer und das Leben der Gemeinde. Sie soll dazu helfen, das geistliche Leben der besuchten Gemeinde zu fördern, die Pfarrer zu beraten und zu stärken, die kirchliche Ordnung zu sichern und die Einheit der Kirche zu festigen. Dazu de Wall/Muckel (Fußn. 3), S. 286 f. (§ 30 Rn. 23 f.). 11 Dazu Paul Koller, Lebensführung und Pfarrerdienstrecht aus der Sicht eines Theologen, in: Das Recht der Kirche, hrsg. von Rau/Reuter/Schlaich, Bd. III, Gütersloh 1994, S. 153 – 168; Roland Trompert, Lebensführung und Pfarrerdienstrecht aus der Sicht eines Juristen, daselbst S. 169 – 199. 12 Dazu eingehend Wolfgang Huber, Lehrbeanstandung in der Kirche der Lehrfreiheit, in: Das Recht der Kirche, Bd. III (Fußn. 11), S. 118 – 137; Gerhard Robbers, Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung, ebenda S. 138 – 152; de Wall/Muckel (Fußn. 3), S. 285 f. (§ 30 Rn. 21). 13 So befand das BVerfG in einem Dreierbeschluss vom 6. 4. 1979 (NJW 1980, 1041 f. mit krit. Anm. von Hermann Weber), Entscheidungen im Lehrbeanstandungsverfahren ergingen nicht in Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG, so dass sie nicht mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar seien. Ebenso Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 141; ders., BK (Fußn. 2), Rn. 272; Bock (Fußn. 5), S. 305; Ehlers (Fußn. 81), ZevKR 27 (1982), 269 ff., 288.
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Die Pfarrer können auf dem Dienstweg Anträge und Beschwerden vorbringen (§ 104). Gemäß § 105 Abs. 1 sind bei Rechtsstreitigkeiten aus dem Pfarrdienstverhältnis nach Maßgabe des in der EKD, den Gliedkirchen und gliedkirchlichen Zusammenschlüssen jeweils geltenden Rechts der Rechtsweg zu den kirchlichen Verwaltungsgerichten eröffnet. § 105 Abs. 2 überlässt es den Gliedkirchen und deren Zusammenschlüssen zu bestimmen, ob vor Eröffnung des (kirchlichen) Rechtswegs ein Vorverfahren erforderlich sein soll (§ 105 Abs. 2). § 105 Abs. 3 bestimmt, dass Widerspruch und Anfechtungsklage gegen eine Reihe von Maßnahmen (u. a. Abordnung, Zuweisung, Versetzung und Versetzung in den Warte- oder Ruhestand, Entlassung) keine aufschiebende Wirkung haben.
4. Privatrechtlich Beschäftigte der Kirchen Auch das kirchliche Arbeitsrecht weist Besonderheiten gegenüber dem weltlichen Arbeitsrecht auf14. In der Privatwirtschaft werden die für die Arbeitsverhältnisse maßgebenden Regelungen in der Regel durch Tarifverträge festgesetzt, die von den Arbeitgebern einerseits und den Gewerkschaften andererseits abgeschlossen werden. Die Kirchen lehnen für sich (nicht auch für andere) den Abschluss von Tarifverträgen ab und haben stattdessen den sog. Dritten Weg15 beschritten. Die kirchlichen Regelungen, die Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen, werden von Arbeitsrechtlichen Kommissionen beschlossen, die sich aus Vertretern der Kirche und ihrer Beschäftigten zusammensetzen. Diese abstrakt-generellen kirchlichen Regelungen der Arbeitsbedingungen sind – ebenso wie Tarifverträge – nicht aus sich heraus für die einzelnen Arbeitsverhältnisse maßgebend, sondern bedürfen der Inbezugnahme in den einzelnen Arbeitsverträgen16. Soweit die Religionsgemeinschaften nicht selbst Regelungen treffen, gilt für sie das Privatrecht bzw. für arbeitsrechtliche Beziehungen das staatliche Arbeitsrecht.
14 Zum Arbeitsrecht der privatrechtlich angestellten kirchlichen Bediensteten Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 5. Aufl., München 2008; Wolfgang Rüfner, Das kirchlich rezipierte und adaptierte Dienst- und Arbeitsrecht der übrigen kirchlichen Bediensteten, HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 877 ff.; Arno Schilberg, Rechtsschutz und Arbeitsrecht in der evangelischen Kirche, Frankfurt a.M u. a., 1992; Gregor Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, Tübingen 2006; Peter von Tiling, Zur Rechtsstellung der privatrechtlich angestellten Mitarbeiter in der Kirche, ZevKR 22 (1977), 322 ff.; de Wall/Muckel (Fußn. 3), S. 280 f. 15 Vgl. das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der EKD (ARRG-EKD) vom 10. 11. 1988 (ABl. EKD S. 366), geändert durch Kirchengesetz vom 6. 11. 2003 (ABl. EKD S. 414). 16 BAG, Urteil vom 11.10.2006 – 4 AZR 354/05, juris Rn. 40: „Das säkulare Recht ordnet für kirchliche Arbeitsrechtsregelungen keine unmittelbare und zwingende Geltung an. Auch aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften (Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV) lässt sich eine normative Geltung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen nicht herleiten … Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es, auf dem autonom ausgestalteten Dritten Weg Arbeitsrechtsregelungen zu schaffen. Das säkulare Recht enthält aber keine Bestimmung, welche die normative Wirkung so entstandener kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen im weltlichen Raum anordnet.“ Das ist allerdings nicht unstreitig, vgl. Thüsing (Fußn. 14), S. 119 ff. m.w.N.
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Auch für die kirchlichen Arbeitnehmer gelten vor allem die Kündigungsvorschriften des weltlichen Arbeitsrechts. Für deren Anwendung spielen die Loyalitätspflichten, die die Kirchen ihren Mitarbeitern auferlegen, eine besonders große Rolle. Einschlägige Regelungen enthält beispielsweise die Loyalitätsrichtlinie der EKD17. Vor allem der Verstoß gegen derartige Loyalitätspflichten hat die Arbeitsgerichte immer wieder beschäftigt (s.u. III. 2.). 5. Mitarbeitervertretungsrecht An die Stelle des Betriebsverfassungsrecht der Wirtschaft und des Personalvertretungsrechts der öffentlichen Hand tritt bei den Kirchen das Mitarbeitervertretungsrecht, das seinen Niederschlag in kirchlichen Gesetzen und Verordnungen gefunden hat, z. B. in dem Mitarbeitervertretungsgesetz der EKD18. Nach der Rechtsprechung des BAG scheidet Rechtsschutz durch die staatlichen Arbeitsgerichte in diesem Bereich aus. Die staatliche Verpflichtung zur Gewährung von Rechtsschutz erstrecke sich – so führt es in seinem Urteil vom 11. 11. 200819 aus – zwar auch auf die Kirchen und ihre karitativen Einrichtungen. Bei Streitigkeiten, bei denen es ausschließlich um die Anwendung kirchlichen Mitarbeitervertretungsrechts geht, sei jedoch die Zuständigkeit staatlicher Gerichte ausgeschlossen. Dies folge aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und findet in § 118 Abs. 2 BetrVG, § 112 BPersVG seinen einfachgesetzlichen Ausdruck. Dies bestätigt die in dieser Untersuchung entwickelte These, dass die staatlichen Gerichte grundsätzlich darauf beschränkt sind, kirchliche Maßnahmen, die Ausdrucks des Selbstbestimmungsrechts sind, daraufhin zu überprüfen, ob sie mit staatlichem Recht in Einklang stehen, während die Kontrolle derartiger Maßnahmen am Maßstab des kirchlichen Rechts ausschließlich Sache kirchlicher Rechtsschutzeinrichtungen ist (s.u. V.). Die Kirchen haben denn auch Schiedsstellen eingesetzt, die die Funktion kirchlicher Gerichte haben20. III. Rechtsschutz der privatrechtlich Beschäftigten der Kirchen Vergleichsweise geringe Probleme wirft der Rechtsschutz der privatrechtlich Beschäftigen auf. Dem Individualrechtsschutz dienende Kirchengerichte gibt es – jedenfalls im Bereich der EKD – nicht. 17 Richtlinie des Rates über die Anforderungen der privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Diakonischen Werkes der EKD vom 1. 7. 2005 (ABl. EKD S. 413). 18 Kirchengesetz über Mitarbeitervertretungen in der EKD (Mitarbeitervertretungsgesetz der EKD – MVG.EKD) vom 6. 11. 1992 (ABl. EKD 1992 S. 445) idF. vom 15. 1. 2010 (ABl. EKD 2010, S. 3). 19 1 AZR 646/07 –, juris, Rn. 9. 20 Näheres bei Schilberg (Fußn. 14), S. 111 ff.
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1. Arbeitsrechtsweg Der Rechtsweg führt daher stets unmittelbar zu den staatlichen Gerichten für Arbeitssachen. Niemand bestreitet ernsthaft, dass ein kirchlicher Angestellter das Arbeitsgericht anrufen kann, um sein Gehalt einzuklagen oder um sich gegen die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses oder gegen ein Abmahnung zur Wehr zu setzen. Die Zahl derartiger Streitigkeiten ist Legion21. Der Zuständigkeit der Arbeitsgerichte steht das verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) nicht entgegen. Denn die Normen des staatlichen Arbeitsrechts zählen zu den für alle geltenden Gesetzen im Sinne des Art. 137 Abs. 3 WRV, die auch für die Kirchen verbindlich sind22. Die Geltendmachung von Ansprüchen, die sich allein aus dem kirchlichen Arbeitsrecht ergeben, eröffnet den Arbeitsrechtsweg hingegen nicht. Sind die Arbeitsgerichte zuständig, müssen sie nach Ansicht der Arbeitsgerichte allerdings auch das kirchliche Recht anwenden, wenn von ihm die Entscheidung des Rechtsstreits anhängt23. Insoweit sind sie zu einer eigenen Auslegung befugt, es sei denn die Kirchen hätten sich eine Vorfragenkompetenz vorbehalten24. Maßge21 Mit Kündigungsschutzklagen hatte sich das BAG zu befassen u. a. in seinen Urteilen vom 25. 4. 1978, BAGE 30, 247 ff. (Eheschließung der Leiterin eines kath. Pfarrkindergartens mit einem geschiedenen Mann); 4.3.1980 – 1 AZR 1151/78 – AP Nr. 4 zu Art. 140 GG (Verschweigen des Kirchenaustritts bei der Einstellung einer Fachlehrerin für Gymnastik und Textilgestaltung bei einer kath. Privatschule in kirchlicher Trägerschaft); 4.3.1980 – 1 AZR 125/ 78 – BAGE 33, 14 ff. (Eheschließung der Leiterin eines Pfarrkindergartens mit einem [noch] nicht laisierten kath. Priester); 14. 10. 1980, BAGE 34, 195 ff. (Wiederverheiratung einer geschiedenen kath. Arbeitnehmerin, die in einer Caritas-Geschäftsstelle unmittelbar karitative Aufgaben wahrnahm); 21.10.1982 – 2 AZR 591/80 – NJW 1984, 826 ff. und – 2 AZR 628/80 – , juris, sowie – nach Aufhebung durch BVerfG – 15.1.1986 – 7 AZR 545/85 – juris (zwei aufeinanderfolgende Kündigung eines in einem kath. Krankhaus beschäftigen Arztes wegen öffentlicher (positiver) Äußerungen zu dem nach § 218 StGB legalen Schwangerschaftsabbruch); 30. 6. 1983, NJW 1984, 1917 ff. (homosexuelle Betätigung eines in der Konfliktberatung eingesetzten Mitarbeiters des Diakonischen Werks); 23. 3. 1984, BAGE 45, 250 ff. (Kirchenaustritt eines in einer kirchlichen Einrichtung eingesetzten Buchhalters); 31. 10. 1984, BAGE 47, 144 ff. (Eheschließung einer bei einem kath. Missionsgymnasium tätigen Lehrerin mit einem geschiedenen Mann); 12. 12. 1984, BAGE 47, 292 ff. (Austritt eines in einem kath. Krankhaus beschäftigten Assistenzarztes aus der kath. Kirche); 16. 9. 2004, KirchE 46 (2004), 126 ff. (Wiederverheiratung eines geschiedenen für die kath. Kirche tätigen kath. Kirchenmusikers). 22 St. Rspr. des BAG seit den grundlegenden Urteilen vom 14. 2. 1978, BAGE 30, 122 ff., und 25. 4. 1978, BAGE 30, 247 ff. In der zweiten Entscheidung machte das Gericht allerdings einen Vorbehalt, bezüglich solcher „Personen, die in einem so engen Verhältnis zur Kirche stehen, daß sie mit der von ihnen gewählten Lebensform einen Stand der Kirche bilden (wie etwa Geistliche, Diakonissen und Ordensangehörige)“. Durch sie trete die Kirche in besonderer Weise als solche in ihrem verfassungsrechtlich gesicherten Wesen in Erscheinung. 23 Macht beispielsweise ein kirchlicher Arbeitnehmer geltend, die Kündigung durch seinen kirchlichen Arbeitgebers sei unwirksam, weil er die kirchliche Mitarbeitervertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt habe, so hat das Arbeitsgericht auch dies zu überprüfen (BAG, Urteil vom 4. 7. 1991, KirchE 29, 214 ff. m.w.N.). 24 BAG, Urteil vom 11.11.2008 – 1 AZR 646/07 – juris, Rn. 9.
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bend für die Frage der Eröffnung des Arbeitsrechtsweges ist also, ob Ansprüche geltend gemacht werden, die sich aus Vorschriften des staatlichen Rechts ergeben. 2. Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht In einer Reihe von Fällen sind die einschlägigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen worden, teils von Seiten des im Arbeitsrechtsprozess unterlegenen Arbeitnehmers, teils von der dort unterlegenen Kirche25. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in keinem Falle geweigert, die Rechtmäßigkeit der von der Kirche ausgesprochenen Kündigung zu überprüfen, sondern hat das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (erst) bei der Prüfung der Begründetheit in die Waagschale geworfen. 3. Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte In jüngster Zeit hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gekündigten kirchlichen Mitarbeitern Rechtsschutz gewährt26. Die Individualbeschwerden richteten sich jeweils gegen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, das die Kündigungsschutzklagen der Beschwerdeführer abgewiesen hatte. Diese beriefen sich auf Art. 8 EMRK (Recht auf Privat- und Familienleben), die Beschwerdeführerin Siebenhaar auf Art. 9 und 14 EMRK (Religionsfreiheit, Verbot der Diskriminierung wegen der Religion). Während die Beschwerden von Obst27 und Siebenhaar28 als unbegründet abgewiesen wurden, hatte Schüth Erfolg. Pikanterweise hatte das BVerfG dessen Verfassungsbeschwerde mit Kammerbeschluss vom 8. 7. 200229 nicht zur Entscheidung angenommen.
25 Siehe die Beschlüsse vom 5. 6. 1981, NJW 1983, 2570 f.; 4. 6. 1985, BVerfGE 70, 138 ff. (grundlegend); 31. 1. 2001, DVBl. 2001, 723 ff.; 7. 3. 2002, NJW 2002, 2771 = KirchE 40 (2002), 164 ff. 26 Urteile vom 23. 9. 2010, Nr. 425/03 – Obst/Deutschland –, EuGRZ 2010, 571 ff., und Nr. 1620/03 – Schüth/Deutschland – EuGRZ 2010, 560 ff.; Urteil vom 3. 2. 2011, Nr. 18036/02 – Siebenhaar/Deutschland. Zuvor schon das Urteil vom 23. 9. 2008, Nr. 48907 – Ahtinen/ Finnland –, NVwZ 2009, 897 f. (Versetzung eines evangelischen Pfarrers in den Ruhestand). Siehe ferner das Urteil vom 20. 10. 2009, Nr. 39128/05 – Lombardi Vallauri/Italien, NVwZ 2011, 153 ff. (Verweigerung eines Lehrauftrages durch kath. Universität wegen Verstoßes des Bewerbers gegen die kirchliche Lehre). 27 Seine Verfassungsbeschwerde war zuvor vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen worden: Kammerbeschluss vom 27.6.2002 – 2 BvR 356/99 – nicht veröffentlicht. 28 Eine Verfassungsbeschwerde Frau Siebenhaars war zuvor vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen worden: Beschluss vom 7. 3. 2002, NJW 2002, 2771 = KirchE 40 (2002), 164 ff. 29 So das EGMR in seinem Urteil vom 23. 9. 2010 (Fußn. 26), EuGRZ 2010, 560 ff., 563 (Rn. 27). Der Beschluss des BVerfG ist offenbar nicht veröffentlicht worden.
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Die drei Entscheidungen betonen übereinstimmend, die Bundesrepublik sei verpflichtet, die Privatsphäre des Arbeitnehmers vor unzulässigen Eingriffen seines Arbeitgebers zu schützen. Das bedeutet u. a., dass der Staat durch seine Gerichte einen adäquaten Rechtsschutz gewährleisten muss. Im Fall Schüth bemängelt der EGMR, die Arbeitsgerichte hätten die Rechte des Beschwerdeführers und die der Kirche nicht zutreffend abgewogen; deshalb habe der deutsche Staat (repräsentiert durch das BAG) dem Beschwerdeführer nicht den notwendigen Schutz gewährt, so dass Art. 8 EMRK verletzt sei. IV. Rechtsschutz der Kirchenbeamten und Pfarrer Während der Rechtsschutz der privatrechtlich Beschäftigten der Kirchen durch die staatlichen Gerichte (Arbeitsgerichte und BVerfG) sowie nunmehr auch durch den EGMR weitestgehend außer Streit ist, verhält es sich mit dem Rechtsschutz der Kirchenbeamten und Pfarrer noch immer anders. Die Meinungen darüber, unter welchen Voraussetzungen – wenn überhaupt – die Angehörigen dieser beiden Bedienstetengruppen die staatlichen Gerichte um Rechtsschutz angehen können, gehen nach wie vor weit auseinander. Dies soll zunächst so knapp wie möglich geschildert werden, bevor ein eigener Lösungsvorschlag (V.) zur Diskussion gestellt wird. 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts lässt eine gründliche Auseinandersetzung mit der Problematik bis zum heutigen Tage vermissen, obwohl sich reichlich Gelegenheit dazu geboten hat und die Literatur nicht müde geworden ist, das Gericht um ein klärendes Wort geradezu anzuflehen. Das Gericht hat es nicht für nötig befunden, auch nur einmal eine mündliche Verhandlung dazu anzusetzen. Bis auf eine Senatsentscheidung30 stammen alle einschlägigen Judikate von Vorprüfungsausschüssen oder Kammern. Von ihnen nicht zur Entscheidung angenommen wurden die Verfassungsbeschwerden – eines Pfarrers, der sich gegen seine Entfernung aus dem Dienst durch eine Entscheidung im Disziplinarverfahren („Amtszuchtverfahren“) zur Wehr setzte31; – eines Pfarrers, der sich gegen die im Lehrbeanstandungsverfahren durch das dafür zuständige kirchliche Spruchkollegium getroffene Feststellung wandte, er sei öffentlich durch Wort und Schrift in der Darbietung der christlichen Lehre in Widerspruch zum Bekenntnis der ev.luth. Kirche getreten, halte daran beharrlich fest und sei deshalb nicht mehr fähig, eine amtliche Tätigkeit im kirchlichen Dienst auszuüben32;
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Beschluss des Zweiten Senats vom 27. 1. 2004, BVerfGE 111, 1 ff. Zu dieser irritierenden Entscheidung weiter unten bei Fußn. 47. 31 Beschluss vom 28. 11. 1978, NJW 1980, 1041. 32 Beschluss vom 6. 4. 1979, NJW 1980, 1041 f., mit krit. Stellungnahme Hermann Webers (auch zu dem Beschluss vom 28. 11. 1978). Siehe dazu auch Fußn. 13.
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– eines Rechtsanwalts, der von einem kirchlichen Verwaltungsgericht von einem Verfahren, in dem er einen Pfarrer vertreten wollte, ausgeschlossen worden war, weil er keiner Kirche angehörte33; – eines Pfarrers, der von seiner Kirche zunächst zwangsweise beurlaubt und dann versetzt worden war34; – eines Kirchenbeamten, der vergeblich die Feststellung begehrt hatte, seine Kirche sei verpflichtet, seine beamtenrechtlichen Versorgungsanwartschaften unmittelbar und nicht durch eine Rentenversicherung bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu gewährleisten35; – eines Pfarrers gegen seine Versetzung durch die Kirchenleitung36; – des Rektors einer katholischen Schule gegen die Entscheidung eines Diözesan-Disziplinargerichts, das sein Gehalt wegen eines Dienstvergehens gekürzt hatte37; – eines Pfarrers gegen seine Versetzung in den Wartestand mangels gedeihlichen Wirkens38.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen kirchliche Maßnahmen (Verwaltungsakte oder kirchengerichtliche Entscheidungen) richteten, hieß es zur Begründung jeweils, die kirchlichen Maßnahmen seien keine Akte öffentlicher Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG, denn darunter seien nur staatliche Maßnahmen zu verstehen. Soweit mit der Verfassungsbeschwerde (auch) verwaltungsgerichtliche Entscheidungen angegriffen wurden, bestätigte das BVerfG die Ansicht der Verwaltungsgerichte, die kirchlichen Maßnahmen seien keine Akte öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG. Begründet wurde beides damit, die kirchlichen Maßnahmen seien rein innerkirchlicher Natur, sie berührten den staatlichen Rechtskreis nicht. Ob gleiches auch dann gelte, wenn um vermögensrechtliche Ansprüche (Gehalt, Ruhegehalt, Wartgeld) gestritten wurde, ließ das Gericht in seinen Beschlüssen vom 1. 6. 1983 und 30. 3. 1984 offen. Eine Wende in der verfassungsgerichtlichen Judikatur schien sich anzubahnen in dem Kammerbeschluss vom 18. 9. 199839. Die Witwe und Kinder eines verstorbenen Pfarrers hatten bei der Kirche die Zahlung von Versorgungsbezügen beantragt mit der Begründung, der Entlassungsantrag des Verstorbenen sei mangels Geschäftsfähigkeit unwirksam gewesen. Nachdem die Kirche den Antrag abgelehnt hatte, beschritten die Hinterbliebenen den Verwaltungsrechtsweg, ohne sich zuvor an das kirchliche Ver-
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Beschluss vom 12. 2. 1981, NJW 1983, 2570. Beschluss vom 1. 6. 1983, NJW 1983, 2569. Die gegen diese Maßnahmen und auf Zahlung der Gehaltsdifferenz gerichtete Klage war vom BVerwG (Urteile vom 25. 11. 1982, BVerwGE 66, 241 ff. und Buchholz 230 § 135 BRRG) abgewiesen worden. Siehe unten bei Fußn. 58 und 59. 35 Beschluss vom 5. 7. 1983, NJW 1983, 2569 f. Das BVerwG hatte die Klage zuvor abgewiesen (Urteil vom 25. 11. 1982, NJW 1983, 2582 f.). Siehe dazu unten bei Fußn. 61. 36 Beschluss vom 3. 2. 1984, KirchE 22 (1984), 15 f. 37 Beschluss vom 30. 3. 1984, KirchE 22 (1984), 64 ff. = NVwZ 1985, 105. 38 Beschluss vom 30. 10. 1984, KirchE 22 (1984), 208 f. = NVwZ 1989, 452. 39 KirchE 36 (1998), 409 ff. = NJW 1999, 349 f. 34
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waltungsgericht zu wenden. Das BVerwG wies die Klage mit Urteil vom 28. 4. 199440 ab. Das BVerfG lehnte die Annahme der Verfassungsbeschwerde ab, weil sie teils unzulässig sei, teils keine Aussicht auf Erfolg habe. Der Beschluss vermittelt den Eindruck41, die Kammer sei geneigt, mit Rücksicht auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch, der hier – soweit ersichtlich – erstmals in der verfassungsgerichtlichen Judikatur zu diesem Thema auftaucht, auch in kirchlichen Statusstreitigkeiten staatlichen Rechtsschutz zu gewähren und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht dadurch Rechnung zu tragen, dass zuvor die Möglichkeiten des kirchlichen Rechtsschutzes ausgeschöpft werden müssen. Diese Erwartungen wurden genährt durch einen Nichtannahmebeschluss vom 15. 3. 199942. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen den Bescheid des Oberkirchenrats der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, durch den der Beschwerdeführer mit sofortiger Wirkung wegen ungedeihlichen Wirkens in den Wartestand versetzt worden war. Hiergegen hatte der Beschwerdeführer erfolglos Beschwerde zum Landeskirchenausschuss eingelegt. Den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten hatte er nicht beschritten. Die Kammer nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Begründung: Die Verfassungsbeschwerde sei unzulässig, weil der Beschwerdeführer den Rechtsweg zu den staatlichen Fachgerichten nicht erschöpft habe. Zwar sei zweifelhaft, ob der Beschwerdeführer angesichts der Rechtsprechung der staatlichen Fachgerichte, die sogenannte Statusklagen grundsätzlich als unzulässig ansähen, eine von dieser Rechtsprechung abweichende Entscheidung hätte erwarten können. Dennoch sei die Erschöpfung des Rechtswegs geboten und zumutbar gewesen. Zwar liege eine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte zu der Frage staatlichen Rechtsschutzes in Statussachen vor, die auch Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung gewesen und hierbei nicht beanstandet worden sei43. „Dies verkennt auch der Beschwerdeführer nicht. Er macht aber geltend, dass diese Rechtsprechung angesichts der zwischenzeitlich im Schrifttum vorgebrachten Argumente zu überdenken sei. Dann aber erfordert es der mit dem Gebot der Rechtswegerschöpfung verfolgte Zweck, dass der Beschwerdeführer diese Argumente zunächst den Fachgerichten vorträgt, damit dem Bundesverfassungsgericht nicht die Möglichkeit verschlossen wird, deren Auffassung zu den nunmehr geäußerten Bedenken bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen.“44
So ermutigt, schlug der Beschwerdeführer den Verwaltungsrechtsweg ein. Das VG Stuttgart wies seine Klage ab45, sein Zulassungsantrag wurde vom VGH BW46 abgelehnt. Gegen diese Entscheidungen legte der Beschwerdeführer wiederum Ver40 41 42 43 44
dung. 45 46
BVerwGE 95, 379 ff. Siehe unten bei Fußn. 64. Ähnlich die Einschätzung des Beschlusses bei Kirchberg, Anm. NVwZ 1999, 734 f. KirchE 37 (1999), 59 ff. = NVwZ 1999, 758. Die Kammer verwies auf den Beschluss vom 1. 6. 1983, NJW 1983, 2569. Kirchberg, Anmerkung, NVwZ 1999, 734 f., 735, übt zu Recht Kritik an der EntscheiUrteil vom 10.5.2000 – 17 K 4775/99 – nicht veröffentlicht. Beschluss vom 12. 2. 2001, KirchE 39 (2001), 24 ff.
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fassungsbeschwerde ein, mit der er die Verletzung des allgemeinen Justizgewährungsanspruches, seiner Menschenwürde (Art. 1 GG) und des „Kernbestandes seiner Rechte aus Art. 33 Abs. 5 GG“ rügte. Der Zweite Senat verweigerte durch Beschluss vom 27. 1. 200447 die Annahme zur Entscheidung mit der Begründung: Der Beschwerdeführer hätte im Ergebnis auch dann keinen Erfolg, wenn die von ihm aufgeworfene Grundsatzfrage in seinem Sinne zu beantworten wäre. Deshalb komme der Verfassungsbeschwerde weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch sei ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Nach dem dem Bundesverfassungsgericht unterbreiteten Streitstoff könne ausgeschlossen werden, dass die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs im Ergebnis auf einer Verkennung des Justizgewährungsanspruchs beruhen. Deshalb komme es nicht darauf an, ob der Ansicht des Bundesgerichtshofs48 zu folgen sei, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht die (staatliche) Justizgewährungspflicht einschränkt, wohl aber das Maß der Justiziabilität der angegriffenen Maßnahme.
Die Richterin Lübbe-Wolff49 übte in ihrer abweichenden Meinung zu Recht heftige Kritik an der Senatsentscheidung. Ihrer Ansicht nach hätte dem Beschwerdeführer eine Sachentscheidung nicht verweigert werden dürfen. Seine restriktive Judikatur setzte das BVerfG mit dem Kammerbeschluss vom 9.12.200850 fort. Beschwerdeführer war ein Pfarrer, der sich gegen die Versetzung in den Ruhestand und die Festsetzung des Ruhegehalts zur Wehr setzte. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die kirchenbehördliche Verfügung und die sie bestätigende Entscheidung des kirchlichen Verwaltungsgerichts („Verwaltungskammer“). Die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde begründete das BVerfG abermals damit, der Begriff der öffentlichen Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG umfasse nicht rein innerkirchliche Maßnahmen. Kirchliche Gewalt sei keine staatliche Gewalt, nur diese sei von der genannten Vorschrift gemeint. Nur insoweit als die Kirchen vom Staat verliehene Befugnisse ausüben oder soweit ihre Maßnahmen den kirchlichen Bereich überschreiten oder in den staatlichen Bereich hineinreichen, betätigten die Kirchen mittelbar auch staatliche Gewalt mit der Folge, dass ihre Selbstbestimmung eine in der Sache begründete Einschränkung erfahre. Alsdann warnt die Kammer vor den möglichen Folgen der staatsgerichtlichen Überprüfung kirchlicher Personalentscheidungen: Wenn staatliche Gerichte in der Sache über kirchliche Angelegenheiten zu entscheiden hätten, bestimmten sie in diesen Angelegenheiten mit, 47
BVerfGE 111, 1 ff. Dazu Droege, Neues zum „Quis judicabit?“ – oder: Ist das Bundesverfassungsgericht (k)ein Gericht?, ZevKR 49 (2004), 763 ff. 48 Urteile vom 11. 2. 2000, DVBl. 2000, S. 999 ff., und vom 28. 3. 2003, BGHZ 154, 306 ff. Zu ihnen weiter unten bei Fußn. 76 ff. und79. 49 BVerfGE 111, 1 ff., 7 ff. 50 DVBl. 2009, 238 ff. = NJW 2009, 1195 ff. = ZevKR 54 (2009), 232 ff. Die Entscheidung ist prompt auf heftigen Widerspruch in der Literatur gestoßen: Michael Germann, Die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde gegen die Kirche: kein Grund zum Nachdenken über die Justizgewährung in kirchlichen Angelegenheiten, ZevKR 54 (2009), 214 ff.; Hermann Weber, Der Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht: Unrühmliches Ende einer unendlichen Geschichte?, NJW 2009, 1179 ff.
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und zwar selbst dann, wenn sie sich bemühen, der kirchlichen Eigenständigkeit bei der materiellen Entscheidung gerecht zu werden. Die konkrete Betrachtung der konfligierenden Interessen und Rechte im Einzelfall könne erfahrungsgemäß zu einer allmählichen Steigerung der richterlichen Kontrolldichte führen und berge so die Gefahr, dass die religiöse Legitimation kirchenrechtlicher Normen verkannt und damit gegen den Grundsatz der Neutralität des Staates in religiösen Dingen verstoßen werde. Das aber sei gerade in dem sensiblen Bereich der durch Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV ausdrücklich gewährleisteten kirchlichen Ämterhoheit problematisch. Diese Bedenken verdienen ernster genommen zu werden, als dies ein Teil der Literatur tut. 2. Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte Das BVerwG vertritt von Beginn an die Meinung, Kirchenbeamten und Pfarrern sei der Rechtsweg zu den staatlichen Verwaltungsgerichten verschlossen, weil dienstrechtliche Maßnahmen der Kirchen keine Akte der öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG seien. Etwas anderes gelte nur dann, wenn die Kirche den Verwaltungsgerichten die Kompetenz zur Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche übertragen habe. Die Judikatur des Gerichts verlief allerdings nicht ganz kontinuierlich, wie der folgende Überblick zeigen wird. In seiner wohl ersten einschlägigen Entscheidung, dem Urteil vom 27. 11. 196651, hatte sich das BVerwG mit der Klage eines Pfarrers auf Feststellung des Fortbestehens seines Dienstverhältnisses zu befassen. Es erkannte, Art. 19 Abs. 4 GG eröffne den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht für solche Klagebegehren, die mit der kirchlichen Ämterhoheit (Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV) unvereinbar sind. Für die Entscheidung über die aus dem Dienstverhältnis folgenden vermögensrechtlichen Ansprüche des Pfarrers sei der Verwaltungsrechtsweg hingegen dann gegeben, wenn die Kirche damit einverstanden ist. Diesen Standpunkt bestätigte das Gericht in seinem Urteil vom 15. 12. 196752. Der klagende Pfarrer verlangte von seiner Kirche die Nachzahlung einbehaltener Dienstbezüge. Dem Kläger stehe – so das Gericht – für sein Begehren staatlicher Gerichtsschutz zu; das ergebe sich jedenfalls aus dem Pfarrergesetz der beklagten Kirche, das die Pfarrer bei vermögensrechtlichen Ansprüchen auf den Rechtsschutz vor den staatlichen Gerichten verwies. Offen ließ das Gericht die „umstrittene, höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärte Frage“, ob Kirchenbediensteten wegen ihrer vermögensrechtlichen Ansprüche staatlicher Gerichtsschutz auch ohne eine derartige Zuweisung aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG zukomme. Diese Frage ließ das Gericht auch in seinem Urteil vom 25. 10. 196853 ausdrücklich dahinstehen, in dem um die Ansprüche eines verdrängten Kirchenbeamten auf Gewährung von Versorgungsbezügen gestritten wurde. 51 52 53
BVerwGE 25, 226 ff. BVerwGE 28, 345 ff. BVerwGE 30, 326 ff., 327.
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In einem Beschluss vom 18. 12. 197354 erklärte das Gericht, Art. 19 Abs. 4 GG werde nicht schon dadurch verletzt, dass das kirchliche Recht die anwaltliche Vertretung eines Pfarrers im formlosen Verkehr mit den zuständigen kirchlichen Stellen grundsätzlich nicht vorsieht. Es könne offenbleiben, ob und ggf. inwieweit die beklagte Kirche im dienstlichen und amtlichen Verkehr mit einem in ihrem Dienst stehenden Pfarrer diesem gegenüber öffentliche Gewalt im Sinne der genannten Verfassungsbestimmung ausübt. Unter besonderen Umständen könne der Ausschluss anwaltlicher Vertretung allerdings willkürlich sein oder der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zuwiderlaufen. Ein ebenfalls aus dem Rahmen fallender Fall lag dem Urteil vom 21. 11. 198055 zugrunde. Der Kläger, ein Rechtsanwalt, wollte vor einem kirchlichen Verwaltungsgericht einen Pfarrer vertreten, wurde aber vom Verfahren ausgeschlossen, weil er aus der Kirche ausgetreten war. Seine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seines Ausschlusses hatte auch vor dem BVerwG keinen Erfolg, weil der Rechtsweg zu den staatlichen Verwaltungsgerichten nicht gegeben sei. Die angegriffenen Beschlüsse des kirchlichen Verwaltungsgerichts seien innerkirchliche Maßnahmen, die gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV dem staatlichen Zuständigkeitsbereich entzogen seien. Maßnahmen, die den amts- und dienstrechtlichen Status eines Geistlichen betreffen, seien ausschließlich Sache der Kirche. Das BVerfG56 nahm die gegen dieses Urteil eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an. Mit Beschluss vom 27. 2. 198157 bestätigte das Gericht seine Judikatur mit der Feststellung, die Aufhebung einer Pfarrstelle und die Abberufung eines Pfarrers aus dieser Pfarrstelle unterlägen als innerkirchliche Organisationsmaßnahmen und dem innerkirchlichen Bereich zuzuordnende Statusfragen eines Pfarrers nicht der Überprüfung durch staatliche Gerichte. Am 25. 11. 1982 erließ das BVerwG gleich drei einschlägige Entscheidungen. In der Sache 2 C 20.7858 und der Sache 2 C 21.7859, die denselben Fall betrafen, wandte sich ein Pfarrer u. a. gegen seine Beurlaubung, Versetzung aus seiner Pfarrstelle und Versetzung in den Wartestand wegen seiner Weigerung, Kinder zu taufen. Das BVerwG wies die Klage als unzulässig ab, weil der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht eröffnet sei. Die in Rede stehenden Maßnahmen seien keine Maßnahmen in Ausübung öffentlicher (staatlicher) Gewalt. Ebenfalls unzulässig sei der Klageantrag, die Beklagte zum Widerruf der Behauptung zu verurteilen, der Kläger sei ein Irrlehrer. Das gleiche Schicksal erlitt der Antrag, die Beklagte zur Zahlung der Gehaltsdifferenz zu verurteilen; denn im vorliegenden Fall sei – im Gegensatz zu ei54
Buchholz 350 § 3 BRAO Nr. 1 S. 9. Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 182 = KirchE 18 (1981), 326 ff. = NJW 1981, 1972 f. 56 Beschluss vom 12. 3. 1981, NJW 1983, 2570. Siehe oben bei Fußn. 33. 57 Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 185. 58 Buchholz 230 § 135 BRRG (dort Angabe eines falschen Aktenzeichens). 59 BVerwGE 66, 241 ff. Zu diesen Entscheidungen Ehlers, Der staatliche Gerichtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten, JuS 1989, 364 ff. 55
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nigen früher entschiedenen Fällen – wegen der vermögensrechtlichen Ansprüche weder eine ausdrückliche noch eine stillschweigende Zuweisung an die staatlichen Gerichte gegeben. Die gegen diese Urteile eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG60 nicht zur Entscheidung angenommen. In der ebenfalls am 25. 11. 1982 entschiedenen Sache 2 C 38/8161 klagte ein Kirchenbeamter auf Feststellung, die beklagte Kirche sei verpflichtet, seine beamtenrechtlichen Versorgungsanwartschaften unmittelbar und nicht durch eine Rentenversicherung bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu gewährleisten. Das BVerwG wies die Klage ab mit der Begründung, die vom Kläger beanstandete Neuregelung der Versorgung sei von den staatlichen Gerichten nicht auf ihre Vereinbarkeit mit innerkirchlichem Recht nachzuprüfen. Ein Verstoß gegen staatliche Rechtssätze sei jedenfalls nicht ersichtlich. Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen62. In seinem Beschluss vom 17. 11. 199263 bekräftigte das BVerwG erneut seine Auffassung, bei Streitigkeiten in innerkirchlichen Angelegenheiten, zu denen auch die Dienstverhältnisse der Kirchenbeamten rechneten, sei infolge des den Kirchen verfassungskräftig gewährleisteten Selbstbestimmungsrechts der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht gegeben. Dies gelte jedoch dann nicht, wenn kraft kirchengesetzlicher Regelung der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten ausdrücklich eröffnet ist (§ 135 Satz 2, §§ 127, 126 BRRG). Das Urteil vom 28. 4. 199464 verbannte die sog. verkappte Statusklage aus den staatlichen Gerichten. Die kirchengesetzliche Zuweisung versorgungsrechtlicher Streitigkeiten an die staatlichen Verwaltungsgerichte begründe nicht deren Befugnis, inzidenter das Bestehen oder Nichtbestehen eines Dienstverhältnisses als Pastor oder Kirchenbeamter als Grundlage der geltend gemachten Versorgungsansprüche zu prüfen. Die kirchengesetzliche Rechtswegzuweisung an die staatlichen Verwaltungsgerichte beanstandete das Gericht nicht, fügte jedoch an, diese Zuweisung umfasse nicht die Befugnis, den Rechtsstandpunkt der Kirche hinsichtlich des Bestehens, der Veränderung oder der Beendigung eines kirchlichen Rechtsverhältnisses zu korrigieren, auch nicht durch die Prüfung und Entscheidung als Vorfrage. Vielmehr sei eine solche Korrektur allein dem Kirchengericht gemäß § 3 des Kirchengesetzes vorbehalten. Habe der kirchliche Gesetzgeber von der verfassungskräftig gewährleisteten kirchlichen Ämterautonomie auch dadurch Gebrauch gemacht, dass er Streitigkeiten über das Bestehen, die Veränderung oder Beendigung eines kirchlichen Amts oder Dienstverhältnisses einem Kirchengericht zugewiesen hat, so spreche das gegen die Annahme, er habe diese kirchengerichtliche Zuständigkeit durch eine Befugnis des staatlichen Verwaltungsgerichts, über die Statusfrage als Vorfrage einer versorgungsrechtlichen Streitigkeit zu ent60
Beschluss vom 1. 6. 1983, NJW 1983, 2569. Siehe oben bei Fußn. 34. DVBl. 1983, 507 ff. = KirchE 20 (1982), 217 ff. = NJW 1983, 2582 f. Auch zu dieser Entscheidung Ehlers (Fußn. 59). 62 BVerfG, Beschluss vom 5. 7. 1983, NJW 1983, 2569 f. Siehe oben bei Fußn. 35. 63 Buchholz 230 § 135 BRRG Nr. 5. 64 BVerwGE 95, 379 ff. 61
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scheiden (sog. „verkappte Statusklage“), wieder einschränken wollen. Diese Ausführungen, die von der Literatur überwiegend ablehnend aufgenommen worden sind, haben durchaus etwas für sich, wie sich zeigen wird (V.)
Hoffnung auf eine Neuorientierung der Rechtsprechung schöpfte die Literatur vorübergehend aus dem Urteil des 7. Senats vom 28. 2. 200265. Die klagende jüdische Gemeinde begehrte die Verpflichtung des Landesverbandes jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, sie anteilig an den Staatsleistungen zu beteiligen, die das Land dem Landesverband aufgrund eines Staatsvertrages zur Verfügung stellte. Mit der hier erörterten Thematik hatte die Entscheidung also nicht unmittelbar etwas zu tun. Die Hoffnungen nährten sich jedoch daraus, dass das Gericht die Zulässigkeit des Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten damit begründete, aus der dem Staat obliegenden Justizgewährungspflicht (Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 92 GG) folge, dass die staatlichen Gerichte grundsätzlich zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen seien, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet. Die Hoffnung auf Neuorientierung der Rechtsprechung zerschlugen sich jedoch alsbald dadurch, dass der 2. Senat seine restriktive Rechtsprechung mit Urteil vom 30. 10. 200266 bestätigte. In diesem Falle wehrte sich ein evangelischer Geistlicher gegen seine Versetzung in den Ruhestand, die von dem Kirchengericht gebilligt worden war. Das BVerwG befand, die kirchliche Maßnahme unterliege nicht der Kontrolle durch die staatlichen Gerichte. Dem entgegen hatte das OVG Rheinland-Pfalz in seinem Berufungsurteil vom 1. 6. 200167 die Zulässigkeit der Klage bejaht mit der Begründung: Zwar betreffe der Streitgegenstand – die Versetzung des Klägers aus dem Wartestand in den Ruhestand – einen Tatbestand, der als eigene Angelegenheit der Kirche im Sinne von Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV zu bewerten sei. Gleichwohl dürfe dem Kläger mit Rücksicht auf den Schrankenvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV auch insoweit die Inanspruchnahme des staatlichen Rechtsschutzes nicht verwehrt werden. Denn nach dem Klagevorbringen lasse sich jedenfalls nicht von vornherein ausschließen, dass die beklagte Landeskirche mit der fraglichen Versetzungsentscheidung die Schranken des für alle geltenden Gesetzes überschritten habe. Der Kläger mache nämlich geltend, dass ihm im Zusammenhang mit seiner Zurruhesetzung kein hinreichendes rechtliches Gehör gewährt worden sei und er rüge ferner sinngemäß, dass zugleich die Grundsätze eines objektiven fairen Verwaltungsverfahrens verletzt sowie das Willkürverbot missachtet worden seien. Er rüge damit die Beeinträchtigung von verfassungsrechtlich verankerten Rechtspositionen, die, wie der Anspruch auf rechtliches Gehör, zu den fundamentalen Rechtsgrundsätzen der staatlichen Rechtsordnung gehörten und die gerade wegen dieser Eigenschaft unter anderem zu den den Schrankenvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV normativ prägenden Maßstäben gehörten. Zur Überprüfung der Berechtigung die65
BVerwGE 116, 86 ff. BVerwGE 117, 145 ff. Zu dieser Entscheidung kritisch Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), Tübingen 2009, S. 15 f., sowie ausführlich Goos, Rechtsschutz in Kirchensachen – eine unendliche Geschichte?, ZBR 2004, 159 ff. Die Vorschichte schildert Leuze, Kein Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Amtsrecht?, DÖD 2003, 284 ff. 67 KirchE 39 (2001), 159 ff. 66
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ser auf Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung bezogenen Rügen bedürfe es daher auch eines staatlichen gerichtsförmigen Verfahrens. Das OVG verwies insoweit auf das Urteil des BGH vom 11. 2. 2000, auf das später (sub 3.) einzugehen sein wird.
Alles das beeindruckte das BVerwG nicht. Es beharrte auf dem Standpunkt, die Kirchen unterlägen dort, wo sie über das Recht zur Selbstbestimmung verfügen, nicht der staatlichen Gerichtsbarkeit. Dem ständen Art. 19 Abs. 4 GG und § 40 VwGO nicht entgegen. Denn beide Vorschriften eröffneten die Möglichkeit des Rechtsschutzes (ausschließlich) gegen Akte staatlicher Gewalt. Kirchliche Gewalt sei zwar öffentliche, aber keine staatliche Gewalt. Das BVerwG betonte, die Exemtion von der staatlichen Gerichtsbarkeit beziehe sich auch auf die Einhaltung der „fundamentalen Grundsätze der staatlichen Rechtsordnung“ durch die kirchlichen Stellen. Auch aus der staatlichen Justizgewährleistungspflicht ergebe sich – so das BVerwG weiter mit unverkennbarer Spitze gegen den vom OVG zitierten BGH – nicht die Befugnis der staatlichen Gerichte, über kircheninterne Maßnahmen zu entscheiden. Aufgrund der Justizgewährungspflicht seien die Gerichte zwar zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen, deren Beantwortung sich nach staatlichem Recht richtet. Im Bereich der eigenen Angelegenheiten der Kirchen sei jedoch kein staatliches Recht zulässig, das die Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften einschränkt. Damit hält das BVerwG trotz aller Anfeindungen in der Literatur tapfer an der Bereichs(scheidungs)lehre fest. Das OVG RP hat sich durch die Abfuhr, die ihm das BVerwG erteilte, nicht beeindrucken lassen, sondern in seinem Urteil vom 28. 11. 200868 an seiner Rechtsansicht festgehalten. Zugunsten eines Rechtsschutzes von Pfarrern durch staatliche Verwaltungsgerichte haben sich auch das OVG NRW69 und das VG Oldenburg70 ausgesprochen. 3. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte Noch vor den Verwaltungsgerichten und dem BVerfG wurden die Zivilgerichte mit Klagen von Kirchenbeamten und Pfarrern gegen ihre Kirchen befasst. Diese Auseinandersetzungen betrafen vermögensrechtliche Ansprüche, nämlich auf Zahlung von Gehalt, Ruhegehalt, Wartegeld oder Schadensersatz. Dass in derartigen Fällen nicht – anders als heute – die Verwaltungsgerichte, sondern die Zivilgerichte ange68
AS 37, 65 ff. = DVBl. 2009, 241 ff. = ZevKR 54 (2009), 370 ff. Leitsatz: Gegenüber Maßnahmen von Kirchen und Religionsgemeinschaften auf dem Gebiet des kirchlichen Dienstrechts ist gemäß § 40 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit dem staatlichen Justizgewährleistungsanspruch der Rechtsweg zu den staatlichen Verwaltungsgerichten gegeben. Lediglich der Umfang der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung ist durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht beschränkt (im Anschluss an BGHZ 154, 306). 69 Urteil vom 22. 3. 1994, NJW 1994, 3368 ff. = ZevKR 40 (1995), 237 ff. Diese Entscheidung ist in der bisherigen Diskussion zu Unrecht nur wenig beachtet worden. 70 Urteil vom 27.9.2010 – 1 B 1384/10 –, juris. A.M. jedoch das Berufungsurteil des NdsOVG vom 16.12.2010 – 8 ME 276/10 –, juris.
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rufen wurden, beruht darauf, dass Art. 129 Abs. 1 Satz 4 WRV festgelegt hatte, für die vermögensrechtlichen Ansprüche der Beamten stehe der „Rechtsweg“ offen, und dass unter „Rechtsweg“ der ordentliche Rechtsweg verstanden wurde. Es bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass jene Vorschrift auf Kirchenbeamte analog anzuwenden sei71. Erst nach dem Inkrafttreten des BRRG, dessen § 126 Abs. 1 für alle Klagen der staatlichen Beamten, Ruhestandbeamten, früheren Beamten und ihrer Hinterbliebenen den Verwaltungsrechtsweg vorschrieb, setzte sich allmählich die Auffassung durch, dass auch die Kirchenbeamten und Pfarrer nicht mehr den ordentlichen, sondern den Verwaltungsrechtsweg beschreiten müssten – wenn denn überhaupt die staatliche Gerichtsbarkeit gegeben sei. In seinem Urteil vom 18. 2. 195472, seiner ersten Entscheidung zu der hier behandelten Thematik, ging es um die Klage eines pensionierten Kirchenbeamten, der auf Zahlung der Differenz zwischen vollem und Ruhegehalt klagte mit dem Argument, das kirchliche Gesetz, aufgrund dessen er pensioniert worden war, sei nicht ordnungsgemäß zustande gekommen und deshalb unwirksam. Die Zulässigkeit des Rechtswegs leitete das Gericht aus der Zustimmung der beklagten Kirche ab. In dem Fall, den der BGH durch Urteil vom 3. 11. 195573 entschieden hat, klagte ein Kirchenbeamter, der nach Einleitung eines Disziplinarverfahrens auf seinen Antrag hin entlassen worden war, auf Zahlung des ihm vermeintlich zustehenden Gehalts oder Wartegeldes. Das Gericht wies die Klage als unbegründet ab, erstaunlicherweise ohne – soweit ersichtlich – auf die Zulässigkeit des Rechtsweges zu den staatlichen Gerichten auch nur mit einem Wort einzugehen. Mit Urteil vom 17. 12. 195674 entschied der BGH über die Amtshaftungsklage eines Pfarrers, der nach Androhung eines Disziplinarverfahrens in den Ruhestand versetzt worden war, auf Zahlung des Unterschiedsbetrages zwischen Gehalt und Ruhegehalt als Schadensersatz, nachdem seine verwaltungsgerichtliche Klage auf Aufhebung der Zurruhesetzungsverfügung abgewiesen worden war. Das Gericht leitete die Zulässigkeit des Rechtswegs mit umfangreichen Erwägungen aus Art. 34 Satz 3 GG ab. Die Tätigkeit der Kirchen außerhalb des rein fiskalischen Bereichs stelle Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne des Art. 34 GG dar. Das Urteil vom 16. 3. 196175 wies die Klage eines pensionierten Pfarrers ab, der auf Zahlung einbehaltener Gehaltsteile klagte. Dies wurde damit begründet, die verklagte Kirche habe durch Verordnung für die Entscheidung vermögensrechtlicher Ansprüche der Pfarrer die kirchlichen Gerichte für zuständig erklärt. Damit sei den staatlichen Gerichten die Entscheidung über derartige Klagebegehren verwehrt. 71 Günther Holstein, Die beamtenrechtlichen Normen der Reichsverfassung und die Stellung der Geistlichen und Kirchenbeamten, AöR 52/NF 13 (1927), 153 ff., 196 f. 72 BGHZ 12, 321 ff. = NJW 1954, 1284 f. mit Anm. Werner Weber. 73 BGHZ 18, 373 ff. 74 BGHZ 22, 383 ff. 75 BGHZ 34, 372 ff.
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Das Urteil vom 7. 5. 196276 erklärte, zur Entscheidung über gegen die EKD gerichtete Versorgungsansprüche aus einem Kirchenbeamtenverhältnis seien nicht die Zivilgerichte, sondern die Verwaltungsgerichte berufen. Das bestätigte der BGH in seinem Urteil vom 19. 9. 196677. Der klagende Pfarrer machte Besoldung- und Schadensersatzansprüche wegen Amts- und Fürsorgepflichtverletzung gegen seine Kirche geltend. Der BGH verwies den Rechtsstreit unter Hinweis auf § 135 Satz 2, § 126 BRRG an die Verwaltungsgerichte. Großes Aufsehen, ja geradezu freudige Erregung lösten in Teilen der Literatur die beiden letzten hier vorzustellenden Entscheidungen des BGH aus. Sein Urteil vom 11. 2. 200078 hatte keine Ansprüche eines Kirchenbediensteten zum Gegenstand, sondern die Klage einer korporierten jüdischen Religionsgemeinde gegen ein Gemeindemitglied auf Unterlassung. Das Berufungsgericht hatte die Auffassung vertreten, der Klägerin stehe gegen den Beklagten ein Unterlassungsanspruch gemäß §§ 862, 1004 BGB zu. Dem schloss sich der BGH an. Das Urteil ist im hiesigen Zusammenhang vor allem deshalb von Bedeutung, weil es auf die allgemeine Justizgewährungspflicht rekurrierte und in früheren BGH-Entscheidungen geäußerte Rechtsauffassungen korrigierte: Aus der dem Staat obliegenden Justizgewährungspflicht (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip; Art. 92 GG) folge, daß die staatlichen Gerichte grundsätzlich zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen sind, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet. Insoweit könne es weder auf ein staatliches Einverständnis zur Inanspruchnahme der Gerichte durch Kirche bzw. Religionsgemeinschaft ankommen, noch sei die staatliche Gerichtsbarkeit gegenüber der Gerichtsbarkeit der Religionsgemeinschaft subsidiär. Damit distanzierte sich das Gericht von seinen oben erwähnten Urteilen vom 19. 9. 1966 und 7. 5. 1962. Wenn der Rechtsweg durch die staatlichen Prozessordnungen allgemein eröffnet ist, widerspräche es dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), Ansprüche der Religionsgemeinschaften auf staatlichen Rechtsschutz anders zu behandeln als Ansprüche anderer Rechtssubjekte. Die Pflicht des Staates zur Justizgewährung habe deshalb sowohl gegen als auch zugunsten der Religionsgemeinschaften in gleicher Weise wie für und gegen alle Rechtssubjekte auf dem Staatsgebiet selbst dann zu gelten, wenn bei der Anwendung staatlicher Rechtssätze religionsgemeinschaftliche Vorfragen zu klären sind.
Diese Ausführungen bestätigte und vertiefte der BGH in seinem Urteil vom 28. 3. 200379. Zwei Geistliche („Offiziere“) der Heilarmee, die aus disziplinarischen Gründen entlassen worden waren, klagten auf Zahlung von Gehalt mit der Behauptung, ihre Entlassung sei zu Unrecht erfolgt. Der Rechtsstreit war von der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Zivilgerichtsbarkeit verwiesen worden, weil sich die Kläger in der von ihnen unterschriebenen „Verpflichtungserklärung“ ausdrücklich damit einverstan76
DVBl. 1962, 530 f. BGHZ 46, 96 ff. 78 DVBl. 2000, 999 ff. = NJW 2000, 1555 ff. = ZevKR 45 (2000), 650 ff. Zu dieser Entscheidung Kästner, Tendenzwende in der Rechtsprechung zum staatlichen Rechtsschutz in Kirchensachen, NVwZ 2000, 889 ff. 79 BGHZ 154, 306 ff. 77
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den erklärt hatten, nicht „angestellt“ zu sein und keinen Arbeitsvertrag abzuschließen. In Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht80 bejahte der BGH die Eröffnung des Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten und führte dazu u. a. aus: Der Justizgewährungsanspruch gelte für alle Rechtsfragen, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet. Das gelte selbst dann, wenn es sich um ein „verkapptes Statusverfahren“ handelt. Für die Justizgewährungspflicht sei weder die Unterscheidung von Amts- und Dienstverhältnis noch die zwischen kirchlichem Amtsrecht und vermögensrechtlichen Folgen von Bedeutung. Die staatliche Gerichtsbarkeit könne einer Entscheidung nicht deshalb ausweichen, weil die Rechtsfrage den kirchlich autonomen Bereich, wie etwa den der Organisationsoder Ämterhoheit, betrifft. Ob eine zum Kernbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gehörende Maßnahme oder Entscheidung mit den Grundprinzipien der Rechtsordnung vereinbar ist, beurteile sich nach staatlichem Recht, für das nur die staatlichen Gerichte zur Entscheidung berufen seien. Soweit das BVerwG in seinem Urteil vom 30. 10. 2002 (s. o. sub 2.) hierzu eine andere Ansicht vertrete, könne dem der Senat nicht folgen. Die Zulassung des Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten berühre noch nicht die Garantie der kirchlichen Selbstverwaltung. Ob und inwieweit eine innerkirchliche Angelegenheit der Kontrolle durch staatliche Gerichte unterfällt, sei nicht eine Frage der Zulässigkeit des Rechtswegs, sondern der Begründetheit des geltend gemachten Anspruchs.
Zum Abschluss des Überblicks über die Rechtsprechung muss daher festgestellt werden, dass BVerfG und BVerwG einerseits sowie der BGH (nachdem er seine Judikatur geändert hat) andererseits heute unterschiedliche Rechtsschutzkonzeptionen vertreten. Das Schrifttum hat sich inzwischen ganz überwiegend auf die Seite des BGH geschlagen, wie sich sogleich zeigen wird. 4. Die Ansätze für den Zugang von Pfarrern und Kirchenbeamten zu den staatlichen Gerichten im Überblick In der Rechtsprechung und der Literatur, die inzwischen nahezu unüberschaubar geworden ist81, hat sich bisher keine einheitliche Meinung darüber herausgebildet, ob 80
OLG Köln, Urteil vom 23. 7. 2002, – 24 U 49/02 –, juris. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit (insbesondere ohne die zahlreichen Entscheidungsanmerkungen) sei – außer auf die oben in Fußn. 1 und 2 genannten Publikationen Schenkes – verwiesen auf Wolfgang Bock (Fußn. 5), S. 133 – 210 (Darstellung und Kritik der Rechtsprechung von BVerfG und BVerwG) und S. 252 ff; Axel Frhr. von Campenhausen, Staatliche Rechtsschutzpflicht und kirchliche Autonomie, ZevKR 17 (1972), 127 ff.; ders., Der staatliche Rechtsschutz im kirchlichen Bereich, AöR 112 (1987), 623 ff.; Axel Frhr. von Campenhausen/ Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., München 2006, S. 309 ff., Axel Frhr. von Campenhausen/Peter Unruh, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 6. Aufl., München 2010, Art. 137 WRV Rn. 113 ff.; Claus Dieter Classen, Religionsrecht, Tübingen 2006, S. 238 ff.; Michael Droege (Fußn. 47), ZevKR 49 (2004), 763 ff.; Dirk Ehlers, Staatlicher Rechtsschutz gegenüber den Religionsgemeinschaften in amts- und dienstrechtlichen Angelegenheiten, ZevKR 27 (1982), 269 ff., ders. (Fußn. 59), JuS 1989, 364 ff.; ders., in: Sachs, GGKommentar, 5. Aufl., München 2009, Art. 140 Rn. 15 – 17; Johann Frank, Dienst- und Arbeitsrecht, in: Friesenhahn/Scheuner (Hrsg.), HdbStKirchR (1. Aufl.), Berlin 1974, Bd. I, S. 669 ff., insbes. S. 693 ff.; Michael Germann, in: Epping/Hillgruber, GG-Kommentar, 81
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überhaupt und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen Pfarrer und Kirchenbeamte den Weg zu den staatlichen Gerichten beschreiten können, wenn sie sich München 2009, Art. 140 Rn. 54 – 58; ders., Staatliche Verwaltungsgerichte vor der Aufgabe der Justizgewährung in religionsgemeinschaftlichen Angelegenheiten, ZevKR 51 (2006), 589 ff.; ders. (Fußn. 50), ZevKR 54 (2009), 214 ff.; Christoph Goos (Fußn. 66), ZBR 2004, 159 ff.; Bernd Grzeszick, Staatlicher Rechtsschutz und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, AöR 129 (2004), 168 ff.; Konrad Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, Göttingen 1956, insbes. S. 83 ff.; Christian Hillgruber, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die Jurisdiktionsgewalt des Staates, in: FS für Rüfner, Berlin 2003, S. 297 ff.; Axel Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG-Kommentar, 12. Aufl. 2011, Vorb. vor Art. 92 Rn. 49 – 54; Hans D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, 11. Aufl., München 2011, Art. 140 Rn. 24; Bernd JeandÏHeur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000, S. 245 ff.; Karl-Hermann Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, Tübingen 1991, insbes. S. 237 ff.; ders. (Fußn. 78), Tendenzwende in der Rechtsprechung zum staatlichen Rechtsschutz in Kirchensachen, NVwZ 2000, 889 ff.; ders., Vergangenheit und Zukunft der Frage nach rechtsstaatlicher Judikatur in Kirchensachen, ZevKR 48 (2003), 301 ff.; Christian Kirchberg, Staatlicher Rechtsschutz in Kirchensachen, NVwZ 1999, 734 f.; Stefan Korioth, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, München, Stand: 60. ErgLfg./Okt. 2010, Art. 137 WRV Rn. 50 – 58 (Stand: 42. ErgLfg./Febr.2003); Stefan Magen, Der Rechtsschutz in Kirchensachen nach dem materiell-rechtlichen Ansatz, NVwZ 2002, 897 ff.; Hartmut Maurer, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche, Göttingen 1958, insbes. S. 106 ff.; ders., Grundprobleme der kirchlichen Gerichtsbarkeit, ZevKR 17 (1972), 48 ff.; ders., Kirchliche Streitigkeiten vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten, in: FS für Menger, Köln/Berlin/Bonn/München 1985, S. 285 ff.; Martin Morlok, in: Dreier, GGKommentar, 2. Aufl., Tübingen 2008, Art. 137 WRV insbes. Rn. 72 f.; Stefan Mückl, § 159 Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, 3. Aufl., Bd. VII, Heidelberg 2009, S. 711 ff., 782 ff., insbes. Rn. 122; Achim Nolte, Durchbruch auf dem Weg zu einem gleichwertigen staatlichen Rechtsschutz in Kirchensachen?, NJW 2000, 1844 f.; Martin Pabst, Zum Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht, ZevKR 172 (1972), 116 ff.; Dietrich Pirson, Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 845 ff., insbes. S. 871 ff.; Wolfgang Rüfner, Zuständigkeit staatlicher Gerichte in kirchlichen Angelegenheiten, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR (s. o.), S. 1081 ff.; ders., Staatlicher Rechtsschutz gegen Kirchen und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, in: FS für Schiedermair, Heidelberg 2001, S. 165 ff.; Michael Sachs, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, DVBl. 1989, 487 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (s. o.), Art. 19 Abs. 4 Rn. 111 – 115 (Stand: 42. ErgLfg./ Febr. 2003); Udo Steiner, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, NVwZ 1989, 410 ff.; ders., Zur Rechtsschutzsituation von Kirchenbediensteten im verwaltungsgerichtlichen Rechtschutz, in: FS für Richardi, München 2007, S. 979 ff.; Klaus Stern, Das Staatrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1980, S. 925 f.; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, BadenBaden 2009, S. 127 – 137 (Rn. 208 – 224); Hermann Weber, Der Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht, NJW 1967, 1641 ff.; ders., Auslegung und Rechtsgültigkeit der Versetzungsbefugnis nach § 71 I c Pfarrergesetz der VELKD, ZevKR 15 (1970), 20 ff., 51 ff.; ders., Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, NJW 1989, 2217 ff.; ders., Bindung der Kirchen an staatliche und innerkirchliche Grundrechte und das Verhältnis der Grundrechtsgewährleistungen zueinander, ZevKR 42 (1997), 282 ff.; ders., Kontroverses zum Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Amtsrecht, NJW 2003, 2067 ff.; ders. (Fußn. 50), NJW 2009, 1179 ff.; ders., Kirchlicher Rechtsschutz und staatliche Gerichtsbarkeit, in: 50 Jahre Kirchliches Verfassungs- und Verwaltungsgericht der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 1952 – 2002, hrsg. vom KVVG, Darmstadt 2003, S. 20 ff.; Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Köln 2008, S. 212 – 222.
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gegen eine Maßnahme ihrer Kirche zur Wehr setzen wollen. Die vorgeschlagenen Lösungsansätze82 können hier nur knapp vorgestellt werden, ohne auf Einzelheiten und die mannigfachen Variationen einzugehen. Wie oben dargestellt wurde, verbarrikadieren BVerfG und BVerwG den Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit und die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung, die Kirchen übten zwar öffentliche, aber keine staatliche Gewalt aus, Art. 19 Abs. 4 GG und § 90 Abs. 1 BVerfGG setzten jedoch Akte staatlicher Gewalt voraus. Das überzeugt nicht. Wie ich an anderer Stelle83 dargelegt haben, üben die korporierten Kirchen bei der Nutzung der sich aus ihrer Dienstherrenfähigkeit ergebenden Befugnisse öffentliche Gewalt aus, die ihnen vom Staat verliehen worden ist. Die Ausübung öffentlicher Gewalt besteht in der einseitigen Regelung der Dienstverhältnisse, wie sie sich insbesondere in kirchlichen Gesetzen und Verwaltungsakten sowie in kirchengerichtlichen Entscheidungen manifestiert. Damit sind die Voraussetzungen der beiden genannten Vorschriften erfüllt. Daraus darf jedoch nicht voreilig der Schluss gezogen werden, alle Maßnahmen die die Kirchen in Ausübung der Dienstherrenfähigkeiten vornehmen, seien ohne weiteres vor den staatlichen Gerichten anfechtbar; darauf werde ich unter V. näher eingehen. Die Lehre von der Subsidiarität der staatlichen Gerichtsbarkeit geht davon aus, dass die Kirchen in der Lage sind, den staatlichen Rechtsweg dadurch auszuschließen, dass sie die Streitigkeiten zwischen Pfarrern oder Kirchenbeamten einerseits und ihrer Kirche andererseits kirchlichen Gerichten zuweisen. Das vermag insoweit nicht zu überzeugen, als es um die Überprüfung am Maßstab staatlichen Rechts geht; die Kirchen sind nicht imstande, es den staatlichen Gerichten zu verwehren, kirchliche Maßnahmen anhand des staatlichen Rechts zu überprüfen. Anders verhält es sich – wie noch zu zeigen wird – wenn es um die Überprüfung am Maßstab des kirchlichen Rechts geht. Der Angebotslehre zufolge sind die staatlichen Gerichte dann zuständig, wenn sich Staat und Kirche darüber einig sind. Auch ihr kann nicht gefolgt werden, soweit es um die Überprüfung am Maßstab des staatlichen Rechts geht; dafür benötigen die staatlichen Gerichte nicht die Zustimmung der Kirchen. Der Angebotslehre ist indessen insofern zuzustimmen, als Kirche und Staat sich darüber verständigen können, dass die staatlichen Gerichte kirchliche Maßnahmen auch anhand des Kirchenrechts überprüfen dürfen. Auch das wird später dargelegt werden. Die Bereichslehre (Bereichsscheidungslehre)84 unterscheidet innerkirchliche Angelegenheiten, die der staatsgerichtlichen Überprüfung von vornherein entzogen 82 Einen guten, auch noch heute weitgehend gültigen Überblick über die seinerzeit vertreten Konzeptionen gab vor fast 30 Jahren Ehlers (Fußn. 81), ZevKR 27 (1982), 269 ff., 275 – 286. 83 In der etwa gleichzeitig erscheinenden FS für Klaus Stern zum 80. Geburtstag unter IV 2 c bb. 84 Ihr hängen – wie gezeigt – BVerfG und BVerwG an. Sie wird von der Literatur heute ganz überwiegend abgelehnt, u. a. von Bock (Fußn. 5), S. 256; von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 634 f., 647; von Campenhausen/de Wall (Fußn. 81), S. 317; Ehlers
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seien (z. B. Kultus, Lehre, Seelsorge, innerkirchliche Organisation), einerseits, und über den kirchlichen Bereich hinauswirkende Angelegenheiten, die der Überprüfung durch staatliche Gerichte zugänglich seien, andererseits. Auf dem Gebiet des Dienstrechts werden statusrechtliche Streitigkeiten der ersten Kategorie, vermögensrechtliche Auseinandersetzungen der zweiten zugeschlagen. Dieser Lehre wird vorgehalten, ein klarer Trennungsstrich zwischen den beiden Kategorien könne nicht gezogen werden, insbesondere die Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche (etwa auf den Differenzbetrag zwischen Dienstbezügen einerseits und Versorgungsbezügen oder Wartegeld andererseits) sei oftmals nicht möglich, ohne zuvor den Status (Rechtmäßigkeit der Versetzung in den Ruheoder Wartestand) zu klären (Stichwort: verkappte Statusklage). Unklar ist auch, was alles unter den Begriff der statusrechtlichen Streitigkeiten fällt. Gemeint sind damit in erster Linie Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit der Entlassung oder der Versetzung in den Ruhe- oder den Wartestand. Das findet seinen Ausdruck in der häufig erhobenen Forderung, der Kirche dürfe kein Bediensteter, insbesondere kein Geistlicher, durch eine staatsgerichtliche Entscheidung „aufgezwungen“ werden und deshalb müssten Klagen gegen die Entlassung oder die Versetzung in den Ruhe- oder Wartestand a limine ausgeschlossen werden. Dass die Arbeitsgerichte ebendies tun, wenn sie Kündigungsschutzklagen stattgeben, wird von manchen offenbar nicht gesehen, von anderen beklagt. Abgesehen davon drängt sich die kaum erörterte Frage auf, ob auch die Klage gegen eine Versetzung oder Umsetzung, gegen die Zuweisung einer Dienstwohnung oder auf Gewährung von (Sonder-)Urlaub und ähnliche nichtvermögensrechtliche Maßnahmen als statusrechtliche Streitigkeiten anzusehen sind und demzufolge von der staatgerichtlichen Überprüfung ausgeschlossen sein sollen. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Unterscheidung von statusrechtlichen und vermögensrechtlichen Streitigkeiten sehr grobschlächtig ist und letztlich nicht zu befriedigen vermag. Der Bereichslehre verwandt ist die von Hermann Weber85 propagierte Lehre von der Trennung von Amts- und Dienstverhältnis. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die Kirchenbeamten und vor allem die Pfarrer gleichzeitig in einem geistlichen Amtsund einem weltlichen Dienstverhältnis stehen. Während die Ausgestaltung des Amtsverhältnisses eine rein innerkirchliche Angelegenheit sei, die staatlichen Einflüssen (Fußn. 81), ZevKR 27 (1982), 269 ff., 282 ff.; ders. (Fußn. 59), JuS 1989, 364 ff., 369 f.; Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 293; Morlok (Fußn. 81), Rn. 62. 85 Weber (Fußn. 81), NJW 1967, 1641 ff., 1644 ff.; ders., ZevKR 15 (1970), 20 ff., 56. Ob er auch in seinen jüngeren Publikationen an seiner Konzeption festhält oder sich der Bereichslehre anschließen will, ist nicht ganz eindeutig. In NJW 1989, 2217 ff., 2219 f., plädiert er eher für die Bereichslehre, aber auch die Unterscheidung von Amts- und Dienstverhältnis taucht auf (S. 2226). In ZevKR 42 (1997), 282 ff., erklärt er, er möchte „entgegen aller Kritik – wenn auch mit gewissen Modifikationen – an der von der Rechtsprechung und Teilen des Schrifttums nach wie vor vertretenen ,BereichslehreÐ festhalten“ (S. 285). Diese kombiniert er mit der Güterabwägungslehre (S. 286 f.). Ebenso ders. (Fußn. 81), NJW 2003, 2067 ff., 2069, und in 50 Jahre (Fußn. 81), S. 28 f.
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und damit auch den staatlichen Gerichten verschlossen sei, seien kirchliche Maßnahmen, die das Dienstverhältnis betreffen, der staatsgerichtlichen Überprüfung ohne Einschränkung zugänglich. Auch diese Theorie hat auf den ersten Blick durchaus etwas für sich. Ob das allerdings dazu berechtigt, die staatsgerichtliche Überprüfung kirchlicher Maßnahmen, die das Amtsverhältnis betreffen, und solche, die das Dienstverhältnis betreffen, in Hinblick auf die Überprüfbarkeit durch staatliche Gerichte unterschiedlich zu behandeln, erscheint zumindest zweifelhaft. Überdies lässt sich eine Trennung von Amts- und Dienstverhältnis allenfalls unter Schwierigkeiten vornehmen. Die unterschiedliche Behandlung von geistlichem Amts- und weltlichem Dienstverhältnis wird denn auch ganz überwiegend abgelehnt86. Zwischen geistlichem Amts- und weltlichem Dienstverhältnis unterscheidet auch der Jubilar87. Er tritt für einen weitgehenden staatlichen Rechtsschutz der Pfarrer und Kirchenbeamten ein, will jedoch solche kirchlichen Maßnahmen der staatsgerichtlichen Judikatur entziehen, die in die geistliche Ämterstellung eingreifen88. Demgemäß bestehe kein Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gegen kirchliche Maßnahmen, die auf Einschränkung der sich aus der Ämterstellung von Geistlichen und Kirchenbeamten ergebenden Befugnisse hinauslaufen. So könne nicht gegen das Verbot der Wortverkündigung oder der Erteilung von Sakramenten vorgegangen werden. Im Ergebnis zu Recht habe deshalb das BVerfG angenommen, dass die staatlichen Gerichte nicht über eine Entscheidung im kirchlichen Lehrbeanstandungsverfahren judizieren dürfen. Die Ausklammerung des geistlichen Amtsverhältnisses könne nicht durch den Hinweis auf die Schwierigkeiten einer Trennung zwischen dem weltlichen Dienst- und dem geistlichen Amtsverhältnis in Frage gestellt werden. Diese für den Rechtsschutz maßgebliche Differenzierung erweise sich vielmehr als durchaus praktikabel, da die Amtsenthebung eines Geistlichen regelmäßig noch nicht zur Beendigung von dessen Dienstverhältnis führe. Eine Beschränkung des Rechtsschutzes auf vermögensrechtliche Streitigkeiten lehnt Schenke89 ab. Die Befürchtung, ein staatlicher Rechtsschutz bei statusrechtlichen Streitigkeiten könnte zu einer zu starken Einschränkung der kirchlichen Autonomie führen, lasse sich dadurch zerstreuen, dass die staatlichen Gerichte auch bei der Überprüfung derartiger Entscheidungen hinsichtlich des Umfangs der Überprüfung Beschränkungen unterliegen. So wäre etwa die gegen seine Entlassung gerichtete Klage eines Geistlichen regelmäßig dann unbegründet, wenn die Entlassung mit von dem Geistlichen vertretenen Irrlehren begründet würde. Etwas anderes müsse jedoch dann angenommen werden, wenn diese Gründe offensichtlich nur vorgeschoben wurden oder gegen Verfahrensvorschriften bei der Entlassung verstoßen wurde90.
86 So von von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 647; Kästner, Staatliche Justizhoheit (Fußn. 81), S. 262., je m.w.N. 87 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 141; ders., BK (Fußn. 2), Rn. 272. 88 Etwas anders allerdings der Ansatz in Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, Heidelberg 2009, S. 974 (Rn. 82), wo Schenke schreibt, rein innerkirchliche Angelegenheiten dürften der richterlichen Überprüfung nicht unterworfen werden. Das deutet eher auf die Bereichslehre hin. 89 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 142; ders., BK (Fußn. 2) Rn. 274. 90 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 142 f.
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Des größten Zuspruchs in der Literatur erfreut sich gegenwärtig die sog. Abwägungslehre91, die ohne Rücksicht auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht die Türen zu den staatlichen Gerichten weit aufsperrt und erst bei Prüfung der Begründetheit eine Abwägung zwischen Justizgewährungsanspruch einerseits und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht andererseits vornimmt. Ihr hängt auch der BGH in den oben referierten Urteilen vom 11. 2. 2000 und 28. 3. 2003 an. Das wirkt auf den ersten Blick ungemein rechtsschutzfreundlich, hat aber einen Pferdefuß, wie – pars pro toto – anhand der Ausführungen von Axel v. Campenhausen und Peter Unruh92 erläutert werden soll: Die staatliche Justizgewährungspflicht erfordere, so schreiben sie, den uneingeschränkten Zugang zu den staatlichen Gerichten. Das Selbstbestimmungsrecht schränke nicht die staatliche Justizgewährungspflicht ein, sondern nur den konkreten Umfang der Justiziabilität93. Erst bei der Begründetheitsprüfung sei eine Güterabwägung vorzunehmen, die dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht Rechnung zu tragen habe94. Diese Abwägung sei grundsätzlich in jedem Einzelfall vorzunehmen. Dann aber bekommen die Autoren offenbar Angst vor der eigenen Courage und nehmen eine gewichtige Einschränkung vor: Für einzelne Fallgruppen ließen sich jedoch generalisierende Aussagen treffen. So sei die Justiziabilität von Streitfragen aus den Bereichen von religiöser Lehre, Kultus und Seelsorge ausgeschlossen. Im Bereich des Dienstrechts der Geistlichen und Beamten sei zu differenzieren: Vermögensrechtliche Fragen seien einer eigenen Entscheidung durch die staatlichen Gerichte zugänglich. Eine Überprüfung statusrechtlicher Fragen sei hingegen ausgeschlossen95, denn hier falle die Güterabwägung nicht zuletzt aufgrund der Schwere des Eingriffs in die Ämterhoheit der Religionsgemeinschaften zugunsten des Selbstbestimmungsrechts aus96. Das wird an späterer Stelle97 nochmals bekräftigt mit dem Satz, eine Überprüfung von Statusfragen durch staatliche Gerichte sei wegen Art. 140 GG i.V.m.
91 von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 120, 123; Ehlers (Fußn. 59), JuS 1989, 364 ff., 370; ders., in: Sachs (Fußn. 81), Rn. 17; Germann, in: Epping/Hillgruber (Fußn. 81), Rn. 56; Jarass (Fußn. 81); JeandÏHeur/Korioth (Fußn. 81), S. 252 (Rn. 366); Korioth (Fußn. 81), Rn. 56; Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 293; Morlok (Fußn. 81), Rn. 63, 73; Schmidt-Aßmann (Fußn. 81), Rn. 115; Unruh (Fußn. 81), S. 132 (Rn. 217). 92 von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Art. 137 WRV Rn. 113 ff. 93 AaO, Rn. 120. 94 AaO, Rn. 123. 95 Für den Ausschluss statusrechtlicher Streitigkeiten von der staatsgerichtlichen Kontrolle plädieren – von unterschiedlichen Standpunkten aus – auch von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 648; von Campenhausen/de Wall (Fußn. 81), S. 322 f.; Classen (Fußn. 81), S. 247 (Rn. 600: Ein staatliches Entscheidungsrecht bei Streitigkeiten um die Inhaberschaft von Ämtern würde das Selbstbestimmungsrecht in seinem Kern missachten); Hillgruber (Fußn. 81), S. 309; Magen (Fußn. 81), NVwZ 2002, 897 ff., 902; Mückl (Fußn. 81), S. 784 (Rn. 122); Rüfner, HdbStKirchR (Fußn. 81), S. 1104; ders., FS Schiedermair (Fußn. 81), S. 176 ff. 96 von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 124. 97 von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 147.
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Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRVausgeschlossen; insoweit könne der höchstrichterlichen Rechtsprechung gefolgt werden98.
Bei der Lektüre drängt sich die Frage auf, welchen Sinn es haben mag, eine statusrechtliche Klage für zulässig zu erklären, um sie sogleich als unbegründet abzustempeln. Muss sich der Rechtsschutzsuchende nicht gefoppt vorkommen? Angesichts dessen scheint mir die Konzeption der Gerichte denn doch ehrlicher zu sein, den statusrechtlichen Klagen schon die Zulässigkeit zu versagen. Außerdem wird durch die unterschiedliche Behandlung von Statusfragen und vermögensrechtlichen Angelegenheit doch wieder eine Bereichsscheidung eingeführt, die die Verfasser zuvor verworfen hatten. Die der Bereichsscheidung anhaftenden Mängel werden nicht dadurch geringer, dass sie von der Zulässigkeits- in die Begründetheitsstation verschoben werden. Auf Bedenken stößt vor allem der Hauptglaubenssatz der Abwägungslehre, nämlich die Behauptung, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht schränke nicht die Justizgewährungspflicht des Staates ein, sondern nur das Maß der Justiziabilität der angegriffenen kirchlichen Entscheidung99. Warum eigentlich? Selbstbestimmungsrecht und Justizgewährungspflicht haben doch denselben Rang, und Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistet den Kirchen doch das Recht, Streitigkeiten über ihre eigenen Angelegenheiten durch eigene Gerichte beizulegen. Diese Komponente des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts wird von der Abwägungslehre völlig negiert. Darüber wird noch zu reden sein (s.u. V.). Der sog. materiell-rechtliche Ansatz ist – wenn ich es recht sehe – zuerst von Hartmut Maurer100 entwickelt worden. Maßgebend sei das materielle Recht. Das Prozessrecht folge dem materiellen Recht, dessen Durchsetzung es dient, nicht umgekehrt. Aus der staatlichen Justizgewährungspflicht ergebe sich, dass die staatlichen Gerichte im Streitfall über alle im staatlichen Recht begründeten Ansprüche zu entscheiden haben. Es sei aber gerade die Frage, ob das kirchliche Recht dem staatlichen Recht zuzurechnen sei oder ob es nicht eigenständig neben dem staatlichen Recht bestehe. An dieser Fragestellung entscheide sich auch der Rechtsschutz staatlicher Gerichte in Kirchensachen101. Nachdem er festgestellt hat, die von den Kirchen erlassenen Rechtsvorschriften seien eigenständiges, aus eigener Quelle fließendes Recht102, gelangt Maurer zu dem Schluss, Streitigkeiten aus dem Pfarrer- und Kirchenbeamtenverhältnis seien kirchenrechtliche Streitigkeiten und deshalb der staatlichen Gerichtsbarkeit nicht zugänglich. Diese sei allenfalls über den Schrankenvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 WRV zuständig, nämlich dann, wenn geltend gemacht
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Dies tun die Verfasser jedoch gar nicht, denn sie wollen die Klage als unbegründet abweisen, während die Gerichte die Klage für unzulässig halten, weil der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht offen stehe. 99 So beispielsweise Ehlers, in Sachs (Fußn. 81), Art. 140 Rn. 17. 100 Maurer, FS Menger (Fußn. 81). 101 AaO, S. 285. 102 AaO, S. 290.
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werden kann, dass das kirchliche Dienstgesetz oder seine Anwendung gegen eine unter das für alle geltende Gesetz fallende Rechtsnorm verstößt103. Ebenfalls von dem materiell-rechtlichen Ansatz ausgehend, gelangt Stefan Magen104 zu stark abweichenden Ergebnissen, indem er das kirchliche Recht dem staatlichen Recht quasi einverleibt. Der Justizgewährungsanspruch – so lautet sein Resümee – verpflichte die staatlichen Gerichte, auch Streitgegenstände aus dem autonomen und dem weltlich wirksamen eigenständigen Kirchenrecht zu entscheiden, weil beide Bestandteile der staatlichen Rechtsordnung seien105. Wie sich zeigen wird, verdienen die Überlegungen Maurers weitgehend Zustimmung, während diejenigen Magens nicht zu überzeugen vermögen.
Ungewöhnliche Einigkeit besteht darüber, dass eine Klage zum staatlichen Verwaltungsgericht mangels Rechtsschutzbedürfnisses in der Regel solange unzulässig ist, wie der Betroffene die Möglichkeit kirchengerichtlichen Rechtsschutzes nicht ausgeschöpft hat, obwohl ihm das zuzumuten wäre106. V. Lösungsvorschlag 1. Justizgewährungspflicht und Justizgewährungsanspruch Art. 92 GG vertraut die rechtsprechende Gewalt den Richtern des Staates an. Ihre Aufgabe ist es, dem staatlichen Recht Geltung zu verschaffen und demjenigen Rechtsschutz zu gewähren, der geltend macht, ihm ständen subjektive Rechte aufgrund des objektiven Rechts zu (Justizgewährungspflicht, Art. 92 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Dieser Pflicht der staatlichen Gerichte korrespondiert der Justizgewährungsanspruch des Bürgers (Art. 92 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 2 Abs. 1 GG bzw. einem eventuell eingreifenden speziellen Grundrecht). Eine besondere Ausprägung dieses Anspruchs ist der Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG für den Fall, dass der Bürger geltend macht, durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt zu sein. Soweit der Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG reicht, ist für den (allgemeinen) Rechtsschutzgewährungsanspruch kein Raum107. Wie ich an anderer Stelle108 dargelegt habe, üben 103 AaO, S. 295. In seiner Urteilsanmerkung JZ 2000, 1113 ff., 1115, stellt Maurer die „Faustregel“ auf, die staatlichen Gerichte hätten über die Anwendung des staatlichen Rechts, die kirchlichen Gerichte über die Anwendung innerkirchlichen Rechts zu entscheiden. 104 Magen (Fußn. 81), NVwZ 2002, 897 ff. 105 AaO, S. 903. 106 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 143; ders., BK (Fußn. 2), Rn. 280; von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 638 ff., 641; von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 131; Classen (Fußn. 81), S. 242 (Rn. 589); Ehlers, in: Sachs (Fußn. 81), Rn. 17 (unter Zurückstellung früher in ZevKR 27 [1982], 269 ff., 290 geäußerter Bedenken); JeandÏHeur/ Korioth (Fußn. 81), S. 253 (Rn. 367); Rüfner, HdbStKirchR (Fußn. 81), S. 1115; SchmidtAßmann (Fußn. 81), Rn. 115; Weber, 50 Jahre (Fußn. 81), S. 33. 107 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 137. Zum Verhältnis Art. 19 Abs. 4 GG/allgemeiner Justizgewährungsanspruch siehe BVerfG, Plenumsbeschluss vom 30. 4. 2003, BVerfGE 107, 395 ff.
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die Kirchen bei Ausübung ihrer Dienstherrenbefugnisse vom Staat abgeleitete öffentliche Gewalt aus109. Des Rückgriffs auf den allgemeinen Justizgewährungsanspruch bedarf es daher hier nicht110 ; er ist aber unschädlich, weil er zum selben Ergebnis führt. 2. Staatliches Recht und kirchliches Recht Sowohl in der Rechtsprechung111 als auch im der Literatur112 wird unter Berufung auf die Justizgewährungspflicht häufig betont, die staatlichen Gerichte seien zur Entscheidung aller Rechtsstreitigkeiten berufen, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet, oder – andere Formulierung – der Justizgewährungsanspruch gelte für alle Rechtsfragen, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet. Während für die privatrechtlich Beschäftigten der Kirchen das staatliche Arbeitsrecht gilt, das unstreitig zu jenem „staatlichen Recht“ zählt, sind die Rechtsverhältnisse der Kirchenbeamten und Pfarrer fast ausschließlich durch kirchliche Gesetze und Verordnungen geregelt (siehe oben II. 2. und 3.). Das gilt sowohl für die statusrechtliche als auch für die vermögensrechtlichen Angelegenheiten. Damit stellt sich die – bereits von Maurer113 aufgeworfene – Frage, ob diese kirchlichen Regelungen Teile des „staatlichen Rechts“ sind. Das wird von einem Teil der Literatur bejaht mit dem Argument, die Kirchen betätigten hier vom Staat abgeleitete hoheitliche Gewalt, und deswegen sei bei Streitigkeiten eine umfassende Zuständigkeit der staatlichen Gerichte von Verfassungs wegen gegeben114. Die Prämisse ist richtig, der daraus abgeleitete Schluss falsch. 108
In der etwa gleichzeitig erscheinenden Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag. Auf Art. 19 Abs. 4 GG rekurrieren auch der Jubilar, FS Faller (Fußn. 1), S. 138 und öfter; ders., BK (Fußn. 2), Rn. 271 f. und öfter; von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 627, 648; von Campenhausen/de Wall (Fußn. 81), S. 322; Schmidt-Aßmann (Fußn. 81), Rn. 115; Korioth (Fußn. 81), Rn. 56. 110 Die Justizgewährungspflicht bzw. der Justizgewährungsanspruch wird herangezogen von Bock (Fußn. 5), S. 310 f.; Ehlers, in: Sachs (Fußn. 81), Rn. 17; Germann, in: Epping/ Hillgruber (Fußn. 81), Rn. 55; Hillgruber (Fußn. 81), S. 303; Magen (Fußn. 81), NVwZ 2002, 897 ff., 901; Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 285; Steiner, FS Richardi (Fußn. 81), S. 981 f.; Weber (Fußn. 81), NJW 1989, 2217 ff, 2218; auch vom Jubilar, VwGO (Fußn. 2), § 40 Rn. 40 sub c. 111 BVerwG, Urteil vom 28. 2. 2002, BVerwGE 116, 86 ff., 88; BGH, Urteile vom 11. 2. 2000, DVBl. 2000, 999 ff., 1000, und 28. 3. 2003, BGHZ 154, 306 ff., 309. 112 von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 627, 630; von Campenhausen/ de Wall (Fußn. 81), S. 311 (die staatlichen Gerichte seien grundsätzlich zur Entscheidung aller Rechtsfragen berufen, die nach staatlichem Recht beurteilt werden müssen), ähnlich nochmals S. 314 (unstreitig hätten die staatlichen Gerichte über alle auf staatlichem Recht beruhenden Ansprüche zu entscheiden); von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 117, 120, 122; Jarass (Fußn. 81); JeandÏHeur/Korioth (Fußn. 81), S. 246 (Rn. 360); Korioth (Fußn. 81), Rn. 51 (anders aber Rn. 56: staatlich geschützte Rechtspositionen); Unruh (Fußn. 81), S. 130 (Rn. 214, 217). 113 Siehe oben Text bei Fußn. 100. 114 von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 648. 109
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Richtig ist, dass die Kirchen dann, wenn sie von ihrer Dienstherreneigenschaft Gebrauch machen und die dienstlichen Verhältnisse öffentlich-rechtlich ausgestalten, hoheitliche Gewalt ausüben. Die Ausübung hoheitlicher Gewalt besteht darin, dass die Kirchen die Rechtsbeziehungen zu ihren Beamten und Pfarrern einseitig ausgestalten, ohne also auf deren Einverständnis angewiesen zu sein. Richtig ist ferner, dass diese Hoheitsgewalt vom Staat abgeleitet worden ist (Art. 137 Abs. 5 WRV). Daraus kann jedoch nicht die Folgerung abgeleitet werden, das kirchliche Beamten- und Pfarrerrecht sei staatliches Recht. Die Kirchen sind unbestritten kein Teil des Staates. Mit der Regelung des Pfarrer- und Beamtenrechts nehmen sie auch keine staatlichen, sondern eigene Angelegenheiten im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV wahr. Da das Pfarrer- und Beamtenrecht der Kirchen demgemäß kein staatliches Recht ist, sind die staatlichen Gericht nicht für Streitigkeiten zuständig, die sich aus der Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ergeben, wenn man den Satz ernst nimmt, dass die Staatsgerichte nur zur Entscheidung von solchen Streitigkeiten berufen sind, deren Beurteilung sich nach staatlichem Recht richtet. Zu einem abweichenden Ergebnis gelangen indessen einige Autoren, indem sie annehmen, für die Eröffnung des Rechtsweges reiche es aus, dass der Kläger die Verletzung eines Rechts geltend macht, das den Schutz der staatlichen Rechtsordnung genießt. So knüpft Ehlers115 die Zulässigkeit des staatlichen Rechtswegs an die Voraussetzung, dass der Kläger eine Verletzung gesetzlich geschützter Rechtspositionen des staatlichen Rechts geltend macht116 ; dann erklärt er, die staatliche Rechtsordnung verlange, dass die Kirchen die von ihnen gegenüber ihren Bediensteten eingegangenen dienstrechtlichen Verpflichtungen einhalten117. Auf diese Weise impliziert jede Verletzung kirchlichen Rechts einen Verstoß auch gegen das staatliche Recht. Das vermag schwerlich zu überzeugen. Denn dadurch wird das kirchliche Recht in das staatliche Recht gewissermaßen inkorporiert und das Beharren auf einer Verletzung des staatlichen Rechts als Voraussetzung für die Zulässigkeit des staatlichen Rechtswegs obsolet118.
115
Ehlers (Fußn. 81), ZevKR 27 (1982), 269 ff. Ehlers, aaO S. 287. 117 Ehlers (Fußn. 81), S. 292. Zur Erläuterung fügt er an: Habe sich die Kirche durch kirchliche Rechtsnormen etwa zur Zahlung eines 13. Monatsgehalts oder zur Gestattung bestimmter Nebentätigkeiten verpflichtet, könne sich der einzelne Bedienstete darauf mit weltlicher Wirkung berufen, was doch wohl besagen sollt, dass der Bedienstete dafür staatlichen Rechtsschutz soll in Anspruch nehmen können. 118 In einem späteren Beitrag behauptet Ehlers (Fußn. 59), JuS 1989, 364 ff., 367, wenn ein Pfarrer gegen seine Zwangsbeurlaubung oder seine Versetzung in den Wartestand klage, gehe es ihm nicht um die Klärung lediglich kirchenrechtlicher Fragen, sondern er berufe sich darauf, „daß die konkrete Anwendung der Kirchengesetze hier diejenigen Mindestgarantien verletzt, welche die staatliche Rechtsordnung allen Rechtssubjekten in ihrer Stellung als Staatsbürger und Beschäftigte garantiert“. Gerügt werde also die Verletzung staatlich geschützter Rechtspositionen. Welche Rechtspositionen dies sind, verschweigt der Autor. 116
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Kästner119 vertritt die Ansicht, für die Zulässigkeit des Rechtswegs zu den staatlichen Gerichten sei erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Verletzung eines Rechts geltend gemacht wird, das den Schutz der staatlichen Rechtsordnung genießt. Keine ausschlaggebende Bedeutung habe der Ursprung der für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Rechtsgrundlagen. Soweit staatlichen Gerichten nach Maßgabe der geltenden Justiz- und Religionsverfassung eine Kompetenz zur Ausübung von Rechtsprechungsfunktionen zukommt, sei ihnen auch die Anwendung von Rechtsnormen, die durch Kirchen oder Religionsgemeinschaften erlassen wurden, nicht verschlossen. Es bestehe deshalb keine Veranlassung, den Kompetenzbereich seinerseits von der Qualität des für den Prozessgegenstand einschlägigen Rechts abhängig zu machen und anzunehmen, die staatlichen Gerichte könnten in Kirchensachen Rechtsschutz allenfalls insoweit gewähren, als sie staatliches Recht anzuwenden hätten120. Magen121 schreibt: Weil die staatlichen Gerichte aufgrund ihrer Justizgewährungspflicht das gesamte materielle Recht anzuwenden hätten, seien in Kirchensachen nicht nur Streitigkeiten aus dem vom Staat gesetzten Recht und aus dem autonomen Kirchenrecht zulässig, sondern auch aus dem weltlich wirksamen eigenständigen Recht der Religionsgemeinschaften.
Das vermag nicht zu überzeugen. Denn alle diese Bemühungen, den Zuständigkeitsbereich der staatlichen Gerichtsbarkeit auszuweiten, laufen letztlich darauf hinaus, das kirchliche in das staatliche Recht zu inkorporieren, und sie verkennen vor allem die Bedeutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts für den Umfang der staatlichen Justizgewährungspflicht, wie sogleich dargelegt werden wird. 3. Die Beschränkung der staatlichen Justizgewährungspflicht durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht Art. 137 Abs. 3 WRV bestimmt, dass jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet (Satz 1) und dass sie ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde verleiht (Satz 2). Das Ordnen geschieht durch den Erlass abstrakt-genereller Regeln. So können die Kirchen beispielsweise bestimmen, welche Organe und Ämter es geben soll, welche Anforderungen an die Amtsinhaber gestellt werden sollen, unter welchen Voraussetzungen sie eingestellt, versetzt und entlassen werden können, welche Vergütung sie für ihre Tätigkeit erhalten sollen und ob sie eine Altsversorgung bekommen sollen. Das Verwalten erfolgt durch konkret-individuelle Maßnahmen, und zwar in der Regel in Vollzug der zuvor gesetzten abstrakt-generellen Regeln. So wird etwa entschieden, welcher Person ein bestimmtes Amt übertragen werden soll, ob ein bestimmter Amtswalter eingestellt, versetzt oder entlassen werden soll, ob ihm Urlaub oder eine Beihilfe gewährt werden soll. 119 Kästner, Staatliche Justizhoheit (Fußn. 81), S. 172 ff. m.w.N.; ders. (Fußn. 81), ZevKR 48 (2003), 301 ff., 306 f. 120 Kästner, Staatliche Justizhoheit (Fußn. 81), S. 174 f. 121 Magen (Fußn. 81), NVwZ 2002, 897 ff., 901.
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Darüber hinaus umfasst der Begriff des Verwaltens – darüber besteht völlige Einigkeit122 – auch die Entscheidung von Streitigkeiten, die sich aus Maßnahmen des Ordnens oder Verwaltens ergeben, z. B. Streitigkeiten darüber, ob die im konkreten Fall getroffene Entscheidung über Versetzung, Entlassung oder die Verweigerung von Urlaub oder Beihilfe mit den abstrakt-generellen Regeln des kirchlichen Rechts in Einklang steht. Diese Aufgabe erfüllen die kirchlichen Verwaltungsgerichte123. Auch in deren Kompetenzen darf der Staat – und eben dies wird offenbar immer wieder übersehen – nicht eingreifen, soweit es um die Auslegung und Anwendung des kirchlichen Rechts geht, das ja Ausdruck des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts ist. Dieses Ingerenzverbot gilt nicht nur für den staatlichen Gesetzgeber und die staatliche Verwaltung, sondern auch für die staatlichen Gerichte. Die gegenteilige Ansicht würde dazu führen, dass das Recht der Kirche zur eigenverantwortlichen gesetzlichen Ausgestaltung des Ämterwesens und zur administrativen Umsetzung dieser kirchlichen Vorschriften unterlaufen wird. Das bedeutet, dass die staatlichen Gerichte nicht befugt sind, kirchliche Maßnahmen auf dem Gebiete des öffentlichen Dienstrechts daraufhin zu überprüfen, ob sie gegen kirchliches Recht verstoßen; das ist gemäß Art. 137 Abs. 3 WRV vielmehr grundsätzlich ausschließlich die Aufgabe der kirchlichen Gerichte. Zugunsten eines „Zuständigkeitsmonopols“ der kirchlichen Gerichte für die Interpretation und Anwendung des kirchlichen Rechts spricht auch die eher pragmatische Erwägung, dass diese Vorschriften von den kirchlichen Normgebern darauf angelegt sind, in einer bestimmten Art und Weise interpretiert zu werden, nämlich im Lichte des Evangeliums124. Hierfür sind die – großenteils mit hoch qualifizierten Juristen und Pfarrern besetzten125 – Kirchengerichte weit besser gerüstet als die Richter der staat122
Siehe etwa Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 289; von Campenhausen/Unruh (Fußn. 81), Rn. 131. 123 Zur kirchlichen Gerichtsbarkeit der evangelischen Kirchen grundlegend Hartmut Maurer, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit der evangelischen Kirche, Göttingen 1958. Einen Überblick über den gegenwärtigen Stand geben Ernst-Lüder Sollte, Artikel „Gerichtsbarkeit, kirchliche“, in: Ev. Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006, Sp. 748 ff.; Burkhard Guntau, Die Neuordnung der Rechtspflege in der Ev. Kirche in Deutschland, ZevKR 51 (2006), 327 ff., und Harald Schliemann, Die neue Ordnung der Kirchengerichtsbarkeit in der Ev. Kirche in Deutschland, NJW 2005, 392 ff. 124 Darauf weist u. a. Weber, Kirchlicher Rechtsschutz und staatliche Gerichtsbarkeit (Fußn. 81), S. 20 ff., 24, hin. 125 Winter (Fußn. 81), S. 214 f., weist darauf hin, die kirchlichen Gerichte seien bereits in erster Instanz z. T. mit hochrangigen Richtern aus dem Bereich der staatlichen Rechtspflege besetzt. Von den 15 Richtern des Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (Darmstadt) sind gegenwärtig 3 Pfarrer (von denen einer auch Jurist ist), 1 Rechtsanwalt, 1 Hochschullehrer, 1 Oberstaatsanwalt, 2 Ministerialbeamte und 7 Richter der staatlichen ordentlichen bzw. Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Beamten und Richter befinden sich teilweise schon im Ruhestand. Alle Richter des Kirchengerichts werden von der Synode, also dem „Kirchenparlament“, gewählt und nehmen ihre Aufgaben ehrenamtlich in völliger Unabhängigkeit wahr. Die beiden Kammern entscheiden aufgrund mündlicher Verhandlung jeweils in der Besetzung mit einem Pfarrer und vier Juristen.
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lichen Gerichtsbarkeit. Diesen wird häufig nicht bewusst sein, dass selbst dann, wenn eine kirchliche Vorschrift mit einer weltlichen wörtlich übereinstimmt, sie nicht genau dasselbe zu besagen braucht; der Sinngehalt der beiden äußerlich übereinstimmenden Vorschriften kann mehr oder weniger stark voneinander abweichen. Das erschließt sich nicht ohne weiteres dem staatlichen Richter, der mit dem kirchlichen Recht in seiner Gesamtheit nicht hinreichend vertraut ist – was man übrigens auch kaum erwartet und ihm deshalb auch nicht vorwerfen kann126. Aus dem Gesagten folgt, dass ein Kirchenbeamter oder Pfarrer dann nicht staatlichen Rechtsschutz begehren kann, wenn er ausschließlich die Verletzung kirchlichen Rechts rügt, wenn er beispielsweise gegen seine Entlassung, seine Versetzung oder seine Versetzung in den Warte- oder Ruhestand vorgehen will mit der Begründung, die Maßnahme verstoße gegen die einschlägigen Vorschriften des kirchlichen Beamtengesetzes, des Pfarrergesetzes oder des kirchlichen Verwaltungsverfahrensgesetzes. Die Türen der staatlichen (Verwaltungs-) Gerichte stehen ihm vielmehr nur dann offen, wenn er geltend macht, die angegriffenen Maßnahmen verstießen gegen solche Normen des staatlichen Rechts, an die (auch) die Kirchen gebunden sind. Die im Voraufgehenden entwickelte These, die Auslegung und Anwendung des kirchlichen Rechts sei – jedenfalls grundsätzlich, über Ausnahmen wird noch zu reden sein – den Kirchen vorbehalten, ist nicht so revolutionär, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Auf die Idee sind auch schon andere gekommen: So führt das OVG RP in seinem bereits früher erwähnten Urteil vom 1. 6. 2001127 aus: Das staatliche und das kirchliche Gerichtsverfahren seien sowohl durch unterschiedliche Streitgegenstände als auch durch verschiedene rechtliche Prüfungsmaßstäbe gekennzeichnet. Gegenstand des kirchlichen Verfahrens sei die Frage, ob die streitbefangene Personalmaßnahme gemessen am kirchlichen Dienstrecht rechtswidrig ist und den Kläger in subjektiven Rechten aus diesem Rechtskreis verletzt. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gehe es hingegen um die Frage, ob der Vorbehalt des für alle geltenden staatlichen Gesetzes durch die kirchenbehördliche Entscheidung berührt wird. So gesehen gebe es zwischen kirchlicher und staatlicher Rechtsschutzgewährung keine Ausschlusskonkurrenz.
126 Dazu Kästner, Staatlich Justizhoheit (Fußn. 81), S. 181 ff. Auf S. 184 stellt er zutreffend fest, kirchliches Recht erschließe sich nur dann, wenn man es in seiner Verwurzelung im geistlichen Wesens- und Funktionsbereich der betreffenden Kirche konkretisiert, wenn man sich sein Verhältnis zum jeweiligen religiösen Bekenntnis verdeutlicht, wenn man das Spannungsfeld zwischen religiös vorgegebenen Ordnungszielen einerseits und dem rechtlichen Ordnungsinstrumentarium andererseits angemessen auflöst. Dieser Aufgabe wären die säkularstaatlichen Gerichte vielfach nicht gewachsen. Ähnlich Maurer (Fußn. 81), ZevKR 17 (1972), 48 ff., 70 f., der wohl nicht ganz zu Unrecht meint, die kirchlichen Gerichte könnten einen intensiveren und umfassenderen Rechtsschutz gewährleisten als die staatlichen Gerichte. Zutreffend weist Rüfner (Fußn. 81), HdbStKirchR, S. 1081 ff., 1112, darauf hin, die kirchlichen Gerichte dürften vieles überprüfen, was die staatlichen Gerichte mit Rücksicht auf die kirchliche Eigenständigkeit unbesehen hinnehmen müssten. 127 KirchE 39 (2001), 159 ff., 164.
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Maurer128 zufolge sind Streitigkeiten aus dem Pfarrer- oder Kirchenbeamtenverhältnis kirchenrechtliche Streitigkeiten und sonach der staatlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich nicht zugänglich. Im Streitfall seien nach Maßgabe des kirchlichen Rechts die kirchlichen Gerichte zuständig. Die Zuständigkeit staatlicher Gericht ergebe sich allenfalls über den Schrankenvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 WRV, nämlich dann, wenn geltend gemacht werden kann, dass das kirchliche Dienstgesetz oder seine Anwendung gegen eine unter das für alle geltende Gesetz fallende staatliche Rechtsnorm verstoßen. Eine der hiesigen Konzeption sehr nahe verwandte Ansicht hat erst vor kurzem Hillgruber129 vertreten: Kirchenrechtlich begründete Ansprüche unterlägen nicht der staatlichen Gerichtsbarkeit. Ihre Zuerkennung oder Aberkennung obliege ausschließlich den nach den maßgeblichen innerkirchlichen Organisationsvorschriften zur Streitentscheidung berufenen kirchlichen Organen. Nur wenn und soweit die Kirchen ihre Regelungsautonomie nicht durch besondere Gestaltung nutzen, greife subsidiär einschlägiges staatliches Recht ein bzw. gelte der Regelungsverzicht als Option für das geltende staatliche Recht. Eine Reihe weiterer Autoren vertreten die gleiche oder eine ähnliche Ansicht130.
Die hier entwickelte Konzeption hat nicht zur Folge, dass den Pfarrern und Kirchenbeamten der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten in einer Weise verschlossen wäre, wie dies nach der Judikatur des BVerfG und des BVerwG der Fall ist. Denn die Betroffenen können den staatlichen Rechtsweg dann beschreiten, wenn sie geltend machen, durch die kirchliche Maßnahme in solchen Rechten verletzt zu sein, die sich aus einem staatlichen Gesetz ergeben, insbesondere aus einem für alle und damit auch für die Kirchen geltenden Gesetz im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV. Hierzu wird man die aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitenden Grundsätze eines fairen Verwaltungsverfahrens zählen müssen, auf deren Einhaltung die Verfahrensbeteiligten aufgrund des Art. 2 Abs. 1 GG Anspruch haben131. Ferner wird zu erwägen sein, ob sich die Kirchen nicht die gleichen Fesseln gefallen lassen müssen, die sich der Staat in Gestalt der hergebrachten Berufsbeamtentums angelegt hat, wenn sie von der ihnen vom Staat verliehenen Dienstherrengewalt Gebrauch machen, indem sie durch Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsakte für ihre Beamten und Pfarrer einseitig verbindliche Regelungen treffen. Dies gilt insbesondere für die Fürsorgepflicht und die Alimentationspflicht. BVerfG und BVerwG haben zwar wiederholt – und zwar zu Recht – betont, die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) seien für die Kirchen nicht verbindlich. Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob nicht einzelne dieser Grundsätze für die 128 Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 295. In seiner Urteilsanmerkung JZ 2000, 1113 ff., 1115, stellt er die Faustregel auf, dass die staatlichen Gerichte über die Anwendung des staatlichen Rechts und die kirchlichen Gerichte über die Anwendung des innerkirchlichen Rechts zu entscheiden haben. 129 Hillgruber, FS Rüfner (Fußn. 81), S. 304. 130 Bock (Fußn. 5), S. 303; Pirson (Fußn. 81), S. 873; Rüfner, HdbStKirchR (Fußn. 81), S. 1091; Sachs (Fußn. 81), DVBl. 1989, 487 ff., 494. 131 So schon das OVG RP in seinem Urteil vom 1. 6. 2001, KirchE 39 (2001), 159 ff., 167 f. Nach Schenke, BK (Fußn. 2), Rn. 277, sind die Kirchen an Grundprinzipien der staatlichen Rechtsordnung gebunden.
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Kirchen verbindlich sind, wenn sie sich für die Übernahme des staatlichen Beamtenrechts entscheiden. Sie wird in der kirchengerichtlichen Rechtsprechung und Literatur bejaht. So führt das Verfassungs- und Verwaltungsgericht (VuVG) der VELKD in seinem Urteil vom 28. 2. 2002132 aus, den Kirchen sei zwar kraft ihres Selbstbestimmungsrechts und ihrer Korporationsqualität (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 und 5 WRV) die Möglichkeit zur Schaffung eines ihren Bedürfnissen entsprechenden Kirchbeamten- und Pfarrerdienstrechts eröffnet. „Jedoch ist die Herauslösung dieser Rechtsverhältnisse aus dem Sicherungssystem des Arbeits- und Sozialrechts – unbeschadet der hier nicht näher zu problematisierenden Frage, ob und in welchem Umfang die Kirchen insoweit einer unmittelbaren Bindung an die sich aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebenden Grundsätze unterliegen – nur gerechtfertigt, wenn jedenfalls die strukturprägenden Grundsätze des öffentlichen Dienstrechts beachtet werden (…). Zu diesen Grundsätzen gehören insbesondere das Lebenszeitprinzip, die hauptberufliche Bindung des Beamten, das Leistungs- und Laufbahnprinzip, die Fürsorgepflicht des Dienstherrn, die Treuepflicht des Beamten, das Alimentationsprinzip sowie das Legalitätsprinzip (…)“. Im gleichen Sinne äußerte sich Hermann Weber133 : Da das kirchliche Beamtenrecht (einschließlich des Dienstrechts der Pfarrer) echtes öffentliches Beamtenrecht sein müsse, um die Anwendung normaler dienstvertraglicher und arbeitsrechtlicher Gesichtspunkte auszuschließen, sei die in der Korporationsqualität liegende Ermächtigung zur Setzung eines autonomen Dienstrechts durch die Grundprinzipien des öffentlich-rechtlichen Berufsbeamtentums begrenzt (grundsätzlich lebenslängliche Dauer des Dienstverhältnisses, Ruhegehalt, Fürsorgepflichten etc.). Auch Rainer Mainusch134 meint, das Lebenszeitprinzip (einschließlich der Gewährleistung einer Entlassung nur bei schweren Amtspflichtverletzungen), die umfassende Schutz- und Fürsorgepflicht des Dienstherrn sowie den Alimentationsgrundsatz müsse man dem Bereich des Typenzwanges zurechnen.
Schließlich können sich die Kirchenbeamten und Pfarrer Zugang zu den staatlichen Gerichten (einschließlich des BVerfG) auch durch die Berufung auf die Grundrechte des Grundgesetzes verschaffen. Wie ich in der etwa gleichzeitig mit dieser Festschrift erscheinenden Festgabe für Klaus Stern zum 80. Geburtstag versucht habe darzulegen, sind die Kirchen an die Grundrechte gebunden, wenn sie von den ihnen durch die Dienstherreneigenschaft vom Staat verliehenen hoheitlichen Befugnissen Gebrauch machen. Ansatzpunkte bieten insbesondere Art. 1 Abs. 1 (Schutz der Menschenwürde), Art. 2 Abs. 1 (freie Entfaltung der Persönlichkeit), Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 (allgemeines Persönlichkeitsrecht), Art. 3 Abs. 1 (allgemeiner Gleichheitssatz und Willkürverbot) sowie die Justizgrundrechte135.
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RsprB ABl. EKD 2003, 5 ff., 6. Weber, Auslegung und Rechtsgültigkeit der Versetzungsbefugnis nach § 71 I c Pfarrergesetz der VELKD, ZevKR 15 (1970), 20 ff., 42. Siehe ferner S. 45. Ganz ähnliche Überlegungen finden sich in Weber (Fußn. 4), ZevKR 28 (1983), 1 ff., 16. 134 Mainusch, Aktuelle kirchenrechtliche und kirchenpolitische Fragestellungen im Pfarrerdienstrecht, ZevKR 47 (2002), 1 ff., 29. 135 Siehe auch Frank (Fußn. 81), S. 686 ff. 133
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Durch die Verwaltungsgerichte und das BVerfG überprüfbar sind auf diesem Wege sowohl Maßnahmen der kirchlichen Verwaltungsbehörden als auch der Kirchengerichte. Die Ergebnisse der von mir vertretenen Konzeption decken sich weitgehend mit denen Schenkes136. Er schreibt, ein Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG scheide von vornherein in demjenigen Bereich der Kirche aus, in dem diese in Ausübung ihres geistlichen Auftrags ohne Bindung an staatliche Normen handelt. So entspreche es einhelliger Meinung, dass in Fragen der Lehre und des Kultus sowie bezüglich Kirchenstrafen und Kirchenzuchtmaßnahmen ein Rechtsschutz durch staatliche Gerichte grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Kultushandlungen wie Gottesdienst, Glaubenslehre und Sakramentserteilung seien denn auch nie als justiziabel angesehen worden. … Die Unzulässigkeit eines gerichtlichen Rechtsschutzes ergebe sich in diesen Fällen bereits daraus, dass es an staatlichen Normen fehlt, welche bei diesen Tätigkeiten zu beachten sind. Hier seien weder Art. 19 Abs. 4 noch der staatliche Justizgewährungsanspruch einschlägig, denn beide setzten staatliche Rechtsnormen voraus, anhand derer das Verhalten der Kirche beurteilt werden kann. Eine Jurisdiktion anhand kirchlicher Normen sei den staatlichen Gerichten untersagt und dürfe deshalb bereits unabhängig von Art. 137 Abs. 3 WRVunzulässig sein.
4. Die Eröffnung des staatlichen Rechtswegs bei Rüge der Verletzung kirchlichen Rechts a) Verzicht auf die Einrichtung einer rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden kirchlichen Gerichtsbarkeit Wie bereits früher gesagt, sind die Kirchen kraft Verfassungsrechts (Art. 137 Abs. 3 WRV) zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet, eine eigene Gerichtsbarkeit einzurichten. Verzichten sie darauf, so verzichten sie zugleich auf ihr „Monopol“ zur Auslegung und Anwendung ihres eigenen Rechts und machen damit den Weg frei für die staatsgerichtliche Überprüfung kirchlicher Maßnahmen auch am Maßstab des kirchlichen Rechts137. Die Tatsache, dass eine Kirche Gerichte zur Überprüfung ihrer administrativen Maßnahmen eingesetzt hat, reicht allerdings nicht ohne weiteres aus. Das kirchengerichtliche „Monopol“ ist vielmehr an die Voraussetzung geknüpft, dass die betreffende Kirche einen rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Rechtsschutz bereitgestellt, also kirchliche Gerichte eingerichtet hat, die rechtsstaatlichen Anforderungen (insbesondere hinsichtlich Unabhängigkeit des Gerichts und der Richter, rechtsstaatliches Verfahren) entsprechen138, und sie mit ausreichenden Zuständigkeiten ausge-
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Schenke, BK (Fußn. 2), Rn. 268. Hillgruber (Fußn. 81), S. 310. 138 Dazu Maurer (Fußn. 81), ZevKR 17 (1972), 48 ff., 71 ff. Er gelangte schon damals, also vor fast 40 Jahren, zu dem Ergebnis, dass die kirchlichen Verwaltungsgerichte der evangelischen Kirchen im Wesentlichen den rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Seither hat sich ihre rechtsstaatliche Qualität eher noch verbessert. 137
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stattet hat, so dass die Kirchenbeamten und Pfarrer bei ihnen alle Ansprüche geltend machen können, die sich aus dem kirchlichen Recht ergeben. b) Kirchliche Ermächtigung der staatlichen Gerichte zur Überprüfung kirchlicher Maßnahmen am Maßstab des kirchlichen Rechts Der Grundsatz, dass es nicht Sache der staatlichen Gerichte ist, über solche Ansprüche zu entscheiden, die allein aus dem kirchlichen Recht hergeleitet werden, wird ferner dann durchbrochen, wenn die Kirche die staatlichen Gerichte dazu ausdrücklich normativ ermächtigt139 und der Staat dieses Angebot durch eine entsprechende gesetzliche Regelung angenommen hat. Die Offerte kann umgekehrt auch vom Staat ausgehen und von der Kirche akzeptiert werden. Ein solches Angebot des Staates an die Kirchen enthält das Beamtenrechtsrahmengesetz. § 135 Satz 2 BRRG überlässt es den öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft, die Vorschriften des Kapitels II Abschnitt II des Gesetzes für anwendbar zu erklären. Zu diesen Vorschriften zählt § 126 Abs. 1, der bestimmt, dass für alle Klagen der Beamten, Ruhestandsbeamten und früheren Beamten sowie deren Hinterbliebenen aus dem Beamtenverhältnis der Verwaltungsrechtsweg gegeben ist. Diese Vorschriften ermächtigen die Kirchen zu bestimmen, dass die staatlichen Verwaltungsgerichte (auch) über solche Ansprüche ihrer Beamten und Pfarrer zu entscheiden haben, die ausschließlich auf kirchlichem Recht beruhen. In der Literatur140 wird allerdings die Meinung vertreten, die genannten Bestimmungen seien vom historischen Gesetzgeber nur dazu bestimmt gewesen, es den Kirchen zu gestatten festzulegen, dass für vermögensrechtliche Klagen nicht mehr die ordentlichen Gerichte, sondern – wie im staatlichen Bereich – die Verwaltungsgerichte zuständig sein sollten. Ob dies tatsächlich die Absicht des historischen Gesetzgebers war, was keineswegs unbestritten ist141, mag dahinste-
139 Das praktizieren die ev. Kirchen in erheblichem Umfange. So bestimmt § 5 Nr. 2 des Kirchengesetzes über das Kirchliche Verfassungs- und Verwaltungsgericht (KVVG) der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), dass das KVVG u. a. nicht zuständig ist in vermögensrechtlichen Angelegenheiten der Pfarrer, Pfarramtskandidaten, Kirchenbeamten und Versorgungsempfänger, insbesondere auf dem Gebiet des kirchlichen Besoldungs- und Versorgungsrechts. Diese Rechtsschutzlücke füllt § 30 Satz 2 des Pfarrdienstgesetzes der EKHN aus durch die Bestimmung, dass für vermögensrechtliche Ansprüche, vor allem auf dem Gebiet des kirchlichen Besoldungs- und Versorgungsrechts, der Rechtweg zum staatlichen Verwaltungsgericht gegeben ist, wenn die Kirchenleitung den Anspruch abgelehnt oder dem Antragsteller binnen drei Monaten keinen Bescheid erteilt hat. 140 Z.B. von Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 136; ders., BK (Fußn. 2), Rn. 276; von Campenhausen (Fußn. 81), AöR 112 (1987), 623 ff., 646; Ehlers (Fußn. 81), ZevKR 17 (1982), 269 ff., 288; ders. (Fußn. 59), JuS 1989, 364 ff., 366; Korioth (Fußn. 81), Rn. 53; Rüfner, HdbStKirchR (Fußn. 81), S. 1100, 1105. 141 Bestritten wird dies etwa von Maurer, FS Menger (Fußn. 81), S. 301, der zutreffend schreibt, § 135 Satz 2 BRRG enthalte keine primäre Rechtswegregelung, sondern ein Angebot an die Kirchen.
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hen. Der Wortlaut der Vorschriften lässt die hier vertretene Interpretation zu, und die Praxis verfährt dementsprechend, wie bereits gesagt. 5. Ausschluss bestimmter Maßnahmenarten von der gerichtlichen Überprüfung Teile des Schrifttums142 vertreten die Ansicht, in bestimmten Bereichen kirchlichen Handelns (beispielsweise in Bezug auf Lehre und Kultus) sei staatlicher Rechtsschutz a limine ausgeschlossen. Es bestehe kein Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gegen kirchliche Maßnahmen, die auf Einschränkung der sich aus der Ämterstellung von Geistlichen und Kirchenbeamten ergebenden Befugnisse hinauslaufen. So könne der Pfarrer nicht gegen das gegen ihn von seiner Kirche verhängte Verbot der Wortverkündigung oder der Sakramentserteilung vorgehen. Die staatlichen Gerichte dürften nicht über eine Entscheidung im kirchlichen Lehrbeanstandungsverfahren judizieren143. Das trifft im Ergebnis zu, jedoch aufgrund anderer Erwägungen: Sämtliche Maßnahmen, die eine Kirche aufgrund ihrer Dienstherreneigenschaft trifft, können von dem betroffenen Kirchenbeamten oder Pfarrer angefochten werden, wenn er geltend machen kann, die Maßnahme verstoße gegen eine staatliche Norm, an die die Kirche gebunden ist. An dieser Voraussetzung werden die meisten Klagebegehren, mit denen ein Eingriff des staatlichen Gerichts in den Bereich von Kultus und Lehre verlangt wird, schon bei der Prüfung der Zulässigkeit scheitern. Denn es gibt heutzutage keine staatlichen Vorschriften, die sich anmaßen zu regeln, wie das Wort Gottes auszulegen und zu verkünden ist, welche Sakramente es gibt, in welcher Form sie zu erteilen sind und wem sie verweigert werden dürfen. Und sollte sich doch ein staatlicher Gesetzgeber dazu verleiten lassen, derartige Vorschriften zu erlassen, so verstießen sie eindeutig gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV), weil sie keine „für alle geltenden Gesetze“ und deshalb nichtig wären. VI. Resümierende Schlussbemerkung Die Ergebnisse der Untersuchung sind unzeitgemäß und werden nicht allen gefallen, vor allem denen nicht, die Pfarrern und Kirchenbeamten die Tür zu den staatlichen Gerichten ohne Beschränkungen öffnen wollen. Sie übersehen meines Erachtens, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht schon den Zugang zur staatlichen Gerichtsbarkeit beschränkt, nämlich an die Voraussetzung knüpft, dass der Pfarrer oder Kirchenbeamte geltend macht, durch die von ihm angegriffene kirchliche Maß142
So bereits Hesse (Fußn. 81), S. 142 ff. Ferner Schenke, BK (Fußn. 2), Rn. 268; Hopfauf (Fußn. 81), Rn. 54; Schmidt-Aßmann (Fußn. 81), Rn. 113; Steiner, FS Richardi (Fußn. 81), S. 982; Stern (Fußn. 81), S. 925 f. Dagegen zutreffend Kästner, Staatliche Justizhoheit (Fußn. 81), S. 237 ff. 143 Schenke, FS Faller (Fußn. 1), S. 141. Die Möglichkeit der Trennung religiöser und weltlicher Fragen wird bestritten von Classen (Fußn. 81), S. 240 (Rn. 586).
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nahme in einem Recht verletzt zu sein, das sich aus einer Vorschrift des staatlichen Rechts ergibt. Die Rüge der Verletzung kirchlicher Vorschriften allein ist grundsätzlich bei den kirchlichen, nicht den staatlichen Gerichten anzubringen.
Rechtsschutz gegen Verkehrszeichen Von Hartmut Maurer I. Einführung Die Verkehrszeichen sind aus dem gegenwärtigen Verkehrsalltag nicht wegzudenken. Sie bestimmen auf relativ einfache Weise an Ort und Stelle im Interesse der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs die grundsätzlich für alle Verkehrsteilnehmer geltenden Benutzungsbeschränkungen der Straße. Da diese Beschränkungen den sicheren und reibungslosen Straßenverkehr gewährleisten (sollen), kommen sie grundsätzlich allen Verkehrsteilnehmern zugute und bringen damit in geradezu klassischer Weise das Wechselspiel von Freiheit und Bindung zum Ausdruck. Gleichwohl kommt es immer wieder vor, dass sich der eine oder andere gegen bestimmte Verkehrszeichen wendet, weil er sie für überflüssig oder aus sachlichen und rechtlichen Gründen für überzogen und damit für rechtswidrig hält. Damit stellt sich die Frage, ob und ggf. wie er gegen ein Verkehrszeichen und damit gegen die in ihm ausgesprochene Regelung rechtlich vorgehen kann. Diese Frage wird seit einigen Jahrzehnten mit wechselnden und kontroversen Ergebnissen in der Literatur und Rechtsprechung erörtert. So einfach das Verkehrszeichen mit seinen symbolischen und damit leicht verständlichen Zeichen auch ist, so fraglich ist andererseits seine Rechtsnatur, von der wiederum die Anfechtungsund Rechtsschutzmöglichkeiten abhängen. Der Jubilar, der den Rechtschutz des Bürgers in zahlreichen Veröffentlichungen engagiert behandelt und erfolgreich weiterentwickelt hat, ist auch darauf immer wieder in den größeren Zusammenhängen des Polizeirechts und des Verwaltungsprozessrechts eingegangen.1 Daran kann in den folgenden Ausführungen angeknüpft werden. II. Rechtsgrundlagen Die Verkehrszeichen werden in §§ 39 ff. StVO näher geregelt. Danach sind drei Gruppen zu unterscheiden, nämlich erstens die Vorschriftszeichen, die verbindliche Gebote und Verbote für die Verkehrsteilnehmer enthalten (§ 41 StVO), zweitens die Gefahrenzeichen, die auf eine Gefahrensituation hinweisen und zur Vorsicht mahnen 1 Vgl. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 204, 674, 968; ders., Polizeiund Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, Rn. 487, 544, 571, 716; ders., Bonner Kommentar, Art. 19 IV GG (Drittbearbeitung 2009), Rn. 714; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 42 Anhang Rn. 36, 54 f., § 70 Rn. 6 a, § 80 Rn. 64.
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(§ 40 StVO), und drittens die Richtzeichen, die durch besondere Hinweise den Verkehr erleichtern sollen, aber auch Gebote und Verbote enthalten können (§ 42 StVO). Die folgenden Darlegungen beschränken sich auf die Vorschriftszeichen, also die verbindlichen und bußgeldbewehrten Verkehrsregelungen. Ihnen stehen bestimmte Verkehrseinrichtungen gleich, etwa die rot-weiß gestreifte Abschrankung oder die Parkuhr (§ 43 StVO). Die Zuständigkeiten werden in § 45 StVO geregelt. Danach entscheiden im Regelfall die Straßenverkehrsbehörden darüber, ob und welche Verkehrszeichen anzubringen und später ggf. wieder zu entfernen sind. Die Straßenbaubehörden sind verpflichtet, die entsprechenden Anordnungen der Straßenverkehrsbehörde zu vollziehen und die Verkehrszeichen aufzustellen und zu unterhalten. Außenwirkung erhält erst die von der Straßenverkehrsbehörde angeordnete und von der Straßenbaubehörde vollzogene Aufstellung des Verkehrszeichens. Die StVO enthält keine Regelungen über den Rechtsschutz gegen Verkehrszeichen, auch nicht über die vorgelagerte Frage der Rechtsnatur des Verkehrszeichens. Maßgeblich sind daher die Vorschriften der VwGO und – bezüglich der Rechtsnatur des Verkehrszeichens – das VwVfG und die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts. Im Hintergrund steht der alles überragende Art. 19 IV GG, der einen effektiven Rechtsschutz gegen alle staatlichen Maßnahmen fordert, die nähere Ausgestaltung aber dem einfachen Recht überlässt. III. Die Rechtsform des Verkehrszeichens 1. Die Entwicklung von der Rechtsverordnung zum Verwaltungsakt Da der Rechtsschutz weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich von der Rechtsform bzw. der Rechtsnatur der angegriffenen staatlichen Maßnahme abhängt, ist zunächst darauf näher einzugehen. Derzeit werden die Verkehrszeichen in der Rechtsprechung durchweg und in der Literatur überwiegend als Verwaltungsakte in der Form der Allgemeinverfügung qualifiziert.2 Das war aber nicht immer so. In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik wurden die Verkehrszeichen von der Rechtsprechung und der Literatur überwiegend als Rechtsverordnungen angesehen. Dabei knüpfte man offensichtlich an frühere Auffassungen an. Als Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Straßenverkehr, insbesondere der Kraftfahrzeugverkehr, zunahm, entstand auch zunehmend das Bedürfnis nach entsprechenden Regelungen. Es kam zu Kraftfahrzeuggesetzen und 2
Vgl. mit weiteren Nachweisen Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 204; Kopp/Schenke, VwGO (Fußn. 1), Anh. § 42, Rn. 55; Henneke, in Knack/Henneke (Hg.), VwVfG, 9. Aufl. 2010, § 35 Rn. 132; U. Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 330 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG 11. Aufl. 2010, § 35 Rn. 170 ff.; zur Rechtsprechung vgl. unten Fußn. 27 ff.
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darauf beruhenden Straßenverkehrsordnungen auf der Landes- und Reichsebene und zu straßenabschnittsbezogenen Regelungen auf der Kreis- und Gemeindeebene.3 Die im örtlichen Bereich ergehenden Regelungen, die funktionell den heutigen Verkehrszeichen entsprachen, wurden überwiegend auf der Grundlage der Polizeigesetze als Polizeiverordnungen erlassen. Die ortsübliche Publikation dieser Polizeiverordnungen in lokalen Amtsblättern oder in der Tagespresse erwies sich freilich bald als unzulänglich, da sie den einheimischen und vor allem den ortsfremden Verkehrsteilnehmern im konkreten Fall nicht oder nicht hinreichend bekannt waren. Daher wurden zunächst durch zusätzliche Hinweise an Ort und Stelle auf die maßgebende polizeiliche Verkehrsregelung aufmerksam gemacht, später jedoch die erforderliche Publikation mit der Aufstellung dieser Hinweisschilder verknüpft, was schließlich zum „Verkehrszeichen“ führte, dessen (tatsächliche) Aufstellung zugleich den Erlass der Verkehrsregelung implizierte.4 Es entsprach dieser Tradition, wenn nach 1950 die Verkehrszeichen weiterhin als Rechtsverordnungen angesehen wurden.5 Es mehrten sich jedoch die Stimmen in der Literatur, die für die Qualifizierung als Verwaltungsakt oder sogar als Allgemeinverfügung eintraten.6 In der Rechtsprechung erfolgte der Umschwung durch das Urteil des BVerwG vom 9. 6. 1967,7 das durch das Urteil des BVerwG vom 13. 12. 19798 in Auseinandersetzung mit dem Bay.VGH, der weiterhin für die Rechtsverordnung votierte,9 noch einmal nachdrücklich bestätigt wurde.10 Seitdem ist dies ständige Rechtsprechung des BVerwG.11
3
Vgl. das (Reichs)Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. 5. 1909 (RGBl. S. 437) und dazu die Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. 2. 1910 (RGBl. S. 389); ferner Wandschneider, Die Allgemeinverfügung in der Rechtsdogmatik und Rechtspraxis, 2009, S. 162 ff. 4 Vgl. dazu Wandschneider (Fußn. 3), S. 163. 5 Für den Fortbestand noch BVerwGE 6, 317. 6 Vgl. die Nachweise pro und contra bei Gornig, Die sachbezogene hoheitliche Maßnahme, 1985, S. 153 ff. 7 BVerwGE 27, 181, 183. 8 BVerwGE 59, 221, 224 f. 9 Vgl. Bay.VGH NJW 1978, 1988; NJW 1979, 532; dagegen folgte der BayVGH 1983 der Rechtsprechung des BVerwG, vgl. BayVGH NVwZ 1984, 383 (mit Anm. von Renck, NVwZ 1984, 382). 10 Vgl. ferner BVerfG (Beschluss vom 24. 02. 1965, NJW 1965 2395), das die neue Linie übernahm und sie kraft seiner Autorität förderte, aber in seiner sehr knappen Begründung lediglich auf eine (hier zudem fragliche) BGH-Entscheidung hinwies und dann erklärte, dass diese Auffassung „den tatsächlichen Gegebenheiten und Vorgängen“ entspreche und „überzeugend“ sei. Kritisch dazu die Anmerkungen von Hohenester, NJW 1966, 539, und Hoffmann, NJW 1966, 875 ff. 11 Vgl. BVerwGE 92, 32, 34 (Busspur); BVerwGE 97, 214, 220 (Geschwindigkeitsbegrenzung); BVerwGE 97, 323, 326 ff. (Zusicherung); BVerwGE 102, 316, 318 (Parkverbot); BVerwGE 130, 383, 385 ff. (Überholverbot); BVerwG NJW 2011, 246 (Überholverbot).
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2. Die verschiedenen Argumente pro und contra Der Streit über die Rechtsnatur der Verkehrszeichen – Rechtsverordnung, einfacher Verwaltungsakt, Allgemeinverfügung – hatte verschiedene Gründe. Zum einen ging es um die Klärung der Begriffsmerkmale der Rechtsverordnung (generell, abstrakt), des einfachen Verwaltungsakts (individuell, konkret) und der Allgemeinverfügung (individualisierbar, konkret), die als variable Merkmale je nach Inhaltsbestimmung, Abgrenzung und Betonung unterschiedliches Gewicht erhalten und dementsprechend auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen – oder geführt werden können.12 Zweitens wurde in jener Zeit die Lehre vom dinglichen Verwaltungsakt entwickelt, der sich nicht auf bestimmte Personen, sondern auf bestimmte Sachen bezieht und nur mittelbar Personen betrifft, also gerade auch die straßenabschnittsbezogenen Verkehrs- und Benutzungsregelungen erfasst.13 Drittens wurden gegen die Annahme der Rechtsverordnung verfassungsrechtliche Einwände erhoben, da die Ermächtigung der Straßenverkehrsbehörden durch die Straßenverkehrsordnung des Bundesverkehrsministers gegen die Subdelegationsregelung des Art. 80 I 4 GG verstoße und den Anforderungen an die Verkündung von Rechtsverordnungen nicht entspreche.14 Schließlich wurden im Blick auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Rechtsverordnung bzw. des Verwaltungsakts auch praktische Erwägungen angestellt. Gegen die Deutung als Rechtsverordnung wurde geltend gemacht, dass das Verkehrszeichen im Falle der Rechtswidrigkeit unmittelbar nichtig sei und daher wegen des (zunächst) tatsächlichen Fortbestands des Verkehrszeichens Verwirrung im Straßenverkehr schaffen müsse, ferner dass der Rechtsschutz gegen Verkehrszeichen in Form von Rechtsverordnungen wegen der beschränkten Anwendbarkeit des § 47 VwGO unzureichend sei.15 Andererseits hat sich inzwischen gezeigt, dass auch die Qualifizierung des Verkehrszeichens als Verwaltungsakt auf rechtliche Probleme und Schwierigkeiten stößt.16 3. Die Regelung des VwVfG Wie auch immer man die Verkehrszeichen einordnet, so lässt sich doch nicht bestreiten, dass sie auf der Grenze zwischen der Rechtsverordnung und dem Verwaltungsakt in der Form der Allgemeinverfügung liegen.17 Es bietet sich daher an, dass der Gesetzgeber die maßgebliche Einordnung festlegt. Als Beispiel kann auf § 10 I BauGB verwiesen werden, der bestimmt, dass der Bebauungsplan, dessen Ein12
Vgl. dazu den Überblick bei Gornig (Fußn. 6), S. 153 ff. Vgl. zum dinglichen Verwaltungsakt Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht I, 7. Aufl. 1968, § 46 VIII (S. 308); Niehues, Der dingliche Verwaltungsakt, DÖV 1965, 319 ff.; Kopp, Der dingliche Verwaltungsakt, BayVBl. 1970, 233 ff.; U. Stelkens (Fußn. 2), § 35 Rn. 259 ff. 14 Vgl. etwa Wolff (Fußn. 13), § 46 VIII. 15 Der Hinweis auf den defizitären Rechtschutz greift heute allerdings nicht mehr, vgl. dazu die verschiedenen Möglichkeiten bei Maurer, Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 13 Rn. 18 ff. 16 Vgl. dazu sogleich unten IV. 17 Vgl. Bachof, DÖV 1967, 132; Rebler, Das Verkehrszeichen – ein Grenzgänger des Verwaltungsrechts, DRiZ 2008, 210; BVerwGE 59, 221, 224. 13
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ordnung zwischen Verwaltungsakt und Satzung früher ebenfalls umstritten war, von der Gemeinde „als Satzung“ beschlossen wird. Damit hat der Gesetzgeber zwar die Frage der Rechtsnatur des Bebauungsplanes letztlich offen gelassen, aber jedenfalls festgelegt, dass er als Satzung zu betrachten und zu behandeln ist.18 Eine entsprechende Regelung für die Verkehrszeichen fehlt in der StVO, ebenso im VwVfG oder in anderen Gesetzen. Die rechtliche Qualifizierung des Verkehrszeichens ergibt sich aber aus § 35 S. 2 VwVfG im Zusammenhang mit dessen Entstehungsgeschichte.19 § 35 VwVfG regelt im Anschluss an die herkömmliche Definition des Verwaltungsakts die Allgemeinverfügung, erweitert den angesprochenen Personenkreis – gegenüber dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundesrates – von „bestimmt“ auf „bestimmt und bestimmbar“ und fügt der personenbezogenen Allgemeinverfügung noch als sachorientierte Alternative die Regelung der „öffentlich-rechtlichen Eigenschaft einer Sache oder ihrer Benutzung durch die Allgemeinheit“ an, wobei sich der Gesetzgeber offenbar an die Lehre vom dinglichen Verwaltungsakt anlehnt, ohne ihn ausdrücklich zu benennen. Wenn auch nicht ganz klar wird, unter welche Alternative oder Alternativen des § 35 S. 2 das Verkehrszeichen fallen soll, so kann doch nicht zweifelhaft sein, dass das Verkehrszeichen, das in der Begründung des Regierungsentwurfs ausdrücklich genannt wird,20 als Allgemeinverfügung zu beurteilen ist. Das ist heute auch so gut wie unbestritten.21 Die Rechtsformen des Verwaltungsrechts dienen der rechtsdogmatischen Systematisierung. Sie erfassen und typisieren gleichartige Verwaltungshandlungen und entwickeln für sie gemeinsame rechtliche Voraussetzungen und gemeinsame Rechtsfolgen. Die Bezugnahme auf die Rechtsform erspart dann die rechtliche Klärung im Einzelfall, insbesondere die Festellung der rechtlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen der jeweiligen Verwaltungsmaßnahme. Der Gesetzgeber wird jedoch durch die rechtsdogmatischen Erkenntnisse und Festlegungen nicht präjudiziert. Er kann vielmehr in Grenzfällen die Einordnung verbindlich bestimmen, er kann ferner für gewisse Fallkonstellationen abweichende Rechtsfolgen anordnen. Entsprechendes gilt für die Auslegung und Anwendung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen. Der Hinweis auf die Rechtsform darf also nicht als starres Prokrustesbett betrachtet werden. Das ist vor allem bei den Verkehrszeichen zu beachten, die eine Reihe von Eigenheiten aufweisen.
18 Vgl. dazu Brohm, Baurecht, 3. Aufl. 2002, § 8 Rn. 4 f.; Krebs, Baurecht, in: SchmidtAßmann/Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, S. 451, 503 (Rn. 87). 19 Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 7/910 vom 18. 7. 1973, S. 15, 57, 102, 109; Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 7/4494 vom 18. 12. 1975, S. 8, 22. 20 Vgl. BT-Drs. 7/910, S. 57. 21 Die letzten Einwände und Vorbehalte liegen schon einige Zeit zurück, vgl. Vogel in Drews/Wacke/Vogel/Martens, Allgemeines Polizeirecht, 9. Aufl. 1986, S. 361 ff.; Obermayer, NJW 1980, 2387 ff.; Renck, NVwZ 1984, 355 f.
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IV. Rechtsschutz 1. Problematik Geht man davon aus, dass das Verkehrszeichen ein Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung ist, dann kann der betroffene Verkehrsteilnehmer Widerspruch bei der Straßenverkehrsbehörde und anschließend Anfechtungsklage beim Verwaltungsgericht erheben (§ 68, § 42 VwGO). Der Widerspruch muss innerhalb eines Monats oder – wenn keine Rechtsmittelbelehrung erfolgt ist – innerhalb eines Jahres nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts eingelegt werden (§ 70). Da das Verkehrszeichen schon aus sachlichen Gründen nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen werden kann und wird, kommt durchweg die Ein-Jahres-Frist in Betracht. Problematisch ist jedoch die „Bekanntgabe“ nach § 68 VwGO, die den Beginn und damit auch das Ende der Widerspruchsfrist bestimmt. § 41 VwVfG fordert für den Regelfall eine individuelle Bekanntgabe des Verwaltungsakts an die jeweils betroffene Person oder die jeweils betroffenen Personen, lässt aber ausnahmsweise auch eine öffentliche Bekanntgabe zu, die für jedermann ohne Rücksicht darauf gilt, ob der Betroffene tatsächlich davon Kenntnis erlangt oder nicht. Die Frage ist, wie das Verkehrszeichen in diese Raster einzuordnen ist. Sie ist auch für den Rechtsschutz erheblich. Im Fall der öffentlichen Bekanntmachung wird das Verkehrszeichen mit seiner Aufstellung für jedermann verbindlich und kann daher auch nur noch innerhalb eines Jahres angefochten werden. Nach Ablauf dieser Frist wird es unanfechtbar und bestandskräftig.22 Das gilt auch für die Verkehrsteilnehmer oder Bewohner anliegender Grundstücke, die erst später in den Bereich des Verkehrszeichens gelangen. Stellt man dagegen auf die individuelle Bekanntgabe ab, dann beginnen die Wirksamkeit und die Anfechtungsfrist für den einzelnen Verkehrsteilnehmer erst ab dem Zeitpunkt, ab dem er in den Bereich des Verkehrszeichens kommt. Entsprechendes gilt für die Anwohner oder sonstige Betroffene. Auf diese Alternative ist im Folgenden näher einzugehen, wobei hier noch offen bleiben soll, ob sich auch Zwischenlösungen anbieten. 2. Die Rechtsprechung zur Anfechtung der Verkehrszeichen Das BVerwG hat bereits in der ersten Entscheidung, in der es den Wechsel von der Rechtsverordnung zum Verwaltungsakt (Allgemeinverfügung) vollzog, betont, dass das Verkehrszeichen im konkreten Fall dem Kraftfahrzeugfahrer „beim erstmaligen Herannahen bekanntgemacht“ werde, dann allerdings als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ihm gegenüber solange fortwirke, wie die Anordnung durch das Belassen des Verkehrszeichens aufrechterhalten bleibe.23 Der Gesichtspunkt, dass die Aufstellung des Verkehrszeichens möglicherweise auch als öffentliche Bekanntmachung ge22 Sofern man bei den oft nur kurzfristig aufgestellten Verkehrszeichen überhaupt von Bestandskraft reden kann, vgl. dazu unten V 3. 23 BVerwGE 27, 181, 184 f. (Parkverbot), vgl. dazu bereits oben Fußn. 6.
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deutet werden könnte, wird nicht erwähnt oder gar problematisiert. In der zweiten Grundsatzentscheidung, die sich vor allem gegen die auf der Rechtsverordnung beharrenden Rechtsprechung des Bay.VGH richtet, hält das BVerwG an seiner Auffassung fest und erklärt, dass der Verkehrsteilnehmer vom Verkehrszeichen erst dann betroffen werde, wenn er sich ihm (erstmals) gegenübersehe, und fügt dann noch hinzu, dass erst ab diesem Zeitpunkt die Anfechtungsfrist zu laufen beginne.24 Die nächste hier relevante Entscheidung des BVerwG betrifft nicht – zumindest nicht direkt – die Anfechtung eines Verkehrszeichens, sondern eines Kostenbescheids für das polizeiliche Abschleppen eines Kraftfahrzeugs, das der Fahrer ordnungsgemäß auf einer Straße parkte, auf der erst später wegen eines Straßenfests ein mobiles Halteverbotsschild angebracht wurde.25 Die von den beiden vorhergehenden BVerwG-Entscheidungen verwendete Formel, dass das Verkehrszeichen für den Verkehrsteilnehmer erst dann wirksam werde, wenn er sich ihm (erstmals) nähere, führte hier offensichtlich nicht weiter. Das BVerwG weicht deshalb auf die öffentliche Bekanntgabe des Verkehrszeichens aus. Es betont, dass die Aufstellung des Verkehrszeichens eine „besondere Form der öffentlichen Bekanntgabe“ sei, wobei es dahingestellt lässt, ob sie auf § 41 III VwVfG oder auf den Spezialregelungen der StVO beruht. Wenn, so führt das Gericht wörtlich aus, „Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht (sind), dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen kann, so äußern sie ihre Rechtswirkung gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht“.26 Diese Ausführungen des BVerwG sind in der Literatur unterschiedlich aufgenommen worden. Überwiegend wurde angenommen, das BVerwG vertrete nunmehr – im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung – die Meinung, dass Verkehrszeichen durch ihre Aufstellung öffentlich bekanntgegeben und damit wirksam werden, was wiederum zur Folge habe, dass die Anfechtungsfrist mit der Aufstellung beginne und das Verkehrszeichen nach Ablauf eines Jahres unanfechtbar und bestandskräftig werde.27,28 Es war sogar von der „neuen Rechtsprechung des BVerwG“ die Rede.29 Diese Einschätzung überrascht umso mehr, als (1) die angeblich neue Rechtsprechung nur auf dieser einen „Leitentscheidung“ beruht, 24
BVerwGE 59, 221, 226, vgl. dazu bereits oben Fußn. 7. BVerwGE 102, 316, 318 f. 26 BVerwGE 102, 316, 318. 27 So HessVGH NJW 1997, 1023; ders. NJW 1999, 2057; Bad.-Württ. VGH JZ 2009, 738; ferner Stelkens (Fußn. 2) § 35 Rn. 332 f. und § 41 Rn. 136; ders., NJW 2010, 1184 ff.; Ramsauer (Fußn. 2) § 35 Rn. 171; Dolde/Porsch, in Schoch/Schmidt-Aßmann (Hg.), VwGO, § 70 Rn. 16; Hendler, JZ 1997, 784. 28 Die Deutung blieb allerdings auch nicht unbestritten, vgl. Schenke (Fußn. 1), § 70 VwGO Rn. 6 b; ders., Verwaltungsprozessrecht, Rn. 674; ders., Polizeirecht, Rn. 716; ferner Bitter/ Konow, NJW 2001, 1386 ff.; Bitter/Goos, JZ 2009, 740 f.; Manssen, DVBl. 1997, 633; Mehde, NJW 1999, 767 ff.; Rebler, BayVBl. 2004, 554 ff. 29 So vor allem Stelkens (Fußn. 2), § 35 Rn. 332 f. 25
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(2) diese Entscheidung zudem nicht die Anfechtung von Verkehrszeichen, sondern die Abschleppkosten und damit einen Sonderfall betrifft, (3) die Begründung der Entscheidung äußerst knapp und nicht eindeutig ist und (4) das Gericht selbst ausdrücklich einen Widerspruch zu BVerwGE 59, 221, 226 verneint. Der Bad.-Württ. VGH war jedoch offenbar so sehr von der „neuen Rechtsprechung“ überzeugt, dass er die Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil des VG Karlsruhe30, das sich auf die „neue Rechtsprechung“ stützte, nicht zuließ, weil daran keine ernsthaften Zweifel bestünden und auch die übrigen Berufungszulassungsgründe des § 124 I VwGO nicht vorlägen.31 Das BVerfG hat indessen der dagegen eingelegten Verfassungsbeschwerde unter Hinweis auf Art. 19 IV GG stattgegeben und die Sache an den Bad.-Württ.VGH zurückverwiesen, da die einfach-gesetzliche Rechtslage keineswegs so klar sei, wie dieser annehme.32,33 In einem wiederum neuen Urteil vom 23. 9. 201034 übernimmt das BVerwG zwar verbal einige Passagen von BVerwGE 102, 31635, schließt sich aber in der Sache der früheren BVerwG-Rechtsprechung zur Anfechtung von Verkehrszeichen an. Unter Bezugnahme auf Art. 19 IV GG36 stellt es fest, dass die Anfechtungsfrist nicht bereits mit dem Aufstellen des Verkehrszeichens in Gang gesetzt, sondern erst dann ausgelöst werde, wenn sich der betreffende Verkehrsteilnehmer erstmals der Regelung des Verkehrszeichens gegenübersehe. Damit wird die bereits in BVerwGE 59, 221 verwendete Formel übernommen und die frühere Rechtsprechung fortgesetzt. V. Stellungnahme 1. Öffentliche Bekanntmachung? In der Literatur und Rechtsprechung wird die Aufstellung der Verkehrszeichen als Form der öffentlichen Bekanntgabe i. S. des § 41 III VwVfG betrachtet, wobei nur noch fraglich sei, ob sich die Zulässigkeit aus § 41 III 2 VwVfG oder aus der 30
U. v. 8. 10. 2008 (Az. 4 K 1514/08). Bad.-Württ. VGH, JZ 2009, 738 mit abl. Anm. von Bitter/Goos. 32 BVerfG, Kammerbeschluss vom 10. 9. 2009, NJW 2009, 3642. 33 Die Rechtsprechung des Bad.-Württ. VGH (jeweils 5. Senat) hat daraufhin einen verschlungenen Weg genommen. Durch Beschluss vom 16.10. 2009 (Az. S 5 2142/09) ließ er nunmehr die Berufung entsprechend dem Beschluss des BVerfG gegen das Urteil des VG Karlsruhe (vgl. oben Fußn. 30) zu; kurze Zeit später führte er jedoch durch Urteil vom 19. 11. 2009 (VBlBW 2010, 115) seine bisherige Rechtsprechung fort, entsprach aber dem Rechtsschutzersuchen des Klägers über das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gem. § 51 VwVfG; durch Urteil vom 10. 02. 2011 (Az. 5 S 2285/09) gab er jedoch seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich auf und schloss sich dem Urteil des BVerwG vom 23. 9. 2010 (Fußn. 34) an. 34 BVerwG NJW 2011, 246 = JZ 2011, 152 mit Anm. von Ehlers. 35 Vgl. den bereits oben wörtlich zitierten Satz, Text zu Fußn. 26. 36 Und damit zwar nicht ausdrücklich, aber sachlich unter Bezugnahme auf den Kammerbeschluss des BVerfG vom 10. 9. 2009 (oben Fußn. 32). 31
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StVO ergibt. Diese Kennzeichnung mag insoweit zutreffen, als die in dem Verkehrszeichen zum Ausdruck kommende Verkehrsregelung den betroffenen Verkehrsteilnehmern nicht individuell i. S. des § 41 I VwVfG bekanntgegeben wird, was faktisch auch gar nicht möglich wäre. Andererseits unterscheidet sich das Verkehrszeichen aber auch wesentlich von den typischen Fällen der öffentlichen Bekanntmachung i. S. des § 41 III VwVfG. Diese betreffen nämlich vor allem Rechtsänderungen oder die Vorbereitung von Rechtsänderungen und richten sich an eine größere Zahl von Personen, die zudem zum Teil nicht oder noch nicht bekannt sind, etwa Planfeststellungsbeschlüsse, Umlegungsbeschlüsse und dgl.37 Die These, dass die öffentliche Bekanntgabe „weltweit“ wirke,38 ist zwar – wenn auch mehr theoretisch – für diese weit ausholenden Verwaltungsentscheidungen vertretbar. Ihre Anwendung auf Verkehrszeichen wäre jedoch erheblich überzogen und verfehlt.39 Bemerkenswert ist, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber nur von der Aufstellung der Verkehrszeichen, nicht aber von der öffentlichen Bekanntgabe durch Verkehrszeichen spricht. Auch die Rechtsprechung ist zurückhaltend, indem sie von einer „besonderen Form“ der öffentlichen Bekanntgabe spricht.40 Die Verkehrszeichen bilden eine besondere Art der Bekanntgabe, die zwischen der individuellen und der öffentlichen Bekanntgabe liegt. Sie bestimmen die konkrete Verkehrssituation für einen bestimmten Straßenabschnitt und richten sich an die jeweils in ihrem Bereich anwesenden Personen. Ihre Besonderheit liegt darin, dass dies nicht durch geschriebene Worte, sondern durch Symbole erfolgt. Die Bekanntgabe wird dadurch gewährleistet, dass das Verkehrszeichen entsprechend dem Grundsatz der Sichtbarkeit so aufgestellt wird, dass es von den Verkehrsteilnehmern zur Kenntnis genommen werden kann.41 2. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG Die Auffassung, dass das Verkehrszeichen öffentlich bekanntgegeben werde und daher nur innerhalb eines Jahres angefochten werden könne, schließt alle Personen, die erst später in den Bereich eines Verkehrszeichens gelangen, von der Anfechtungsmöglichkeit und daher vom Rechtsschutz aus. Das ist mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG nicht vereinbar. Das BVerfG hat dies zu Recht gerügt, aber die Lösung der Rechtspraxis der einfach-rechtlichen Ebene überlassen.42 Folgt man der hier vertretenen Auffassung, dass das Verkehrszeichen nicht einfach den typischen Fällen der öffentlichen Bekanntmachung gleichgestellt werden dürfe, dann liegt es nahe, zwischen dem Zeitpunkt, zu dem das Verkehrszeichen aufgestellt und allgemein be37
Vgl. etwa § 74 V VwVfG, § 3 V, § 50 BauGB, § 10 VIII BImSchG. So Stelkens (Fußn. 2), § 41 Rn. 138; Dolde/Porsch (Fußn. 27), § 70 Rn. 16; Tiedemann, in Bader/Ronellenfitsch, VwGO, 2. Aufl. 2010, § 41 Rn 91. 39 So aber offenbar die in der vorherigen Fußnote genannten Autoren. 40 Vgl. BVerwGE 102, 316, 318; BVerwG JZ 2011, 152, 153. 41 Auch die individuelle Bekanntgabe geht nur vom Zugang beim Adressaten aus, nicht von der tatsächlichen Kenntnisnahme. 42 BVerfG NJW 2009, 3642; vgl. dazu auch oben Text zu Fußn. 33. 38
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kanntgegeben wird, und dem Zeitpunkt, zu dem der einzelne Verkehrsteilnehmer sich dem Verkehrszeichen nähert und dieses ihm konkret bekannt wird, zu unterscheiden.43 Maßgebend für den konkreten Rechtsschutz ist also nicht die allgemeine Bekanntgabe und Rechtswirksamkeit, sondern die konkrete Betroffenheit und Wirksamkeit für die einzelnen Verkehrsteilnehmer. Die Anfechtungsfrist bestimmt sich somit nicht nach dem fixen Zeitpunkt der Aufstellung, sondern nach dem variablen Zeitpunkt der Kenntnisnahme. Diese Differenzierung ist nicht ungewöhnlich. So ist unbestritten, dass ein Verwaltungsakt, der sich an verschiedene Personen richtet, für die einzelnen Adressaten jeweils zu dem Zeitpunkt – und damit ggf. zu unterschiedlichen Zeitpunkten – rechtswirksam wird, da sie ihnen bekanntgegeben werden.44 Das ist auch in der Praxis nicht problematisch, da die Anfechtung von Verwaltungsakten zwar grundsätzlich aufschiebende Wirkung hat, bei der Aufstellung von Verkehrszeichen aber in entsprechender Anwendung des § 80 II Nr. 2 VwGO entfällt.45 3. Bestandskraft Gelegentlich wird auch die Bestandskraft des Verwaltungsaktes und damit des Verkehrszeichens gegen die Anfechtungsbefugnis aller dem Verkehrszeichen erstmals begegnender Verkehrsteilnehmer ins Feld geführt.46 Es ist zwar richtig, dass die Verkehrszeichen nach der wieder maßgebenden und zutreffenden Rechtsprechung des BVerwG nur eine relative Bestandskraft erlangen. Sie können von jedem, der irgendwann erstmals in den Bereich des Verkehrszeichens gelangt, in Frage gestellt und angefochten werden. Indessen kann die „Bestandskraft“ des Verkehrszeichens ohnehin nicht mit der Bestandkraft der sonstigen Verwaltungsakte, insbesondere derjenigen, die Rechtspositionen begründen oder beseitigen, verglichen werden. Die Verkehrszeichen werden z. T. nur kurzfristig aufgestellt; sie müssen den jeweiligen Verkehrsverhältnissen angepasst und entsprechend geändert werden können. Sie stehen also gleichsam jederzeit zur Disposition. Der Bürger kann grundsätzlich nicht darauf vertrauen, dass ein bestimmtes Verkehrszeichen bestehen bleibt und daraus Vertrauensschutz ableiten. Der Verkehrsteilnehmer muss sogar umgekehrt mit der Änderung des Verkehrszeichens rechnen.47 Auch der Hinweis, dass selbst Gesetze und Rechtsverordnungen nur innerhalb enger Fristen angefochten wer-
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Auf die Diskussion über die verschiedenen Begriffe Existenz, äußere Wirksamkeit und innere Wirksamkeit von Verwaltungsakten kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. dazu auch Ehlers, JZ 2011, 156. 44 Vgl. Maurer (Fußn. 15), § 9 Rn. 65. 45 BVerwG NJW 1978, 656; Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 968. 46 Vgl. etwa Ehlers, JZ 2011, 155 f. 47 In der Straßenverkehrsrechtsprechung wird zwar gelegentlich das Vertrauen und der Vertrauensschutz der Verkehrsteilnehmer erwähnt (vgl. etwa BGH NJW 1970, 1126). Damit ist aber nicht vom rechtlichen Vertrauensschutz etwa i. S. des § 48 VwVfG, sondern vom tatsächlichen Vertrauensschutz die Rede.
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den können,48 greift nicht, da in diesen Fällen jederzeit eine inzidente Überprüfung möglich und zulässig ist, während die Bestandskraft des Verwaltungsaktes die spätere Aufhebbarkeit wesentlich beschränkt oder sogar ausschließt. Die Bekanntgabe ist von der Sache, also hier vom Verkehrszeichen und dessen Eigenart und Funktion, her zu bestimmen, nicht umgekehrt.49 4. Wiederaufgreifen des Verfahrens als Alternative? Die Autoren und Gerichte, die für die öffentliche Bekanntgabe mit einer generellen Anfechtungsfrist von nur einem Jahr eintreten, verweisen auf das Wiederaufgreifen des Verwaltungsverfahrens gem. § 51 I VwVfG oder § 51 V in Vbg. mit §§ 48, 49 VwVfG als Rechtsschutzalternative.50 Ganz so unproblematisch ist dies jedoch nicht, wie gelegentlich behauptet wird.51 § 51 I VwVfG erfasst drei Fallkonstellationen, nämlich 1. die nachträgliche Änderung der dem Verwaltungsakt zugrundeliegenden Sach- oder Rechtslage, 2. neue Beweismittel und 3. das Vorliegen einer der Wiederaufnahmegründe des § 580 ZPO. Ziff. 2 und 3 entfallen von vornherein, Ziff. 1 greift nur dann ein, wenn sich die Sach- oder Rechtslage nach Erlass des Verwaltungsakts geändert hat, also gerade nicht im Falle der ursprünglichen Rechtswidrigkeit.52 Es bleibt also in der Regel nur § 51 V in Vbg. mit § 48 VwVfG. Das Verfahren läuft in zwei Stufen: Zunächst muss die Behörde prüfen, ob das Verfahren überhaupt wieder aufgenommen werden soll, und dann, wenn das bejaht worden ist, muss sie weiter prüfen, ob und inwieweit der Verwaltungsakt (also im vorliegenden Fall das Verkehrszeichen) aufgehoben werden soll.53 Auf beiden Stufen hat die Behörde nach Ermessen zu entscheiden und dementsprechend der betroffene Bürger nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Prüfung. § 51 in Vbg. mit § 48 VwVfG vermittelt also allenfalls Rechtsschutz nach doppeltem Ermessen der Behörde. Schon das zeigt, dass dieser Weg keinen vollen Ausgleich für die abgelehnte direkte Anfechtung des Verkehrszeichens gewährleistet. Hinzu kommt, dass der Hinweis auf die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Verwaltungsakts allein nicht ausreicht, sondern zusätzlich besondere und gewichtige Gründe für die Beseitigung des Verwaltungsakts vorliegen müssen. Der Bad.-Württ. VGH, der – bislang wohl als einziges Gericht – das Wiederaufgreifen 48
Vgl. § 93 I BVerfGG, § 47 II 1 VwVGO. Vgl. dazu auch den allgemeinen Hinweis oben Abschnitt III 3 a. E., dass dogmatische Begriffe Leitfunktion haben und dementsprechend nicht in ein Prokrustusbett gezerrt werden dürfen. 50 Vgl. Stelkens (Fußn. 2), § 35 Rn. 333; ders., NJW 2010, 1186; Ramsauer (Fußn. 2), § 35 Rn. 174; Ehlers, JZ 2011, 157; Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 562 mit weiteren Nachw.; Bad.-Württ. VGH JZ 2009, 738 Rn. 6; ders., VBlBW 2010, 115 Rn. 22 ff. mit ausführlicher Begründung im Einzelfall; anders nunmehr VGH Bad.-Württ., U. v. 10. 2. 2011 (Az: 5 S 2085/09). 51 Stelkens, NJW 2010, 1186: „Warum umständlich, wenn es einfach geht“. 52 Bei Änderung der Sach- oder Rechtslage läuft die Klagefrist neu, selbst dann, wenn das Verkehrszeichen formell nicht geändert worden ist, vgl. HessVGH NJW 1999, 1651. 53 Vgl. zuletzt BVerwGE 135, 121 und 134; ferner etwa Maurer (Fußn. 15), § 11 Rn. 62 ff. 49
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des Verwaltungsverfahrens im Blick auf Verkehrszeichen eingehender durchgeprüft hat, stellt insoweit sehr hohe Anforderungen, bejaht aber dann doch im konkreten Fall noch einen Prüfungs- und Rücknahmeanspruch.54 Dabei spielt offenbar auch Art. 19 IV GG eine Rolle, der verlange, dass demjenigen, dem der vorhergehende und unmittelbare Rechtsschutz versagt werde, „unter erleichterten Bedingungen ein Wiederaufnahmeanspruch“ gewährt werden müsse.55 Worin die erleichterten Bedingungen bestehen sollen, bleibt offen. Der vielleicht zunächst naheliegende Gedanke, das Wiederaufnahmeverfahren im Blick auf Art. 19 IV GG verfassungskonform auszulegen und in diesen Fällen eine entsprechende Prüfungs- und Rücknahmepflicht der Behörde mit korrespondierendem Anspruch anzunehmen, würde jedenfalls § 51 VwVfG überdehnen und rechtsdogmatisch korrumpieren. Das Wiederaufgreifen des Verfahrens ist auf die ausnahmsweise Durchbrechung der Bestandskraft angelegt. Er soll die Anfechtbarkeit der Verwaltungsakte (Verkehrszeichen) punktuell ergänzen, nicht für ganze Bereiche ersetzen. Abgesehen davon wäre hier, wie die erwähnte Entscheidung des Bad.-Württ. VGH zeigt, das Wiederaufgreifensverfahren auch sehr aufwändig und kompliziert und daher für die Praxis nicht zu empfehlen. VI. Polizeiliches Abschleppen eines Kraftfahrzeugs wegen eines erst nachträglich aufgestellten Parkverbotsschildes Die Unterscheidung zwischen der individuellen Bekanntgabe durch Annäherung an das Verkehrszeichen (BVerwGE 59, 221) und die öffentliche Bekanntgabe des Verkehrszeichens durch die Aufstellung (BVerwGE 102, 316)56 hat auch Konsequenzen für die rechtliche Beurteilung des nicht seltenen Falles, dass ein Kraftfahrzeug zunächst ordnungsgemäß abgestellt und geparkt wird, später aber infolge eines nachträglich aufgestellten Parkverbotsschildes rechtswidrig dasteht. Dass die Polizei das Kraftfahrzeug zumindest dann, wenn es den Verkehr stört oder bestimmte Vorhaben (Bauarbeiten, Straßenumzüge usw.) beeinträchtigt, abschleppen lassen darf, ist im Ergebnis unbestritten. Fraglich ist aber die Rechtsgrundlage57.
54 Vgl. Bad.-Württ. VGH, VBlBW 2010, 115: Das Gericht legt dar, dass nur dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts (sog. Ermessensreduzierung auf Null) bestehe, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ erscheine, wobei es auf einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz bei der Ausübung der Rücknahmebefugnis, auf einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von Treu und Glauben und auf die offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts hinweist (Rn. 25). 55 So Bad.-Württ. VGH aaO. (Fußn. 54), Rn. 27 in Anlehnung an Stelkens (Fußn. 2), § 41 Rn. 140, der seinerseits auf Schmidt-Aßmann, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV GG Rn. 251 und Ehlers, K & R 2001, 1, 6 (jetzt auch Ehlers, JZ 2011, 157) verweist. 56 Vgl. zu diesen Entscheidungen bereits oben IV. 2. 57 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 674; ders., Polizeirecht (Fußn. 1), Rn. 716; ders., VwGO, § 70 Rn. 63 b.
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Folgt man dem Urteil des BVerwG vom 11. 12. 1996 (BVerwGE 102, 316), dann wird ein Verkehrszeichen mit seiner Aufstellung sofort und allgemein für jedermann rechtswirksam und verbindlich. Das Parkverbotsschild enthält dementsprechend das (sofortige und allgemeine) Verbot, an der näher bezeichneten Stelle zu parken, und zugleich das Gebot, das dort ggf. stehende Kraftfahrzeug zu entfernen.58 Dass der Kraftfahrer das erst später aufgestellte Parkverbotsschild wegen seiner Abwesenheit nicht kannte oder kennen konnte, ist danach belanglos. Die Polizei kann anstelle des nicht anwesenden Kraftfahrers das Wegfahrgebot im Wege der Ersatzvornahme durch Beauftragung eines Abschleppunternehmens vollstrecken und die Kosten dem Kraftfahrer auferlegen. Lediglich im Rahmen des behördlichen Ermessens sind noch Einschränkungen, insbesondere im Blick auf die Abschleppkosten, möglich oder sogar geboten. Dieser Weg wirft freilich noch Probleme auf: Die Formel des BVerwG, dass es für die Wirksamkeit von Verkehrszeichen nur darauf ankomme, dass sie ein durchschnittlicher Kraftfahrer bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt erfassen könne, gleichgültig, ob er das Verkehrszeichen tatsächlich wahrnimmt oder nicht,59 ist keineswegs eindeutig. Ist auf die tatsächliche Möglichkeit oder nur auf die theoretische Möglichkeit der Kenntnisnahme abzustellen?60 Muss sich der abwesende Kraftfahrer sagen lassen, dass ein anwesender Kraftfahrer das Halteverbotschild hätte sehen können und müssen? Oder kann er darauf hinweisen, dass er wegen seiner Abwesenheit keine Kenntnis von dem Parkverbotschild hatte und haben konnte? Der Hinweis des BVerwG auf die öffentliche Bekanntgabe, die – wie die allgemeine öffentliche Bekanntgabe – die fingierte Bekanntgabe impliziert, spricht eher für die erste Alternative. Fraglich ist allerdings wiederum, ob und inwieweit die fingierte Bekanntgabe mit dem straßenverkehrsrechtlichen Sichtbarkeitsprinzip überhaupt vereinbar ist.61 Folgt man dagegen der früheren Rechtsprechung, die eine spezielle, letztlich individuelle Bekanntgabe fordert (BVerwGE 59, 221), dann fehlt im Falle des nachträglich aufgestellten Parkverbotsschildes die erforderliche Bekanntgabe und damit die Wirksamkeit des Parkverbotes für den Kraftfahrer, es sei denn, dass er sich noch oder später wieder im Bereich des Verkehrszeichens befindet. Damit besteht für ihn auch kein straßenverkehrsrechtliches Wegfahrgebot, das ersatzweise durch die Polizei durchgesetzt werden könnte. Die Polizei kann aber nach dem jeweils maßgeblichen Landespolizeigesetz das Kraftfahrzeug abschleppen lassen, wenn und weil es die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, die vorgesehenen Straßenbauarbeiten oder andere polizeirechtlich relevante Vorhaben beeinträchtigen sollte. Vergleicht man die beiden Alternativen, dann sind die Bezugspunkte unterschiedlich, die Ergebnisse dagegen gleich. Dasselbe gilt auch für die neuere differenzieren58 So die h. L., vgl. BVerwG NJW 1978, 656; BVerwG NJW 1997, 2021; Schenke, Polizeirecht (Fußn. 1), Rn. 714; Fischer, JuS 2002, 446. 59 BVerwGE 102, 316, 318; vgl. das Zitat oben Text zu Fußn. 25. 60 Vgl. zu dieser Unterscheidung Ramsauer (Fußn. 2), § 35 Rn. 171. 61 Vgl. dazu BVerwGE 130, 383, 385 f.
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de Entscheidung des BVerwG vom 23. 9. 2010, die die frühere Rechtsprechung zur Bekanntgabe wieder aufnimmt.62 Das nachträgliche Aufstellen eines Parkverbotsschildes hat für den betroffenen Kraftfahrer nicht nur einen Überraschungseffekt, sondern belastet ihn auch mit Nachteilen, da er seinem Kraftfahrzeug nachgehen und zumindest in der Regel die Abschleppkosten zu bezahlen hat. Das Parken ist zwar straßen- und straßenverkehrsrechtlich grundsätzlich unbeschränkt,63 kann aber jederzeit aus sachlichen Gründen beschränkt werden. Auch wenn es kein Vertrauen auf den Fortbestand einer bestimmten Straßenverkehrs- und Parkregelung und damit gegen überraschende Parkverbotsschilder gibt, ist es doch angebracht, die Verkehrsteilnehmer an Ort und Stelle auf bevorstehende Parkbeschränkungen hinzuweisen, insbesondere wenn sie vorübergehender Natur sind. In der Rechtsprechung ist das inzwischen auch anerkannt. Fraglich ist nur, wie lange die sog. Vorlaufzeit sein sollte. Das BVerwG hat 4 Tage für ausreichend erachtet.64 In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte werden unterschiedliche Zeiten gefordert bzw. für ausreichend gehalten, was aber auch von den jeweiligen konkreten Verhältnissen abhängen dürfte.65 Der von den Abschleppmaßnahmen betroffene Fahrer oder Halter des Kraftfahrzeugs kann sich zur Wehr setzen und den Rechtsweg beschreiten. In Betracht kommen vor allem ein Widerspruch und anschließend eine Anfechtungsklage gegen den Kostenbescheid mit der Begründung, der geforderte Betrag sei zu hoch oder wegen der fehlenden rechtlichen Voraussetzungen insgesamt rechtswidrig. Hat er – wie üblich – die Kosten an den für die Polizei tätigen Abschleppunternehmer bezahlt, kann er gegen sie auf Erstattung der bezahlten Kosten klagen. Im Rahmen dieser Klagen kann er ferner geltend machen, die Abschleppmaßnahmen und Kostenforderungen seien schon deshalb rechtswidrig, weil ihre Grundlage, das Parkverbot, rechtswidrig sei. Auf diese Weise kann eine inzidente gerichtliche Überprüfung des Verkehrszeichens erreicht werden.
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BVerwG NJW 2011, 246 = JZ 2011, 152; vgl. dazu auch oben Text zu Fußn. 34. Vgl. zum Dauerparken (sog. Laternengarage) Heß, in: Burmann/Heß u. a. (Hg.), Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl. 2010, § 12 Rn. 41. 64 BVerwGE 102, 316, 320. 65 Vgl. etwa Bad.-Württ. VGH NJW 2007, 2058; Bay.VGH DÖV 2008, 732; OVG Münster DVBl. 1996, 575; OVG Hamburg NordÖR 2009, 156 jeweils mit weiteren Angaben und Nachweisen. 63
Der effektive Rechtsschutz im japanischen Verwaltungsprozessrecht – Bedeutung und Grenzen der Reform 2004 Von Hiroaki Murakami I. Einleitung Dieser Beitrag hat die Absicht, das japanische Verwaltungsprozessrecht unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes zu überprüfen, insbesondere Bedeutung und Grenzen der Reform im Jahre 2004 festzustellen. Das japanische Verwaltungsprozessrecht, etabliert im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss des deutschen Rechts, hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigentümliche Entwicklung durchgemacht (II.). Unter dem Verwaltungsprozessgesetz von 1962 gab es aber Mängel an der Effektivität des Rechtsschutzes (III.). Obwohl die Reform 2004 diesen Zustand in mehreren Punkten verbessert hat (IV.), bleiben noch Aufgaben zu bewältigen (V.). II. Entwicklungen bis zum Erlass des Verwaltungsprozessgesetzes von 1962 1. Verwaltungsprozess unter der Meiji-Verfassung1 Die Meiji-Verfassung von 18892 hat unter dem Einfluss des deutschen (und österreichischen) Rechts3 die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt. Das Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetz von 1890 hat den Verwaltungsgerichtshof errichtet. Der so eingeführte moderne Verwaltungsprozess war jedoch in vielen Punkten mangelhaft4. 1 Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (359 f.); Fujita/Ogawa, Der gerichtliche Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber der vollziehenden Gewalt in Japan, in: Gerichtsschutz gegen die Exekutive, Bd. 1, 1969, S. 514 f.; Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (61); Ule, VerwArch 80 (1989), 303 (312 ff.). 2 Eine Übersetzung dieses Textes befindet sich in Röhl, Die Staatsverfassungen der Welt in Einzelausgaben, Bd. 4: Die Japanische Verfassung, 1963, S. 147 ff. 3 Über den Einfluss des deutschen Rechts in der Meiji-Zeit, vgl. u. a. Marutschke, Einführung in das japanische Recht, 1999, S. 33 ff. 4 Art. 24 der Meiji-Verfassung schrieb zwar vor: „Keinen japanischen Untertanen darf das Recht auf die Entscheidung des gesetzlich bestimmten Richters genommen werden“. Damals wurde aber daraus keine Forderung nach Generalklauseln, geschweige denn nach effektivem Rechtsschutz, gefolgert.
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Erstens galt ein Enumerationsprinzip, das viel restriktiver als das damalige preußische war. Zweitens war der Verwaltungsgerichtshof ein einziges Verwaltungsgericht: es gab keine Rechtsmittel gegen dessen Urteil. Drittens waren die Verfahrensrechte der Beteiligten nicht ausreichend gewährleistet. Die Unzulänglichkeit dieses Systems war allgemein erkannt und es gab einige Versuche der Reform, die alle aber keinen Erfolg hatten. 2. Reformen nach dem Zweiten Weltkrieg5 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Verwaltungsgerichtshof abgeschafft und die ordentlichen Gerichte unter dem Obersten Gerichtshof haben eine Zuständigkeit auch für Verwaltungssachen erworben, wie in den angloamerikanischen Staaten. So schreibt Art. 76 der Japanischen Verfassung von 19466 vor: „Alle rechtsprechende Gewalt liegt bei einem Obersten Gerichtshof und den nach gesetzlicher Bestimmung errichteten unteren Gerichten“ (Abs. 1); „Sondergerichte dürfen nicht errichtet werden. Kein Organ der Verwaltung kann in letzter Instanz Rechtsprechung ausüben“ (Abs. 2). Anfangs waren die Bestimmungen der Zivilprozessordnung auch für Verwaltungssachen anwendbar; nur einige Sonderbestimmungen (wie Klagefrist) enthielt das Gesetz über die provisorische Anpassung der Zivilprozessordnung bei dem Inkraftsetzen der Japanischen Verfassung von 1947. Aus Anlass des Hirano-Falls7 wurde aber die Notwendigkeit einer Sonderregelung für Verwaltungssachen anerkannt. So ist das Verwaltungsprozesssondergesetz von 1948 entstanden. Dieses Gesetz enthielt wichtige Institute wie Klagefrist, Beweisaufnahme von Amts wegen, Aussetzung der Vollziehung der Verfügung, Einspruch des Ministerpräsidenten, Umstandeurteil, die alle heute noch bestehen (vgl. unten III.). So hat das japanische Verwaltungsprozessrecht den Weg zu eigentümlichen Entwicklungen angetreten8. Dieses Gesetz (nur 12 Paragraphen insgesamt) war aber so schlicht, dass viele Auseinandersetzungen über deren Anwendung entstanden. So wurde in 1962 das Verwaltungsprozessgesetz (45 Paragraphen) erlassen, das bis zur Reform 2004 galt. 5 Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (360 f.); Fujita/Ogawa (Fußn. 1), S. 515 f.; Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (61 ff.). 6 Eine Übersetzung dieses Textes befindet sich in Röhl (Fußn. 2), S. 85 ff. 7 Der Abgeordnete Hirano war wegen seiner ultranationalistischen Tätigkeit während des Kriegs von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen worden. Hirano stellte einen Antrag auf einstweilige Verfügung zur Sicherung seiner Stellung und das zuständige Landgericht Tokyo gab diesem Antrag statt. Die Besatzungsmacht, die die Ausschließungsmaßnahme von der japanischen Regierung gefordert hatte, kritisierte diesen Beschluss heftig, und das Landgericht sah sich gezwungen, ihn aufzuheben. Die Besatzungsmacht, bis dahin sympathisch für die Anwendung der Zivilprozessordnung, hat seine Position geändert. Über die Stellung der Besatzungsmacht in der Okkupationszeit, vgl. Marutschke (Fußn. 3), S. 56. 8 Vgl. Shiono, Verwaltungsrecht und Verwaltungsstil, in: Coing u. a. (Hrsg.), Die Japanisierung des westlichen Rechts, 1990, S. 48 ff.
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III. Verwaltungsprozess vor der Reform 20049 1. System des Verwaltungsprozesses a) Klagearten Das Verwaltungsprozessgesetz sieht vier Klagearten vor: Anfechtungsklage im weiteren Sinne10 ist die Klage gegen die Ausübung öffentlicher Gewalt (§ 3 I). Parteiklage ist hauptsächlich11 die Klage, die ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis betrifft (§ 4). Popularklage ist die Klage, mit der die Korrektur gesetzwidriger Akte des Organs des Staats oder der Gebietskörperschaften begehrt wird und die der Kläger als Wähler oder sonst in einer Eigenschaft erhebt, die seine eigenen rechtlichen Interessen nicht betrifft (§ 5). Organklage ist die Klage, die Streitigkeiten über Zuständigkeiten oder deren Ausübung zwischen Organen des Staates oder der Gebietskörperschaften betrifft (§ 6). Die Anfechtungsklage im weiteren Sinne enthält folgende Unterarten: Aufhebungsklage gegen eine Verfügung oder einen Bescheid ist die Klage, mit der die Aufhebung einer Verfügung oder anderweitiger Handlungen der Behörde sowie eines Beschwerdebescheids begehrt wird (§ 3 II, III). Nichtigkeitsfeststellungsklage ist die Klage, mit der die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens sowie der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Verfügung oder eines Bescheids begehrt wird (§ 3 IV). Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit ist die Klage, mit der die Feststellung begehrt wird, es sei rechtswidrig, dass eine Behörde in einer angemessenen Frist keine Verfügung oder keinen Bescheid erlassen hat, obwohl sie auf einen Antrag, der auf eine Gesetzesvorschrift gestützt war, eine Verfügung oder einen Bescheid hätte erlassen müssen (§ 3 V). b) Verwaltungsprozess und Zivilprozess Das Verwaltungsprozessgesetz enthält über die Abgrenzung zwischen Verwaltungsprozess und Zivilprozess keine ausdrückliche Bestimmung, setzt aber die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht voraus, wie z. B. § 4 („ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis“) andeutet. Über diese Unterscheidung gab es aber nach dem Zweiten Weltkrieg heftige Auseinandersetzungen. Die heute herrschende 9
Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (363 ff.); Fujita/Ogawa (Fußn. 1), S. 525 ff.; Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (63 ff.). 10 Der Begriff Anfechtungsklage war bis dahin ungefähr ein Synonym für die Aufhebungsklage wie in Deutschland. Das Verwaltungsprozessgesetz benutzt ihn, wie unten gezeigt, als einen Oberbegriff der Aufhebungsklage, Nichtigkeitsfeststellungsklage, Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit und anderer nicht benannter Anfechtungsklagen. 11 Öffentlich-rechtliche Parteiklage enthält auch die Klage, die eine Verfügung oder einen Bescheid betrifft, die die Rechtsbeziehung zwischen Parteien feststellt oder gestaltet, aber in der nach gesetzlichen Vorschriften eine dieser Parteien Beklagter wird (§ 4). Vgl. näher Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (366); Fujita/Ogawa (Fußn. 1), S. 536 Fn. 48.
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Meinung verneint die Nützlichkeit einer solchen Unterscheidung, weil keine gesonderte Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr besteht12. So gibt es eine gewisse Differenz zwischen dem Gesetzestext und der Lehre. Das ist aber nicht so problematisch, da einerseits der Unterschied zwischen Zivilprozess und Parteiklage fast inexistent ist (die Sonderregelung betrifft meistens Anfechtungsklagen im weiteren Sinne) und andererseits Parteiklagen bis vor kurzen nur selten benutzt wurden. c) Objektive Klage und subjektive Klage Unter den obengenannten vier Klagearten haben die Popularklage und die Organklage eine Sonderstellung: diese Klagen kann nur derjenige erheben, der in einem Gesetz als klagebefugt bezeichnet worden ist (§ 42). Nach der herrschenden Meinung sind sie objektive Klagen, deren Zweck Schutz des öffentlichen Interesses ist, und kein eigentlicher Gegenstand der Justizgewalt13. Dagegen sind Anfechtungsklagen im weiteren Sinne und Parteiklagen subjektive Klagen, deren Zweck der Schutz der subjektiven Rechte ist und die ohne ausdrückliche Gesetzesbestimmung erhoben werden können. In Japan sind Popularklagen, vor allem Wahlklage und Einwohnerklage, häufig und spielen eine wichtige Rolle zum Schutz des öffentlichen Interesses14. d) „Nicht benannte Anfechtungsklage im weiteren Sinne“ Das Verwaltungsprozessgesetz von 1962 sah als Anfechtungsklage im weiteren Sinne ausdrücklich drei Klagearten vor, aber der Gesetzgeber hatte keine Absicht, die Klagearten limitativ aufzuzählen; so war die Frage offen, ob man eine sog. „nicht benannte Anfechtungsklage im weiteren Sinne“ erheben kann. Hauptsächlich handelte es sich um Verpflichtungsklage und Unterlassungsklage. Das Gesetz hatte keine Bestimmung über diese Klagen, weil zur Zeit dessen Entstehung die damalige herrschende Lehre dagegen verfassungsrechtliche Bedenken zum Ausdruck brachte15. Seitdem ist eine solche Auffassung verschwunden. Die Judikatur forderte aber 12 Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (366); Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (48 ff.). 13 Die Japanische Verfassung hat keine Bestimmung über den Gegenstand der Justizgewalt, aber das Gerichtsgesetz von 1947 sieht vor: „Das Gericht entscheidet über alle rechtlichen Streitigkeiten, es sei denn, dass die Japanische Verfassung etwas anderes bestimmt, und hat weitere Kompetenzen, die durch Gesetz besonders bestimmt werden.“ Nach der herrschende Meinung gehören die subjektive Klagen zu „rechtliche Streitigkeiten“, die objektive Klage zu „weiteren Kompetenzen“. 14 Vgl. Böhm/Okubo, DÖV 2007, 826 (829). Nach dem geltenden Recht lässt sich aber eine Einwohnerklage nur in Bezug auf die Gebietskörperschaften (Gemeinden und Präfekturen) erheben, nicht aber in Bezug auf den Staat. 15 Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (365); Fujita/Ogawa (Fußn. 1), S. 518 ff.; Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (63 f.). Statt einer Verpflichtungsklage wurde die Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit vorgesehen. Diese Klage hat aber nur eine begrenzte Funktion, weil die beklagte Behörde nach Verlust des Prozesses den Antrag ver-
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ziemlich strenge Klagevoraussetzungen für diese Klagearten16. Bis zur Reform 2004 gab es nur eine einzige Entscheidung des Landgerichts, die dem Verpflichtungsanspruch stattgegeben hat17. e) „Aufhebungsklagezentrismus“ Das Verwaltungsprozessgesetz enthält ausführliche Bestimmungen über die Aufhebungsklage. Ein Teil dieser Bestimmungen ist auf anderen Klagearten entsprechend anzuwenden. Darüber hinaus gab es vor der Reform 2004 eine Tendenz in der Literatur sowie in der Praxis, die Aufhebungsklage als eine zentrale und grundsätzliche Klageart zu erfassen. Diese Tendenz nennt man „Aufhebungsklagezentrismus“. Die nicht benannten Anfechtungsklagen im weiteren Sinne wurden, wie oben gesehen, als außerordentliche und subsidiäre Klagearten verstanden. Die Parteiklage hatte damals einen sehr begrenzten Anwendungsbereich. Auch Diskussionen in der Literatur konzentrierten sich auf die Aufhebungsklage. 2. Klagevoraussetzungen a) Gegenstand der Klage Gegenstand der Aufhebungsklage ist eine „Verfügung der Verwaltungsbehörde und ein anderer Akt der öffentlichen Gewalt“ (§ 3 II) sowie ein Beschwerdebescheid (§ 3 III). Das Gesetz enthält keine Definition des Begriffs der Verfügung. Nach der Rechtsprechung ist Verfügung „ein Akt des Staats oder der Gebietskörperschaften als Träger der öffentlichen Gewalt, der auf Grund der Gesetzesvorschriften Rechte oder Pflichte der Staatsbürger unmittelbar gestaltet oder deren Grenze unmittelbar feststellt“18. Die Rechtsprechung hatte zuerst die Tendenz, den Begriff Verfügung eng auszulegen19. Z.B. wurden die Klagen gegen den Bau einer Müllverbrennungsanlage20, die Verwarnung an einen Arzt21, eine Verwaltungsvorschrift22, eine Planfeststellung23 oder eine Feststellung zur Zoneneinteilung24 als unzulässig abgewiesen. Dies hatte zur Folge, dass unter dem oben erwähnten „Aufhebungsklagezentrismus“ in diesen weigern kann, so dass in diesem Fall der Kläger dagegen nochmals Aufhebungsklage erheben muss. 16 Z.B. betreffend Unterlassungsklage Oberster Gerichtshof (OGH), Urt. v. 30. 11. 1972. 17 Landgericht (LG) Tokyo, Urt. v. 4. 12. 2001. 18 OGH, Urt. v. 29. 10. 1964. 19 Vgl. Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (64 ff.). 20 OGH, Urt. v. 29. 10. 1964. 21 OGH, Urt. v. 4. 6. 1963. 22 OGH, Urt. v. 24. 12. 1968. 23 OGH (Großer Senat), Urt. v. 23. 2. 1966. 24 OGH, Urt. v. 22. 4. 1982.
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Fällen praktisch kein Rechtsschutz erteilt wurde. Dennoch gab es eine Reihe von Entscheidungen des Obersten Gerichts, die den Gegenstand der Aufhebungsklage relativ weit verstanden haben25. b) Klagebefugnis Eine Aufhebungsklage kann nur derjenige erheben, der an der Aufhebung der angefochtenen Verfügung usw. ein rechtliches Interesse hat (§ 9 a.F.). Die Rechtsprechung legt (bis heute) das „rechtliche Interesse“ als ein Interesse aus, das durch die Gesetzesvorschrift, aufgrund derer die Verfügung usw. erlassen wurde, geschützt ist26. Diese Auffassung entspricht ungefähr der Schutznormlehre in Deutschland. Die Rechtsprechung hat sie aber zuerst sehr eng ausgelegt27. Schon vor der Reform 2004 gab es aber eine Tendenz in der Rechtsprechung, die Klagebefugnis großzügiger anzuerkennen28. Eine Klagebefugnis wurde jedoch abgelehnt z. B. in Fällen, in denen Nachbarn einer Spielhalle29 oder einer Eisenbahnstrecke30 gegen die Genehmigung geklagt haben. c) Nachträglicher Verlust des rechtlichen Interesses Hinsichtlich der Frage des nachträglichen Verlustes des rechtlichen Interesses, die in Deutschland im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 IV VwGO) erörtert wird, sieht das japanische Gesetz vor: „Das rechtliche Interesse kann auch bei Personen bestehen, die noch ein durch die Aufhebung der Verfügung oder des Bescheids wiederherzustellendes rechtliches Interesse haben, selbst nachdem die Wirkung der Verfügung oder des Bescheids wegen Fristablaufs oder anderer Gründe geendet hat“ (§ 9 a.F.). Die Rechtsprechung legt diese Bestimmung ziemlich streng aus und verneint das rechtliche Interesse in den Fällen, in denen der Kläger Rehabilitation31 oder Wiederholungsgefahr32 behauptet hat. d) Beklagter Vor der Reform war Beklagter grundsätzlich die Verwaltungsbehörde, die die angefochtene Verfügung usw. erlassen hat (§ 11 I a.F.). Der Gesetzgeber hatte gemeint, 25 Z.B. OGH, Urt. v. 25. 12. 1979, das eine Aufhebungsklage gegen eine Mitteilung des Zolldirektors, der ein Buch als verbotene Ware erklärt hatte, als zulässig betrachtet hat. 26 OGH, Urt. v. 14. 3. 1978. 27 Vgl. Takada u. a., VerwArch 69 (1978), 34 (67 ff.); Böhm/Okubo, DÖV 2007, 826 (828, 830). 28 Z. B. OGH, Urt. v. 22. 9. 1992, das unter Berücksichtigung von Inhalt und Natur der betroffenen Interessen, den Nachbarn eines Kernkraftwerks Klagebefugnis zur Aufhebung der Genehmigung anerkannt hat. 29 OGH, Urt. v. 17. 12. 1998. 30 OGH, Urt. v. 25. 11. 1999. 31 OGH, Urt. v. 25. 11. 1980. 32 OGH (Großer Setat), Urt. v. 1. 7. 1992.
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dass es für Staatsbürger leichter sei, den Verfasser der Verfügung usw. zu kennen. Das war aber nicht unproblematisch, weil sowohl im Zivilprozess als auch in den Parteiklagen Beklagter Verwaltungssubjekt (der Staat oder Gebietskörperschaft) ist. e) Zuständige Gerichte Örtlich zuständig ist das Landgericht, in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat, welche die angefochtene Verfügung usw. erlassen hat (§ 12 I). Daneben sind zuständig die Gerichte, in dessen Bezirk sich die Immobilien befinden, auf die sich die angefochtene Verfügung usw. bezieht (§ 12 II), und in dessen Bezirk die Verwaltungsbehörde ihren Sitz hat, welche die angefochtene Verfügung usw. vorbereitet hat (§ 12 III). Diese Bestimmungen folgen dem Muster des Zivilprozesses. Für die staatlichen Verfügungen ist aber meistens das Landgericht Tokyo zuständig, weil fast alle staatlichen Verwaltungsbehörden ihren Sitz in Tokyo haben. Infolgedessen war eine Klageerhebung für die Menschen, die in der Provinz wohnen, nicht so leicht. f) Klagefrist Vor der Reform 2004 betrug die Klagefrist drei Monate seit dem Tage, an dem der Kläger von der Verfügung usw. Kenntnis erhalten hat, oder ein Jahr seit dem Erlass der Verfügung usw. (§ 14 I, III a.F.). g) Vorverfahren Es gibt keinen Vorverfahrenszwang, es sei denn, dass eine Gesetzesvorschrift dessen Ausnahme ausdrücklich vorsieht (§ 8 I). Eigentlich wollte der Gesetzgeber des Verwaltungsprozessgesetzes diese Ausnahme streng beschränken: nur in den Fällen, in denen Verfügungen massenhaft erlassen sind, Verfügungen fachtechnischen Charakter haben oder Drittorgane an Vorverfahren teilnehmen. Diese Beschränkung wurde jedoch nicht immer gehalten und man sagt manchmal, dass die Ausnahme zum Grundsatz geworden sei33. 3. Verfahren Für das Verfahren der Aufhebungsklage schreibt das Verwaltungsprozessgesetz einige Sonderbestimmungen vor: Beweisaufnahme von Amts wegen (§ 24), Beiladung von Dritten und der Verwaltungsbehörde (§§ 22, 23). Sonst ist die Zivilprozessordnung anwendbar (§ 7). Insbesondere gilt eine Verhandlungsmaxime auch im Verwaltungsprozess. Die Beweisaufnahme von Amts wegen, vorgeschrieben zum Zweck des Schutzes des öffentlichen Interesses, wird in der Tat wenig benutzt. So ist das Verfahren fast ähnlich wie im Zivilprozess. Zu dieser Tendenz hat vielleicht die Tatsache beigetragen, dass es die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind, die das Verwal-
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Fujita/Ogawa (Fußn. 1), S. 527.
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tungsprozessgesetz anwenden34. Man spricht manchmal vom Missbrauch des Parteiprinzips, das bedeutet die Tendenz der beklagten Verwaltungsbehörde, bei der Aufklärung des Sachverhalts nicht immer aktiv mitzuwirken. 4. Urteil In Bezug auf das Urteil sieht das Verwaltungsprozessgesetz einige Sonderbestimmungen vor, sonst sind die Bestimmungen der Zivilprozessordnung anwendbar (§ 7). a) „Umstandurteil“ Gerichte können Aufhebungsklagen abweisen, obwohl die angefochtene Verfügung usw. rechtswidrig ist, wenn deren Aufhebung das öffentliche Interesse erheblich beeinträchtigen würde (§ 31). Dieses Institut nennt man „Umstandurteil“, weil die Klage wegen besonderen Umständen abgewiesen wird. Eine solche Ausnahmebehandlung ist gestattet, um eine vollendete Tatsache in Betracht zu ziehen, wenn sich z. B. ein Enteignungsbescheid als rechtswidrig herausgestellt hat, nachdem aufgrund dessen ein Damm fertig gestellt war. Es gab und gibt Kontroversen über dieses Institut: Die einen kritisieren es als Widerspruch gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die anderen betrachten es als ein unvermeidliches Übel35. b) Drittwirkung des Aufhebungsurteils Das Verwaltungsprozessgesetz sieht vor, dass das Aufhebungsurteil auch gegenüber dritten Personen wirksam ist (§ 32 I). Wenn z. B. ein Nachbar eines Gebäudes die Aufhebung der Baugenehmigung begehrt und das Gericht diese Genehmigung aufhebt, ist der Bauherr an dieses Urteil gebunden. Um Verfahrensrechte des Dritten zu gewährleisten, kann der Dritte an der Aufhebungsklage als Beigeladener teilnehmen (§ 22) oder nach Eintritt der Rechtskraft Wiederaufnahme des Verfahrens fordern (§ 34). c) Bindungskraft des Aufhebungsurteils für die Verwaltungsbehörden Das Aufhebungsurteil bindet die Verwaltungsbehörde, die die Verfügung usw. erlassen hat, und andere betroffene Verwaltungsbehörden (§ 33 I). Wenn z. B. eine Verwaltungsbehörde einen Antrag auf Genehmigung verweigert und das Gericht diese Verweigerungsverfügung als rechtswidrig aufgehoben hat, muss diese Verwaltungsbehörde den Antrag nochmals prüfen und gemäß dem Sinn dieses Urteils entscheiden (§ 33 II).
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Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (372). Vgl. Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (374).
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5. Vorläufiger Rechtsschutz Das Verwaltungsprozessgesetz schließt für Verfügungen der Verwaltungsbehörden und sonstige Akte der öffentlichen Gewalt die Anwendung der zivilprozessrechtlichen einstweiligen Verfügung aus (§ 44). Stattdessen ist das Institut der Aussetzung der Vollziehung der Verfügung vorgesehen (§ 25). Hier gab es aber einige Defizite des Rechtsschutzes. a) Strenge Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung Die Klageerhebung hat in Japan keine aufschiebende Wirkung (§ 25 I). Das Gericht kann auf Antrag die Aussetzung der Vollziehung anordnen, die Voraussetzungen sind aber ziemlich streng. Vor allem war es notwendig, dass der Antragsteller sonst „einen schwer zu ersetzenden Schaden“ erleiden würde (§ 25 II a.F.). So war die Aussetzung der Vollziehung fast nie gestattet, wenn der Antragsteller ein wirtschaftliches Interesse verlieren würde. b) Defizite des vorläufigen Rechtsschutzes Das Institut der Aussetzung der Vollziehung hat nur einen begrenzten Anwendungsbereich. Wenn z. B. eine Aufhebungsklage wegen Verweigerung einer Genehmigung erhoben worden ist, verneint die Rechtsprechung das rechtliche Interesse an dem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung, weil mit der Aussetzung der Antragsteller diese Genehmigung nicht erhalten kann. Auch für Verpflichtungsklagen und Unterlassungsklagen, die als nicht benannte Anfechtungsklagen im weiteren Sinne zulässig waren (vgl. oben III. 1. d)), gab es keinen vorläufigen Rechtsschutz. c) Einspruch des Ministerpräsidenten Gerichte dürfen die Aussetzung der Vollziehung nicht anordnen oder müssen eine solche Anordnung widerrufen, wenn der Ministerpräsident dagegen Einspruch einlegt hat (§ 27). Der Ministerpräsident muss seinen Einspruch begründen, aber das Gericht kann dessen Begründetheit nicht überprüfen. Dieses Institut wurde dadurch rechtfertigt, dass die Erteilung des vorläufigen Rechtsschutzes eine Funktion der Verwaltung, nicht der Justiz sei. Die heute herrschende Meinung kritisiert diese Ausfassung und viele betrachten dieses Institut als verfassungswidrig36. Ein Einspruch des Ministerpräsidenten wurde in der Zeit der Studentenbewegung manchmal eingelegt, aber seit langem fast nie benutzt.
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Schon kritisch Takabayashi, VerwArch 55 (1964), 359 (374).
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6. Zusammenfassung: Desinteresse an der Effektivität des Rechtsschutzes Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der japanische Verwaltungsprozess erheblich reformiert, es blieben jedoch viele Unzulänglichkeiten unter dem Verwaltungsprozessgesetz von 1962. Als Gründe dafür lassen sich der „Aufhebungsklagezentrismus“ oder die Auffassung anführen, dass die Erteilung des vorläufigen Rechtsschutzes eine Funktion der Verwaltung sei. Man kann aber die Tatsache nicht übersehen, dass in Japan die Effektivität des Rechtsschutzes nicht immer für wichtig gehalten wurde37. In der Literatur wurde aus Art. 32 der Japanischen Verfassung („Niemand darf des Rechts auf gerichtliche Entscheidung beraubt werden“) die Forderung auf den effektiven Rechtsschutz abgeleitet38. Aber in der Praxis herrschte die Meinung, dass dieser Artikel nur eine Klageerhebung nach den jeweiligen geltenden Gesetzesbestimmungen gewährleistet, nicht aber die Effektivität des Rechtsschutzes. IV. Die Reform 2004 1. Zweck der Reform Zur Vorbereitung der Reform wurde ein Fachausschuss errichtet und der Gesetzgeber hat das Verwaltungsprozessgesetz gemäß seinem Vorschlag geändert. Im Vorwort des Berichts dieses Ausschusses heißt es unter anderen, dass der Verwaltungsprozess unter dem Gesichtspunkt der effektiven Gewährleistung des Rechtsschutzes revidiert werden soll. 2. Klagearten Das neue Verwaltungsprozessgesetz sieht die Verpflichtungs- und Unterlassungsklage ausdrücklich vor und erwähnt die öffentlich-rechtliche Feststellungsklage als eine Unterart der Parteiklage. a) Verpflichtungsklage Verpflichtungsklage ist die Klage, mit der die Anordnung an eine Verwaltungsbehörde begehrt wird, eine Verfügung oder einen Bescheid zu erlassen (§ 3 VI n.F.). Dabei ist diese Klage in zwei Unterarten aufgeteilt: Die Verpflichtungsklage, die einen Antrag voraussetzt, der auf eine Gesetzesvorschrift gestützt ist („antragsmäßige Verpflichtungsklage“), und die Verpflichtungsklage, die einen solchen Antrag nicht voraussetzt („nicht antragsmäßige Verpflichtungsklage“). Eine antragsmäßige Verpflichtungsklage kann relativ leicht erhoben werden. Wenn man aufgrund einer Gesetzesvorschrift einen Antrag auf eine Verfügung 37 38
men.
Vgl. Yamamoto, DÖV 2006, 848 (849). Dabei hat man oft auf die deutsche Lehre des effektiven Rechtsschutzes Bezug genom-
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oder einen Bescheid gestellt und die Verwaltungsbehörde in einer angemessenen Frist keine Verfügung usw. erlassen oder diesen Antrag verweigert hat, kann man antragsmäßige Verpflichtungsklage erheben (§ 37 – 3 I, II n.F.). Nur muss der Kläger gleichzeitig Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit oder Aufhebungsklage gegen die Verweigerungsverfügung erheben (§37 – 3 III n.F.). Dieser Klagezwang soll dem Gericht eine Möglichkeit geben, sich auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Untätigkeit oder die Aufhebung der Verweigerungsverfügung zu beschränken, wenn die Sachlage zum Verpflichtungsurteil noch nicht reif ist (§ 37 – 3 VI n.F.). Die Klagevoraussetzungen der nicht antragsmäßigen Verpflichtungsklage sind erheblich strenger. Diese Klage kann erhoben werden, wenn der Kläger einen wichtigen Schaden erleiden würde und zum Vermeiden dieses Schadens kein angemessenes Mittel hat (§ 37 – 2 I n.F.). Der Grund für diese Erschwerung sei, dass in dieser Klageart, anders als im Fall der antragsmäßigen Verpflichtungsklage, der Gesetzgeber den materiell-rechtlichen Anspruch nicht ausdrücklich anerkannt habe und dass sich die Gerichte nur ausnahmsweise einmischen dürften. Diese Erklärung findet kritische Bemerkungen in der Literatur. Seit dem Inkrafttreten des revidierten Verwaltungsprozessgesetzes sind viele Verpflichtungsklagen erhoben worden, es gibt aber nur wenige Entscheidungen, die im Rahmen der nicht antragsmäßigen Verpflichtungsklage einem Anspruch stattgegeben haben. b) Unterlassungsklage Unterlassungsklage ist die Klage, mit der die Anordnung an eine Verwaltungsbehörde begehrt wird, eine bestimmte Verfügung oder einen bestimmten Bescheid zu unterlassen (§ 3 VII n.F.). Diese Klage kann erhoben werden, wenn der Kläger einen wichtigen Schaden erleiden würde, es sei denn, er hat zum Vermeiden dieses Schadens ein angemessenes Mittel (§ 37 – 4 I n.F.). Diese strengen Voraussetzungen werden dadurch gerechtfertigt, dass eine Unterlassungsklage nur ausnahmsweise zulässig sein soll, wenn die nachträglichen Klagen für einen effektiven Rechtsschutz nicht ausreichend sind. Es gibt nur wenige Entscheidungen, die einem Unterlassungsanspruch stattgegeben haben. c) Öffentlich-rechtliche Feststellungsklage Im neuen Verwaltungsprozessgesetz ist die öffentlich-rechtliche Feststellungsklage als eine Unterart der Parteiklage ausdrücklich erwähnt (§ 4 n.F.). Das ist sozusagen ein Ersatz für eine Erweiterung des Gegenstandes der Aufhebungsklage. Während der Diskussion zur Reform gab es heftige Auseinandersetzungen darüber, ob der Gegenstand der Aufhebungsklage erweitert werden soll. Da darüber kein Einverständnis erreicht wurde, wurde vorgeschlagen, stattdessen die öffentlich-rechtliche Feststellungsklage, die bis dahin nur selten gebraucht wurde, in Zukunft zu nutzen. Über deren Klagevoraussetzungen gibt es aber noch Unklarheiten. Z.B. ist umstritten, in
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welchem Umfang das Feststellungsinteresse bejaht werden oder was Gegenstand der Feststellung sein kann (z. B. Rechtssetzungsakt, Verwaltungsvorschrift, Plan usw.). In einem Fall, in dem die Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen des Wahlgesetzes behauptet worden war, die die Wahlrechte der im Ausland wohnenden Staatsbürger (teilweise) verneinten, hat der Oberste Gerichtshof die Klage auf Feststellung des Rechts, im Rahmen einer bestimmten Wahl abzustimmen, als zulässig betrachtet und, die Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmungen bejahend, dem Anspruch stattgegeben39. 3. Klagevoraussetzungen a) Klagebefugnis In der Vorbereitung der Reform war heftig umstritten, ob die Klagebefugnis für die Aufhebungsklage erweitert werden soll. Als ein Kompromiss wurde eine Auslegungsvorschrift eingeführt (§ 9 II n.F.), um die Klagebefugnis zu erweitern40. Nach der Reform hat der Oberste Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung41 geändert und den Nachbarn einer Eisenbahnstrecke die Klagebefugnis zur Aufhebung der Genehmigung zum Bau dieser Strecke bejaht42. b) Veränderung der Regelungen über den Beklagten Nunmehr ist Beklagter der Anfechtungsklage im weiteren Sinne grundsätzlich das Verwaltungssubjekt (der Staat oder die Gebietskörperschaft), dessen Verwaltungsbehörde die angefochtene Verfügung usw. erlassen hat (§ 11 I n.F.), nicht mehr die Verwaltungsbehörde (vgl. oben III. 2. d)). Hiermit sind die Regelungen über den Beklagten im Verwaltungsprozess und im Zivilprozess vereinheitlich worden. c) Erweiterung der zuständigen Gerichte Außer den nach dem alten Gesetz zuständigen Gerichten (vgl. oben III. 2. e)) ist jetzt für die Aufhebungsklage, in der der Staat oder eine staatliche (es gibt in Japan staatliche unabhängige Verwaltungskörperschaften, die dem Staat gehören, und örtliche unabhängige Verwaltungskörperschaften, die einer Gemeinde oder Präfektur gehören) unabhängige Verwaltungskörperschaft Beklagter ist, das Landgericht zuständig, in dessen Bezirk sich das Oberlandesgericht befindet, in dessen Bezirk der Kläger seinen Sitz hat (§ 12 IV n.F.). Wenn z. B. ein Einwohner der Stadt Kagoshima eine Verfügung des Finanzministers anfechten will, musste er vor der Reform beim Landgericht Tokyo (ca. 930 km entfernt von Kagoshima), in dessen Bezirk der Fi39 40 41 42
OGH (Großer Senat), Urt. v. 14. 9. 2005. Vgl. Böhm/Okubo, DÖV 2007, 826 (830). OGH, Urt. v. 25. 11. 1999. OGH (Großer Senat), Urt. v. 7. 12. 2005. Vgl. Böhm/Okubo, DÖV 2007, 826 (831).
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nanzminister seinen Sitz hat, die Klage erheben; jetzt darf er beim Landgericht Fukuoka (ca. 215 km entfernt) die Klage erheben, weil sich in Fukuoka das Oberlandesgericht Fukuoka befindet, das für die Stadt Kagoshima zuständig ist. d) Verlängerung der Klagefrist Die Aufhebungsklage muss in sechs Monaten (statt drei Monaten vor der Reform) seit dem Tage erhoben werden, an dem der Kläger von der Verfügung usw. Kenntnis erhalten hat (§ 14 I n.F.). e) Einführung der Klagebelehrung Um die Klageerhebung zu erleichtern, muss die Verwaltungsbehörde den Adressaten der Verfügung usw. über die folgenden Punkte belehren, wenn diese Verfügung usw. Gegenstand der Aufhebungsklage sein kann und schriftlich erlassen werden soll: aa) jeweiliger Beklagter, bb) Klagefrist, cc) Vorverfahrenszwang, wenn ein solcher vorgesehen ist (§ 46 n.F.). Eine solche Belehrungspflicht bestand seit langem für die Verwaltungsbeschwerde (§§ 57 f. des Gesetzes über die Verwaltungsbeschwerde von 1962), aber nicht für den Verwaltungsprozess. 4. Verfahren Vor der Reform wurde die beklagten Verwaltungsbehörden oft kritisiert, dem Gericht notwendige Schriftsätze oder sonstige Beweismitteln zu sparsam vorzulegen (vgl. oben III. 3.). Nun kann das Gericht gegenüber der Verwaltungsbehörde des beklagten Verwaltungssubjektes sowie anderen Verwaltungsbehörden anordnen, die angefochtene Verfügung usw., die Gesetzesvorschrift und die Tatsachen mitzuteilen, aufgrund deren die Verfügung usw. erlassen wurde, sowie andere Materialien vorzulegen, die zur Klärung des Grundes der Verfügung usw. nötig sind (§ 23 – 2 I n.F.)43. 5. Vorläufiger Rechtsschutz a) Lockerung der Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung Die Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung wurden dahingehend gelockert, dass nunmehr der Kläger nur noch „einen wichtigen Schaden“ glaubhaft machen muss (§ 25 II n.F.). Da vor der Reform „ein schwer zu ersetzender Schaden“ gefordert war, war die Aussetzung fast nie möglich, wenn der Antragsteller lediglich ein wirtschaftliches Interesse einbüßen würde (vgl. oben III. 5. a)). Nun verhält es sich anders, wenn er einen wichtigen wirtschaftlichen Schaden glaubhaft machen kann. 43
Über die Bedeutung dieser Bestimmung vgl. Yamamoto, DÖV 2006, 848 (854).
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Nach der Reform scheint der Oberste Gerichtshof die Aussetzung der Vollziehung leichter als vorher anzuordnen44. b) Einführung der einstweiligen Verpflichtung und Unterlassung Für die Verpflichtungsklage und die Unterlassungsklage wurden eine einstweilige Verfügung, nämlich die einstweilige Verpflichtung und die einstweilige Unterlassung, eingeführt (§ 37 – 5 n.F.). Hierdurch wurde eines der Defizite im vorläufigen Rechtsschutz (vgl. oben III. 5. b))beseitigt. Die Voraussetzungen sind aber ziemlich streng: insbesondere muss der Antragsteller glaubhaft machen, dass er „einen nicht zu ersetzenden Schaden“ erleiden würde und dass die Klage in der Hauptsache begründet scheint. Ungeachtet dieser strengen Voraussetzungen gibt es einige Beschlüsse der Landgerichte, die eine einstweilige Verpflichtung oder Unterlassung angeordnet haben, insbesondere im Schulrecht. 6. Zusammenfassung: Bedeutung der Reform für den effektiven Rechtsschutz Die Reform 2004 hat in vielen Punkten die bisherige Rechtslage verbessert und die Effektivität des Rechtsschutzes erheblich erhöht. Die Rechtsprechung scheint darauf im Allgemeinen eher positiv zu reagieren. Meines Erachtens ist eine bemerkenswerte Tendenz in der Rechtsprechung, die Effektivität des Rechtsschutzes ausdrücklich zu berücksichtigen. Der Oberste Gerichtshof hat in einem Fall, in dem die Aufhebung einer Planfeststellung zum Raumplanungsunternehmen begehrt wurde, seine bisherige Rechtsprechung45 geändert und diese Klage als zulässig erachtet46. Dabei ging es darum, ob man in der Stufe der Planfeststellung eine Aufhebungsklage gestatten soll, obwohl der Kläger am Ende der Operation die Verfügung, die Grundstückseigentum der Betroffenen umwandelt, anfechten kann. Der Oberste Gerichtshof hatte vorher aufgrund der Möglichkeit des nachträglichen Rechtsschutzes eine Aufhebungsklage gegen die Planfeststellung als unzulässig abgewiesen. Nun hat er anders entschieden und dafür zwei Gründe angeführt. Erstens verändert diese Feststellung die Rechtsstellung der betroffenen Grundstückseigentümer und hat also eine rechtliche Wirkung. Zweitens kommt die Aufhebungsklage gegen die Umwandlungsverfügung zu spät, weil in dieser Stufe der Bau fast vollendet sei und die Klage wegen der erheblichen Beeinträchtigungen des öffentlichen Interesses abgewiesen werden könnte (Umstandurteil, vgl. oben III. 4. a)); „zum effektiven Rechtsschutzes“ sei es daher rational, schon in der Stufe der Planfeststellung die Klage gegen sie zu erlauben. Somit kann man sagen,
44 45 46
Z. B. OGH, Beschl. v. 18. 12. 2007; Beschl. v. 2. 7. 2009. OGH (Großer Senat), Urt. v. 23. 2. 1966. OGH (Großer Senat), Urt. v. 10. 9. 2008.
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dass sich aus Anlass der Reform 2004 der Gedanke des effektiven Rechtsschutzes auch in der Praxis verbreitet hat. V. Grenzen der Reform 2004 Mit der Reform 2004 wurde das japanische Verwaltungsprozessrecht in mehreren Punkten verbessert. Es bleiben dennoch Unzulänglichkeiten. 1. System des Verwaltungsprozesses a) Verpflichtungsklage und Unterlassungsklage Mit der gesetzlichen Anerkennung der Verpflichtungsklage und der Unterlassungsklage wurde einer der vorherigen wichtigen Mängel des Rechtsschutzes beseitigt. Die Voraussetzungen der nicht antragsmäßigen Verpflichtungsklage und der Unterlassungsklage sind jedoch so streng, dass es noch unklar ist, ob damit der effektive Rechtsschutz in Wirklichkeit gewährleistet werden kann. b) Rechtsschutz gegen andere Akte als Verfügungen „Verfügungen und andere Akte der öffentlichen Gewalt der Verwaltungsbehörden“ (§ 3 II) lassen sich mit der Anfechtungsklage im weiteren Sinne angreifen, nicht jedoch andere Akt als Verfügungen, wie rechtsetzende Akte, Verwaltungsvorschriften, Verwaltungsverträge, Materialakte wie Verwaltungsanleitungen („Gyoseishido“)47, Planungen. Es gibt zwei Möglichkeiten, gegen solche Akte Klagen zu erheben. Die erste ist, den Begriff „Verfügung“ zu erweitern und Anfechtungsklage im weiteren Sinne zu ermöglichen (vgl. unten V. 2. a)). Die zweite ist, Parteiklage, vor allem eine öffentlich-rechtliche Feststellungsklage zu erheben. Wie oben gesehen (IV. 2. c)), gibt es aber über ihre Voraussetzungen noch Unklarheiten. c) Schwierigkeit der Klagewahl Jetzt gibt es viele Klagearten: vier Klagearten, darunter sechs Unterarten der Anfechtungsklage im weiteren Sinne, dazu Zivilprozess. So ist es für die Bürger manchmal schwierig, die angemessene Klageart auszuwählen. Vor allem ist die Beziehung zwischen Aufhebungsklage und öffentlich-rechtlicher Feststellungsklage einerseits sowie zwischen Unterlassungsklage und öffentlich-rechtlicher Feststellungsklage andererseits sehr kompliziert. Obwohl durch die Reform 2004 die Regelungen über den Beklagten vereinheitlicht wurden und es hierdurch leichter wurde, den Anspruch zum Vorteil der Kläger auszulegen, stellt sich die Frage, ob man das geltende 47 Vgl. u. a. Fujita, Die Verwaltung 15 (1982), 226; ders., NVwZ 1994, 133; Shiono (Fußn. 8), S. 55 ff.
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System des Verwaltungsprozesses aufrechterhalten soll. Um eine solche Schwierigkeit zu beseitigen, wird vorgeschlagen, den Verwaltungsprozess ganz abzuschaffen und mit dem Zivilprozess zu vereinigen, oder die verwaltungsrechtlichen Klagen zu einer einzige Klageart („Verbesserungsklage“) zu vereinen. Dabei bleibt meiner Meinung nach eine schwierige Frage, ob und inwieweit die Klagefrist erhalten werden soll. 2. Klagevoraussetzungen der Aufhebungsklage a) Gegenstand der Klage Der Oberste Gerichtshof setzt nach der Reform 2004 die Tendenz der Erweiterung des Begriffs „Verfügung“ fort48 und betrachtet die Aufhebungsklage gegen z. B. eine Satzung49, eine Verwaltungsanleitung50 oder eine Planfeststellung (vgl. oben IV. 6.) unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig. Eine solche erweiternde Auslegung hat aber den Nachteil, dass nach Ablauf der Klagefrist die Akte unanfechtbar werden können. b) Klagebefugnis Obwohl die Rechtsprechung nach der Reform die Klagebefugnis teilweise erweitert hat (vgl. oben IV. 3. a)), ist es noch schwierig, im Falle der Verletzung des wirtschaftlichen Interesses oder der Verschlechterung der Lebensqualität eine Klagebefugnis anzuerkennen51. Neuerdings hat ein Landgericht im Falle der Verletzung des landschaftlichen Interesses eine Klagebefugnis bejaht52. Es wird vorgeschlagen, im Bereich des Umweltschutzes oder des Verbraucherschutzes die Verbandsklage gesetzlich einzuführen53. c) Nachträglicher Verlust des rechtlichen Interesses In Bezug auf die Frage des nachtäglichen Verlustes des rechtlichen Interesses gibt es keinen Fortschritt. Es ist zu hoffen, dass der Oberste Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung (vgl. III. 2. c)) ändert. Außerdem ist zu überlegen, ob in solchen Fällen der vorläufige Rechtsschutz noch leichter zu gestatten oder die öffentlich-rechtliche Feststellungsklage zu erlauben ist.
48 Wie oben gesehen (IV. 2. c)), hat der Gesetzgeber bei der Reform 2004 eher den Gebrauch der öffentlich-rechtlichen Feststellungsklage gefordert. Es ist bemerkenswert, dass der Oberste Gerichtshof trotzdem die Tendenz zur Erweiterung des Begriffs Verfügung fortsetzt. 49 OGH, Urt. v. 26. 11. 2009. 50 OGH, Urt. v. 15. 7. 2005. 51 OGH, Urt. v. 15. 10. 2009 hat den Nachbarn eines Wettbüros die Klagebefugnis zur Aufhebung seiner Genehmigung verneint. 52 LG Hiroshima, Urt. v. 1. 10. 2009. 53 Vgl. Böhm/Okubo, DÖV 2007, 826 (831 f.).
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3. Vorläufiger Rechtsschutz a) Voraussetzungen des vorläufigen Rechtsschutzes Obwohl die Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung durch die Reform 2004 gelockert wurden (vgl. oben IV. 5. a)), bleibt noch unklar, inwieweit das Gesetzgebungsziel erreicht wird. In Bezug auf die einstweilige Verpflichtung und Unterlassung sind die Voraussetzungen ziemlich streng (vgl. oben IV. 5. b)). Wenn die Rechtsprechung sie zu eng auslegt, sollte man überlegen, sie gesetzlich zu lockern. b) Einspruch des Ministerpräsidenten Im Vorbereitungsprozess der Reform 2004 wurde die Abschaffung des Instituts des Einspruchs des Ministerpräsidenten diskutiert. Wegen des starken Widerstandes, dass im Falle des Notstands die Regierung Verantwortung übernehmen sollte, hatte dieser Versuch keinen Erfolg. Trotzdem muss man sagen, dass ein solches Institut im System der Gewaltenteilung eine Anomalie ist. Die Sorge um den Notstand ließe sich verfahrensrechtlich beseitigen, z. B. dadurch, dass Beschwerden gegen Anordnungen des Landgerichts aufschiebende Wirkung verliehen wird. VI. Fazit Mit der Reform 2004 wurde der japanische Verwaltungsprozess ohne Zweifel verbessert. Es ist insbesondere bemerkenswert, dass aus diesem Anlass der Gedanke der Effektivität des Rechtsschutzes angefangen hat, sich auch in der Praxis einzubürgern. Da es aber noch Unzulänglichkeiten im geltenden Verwaltungsprozessrecht gibt, ist zu überlegen, eine noch gründlichere Reform vorzubereiten.
Der „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ beim Verwaltungszwang Von Jost Pietzcker I. Wolf-Rüdiger Schenke bezeichnet sich, was seine wissenschaftlichen Thesen angeht, gerne als „Überzeugungstäter“. Er folgt nicht dem Strom der Mehrheitsauffassungen und ihrer Wandlungen, wenn er sie nicht für richtig hält, sondern entwickelt in minutiöser, alle Aspekte benennender Argumentation seine Auffassung und hält an ihr fest – es sei denn, bessere Argumente überzeugten ihn. Das macht, wenn man einmal andrer Meinung als er sein sollte, die Auseinandersetzung nicht einfach, sondern anspruchsvoll und lohnend. Zum „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ hat er in der geschilderten Weise eine These begründet,1 die der von manchen so apostrophierten h.M. entsprechen dürfte, mich aber noch nicht vollends überzeugt. So möchte ich versuchen, meine Zweifel – die im Schwerpunkt nur einen praktisch allerdings häufig relevanten Teilaspekt betreffen – zu formulieren, damit er sie endgültig beseitigen kann. Vielleicht sollte ich eingangs meine Beziehung zum Thema offenlegen. In einer Übungsklausur ging es um einen Kostenbescheid wegen Abschleppens eines PKW. Die Wegfahrverfügung war gegen eine anwesende Person erlassen worden, diese hatte sie aber nicht befolgt. Die hier relevante Fallfrage hatte ich so formuliert: „Ist der Kostenbescheid rechtmäßig?“ und wollte damit eine umfassende Prüfung des Kostenbescheids und auch der (nicht bestandskräftigen, aber je nach dogmatischer Konstruktion u. U. erledigten) Wegfahrverfügung veranlassen. Bei der Klausurbesprechung monierte ein Teilnehmer, letzteres sei überflüssig, ja unzulässig, da die Rechtmäßigkeit des Kostenbescheids von der der Grundverfügung unabhängig sei. Die dadurch bei mir ausgelöste genauere Beschäftigung mit diesem Problem führte dazu, dass ich einerseits in meiner vorher eher nur geahnten Auffassung eines (begrenzten) Rechtswidrigkeitszusammenhangs bestärkt wurde, andrerseits aber zur 1
Insb. W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, § 10 III Rn. 540 – 542, im wesentlichen ebenso die Vorauflagen; ferner Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1. In seinem Beitrag „Polizei- und Ordnungsrecht“ in dem von U. Steiner herausgegebenen Lehrbuch „Besonderes Verwaltungsrecht“ findet sich die erste Stellungnahme zum Thema erst in der 3. Auflage von 1988, wo der Jubilar unter II Rn. 188 für vor Eintritt der Bestandskraft erledigte Grundverfügungen den Durchgriff auf dessen Rechtswidrigkeit beim Angriff gegen den Vollstreckungsakt zulässt; im Sinne seiner heutigen Auffassung aber die Äußerung in Folgeauflagen, zuletzt 8. Aufl. 2006, II Rn. 283.
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Vermeidung der Mühen einer längeren eigenen Beschäftigung die Ausgabe eines solchen Dissertationsthemas für angezeigt hielt. Nachdem nun vor wenigen Wochen (im Dezember 2010) Veronika Schweikert, eine Mitarbeiterin, die das Thema in Angriff genommen hat, ihre bisherigen Ergebnisse im Doktorandenseminar vortrug und jedenfalls im Ergebnis klar (also wie Schenke) einen Rechtswidrigkeitszusammenhang verneint, ist dieser Beitrag zur Festschrift für Schenke nun meine letzte Gelegenheit, noch einmal Zweifel zu artikulieren. II. Der Begriff „Rechtswidrigkeitszusammenhang“ beim Verwaltungszwang verweist auf die Frage, ob die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen des Verwaltungszwangs (mit den Mitteln der Ersatzvornahme, des Zwangsgelds und des unmittelbaren Zwangs) von der Rechtmäßigkeit der Grundverfügung – also des mit Zwang durchzusetzenden Verwaltungsaktes – abhängt. Die Frage wurde in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik überwiegend verneint, fand dann einige Jahrzehnte häufiger eine bejahende Antwort, doch scheint die Verneinung wieder zuzunehmen; freilich ist in diesem Feld selbst die Ermittlung einer h.M. schwierig – ein Aufsatz bezeichnet noch 1998 für die allein streitigen Fälle des nach § 80 II, III VwGO sofort vollziehbaren Verwaltungsaktes die Bejahung eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs als „h.M.“2, während ein andrer 2004 mit entgegengesetztem Ergebnis zählt.3 Die Übersichtlichkeit eines Bildes vom Meinungsspektrum leidet darunter, dass sich verschiedene Aspekte des materiellen und des Prozessrechts hier kreuzen. Deshalb soll kurz die Sachproblematik in ihrer häufigsten Konstellation dargestellt werden. Der oben angedeutete Klausurfall ist typisch: nicht die für sofort vollziehbar erklärte und sofort vollzogene Grundverfügung, sondern nur der Kostenbescheid wird angefochten, da der Kläger erst nach dessen Erlass Anlass zur Gegenwehr sieht und da er vermutlich meist nicht erkennt, dass er sein Ziel u. U. erst durch zusätzliche Anfechtung auch der Grundverfügung erreichen kann, die ja in den häufigen Fällen der mündlichen Polizeiverfügung nicht mir Rechtsmittelbelehrung versehen ist. Nun ist aber in einer solchen Situation die Anfechtbarkeit der Grundverfügung nach Vollzug umstritten, da manche sie für erledigt halten. Man stößt also auf das schwierige Feld der Erledigung von Verwaltungsakten. Ob eine im Falle ihrer Zulässigkeit erfolgreich gegen die erledigte Grundverfügung gerichtete Fortsetzungsfeststellungklage den Kostenbescheid rechtswidrig macht, ist wiederum nicht unstreitig. Immerhin wird die gelegentlich als Parallele herangezogene vorläufige Vollstreckung im Zivilprozess nicht rechtswidrig, wenn das Urteil in der Instanz aufgehoben wird, sondern muss (lediglich) rückgängig gemacht werden, während die erfolgreiche Anfechtung des Kostenbescheids ja dessen Rechtswidrigkeit voraussetzt. Damit sind schwierigere Fragen des Rechtswidrigwerdens von Verwaltungsakten und unter Haf2 3
Erichsen/Rauschenberg, JURA 1998, 323 Fußn. 4 m.N. Geier, BayVBl. 2004, 389 (390).
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tungsgesichtspunkten solche der Amtspflichtverletzung berührt. Nicht zum geringsten geht es ferner um die Pflicht des Adressaten, in den typischen polizeirechtlichen Situationen der sofortigen Vollziehbarkeit – also etwa einer Versammlungsauflösung samt Platzverweis – ungeachtet der Zweifel an der Rechtmäßigkeit die Anordnung vorläufig zu befolgen, mitsamt den Weiterungen für das Notwehrrecht und für § 113 StGB. III. In der Rechtsprechung herrscht wohl die Verneinung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs vor. Die oft hierfür zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts von 1984 ist freilich wenig aussagekräftig. Zwar hat das Gericht ausgeführt: „Tragender Grundsatz des Verwaltungs-Vollstreckungsrechts ist, wie das OVG zutreffend ausgeführt hat, dass die Wirksamkeit und nicht die Rechtmäßigkeit vorausgegangener Verwaltungsakte Bedingung für die Rechtmäßigkeit der folgenden Akte und letztlich der Anwendung des Zwangsmittels ist.“4 Im Fall ging es letztlich darum, dass die Kosten der Ersatzvornahme die in der Androhung genannte voraussichtliche Summe erheblich überschritten. Sämtliche Verwaltungsakte (Grundverwaltungsakt, Androhung, Festsetzung) waren aber unanfechtbar. Dass die Unanfechtbarkeit die Frage nach der Rechtswidrigkeit in diesem Zusammenhang abschneidet, ist aber offenbar unbestritten, entspricht dem guten Sinn des Instituts der Unanfechtbarkeit oder Bestandskraft und wird durch Ausnahmevorschriften wie § 79 II BVerfGG bestätigt. In derselben Entscheidung heißt es denn auch an andrer Stelle, auf die Rechtmäßigkeit der vorausgegangenen Verfügungen komme es nicht an, „wenn sie nicht nichtig und auch nicht mehr anfechtbar sind.“5 Eine klare Aussage gegen den Rechtswidrigkeitszusammenhang findet sich aber etwa in einer weitere entsprechende Judikate zitierenden Entscheidung des OVG NW von 19966, die zugleich die Erledigung der Abrissanordnung durch Vollzug unter Verweis auf den Aufsatz von Schenke/Baumeister7 verneint und deshalb auf deren Anfechtung als zureichenden Rechtsschutz verweisen kann. Das Bundesverwaltungsgericht hat noch jüngst das Fehlen eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs bestätigt.8 Eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1998 hat diese Sicht bekräftigt: „Denn auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Grundverfügung 4
BVerwG, NJW 1984, 2591 (2592) (Gebäudesanierungsanordnungen). BVerwG, NJW 1984, 2591 (2592). Auch HessVGH, NVwZ-RR 1996, 361 (Nutzungsuntersagung und Zwangsgeldfestsetzung) zitiert das BVerwG für das Fehlen eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs, betraf aber ebenfalls eine bestandskräftige Grundverfügung. Ähnlich problematisch ist der Verweis in OVG Lüneburg, NVwZ 1984, 323 auf OVG Lüneburg, NJW 1983, 411, wo ebenfalls ein unanfechtbarer GrundVA in Rede stand. 6 OVG NW, NWVBl. 1997, 218 (Abrissanordnung, Kostenbescheid). Ähnlich OVG NW, NVwZ 2001, 231 (Drogenszene, Aufenthaltsverbot); SächsOVG, NVwZ-RR 1999, 101; HessVGH, NVwZ-RR 1995, 118. 7 Schenke/Baumeister NVwZ 1993, 1. 8 BVerwG, NVwZ 2009, 122; kritisch hierzu Enders, NVwZ 2009, 958. 5
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kommt es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungsmaßnahme nicht an. Das entspricht ganz einhelliger Auffassung der Rechtsprechung und auch überwiegender Meinung in der Literatur“.9 Der Verweis der Kammer auf die einhellige Rechtsprechung ist freilich zu pauschal. Der VGH BW hat 1986 zwar bestätigt, die Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsakts sei nach allgemeiner Auffassung nicht Voraussetzung für die Anwendung von Zwangsmitteln; sei der Grundverwaltungsakt aber erledigt und keine Fortsetzungsfeststellungsklage erhoben, müsse dieser bei der Klage gegen den Kostenbescheid inzident überprüft werden.10 Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat 1993 insoweit jedenfalls eine summarische Überprüfung der Grundverfügung für nötig gehalten.11 Das Verwaltungsgericht Bremen hat 1998 in einem obiter dictum – im Fall war der Grundverwaltungsakt bestandskräftig – den Rechtswidrigkeitszusammenhang bei nicht bestandskräftigem Grundverwaltungsakt bejaht.12 Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem in mehreren Entscheidungen mit straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Bezügen nicht wie in der angeführten Kammerentscheidung13 explizit die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung als irrelevant für die Vollziehungsmaßnahmen bezeichnet, sondern nur davon gesprochen, der Betroffene müsse in Situationen, in denen ihre Rechtmäßigkeit nicht vorher geklärt werden könne, diese vorläufig hinnehmen14 ; darauf ist unten noch einzugehen. Eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2010 ist möglicherweise als Kritik an der Verneinung eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs zu verstehen, beruht allerdings explizit auf einer landesrechtlichen Besonderheit. Die Verwaltungsgerichte hatten die Anfechtung eines Gebührenbescheids für die polizeiliche Ingewahrsamnahme abgewiesen und es dabei abgelehnt, die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme inzident zu überprüfen, da hierfür landesgesetzlich die Zuständigkeit des Amtsgerichts begründet sei. Die Kammer sieht darin eine Verletzung von Art. 19 IV GG. Die Rechtswegspaltung bei einer Kette von Verwaltungsakten habe nicht automatisch zur Folge, dass dem angerufenen Gericht die einem andren Gericht als Hauptsache zugewiesene Überprüfung nicht inzident vornehmen dürfe. Die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme – damit wird unser Thema berührt – sei aber entscheidungsrelevante Vorfrage; denn nach § 11 NiedersächsVwKostenG seien „Kosten, die dadurch entstanden sind, dass die Behörde die Sache unrichtig be9
BVerfG (K), NVwZ 1999, 290 (Gorleben, Wasserwerfereinsatz). VGH BW, VBlBW 1986, 299 (Sitzblockade vor Kaserne) LS 2 „Einwendungen gegen den vollstreckten Verwaltungsakt der Polizei sind im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen den Kostenbescheid beachtlich, sofern der Verwaltungsakt infolge Erledigung keine Bestandskraft erlangt hat und seine Rechtmäßigkeit erstmals im Rechtsstreit gegen die Vollstreckung zur Prüfung steht“. Ähnlich VGH BW, NVwZ 1989, 163 (Mutlangen, Blockade). Folgt man dem, war mein Verständnis der Klausurfrage korrekt. 11 BayVGH, NVwZ-RR 1994, 548 (549). 12 VG Bremen, NVwZ-RR 1998, 468 (Drogenszene, Aufenthaltsverbot). 13 BVerfG (K), NVwZ 1999, 290. 14 BVerfGE 87, 399 (408); 92, 191 (201); BVerfG (K), NVwZ 2007, 1180 (1181). 10
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handelt hat“, zu erlassen.15 Dieses Verständnis der zitierten niedersächsischen Vorschrift ist alles andere als selbstverständlich – ist die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung davon überhaupt angesprochen? Falls ja, auch bei Unanfechtbarkeit? Oder geht es nur um Fehler bei der Zwangsmittelanwendung? Auf diese Fragen geht die Kammer nicht ein, sondern unterstellt schlicht die Bezugnahme auf den Grundverwaltungsakt. Man kann die Entscheidung deshalb wohl auch als Ausdruck des Unbehagens gegenüber der vollständigen Verneinung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs in einer solchen Situation lesen. Immerhin – in der Rechtsprechung herrscht die Verneinung doch erkennbar vor. Bleibt klarzustellen, dass nach einheitlicher Rechtsprechung16 und Literatur der Rechtswidrigkeitszusammenhang besteht, wenn die Behörde mangels Adressat ohne Grundverfügung zur Zwangsmittelanwendung schreitet, da in diesen Fällen der „unmittelbaren Ausführung“, auch „Sofortvollzug“ genannt, das Gesetz erfordert, dass sie dabei „innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse handelt“.17 IV. Die Auffassungen in der Literatur sind vielfältiger, schon weil sie sich naturgemäß nicht auf die hier in den Vordergrund gerückte Konstellation beschränken, sondern generell das Verhältnis von Befehl und Zwangsmitteln thematisieren. Hier mag es genügen, einige Grundlinien zu zeichnen. 1. Die bei Schenke nachgewiesene (wohl, s. o. unter II.) h.M. verneint einen Rechtswidrigkeitszusammenhang in den Fällen der sofortigen Vollziehbarkeit einer (erlassenen) Grundverfügung.18 Zur Begründung wird erstens auf die Gesetzesformulierungen, d. h. neben zahlreichen divergierenden und oft nicht eindeutigen Einzelvorschriften in Bund und Ländern insbesondere auf § 6 I BVwVG und parallele landesrechtliche Regelungen verwiesen; dort wird alternativ die Unanfechtbarkeit oder die sofortige Vollziehbarkeit, nicht aber die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung als Vollstreckungsvoraussetzung genannt. Zweitens spielt der Gedanke der strukturellen Trennung von Befehl und Durchsetzung, die sich oft (nicht aber bei den hier im Vordergrund stehenden Polizeiverfügungen) auch in einer Aufspaltung der Behördenzuständigkeit äußert, eine Rolle. In gewissem Zusammenhang hiermit, aber doch eigenständig ist der Gedanke der Bindung an Verwaltungsakte, die ja von ihrer Rechtmäßigkeit unabhängig ist.19 Am wichtigsten ist aber vielleicht der Aspekt der Effizienz polizeilichen/ordnungsbehördlichen Handelns, der die Gehorsamspflicht des Adressaten in den von der sofortigen Vollziehbarkeit erfassten Risikosituationen einfordert und keinen Raum für rechtmäßigen Widerstand gegen den Voll15 16 17 18 19
BVerfG (K), NVwZ 2010, 1482. s. nur VGH BW, VBlBW 1984, 20. Z.B. § 6 II BVwVG, § 55 II VwVG NW. Schenke Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, § 10 III Rn. 540 f. Die oben angekündigte Dissertation von Schweikert stützt sich maßgeblich hierauf.
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zug lassen möchte. Im Einzelnen wird die Verneinung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs freilich in unterschiedlicher Weise relativiert. So ließ Rachor gegen den Kostenbescheid den Einwand der Rechtswidrigkeit der (sogar unanfechtbaren!) Grundverfügung zu, wenn diese nicht mit einem Hinweis auf die Kostentragungspflicht verbunden war,20 während er in der Neuauflage praktische Unterschiede der gegensätzlichen Auffassungen weitgehend verneint und v. a. mit einer Auslegung des wörtlich nur gegen den Kostenbescheid gerichteten Klageantrags helfen will.21 Selmer/Gersdorf machen in Anlehnung an die beiden erwähnten Entscheidungen des VGH BW von 1986 und 1989 eine Ausnahme im Falle des Kostenbescheides nach erledigter, weil vollzogener Grundverfügung.22 Pieroth/Schlink/Kniesel bejahen den Rechtswidrigkeitszusammenhang, falls die Behörde die Rechtswidrigkeit des Grundverwaltungsaktes kennt, und formulieren für den Fall des sog. Sofortvollzugs einigermaßen rätselhaft: „Die ergangene wie die fiktive Grundverfügung müssen rechtmäßig sein.“23 Ausführlichere Begründungen haben dafür in jüngerer Zeit Lemke und Poscher geliefert. Lemke24 geht im Detail auf die recht bunte landesgesetzliche Lage ein (die zu meist nicht zwingenden Erst-recht- oder Gegenschlüssen einlädt), zieht eine Parallele zur Trennung von Titel und Vollstreckungsmaßnahmen im Zivilprozess und betont in der Sache die häufig genannte und anerkannte Notwendigkeit der effektiven Gefahrenabwehr. Das Rechtsschutzproblem bei erledigtem Grundverwaltungsakt – die Fortsetzungsfeststellungsklage kann wohl die Rechtswidrigkeit feststellen, aber nicht den Titel beseitigen – löst er dahin, dass er die (vollständige) Erledigung verneint, da der Grundverwaltungsakt ja noch Bedeutung für den Kostenbescheid habe und deshalb noch angefochten und aufgehoben werden kann.25 Poscher26 setzt grundsätzlicher bei der evolutionären Entkoppelung von materiellem Recht und Vollstreckungsrecht an, sieht eine sehr weit reichende Parallele zum Zivilprozessrecht und Zwangsvollstreckungsrecht und widmet sich ausführlich der Frage, ob die Vollstreckungsakte nach erfolgreicher Anfechtung des Grundverwaltungsakt rechtswidrig werden, was er entgegen einigen anderen Stimmen27 verneint.
20
Rachor, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, F Rn. 750 – 756. 21 Rachor, in: Lisken/Denninger/Rachor (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, Rn. 865 – 870. 22 Selmer/Gersdorf, Verwaltungsvollstreckungsverfahren, 1996, S. 39 f. 23 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl. 2005, § 24 Rn. 33, 38. 24 Hanno-Dirk Lemke, Verwaltungsvollsteckungsrecht des Bundes und der Länder, 1997, insb. § 7 II. 25 Ebd., S. 173 – 175. 26 Poscher, VerwArch 89 (1998), 111. 27 s. z. B. Selmer/Gersdorf (o. Fußn. 22) S. 39: „erst wenn das Gericht die vollstreckte (aber noch fortwirkende) Grundverfügung aufgehoben hat, entfällt kraft der kassatorischen Wirkung des Anfechtungsurteils rückwirkend die materielle Bestandskraft und Tatbestandswirkung des
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Er bejaht aber für diese Situation einen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch und nimmt außerdem ähnlich wie Lemke und zuvor schon Schenke/Baumeister an, der durchgesetzte Grundverwaltungsakt habe sich nicht erledigt, könne also weiterhin angefochten werden. Bei sofortigem Vollzug (ohne Grundverwaltungsakt) bestehe die archaische Situation der Einheit von materiellem Recht und Rechtsdurchsetzung mit der Folge, dass auch Notwehrrechte des Bürgers denkbar sind. 2. Die einen Rechtswidrigkeitszusammenhang bejahenden Stimmen entstammen vorwiegend der Lehrbuchliteratur und sind deshalb eher knapp begründet, kennen aber doch zahlreiche Varianten. Götz beharrte lange aus rechtsstaatlichen Überlegungen uneingeschränkt auf dem Zusammenhang, hat nun aber seine Auffassung leicht modifiziert.28 Nach Abschichtung der immer unstreitigen Fälle der unanfechtbaren Grundverfügung unterscheidet er die erledigten und die nicht erledigten Grundverwaltungsakte. Bei letzteren (z. B. einem andauernden und bislang schon vollzogenen Nutzungsverbot) muss der Betroffene zu seinem Schutze Grundverfügung und Zwangsmaßnahme angreifen, bei erledigter Grundverfügung genügt hingegen der Angriff gegen das Zwangsmittel. Zwar habe er zunächst die Verfügung befolgen müssen. „Nachdem der Grund-Verwaltungsakt erledigt und damit außer Kraft gesetzt ist, besteht kein Anlass mehr, die Rechtmäßigkeitskontrolle der Vollzugsmaßnahme zu beschränken (gegen BVerfG, NVwZ 1999, 290). Die Situation ist insofern keine andre als bei Sofortvollzug“.29 Das entspricht im Ergebnis der Entscheidung des VGH BW von 1986 und der Auffassung von Enders;30 Sattler ist dem in der Festschrift für Götz ebenfalls beigetreten.31 Knemeyer bejaht (lediglich) für vollzugspolizeiliche Maßnahmen, bei denen Grundverfügung und Zwangsmittelanwendung zeitlich eng zusammenfallen, einen unbeschränkten Rechtswidrigkeitszusammenhang; angesichts des Zusammenfallens gebe es hier keinen Grund für einen Verzicht auf die Rechtmäßigkeitsvoraussetzung. Beim sonstigen Normalfall der zeitlichen Streckung von Anordnung und Vollstreckung sehe das Verwaltungsvollstreckungsrecht zutreffend von der Rechtmäßigkeit der Grundverfügung als Vollstreckungsvoraussetzung ab32. Würtenberger/Heckmann haben Würtenbergers frühere Bejahung des Rechtswidrigkeitszusammenhangs ebenfalls partiell relativiert.33 Sie trennen nun in gewisser Parallele zur Anscheinsstörerproblematik zwischen der Primär- und der Sekundärebene – die Rechtmäßigkeit vollstreckten Verwaltungsakts, mit der Folge, dass auch die entsprechenden Vollstreckungsakte nachträglich rechtswidrig werden.“ 28 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl. 2008, § 13 Rn. 8. Für die frühere Auffassung s. knapp die 11. Aufl. 1993, Rn. 298; ausführlicher und schon ähnlich wie heute die Stellungnahme in der 13. Aufl. 2001, Rn. 382. 29 Ebd., Rn. 9. 30 Enders, NVwZ 2000, 1232 (1237) und NVwZ 2009, 958. 31 Sattler, in: FS Götz, 2005, S. 405 ff. 32 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, Rn. 358. 33 Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 757 unter Hinweis auf die teilweise abweichende Vorauflage.
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der Zwangsmittelanwendung hängt nicht von der der Grundverfügung ab, dem Kostenbescheid kann aber deren Rechtswidrigkeit (solange sie nicht unanfechtbar ist) entgegengehalten werden – also ebenfalls wie VGH BW von 1986. Heckmann hat in einer knappen Stellungnahme 1993 den Gedanken der Trennung von Zulässigkeit der Vollziehbarkeit und Rechtmäßigkeitsurteil formuliert und auf die Parallele zur verbreiteten Trennung von Primär- und Sekundärebene bei der Behandlung des Anscheinstörers hingewiesen.34 Gusy hat seine Auffassung deutlicher relativiert („Jedenfalls in Fällen offensichtlicher Rechtswidrigkeit …“)35, während Schoch36 bei seiner knappen generell den Rechtswidrigkeitszusammenhang (natürlich wieder außer bei Unanfechtbarkeit der Grundverfügung) bejahenden Stellungnahme bleibt; 1995 scheint er zwischen der Situation der sofortigen Vollziehung nach § 80 II VwGO und der Vollziehung nach ihrer Billigung durch das den Antrag nach § 80 V VwGO ablehnende Gericht unterschieden zu haben.37 Definitiv für Rechtswidrigkeitszusammenhang aus rechtsstaatlichen Gründen treten nach wie vor Möller/Wilhelm ein.38 V. Wie stichhaltig sind die Argumente auf beiden (oder den verschiedenen) Seiten? Eine klare Entscheidung des Gesetzgebers für oder gegen einen Rechtswidrigkeitszusammenhang wird allgemein für ausschlaggebend gehalten. Dass die Verneinung, also die insoweit strikte Trennung von Grundverfügung und Zwangsmittelanwendung auf verfassungsrechtliche Grenzen stößt, ist – von möglichen Sonderkonstellationen abgesehen, die einen „Durchgriff“ nötig machen könnten – nicht ersichtlich. Eine klare gesetzliche Entscheidung scheint es aber kaum zu geben.39 1. Die von der h.M. regelmäßig herangezogene Vorschrift des § 6 I BVwVG, die sich entsprechend wortgleich im Landesrecht findet, scheint mir nicht beweiskräftig zu sein. Sie regelt, wann ein befehlender Verwaltungsakt mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden kann: er muss unanfechtbar oder – sei es kraft Gesetzes, sei es kraft behördlicher Anordnung – sofort vollziehbar sein. Da die Rechtmäßigkeit nicht als Voraussetzung genannt ist, während in § 6 II BVwVG für die Anwendung von Zwangsmitteln ohne vorausgegangenen Verwaltungsakt gefordert ist, dass „die Behörde hierbei innerhalb ihrer Befugnisse handelt“, wird daraus von der h.M. gefolgert, in der Situation des § 6 I BVwVG (sofortige Vollziehung eines erlassenen Ver34
Heckmann, VBlBW 1993, 41 – 44. Gusy, Polizeirecht, 6. Aufl. 2006, § 8 Rn. 438, 458. 36 Schoch, Ordnungs-und Polizeirecht, in: Schmidt-Assmann/Schoch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Rn. 285. 37 Schoch, JuS 1995, 307 (309). 38 Möller/Wilhelm, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 5. Aufl. 2003, Rn. 212. 39 s. die Übersicht bei Lemke (o. Fußn. 24) über die meist in ihrer Bedeutung umstrittenen Detailvorschriften, ferner die oben erwähnte Entscheidung BVerfG (K), NVwZ 2010, 1482 mit der dort maßgebenden niedersächsischen Norm. 35
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waltungsaktes) komme es für die Rechtmäßigkeit der Zwangsmittelanwendung auf die der Grundverfügung nicht an. Überzeugend erscheint mir dies nicht. Hätte der Gesetzgeber in § 6 I BVwVG zusätzlich formuliert: „… wenn der Grundverwaltungsakt rechtmäßig und sein sofortiger Vollzug angeordnet ist …“, wäre die Belustigung vermutlich nicht gering – der Witz liegt ja darin, dass in der Situation der sofortigen Vollziehung die Rechtmäßigkeit nicht definitiv festgestellt werden kann. Dass die Verwaltung rechtmäßig handeln muss, ist selbstverständlich, und sie wird im Regelfall sowieso jedenfalls vor Unanfechtbarkeit nur Verwaltungsakte vollziehen, die sie für rechtmäßig hält. Für die Frage, ob diese ihre Auffassung über die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung später vom Gericht, das über den angefochtenen Kostenbescheid zu entscheiden hat, zu überprüfen ist, besagt § 6 I BVwVG nichts. Sein Regelungsgegenstand ist ein zeitlicher mit Blick auf Rechtsschutzmöglichkeiten des Beschwerten; er beantwortet nur die Frage, ob ein Verwaltungsakt erst nach oder schon vor Unanfechtbarkeit vollzogen werden darf. Die Problematik des „Rechtswidrigkeitszusammenhangs“ ist nicht sein Thema. Sie wird es auch nicht durch die Formulierung („und dabei innerhalb ihrer gesetzlichen Befugnisse handelt“) in § 6 II BVwVG, die vielleicht überflüssig ist, sich aber aus der Anomalie der Zwangsmittelanwendung ohne Grundverfügung erklärt und für diese klarstellt, dass von den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen natürlich nicht dispensiert ist. Soweit das Wortlautargument zusätzlich durch den Hinweis auf die unterschiedliche Rechtsschutzsituation gestützt wird – dem anwesenden Adressaten der sofort vollziehbaren Grundverfügung steht ja der Weg des § 80 V VwGO offen –, trifft dies nicht wirklich die Frage eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs. Abgesehen davon, dass in der typischen Situation der sofort vollziehbaren Polizeiverfügung das Gericht nicht vor Vollzug angerufen werden kann und hinterher möglicherweise – abhängig von der Einschätzung der Erledigung des Verwaltungsakts – nur die in ihrer Bedeutung für die Rechtswidrigkeit der Vollstreckung wiederum umstrittene Fortsetzungsfeststellungsklage bleibt, besagt dies alles nichts Definitives für die Frage, ob die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung einen rechtmäßigen (oder unanfechtbaren) Verwaltungsakt voraussetzt. 2. Der zweite häufig herangezogene Gedanke der Parallelisierung mit der zivilprozessualen Trennung von Urteil und Vollstreckung und allgemeiner der „Entkoppelung von materiellem Recht und Vollstreckungsrecht“, in der eine evolutionäre Errungenschaft gesehen wird, ist ebenfalls Zweifeln ausgesetzt. Gewiss werden in Urteil und Verwaltungsakt seit Otto Mayer zu Recht ähnliche Elemente erblickt – was aber wesentliche Unterschiede nicht ausschließt. Je mehr man sich der Situation der für sofort vollziehbar erklärten Gefahrenabwehrverfügung, die meist mündlich erlassen wird, nähert, umso deutlicher werden die Unterschiede zum Gerichtsurteil und seiner Vollstreckung. Die gerichtlichen Garantien der Richtigkeit der Entscheidung fehlen weitgehend, Entscheidungs- und Vollstreckungsorgan sind zudem identisch, so dass die Berufung auf die Fortschrittlichkeit der Trennung und die dadurch
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gewonnene Klarheit und Rechtssicherheit nicht überzeugt. In weniger starkem Maße greift diese Kritik auch im Hinblick auf ein zeitlich stärker gestrecktes Verfahren und Trennung von Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde, da auch hier die Verwaltung sich den Titel für ihren Anspruch selbst gibt, und das in einem nicht mit den Sicherungen des Gerichtsprozesses versehenen Verfahren. Auch der damit zusammenhängende und etwa von Waldhoff betonte Gedanke der rechtsstaatlichen Distanz, der rechtsstaatlichen Vorteile strikter Formalisierung40 bleibt in seinem Themenbezug schwer greifbar. Die sofortige Vollziehbarkeit einer Polizeiverfügung ist in bestimmten Situationen unverzichtbar, sie ist aber gewiss kein Muster rechtsstaatlicher Distanz. Verzichtet man hier auf den Rechtswidrigkeitszusammenhang, wird in den typischen Situationen der Rechtsschutz des Bürgers lediglich erschwert – die Distanz zum wirksamen Rechtsschutz wird größer. 3. Was drittens also den Rechtsschutz angeht, so ist aufschlussreich, dass die Rechtsschutzprobleme, die durch die These vom fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang aufgeworfen werden, doch, an den Ausführungen der Anhänger ablesbar, erheblichen gedanklichen Aufwand zu ihrer Bewältigung erfordern. Die wohl überwiegende Auffassung nimmt an, ein einmaliges Ge- oder Verbot – etwa der Platzverweis – erledige sich mit seiner Vollziehung. Ob die dann mögliche erfolgreiche Fortsetzungsfeststellungsklage zur Rechtswidrigkeit des Kostenbescheids und damit zum Erfolg seiner Anfechtung führt, ist jedenfalls konstruktiv umstritten, wenngleich über das Ergebnis – bei gerichtlich festgestellter Rechtswidrigkeit der Grundverfügung hat die Anfechtung des Kostenbescheids Erfolg – eigentlich nicht ernsthaft Streit bestehen sollte. Wer dies anders sieht oder aus dogmatischen Gründen die Erledigung verneint, verweist auf die Anfechtung der Grundverfügung, muss dann aber wiederum dieselben Überlegungen hinsichtlich der Auswirkungen auf den Kostenbescheid anstellen. Die dabei auftretenden dogmatischen Feinheiten des Rechtswidrigkeitsurteils können durchaus praktische Folgen haben. Das öffentliche Recht kennt keine dem § 717 II ZPO entsprechende Schadensersatzvorschrift, die eine Gefährdungshaftung des vorläufig Vollstreckenden statuiert. Ein Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch, gerichtet auf Aufhebung des Kostenbescheids, mag unabhängig von dessen zweifelhaftem „Rechtswidrigwerden“ durch Aufhebung der Grundverfügung bestehen. Weitere Schäden, die gerade der sofortige Vollzug verursacht hat, können aber nur bei Vorliegen einer Amtspflichtverletzung geltend gemacht werden, an der es bei Verneinung eines Rechtswidrigkeitszusammenhanges fehlt. Auch insoweit erweist sich die Parallele zum Zivilprozess also als brüchig. 4. Ein weiterer Argumentationsstrang bezieht sich auf die Bindungswirkung von Verwaltungsakten. Im wesentlichen wird postuliert, die wirksame Grundverfügung binde unabhängig von ihrer Rechtmäßigkeit, so dass sich für den Kostenbescheid wegen dieser Bindung die Frage nach dessen Rechtmäßigkeit gar nicht stelle. Solange diese existiere, sei die in der Grundverfügung ausgesprochene Verhaltenspflicht für 40 Waldhoff, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. III, 2009, § 46 Rn. 166, 176 f.
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alle Beteiligten – die Erlassbehörde, eine etwa davon unterschiedene Vollstreckungsbehörde, sonstige dritte Behörden und die Betroffenen – verbindlich festgelegt. Das erscheint mir nur auf den ersten Blick überzeugend. Ein bindender Befehl gilt ab Wirksamwerden, und wenn er für sofort vollziehbar erklärt ist, darf die Behörde ihn sofort mit Zwangsmitteln durchsetzen. Diese Bindung bedeutet aber nicht, dass die Behörde ihn sofort durchsetzen muss. Sofern nicht ein Gesetz dies anordnet – und die Verwaltungsvollstreckungsgesetze tun dies jedenfalls nicht generell –, steht die Vollziehung im Ermessen der Verwaltung. Die Lage ist nur scheinbar komplizierter, wenn Erlass- und Vollzugsbehörde nicht identisch sind. Auch dann ist es nicht die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, sondern allenfalls eine gesetzliche Anordnung, die die Vollzugsbehörde zum Vollzug verpflichtet. Dass ein Gesetz mit Rücksicht auf behördliche Kompetenzen auch zum Erlass rechtswidriger Verwaltungsakte verpflichten kann, ist von der (inzwischen abgemilderten) Bindung der Baugenehmigungsbehörde an die rechtswidrige Ablehnung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 II BauGB bekannt. Eine gesetzlich angeordnete Bindung an eine rechtswidrige Grundverfügung stünde also nicht der Annahme einer Rechtswidrigkeitszusammenhanges und das heißt der Qualifizierung des Kostenbescheids als rechtswidrig entgegen. Allgemeiner gilt, dass Bindung und Rechtswidrigkeit nicht auf derselben Ebene liegen. Bindende Verwaltungsakte können rechtswidrig sein. Die Annahme eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs hindert nicht die Annahme, dass sowohl Grundverfügung wie Kostenbescheid bindend und durchsetzbar sind. Sie besagt lediglich, dass der Angriff gegen den Kostenbescheid wegen der Rechtswidrigkeit der nicht unanfechtbaren Grundverfügung Erfolg hat. 5. Bleibt als wohl gewichtigster Einwand gegen die Annahme eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs die (polizei-)praktische Notwendigkeit der sofortigen Vollziehung, einer korrespondierenden vorläufigen Gehorsamspflicht der Adressaten der Grundverfügung und der Sicherung der Beamten gegen private Notwehrhandlungen. Wenn die Vollziehungsmaßnahme wegen der Rechtswidrigkeit der Grundverfügung ihrerseits rechtswidrig wird, droht ja möglicherweise die Notwehrberechtigung des Adressaten. Dies ist der stärkste Punkt der h.M.: das Gebot effektiver Abwehr unmittelbar drohender Gefahren verlangt nach vorläufiger Gehorsamspflicht. Die Annahme eines Rechtswidrigkeitszusammenhanges steht aber der vorläufigen Gehorsamspflicht nicht entgegen.41 Die Zulässigkeit der sofortigen Vollziehung eines noch anfechtbaren Verwaltungsaktes trägt der praktischen Notwendigkeit Rechnung und bürdet deswegen dem Betroffenen die Pflicht auf, einer möglicherweise rechtswidrigen Anordnung vorläufig zu folgen. Rechtmäßigkeit und Befolgungs41
Zutreffend die Ausführungen von Heckmann, VBlBW 1993, 41 (43 f.): es geht um einen „Widerspruch zwischen dem Erlaubtsein der Vollstreckung und der Rechtswidrigkeit der Rechtsverwirklichung“ (S. 43). Die „Rechtmäßigkeit der Grundverfügung ist zwar nicht Vollstreckungsvoraussetzung, jedoch Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Vollstreckungsakt“ (S. 44).
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pflicht sind vorläufig entkoppelt. Aus dem Problemkranz dieser vorläufigen Lagen und ihrer überwiegend rückwirkenden Korrektur, der sich um sofortige Vollziehung, aufschiebende Wirkung und späteres Urteil im Anfechtungsprozess rankt, sind die vielfältigen Aspekte bekannt, die hier zu berücksichtigen sind. Studierende, die ein Hausverbot des Rektors durch Anfechtung suspendiert haben, laufen beim Betreten der Universität nicht das Risiko, dass sie im Falle der späteren Abweisung der Anfechtungsklage, die dem Verbot rückwirkende Kraft verschafft, wegen Hausfriedensbruchs verfolgt werden können; wohl aber besteht nach vorherrschender Rechtsprechung dieses Risiko, wenn sie dem für sofort vollziehbar erklärten Verbot zuwiderhandeln und ihre Anfechtungsklage später Erfolg hat. Ebenso bleibt ein Einberufener wegen Fahnenflucht strafbar, wenn seine Anfechtungsklage gegen den sofort vollziehbaren Einberufungsbescheid später Erfolg hat, der Bescheid also mit Rückwirkung aufgehoben wird.42 Die sofortige Vollziehbarkeit begründet eine Befolgungspflicht unabhängig von der Rechtmäßigkeit, und der Straftatbestand von Hausfriedensbruch und Fahnenflucht wird so verstanden, dass im Interesse der Funktionsfähigkeit der Verwaltung oder der Bundeswehr ungeachtet einer sich später möglicherweise erweisenden Rechtswidrigkeit die Pflicht zur vorläufigen Befolgung des Verbots oder der Einberufung strafrechtlich sanktioniert ist. Die gesetzlich statuierte vorläufige Befolgungspflicht schließt auch ein Notwehrrecht des Betroffenen aus. Umgekehrt hat das Bundesverfassungsgericht die Bußgeldvorschrift des § 29 I Nr. 2 VersammlungsG im Lichte von Art. 8 I GG und mangels anderer Hinweise dahin ausgelegt, dass die nachträgliche Sanktion die Rechtmäßigkeit der Auflösungsverfügung voraussetzt.43 Es kommt in diesem Punkt also auf den Sinn und Zweck der straf- oder ordnungwidrigkeitenrechtlichen Sanktionsnorm an. Dieses Auseinanderziehen von Rechtmäßigkeit und vorläufiger Befolgungspflicht kann sich, wie sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ergibt44, auch auf die Vollziehungsmaßnahmen erstrecken. Ihre Rechtmäßigkeit kann ebenso wie die der Grundverfügung im Augenblick ihrer Anwendung noch in der Schwebe sein, doch berührt das nicht die Pflicht zu ihrer Beachtung oder Befolgung.
42 s. die Übersicht zur Gesamtproblematik bei Odenthal, NStZ 1991, 418 und z. B. OLG Frankfurt/M., NVwZ 1988, 286; anders für den Fall der Fahnenflucht noch OLG Frankfurt/M., NJW 1967, 262. 43 BVerfGE 87, 399 (408 – 410). Dort auch der Hinweis auf die vorläufige Befolgungspflicht bei noch ungeklärter Qualifikation als rechtmäßig oder rechtswidrig. Ganz parallel BVerfGE 92, 191 – Verfassungsbeschwerde gegen das Bußgeld wegen Verweigerung der Personalienangabe erfolgreich, Aufklärung der Rechtmäßigkeit des Vorgehens gegen die Versammlung nötig. 44 Aufschlussreich insoweit die Formulierung, der Betroffene habe die Anordnung „in Situationen, die eine vorgängige Klärung der Rechtmäßigkeit nicht zulassen, grundsätzlich hinzunehmen und kann allenfalls nachträglich eine Feststellung der Rechtswidrigkeit des polizeilichen Einschreitens erreichen“, BVerfGE 92, 191 (201) – das Gericht spricht bloß von der Gehorsamspflicht, nicht von der Rechtmäßigkeit der Maßnahme, sondern verweist auf die aktuelle Ungeklärtheit der Rechtmäßigkeit. Ebenso schon BVerfGE 87, 399 (408).
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Die spätere gerichtliche Kontrolle kann ohne Schaden für den Gefahrenabwehrzweck die dann erkannte Rechtswidrigkeit zur Geltung bringen. Bleibt die Frage, ob die vorläufige Befolgungspflicht auch strafrechtlich durch den Tatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 StGB sanktioniert ist. Auch ohne eine solche strafrechtliche Sanktionierung wäre die nach dem Gesagten bestehende Befolgungspflicht durchsetzbar, dem Gefahrenabwehrerfordernis also Genüge getan; ein Notwehrrecht des Adressaten ist durch die im Regelfall bestehende Befolgungspflicht ausgeschlossen. Indes versteht die strafrechtliche Rechtsprechung und Literatur die Einschränkung des § 113 III StGB („Die Tat ist nicht nach dieser Vorschrift strafbar, wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist“) überwiegend im Sinne eines spezifisch vollstreckungsrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs so, dass auch gewisse rechtswidrige Vollstreckungsmaßnahmen von dieser Einschränkung nicht erfasst, also weiterhin strafrechtlich gegen Widerstand geschützt sind45. Man sieht dabei im Übrigen, dass das Problem des Schutzes des Vollstreckungsbeamten auch bei Verneinung eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs mit der Grundverfügung auftaucht, da auch die Vollstreckungsmaßnahme selbst rechtswidrig und doch vorläufig zu befolgen sein kann. VI. Folgt man den bisherigen Ausführungen, gibt es also keine durchschlagenden Einwände gegen die Bejahung eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs. Nun mag man einwenden, damit sei aber noch kein hinreichender Grund für seine Bejahung benannt. Dieser liegt indes auf der Hand und wird von den Befürwortern meist mit dem schlichten, aber zutreffenden Verweis auf den Rechtsstaat benannt. Vollzieht die Verwaltung eine rechtswidrige, noch nicht bestandskräftige, also der gerichtlichen Kontrolle noch potentiell unterliegende Verfügung, handelt sie rechtswidrig. Das muss die Gehorsamspflicht nicht tangieren. Der Betroffene muss auch im Rechtsstaat in bestimmten Situationen rechtswidrigen – genauer: noch nicht definitiv als rechtmäßig erwiesenen und sich deshalb möglicherweise im Nachhinein als rechtswidrig erweisenden – Maßnahmen vorläufig gehorchen. Dies ist aber kein hinreichender Grund, der Maßnahme das Rechtmäßigkeitsprädikat zu verleihen. Vorläufige Durchsetzbarkeit und Rechtmäßigkeit sind entkoppelt. So wie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einem rechtmäßigen Verwaltungsakt die vorläufige Durchsetzbarkeit nimmt, ohne seine Rechtmäßigkeit zu berühren, kann umgekehrt die An45
Nachweise bei Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl. 2010, § 113 Rn. 18 ff., insb. 22, der im übrigen selbst auf die „Tatbestandswirkung“ des Grundverwaltungsakts verweist, sich also der Lehre vom fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang anschließt. BVerfG (K), NVwZ 2007, 1180 (1181 f.) billigt grundsätzlich ausgehend vom Schutzzweck des § 113 StGB den spezifisch zu § 113 StGB entwickelten verengten Rechtswidrigkeitsbegriff, hält allerdings das Fehlen einer Versammlungs-Auflösungsverfügung für eine wesentliche Förmlichkeit, die den gewaltsamen Abtransport eines Versammlungsteilnehmers auch im Sinne des § 113 III StGB rechtswidrig macht.
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ordnung der sofortigen Vollziehbarkeit einen rechtswidrigen Verwaltungsakt vorläufig durchsetzbar machen, ohne dass der Vorgang damit als rechtmäßig gekennzeichnet werden müsste. Ja, die Rechtsordnung kann für diesen Fall sogar die vorläufige Gehorsamspflicht u. U. strafrechtlich sanktionieren, wie die erwähnte Entscheidung zur Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs oder der Fahnenflucht trotz anhängiger und später erfolgreicher Anfechtung der Grundverfügungen zeigen. Spinnt man einen solchen Fall weiter und nimmt an, dass das sofort vollziehbare Hausverbot zeitlich vor dem späteren Verstoß schon einmal mit Zwangsmitteln durchgesetzt wurde und hierfür die Kosten festgesetzt werden, hindert die Bejahung der Strafbarkeit des Hausfriedensbruchs keineswegs daran, der Anfechtung des Kostenbescheids wegen Rechtswidrigkeit des nicht bestandskräftigen Hausverbots stattzugeben. Rechtmäßigkeit und vorläufige Befolgungspflicht liegen eben, das zeigt sich hier noch einmal, nicht auf derselben Ebene. Dieses Ergebnis ist übrigens ganz unbestritten und wird auch von denen geteilt, die einen Rechtswidrigkeitszusammenhang verneinen – wenn das Hausverbot nachträglich vom Gericht kassiert wird, entfällt die Grundlage für die Zwangsmittel. Wem dies alles als zu theoretisch, zu kompliziert oder jedenfalls mindestens ebenso kompliziert wie die den Rechtsschutz betreffenden Konstruktionen der h.M. erscheint – und es ist nicht ausgeschlossen, dass dies die Reaktion des Jubilars sein wird –, hat noch einen schlichteren Ausweg, den schon der Jubilar an versteckter Stelle gewiesen hat. Wie eingangs erwähnt, geht es praktisch ja in aller Regel um die Behandlung der Anfechtung eines Kostenbescheids, die auf die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung gestützt ist. Bejaht man den Rechtswidrigkeitszusammenhang, ist der Anfechtung wegen der Infizierung des Kostenbescheids durch die rechtswidrige Grundverfügung stattzugeben. Verneint man ihn, kommt ja immerhin in Betracht, dass die Anfechtung des Kostenbescheids zugleich die Grundverfügung umfasst. Schenke/Baumeister verweisen insoweit auf die Auslegung des Klageantrags.46 Ich meine, dass eine solche Auslegung oder ein entsprechender Hinweis des Gerichts zwingend sind, wenn die Klage (auch) auf die Rechtswidrigkeit der Grundverfügung gestützt ist; bei Annahme der Erledigung ist der Antrag als Fortsetzungsfeststellungsantrag zu verstehen. VII. Als Fazit kann man festhalten: die in den letzten Jahren auch aufgrund der Äußerungen des Jubilars vordringende Verneinung eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs ist nicht über Zweifel erhaben. Die gegen den Rechtswidrigkeitszusammenhang vorgebrachten Gründe, die sich auf den Wortlaut von § 6 I, II BVwVG, § 55 46 Schenke/Baumeister, NVwZ 1993, 1 (6): „Eine andere Frage ist, ob nicht möglicherweise in der Anfechtung eines Vollstreckungsakts zugleich auch eine Anfechtung des Vollstreckungstitels gesehen oder der Antrag dahin umgedeutet werden kann, wenn die Rechtswidrigkeit des Grundverwaltungsakts als Begründung für die Rechtswidrigkeit des Vollstreckungsakts vorgebracht wird. Dies ist jedoch ein Problem des Einzelfalls und insbesondere der Auslegung des Antrags“.
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I, II NWVwVG, auf eine Parallele zum zivilprozessualen Vollstreckungsverfahren und den evolutionären Fortschritt einer Trennung von materiellem Recht und seiner Durchsetzung, auf den Gedanken der rechtsstaatlichen Distanz und auf den Gesichtspunkt der Bestandskraft der Grundverfügung stützen, weisen einige offene Flanken auf. Auch der wichtigste Gesichtspunkt, nämlich die Sicherung der vorläufigen Vollziehbarkeit vor Klärung der Rechtmäßigkeit der Grundverfügung, spricht nicht gegen die Bejahung des Rechtmäßigkeitszusammenhangs, da das Gesetz die vorläufige Vollziehbarkeit und damit die Gehorsampflicht normieren kann (und normiert hat), ohne dass dies rechtsdogmatisch oder gar rechtstheoretisch die Qualifikation der Zwangsmaßnahme als rechtmäßig voraussetzt. Wer sich nicht zur Bejahung des Zusammenhangs verstehen kann, sollte indes auf der Linie der eben zitierten Bemerkung des Jubilars die Anfechtung des Kostenbescheids als auch gegen die (nicht bestandskräftige) Grundverfügung gerichtet verstehen, so dass der für das Rechtsschutzbegehren dominante Zusammenhang zwischen dem Befehl und seiner Durchsetzung zur Geltung kommen kann.
Abgabenverschonung als Finanzierung? – Gedanken zum kartellvergaberechtlichen Auftraggeberbegriff Von Thomas Puhl Fragen des Individualrechtsschutzes hat Wolf-Rüdiger Schenke sich stets in großer Tiefe und Breite gewidmet. Der folgende kleine Beitrag ihm zu Ehren ist ein Werkstattbericht. Er geht einigen noch nicht zu Ende gedachten Gedanken nach – vorsichtshalber zu einem der wenigen Themen des Individualrechtsschutzes, das der Jubilar bislang, soweit erkennbar, noch nicht beackert hat. Es geht auf den ersten Blick um einen Nebenkriegsschauplatz, ein Auslegungsdetail zu § 98 Nr. 2, 2. Halbsatz, erste Alternative GWB – nämlich die bislang, soweit ersichtlich, ungestellte Frage, ob auch ein Verzicht auf die Erhebung von Abgaben eine staatliche „Finanzierung“ von Einrichtungen sein kann, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen. Wenn dem so wäre, dann müssten solche „Verschonungssubventionen“ mit anderen Formen staatlicher Finanzierung addiert werden. Ein Sportverein etwa, der von der Kommune laufende Zuwendungen für seine Jugendarbeit erhält, dazu sein Training kostenlos in der Turnhalle des örtlichen Schulzentrums durchführen kann und schließlich wegen seines Gemeinnützigkeitsstatus nicht nur selbst steuerbefreit ist, sondern zudem steuerbegünstigt Spenden entgegennehmen darf, würde so, wenn all diese zugewandten geldwerten Vorteile zum staatlichen Finanzierungsanteil zählen und insgesamt mehr als 50 v.H. seiner Einnahmen ausmachen, zum „öffentlichen Auftraggeber“ i.S. des Kartellvergaberechts. Dieser Verein ist dann (wie der Staat selbst) ausschreibungspflichtig, wenn er größere Aufträge vergibt; er muss den Zuschlag diskriminierungsfrei und transparent auf das „wirtschaftlichste Angebot“ erteilen; und Unternehmen, die einen Vergaberechtsverstoß geltend machen, können ihm gegenüber auch die volle Rechtsschutzklaviatur der §§ 102 ff. GWB zum Einsatz bringen. Diese – u. U. bittere – Unterwerfung unter das Kartellvergaberecht beträfe dann wohl eine Vielzahl v. a. gemeinnütziger Einrichtungen: Altersheime, Jugendverbände, Krankenhäuser, das Rote Kreuz, Studentenwerke, Heimat- und Karnevalsvereine, Organisationen für Umweltschutz, Entwicklungszusammenarbeit, Verbraucherschutz etc. Eine ziemlich winzig anmutende Detailfrage zur Auslegung von § 98 Nr. 2, 2. Halbsatz, erste Alternative GWB könnte so doch beträchtliche (und vermutlich bei Erlass des Gesetzes und der zugrundeliegenden Richtlinien unbeachtete) Konsequenzen haben.
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I. Die Bedeutung des kartellvergaberechtlichen Auftraggeberbegriffs Juristische Personen des öffentlichen Rechts sind (im Gegensatz zum Bürger, der seines eigenen Glückes Schmied ist) materiell durchgehend dem Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verpflichtet1 – und zu dessen Effektuierung kraft Haushaltsrechts bei ihrer Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen am Markt verfahrensrechtlich dazu, das wirtschaftlichste Angebot im Wege öffentlicher Ausschreibung zu ermitteln (wenn nicht die Natur des Geschäfts oder besondere Umstände eine Ausnahme rechtfertigen)2. Einzelheiten des Vergabeverfahrens (etwa Form und Inhalt der Ausschreibung, Fristen) sind in den Vergabe- und Vertragsordnungen als zunächst privaten Rechtsetzungsakten normiert3; diese werden sodann für die staatlichen Stellen regelmäßig im Wege verwaltungsinterner Anordnung verbindlich4. Dieses haushaltsrechtliche Vergaberecht ist dann also bloßes Innenrecht; jedenfalls vermittelt es, da allein dem Schutz des für die staatliche Mittelbewirtschaftung geltenden Wirtschaftlichkeitsgrundsatzes dienend, einem Mitwettbewerber, der im Zuge einer Auftragsvergabe leer ausgegangen ist, bei einem Verstoß keine subjektiven Rechte auf Einhaltung der Vergabevorschriften oder gar auf Zuschlagserteilung5. 1 s. §§ 6 Abs. 1, 48 Abs. 1 HGrG; §§ 7 Abs. 1 S. 1, 105 Abs. 1 Nr. 2, 113 BHO/bw LHO; aus dem Kommunalrecht etwa § 77 Abs. 2 bw GemO, § 48 bw LKrO, § 12 Abs. 1 S. 3 bw EigBG. Art. 114 Abs. 2 GG und die entsprechenden Normen des Landesverfassungen benennen diese Grundsätze nur als Prüfungsmaßstäbe für die Rechnungshofkontrolle, implizieren aber wohl auch eine materielle Bindung der Kontrollunterworfenen. 2 s. §§ 30, 48 Abs. 1 HGrG, §§ 55 Abs. 1 BHO/LHO; für die Kommunen s. § 144 S. 1 Nr. 20 bw GemO i.Vm. § 31 bw GemHVO, für Unternehmen und Einrichtungen in Privatrechtsform § 106b bw GemO. Die Vorschriften gehen auf § 46 Abs. 1 RHO als Vorläufer von § 55 Abs. 1 BHO zurück; zuvor schon § 3 Abs. 1 des Preuß. Staatshaushaltsgesetzes v. 18. 5. 1898, PrGS, 77. Zur geschichtlichen Entwicklung s. etwa den Abriss bei Sterner, Rechtsbindungen und Rechtsschutz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, Diss. Mannheim, 1996, S. 71 ff., sowie aus europäischer Sicht Egger, Europäisches Vergaberecht, 2008, Rn. 42 ff. 3 Sie werden vom Deutschen Vergabe- und Vertragsausschuss für Bauleistungen (DVA) und dem Deutschen Verdingungsausschuss für Leistungen (DVAL) erarbeitet und beschlossen. Diese setzen sich u. a. aus Vertretern von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften zusammen. 4 s. etwa für BW die Verwaltungsvorschrift der Ministerien über die Anwendung der Vergabe- und Vertragsordnungen für Leistungen Teil A (VOL/A), Ausgabe 2009, Teil B (VOL/B) und der Vergabeordnung für freiberufliche Leistungen (VOF) v. 14. 6. 2010 – Az.: 1 – 4461.0/39, GABl. 2010, 222. Soweit allerdings Verordnungen auf die Vergabe- und Vertragsordnungen verweisen (insbesondere im Anwendungsbereich der VgV), gelten diese nach hM selbst in Verordnungsrang, s. Puhl, VVDStRL 60 (2001), S. 456 (472, 474) m.w.N.; für den Kommunalbereich Gern, Kommunalrecht Baden-Württemberg, 9. Aufl. 2005, Rn. 416 unter Tz. 2.2.2.2.3. 5 s. etwa Rahm/Stapel-Schulz (2008), in: Heuer/Engels/Eibelshäuser, Haushaltsrecht, § 55 BHO Rn. 22; Nebel (2008), in: Piduch, Bundeshaushaltsrecht, § 55 Rn. 1 und 3; für den Kommunalbereich Gern (Fußn. 4), Rn. 416 unter Tz. 2.2.2.2.3 m.w.N. In Betracht kommen danach allenfalls Schadensersatzansprüche. – Ob das Ziel der haushaltsrechtlichen Vergabevorschriften „rein“ staatsbezogen ist, erscheint jedenfalls historisch nicht unzweifelhaft; s. etwa Schulze/Wagner, RHO, 3. Aufl. 1934, § 46 Anm. 1, wonach die Vorschrift sicherstellen soll,
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Kräftige Brüsseler Impulse haben jedoch eine Neuausrichtung des Vergaberechts bewirkt: Um die protektionistische Abschottung nationaler Beschaffungsmärkte aufzubrechen und eine offene Marktwirtschaft mit freiem und chancengleichem Wettbewerb zu befördern, hat die Gemeinschaft seit 1971 eine Vielzahl von Richtlinien für das Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge erlassen6 – u. a. mit dem Ziel, im Verfahren benachteiligten Bietern auch einklagbare Rechte einzuräumen7. Dies hat (etwas widerstrebend und zögerlich) schließlich auch der deutsche Gesetzgeber im Vergaberechtsänderungsgesetz8 umgesetzt9, dabei das Vergaberecht aus dem Haushaltsrecht herausgelöst und in die §§ 97 ff. GWB10 integriert sowie klar geregelt: „Die Unternehmen haben Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält“ (§ 97 Abs. 7 GWB). Diese subjektiven Rechte entstehen allerdings nur gegenüber „öffentlichen Auftraggebern“. Wer dazu zählt, klärt § 98 GWB, dessen Legaldefinition des öffentlichen Auftraggebers den persönlichen Anwendungsbereich des Kartellvergaberechts bestimmt, also darüber entscheidet: ¢ wer – bei Vorliegen der sachlichen Voraussetzungen (öffentlicher Auftrag oberhalb der sog. Schwellenwerte, §§ 99, 100 GWB, § 2 VgV11) – grundsätzlich dass die finanziellen Interessen des Reichs gewahrt werden, aber auch, dass „Begünstigungen einzelner Personen oder Interessenkreise ausgeschlossen werden“ [und damit im Umkehrschluss: dass andere Personen oder Interessenkreise benachteiligt werden]. Die von mir in VVDStRL 60 (2001), S. 456 (477 ff.) befürwortete Ableitung subjektiver Bieterrechte v. a. aus der verfahrensrechtlichen Dimension von Art. 3 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG (aber auch aus den Grundfreiheiten) hat das BVerfG nicht für durchschlagend gehalten, sondern das Fehlen eines Primärrechtsschutzes (für Aufträge unterhalb der Schwellenwerte) in seiner Entscheidung v. 13. 6. 2006 verfassungsrechtlich passieren lassen, s. BVerfGE 116, 135 ff.; die Notwendigkeit von Primärrechtsschutz (auch unterhalb der Schwellenwerte) wird jedoch bis heute auch z. T. aus dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot, abgeleitet, s. Frenz, in: Willenbruch/Wieddekind, Kompaktkommentar Vergaberecht, 2. Aufl. 2011, 1. Los Rn. 161. Näher Kraft-Lehner, Subjektive Rechte und Rechtsschutz des Bieters im Vergaberecht unterhalb der EU-Schwellenwerte, Diss. Mannheim 2002, passim; sowie jüngst Andr¦/Sailer, JZ 2011, 555 ff. m.w.N. 6 Zur Entwicklung des Sekundärrechts etwa Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 3, Beihilfeund Vergaberecht, 2007, Rn. 1909 ff. 7 Klar EuGH v. 11. 8. 1995, Rs. C-433/93 – Kommission / Deutschland, Rn. 19 m.N. 8 V. 26. 8. 1998, BGBl. I, 2512. 9 Näher Puhl, VVDStRL 60 (2001), S. 456 (468 ff.) m.w.N. 10 Inzwischen i. d. F. der Bekanntmachung v. 15. 7. 2005 (BGBl. I, 2114), zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes v. 22. 12. 2010, BGBl. I, 2262. 11 Derzeit: für Bauaufträge ab 4.845.000 E, für Liefer- und Dienstleistungsaufträge auf Landes- und Kommunalebene 193.000 E, jeweils ohne Mehrwertsteuer. Die Kommmission setzt die in Art. 7 VKR (Fußn. 15) genannten Schwellenwerte wegen der Bindung der EU an das General Procurement Agreement (GPA) und der schwankenden Währungsparitäten jeweils für 2 Jahre neu fest, s. Art. 78 VKR – zuletzt mit Wirkung ab 1. 1. 2010 durch Verordnung EG Nr. 1177/2009 v. 20. 11. 2009, ABl. L 314/64 v. 1. 12. 2009. Diese VO gilt unmittelbar für die nationalen Vergabestellen. Deklaratorisch werden die neuen EU-Schwellenwerte darüber hinaus in die Vergabeverordnung (VgV) übernommen (so jetzt in § 2 VgV i. d. F. v. Art. 1 Nr. 2 der VO v. 7. 6. 2010, BGBl. I, 724).
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zur Beschaffung von Waren, Bau- und Dienstleistungen im Wettbewerb und im Wege transparenter Vergabeverfahren verpflichtet ist, also im Regelfall: zu europaweiter Ausschreibung; ¢ wer den Auftrag sodann grundsätzlich ohne Berücksichtigung „vergabefremder Zwecke“ (vgl. § 97 Abs. 4 GWB) auf das „wirtschaftlichste“ Angebot zu erteilen hat (§ 97 Abs. 5 GWB); und ¢ wer schließlich, wenn er dabei (möglicherweise) Rechte von Bietern, Bewerbern oder sonstigen interessierten Unternehmen verletzt, auf deren Antrag einem spezifischen Rechtsschutzverfahren ausgesetzt ist (§§ 97 Abs. 7, 102 ff. GWB).
II. Der funktionale Auftraggeberbegriff des Kartellvergaberechts § 98 GWB definiert den Begriff des öffentlichen Auftraggebers in sechs Tatbestandsalternativen, auf die nach der Systematik des deutschen Vergaberechts unterschiedliche Abschnitte der Vergabe- und Vertragsordnungen zur Anwendung kommen12. Danach sind öffentliche Auftraggeber neben den „Gebietskörperschaften sowie deren Sondervermögen“ (Nr. 1) als den klassischen staatlichen Auftraggebern u. a. nach Nr. 2 „andere juristische Personen des öffentlichen und des privaten Rechts, die zu dem besonderen Zweck gegründet wurden, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen, wenn Stellen, die unter Nummer 1 oder 3 fallen, sie einzeln oder gemeinsam durch Beteiligung oder auf sonstige Weise überwiegend finanzieren oder über ihre Leitung die Aufsicht ausüben oder mehr als die Hälfte der Mitglieder eines ihrer zur Geschäftsführung oder zur Aufsicht berufenen Organe bestimmt haben.“ Die Vorschrift ist im Lichte des Europarechts auszulegen und anzuwenden13, denn das Kartellvergaberecht dient der Umsetzung der EG-Vergaberichtlinien14, die seit 2004 in der Richtlinie 2004/18/EG v. 31. 3. 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge
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s. § 98 GWB i.V.m. §§ 4 bis 6 VgV. Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung statt aller Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 EGV Rn. 113 ff., und Nettesheim (2002), in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, Bd. III, Art. 249 EGV Rn. 153, je m.w.N. Aus dem vergaberechtlichen Schrifttum allgemein etwa Prieß, Handbuch Europäisches Vergaberecht, 3. Aufl. 2005, S. 74 ff., und Egger (Fußn. 2), Rn. 424 ff., je m.w.N. 14 s. die Begründung des Regierungsentwurfs zum VgRÄG, BT-Drucks. 13/9340 v. 3. 12. 1997, S. 1, 12 sowie (speziell zu § 107 des Regierungsentwurfs = § 98 GWB) S. 15. Diese Umsetzung europäischer Vorgaben ist bis heute Zielsetzung mehrerer Novellierungen der §§ 97 ff. GWB gewesen, zuletzt durch das Vergaberechtsmodernisierungsgesetz v. 20. 4. 2009, s. dazu etwa die Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks. 16/10117 v. 13. 8. 2008, S. 1, 13 f. und speziell zu § 98 GWB: S. 17. 13
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(im Folgenden: Vergabekoordinierungsrichtlinie – VKR)15 zusammengefasst sind. Maßgeblich für die Auslegung von § 98 GWB ist damit v. a. die Legaldefinition des öffentlichen Auftraggebers in Art. 1 Abs. 9 VKR16 sowie ihren Vorläufern17 – letztlich in ihrer Auslegung durch den EuGH.18 Nach dieser Rechtsprechung ist der Begriff des öffentlichen Auftraggebers „funktional“ (d. h. aufgaben-/tätigkeitsbezogen, nicht [nur] „institutionell“19) zu verstehen20. Der EuGH betont insoweit in 15
ABl. Nr. L 134 v. 30. 4. 2004, S. 114 ff.; dazu kommt die Sektorenrichtlinie vom gleichen Tag: die Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und Rates v. 31. 3. 2004 über die Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energieund Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, ABl. Nr. L 134 v. 30. 4. 2004, S. 1 ff. (im Folgenden: SKR). 16 „(9) ,Öffentliche AuftraggeberÐ sind der Staat, die Gebietskörperschaften, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts und die Verbände, die aus einer oder mehrerer dieser Körperschaften oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts bestehen. Als ,Einrichtung des öffentlichen RechtsÐ gilt jede Einrichtung, die a) zu dem besonderen Zweck gegründet wurde, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen, b) Rechtspersönlichkeit besitzt und c) überwiegend vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert wird, hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht durch Letztere unterliegt oder deren Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die vom Staat, von den Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts ernannt worden sind. …“ 17 EuGH v. 13. 12. 2007 – Rs. 337/06, Bayerischer Rundfunk, Rn. 30 betont gerade mit Blick auf die Vorschriften zum öffentlichen Auftraggeber, dass die VKR nur eine Neufassung bereits bestehender Vorschriften darstellt und inhaltlich damit übereinstimmt. Zustimmend etwa Degenhart, JZ 2008, 568 (569 l. Sp. unten). Deshalb kann auf die Rechtsprechung zu diesen Vorgängerregelungen ohne weiteres Bezug genommen werden. 18 So etwa Hailbronner (2005), in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. IV, B 4 Rn. 13 f., 16 m.w.N.; Wagner, in: Langen/Bunte, Komm. zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1, 11. Aufl. 2011, § 98 GWB Rn. 2. Die nationalen Gerichte können – außerhalb des konkreten Rechtsstreits, zu dem eine Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 267 AEUV ergangen ist – zwar theoretisch von dessen Rechtsprechung abweichen; diese hat aber zumindest de facto erhebliche Präjudizwirkung und jedenfalls ein letztinstanzlich entscheidendes nationales Gericht wäre, wenn es von einer Auslegung der VKR durch den EuGH abweichen möchte, nach Art. 267 UAbs. 2 AEUV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, vgl. etwa Wegener, in: Calliess/Ruffert (Fußn. 13), Art. 234 EGV Rn. 38 m.w.N. 19 Bis 1990 galt im Vergaberecht – jedenfalls nach dem Wortlaut der Richtlinien – ein „institutioneller“ Auftraggeberbegriff. Danach waren öffentliche Auftraggeber i.S.d. Vergaberichtlinien nur „der Staat, die Gebietskörperschaften und juristische Personen des öffentlichen Rechts“ – die klassischen Auftraggeber (vgl. z. B. Art. 1 lit. b Baukoordinierungsrichtlinie 771/305/EWG v. 26. 7. 1971). Beginnend mit der Änderung dieser Richtlinie durch Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 89/440/EWG v. 18. 7. 1989 ist der Kreis der erfassten Auftraggeber auf sog. „Einrichtungen des öffentlichen Rechts“ erstreckt worden, zu denen auch private Unternehmen gehören, die eine besondere Staatsnähe aufweisen, und – später – auf rein private Unternehmen, die in bestimmten Wirtschaftsfeldern (Sektoren) auf der Basis besonderer oder ausschließlicher Rechte tätig sind. Zu diesem Wandel zusammenfassend etwa Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 5 ff.; Prieß (Fußn. 13), S. 147 ff. m.w.N.
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ständiger Rechtsprechung zum Begriff der „Einrichtung des öffentlichen Rechts“ i.S. der VKR (auf dem § 98 Nr. 2 GWB beruht), dass dessen Auslegung durch die von der Richtlinie verfolgte „doppelte Zielsetzung der Öffnung für den Wettbewerb und die Transparenz“ bestimmt und dass der Begriff weit auszulegen ist21, und zwar nicht nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Rechts, sondern „autonom“ nach der VKR und einheitlich in allen Mitgliedstaaten22. Das ist der Sache nach eine klassisch-teleologische Auslegung der Richtlinie.23 Hauptkonsequenz ist, dass zu diesen „Einrichtungen des öffentlichen Rechts“ – unabhängig von ihrer privat- oder öffentlichrechtlichen Rechtsform24 – alle rechtsfähigen Einrichtungen zählen, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen und von staatlichen Stellen maßgeblich finanziert oder kontrolliert werden. Die Konkretisierung
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Diese Rechtsprechung begann bereits vor der Erweiterung des Auftraggeberbegriffs durch die Richtlinien selbst, erstmals EuGH v. 20.9. 1988, Rs. C-31/97 – Beentjes, Rn. 11: „Der in dieser Bestimmung [scil.: noch der RiLi 71/305/EWG] verwendete Begriff des Staates ist im funktionellen Sinne zu verstehen. Das Ziel der Richtlinie, die die tatsächliche Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs auf dem Gebiet der öffentlichen Bauaufträge anstrebt, wäre gefährdet, wenn sie allein deswegen unanwendbar wäre, weil ein öffentlicher Bauauftrag von einer Einrichtung vergeben wird, die geschaffen wurde, um ihr durch Gesetz zugewiesene Aufgaben zu erfüllen, die jedoch nicht förmlich in die staatliche Verwaltung eingegliedert ist.“ 21 EuGH v. 15. 5. 2003, Rs. C-214/00 – Kommission/Spanien, Rn. 53 m.w.N.; EuGH v. 16. 10. 2003, Rs. C-283/00 – Kommission/Spanien (SIEPSA), Rn. 73; ähnlich schon EuGH v. 27. 2. 2002, Rs. 373/00 – Truley, Rn. 43. 22 EuGH v. 27. 2. 2002, Rs. 373/00 – Truley, Rn. 36, 45; EuGH v. 13. 1. 2005, Rs. C-84/03 – Kommission/Spanien (Kooperationsvereinbarungen Spanien), Rn. 27 m.w.N. – Demgegenüber bestimmte ursprünglich jeder EU-Mitgliedstaat autonom, welche staatliche Stelle bei ihren Beschaffungsmaßnahmen die nationalen Regeln öffentlicher Auftragsvergabe anzuwenden hatte; s. Prieß (Fußn. 13), S. 147 f. 23 So auch Prieß (Fußn. 13), S. 148. 24 Daraus folgt v. a., dass auch Einrichtungen in Privatrechtsform öffentliche Auftraggeber sein können, so dass dem Staat jedenfalls durch Organisationsprivatisierungen allein keine „Flucht“ aus den vergaberechtlichen Bindungen gelingen kann, s. etwa EuGH v. 15. 5. 2003, Rs. C-214/00 – Kommission/Spanien, Rn. 53 ff., insbes. Rn. 55 f.; umgekehrt kann „aus der öffentlichrechtlichen Rechtsform eines Unternehmens allein noch kein Indiz für die öffentliche Auftraggeber-Eigenschaft entnommen werden“ (OLG Rostock v. 15.6.2005 – 17 Verg 3/05, Rn. 27, Hervorhebung nicht im Original). Deshalb ist das (in Bayern als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte) Rote Kreuz kein öffentlicher Auftraggeber, BayObLG v. 10. 9. 2002 – Verg 23/02, NZBau 2003, 348; ebenso wenig nach ganz h.M. die öffentlich-rechtlich organisierten Religionsgesellschaften, s. etwa Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 124 ff.; Otting, in: Bechtold, GWB, 6. Aufl. 2010, § 98 Rn. 27 f.; Stickler, in: Reidt/Stickler/Glahs, Vergaberecht, 3. Aufl. 2011, § 98 GWB Rn. 81 ff.; Eschenbruch, in: Kulartz/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, 2. Aufl. 2009, § 98 Rn. 186 ff.; Marx, in: Motzke/Pietzcker/Prieß, BeckÏscher VOBKommentar, 2001, § 98 GWB Rn. 35; unsicher Dreher, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 2, 4. Aufl. 2007, § 98 GWB Rn. 125; a.A. (oder zumindest missverständlich) Müller-Wrede, in: Ingenstau/Korbion, VOB, 15. Aufl. 2004, § 98 GWB Rn. 61 f.; sie alle m.w.N.
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dieser unbestimmten Kriterien gehört jedoch zu den umstrittensten Fragen des Kartellvergaberechts25. III. Öffentliche Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB Voraussetzung der Auftraggebereigenschaft nach § 98 Nr. 2 GWB ist (neben der Rechtsfähigkeit der Einrichtung und ihren im Allgemeininteresse liegenden Aufgaben nichtgewerblicher Art, die hier nicht weiter problematisiert werden sollen) deren besondere Staatsgebundenheit26. § 98 Nr. 2 GWB sieht für dieses Merkmal – fast27 wörtlich mit Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 lit. c) VKR übereinstimmend – drei selbständige und getrennt zu beurteilende Alternativen vor, deren Vorliegen je für sich die notwendige Staatsgebundenheit einer Einrichtung begründet28. Die erste hiervon ist die, dass „Stellen, die unter Nummer 1 oder 3 fallen, sie einzeln oder gemeinsam durch Beteiligung oder auf sonstige Weise überwiegend finanzieren.“ Hierum allein geht es im Folgenden, während die „Aufsichtsvariante“ und die „Gremienmehrheitsvariante“ der Staatsgebundenheit einmal ausgeblendet seien. 1. Allgemeine Kriterien des EuGH Der EuGH hat bei der Frage, was „Finanzierung“ i.S.v. Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 lit. c) VKR ist, bisher ausschließlich thematisiert, ob staatlich veranlasste Vermögenszuflüsse an die jeweilige Einrichtung in einer bestimmten, der Auftragsvergabe nahen
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s. etwa Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 18; Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 11 f.; Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 3. 26 Begriffsbildung wohl von Dreher, DB 1998, 2579 (2583); s. a. Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 75. Andere sprechen von besonderer „Staatsnähe“, z. B. Ziekow, VergabeR 2003, 483 (497); Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); der EuGH sagt regelmäßig, die Einrichtung müsse „eng mit dem Staat … verbunden“ sein – z. B. im Urteil v. 15. 1. 1998, Rs. C-44/96 – Mannesmann Anlagenbau Austria, Rn. 20; EuGH v. 3. 10. 2000, Rs C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 20; EuGH v. 27. 2. 2003, Rs. C-373/00 – Truley, Rn. 68; vgl. auch EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 55 ff. ([enge] Verbundenheit mit dem Staat). Andere sprechen von einem (besonderen öffentlichen) „Beherrschungsverhältnis“, so etwa Bungenberg, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampf, Kartellrecht, 2. Aufl. 2009, § 98 GWB Rn. 27. – Auf diese Terminologie kommt es nicht an, solange man daraus keine voreiligen Schlüsse auf das erforderliche Ausmaß staatlichen Einflusspotentials auf die Einrichtung zieht. 27 Kritisch zur nicht ganz kongruenten Formulierung von § 98 Nr. 2 GWB und Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 lit. c) VKR Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 151 ff.; besondere Bedeutung hat diese Diskrepanz bei der Frage, ob eine überwiegende Staatsfinanzierung auch im Wege einer „Beteiligung“ möglich ist, s. dazu Fußn. 29. 28 Statt aller EuGH v. 1. 2. 2001, Rs. C-237/99 – Kommission/Frankreich (OPAC), Rn. 48 f. (st. Rspr.); Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 149 f.; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498); Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 27; Crass, Der öffentliche Auftraggeber, 2004, S. 105.
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Wirtschaftsperiode erfolgt sind29. Im Grundsatzurteil „University of Cambridge“ hat er dazu gesagt, es komme auf die „Mittel“ der Einrichtung an30, und zwar, da die Finanzierung einer Einrichtung von Jahr zu Jahr variieren könne und insofern Vorhersehbarkeit für die betreffende Auftragsvergabe erforderlich sei, auf diejenigen „Zahlen“, die – auf der Basis des jeweiligen Haushaltsplanes – zu Beginn des Haushaltsjahres „veranschlagt“ sind.31 Ähnlich formuliert der EuGH in seinem Urteil zu den Rundfunkanstalten, wonach es darauf ankomme, ob bei ihnen mehr als die Hälfte ihrer „Einkünfte“ aus staatlichen Mitteln stammen32. Jedenfalls ist auch das Kriterium der staatlichen Finanzierung „funktionell“ im Lichte des Zwecks der VKR aus29 Ob eine dauerhafte „Beteiligung“ am Grundkapital einer Einrichtung auch zu einer andauernden Finanzierung der Einrichtung (auch in Jahren, die auf die Kapitalzuführung folgen) führt, hat der EuGH nie thematisiert. Dazu hatte er jedenfalls nach dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 VKR auch keinen Anlass – denn hier ist von einer überwiegenden Finanzierung „durch Beteiligung“, anders als in § 98 Nr. 2 GWB, nicht die Rede. Die deutsche Literatur und Rechtsprechung gehen dagegen, verführt vom Wortlaut des § 98 Nr. 2 GWB, fast einhellig davon aus, eine überwiegende staatliche Finanzierung einer Einrichtung liege auch dann vor, wenn der Staat – direkt oder indirekt – eine mehr als 50 %-ige Kapitalbeteiligung an ihr hält. Das ist bei einer Auslegung im Lichte des Europarechts zweifelhaft, führt zu praktischen Schwierigkeiten (soll man einen 20 %-igen Zuschuss und eine 35 %-ige Beteiligung – also Äpfel und Birnen – addieren?), ist im Übrigen aber meist ohne Bedeutung, weil eine Mehrheitsbeteiligung gesellschaftsrechtlich ohnehin i. d. R. mit einer Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung der AG (§§ 133 f. AktG) bzw. in der Gesellschafterversammlung der GmbH (§ 47 GmbHG) verbunden ist, so dass dann schon die „Gremienmehrheitsvariante“ der Staatsgebundenheit greift. 30 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 34, 35, 36. 31 Rn. 38 bis 41, 44. Dabei komme es auf Änderungen der zum Zeitpunkt der Ausschreibung eines Auftrags bestehenden Finanzierungsbedingungen während dieses Verfahrens aus Gründen der Rechtssicherheit nicht an, sondern maßgeblich sei für die Bestimmung der Auftraggebereigenschaft der Zeitpunkt der Ausschreibung (Rn. 42 f.). Wie der EuGH aus der Literatur etwa Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 30; Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 77; Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 94; Ziekow, VergabeR 2003, 483 (499); Egger (Fußn. 2), Rn. 494 mit Fußn. 1150 (m.w.N.); Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 24 (für Veränderungen der Verhältnisse anders noch in der 1. Auflage 2000, Rn. 24). – Insofern ist im Schrifttum lediglich die Anknüpfung an den Beginn des Haushaltsjahres kritisiert und statt dessen vorgeschlagen worden, aus Gründen der Rechtssicherheit an das abgeschlossene Haushaltsjahr (oder den letzten Jahresabschluss) anzuknüpfen, so insbes. Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 158 Fußn. 363 (m. Nachw.). Ohne weitere Auseinandersetzung mit dem EuGH und der h.L. hat das BayObLG in seinem Beschluss zum Bayerischen Roten Kreuz (v. 10. 9. 2002, Verg 23/02, NZBau 2003, 348 [349]), in dem es um einen von diesem im Dezember 2001 ausgeschriebenen Auftrag ging, auf die letzte verfügbare Aufwands- und Ertragsrechung für das Jahr 2000 abgestellt. – Die Detailfrage nach der kaufmännischen oder kameralistischen Betrachtung kann im Einzelfall für die Berechnung der Staatsquote eine Rolle spielen, sei aber hier nicht weiter vertieft. 32 EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 33. Allerdings darf man natürlich auch diesen Begriff nicht etwa schlicht an der deutschen Terminologie messen, wo „Einkünfte“ eine Nettogröße (Einnahmen abzüglich Ausgaben) meinen, vgl. § 2 Abs. 2 S. 1 EStG, während dem Haushaltsrecht gerade das Prinzip der Bruttoveranschlagung zugrunde liegt (also Einnahmen ohne Saldierung mit Ausgaben veranschlagt werden, s. § 15 Abs. 1 S. 1 BHO/LHO).
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zulegen, um die Gefahr der Bevorzugung einheimischer Bieter durch öffentliche Auftraggeber und zugleich die Möglichkeit auszuschließen, dass eine staatlich kontrollierte oder finanzierte Stelle sich bei der Auftragsvergabe von anderen als wirtschaftlichen Überlegungen leiten lässt33. Was eine „überwiegend“ staatliche Finanzierung ist, beurteilt der EuGH rein quantitativ34: Die öffentliche Finanzierung muss mehr als die Hälfte „alle[r] Mittel“ … umfassen, über die diese Einrichtung verfügt, „einschließlich derer, die aus gewerblicher Tätigkeit stammen.“35 Bezugspunkt der Finanzierung ist – anders als bei der partiellen Auftraggebereigenschaft kraft öffentlicher Förderung für bestimmte Projekte nach § 98 Nr. 5 GWB – nicht ein bestimmter Auftrag, sondern die jeweilige Einrichtung als solche36, also die juristische Person, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art erfüllt; denn „sie“ ist es insgesamt, deren überwiegende Finanzierung von staatlichen Stellen hier vorausgesetzt wird. Zum staatlichen Finanzierungsanteil gehören solche von „Stellen, die unter Nr. 1 oder 3 fallen“ – also von Gebietskörperschaften und Sondervermögen (Nr. 1), aber nach § 98 Nr. 2 S. 2 GWB auch von solchen (mit-)finanzierenden Stellen, die selbst öffentliche Auftraggeber nach § 98 Nr. 2 GWB sind, und nach Nr. 3 von „Verbänden“ solcher Auftraggeber. Ausreichend ist es nach dem klaren Wortlaut der Norm, wenn 33
EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 35 – 40, 47. In der Entscheidung spielt diese spezifisch gemeinschaftsrechtliche – im Blick auf die vergaberechtliche Zwecksetzung vorgenommene – Auslegung insofern eine praktische Rolle, als sie zu dem Ergebnis kommt, die verfassungsrechtlich mit Blick auf die Programmfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG als „staatsfern“ organisierte Beitragsfinanzierung sei eine „staatliche“ (s. Rn. 31, 42 f.) – jedenfalls hinsichtlich solcher Aufträge, die nicht unmittelbar programmrelevant sind (im konkreten Fall: Reinigungsaufträge für Gebäude der GEZ). Näher zu diesem autonom gemeinschaftsrechtlichen Ansatz Degenhart in seiner Urteilsanmerkung in JZ 2008, 568 (569 und 570). Den „funktionalen“ Finanzierungsbegriff betont auch etwa Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 84. 34 Und nicht, wie die University of Cambridge als Klägerin des Ausgangsverfahrens (Fußn. 30) meinte, qualitativ in dem Sinne, dass nur Zahlungen zu berücksichtigen seien, die dem Zahlenden die Kontrolle über die Vergabe von Aufträgen verleihen (Rn. 29). 35 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 36; EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 33 (mehr als die Hälfte der „Einkünfte“ der Rundfunkanstalten); ebenso oder ähnlich aus dem Schrifttum etwa Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 94; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Ziekow, VergabeR 2003, 483 (499); Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 29; Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 155, 157; Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 76; Müller-Wrede (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 30; Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 52 f.; sowie zu einem Studentenwerk in Niedersachsen VK Lüneburg v. 9. 4. 2010, VgK-08/2010, S. 6 f. 36 BayObLG v. 10. 9. 2002, Verg 23/02 – Bayerisches Rotes Kreuz, NZBau 2003, 348 (349); BayObLG v. 24. 5. 2004, Verg 6/04 – AOK Bayern, NZBau 2004, 623 (624) m.w.N.; OLG Naumburg v. 17. 3. 2005, 1 Verg 3/05 – Krankenhaus-Catering II, Rn. 33; aus der Literatur: Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 93; Ziekow, VergabeR 2003, 483 (499); Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 37; Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 155, 157; Boesen, Vergaberecht, Kommentar zum 4. Teil des GWB, 2000, § 98 Rn. 65; Weyand, Vergaberecht – Praxiskommentar zu GWB, VgV, VOB/A, VOL/A, VOF, 2. Aufl. 2007, § 98 GWB Rn. 885; Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 28; Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78 m.w.N.
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mehrere dieser Stellen „gemeinsam“ die überwiegende Finanzierung schultern (also etwa Bund, Länder und Gemeinden sowie von ihnen finanzierte oder kontrollierte Kapitalgesellschaften oder juristische Personen des öffentlichen Rechts wie Universitäten, Rundfunkanstalten oder gesetzliche Krankenkassen). Aber nicht alle „Zahlungen“ eines öffentlichen Auftraggebers an die Einrichtung gehören zum staatlichen Finanzierungsanteil, sondern nur solche, die „eine besondere Unterordnung oder Verbindung“ der Einrichtung zum Staat begründen oder festigen. Deshalb können „nur die Leistungen, die als Finanzhilfe ohne spezifische Gegenleistung die Tätigkeiten der betreffenden Einrichtung finanzieren oder unterstützen … als öffentliche Finanzierung eingestuft werden.“37 Insofern unterscheidet der EuGH gewissermaßen zwei Prototypen: (1) Von einer „spezifischen Gegenleistung“ geht er dann aus, wenn die Leistungsbeziehung zwischen der betroffenen Einrichtung und dem Staat „einer Verbindung gleichzustellen [ist], wie sie in normalen Geschäftsbeziehungen besteht, die im Rahmen von gegenseitigen Verträgen entstehen, die von den Vertragspartnern frei ausgehandelt wurden.“38 Das sei umgekehrt (2) nicht der Fall, wenn eine Zahlung nur „dem Ausgleich der Lasten dient, die durch die Erfüllung [einer] öffentlichen Aufgabe entstehen“ – es also um einen „öffentlichen Dienstleister [geht], der eine staatliche Finanzhilfe erhält, um seinen im öffentlichen Interesse liegenden Auftrag zu erfüllen“39. Die „besondere Unterordnung oder Verbindung“ der Einrichtung zum Staat, die durch die Finanzierung begründet werden muss, setzt im Übrigen nicht voraus, dass der Staat in der Lage ist, über seine Finanzierung gerade auf Entscheidungen der betreffenden Einrichtungen bei der Auftragsvergabe konkreten Einfluss zu nehmen40. Dem entspricht es, wenn der EuGH in ständiger Rechtsprechung den Zweck 37 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 21 (Hervorhebung nicht im Original); ähnlich EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 45, 57 ff.; EuGH v. 11. 6. 2009, Rs. C-300/07 – Oymanns, Rn. 53. Rechtsprechung und Literatur stimmen diesen Grundsätzen, soweit ersichtlich, uneingeschränkt zu, s. etwa OLG Naumburg v. 17. 3. 2005, 1 Verg 3/05 – Krankenhaus-Catering II, Rn. 34; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498); Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 79 f.; Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 156 (missverständlich Rn. 158 a.E.); Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 52 f.; knapp auch etwa Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 39, Müller-Wrede (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 30; Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 28; Widdekind, in: Willenbruch/Widdekind, Kompaktkommentar Vergaberecht, 2. Aufl. 2011, 2. Los, § 98 Rn. 37. 38 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 25. Deshalb hat der EuGH Zahlungen, die öffentliche Auftraggeber für konkrete Dienstleistungen (Beratung, Veranstaltung von Konferenzen, Forschung) gewährten, nicht unter den Begriff der öffentlichen Finanzierung subsumiert. Zustimmend etwa Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 80. 39 EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 59; zustimmend etwa Ziekow, VergabeR 2003, 483 (499): „Ohne spezifische Gegenleistung der juristischen Person bleibt ein Aufwendungs- oder Kostenersatz, der staatlicherseits für nicht anderweitig gedeckte Aufwendungen der juristischen Person gezahlt wird. Derartige Leistungen sind in die Ermittlung des staatlichen Finanzierungsanteils einzubeziehen.“ 40 Klar nunmehr EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 55 f. (was eine Voraussetzung dafür war, Rundfunkgebühren als staatliche Finanzierung einzustufen, s. unten bei Fußn. 61 ff.); zustimmend etwa Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 28; De-
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der Vergaberichtlinien darin sieht zu verhindern, dass sich eine vom Staat, von Gebietskörperschaften oder sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts „finanzierte oder [sic!] kontrollierte Stelle“ von anderen als wirtschaftlichen Überlegungen leiten lässt41: (Jedenfalls) in der ersten Alternative der Staatsgebundenheit kommt es für das Zurechnungskriterium einer Einrichtung zum Staat weniger auf die Möglichkeit staatlicher Einflussnahme auf deren Vergabeverhalten an, als darauf, dass die Einrichtung, da sie überwiegend staatliche Gelder einsetzt, bei der Auftragsvergabe potentiell „sorgloser“42 als ein privates Unternehmen anderen als wirtschaftlichen Zielen folgt. Allerdings muss durch die Finanzierung, wie gesagt, eine Abhängigkeit entstehen, die über die Abhängigkeiten, wie sie im Rahmen laufender Geschäftsbeziehungen üblicherweise entstehen, hinausgehen43 (denn sonst wären alle Unternehmen „staatsfinanziert“, deren Hauptgeschäftspartner der Staat ist). „Finanzieren“ i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB heißt also im Grunde „subventionieren“44. genhardt, JZ 2008, 568 (570); Heuvels, NZBau 2008, 166 (167); schon zuvor Korthals, NZBau 2006, 215 (218); sowie bereits in seinem Vorlagebeschluss zum EuGH das OLG Düsseldorf v. 21. 7. 2006, VII-Verg 13/06 – GEZ, Rn. 53 ff.; allgemein auch Marx (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 10: Bei einer überwiegend staatlichen Finanzierung komme es nicht mehr darauf an, ob diese tatsächlich eine Einflussmöglichkeit begründe oder gar Einfluss genommen werde; m. E. recht deutlich auch schon EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 29 (näher oben in Fußn. 34). A.A. dagegen die wohl h.M. vor der Rundfunkentscheidung des EuGH, z. B. Dreher, NZBau 2005, 297 (302 f.); Opitz, NVwZ 2003, 1087 (1090 f.); Burgi, Sind die Studentenwerke in NRW bei der Beschaffung von Liefer- und Dienstleistungen als öffentliche Auftraggeber i.S. von § 98 Nr. 2 GWB anzusehen? Gutachten, erstattet im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Studentenwerke Nordrhein-Westfalen, März 2007, n.v., S. 18; wohl auch Crass (Fußn. 28), S. 105; Eschenbruch/Hunger, NZBau 2003, 471 (475). 41 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 17; EuGH v. 1. 2. 2001, Rs. C-237/99 – Kommission/Frankreich (OPAC), Rn. 42; EuGH v. 27. 2. 2002, Rs. C-373/ 00 – Truley, Rn. 42; EuGH v. 12. 12. 2002, Rs. C-470/99 – Universale Bau, Rn. 52; EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 36; ähnlich schon zuvor EuGH v. 10. 11. 1998, Rs. C-360/96 – Gemeinde Arnhem/BFI Holding Rn. 42 und 43. Näher zu Gründen und Leitgedanken dieser Rechtsprechung Prieß (Fußn. 13), S. 148 f. sowie Pietzcker, ZHR 1998 (162), S. 427 (446), je m.w.N. 42 Begriff der „Sorglosstellung“ in diesem Zusammenhang von Heuvels, NZBau 2008, 166 (167). Deutlich in diesem Sinne auch Korthals, NZBau 2006, 215 (218): „Das Vergaberecht will Einrichtungen erfassen, die öffentliche Gelder ausgeben und dabei nicht den Marktgesetzen unterliegen. Solche Einrichtungen sind anfällig dafür, bei der Auswahl ihrer Auftragnehmer nach anderen als marktwirtschaftlichen Motiven zu entscheiden und zum Beispiel bestimmte Bieter zu bevorzugen. Gründe für eine solche Bevorzugung können Bequemlichkeit oder eine langjährige bewährte Zusammenarbeit sein oder auch die Absicht, lokale oder nationale Anbieter zu fördern.“ – Maßgeblich ist also, wie der EuGH in der Rundfunkentscheidung zu Recht und nachdrücklich festgestellt hat, nicht ein potentiell konkreter Einfluss des Staates auf die einzelne Vergabeentscheidung (s. soeben in und bei Fußn. 40), sondern diese vom Gesetzgeber typisiert vermutete latente Anfälligkeit. 43 EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 20 ff., v. a. 25; Prieß (Fußn. 13), S. 160; ähnlich Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498 f.); Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 79; Boesen (Fußn. 38), § 98 Rn. 66; VK Stuttgart v. 10. 8. 2000, 1 VK 17/00 – Altenpflegeheim, Rn. 30; Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 52 f. 44 Dazu noch näher unter IV. 1. a).
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Nach der Rechtsprechung des EuGH reicht ferner auch eine „indirekte“ Finanzierung der Einrichtung durch den Staat aus, wobei das Gericht diesen Begriff nicht näher definiert, aber konkrete Beispiele anführt: die Finanzierung der Universität Cambridge durch Zuwendungen zur Unterstützung der Forschung, selbst wenn diese nicht direkt der Universität, sondern einem ihrer Forscher gewährt werden45, sowie durch staatliche „Hörgelder“ (Sozialleistungen) an die Universität zugunsten namentlich benannter Studenten, die die Studiengebühren nicht allein aufbringen können46 ; und die Finanzierung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten und gesetzlicher Krankenkassen in Deutschland durch eigene Abgaben (Rundfunkgebühren47 und Krankenkassenbeiträge48). Ob „indirekt“ in diesem (für § 98 Nr. 2 GWB ausreichenden) Sinne auch eine Finanzierung durch Abgabenverzicht ist, wird unter IV. zu klären sein. Jedenfalls kommt es nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH für die Frage der „Staatlichkeit“ eines Finanzbeitrages – zu Recht – auch nicht darauf an, ob dieser den Haushalt der finanzierenden Stelle durchlaufen hat49. 2. Definitionen in Literatur und Rechtsprechung; anerkannte Formen der Staatsfinanzierung Die deutschen Gerichte und Vergabekammern wie das Schrifttum haben die skizzierte Rechtsprechung des EuGH, soweit ersichtlich, rezipiert, eine wirkliche Definition der „Finanzierung“ jedoch nicht entwickelt und, wie gesagt, die Frage nach der Finanzierung durch Abgabenverschonung bislang nicht aufgeworfen. Einigkeit scheint jedoch darüber zu bestehen, dass der Begriff der Finanzierung bei der gebo-
45 So ist der EuGH v. 3. 10. 2000, Rs. C-380/98 – University of Cambridge, Rn. 22 wohl zu verstehen („Selbst wenn der Begünstigte einer solchen [Forschungs-]Finanzierung nicht der Kläger selbst [d.h. die Universität Cambridge] sein sollte, sondern eine Person, die ihr als Dienstleister angehört, handelte es sich dabei um eine Finanzierung, die der Institution in ihrer Gesamtheit im Rahmen ihrer Forschungstätigkeiten zugute kommt“); zustimmend etwa Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 98. 46 A.a.O., Rn. 23 (wobei allerdings nicht ganz deutlich wird, ob dies auch dann gilt, wenn diese Gelder von den örtlichen Erziehungsbehörden nicht direkt an die Universität, sondern als Sozialleistung an die betroffenen – namentlich benannten – Studenten gewährt wird [vgl. die Vorlagefrage 1. d) in Rn. 13], was freilich in der Sache wohl keinen Unterschied machen kann). 47 EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 34 und 49. 48 s. EuGH v. 11. 6. 2009, Rs. C-300/07 – Oymanns, Rn. 51. 49 EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk, Rn. 47 (es mache keinen Unterschied, ob die – staatlich festgelegte – Rundfunkgebühr vom Staat erhoben und über seinen Haushalt an die Rundfunkanstalten weitergeleitet werde, oder ob der Staat ihnen das Recht einräume, die Gebühren selbst einzuziehen). Zustimmend etwa Degenhart, JZ 2008, 568 (570) mit weiterer Begründung und Abgrenzung zum Beihilferecht; a.A. zuvor jedoch Teile der Literatur, etwa Dreher, NZBau 2005, 297 (303 f.); Burgi (Fußn. 40), S. 24 f. – Das ist z. B. von Bedeutung für die Frage, ob „parafiskalische Abgaben“ oder staatliche Sachleistungen an Einrichtungen (die ja nicht haushaltswirksam sind) dem staatlichen Finanzierungsanteil zuzurechnen sind.
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tenen funktionalen Auslegung50 weit zu verstehen ist und grundsätzlich „Finanzierung in jedweder Form“51, jede Gewährung „geldwerter Vorteile“52 meint (soweit ihr keine spezifische, marktmäßige Gegenleistung gegenübersteht53). Dem staatlichen Finanzierungsanteil zugerechnet werden u. a.: (1) Einmalige oder laufende Zuschüsse in Form von Geld, gleich ob als Projekt- oder institutionelle Förderungen. Das ist gewissermaßen der Prototyp der Finanzierung54. Vereinzelt ist zwar vertreten worden, eine Finanzierung durch „Subventionen“ gehöre nicht zum staatlichen Finanzierungsanteil i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB, weil § 98 Nr. 5 GWB insoweit als abschließende Regelung zu betrachten sei55. Die Literatur widerspricht dieser Auffassung jedoch zu Recht56 : Die Funktion des § 98 Nr. 5 GWB (bzw. von Art. 8 VKR, der durch diese Vorschrift umgesetzt wird) liegt darin, dass staatlich subventionierte Projekte auch solcher Auftraggeber, die als Einrichtung eben noch nicht unter § 98 Nr. 1 – 3 GWB fallen, ausschreibungspflichtig sind; er enthält aber keine die Anwendung von § 98 Nr. 2 GWB verdrängende Sonderreglung für alle „Subventionsnehmer“, sondern normiert eine zusätzliche (partielle57) Auftraggebereigenschaft. (2) Die unentgeltliche oder vergünstigte (Gebrauchs-)Überlassung von Gegenständen58 und Erbringung von Dienstleistungen59. 50
s. oben bei Fußn. 19 und speziell zum Begriff der Finanzierung bei Fußn. 33. Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78; ebenso (Finanzierung „gleich in welcher Form“) BayObLG v. 10. 2. 2002, Verg 23/02 – Bayerisches Rotes Kreuz, NZBau 2003, 348 (349). 52 Dietlein, NZBau 2002, 136 (140) – „Zuführung von … geldwerten Vorteilen“; ebenso Widdekind (Fußn. 37), § 98 Rn. 37; Heyne, GewArch 2010, 54; ähnlich OLG Düsseldorf v. 30. 4. 2003, Verg 67/02 – Kampfstiefel, NZBau 2003, 400 (404): „geldwerte Beiträge des Bundes“. 53 Dazu oben bei Fußn. 37 ff. 54 Z.B. im Cambridge-Urteil des EuGH v. 3. 10. 2000; s. auch etwa OLG Naumburg v. 17. 3. 2005, 1 Verg 3/05 – Krankenhaus-Catering II, Rn. 34: Fördermittel für Baumaßnahmen und andere Investitionen seien (ebenso wie einmalige Zuwendungen zum Strukturausgleich und Zuwendungen zur medizinischen Forschung) dem öffentlichen Finanzierungsanteil zuzurechnen; zustimmend etwa Weyand (Fußn. 36), § 98 GWB Rn. 886. Oder jüngst VK Lüneburg v. 9. 4. 2010, VgK-08/2010, S. 7 für die institutionelle Finanzhilfe des Landes an ein Studentenwerk nach dem niedersächsischen Hochschulgesetz und zweckgebundene Zuwendungen für „Kita“. 55 Jasper, Privatisierung und EG-Vergaberecht, S. 67; Stickler, in: Rheidt/Stickler/Glahs, Kommentar zum Vergaberecht, 1. Aufl. 2000, § 98 Rn. 23; zutreffend a.A. jedoch nunmehr in der 3. Aufl. (Fußn. 24) Rn. 53. 56 Ausdrücklich etwa Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498); Crass (Fußn. 28), S. 107; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140); Müller-Wrede (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 31; Marx (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 10. Implizit aber auch die übrige Literatur, z. B. Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78 (Finanzierung „in jeder denkbaren Form“ – u. a. durch verlorene Zuschüsse). 57 Ausdrücklich etwa Vollmöller, Vergaberecht, in: Schmidt/Vollmöller, Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2006, § 6 Rn. 26; Marx (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 25. 58 Grundlegend OLG Düsseldorf v. 30. 4. 2003, Verg 67/02 – Kampfstiefel, NZBau 2003, 400 (404): Bei der unentgeltlichen Überlassung von Personal und Liegenschaften nebst Be51
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Auch das sind „geldwerte Leistungen“. Deren Bewertung thematisieren Literatur und Rechtsprechung bislang nicht. I.d.R. wird man übereignete Gegenstände zu ihrem Verkehrswert, bei bloßer Nutzungsüberlassung dagegen den Nutzungswert für das betroffene Wirtschaftsjahr, bei der Erbringung von Dienstleistungen die Selbstkosten zu veranschlagen haben – bei Teilentgeltlichkeit der Überlassung jeweils abzüglich des vom Empfänger entrichteten Entgelts. (3) Das Aufkommen aus hoheitlich auferlegten Abgaben, die eine öffentlich-rechtlich verfasste Einrichtung kraft ihrer vom Staat verliehenen Satzungsgewalt selbst erhebt. Dass auch solche parafiskalischen Abgaben, die nicht über den Haushalt einer Gebietskörperschaft, sondern vom Bürger direkt an die Einrichtung fließen, wie direkte Leistungen der öffentlichen Hand eine „staatliche Finanzierung“ der Einrichtung sind, hat der EuGH – entgegen zuvor z. T. anders lautenden Stimmen60 – in seinen Entscheidungen zur Rundfunkgebühr61 und zu den Krankenkassenbeiträgen62 klarge-
triebs- und Geschäftsausstattung an eine Einrichtung handele es sich „um geldwerte Beiträge des Bundes zum Unternehmen …, die nicht anders als eine Finanzierung gewertet werden können …, [sondern] genau wie Zuschüsse Finanzierungsmittel für das Unternehmen“ darstellten; zustimmend etwa VK Bund v. 8. 6. 2006 – VK 2 – 114/05, Rn. 37; ebenso schon zuvor beiläufig VK Südbayern v. 13. 8. 2002, 120.3 – 3194.1-31-07/02 – Rotes Kreuz, Rn. 37; OLG Naumburg v. 17. 3. 2005, 1 Verg 3/05 – Krankenhaus-Catering II, Rn. 3 für überlassene Immobilien. Auch die Literatur rechnet die staatliche Zuführung von Sachwerten als geldwerte Vorteile den öffentlichen Finanzierungsanteilen zu, s. etwa Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 96; Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498 mit Fußn. 129); Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78; Crass (Fußn. 28), S. 107; Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 160 f.; Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 37; Stickler (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 53; Müller-Wrede (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 31; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140 – „Zuführung von Sacheinlagen … sowie sonstigen geldwerten Vorteilen“); Korbion, Vergaberechtsänderungsgesetz, 1999, § 98 GWB Rn. 6. 59 Ein Beispiel hierfür ist die gesetzlich angeordnete unentgeltliche Erhebung und Vollstreckung der Studierendenbeiträge nach § 12 Abs. 3 StWG durch die für die Hochschulen, Studienakademien sowie die Film- und Popakademie zuständigen Kassen zugunsten der Studentenwerke. 60 s. etwa BayObLG v. 24. 5. 2004, Verg 006/04 – Krankenkassen, Rn. 12; VK Arnsberg v. 25. 11. 2003, VK 2 – 26/2003 – IHK-Gesellschaft, unter II. 2. a) der Entscheidungsgründe (zit. nach der Homepage der VK Arnsberg); Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 121 (für den Rundfunk); Dreher, NZBau 2005, 297 (301 ff.); Kingreen, Sozialrechtliche Leistungserbringung, in: Pünder/Prieß, Vergaberecht im Umbruch, 2005, S. 89 (98); Burgi (Fußn. 40), S. 21 ff.; Wagner, in: Langen/Bunte, Kartellrecht Bd. 1, 10. Aufl. 2006, § 98 GWB Rn. 45 u. 52; Byok/Jansen, NVwZ 2005, 53 (55) – die allerdings entgegen dem BayObLG, a.a.O., von einer staatlichen Aufsicht über die Leitung der Krankenkassen ausgehen; Frenz, NZS 2007, 233 (235 f.); Eschenbruch, in: Kulartz/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, 1. Aufl. 2006, § 98 Rn. 159; Eschenbruch/Hunger, NZBau 2003, 471 (474 f.); Opitz, NVwZ 2003, 1087 (1090 f.); vage, aber skeptisch auch Egger (Fußn. 2), Rn. 495 f. („bestimmte weitere Erfordernisse“ zur Beitragsermächtigung seien erforderlich). 61 EuGH v. 13. 12. 2007, Rs. C-337/06 – Bayerischer Rundfunk. 62 EuGH v. 11. 6. 2009, Rs. C-300/07 – Oymanns.
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stellt63. Dies dürfte z. B. für Beiträge zu berufsständischen Kammern64 entsprechend gelten. (4) Die Gewährung zinsvergünstigter oder -loser Darlehen oder Bürgschaften durch die öffentliche Hand. Darlehen65 und Bürgschaften66 werden zwar im Schrifttum knapp als Formen staatlicher Finanzierung erwähnt, klarzustellen ist aber, dass dies nur dann gilt, wenn sie zu marktunüblich vergünstigten Konditionen gewährt werden (ein „normales“ Darlehen bei einem staatlichen Kreditinstitut ist keine Staatsfinanzierung „ohne spezifische Gegenleistung“67). Der geldwerte Vorteil richtet sich beim zinsvergünstigten Kredit i. d. R. nach der laufenden Differenz des tatsächlichen zum marktüblichen, ggf. durch einen Risikozuschlag erhöhten Zins68 ; bei der vergünstigten Bürgschaft69 (und ihrem Verwandten, der Anstaltslast70) ist er durch Marktvergleich für entsprechende Garantien zu bewerten. 63 Beide Urteile sind sorgfältig begründet und in der Literatur, soweit ersichtlich, nicht weiter angegriffen worden: Zum Rundfunkurteil ausdrücklich positiv Degenhart, JZ 2008, 568 ff.; Heuvels, NZBau 2008, 166 (167); Antweiler, EuZW 2008, 85 f.; Zerwell, IBR 2008, 105; zumindest ohne Kritik referierend: Bungenberg (Fußn. 26), § 98 GWB Rn. 28 a.E.; Otting (Fußn. 24), § 98 Rn. 26; Franke/Mertens, VergabeR 2008, 50 (51 f.); Koenig/Klahn/Schreiber, PharmR 2008, 182 (183); zum Krankenkassenurteil positiv Marx/Hölzl, NZBau 2010, 31 f.; Baumeister/Struß, NZS 2010, 247 (248); ohne Kritik referierend: Frenz, NVwZ 2010, 609 (611); Roth, SGb 2009, 639 (640); zu beiden Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 38. 64 So auch etwa Wagner (Fußn. 18), § 98 GWB Rn. 38. 65 s. etwa Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78; Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 96; Dietlein, NZBau 2002, 136 (140 – „Darlehen oder stille Beteiligungen“); Ziekow, VergabeR 2003, 483 (498); Marx (Fußn. 24), § 98 GWB Rn. 10; Widdekind (Fußn. 37), § 98 Rn. 32; Frenz (Fußn. 6), Rn. 2620. Stickler (Fußn. 24) nennt in § 98 GWB Rn. 53 „Eigenkapital ersetzende Darlehen“. 66 Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 78; Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 96; Frenz (Fußn. 6), Rn. 2620. 67 Dazu oben bei Fußn. 37 ff. 68 Es gelten die gleichen Kriterien wie für die Frage, wie hoch das Beihilfeelement bei entsprechenden Darlehensgewährungen ist: Bei einem zinsverbilligten Kredit besteht die Subventionierung („Beihilfeäquivalent“) grundsätzlich aus der Differenz zwischen dem jeweils von der EU festgesetzten marktgerechten Referenzzinssatz und dem tatsächlich gezahlten Satz: Zum Ganzen näher Koenig/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, Rn. 130 ff.; Frenz (Fußn. 6), Rn. 257 m.w.N. – Die in Fußn. 65 Genannten äußern sich zur Quantifizierungsfrage nicht. Für eine Übertragung der Kriterien aus dem Beihilferecht auf § 98 Nr. 5 GWB zutreffend Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 334 ff. Ähnliches muss auch für die Berechnung des Anteils staatlicher Finanzierung nach § 98 Nr. 2 GWB gelten. Zur entsprechenden Qualifikation von Bürgschaften, die nicht unter marktmäßigen Bedingungen gewährt werden, als Beihilfe s. die sog. Bürgschaftsmitteilung der Kommission (Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Art. 87 und 88 EG-Vertrag auf staatliche Beihilfen in Form von Haftungsverpflichtungen und Bürgschaften) 2000/C 71/07, ABl. C 71 v. 11. 3. 2000, S. 14; näher (auch zu den Bewertungsfragen) etwa Frenz (Fußn. 6), Rn. 220 ff.; sowie Koenig/Kühling/Ritter, a.a.O., Rn. 135 ff., je m.w.N. 69 Näher – zur „Subventionierung“ nach § 98 Nr. 5 GWB (für die staatliche Finanzierung nach § 98 Nr. 2 GWB muss aber m. E. Entsprechendes gelten) – Eschenbruch (Fußn. 24), § 98
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(5) Die Leistung von Aufwendungsersatz für Aufgaben, die eine Einrichtung im Staatsauftrag wahrnimmt. Das gilt etwa für die Erstattung des Aufwandes der vom Land als „Ämter für Ausbildungsförderung“ in Anspruch genommenen Studentenwerke nach § 2 Abs. 2 bw AGBAföG i.V.m. § 2 Abs. 4 bw StWG – denn diese Erstattungen werden vom Land pauschal gewährt, führen bei einzelnen Studentenwerken zu einer Unterdeckung und enthalten keinerlei „Gewinnanteil“; sie sind daher i.S.d. EuGH keine frei ausgehandelten Entgelte im Rahmen normaler Geschäftsbeziehungen, sondern staatliche Finanzhilfen an „öffentliche Dienstleister“, damit diese ihren im öffentlichen Interesse liegenden Auftrag erfüllen71.
IV. Die Abgabenverschonung als Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB 1. Grundlagen a) Parallelen zum Beihilfenrecht Lässt man Literatur und Rechtsprechung sowie die genannten Einzelbeispiele Revue passieren, so springen Parallelen zwischen dem Begriff der „Finanzierung“ i.S. von § 98 Nr. 2 GWB/Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 lit. c) VKR einerseits und dem der „Beihilfe“ nach Art. 107 Abs. 1 AEUV andererseits ins Auge72. Das ist kein Zufall, denn beide werden im Kontext der gleichen gesetzgeberischen Zielsetzung verwendet: Das Beihilferecht schützt vor Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt, die durch „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte“ Leistungen an bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige verursacht werden; der Auftraggeberbegriff des Kartellvergaberechts soll helfen, Wettbewerbsverzerrungen zwischen Bieterunternehmen zu vermeiden, die dadurch entstehen, dass der Staat oder von ihm finanzierte oder kontrollierte Einrichtungen sich bei der Auftragvergabe nicht an rein betriebswirtschaftlichen Zielsetzungen orientieren. In beiden Fällen geht es letztlich um Wettbewerbsverzerrungen, die (tatsächlich oder potentiell) durch staatliche Finanzierung bewirkt werden. Allerdings sind die Qualifikationsmerkmale der „Beihilfe“ i.S.v. Art. 107 Abs. 1 AEUV und der „Finanzierung“ i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB nicht völlig kongruent. Darauf Rn. 335 ff., der ebenfalls auf die beihilferechtlichen Kriterien rekurriert; s. ferner (zur parallelen Fragestellung im Beihilferecht) Frenz (Fußn. 6), Rn. 230 unter Bezugnahme auf Ziff. 3.2 der Bürgschaftsmitteilung der Kommission (Fußn. 68), je m.w.N. 70 Sie wird nach ganz h.M. auch beihilferechtlich wie eine begünstigende Staatsbürgschaft bewertet, s. etwa Frenz (Fußn. 6), Rn. 245 ff. m.w.N. 71 s. oben Fußn. 39. 72 Andeutungen zu einer solchen Parallele finden sich etwa in der Besprechung des Rundfunkurteils des EuGH von Degenhart, JZ 2008, 568 ff.; oder bei Burgi (Fußn. 40), S. 24; vgl. ferner die oben Fußn. 68 f. Genannten.
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etwa, ob eine Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB gerade bestimmten „Unternehmen oder Produktionszweigen“ gewährt wird, wie Art. 107 Abs. 1 AEUV dies für das Beihilfeverbot normiert73, kommt es für das Vergaberecht nicht an. Denn es geht nicht um den Schutz des Wettbewerbs zwischen der staatlich finanzierten Einrichtung und anderen Marktteilnehmern, sondern um den zwischen verschiedenen Marktteilnehmern, nämlich den Unternehmen, die sich um Geschäftsbeziehungen mit der öffentlichen Hand bewerben, vor einem staatsnahen, nicht „wirtschaftlich“ handelnden Auftraggeber. Das Vergaberecht regelt primär das Verhalten des Staates als Nachfrager, das Finanzierungskriterium dient der Zurechnung einer Einrichtung zum „Staat“ im weiteren Sinne. Adressat der Finanzierung können daher, im Gegensatz zur Beihilfe, nicht nur „Unternehmen“ oder „Produktionszweige“ sein, sondern (natürlich) auch staatliche Einrichtungen, die (wie jedenfalls bis vor ein paar Jahren die Universitäten in Deutschland) nicht entgeltlich am Markt tätig sind. Unmaßgeblich im Rahmen von § 98 Nr. 2 GWB ist auch, ob die Finanzierung „den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt“, wie dies für das Beihilfeverbot erforderlich ist74. Denn diese Voraussetzung wird im europäischen wie nationalen Vergaberecht nicht genannt und wäre im Vergabesektor, wo ja im Interesse aller Akteure besonders rasch und sicher über die Auftraggebereigenschaft einer Einrichtung entschieden werden muss, weil sonst notwendige Beschaffungsmaßnahmen verzögert werden, auch zu schwer überprüfbar. Das Vergaberecht trägt der Tatsache, dass es Ausfluss der Grundfreiheiten ist75, die ja nach h.M. nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden, im Interesse der Rechtssicherheit typisierend schon dadurch Rechnung, dass es erst ab den „Schwellenwerten“76 Anwendung findet. Diese hat der europäische Richtliniengeber festgelegt, weil er bei Aufträgen geringeren Volumens davon ausgegangen ist, dass von vornherein keine Gefährdung des grenzüberschreitenden Handels bestehe.77 Ähnliche Erwägungen gelten für das Erfordernis, dass Beihilfen „den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen“78 – was im Rahmen von § 98 Nr. 2 GWB nicht gesondert zu prüfen ist.79 73 Wobei offen bleiben kann, ob das schon rein begrifflich Voraussetzung einer „Beihilfe“ ist oder ob dieses Merkmal die (unabhängig davon gegebene) Beihilfe erst „mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ macht. 74 Fußn. 73 gilt hier entsprechend. 75 s. Erwägungsgrund 2 der VKR. 76 s. oben Fußn. 11. 77 s. etwa Röwekamp, in: Kulartz/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, 2. Aufl. 2009, § 100 Rn. 5; ähnlich Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht. 2. Aufl. 2004, § 37 Rn. 33; Diehr, in: Reidt/Stickler/Glas, Vergaberecht, 3. Aufl. 2011, § 100 Rn. 7, je m.w.N. 78 Auch hier gilt Fußn. 73 entsprechend. Zum Merkmal der Wettbewerbsverfälschung im beihilferechtlichen Zusammenhang s. etwa v. Wallenberg (2004), in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, Bd. III, Art. 87 EGV Rn. 52 ff. m.w.N.; Kahl/Diederichsen, in: Schmidt/Vollmöller, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl. 2007, § 7 Rn. 16; König/Kühling/Ritter, EG-Beihilfenrecht, 2. Aufl. 2005, Rn. 176 ff. 79 Von selbst versteht sich, dass es für das Vorliegen einer Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB nicht darauf ankommt, ob ggf. eine Beihilfe nach den Ausnahmetatbeständen des
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Die übrigen Merkmale der Beihilfe lassen sich jedoch grundsätzlich auf den Begriff der Finanzierung übertragen: Es kommt darauf an, dass es sich um eine „Begünstigung“ des Empfängers handelt, also um einen Vorteil in Gestalt einer geldwerten Leistung, der keine marktgerechte Gegenleistung gegenübersteht80. Die Maßnahme muss wohl auch „selektiv“ wirken. Dafür gibt zwar der Wortlaut des Gesetzes keinen so deutlichen Anhaltspunkt wie Art. 107 Abs. 1 AEUV für das Beihilfeverbot (Begünstigung „bestimmter“ Unternehmen oder Produktionszweige)81. Doch kann der Begriff der Finanzierung auch in § 98 Nr. 2 GWB nicht so weit verstanden werden, als beziehe er geldwerte Vorteile ein, die lediglich aus allgemeinen wirtschaftspolitischen, strukturellen oder systembedingten Maßnahmen resultieren. Sonst wäre er uferlos und eine Berechnung der gesetzlich gerade aus Handhabbarkeitsgründen typisierenden 50 %-Grenze des staatlichen Finanzierungsanteils wäre nahezu ausgeschlossen. Denn wie wollte man etwa den Bau einer Autobahn und anderer Infrastrukturprojekte, die die Allgemeinheit, zweifelsohne aber direkt und indirekt auch einzelne Wirtschaftsteilnehmer begünstigen, als Vorteile in Euro bemessen und einer Einrichtung als kostenlose „Sach- oder Dienstleistung“ des Staates zurechnen? Selbst wenn Geldleistungen ganz konkret einer Einrichtung zufließen, unterschiedslos aber auch einer Vielzahl anderer Adressaten, ist es sehr zweifelhaft, ob sie in den staatlichen Finanzierungsanteil nach § 98 Nr. 2 GWB einzubeziehen sind: Leistet etwa das Arbeitsamt nach allgemeinen Kriterien Zuschüsse an Arbeitgeber zur Finanzierung von Kurzarbeit, so wird man diese (eben nicht „selektiv“ gewährten) Beträge kaum mit direkten Subventionen an die Einrichtung addieren und, wenn sie dann die 50 %-Grenze überspringen, die Einrichtung nach § 98 Nr. 2 GWB als öffentlichen Auftraggeber behandeln können82. Schließlich muss die „Finanzierung“ auch bei § 98 Nr. 2 GWB gewiss eine „staatliche“ Maßnahme oder eine solche „aus staatlichen Mitteln“ sein83, wie nach Art. 107 Abs. 1 AEUV, denn die Finanzierung der Einrichtung muss ja gerade durch Gebietskörperschaften oder deren Sondervermögen, andere öffentliche Einrichtungen oder deren Verbände erfolgen. Art. 106 Abs. 2 und 3 AEUV zulässig ist: Maßgeblich ist, ob eine (subventionierende) Finanzierung vorliegt, nicht ob diese zulässig ist. 80 Dazu oben bei Fußn. 37 ff.; zum Merkmal der Begünstigung im Beihilfenrecht s. etwa v. Wallenberg (Fußn. 78), Art. 87 EGV Rn. 12 ff.; Kahl/Diederichsen (Fußn. 78), § 7 Rn. 8; König/Kühling/Ritter (Fußn. 78), Rn. 67 ff., je m.w.N. 81 Zum Grundsatz der Selektivität s. etwa v. Wallenberg (Fußn. 78), Art. 87 Rn. 45 f.; Kahl/ Diederichsen (Fußn. 78), § 7 Rn 15; König/Kühling/Ritter (Fußn. 78), Rn. 171 ff., je m.w.N. 82 Ausgeschlossen erscheint es, systembedingte oder allgemein wirtschaftspolitisch motivierte „Steuererleichterungen“ als „Finanzierung“ i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB anzusehen, s. unten bei Fußn. 92 ff. 83 Dazu im beihilferechtlichen Sinn etwa v. Wallenberg (Fußn. 78), Art. 87 Rn. 45 f.; Kahl/ Diederichsen (Fußn. 78), § 7 Rn. 14; König/Kühling/Ritter (Fußn. 78), Rn. 154 ff., je m.w.N. – Ob alle Einzelheiten der Rechtsprechung Zustimmung verdienen und übertragbar sind, mag hier dahin stehen. So kann man durchaus diskutieren, ob die Herausnahme von Maßnahmen, die nicht den Staat selbst belasten (s. EuGH v. 13. 3. 2001, Rs. C-379/98 – PreußenElektra), von ihm aber angeordnet werden, nicht zur einer Umgehung Vergaberechtsregimes (wie des Beihilferechtes) führen kann.
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b) Forderungsverzicht und Verschonungssubventionen als „Finanzierung“ Vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Begriff der Finanzierung und seine Parallele zu dem der Beihilfe ist die bisher unbehandelte Frage, ob in einem staatlichen Forderungsverzicht die „Finanzierung“ einer Einrichtung durch die öffentliche Hand i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB liegen kann, grundsätzlich zu bejahen. Denn der funktional zu verstehende Begriff der „Finanzierung“ umfasst grundsätzlich die „Finanzierung in jedweder Form“, jeden „geldwerten Vorteil“, sofern ihm keine spezifische marktmäßige Gegenleistung gegenübersteht84. Ob der Staat einer Einrichtung Geld, Sachwerte oder andere geldwerte Güter zur Verfügung stellt, ist nach dem Zweck der Vorschrift, staatsgebundene Einrichtungen auf das Vergaberechtsregime öffentlicher Auftraggeber zu verpflichten, unerheblich. Es macht insofern keinen Unterschied, ob z. B. das Land einer Einrichtung Geldscheine übereignet, ihr ein Grundstück gleichen Wertes schenkt – oder ihr das Grundstück verkauft und dann später auf die Zahlung des Kaufpreises verzichtet. Ein solcher Forderungsverzicht ist eine geldwerte Leistung, das funktionale Äquivalent einer Geldzahlung, und kann ohne weiteres als „indirekte“ Finanzierung einer Einrichtung durch den Staat i.S.d. EuGH-Rechtsprechung zum Finanzierungsmerkmal nach Art. 1 Abs. 9 UAbs. 2 lit. c) VKR angesehen werden85. Praktisch bedeutsam wird dies im Zusammenhang mit der Verschonung von Abgaben. In der Form, dass das Finanzamt auf eine an sich fällige Steuer verzichtet, kommt diese gewiss kaum vor86. Fraglich ist aber, was gilt, wenn schon der Abgabengesetzgeber selbst einen (Ausnahme-)Tatbestand schafft, der die Verschonung bestimmter Einrichtungen von einer sonst üblichen Abgabenlast bewirkt. So ist es von der praktischen Wirkung her z. B. für Studentenwerke gleichgültig, ob das ausgegebene Essen an Studenten umsatzsteuerfrei ist87 oder ob sie stattdessen einen staatlichen Zuschuss in Höhe der Steuerlast bekommen88: In beiden Fällen wird die Essensabgabe der Studentenwerke (an Studierende) aus sozialen Erwägungen finanziell
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Dazu näher soeben bei Fußn. 50 ff. s. oben bei Fußn. 45 ff. (allerdings für andere Beispielsfälle). 86 EuGH v. 12. 10. 2000, Rs. C-480/98 – Spanien/Kommission (Magefesa), Rn. 20 f. hat aber zu Recht angenommen, dass in der schlichten Nichtdurchsetzung steuerlicher Forderungen eine rechtswidrige Beihilfe liegen kann. Gleiches gilt bei einem ausdrücklichen Steuerverzicht (nach deutschem Recht v. a. beim einem Billigkeitserlass nach §§ 163, 227 AO), dazu Lehnert, Die Korrektur von gemeinschaftswidrigen Beihilfen in Form von Steuervergünstigungen, Diss. Mannheim 2007, S. 61 ff. m.w.N. 87 s. unten in Fußn. 120. 88 Tatsächlich erhalten sie in Baden-Württemberg beide Formen finanzieller Begünstigung; für die Verpflegungszuschüsse an die Mensen im Zeitraum 1. 1. 2005 bis 31.12.2009 s. die VV des MWK zur Verteilung der Finanzhilfe an die Studentenwerke v. 13.4.2005-44-660.3/410, GABl. 579, geändert durch VV v. 14. 8. 2005, GABl. 448, und die VV v. 15. 3. 2007, GABl. 192. 85
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vom Staat begünstigt89. Darin liegt eine geldwerte staatliche Leistung. Daher ist auch unstreitig, dass in der Gewährung konkreter Steuerverschonungen – wie in der von Zuschüssen an bestimmte Unternehmen – grundsätzlich eine „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe“ i.S.v. Art. 107 f. AEUV liegen kann90, eben eine indirekte Subvention (was, wie auch ein Umkehrschluss aus Art. 8 VKR bestätigt, für eine Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB ausreicht)91. Allerdings können nur staatliche Begünstigungen „bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige“ eine Beihilfe sein (Art. 107 Abs. 1 AEUV); die Begünstigung muss also „selektiv“ wirken – allgemeine steuer- oder wirtschaftspolitische Maßnahmen reichen dafür nicht aus92. Eine allgemeine Senkung des Steuersatzes der Ertragsteuern oder der Umsatzsteuer etwa ist keine Beihilfe. Die aus ihr resultierende „Steuerersparnis“ ist auch keine staatliche Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB, ebenso wenig wie allgemeine infrastrukturelle Maßnahmen des Staates, z. B. der Ausbau des Straßennetzes93. Denn sonst ist der Begriff der Finanzierung nicht mehr einzu89 Dass Steuerträger (und damit letztlich Begünstigter) nach dem Konzept der Umsatzsteuer nicht das Studentenwerk ist, sondern der studentische Mensakunde, ist insofern ebenso unerheblich (auch die Finanzhilfe des Landes für den gleichen Zweck soll ja letztlich über den Essenspreis den Studierenden zugute kommen) wie die unterschiedliche finanzielle Auswirkung auf das Land, das die Mindereinnahmen aus der bundesgesetzlich festgelegten Umsatzsteuerbefreiung im Ergebnis, anders als die Finanzhilfe nach § 12 Abs. 4 StWG, ja nur zu einem Bruchteil zu tragen hat (vgl. Art. 106 Abs. 3, 4 und 5a GG). 90 So etwa EuGH v. 10. 1. 2006, Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Rn. 131 f. m.w.N.; aus der Literatur z. B. Lehnert (Fußn. 86), S. 38 ff.; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 904, 923; Kahl/Diederichsen (Fußn. 78), § 7 Rn. 8; ausführlicher Frenz (Fußn. 6), Rn. 337 ff., sowie Jochum, Die Steuervergünstigung, 2006, S. 423 ff., je m.w.N. 91 Nach der Sondervorschrift des Art. 8 VKR sind (in den Fällen, die zur Umsetzung in nationales Recht § 98 Nr. 5 GWB partiell dem Vergaberecht unterwirft) nur „direkt“ subventionierte Projekte auszuschreiben. Diese Begrenzung auf „direkt“ subventionierte Projekte in Art. 8 VKR führt etwa nach Egger (Fußn. 2), Rn. 510 ff. dazu, dass in diesem Zusammenhang nur Leistungsgewährungen – Geld- und Sachleistungen –, nicht aber staatliche „Einnahmeverminderungen“ zu berücksichtigen sind. Die übrige Literatur sagt das nicht ausdrücklich für staatliche „Einnahmeverminderungen“, lehnt aber wegen des Wortlauts der Norm eine Ausschreibungspflicht für lediglich „indirekt“ subventionierte Bauprojekte i.S.v. § 98 Nr. 5 GWB/ Art. 8 VKR ab, ohne klar zu definieren, was eine solche „indirekte“ Subvention ist, s. etwa BayObLG, v. 29. 10. 2004 – Verg 22/04, NZBau 2005, 234 (235); Dreher (Fußn. 24), § 98 Rn. 198 (mit Fußn. 270); Crass (Fußn. 28), S. 133; Hailbronner (Fußn. 18), B 4 Rn. 92 (er nennt Bürgschaften, die aus diesem Grund nicht berücksichtigt würden); für Art. 8 VKR auch Frenz (Fußn. 6), Rn. 2693 (ebenfalls für Bürgschaften). Unklar Weyand (Fußn. 36), § 98 GWB Rn. 941. – Ob wirklich „indirekte“ Subventionierungen im Zusammenhang mit § 98 Nr. 5 GWB nicht ausreichen, ist hier nicht weiter zu vertiefen, erscheint aber vom Ziel der Regelung her zumindest zweifelhaft; zutreffend für eine Einbeziehung indirekter Subventionen wohl Eschenbruch (Fußn. 24), § 98 Rn. 338 – im Zusammenhang mit der Frage, ob § 98 Nr. 5 GWB auf Finanzierungen durch Bürgschaften usw. anwendbar sei. 92 s. etwa EuGH v. 10. 1. 2006, Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Rn. 134 ff.; Frenz (Fußn. 6), Rn. 342 ff.; sowie Jochum (Fußn. 90), S. 424 ff., je m.w.N. 93 Allgemein zum Erfordernis der Selektivität von Beihilfen i.S.v. Art. 107 AEUV und Finanzierungen i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB schon oben bei Fußn. 81.
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grenzen (§ 23 Abs. 1 KStG gegenwärtiger Fassung „verschont“ mit einem Steuersatz von 15 % Körperschaften ja schließlich auch von einer denkbaren 20, 30, 40 oder 50 %-igen Besteuerung ihrer Gewinne); und von einer staatlichen „Finanzierung“ i.S. der Vorschrift lässt sich sinnvoller Weise nur sprechen, wenn der Vorteil nicht auch gleichmäßig allen Konkurrenten zugute kommt. Ob eine steuerliche Vergünstigung in diesem Sinne „selektiv“ wirkt, richtet sich (im Beihilferecht) danach, ob sie „vom allgemeinen Steuersystem ab[weicht], ohne durch die Natur und den inneren Aufbau des Steuersystems, in das sie sich einfügt, gerechtfertigt zu sein“94. Wann dies der Fall ist, oder umgekehrt: Wann eine Ausnahme sich als „systemkonforme“, konsistente Ausprägung des nationalen Steuersystems darstellt, die als Abweichung von der Normalbelastung gerechtfertigt ist und keine Beihilfe darstellt, ist im Einzelfall schwer zu beurteilen95 – und die Klärung der Übertragung der beihilferechtlichen Beurteilung auf die vergaberechtliche wohl eine eigene Monographie wert. Hier muss ein holzschnittartiger Überblick ausreichen: 2. Die mangelnde Steuersubjektqualität juristischer Personen des öffentlichen Rechts Etliche der Einrichtungen, die i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen, sind von der Rechtsform her juristische Personen des öffentlichen Rechts (etwa berufsständische Kammern, Sozialversicherungsträger, Deichverbände, öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten oder das Bayerische Rote Kreuz). Juristische Personen des öffentlichen Rechts als solche sind aber nach keinem Steuergesetz steuerpflichtig. Dies ist jedoch keine steuersystematische Ausnahme, der „Steuerverzicht“ deshalb auch keine staatliche Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB. Denn die Umverteilung von Finanzkraft unter Hoheitsträgern ist grundsätzlich eine Frage des Finanzausgleichs, nicht des Steuerrechts; die Ausübung hoheitlicher Gewalt begründet keine Steuerwürdigkeit96, sondern aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit mit Privatunternehmen ist (grundsätzlich nur) die wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand steuerbelastet97 (nämlich v. a.: über die Figur der „Betriebe gewerblicher Art“ von juristischen Personen des
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s. etwa EuGH v. 10. 1. 2006, Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Rn. 137. s. etwa Lehnert (Fußn. 86), S. 46 ff., insbes. S. 51 ff.; Jochum (Fußn. 90), S. 56 ff., 364 ff., 423 ff.; Frenz (Fußn. 6), Rn. 342 ff., je m.w.N. 96 s. statt aller Kirchhof, Die Steuern, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 3. Aufl. 2007, § 118 Rn. 227 f. m.w.N. – Keine hoheitliche Gewalt in diesem Sinne üben wohl die öffentlichrechtlich organisierten Religionsgemeinschaften und andere juristische Personen des öffentlichen Rechts „im nur formellen Sinne“ aus, wie z. B. das Bayerische Rote Kreuz. Die Überlegungen im Text dürften deshalb für sie nicht ohne weiteres gelten. 97 Zur Rechtfertigung der Besteuerung der öffentlichen Hand unter Wettbewerbsgesichtpunkten s. etwa Kirchhof (Fußn. 96), HStR V, § 118 Rn. 227 f.; Hey, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 11 Rn. 28; Heger, in: Gosch, KStG, 2. Aufl. 2009, § 4 Rn. 1 ff.; sowie Lambrecht, ebd., § 1 Rn. 96, je m.w.N. 95
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öffentlichen Rechts, s. § 1 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 4 KStG, § 2 Abs. 3 GewStG, § 2 Abs. 3 UStG)98. 3. Allgemeine Steuervergünstigungen wegen „Gemeinnützigkeit“ Anders ist es mit den Regelungen über die Gemeinnützigkeit. Ein großer Teil der Einrichtungen, die i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen, verfolgen ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke i.S. des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der AO. Tun sie dies auch nach der tatsächlichen Geschäftsführung, so knüpfen die Einzelsteuergesetze daran zahlreiche begünstigende Ausnahmeregelungen. So sind gemeinnützige Körperschaften von der Körperschaft-, der Gewerbe-, der Erbschaft- und Schenkungsteuer befreit (§ 5 Abs. 1 Nr. 9 S. 1 KStG99, § 3 Nr. 6 S. 1 GewStG, § 13 Abs. 1 Nr. 16 lit. b) und Nr. 17 ErbStG), für gemeinnützig genutzte Grundstücke auch von der Grundsteuer (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GrStG); und ihre Umsätze werden – wenn nicht nach anderen Vorschriften ohnehin steuerbefreit – grundsätzlich mit dem ermäßigten Steuersatz von 7 % belastet (s. i.E. § 12 Abs. 2 Nr. 8 lit. a) UStG). Indirekt profitieren sie auch vom sog. Spendenprivileg, d. h. von der steuerlichen Abziehbarkeit von Spenden an gemeinnützige Körperschaften, s. § 10b EStG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG, § 9 Nr. 5 GewStG (denn der Staat beteiligt sich durch seinen Steuerverzicht beim Zuwendungsgeber indirekt an der Zuwendung an die gemeinnützige Körperschaft). Soweit die gemeinnützige Einrichtung wirtschaftlich im Wettbewerb mit anderen Unternehmen am Markt steht, liegt in ihrer Steuerbefreiung nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich eine Beihilfe i.S.d. EU-Rechts; er bejaht also u. a. eine „staatlich finanzierte“, selektive Begünstigung bestimmter Unternehmen100. Allerdings ist die „Begünstigung“ gemeinnütziger Organisationen verschiedentlich mit der Begründung verneint worden, die Steuerbefreiung sei lediglich eine Gegenleistung des Staates für die Verfolgung der gemeinnützigen Zwecke durch die Körperschaft101. Zu Recht wird dem jedoch entgegengehalten, es fehle an einem synallag98 Zum Streit darüber, ob die jeweilige juristische Person des öffentlichen Rechts selbst Steuersubjekt ist oder nur der jeweilige Betrieb gewerblicher Art (der auch von den Befürwortern der erstgenannten Ansicht weitgehend wie ein Steuersubjekt behandelt wird), s. Heger (Fußn. 97), § 4 Rn. 21 ff. m.w.N. 99 Diese Steuerbefreiung gilt auch für Körperschaften des öffentlichen Rechts, die mit ihren Betrieben gewerblicher Art an sich steuerpflichtig sind; in einem etwas komplizierten RegelAusnahme-Verhältnis greift sie aber nicht, wenn ein „wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb“ nach § 64 AO unterhalten wird, es sei denn, es handelt sich um einen „Zweckbetrieb“ i.S.v. § 65 AO, s. etwa Heger (Fußn. 97), § 4 Rn. 81. 100 EuGH v. 10. 1. 2006, Rs. C-222/04 – Cassa di Risparmio di Firenze, Rn. 129 – 146 (für den Fall einer sozialpolitisch gewährten Ausnahme von der Ertragsbesteuerung), s. im vorliegenden Zusammenhang insbes. Rn. 133 („staatlich finanziert“); zustimmend etwa Heger (Fußn. 97), § 5 Rn. 16; und die in Fußn. 102 Genannten. 101 So (vor der Entscheidung des EuGH v. 10. 1. 2006) insbesondere Kube, IStR 2005, 469 (475) m.w.N. und unter Berufung auf EuGH v. 24. 7. 2003, Rs. C-280/00 – Altmark-Trans; in die
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matischen Verhältnis zwischen staatlicher Steuerbefreiung und gemeinwirtschaftlicher Verpflichtung der Einrichtung – die Befreiung erfolgt nämlich pauschal und ohne Rücksicht auf den konkreten Wert der gemeinnützigen Dienste (den sie daher im Regelfall über- oder unterkompensiert)102. Das alles gilt auch mit Blick auf § 98 Nr. 2 GWB: Der staatliche Steuerverzicht gegenüber gemeinnützigen Einrichtungen, die (wie die Studentenwerke etwa im Bereich der Verpflegungseinrichtungen) wirtschaftlich im Wettbewerb mit anderen Unternehmen stehen, ist – grundsätzlich – eine staatliche Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB, und zwar eine „Finanzhilfe ohne spezifische Gegenleistung“ i.S.d. EuGH103, da sich nicht etwa in einer typischen Marktbeziehung Leistung (Steuerbefreiung) und Gegenleistung (z. B. soziale MensaPreise) gegenüberstehen. Dennoch muss hier noch einmal differenziert werden, denn eine Steuerbefreiung kraft Gemeinnützigkeit kann nur insoweit eine „staatliche Finanzierung“ sein, wie sie sich unter dem Strich auch wirklich als Begünstigung für die betroffene Körperschaft finanziell auswirkt, und zwar ohne Rücksicht auf andere staatliche Leistungen, die ohnehin bereits in die staatliche Finanzierungsquote nach § 98 Nr. 2 GWB eingehen (Verbot der Doppelzählung): a) Körperschaft- und Gewerbesteuer Bei den Ertragsteuern (Körperschaft- und Gewerbesteuer) ist das aber aus unterschiedlichen Gründen grundsätzlich nicht der Fall. (1) Steuerbar ist nämlich nur ein Gewinn (s. § 8 Abs. 1 KStG i.V.m. § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 EStG; § 7 GewStG), den gemeinnützige Einrichtungen als solche im Regelfall aber nicht erzielen. Dass sie infolge ihrer Gemeinnützigkeit steuerfrei bleiben, wirkt sich also im Ergebnis für sie gar nicht (positiv) aus. Im Gegenteil: Könnten sie ihre tatsächlichen Verluste steuerlich mit Gewinnen aus steuerpflichtigen Bereichen verrechnen104, so liefe dies auf eine unter Wettbewerbsgesichtspunkten (auch beihilferechtlich) bedenkliche indirekte steuerliche Förderung der Einrichtungen hinaus. gleiche Richtung Kirchhof, DStjG 26 (2003), S. 1 (5). – Kritisch zur „Selektivität“ der Begünstigung Jachmann, Gemeinnützigkeit in Europa, 2006, S. 46; auf die von ihr in Frage gestellte „grenzüberschreitende Handelsbeeinträchtigung“ durch die Gemeinnützigkeitsverschonung (S. 53 – dagegen aber etwa Hüttemann, DB 2006, 914 [917]) kommt es allein im beihilferechtlichen Kontext, nicht aber für die Frage der staatlichen Finanzierung nach § 98 Nr. 2 GWB an (s. oben bei Fußn. 74). Das gilt auch für die Frage, ob die Beihilfe nach den Ausnahmetatbeständen des Art. 106 AEUV zulässig ist: Maßgeblich ist, ob eine (subventionierende) Finanzierung vorliegt, nicht ob diese zulässig ist. 102 Damit entspricht sie gerade nicht den Kriterien der Altmark-Trans-Rechtsprechung; zutreffend etwa Hüttemann, DB 2006, 914 (916); Helios, EWS 2006, 108 (116); vgl. auch – vor der Entscheidung des EuGH v. 10. 1. 2006 – Münder/von Böttcher, Gemeinnützigkeit und Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 28 und 31; Isensee, DStjG 26 (2003), S. 93 (115 f.). 103 Zu Letzterem näher oben bei Fußn. 37 ff. 104 Beispiel: Die Studentenwerke gliedern bisweilen (nebenbei) Betriebe gewerblicher Art aus, die weder Hoheits- noch Zweckbetriebe sind, und deren Einkünfte daher als wirtschaftliche
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(2) Allerdings gibt es Ausnahmen hiervon. So erzielen z. B. Studentenwerke im Bereich „Studentisches Wohnen“ doch vereinzelt Gewinne105. Soweit diese unter dem Freibetrag von 5.000 E liegen (§ 24 S. 1 KStG, § 11 Abs. 3 Nr. 2 GewStG), zählt auch die Steuerverschonung dieser Gewinne – als steuersystematische Grundentscheidung, die allen Steuerpflichtigen zugute kommt106 – nicht zum staatlichen Finanzierungsanteil nach § 98 Nr. 2 GWB. Sind die Gewinne höher, so liegt das im Fall der Studentenwerke allein daran, dass der Bereich „studentisches Wohnen“ durch die verbilligte Überlassung von Grundstücken für den Wohnheimbau durch das Land107 und v. a. durch hohe Investitionszuschüsse staatlich subventioniert wird. Diese Investitionszuschüsse werden von den Studentenwerken bilanziell als Sonderposten erfasst und jährlich entsprechend der Nutzungsdauer der betroffenen Wirtschaftsgüter linear abgeschrieben108. Da diese Zuschüsse wie die vergünstigte Nutzungsüberlassung der Grundstücke aber schon in die staatliche Finanzierungsquote einzurechnen sind109, muss die Steuerverschonung auf durch sie überhaupt erst erzielte „Gewinne“ als Element staatlicher Finanzierung nach § 98 Nr. 2 GWB zur Vermeidung von Doppelzählungen110 außer Betracht bleiben.111 Geschäftsbetriebe i.S.v. § 64 AO zu versteuern sind (z. B. für die Vermietung von Werbeflächen). Ungeklärt ist die (v. a. europarechtliche) Zulässigkeit eines „Querverbundes“ solcher gewinnbringenden mit defizitären Betrieben gewerblicher Art nach dem als Reaktion auf BFH v. 22. 8. 2007, I R 32/06, BStBl II 2007, 961 durch Art. 3 Nr. 2 JStG 2009 v. 19. 12. 2008 (BGBl I, S. 2794) neu in das KStG aufgenommenen § 4 Abs. 6 KStG. 105 Zu den Kostendeckungsgraden der Angebote der baden-württembergischen Studentenwerke im Zeitraum 1999 – 2007 s. LT-Drucks. 14/3362, Tab. 5 (S. 12 f.): Bei Außerachtlassung von Finanzhilfe, Zuschüssen, Kostenersatz BAföG und Studentenwerksbeiträgen reicht (nur) der Bereich „Studentisches Wohnen“ mit seinen eigenen Erträgen an eine volle Kostendeckung heran und überschreitet vereinzelt sogar etwas die 100 %-Marke; alle übrigen Bereiche (Verpflegungsbetriebe, Kinderbetreuung, Beratung …) liegen nicht einmal in der Nähe einer schwarzen Null. – Ob die in der Antwort der Landesregierung wiedergegebenen Zahlen allerdings nach den Vorschriften der steuerlichen Gewinnermittlung zusammengestellt worden sind (die zudem für die Gewerbesteuer noch von denen der Körperschaftsteuer abweichen, s. §§ 8, 9 GewStG), ist zu bezweifeln. 106 s. oben Fußn. 92 ff. 107 Meist in Erbpacht mit stark verbilligtem Zins. 108 Das zugrundeliegende, von Rechtsprechung und Finanzverwaltung eingeräumte Wahlrecht bei der Behandlung von Investitionszuschüssen (s. Kulosa, in: Schmidt, EStG, § 6 Rn. 73 ff.) ist verfassungsrechtlich nicht unumstritten, vgl. Werndl (2008), in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 6 Rn. B 130 ff. m.w.N. 109 Und zwar mit ihrem vollen Wert im Zuflussjahr. 110 Dieses Problem der Doppelzählung entfiele von vornherein, wenn staatliche Subventionen – wie Kirchhof einmal vorgeschlagen hat (Gutachten F zum 57. DJT 1988, S. F 25) – ertragsteuerlich, da nicht am Markt erwirtschaftet, als nicht als steuerbar behandelt würden; Rechtsprechung und Literatur sind dem allerdings nicht gefolgt. 111 Falls einmal „echte“ Gewinne steuerfrei blieben, so entstünde jedenfalls bei kameralistisch nach dem Zuflussprinzip wirtschaftenden Einrichtungen ein Problem mit der zeitlichen Zurechnung der Verschonungssubvention. Denn de facto werden Steuern für das Jahr 01 (abgesehen von Vorauszahlungen) frühestens in 02, meist aber erst in 03 festgesetzt und beglichen. Der staatliche Steuerverzicht wirkt sich dann u. U. eben nicht in dem Jahr aus, für das die
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(3) Fraglich ist, ob die indirekte Förderung gemeinnütziger Körperschaften durch das sog. Spendenprivileg (s. § 10b EStG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 KStG, § 9 Nr. 5 GewStG) eine vergaberechtlich zu berücksichtigende staatliche Finanzierungsmaßnahme darstellt. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, es handele sich ausschließlich um eine Begünstigung des – freiwillig agierenden – Spenders112 ; oder umgekehrt argumentieren, die Spende werde zwar privat erbracht, aber staatlich (ko-)stimuliert, falle aufgrund des staatlichen Steuerverzichts entsprechend höher aus und begünstige damit letztlich doch den Zuwendungsempfänger zu Lasten des Staatshaushalts113. Überzeugender erscheint Letzteres. Die Bewertung des staatlichen Spendenbeitrages allerdings wird jedenfalls dann zur Sisyphus-Arbeit, wenn man den staatlichen Finanzierungseffekt gegenüber der Einrichtung exakt aus dem individuellen Grenzsteuersatz des jeweiligen Spenders ableiten will. Das spricht dafür, sich pauschal mit einer analogen Anwendung von § 10b Abs. 4 S. 3 EStG zu behelfen und die indirekte Steuersubvention stets mit 30 % des zugewendeten Betrages zu veranschlagen. b) Erbschaft- und Schenkungsteuer; Grundsteuer Zu berücksichtigen ist jedenfalls ein staatlicher Steuerverzicht durch die Befreiung gemeinnütziger Körperschaften von der Erbschaft- und Schenkungsteuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 16 lit. b) und Nr. 17 ErbStG. Denn darin liegt eine gegenleistungsfreie staatliche Begünstigung, die sich (anders als bei der steuerlichen Freistellung tatsächlich gar nicht angefallener Gewinne) auch real auf die Finanzkraft der Einrichtungen ausgewirkt und nicht schon durch eine andere staatliche Leistung, die nach § 98 Nr. 2 GWB anzurechnen ist, berücksichtigt wird. Das ist auch aus wettbewerblicher Sicht (der ratio der Besteuerung der öffentlichen Hand114) gerechtfertigt und dürfte im Übrigen auch beihilferechtlich relevant sein: Erben ein Studentenwerk und ein Pizzabäcker von nebenan ein Vermögen (zugespitzt etwa mit der Auflage, Essen an Hunger leidende Studenten billiger abzugeben), so wird die Mensa infolge der Steuerfreiheit dem Pizzabäcker über billigere Preise viel Publikum abjagen können. Für andere (und vielleicht typischere) Destinatäre von Erbschaften (wie Tierheime, Krebsforschungseinrichtungen und Universitäten) greift dieses wettbewerbliche Argument zwar Steuern gezahlt werden, sondern erst in dem Jahr, in dem die Steuern (für den vergangenen Veranlagungszeitraum) gezahlt werden. Viel spricht dafür, in diesem Sonderfall ausnahmsweise für die Berechnung des staatlichen Finanzierungsanteils nach § 98 Nr. 2 GWB selbst dann von der kaufmännischen Zurechnung („für“) auszugehen, wenn die Einrichtung nach einem kameralistischen Haushaltsplan wirtschaftet. 112 So etwa – im Hinblick auf die Frage nach der Spendenabzugsfähigkeit als staatliche Beihilfe – Isensee, DStjG 26 (2003), S. 93 (116 f.) sowie Kube, IStR 2005, 469 (475) m.w.N.; wohl auch Kirchhof, DStjG 26 (2003), S. 1 (5 f.). 113 So im Ergebnis (wiederum im beihilferechtlichen Zusammenhang) Hüttemann, DB 2006, 914 (917); Jachmann (Fußn. 101), S. 51; Münder/von Boetticher (Fußn. 102), S. 30; Helios, EWS 2006, 108 (117); ders., Steuerliche Gemeinnützigkeit und EG-Beihilfenrecht, 2005, S. 141; Benicke, EuZW 1996, 165 (169), je m.w.N. 114 s. oben Fußn. 97.
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kaum; ihre Verschonung von Erbschaftsteuer ist aber dennoch eine atypische Ausnahme von der erbschaftsteuerlichen Belastungsentscheidung durch den Gesetzgeber und daher in die staatliche Finanzierungsquote nach § 98 Nr. 2 GWB einzubeziehen115. Ähnliches dürfte für die Befreiung für gemeinnützig genutzte Grundstücke von der Grundsteuer (§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GrStG) gelten. c) Umsatzsteuer Umsätze gemeinnütziger Körperschaften werden – wenn nicht nach anderen Vorschriften ohnehin steuerbefreit – grundsätzlich mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz von 7 % belastet (s. i.E. § 12 Abs. 2 Nr. 8 lit. a) UStG). Diese Ermäßigung gegenüber dem Normaltarif von z. Zt. 19 % (§ 12 Abs. 1 UStG) begründet – soweit keine Besonderheiten gelten116 – eine staatliche Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB, da sie sich (im Gegensatz zur steuerlichen Freistellung tatsächlich gar nicht angefallener Gewinne) auch wirklich auf die Finanzkraft der Einrichtungen ausgewirkt und nicht schon durch eine andere staatliche Leistung, die dem Staatsanteil nach § 98 Nr. 2 GWB zuzurechnen ist, berücksichtigt wird. Um beim Beispiel der Studentenwerke zu bleiben: Hauptanwendungsfall ihrer steuerermäßigten Leistungen dürfte die Abgabe von Verpflegung an Bedienstete und Gäste sein117. (Die Wertermittlung dieses Finanzierungsanteils mündet jedoch, muss man ihn an der Nähe zur 50 %-Gesamtgrenze E-genau berechnen, unmittelbar in buchhalterische Fronarbeit118.) 115
IV. 2. 116
Es sei denn, der Erbe ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts, s. oben unter
Dazu sogleich im Text unter 4. s. Abschnitt 170 Abs. 4 Nr. 6 UStR 2008; Husmann/Hölzer (2008), in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 4 Nr. 18 Rn. 54. 118 Zunächst muss man die gleich im Text unter 4. zu behandelnden Sonderkonstellationen ausklammern, v. a. die Essensabgabe an Studierende und die Wohnraumüberlassung; und dann für jeden verbleibenden Umsatz (Essen für Bedienstete & Gäste; Bier für alle; Zeitschriften; Psychologische Beratung, Kinderbetreuung …) ermitteln, wie groß die Steuerersparnis ausfällt. Das variiert. Verwiesen sei nur auf die Abgabe von Speisen und Getränken: Ein großer Teil davon wird ebenfalls zum ermäßigten Steuersatz von 7 % besteuert (s. § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Nr. 1 – 47 der Anlage 2), so dass sich eigentlich keine Steuerersparnis ergibt. So ist es aber nur, wenn sie nicht zum Verzehr an Ort und Stelle bestimmt sind – denn andernfalls gilt nach der europarechtlich inspirierten Rechtsprechung für die gesamte (Restaurationsdienst-)Leistung der Regelsteuersatz von 19 % (dazu Reiß, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 14 Rn. 147 m.w.N.), so dass die Steuerersparnis (vorbehaltlich § 12 Abs. 2 Nr. 8 lit. a UStG mit seinen Rückausnahmen) 12 % beträgt; Druckwerke werden i. d. R. nach Nr. 49 der Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 USG ermäßigt besteuert, psychologische Dienste u. U. als Heilbehandlungen i.S.v. § 4 Nr. 14 lit. a UStG ganz steuerbefreit, so dass sich für sie keine Steuerersparnis ergäbe – usw. Und schließlich ist zu prüfen, ob die Konkurrenten auf dem gleichen Markt nicht die gleichen Vergünstigungen in Anspruch nehmen können – dann fehlt es an einer selektiven „staatlichen“ Finanzierung (s. oben bei Fußn. 90 ff.). 117
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4. Spezielle Steuervergünstigungen Bei speziellen Steuerverschonungstatbeständen muss man wiederum genau hinsehen: Gelten sie für alle unternehmerischen Leistungen auf dem gleichen Markt (wobei die Abgrenzung des „Marktes“ schwierig sein kann), dann fehlt es an der notwendigen Selektivität119, und die Steuerersparnis ist nicht Teil der staatlichen Finanzierung der Einrichtungen nach § 98 Nr. 2 GWB. So ist es etwa bei der Steuerbefreiung der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken (v. a.: von Wohnraum) nach § 4 Nr. 12 lit. a) UStG: Sie betrifft z. B. Alten- und Pflegewohnheime oder Jugendherbergen ebenso wie kommerzielle Vermieter. Anders liegt es, wenn die Steuerbefreiung bestimmter Leistungen speziell (zumindest auch) die betroffenen Einrichtungen gegenüber (dem Gros der) anderen Anbieter auf dem gleichen Markt privilegiert. Das betrifft z. B. die Steuerfreiheit der Umsätze bei der Abgabe von Speisen und Getränken an Studierende in den Verpflegungsbetrieben der Studentenwerke. Dabei mag dahinstehen, auf welcher Rechtsgrundlage diese Steuerbefreiung genau beruht120, ja sogar: ob es für die Praxis der Finanzverwaltung überhaupt eine Rechtsgrundlage gibt. Denn maßgeblich für § 98 Nr. 2 GWB ist, ob der Staat eine Einrichtung überwiegend finanziert, nicht, dass er dies zu Recht tut. Bei Ermittlung der Höhe der indirekten Staatsfinanzierung durch Umsatzsteuerverzicht sind allerdings die auf den steuerbefreiten Umsatz entfallenden Vorsteuerbeträge wegen des Abzugsverbots nach § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 UStG abzuziehen. 5. Sonstige Abgabenverschonungen Welche Abgabenverschonungen für Einrichtungen, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB erfüllen, sonst noch zu veranschlagen sind, kann hier nicht abschließend untersucht werden. Die wichtigsten dürften mit dem Gemeinnützigkeitsrecht erfasst sein. Auch Gebührenbefreiungen mögen an den Gemeinnützigkeitsstatus oder die Rechtsform der juristischen Person des öffentlichen Rechts anknüpfen (s. etwa § 10 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 bis 4 bw LGebG) und solchen Einrichtungen einen Sondervorteil vermitteln, der nach den vorstehenden Grundsätzen für Steuerbefreiungen im Einzelfall dem staatlichen Finanzierungsanteil i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB zugerechnet werden muss. Insofern sei beispielhaft dar119
s. oben bei Fußn. 94 ff. In seiner Entscheidung v. 28. 9. 2006, V R 57/05 hat der BFH sie auf § 4 Nr. 23 UStG bzw. Art. 13 Teil A Abs. 1 lit. i) der 6. MwSt-Richtlinie gestützt. „Rechtssicherer“ aber dürfte die Berufung auf § 4 Nr. 18 UStG sein, s. BFH v. 11. 5. 1988, V R 76/83; Abschnitt 103 Abs. 9 und Abschnitt 170 Abs. 4 Nr. 6 UStR 2008; Weymüller (2009), in: Sölch/Ringleb, UStG, § 4 Nr. 18 Rn. 12, 21; Husmann/Hölzer (Fußn. 117), § 4 Nr. 18 Rn. 30.7. Das alles gilt freilich nur, wenn Alkohol u. a. Waren, die nicht der notwendigen Grundversorgung der Studenten mit Speisen und Getränken dienen, im Vorjahr nicht mehr als 5 v.H. des Gesamtumsatzes betragen haben (Unschädlichkeitsgrenze). – Die Entscheidung des BFH v. 28. 9. 2006 hatte die Anwendung von § 4 Nr. 18 UStG im Übrigen nicht abgelehnt, sondern offen gelassen. 120
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auf verwiesen, dass juristische Personen des öffentlichen Rechts, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren nicht zulässig ist, nicht der Beitrags- und Umlagepflicht für das Insolvenzgeld der Bundesagentur für Arbeit und für die Betriebsrenten des Pensions-Sicherungs-Vereins unterliegen; denn diese setzt die Zulässigkeit des Insolvenzverfahrens voraus (§ 359 Abs. 2 S. 2 SGB III, § 17 Abs. 2 BetrAVG), an der es z. B. in Baden-Württemberg für juristische Personen des öffentlichen Rechts unter der Aufsicht121 des Landes nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO i.V.m. § 45 S. 1 bw AGGVG fehlt122. Auch derart geringe Finanzbeiträge mögen, da es auf den „gemeinsamen“ Finanzierungsbeitrag aller staatlichen Ko-Financiers ankommt123, im Einzelfall zur Überwindung der 50 %-Hürde führen. V. Resümee Die selektive Verschonung von Einrichtungen, die im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art erfüllen, von allgemeinen Abgabepflichten ist eine Form staatlicher Finanzierung i.S.v. § 98 Nr. 2 GWB. Das gilt aber nur, soweit sie sich als Begünstigung für diese Einrichtungen auch tatsächlich auswirkt, und zwar ohne Rücksicht auf andere staatliche Leistungen, die ohnehin bereits in die staatliche Finanzierungsquote nach § 98 Nr. 2 GWB eingehen (Verbot der Doppelzählung). Dazu zählt nicht die Steuerbefreiung von Körperschaften kraft Gemeinnützigkeit von der Körperschaft- und Gewerbesteuer (mit Ausnahme der indirekten Förderung über das sog. Spendenprivileg), wohl aber die Befreiung von der Erbschaft- und Schenkungsteuer; ins Gewicht fallen u. U. auch die (um nicht abziehbare Vorsteuerabzugsbeträge bereinigten) Steuervergünstigungen nach dem UStG. Die Bindung zahlreicher, v. a. gemeinnütziger, Einrichtungen an das Kartellvergaberecht wird daher ganz neu zu überprüfen sein.
121 „Aufsicht“ des Landes i.S.v. § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist schon die bloße Rechtsaufsicht, s. statt aller Ott/Vuia, in: Kirchhof/Lwowski/Stürner, InsO I, 2. Aufl. 2008, § 1 Rn. 15. 122 Folge: kein Anspruch der Arbeitnehmer auf Insolvenzgeld nach § 183 SGB III oder auf Gelder aus dem Pensions-Sicherungs-Verein gem. §§ 7 Abs. 1, 14 BetrAVG. Zum Ausgleich dieser Härte sind entsprechende Arbeitsentgelte und Betriebsrenten im Fall des § 12 Abs. 1 Nr. 2 InsO (also: wenn – wie in Baden-Württemberg – ein Land die Insolvenz für unzulässig erklärt hat) bei Zahlungsunfähigkeit/Überschuldung vom Land zu zahlen (§ 12 Abs. 2 InsO). Das macht deutlich, dass es sich bei der Befreiung von den Umlagenzahlungen letztlich um eine vom Land für diese öffentlich-rechtlich organisierten Einrichtungen übernommene „Versicherungsprämie“, also: eine staatliche Finanzierung handelt. 123 s. oben nach Fußn. 36.
Stabilität und Dynamik des Verwaltungsverfahrensrechts Von Ulrich Ramsauer I. Einführung Vor nunmehr 35 Jahren wurde das Verwaltungsverfahrensgesetz erlassen.1 Dem waren ungewöhnlich lange Diskussionen um Sinn und Zweck, um Vor- und Nachteile einer Kodifizierung des Verfahrensrechts vorausgegangen.2 Lange hielt sich die Auffassung, ein derartiges Gesetz sei nicht sinnvoll, weil Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit des Verfahrensrechts damit behindert würden.3 Bedenken dieser Art vernimmt man schon seit langem nicht mehr. Trotz mancher struktureller Schwächen, auf die noch einzugehen sein wird, hat sich das Gesetz als praxistauglich erwiesen. Mit vielen seiner Regelungen wurden sogar verfahrensrechtliche Standards gesetzt, die ihre Wirksamkeit weit über den Anwendungsbereich des Gesetzes hinaus entfalten konnten und an denen sich heute Fachrecht und Rechtspraxis orientieren. Auch im Ausland hat das Konzept Anklang gefunden. Nicht wenige Länder haben ihr Verwaltungsverfahrensrecht nach dem Vorbild des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes gestaltet.4 Man kann fast von einem legislativen Exportschlager sprechen.5 Trotz ungünstiger Ausgangsbedingungen war (und ist) das Projekt „Verwaltungsverfahrensgesetz“ erfolgreich. Gleichwohl hört man in letzter Zeit häufiger Stimmen, die eine Novellierung für notwendig halten, teilweise sogar ein neues Verwaltungsverfahrensgesetz fordern. In diesem Zusammenhang wird auf die vielen Fragen verwiesen, auf die das Gesetz nach wie vor keine Antworten gibt. Auch trage es den neueren Entwicklungen im Fachrecht nicht hinreichend Rechnung. Beklagt wird etwa das Fehlen von verfahrensrechtlichen Regelungen für die diversen schlicht-hoheitlichen und informellen Hand1 Verwaltungsverfahrensgesetz v. 25. 5. 1976, BGBl I 1253 (Nr. 59). Das Gesetz trat zum 1. 1. 1977 in Kraft. 2 Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung 1960, 57 f., Anhang II, 177 ff. 3 ZB v. Dreising, Zum Bericht der Sachverständigenkommission für die Vereinfachung der Verwaltung, DÖV 1960, 241, 244. 4 Das gilt jedenfalls teilweise für die Staaten des Baltikums und für einige südosteuropäische Staaten. 5 Bis nach China ist der gute Ruf des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts gedrungen. Der Autor hatte Gelegenheit, zusammen mit dem Jubilar im Herbst 2009 an einer Tagung über die Verwaltungsreform in China in Kunming teilzunehmen.
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lungsmöglichkeiten der Verwaltung, für den Bereich der untergesetzlichen Normsetzung und den nach wie vor wachsenden Bereich des Verwaltungsprivatrechts. Auch auf die Herausforderungen der Europäisierung reagiere das Verwaltungsverfahrensgesetz nur unzureichend. Ein modernes Verwaltungsverfahrensgesetz müsse hier Antworten bieten. Anderenfalls sei damit zu rechnen, dass das Fachrecht in die nicht oder nicht zufriedenstellend geregelten Bereiche hineinstoße und das Verwaltungsverfahrensgesetz langsam verdränge. II. Das Verwaltungsverfahrensgesetz als „geronnene Rechtsdogmatik“ Der Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes war trotz des langen Vorlaufs und der außerordentlich breiten Diskussion an sich kein „großer Wurf“. Es handelte sich vielmehr vor allem um den letztlich erfolgreichen Versuch, den Stand der Rechtsdogmatik zum Verwaltungsverfahren zusammenzufassen und im Interesse der Praxis zu kodifizieren. Hierfür konnte man in weiten Teilen des Gesetzes auf gefestigte dogmatische Lehrsätze und eine konsolidierte Auffassung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur aufbauen. Nur an vergleichsweise wenigen Stellen hat der Gesetzgeber seinerzeit neue Wege beschritten oder über streitige Auffassungen in der einen oder anderen Weise entschieden.6 Für viele Regelungen war der Weg indessen vorgezeichnet; ihre Positivierung im Verwaltungsverfahrensgesetz brachte deshalb nur relativ wenige echte Rechtsänderungen. Es hatten sich in der Rechtspraxis vor allem in der Nachkriegszeit dogmatische Strukturen herausgebildet, die exemplarisch etwa in den Lehrbüchern von Wolff/Bachof7 oder von Forsthoff8 nachzulesen waren und an denen sich die praktische Verfahrensweise orientierte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das geflügelte Wort vom „Verwaltungsverfahrensrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“.9 Hier liegt eines der Geheimnisse für den Erfolg des Verwaltungsverfahrensgesetzes, das im Übrigen vergleichsweise ungünstige Startbedingungen hatte, wie noch zu zeigen sein wird. Die Positivierung der ungeschriebenen dogmatischen Rechtssätze, die bis dahin lediglich den Charakter allgemeiner Rechtsgrundsätze hatten und ihre Wirkung daraus bezogen, dass sie in der Praxis eben akzeptiert waren, brachte Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und teilweise Rechtsvereinfachung auf dem Fundament eines weitgehenden inhaltlichen Konsenses. Der steinige Weg zur administrativen Implementation des neuen Gesetzes, der im Verwaltungsverfahrensrecht aus strukturellen Gründen, nämlich wegen der besonders großen Anzahl an Behörden, 6
So etwa im Bereich des öffentlich-rechtlichen Vertrags (§§ 54 ff. VwVfG) und bei der Zusicherung (§ 38 VwVfG). 7 Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, zuletzt 4. Aufl. 1978. 8 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 10. Aufl. 1973. 9 s. z. B. W.-R. Schenke, Der rechtswidrige Verwaltungsvertrag nach dem VwVfG, JuS 1977, 281.
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die es anzuwenden haben, besonders gefährlich ist,10 war aus diesem Grund vergleichsweise kurz. Man muss diesen Aspekt stets im Auge behalten, wenn man über Novellierungen des Gesetzes nachdenkt. III. Das Verwaltungsverfahrensgesetz als lex imperfecta Der oben (unter II.) beschriebene Ansatz des Gesetzgebers, in seiner Kodifizierung vor allem den seinerzeit aktuellen Stand der Rechtsdogmatik wiederzugeben, musste notwendigerweise zu mancherlei inhaltlichen Beschränkungen führen, auf die noch näher einzugehen sein wird. In den Bereichen, in denen – wegen der Unterschiedlichkeit der Fallgestaltungen oder wegen unterschiedlicher Rechtsansichten – ein hinreichend gesichertes Fundament fehlte, hat sich der Gesetzgeber weise Zurückhaltung auferlegt und sich einer Regelung enthalten. Hierzu bestand umso mehr Anlass, als wegen des ungewöhnlichen „Kohabitationsverhältnisses“ zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts ein qualifizierter Abstimmungsbedarf zu berücksichtigen war. Das Verwaltungsverfahrensgesetz hat deshalb der Idealvorstellung von einer allgemeinen und umfassenden Verfahrensordnung von Anfang an nicht entsprochen. Geschaffen wurde lediglich eine Teilkodifikation des Verwaltungsverfahrensrechts mit eingeschränktem Anwendungsbereich und langer Verlustliste. Für die nicht erfassten Bereiche blieb es bei dem status quo, der durch allgemeine Sätze der Rechtsdogmatik, die zumeist Konkretisierungen verfassungsrechtlicher Grundsätze darstellten, geprägt war. 1. Beschränkungen des Anwendungsbereichs a) Verwaltungsverfahrensgesetze in Bund und Ländern Im Gesetzgebungsverfahren gab es erhebliche Auseinandersetzungen um den Anwendungsbereich des Gesetzes. Zwischen Bund und Ländern war insbesondere streitig, ob das Gesetz auch für die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder gelten sollte. Hierbei kam es schließlich zu einem ungewöhnlichen Kompromiss, bei dem sich die Länder im Ergebnis durchsetzen konnten. Das Verwaltungsverfahrensgesetz gilt danach zwar nicht nur für die Bundesverwaltung, sondern nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG auch für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Länder, der Kommunen und der sonstigen der Landesaufsicht unterliegenden Körperschaften des öffentlichen Rechts, allerdings nur in den Fällen des Art. 85 GG, also soweit sie Bundesgesetze im Auftrag des Bundes ausführen. Für den Regelfall der Ausführung von Bundesgesetzen als eigene Angelegenheit der Länder (Art. 84 GG) gilt das Verwal10 Dies zeigen die Erfahrungen bei der Einführung von Verwaltungsverfahrensgesetzen in einer ganzen Reihe von neuen Mitgliedstaaten und Mitgliedskandidaten der Union.
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tungsverfahrensgesetz nur nach Maßgabe der differenzierenden Bestimmung in § 1 Abs. 2. Aber auch unabhängig davon soll es nach § 1 Abs. 3 VwVfG nur gelten, soweit die Länder keine eigenen Verwaltungsverfahrensgesetze erlassen haben. Da letzteres in sämtlichen Bundesländern seit langem der Fall ist, kann das Verwaltungsverfahrensgesetz also im Bereich der Landesverwaltung jedenfalls derzeit überhaupt nicht (mehr) zur Anwendung gelangen. Diesen Kompromiss „erkauften“ sich die Länder seinerzeit mit einem Zugeständnis. In dem formlosen, gleichwohl denkwürdigen sog. Simultangesetzgebungsbeschluss der Innenminister der Länder vom 20. Februar 1976 verpflichteten sie sich, auf den Erlass inhaltsgleicher Bestimmungen in ihren Verwaltungsverfahrensgesetzen hinzuwirken.11 Dieser – rechtlich nicht bindenden – Absichtserklärung entsprechend haben sich die Länder in der Folgezeit auch tatsächlich verhalten. Nicht nur beim Erlass ihrer Landesverwaltungsverfahrensgesetze, auch bei den – allerdings wenigen – späteren Änderungen haben sich die Länder an die Vorgaben des Verwaltungsverfahrensgesetzes gehalten und diese in den Ländergesetzen nachvollzogen. Gelingen konnte das nur, weil sich Bund und Länder bereits vor jeder beabsichtigten Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes inhaltlich so weit abgestimmt haben, dass die Übernahme der Änderungen in die Verfahrensgesetze der Länder nicht auf unüberwindliche politische Schwierigkeiten stieß. Auf Grund dieses Abstimmungsmechanismus, dessen Träger und Hüter vor allem die Verwaltungsverfahrensrechtsreferenten in Bund und Ländern waren, ist es gelungen, die Simultangesetzgebung in den 35 Jahren seit Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes erfolgreich aufrecht zu erhalten. Das muss als herausragende legislatorische Leistung angesehen werden, ohne die das Verwaltungsverfahrensgesetz niemals die Bedeutung hätte erlangen können, die es heute hat. Die Übereinstimmung der Verwaltungsverfahrensgesetze in Bund und Ländern im Wortlaut ermöglichte die Anwendung des § 127 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, wonach auch wegen Verletzung von Vorschriften eines Landesverwaltungsverfahrensgesetzes die Revision zum Bundesverwaltungsgericht gegeben ist, wenn die verletzte Vorschrift ihrem Wortlaut nach mit dem einer Bestimmung des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes übereinstimmt. Diese Regelung war und ist von großer praktischer Bedeutung, weil erst die vereinheitlichende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine gleichmäßige Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts in Bund und Ländern sicherstellt. Erst damit wurde auch die Grundlage gelegt, auf der sich die Verwaltungspraxis und die wissenschaftliche Diskussion weiter entwickeln konnten. Warum haben die Länder an der Simultangesetzgebung mit dem Bund bis heute festgehalten? Hierfür gibt es eine ganze Reihe guter Gründe. Angesichts der Subsidiarität der Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze in Bund und Ländern gegenüber dem Fachrecht mussten die Länder befürchten, dass der Bund als Annex zu 11
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Ausführlich Klappstein, Rechtseinheit und Rechtsvielfalt im Verwaltungsrecht, 1994,
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diversen fachrechtlichen Regelungen bereichsspezifisches Verfahrensrecht schaffen und damit das allgemeine Verfahrensrecht unterlaufen würde. Für ein derartiges Vorgehen müsste man rechtspolitisch Verständnis haben, denn es wäre Ausdruck des berechtigten Interesses daran, dass sich die Ausführung von Bundesrecht nicht je nach Bundesland nach unterschiedlichen Verfahrensbestimmungen richtet. Dieses Interesse wächst mit der Einsicht in die Bedeutung, die das Verfahren für die Anwendung des materiellen Rechts hat. Wesentlich erleichtert wurde den Ländern die Einhaltung des Beschlusses über die Simultangesetzgebung dadurch, dass die rechtspolitischen Vorstellungen über sinnvolle Regelungen im Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts in Bund und Ländern nicht weit auseinander gingen. Das Verfahrensrecht galt lange Zeit als eher „technisches“ Recht, das sich zur politischen Profilierung nicht eigne und das sich deshalb aus den politischen Tagesauseinandersetzungen weitgehend heraushalten lasse. Gelegentlich gab es auch hier unterschiedliche Auffassungen, insbesondere die Beschleunigungsdebatten zeugen davon. Insgesamt gab es aber unter den Fachleuten des Verwaltungsverfahrensrechts einen weitgehenden Konsens über den Korridor, in dem sich das Verfahrensrecht zu bewegen hat, und dass gesetzgeberische Alleingänge Gefahren für die Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrensrechts auslösen würden. Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Einschätzung mancherorts nicht mehr uneingeschränkt geteilt wird. In den letzten Jahrzehnten lässt sich eine kontinuierliche Zunahme auch der rechtspolitischen Bedeutung des Verwaltungsverfahrensrechts beobachten. Nicht nur aufgrund der Einflüsse des Europarechts, sondern auch aufgrund der vertieften Einsicht in die administrativen Entscheidungsspielräume des materiellen Verwaltungsrechts und der wachsenden Bedeutung des Partizipationsgedankens ist das Verwaltungsverfahrensrecht mehr und mehr in den politischen Fokus gerückt. Hinzu kommt, dass angesichts der Dynamik moderner Gesetzgebung, in der die einzelnen Bestimmungen über eine immer geringer werdende Halbwertszeit verfügen, die mit der Simultangesetzgebung verbundene relative Veränderungsresistenz des Verwaltungsverfahrensgesetzes schnell in den Verdacht mangelnder Zukunftsfähigkeit und fehlender Offenheit für neue Entwicklungen und Bedürfnisse gerät. Es verwundert daher nicht, wenn der Simultangesetzgebungsgedanke und damit das Prinzip der Einheitlichkeit des Verfahrensrechts in Frage gestellt werden. b) Das Subsidiaritätsprinzip Das Prinzip der Subsidiarität folgt an sich bereits aus der Systematik der Rechtsordnung, nach der spezielle Rechtsnormen den allgemeinen vorgehen. Es ist für das Verwaltungsverfahrensgesetz aber auch positivrechtlich in § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 VwVfG jeweils am Ende geregelt. Danach gilt das Gesetz nicht, soweit Rechtsvorschriften des Bundes – gleiches gilt nach den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder für deren Rechtsvorschriften – inhaltsgleiche oder entgegenstehende Vorschriften enthalten. Als Rechtsvorschriften in diesem Sinn sind nicht nur förmliche
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Gesetze, sondern auch Rechtsverordnungen anzusehen. Satzungen können sich demgegenüber mit abweichendem Verfahrensrecht gegenüber dem Verwaltungsverfahrensgesetz nicht durchsetzen. Das Prinzip der Subsidiarität erleichtert es den Ländern, die mit dem Beschluss über die Simultangesetzgebung verbundene gesetzgeberische Zurückhaltung zu akzeptieren. Da die speziellen Verfahrensvorschriften des Fachrechts vorgehen, sind die Länder nicht gehindert, im Rahmen ihrer Gesetzgebungskompetenz abweichende verwaltungsverfahrensrechtliche Regelungen zu schaffen. Sie haben hiervon vielfältig Gebrauch gemacht. Insoweit sei nur auf die verfahrensrechtlichen Regelungen des Bauordnungsrechts verwiesen. Gleiches gilt auch für den Bund selbst, der in großem Umfang abweichendes Verfahrensrecht geschaffen hat. Erinnert sei nur an die verfahrensrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Bundesimmissionsschutzrechts (z. B. die 9. BImSchV) oder an die atomrechtliche Verfahrensordnung. Der sachgerechte Umgang mit dem Prinzip der Subsidiarität erfordert Fingerspitzengefühl. Notwendig ist eine Balance zwischen dem Interesse an Einheitlichkeit, repräsentiert durch die allgemeinen Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze, und dem Interesse an einer bereichsspezifisch optimalen Ausgestaltung des Verfahrens im Fachrecht. Der Gesetzgeber muss die Einheitlichkeit des Verfahrensrechts als Wert an sich, als Interesse der Rechtsordnung und der Rechtspraxis insgesamt ansehen, deren Einschränkung oder sogar Aufgabe sich nur mit gewichtigen Erfordernissen der jeweiligen Sachbereiche rechtfertigen lässt. Jede hierauf gerichtete Initiative muss sich fragen (lassen), ob das Interesse an einer abweichenden bereichsspezifischen Regelung so gewichtig ist, dass es die Abweichung von der generellen Regelung mit den damit verbundenen Nachteilen, insbesondere der mit jeder Differenzierung zunehmenden Komplexität der Regelungsmaterie, zu tragen vermag. Angesichts des beklagenswerten Befundes einer ohnehin dramatischen Zunahme der Komplexität in nahezu allen Bereichen des Fachrechts erhält der Aspekt der Einheitlichkeit zusätzliches Gewicht. c) Die Dreisäulentheorie Es bedurfte keiner prophetischen Gaben um vorherzusehen, dass es nicht gelingen würde, mit dem Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes auch die Verfahrensordnungen des Abgabenrechts und des Sozialrechts abzulösen und eine gänzlich einheitliche Verfahrensordnung für die Verwaltungsverfahren in Deutschland zu schaffen. Rein gesetzgebungstechnisch wäre es durchaus möglich gewesen, die in den Bereichen des Abgabenrechts und des Sozialrechts erforderlichen Sonderregelungen in ein einheitliches Verwaltungsverfahrensgesetz zu integrieren. Gescheitert ist diese Vereinheitlichung nicht an den besonderen verfahrensrechtlichen Bedürfnissen in diesen beiden Bereichen, sondern an der Zählebigkeit von administrativen Systemen, für die eigene Verfahrensordnungen nicht nur den rechtlichen Rahmen des Handelns bilden, sondern auch Symbol der Eigenständigkeit und Möglichkeit zur Identifikation sind. Es ist deshalb ein Euphemismus und nicht Ausdruck einer inneren Systematik, wenn im Hinblick auf die Regelungen in § 2 Abs. 2 Nr. 1 und 4 VwVfG heute von einer
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Drei-Säulen-Theorie die Rede ist,12 wobei die Abgabenordnung, das Zehnte Buch Sozialgesetzbuch und das Verwaltungsverfahrensgesetz jeweils eine Säule repräsentieren. Fast wäre mit dem Ersten Buch des Umweltgesetzbuchs13 eine vierte Säule hinzugetreten. Die Vorschriften über eine integrierte Vorhabengenehmigung, die im Entwurf des Ersten Buch des gescheiterten Umweltgesetzbuchs vorgesehen waren, hätten vermutlich einen „qualitativen Sprung“ vom bereichsspezifisch abweichenden Fachrecht, wie es die 9. BImSchV enthält, zu einer neuen „Säule“ des Verfahrensrechts bewirkt. Unter verwaltungsverfahrensrechtlichen Gesichtspunkten ist es zu begrüßen, dass die weitere Zersplitterung des Verfahrensrechts, die damit verbunden gewesen wäre, unterblieben ist. In systematischer Hinsicht hätte es sich ohnehin vor allem um Verfahrensrecht und nicht um Umweltrecht gehandelt. Es wird zu prüfen sein, ob dem durchaus berechtigten Anliegen, neben dem formlosen Verwaltungsverfahren (§§ 10 ff. VwVfG), dem Verfahren über eine einheitliche Stelle (§§ 71a ff. VwVfG) und dem Planfeststellungsverfahren (§§ 72 ff. VwVfG) noch eine weitere, durch Konzentration geprägte, Verfahrensart zur Verfügung zu stellen,14 innerhalb des Verwaltungsverfahrensgesetzes Rechnung getragen werden kann. 2. Das Verwaltungsverfahrensgesetz als Teilkodifikation Wie sich mit hinreichender Deutlichkeit etwa aus § 9 VwVfG ergibt, versteht sich das Verwaltungsverfahrensgesetz selbst nur als Teilkodifikation, nicht als eine umfassende Verfahrensordnung für das Verwaltungshandeln im Bund bzw. – soweit die Gesetze der Länder in Rede stehen – in den Ländern. Das Gesetz hat sich von vornherein auf die Regelung der öffentlich-rechtlichen „nach außen wirkenden“ Verwaltungstätigkeit beschränken wollen, die sich auf den Erlass eines Verwaltungsakts oder auf den Abschluss eines Verwaltungsvertrages richtet, wobei letzterer im Gesetzgebungsverfahren und noch danach heftig umstritten war. Es handelte sich um einen Akt der Selbstbeschränkung des Gesetzgebers. Die anderen Handlungsformen, etwa im Bereich des schlichten Verwaltungshandelns oder der administrativen Rechtsetzungsverfahren, wurden nicht etwa versehentlich ungeregelt gelassen. a) Beschränkung auf öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit In § 1 Abs. 1 VwVfG wird der Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes von vornherein auf die „öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Be12
s. z. B. Henneke/Ruffert in Knack, VwVfG, 9. Aufl. 2010, Rn. 6 vor § 1. Zum Entwurf näher Guckelberger, Der Referentenentwurf für ein UGB 2009 als erster Schritt auf dem Weg zur Kodifikation des Umweltrechts, NVwZ 2008, 1161. 14 Kahl/Welke, Über die unveränderte Notwendigkeit einer integrierten Vorhabengenehmigung und deren Regelungsstandort, DVBl 2010, 1414. 13
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hörden“ beschränkt. Damit bleibt der bereits seinerzeit große Bereich privatrechtlicher Handlungsweisen von Behörden von Anfang an ausgeschlossen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine verwaltungsprivatrechtliche oder um eine fiskalische Verwaltungstätigkeit handelt.15 Jedenfalls im Hinblick auf die verwaltungsprivatrechtliche Tätigkeit der Verwaltung musste dies schon seinerzeit als unbefriedigend erscheinen, weil „die Flucht der Verwaltung ins Privatrecht“ schon bei Erlass des Gesetzes sehr wohl ein Thema war und es als anerkannt gelten konnte, dass sich die Verwaltung damit der Geltung grundrechtlicher Gewährleistungen in diesem Bereich nicht sollte entziehen dürfen.16 Auch war bereits anerkannt, dass diese Gewährleistungen eine verfahrensrechtliche Dimension aufweisen.17 Die in § 1 Abs. 1 VwVfG vorgenommene Beschränkung auf öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit hatte gleichwohl gute Gründe. Mit der Verwaltungstätigkeit in Privatrechtsform wird der Bereich hoheitlichen Handelns verlassen. Die Verwaltung „verzichtet“ auf die Inanspruchnahme ihres Sonderrechts und begibt sich – jedenfalls der Form nach – auf den Boden des allgemeinen Privatrechts. Ihr stehen deshalb auch die Rechtsformen hoheitlichen Verwaltungshandelns nicht zur Verfügung. Ob und in welchem Umfang den an diesem Handeln Beteiligten gleichwohl die Garantien und Rechtspositionen des Verwaltungsverfahrensrechts zur Verfügung stehen sollten, darüber herrscht auch heute noch keine Einigkeit.18 Das gilt nicht nur für die Frage, ob dies verfassungsrechtlich geboten, sondern auch für die Frage, ob entsprechende Regelungen rechtspolitisch sinnvoll wären. Es stellt sich auch die Frage, ob hier nicht bereichsspezifische Regelungen vorzuziehen sind, zumal der Begriff des Verwaltungsprivatrechts nach wie vor einige Unschärfen aufweist. Auf eine für § 1 Abs. 1 VwVfG an sich notwendige Definition der Öffentlichrechtlichkeit des Handelns wurde ebenfalls verzichtet, obwohl bereits seinerzeit die sog. modifizierte Sonderrechtstheorie weitgehend akzeptiert war. Auch hier hat der Gesetzgeber eine eher weise Zurückhaltung geübt, mit der er nicht nur den strukturellen Schwächen19 sämtlicher Abgrenzungstheorien Rechnung trug, sondern die Frage der Öffentlichrechtlichkeit auch der weiteren Entwicklung in der Rechtspraxis überließ.
15
Zum Abgrenzungsproblem U. Stelkens, Verwaltungsprivatrecht, 2005, S. 64 ff. Ossenbühl, Daseinsvorsorge und Verwaltungsprivatrecht, DÖV 1971, 513. 17 s. nur aus der Rspr. BVerfGE 51, 345; 65, 44, 52; weitere Nachweise bei Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, Einf. I Rn. 19. 18 Hierzu näher Fehling, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd II. § 38; Ernst, Die Verwaltungserklärung, 2008, passim. 19 Zur teilweisen Zirkelschlüssigkeit der Abgrenzungstheorien Leisner, Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, JZ 2006, 869. 16
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b) Auf Verwaltungsakte bzw. Verwaltungsverträge gerichtete Verfahren Das Gesetz beschränkt in § 9 VwVfG die Geltung der Regelungen in §§ 10 ff. VwVfG auf solche Verfahren, die sich auf den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines Verwaltungsvertrages richten. Der gesamte Bereich schlicht-hoheitlichen Handelns wird damit nicht erfasst. Das mag man zwar mit Blick auf bestimmte Erscheinungsformen des schlicht-hoheitlichen Handelns beklagen; eine generelle Anwendbarkeit der §§ 10 ff. VwVfG wäre allerdings auch heute kaum konsensfähig. Es müssten also plausible Abgrenzungskriterien gefunden werden, die bisher jedenfalls fehlen. Damit fallen weite Teile moderner Verwaltungstätigkeit, insbesondere die diversen Formen schlichthoheitlichen Handelns, die unterschiedlichen Formen administrativer Rechtssetzung und das informelle Verwaltungshandeln aus dem Anwendungsbereich dieser Vorschriften heraus. Der Mangel an verfahrensrechtlichen Regelungen für schlicht-hoheitliches Handeln ist im Fachrecht reflektiert worden und hat dort auch zu Konsequenzen geführt. Wenn der Fachgesetzgeber einen Bedarf für die Anwendung verwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen sieht, steht es ihm frei, deren entsprechende Anwendung vorzusehen. Schon bisher wurden entsprechende Wirkungen erzielt, etwa indem der vorherige Erlass eines Verwaltungsakts vorgesehen wurde. Dies lässt sich im Bereich der Informationsgesetzgebung beobachten, wo regelmäßig eine Entscheidung der Behörde über die Herausgabe schlicht-hoheitlicher Informationen in der Form eines vorgeschalteten Verwaltungsakts vorgesehen ist.20 Damit wird der Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes eröffnet, ohne dass es einer Erweiterung auf andere Handlungsformen bedarf. c) Beschränkung auf die „nach außen wirkende“ Verwaltungstätigkeit Das Verwaltungsverfahrensgesetz beschränkt sich ausdrücklich auf die Regelung der „nach außen wirkenden“ Verwaltungstätigkeit (vgl. § 9 VwVfG). Wann eine Verwaltungstätigkeit in diesem Sinn nach außen wirkt, wird im Gesetz nicht näher geregelt. Maßgeblich ist insoweit, ob sich die in Rede stehenden Handlungen oder Maßnahmen unmittelbar auf die Verfahrensrechte der Beteiligten auswirken können. Das gilt vor allem für die Gewährung von Akteneinsicht (§ 29 VwVfG), die Erteilung von Auskünften nach § 25 VwVfG, die Anhörung der Beteiligten (§ 28 VwVfG) und die auf die Abfassung, Erlass und Bekanntgabe eines Verwaltungsakts bezogenen Vorschriften (§§ 35 ff. VwVfG). Sämtliche Verfahrenshandlungen, die sich auf die rechtliche Stellung der Verfahrensbeteiligten nicht unmittelbar auswirken, weil sie allein die internen Verfahrensabläufe, Vorbereitungshandlungen, Meinungsbildungsprozesse, Entscheidungsentwürfe usw. betreffen, werden durch das Verwaltungsverfah20
Vgl. das Antragsverfahren nach §§ 4 ff. des Umweltinformationsgesetzes.
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rensgesetz nicht reglementiert. Sie verbleiben im Bereich der Organisations- und Verfahrenshoheit der Behörde und können damit grundsätzlich auch nicht unmittelbarer Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle werden. d) Die Ausnahmen des § 2 Abs. 2 und 3 VwVfG In § 2 Abs. 2 VwVfG werden Ausnahmen vom Anwendungsbereich des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Hinblick auf bereits bestehende bereichsspezifische Verfahrensregelungen normiert. Dazu gehören neben den beiden „Säulen“, der Abgabenordnung (Nr. 1) und des Sozialgesetzbuchs (Nr. 4) noch eine Reihe weiterer Verfahrensregelungen, die keine große Rolle (mehr) spielen, wie etwa diejenigen im Lastenausgleichs- und Wiedergutmachungsrecht. Praktisch wichtiger und rechtsdogmatisch fragwürdiger sind demgegenüber die Ausnahmen in § 2 Abs. 3 VwVfG für die Tätigkeiten der Gerichtsverwaltungen, der Behörden bei Leistungs-, Eignungsund ähnlichen Prüfungen und der Vertretungen des Bundes im Ausland. Ob diese Ausnahmen in ihrer derzeitigen Form erhalten bleiben müssen, erscheint fraglich, zumal die Rechtspraxis teilweise bereits darüber hinweggegangen ist.21 e) Sonst fehlende verfahrensrechtliche Regelungen Für viele Fragen des Verwaltungsverfahrens finden sich im Verwaltungsverfahrensgesetz keinerlei Regelungen, obwohl dies wünschenswert wäre.22 Man vermisst etwa Regelungen über die Verbindung und Trennung von Verwaltungsverfahren, über Aussetzung, Unterbrechung und Ende von Verwaltungsverfahren, über Willenserklärungen und sonstige Verfahrenshandlungen der Beteiligten, Aufrechnung, Rechtsnachfolge und anderes mehr. Im Laufe der Zeit sind dann noch weitere Fragen hinzugekommen, die sich etwa auf den Umgang mit vorläufigen und vorbeugenden Verwaltungsakten, Teil- und Vorabentscheidungen usw. beziehen. Diese Fragen konnten bei Erlass des Gesetzes noch nicht als hinreichend geklärt gelten, weshalb man auf eine positive Regelung verzichtete. Das bedeutete, dass sie der weiteren Entwicklung durch die Rechtspraxis überlassen blieben. Einige Handlungsmöglichkeiten blieben auf diese Weise im Bereich des allgemeinen Verfahrensermessens der Behörde (§ 10 VwVfG), andere wurden durch die Rechtsprechung weiter geprägt. Viele dieser Fragen wären heute kodifikationsreif.
21
So z. B. werden einzelne Bestimmungen des VwVfG als Konkretisierungen allgemeiner Grundsätze im Ergebnis doch auf Prüfungen angewendet, vgl. z. B. Kopp/Ramsauer, § 54 Rn. 3b für den Vergleichsvertrag. 22 s. etwa die Aufzählung bei Ritgen, in Knack, VwVfG, Rn. 23 vor § 9.
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3. Die „Verlustliste“ der Verwaltungsverfahrensgesetze a) Die selbständige Kodifikation der Umweltverträglichkeitsprüfung Wichtige Gegenstände wurden in den letzten Jahren „am Verwaltungsverfahrensgesetz vorbei“ in selbständigen Gesetzen geregelt. Zu nennen ist etwa das ursprünglich aus dem Jahre 1990 stammende Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG)23, das von seinem Regelungsgegenstand her in die Verwaltungsverfahrensgesetze hätte integriert werden können, da es weitestgehend Regelungen verfahrensrechtlicher Natur enthält. Demgegenüber hatte sich der Gesetzgeber dafür entschieden, die notwendigen Regelungen in einem selbständigen Gesetz unterzubringen. Rückblickend lässt sich feststellen, dass es problematisch gewesen wäre, wenn die ursprünglichen Regelungen des UVPG von vornherein in die Verwaltungsverfahrensgesetze aufgenommen worden wären. Das UVPG in seiner ersten Fassung kann nicht als gelungen bezeichnet werden. Es ergab sich die Notwendigkeit, bereits nach relativ kurzer Zeit eine umfassende Novellierung des wegen unzureichender Umsetzung der UVP-Richtlinie defizitären UVPG24 vorzunehmen, die der Übersichtlichkeit des Gesetzes nicht gerade dienlich war. Hätten diese Veränderungen innerhalb eines Verwaltungsverfahrensgesetzes vorgenommen werden müssen, wäre das regelungstechnisch auf große Schwierigkeiten gestoßen und hätte erhebliche Verwirrung gestiftet. An diesem Beispiel zeigt sich, dass manche Regelungen sich zunächst im Fachrecht bewähren sollten, bevor sie – dann in konsolidierter Form – Eingang in die allgemeinen Verfahrensgesetze finden können. b) Informations-, Akteneinsichts- und Auskunftsrechte, Datenschutz Das Verwaltungsverfahrensgesetz enthält Akteneinsichts- und Auskunftsrechte nur in sehr begrenztem Umfang, nämlich im Grundsatz nur in Bezug auf konkrete Verwaltungsverfahren. Die Gewährung weitergehender Akteneinsicht war gar nicht geregelt; nach der Rechtsprechung stand sie im Ermessen der Verwaltung, sofern ein rechtliches Interesse dargelegt werden konnte und Geheimhaltungsinteressen nicht entgegenstanden.25 Inzwischen hat sich außerhalb des Verwaltungsverfahrensgesetzes ein ganzes Informationsverwaltungsrecht gebildet, teils bereichsspezifisch wie etwa die Umweltinformationsgesetze des Bundes und der Länder und das Verbraucherinformationsgesetz, teils übergreifend wie die Datenschutzgesetze und die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder. Das Informationsverwal-
23 24 25
Derzeit in der Fassung der Bek. v. 24. 2. 2010 (BGBl. I. S. 94) mit späteren Änderungen. s. hierzu Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 63 Rn. 16 ff. s. hierzu Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 29 Rn. 10.
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tungsrecht ist zu einem eigenständigen Rechtsgebiet geworden26 mit einer Regelungsstruktur, die man sich komplexer und unübersichtlicher kaum noch vorstellen kann. Selbst mit einer wesentlich einfacheren Regelungsstruktur würde es im Verwaltungsverfahrensgesetz keinen Platz mehr finden können.
IV. Die Herausforderungen der Europäisierung In der Literatur wird nicht selten beklagt, dass das Verwaltungsverfahrensrecht nicht hinreichend auf die Herausforderungen der Europäisierung des Verfahrensrechts reagiert habe. Von einer Europarechtsblindheit ist sogar die Rede. Tatsächlich hat es bisher nur wenige Änderungen des Gesetzes gegeben, die explizit das Ziel hatten, den Anforderungen des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts Rechnung zu tragen. Dies gilt etwa für das 4. VwVfÄndG und die neuen Bestimmungen der §§ 8a ff. über die europäische Verwaltungszusammenarbeit. Die Wunschlisten, die im Hinblick auf eine weitere Europäisierung aufgestellt werden, sind bisweilen lang. Sie reichen bis hin zu einem neuen Teil VIII des Verwaltungsverfahrensgesetzes, mit dem „übergreifende, grundsätzlich relevante Regelungsstrukturen“27 geschaffen werden sollen. Zutreffend an den durchaus kritischen Befunden aus Teilen der Literatur ist sicherlich, dass sich der Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Prozess der Europäisierung des Verwaltungsverfahrensgesetzes lange Zeit passiv verhalten und es der Rechtspraxis überlassen hat, mit den in der Judikatur der europäischen Gerichte an die nationalen Verwaltungsverfahren gestellten Anforderungen fertig zu werden. Tatsächlich zeigt eine Überprüfung der Bestimmungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes aber auch, dass der aktuelle regelungstechnische Anpassungsbedarf eher gering ist. So ist es ebenso wenig erforderlich, etwa das Regulierungsermessen im allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz zu verankern, wie Fragen der Wirksamkeit und Bestandskraft von Verwaltungsakten im Hinblick auf die – teilweise sehr unscharfen – Anforderungen des Europarechts zu regeln. Es würde auch schwer fallen, im Hinblick auf die Fehlerfolgenregelungen der §§ 45 und 46 VwVfG allgemeine Anforderungen des Europarechts zu formulieren. Sogar wesentliche Einschränkungen der Letztentscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte und damit verbunden eine weitere Anerkennung von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung ließen sich mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz in seiner derzeitigen Fassung bewältigen. Dass das Verwaltungsverfahrensgesetz bisher die Herausforderungen der Europäisierung überstehen konnte, ohne dass es größerer gesetzgeberischer Eingriffe bedurfte, ist der großen Flexibilität seiner Regelungen zu verdanken. Obwohl bei Erlass des Gesetzes die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts praktisch nur eine geringe Rolle spielten, zeigt die Verfahrenspraxis der letzten Jahrzehnte, dass die meisten Be26
s. zuletzt Gurlit, Das Informationsverwaltungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, Die Verwaltung 2011, 75. 27 So Kahl, 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – 35 Jahre Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, NVwZ 2011, 449, 456.
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stimmungen flexibel genug sind, um auf ihrer Grundlage den Anforderungen des EURechts im Bereich des Verwaltungsverfahrens zu entsprechen. Dies liegt vor allem daran, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht nur einen vergleichsweise hohen verfahrensrechtlichen Standard aufweist, sondern dank seiner legislativen Zurückhaltung auch Anwendungsspielräume lässt, die eine Berücksichtigung verfahrensrechtlicher Grundsätze des EU-Rechts weitgehend zulassen. Wenn die mangelnde Gestaltungskraft und Ausstrahlungswirkung des Verwaltungsverfahrensgesetzes sowie der Umstand beklagt wird, dass sich die verfahrensrechtlichen Anforderungen der Grundsätze des Europarechts derzeit nur unter Heranziehung von Rechtsprechung und Literatur erschließen lassen,28 so wird man demgegenüber darauf hinweisen müssen, dass der Einfluss des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes auf die europäische Rechtsentwicklung auch nicht unterschätzt werden darf. Die Attraktivität des Gesetzes für eine ganze Reihe neuer Mitgliedstaaten der Union und einige Beitrittskandidaten dürfte ein Beleg dafür sein. Und schließlich: Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von eher abschreckenden Fällen, in denen der Gesetzgeber versucht hat, den Anforderungen des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts nur insoweit zu entsprechen, als dies für zwingend notwendig angesehen werden muss, im übrigen aber die bisherigen Regelungen beizubehalten. Dies führt nicht selten an die Grenzen des regelungstechnisch Möglichen und zu einer erheblichen Unübersichtlichkeit. Halbherzige Lösungen gehen stets auf Kosten der Klarheit und Verständlichkeit, teilweise auch der inneren Konsistenz der neuen Bestimmungen. V. Die bisherigen Novellierungen Sieht man von einigen eher redaktionellen Änderungen ab, ist das Verwaltungsverfahrensgesetz in den 35 Jahren seines Bestehens nur viermal signifikant geändert worden. Es dürfte kaum ein zentrales Kodifikat in Deutschland geben, das sich im Vergleichszeitraum als stabiler erwiesen hätte. Die erste wichtige, wenn auch punktuelle Änderung brachte ein Gesetz im Jahre 1996,29 mit dem die bis dahin in § 44a BHO geregelte Möglichkeit eines rückwirkenden Widerrufs von Subventionsbescheiden in das VwVfG integriert wurde. Es folgte ebenfalls im Jahre 1996 das stark umstrittene Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren (GenBeschlG).30 Es enthielt wesentliche Änderungen des Planfeststellungsverfahrens und einige sowohl rechtspolitisch als auch verfassungsrechtlich nach wie vor umstrittene31 Änderungen, und zwar des § 45 über die Heilung von Verfahrensfehlern nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens und des § 46 über die Unbeachtlichkeit von Ver28 So etwa Burgi, Verwaltungsverfahren zwischen europäischem Umsetzungsdruck und nationalem Gestaltungswillen, JZ 2010, 104. 29 VwVfÄndG v 2. 5. 1996 (BGBl I S. 656), 30 Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren v. 12. 9. 1996 (BGBl. I. S. 1354). 31 s. z. B. Hatje, Die Heilung formell rechtswidriger Verwaltungsakte im Prozess als Mittel der Verfahrensbeschleunigung, DÖV 1997, 477.
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fahrensfehlern, wenn „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat“. Die eher aus symbolischen Gründen eingeführten §§ 71a ff. VwVfG a. F. wurden zwischenzeitlich wieder aufgehoben. Nach dem Dritten Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften aus dem Jahr 2002,32 mit dem die rechtlichen Voraussetzungen für eine elektronische Kommunikation im Verwaltungsverfahren geschaffen wurden, folgte im Jahre 2008 das Vierte Gesetz zur Änderung des Verwaltungsverfahrensrechts,33 mit dem ein wesentlicher Teil der verfahrensrechtlichen Anforderungen der Dienstleistungsrichtlinie34 in nationales Recht umgesetzt wurde. Der Schwerpunkt liegt bei der Einführung eines neuen Typus von Verwaltungsverfahren, nämlich der Abwicklung von Verwaltungsverfahren unter Einschaltung einer sog. einheitlichen Stelle in den neu gestalteten §§ 71a ff. VwVfG. Diese wenigen Änderungen weisen das Verwaltungsverfahrensgesetz als stabiles Kodifikat aus, das dem Trend zu ständiger Novellierung entzogen blieb. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man sich daran erinnert, dass eine Reihe von Novellierungsbestrebungen scheiterte. Das gilt insbesondere für Bemühungen um Rechtsbereinigung mit dem Ziel, abweichende Vorschriften des Fachrechts zu beseitigen. Insgesamt ist der Eindruck nicht unberechtigt, dass das Verfahren bei der Simultangesetzgebung, das letztlich eine Billigung von Vorschlägen zur Novellierung sowohl im Bund als auch in den Ländern erfordert, Veränderungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes erschwert. VI. Das Verfahrensrecht zwischen Konstanz und Veränderung 1. Weiterentwicklung als Aufgabe Die kontinuierliche Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensgesetzes ist eine immerwährende Aufgabe. Das Verfahrensrecht muss stets daraufhin geprüft werden, ob es den Erfordernissen der Praxis noch entspricht und ob es einen effektiven Gesetzesvollzug zu gewährleisten vermag. Dazu gehört nicht nur die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit durch Gewährleistung „richtiger“ Verwaltungsentscheidungen, sondern auch die Gewährleistung von Partizipation der Betroffenen am Verfah32 Drittes Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften v 21. 8. 2002 (BGBl I S. 3322). 33 Viertes Gesetz zur Änderung des Verwaltungsverfahrensrechts (4. VwVfÄndG) v 17. 12. 2008 (BGBl I S. 2418). 34 Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 12. 12. 2006 (ABl L 376/36 v 27. 12. 2006). Nach Art. 6 DL-RL müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Dienstleistungserbringer aus anderen Mitgliedstaaten, die in einem Mitgliedstaat selbständig Dienstleistungen anbieten und erbringen wollen, die hierfür notwendigen Anmeldeund Genehmigungsverfahren sowie alle sonstigen Formalitäten ohne bürokratische Hindernisse aus dem Heimatland auf elektronischem Weg über einen Einheitlichen Ansprechpartner abwickeln können.
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ren und von Transparenz des Verfahrens im Interesse einer Verstärkung der Legitimation der Verwaltungsentscheidungen. Zu den Aufgaben einer Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts zählt auch das dauernde Bemühen um einen Abbau bereichsspezifischer Verfahrensregelungen des Fachrechts, der Verlustliste des Verfahrensrechts mit dem Ziel einer weiteren Vereinheitlichung. Es handelt sich ohne Zweifel um eine Art Sysiphus-Aufgabe, denn jedem gelungenen Abbau fachspezifischer Regelungen stehen neue Sonderregelungen im Fachrecht gegenüber. Hieran könnte nur eine legislatorische Zurückhaltung des Fachgesetzgebers etwas ändern, der sich stets die Frage vorlegen müsste, ob das gefühlte Bedürfnis für eine Sonderregelung den damit verbundenen Abbau der Einheitlichkeit rechtfertigen kann. Der Gesetzgeber des Verwaltungsverfahrensgesetzes kann nur darauf hoffen, dass die allgemein akzeptierten Standards des Verwaltungsverfahrensgesetzes eine gewisse vereinheitlichende Wirkung erzeugen, indem sie den Maßstab liefern, von dem abzuweichen einer Rechtfertigung bedarf. Das allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz eignet sich nicht als Experimentierfeld. Seine Novellierungen sollten vom Vorsichtsprinzip geprägt sein. Legislative Experimente können im Fachrecht mit begrenztem Anwendungsbereich und überschaubarer Regelungsstruktur sinnvoll sein. Das Innovationspotential des allgemeinen Verfahrensgesetzes ist demgegenüber begrenzt. Gerade wenn etwa neue Verfahrenstypen entwickelt werden, kommt es darauf an, ob sie vom Fachgesetzgeber, der gewissermaßen den Anwendungsbefehl geben muss, akzeptiert werden. So hat das förmliche Verfahren der §§ 62 ff. VwVfG eher ein Mauerblümchen-Dasein geführt, während die Regelungen des Planfeststellungsverfahrens eine erhebliche Bedeutung erlangen konnten. Ob und inwieweit das neu eingeführte Verfahren über eine einheitliche Stelle wirklich akzeptiert wird, lässt sich heute noch nicht sagen. 2. Gebot der Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrens als Prüfstein Seit einiger Zeit melden sich aus einigen Bundesländern Stimmen zu Wort, die eine neue Dynamik im Verwaltungsverfahrensrecht35 fordern und eine wesentliche Novellierung des Verfahrensrechts vorschlagen. Neben einer Fülle von kleineren eher technischen Änderungen wird auch die Vision von einem neuen großen Wurf des Verwaltungsverfahrensgesetzes gezeichnet. Dabei wird gelegentlich auch die Möglichkeit jedenfalls angedeutet, im Interesse eines solchen „großen Wurfs“ auch von der Simultangesetzgebung abzuweichen und ein Landesverwaltungsverfahrensgesetz im Alleingang zu novellieren. Das würde vermutlich der Anfang vom Ende der Simultangesetzgebung im Verwaltungsverfahrensrecht sein. Deshalb kann nicht energisch genug davor gewarnt werden:
35 So Burgi JZ 2010, 105, der Dynamik statt „gepflegter Beschaulichkeit und Selbstgenügsamkeit“ fordert.
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Die Simultangesetzgebung konstituiert eine Art Gesetzgebungsverfahren auf Gegenseitigkeit. Bund und Länder machen von ihrer je eigenen Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts nur dann Gebrauch, wenn und soweit ein Konsens zwischen ihnen gefunden worden ist. Die damit verbundene Einschränkung legislativer Freiheit wird hingenommen, weil das Ergebnis der Abstimmung Wirkung über den je eigenen Regelungsbereich hinaus entfaltet, weil sich sämtliche Beteiligten daran halten und die gefundene Lösung einheitlich umsetzen. Grundlage hierfür ist nach wie vor der Beschluss über die Simultangesetzgebung aus dem Jahre 1976, dessen Umsetzung in den letzten 35 Jahren nicht nur zu einem institutionalisierten Abstimmungsverfahren insbesondere unter den Verfahrensrechtsreferenten von Bund und Ländern geführt hat, sondern auch zu einem Kooperationsverhältnis, das vom allseitigen Bemühen um sachgerechte Erhaltung und Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts geprägt ist. Diese ebenso vorbildliche wie vorbildlose Form der Zusammenarbeit könnte man sich in den neu entstandenen Feldern der Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) nur wünschen. Das Ausscheren einzelner Länder aus der Simultangesetzgebung würde nicht nur das Ende dieses Kooperationsverhältnisses bedeuten, es würde vermutlich auch das Ende des Projekts „Einheitlichkeit des Verwaltungsverfahrensrechts“ einläuten. Abgesehen davon, dass in Bund und Ländern der Anreiz zur Beteiligung an bundeseinheitlichen verfahrensrechtlichen Regelungen wegfallen würde, müsste der Bund, um die Bundeseinheitlichkeit jedenfalls bereichsspezifisch zu erhalten, sein Fachrecht an wesentlichen Stellen um verfahrensrechtliche Vorschriften ergänzen, wozu er im Rahmen seiner Annexkompetenz wohl auch berechtigt wäre. Damit wäre das gemeinsame Bemühen um eine Reduktion der diversen Sonderregelungen im Verfahrensrecht im Interesse einer Vereinfachung von Verwaltungsverfahren wohl am Ende. Hält man dagegen, was für einzelne Länder mit dem Einschlagen von Sonderwegen gewonnen wäre, so dürfte der Befund ernüchternd sein. Eine signifikante Verbesserung oder Erleichterung der Rechtspraxis wird damit nicht einhergehen. Im Gegenteil wird die damit bewirkte „neue Unübersichtlichkeit“ bei den länderübergreifend agierenden Unternehmen zu Irritationen und zusätzlichem Verwaltungsaufwand führen. Sollte die landesspezifische Novellierung derart positiv sein, dass sie die beschriebenen Nachteile tatsächlich aufwöge, dann ließen sich entsprechende Vorschläge auch im Rahmen der Simultangesetzgebung verwirklichen. 3. Keine Zeit für „große Würfe“ Wie oben dargelegt, handelte es sich beim Erlass des Verwaltungsverfahrensgesetzes im Jahre 1976 nicht um einen „großen Wurf“. Dass es sich in seiner bisher fünfunddreissigjährigen Geschichte gleichwohl in der Rechtspraxis bewährt hat und hohes Ansehen genießt, dürfte nicht zuletzt an der beschriebenen klugen Zurückhaltung liegen, die sich der Gesetzgeber seinerzeit auferlegt hatte. Würde einer der Gesetzgeber in Bund und Ländern dem Ruf nach einem neuen Verwaltungsverfahrens-
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gesetz folgen, wäre ein „großer Wurf“ wiederum kaum zu erwarten. Die Zeiten sind insoweit nicht günstig. Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass zumeist nur die Festschreibung eines Status quo wirklich gelingt. Wo Neuland betreten wird, geraten die Regelungen auf der einen Seite zu kompromisshaft und halbherzig, auf der anderen zumeist zu detailliert und zu komplex, weshalb sie weder regelungstechnisch wirklich gelingen noch in der Praxis hilfreich sind. Der Trend geht weg von schlichten Gesetzen hin zu ganzen „Gesetzbüchern“. Dieser zuletzt genannte Begriff ist Ausdruck der steten Zunahme der Textmenge. Ob damit auch eine bessere Steuerungsleistung erzielt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Grundsatzrevision bei ausgelaufenem Unionsrecht Von Wolfgang Roth I. Keine Grundsatzrevision zur Klärung ausgelaufenen oder auslaufenden Rechts 1. Begriff der grundsätzlichen Bedeutung Nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne, wenn sie eine fallübergreifende, verallgemeinerungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die für die Vorinstanz entscheidungserheblich war und auch für die Rechtsmittelinstanz entscheidungserheblich und damit klärungsfähig ist und die im Interesse der Rechtssicherheit, der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung im Revisionsverfahren bedarf1. Eine Rechtsfrage ist eine Frage, die den Inhalt, den Geltungsbereich, die Wirksamkeit oder die Anwendbarkeit einer Rechtsnorm zum Gegenstand hat2. Ob die Rechtssache eine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage aufwirft, bestimmt sich danach, ob deren Beantwortung zur richtigen Entscheidung des Rechtsstreites objektiv erforderlich ist. Ob das erstinstanzliche Gericht die Problematik erkannt hat und auf die Rechtsfrage eingegangen ist, ist unerheblich3, wenngleich Rechtsfragen, die sich für die Vorinstanz nicht gestellt haben oder auf die sie nicht entscheidend abgehoben hat, regelmäßig nicht zur Zulassung der Revision führen können4. Ob eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, lässt nur eine Antwort zu5, ein Beurteilungsspielraum besteht nicht6.
1 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2009, 515 (518); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2009, 3642 (3643); BVerwG, NVwZ-RR 2001, 198; NVwZ 2005, 709; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 132 Rn. 9. 2 BAG, NJW 2008, 2364; Roth, in: BeckOK VwGO, 17. Edition, Stand 01. 04. 2011, § 124 Rn. 53. 3 A.A. BAG, NJW 2006, 3371 (3372); 2008, 1179. 4 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 7. 5 BVerwGE 121, 292 (294). 6 Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 124a Rn. 6; Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 53.
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2. Grundsätzlich keine grundsätzliche Bedeutung ausgelaufenen oder auslaufenden Rechts Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat eine Rechtsfrage trotz noch anhängiger Fälle regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung, wenn sie sich auf außer Kraft getretenes Recht (sog. ausgelaufenes Recht) oder demnächst außer Kraft tretendes Recht (sog. auslaufendes Recht) bezieht, da die Zulassungsvorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur eine Klärung für die Zukunft herbeiführen soll7. Entsprechendes gilt bei Übergangsvorschriften8, da diese ihrer Zweckbestimmung nach auf eine nur vorübergehende Anwendung gerichtet sind. 3. Ausnahmsweise grundsätzliche Bedeutung ausgelaufenen oder auslaufenden Rechts Ausnahmsweise können auch Fragen ausgelaufenen oder auslaufenden Rechts grundsätzliche Bedeutung besitzen. An die Annahme einer solchen Ausnahme stellt das Bundesverwaltungsgericht jedoch strenge Anforderungen. Für das Vorliegen einer solchen Sachlage ist zudem der die Revisionszulassung begehrende Beschwerdeführer darlegungspflichtig9. a) Ein Klärungsinteresse bei ausgelaufenem oder auslaufendem Recht besteht ausnahmsweise dann, wenn sich die Rechtsfrage in gleicher Weise bei der Nachfolgeregelung stellt, so dass trotz Auslaufen der alten Regelung eine richtungweisende Klärung zu erwarten ist, wie die neue Vorschrift anzuwenden ist10. Hierfür genügt jedoch nicht, dass nicht ausgeschlossen ist, dass sich die als rechtsgrundsätzlich angesehene Frage unter der Nachfolgeregelung in gleicher Weise stellt, vielmehr muss dies offensichtlich sein; es ist nicht Aufgabe des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, in diesem Zusammenhang mehr oder weniger komplexe Fragen des jetzt geltenden Rechts zu klären und die frühere mit der geltenden Rechtslage zu vergleichen11. Die bloße Möglichkeit, dass künftig eine inhaltsgleiche Regelung erlassen wird, genügt nicht12. b) Ferner ist eine grundsätzliche Bedeutung ausnahmsweise dann anzunehmen, wenn an der Klärung der Frage des ausgelaufenen oder auslaufenden Rechts wegen der Vielzahl hiernach noch zu entscheidender Fälle ein allgemeines Klärungs7
BVerwG, NJW 1996, 1010; Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 11; Bader, in: Bader, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 132 Rn. 12; Czybulka, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 132 Rn. 60; Himstedt/Kautz, in: Hk-VerwR, 2. Aufl. 2010, § 132 VwGO Rn. 13; Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 2011, § 132 Rn. 24. 8 BVerwG, NJW 1995, 741; Eyermann/Kraft, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 132 Rn. 21; Kopp/ Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 11. 9 BVerwG, NVwZ-RR 1996, 712; Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 7. 10 BVerwG, NVwZ-RR 1996, 712; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 11. 11 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 11; M. Redeker, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 132 Rn. 7. 12 Bader (Fußn. 7), § 132 Rn. 12.
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interesse besteht. Dies ist dann der Fall, wenn die Klärung einer solchen Rechtsfrage für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung sein kann13 oder wenn die betreffende Rechtsnorm für eine erhebliche Anzahl von Altfällen als Beurteilungsgrundlage heranzuziehen sein könnte14. Meist werden diese beiden Kriterien nebeneinander und sozusagen als austauschbar angeführt15, obschon es sich tatsächlich um durchaus unterschiedliche Maßstäbe handelt. Denn eine „erhebliche Zahl“ von Altfällen muss keineswegs „unüberschaubar“ sein. So nimmt die restriktivste Sichtweise etwa an, wenn die Fälle, die nach der aufgehobenen Vorschrift entschieden worden sind, festgestellt werden könnten – und das ist jedenfalls bei ausgelaufenem Recht meistens der Fall –, seien sie abgrenzbar und beträfen keinen nicht überschaubaren Personenkreis16. Dass die Entscheidung in einigen Dutzend noch anhängigen Verfahren von der Auslegung der aufgehobenen Vorschrift abhängt, genügt hiernach nicht, da auch diese Verfahren abgrenzbar seien und für sich allein nicht auf einen nicht überschaubaren Personenkreis schließen ließen17. Die restriktive Handhabung dieser Ausnahmekategorie führt mitunter zu unbefriedigenden Ergebnissen. Da die Beteiligten die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens durch die Instanzen hindurch oftmals nur sehr beschränkt beeinflussen können, erscheint es wenig überzeugend, den Zugang zu einer Revisionsentscheidung deshalb zu verwehren, weil die für die Entscheidung relevanten Normen während des Laufs des Verfahrens aufgehoben oder geändert worden sind, zumal dies angesichts der Hektik heutiger Gesetzgebung keineswegs nur seltene Ausnahmefälle betrifft. Es erscheint bedenklich, wenn es von bloßen Zufälligkeiten der Verfahrensdauer auf der einen und der Zeitplanung des Gesetzgebers auf der anderen Seite abhängt, ob eine Rechtsfrage durch das Bundesverwaltungsgericht entschieden werden kann oder nicht. Dies spricht zumindest für eine großzügigere Handhabung der Anforderungen, wie groß der Personenkreis sein muss, der von dem ausgelaufenen oder auslaufenden Recht betroffen ist.
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BVerwG, NVwZ 2007, 84 (85); Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 9; Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 13; Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 169, Rn. 12; Kopp/ Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 11. 14 BVerwG, Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 169, Rn. 12; Buchholz 430.3 Kammerbeiträge Nr. 31; Berlit, in: BeckOK VwGO, 17. Edition, Stand 01. 04. 2011, § 132 Rn. 31.1; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 11. 15 BVerwG, Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 169, Rn. 12; Eyermann/Kraft (Fußn. 8), § 132 Rn. 21; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 11; Kuhlmann (Fußn. 7), § 132 Rn. 24. 16 BVerwG, NVwZ-RR 1996, 712. 17 BVerwG, NVwZ-RR 1996, 712.
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II. Fortschreibung durch das Bundesverwaltungsgericht: Keine Grundsatzrevision zur Klärung ausgelaufenen oder auslaufenden Unionsrechts Das Bundesverwaltungsgericht wendet die dargelegten allgemeinen Grundsätze zur grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in ständiger Rechtsprechung in gleicher Weise an, wenn sich die Rechtsfrage auf ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht bezieht (Beschlüsse vom 17. 11. 200618, 13. 07. 200719, 08. 10. 200720, 05. 05. 200921, 04. 09. 200922, 05. 10. 200923 und 27. 10. 201024): Ist die unionsrechtliche Norm, auf die sich die Rechtsfrage bezieht, mittlerweile außer Kraft getreten oder steht ihr Außerkrafttreten bevor, so habe die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO mehr25. Das deutsche Prozessrecht eröffne den Zugang zur Revision nicht allein zur Klärung auslaufenden oder ausgelaufenen Unionsrechts26. Dies soll sogar dann gelten, wenn der Rechtsmittelführer geltend macht, die Vorinstanz sei von Grundsätzen abgewichen, die der Europäische Gerichtshof in einem früheren Urteil aufgestellt hat, sofern die unionsrechtlichen Vorschriften, auf die der Europäische Gerichtshof seine Entscheidung gestützt hatte, mittlerweile außer Kraft getreten sind27. Dass in einem etwaigen Revisionsverfahren gegebenenfalls eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV (= ex-Art. 234 Abs. 3 EGV) zur Auslegung des früheren oder auslaufenden Unionsrechts einzuholen sein könnte, verleihe der Rechtssache keine zur Revisionszulassung führende grundsätzliche Bedeutung. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zukommen, wenn dargelegt ist, dass in einem zukünftigen Revisionsverfahren zur Auslegung einer entscheidungsrelevanten unionsrechtlichen Regelung 18
BVerwG, Beschluss vom 17.11.2006 – 3 B 61.06 –, juris, Rn. 8. BVerwG, Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 9, 15. 20 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 2 f. 21 BVerwG, Beschluss vom 05.05.2009 – 3 B 14.09 –, juris, Rn. 3. 22 BVerwG, Beschluss vom 04.09.2009 – 7 B 8.09 –, juris, Rn. 11. 23 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 10 ff. 24 BVerwG, Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 3 ff. 25 BVerwG, Beschluss vom 17.11.2006 – 3 B 61.06 –, juris, Rn. 8; Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 9, 15; Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 2 f.; Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 11; Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 3 ff.; ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 28.01.2010 – 7 A 10994/09 –, juris, Rn. 32; OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.06.2008 – 8 LA 11/08 –, juris, Rn. 25; OVG Magdeburg, Urteil vom 24.11.2010 – 3 L 36/08 –, juris, Rn. 185; VG Köln, Urteil vom 20.10.2010 – 24 K 7532/08 –, juris, Rn. 92; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 36. Erg.Lfg. 2008, Art. 234 EGV Rn. 66. 26 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3. 27 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 10 f. 19
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voraussichtlich gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen sein wird28. Damit würden aber nur Fragen des Unionsrechts Fragen des Bundesrechts (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof einer Klärung durch das Bundesverwaltungsgericht gleichgestellt. Dies ändere nichts daran, dass eine Klärung der bezeichneten Fragen zukunftsorientiert der Fortentwicklung des Rechts dienen müsse und dass diese im Grundsatz ausscheide, wenn sie allein auslaufendes oder ausgelaufenes Recht beträfen29. Insofern gelte für ausgelaufenes Unionsrecht nichts anderes als für ausgelaufenes Bundesrecht30. Dass die in Art. 267 Abs. 3 AEUV normierte Vorlagepflicht auslaufendes oder ausgelaufenes Unionsrecht nicht ausnimmt31, ändere nichts daran, dass der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die erst erstrebte Grundsatzrevision regelmäßig nur zukunftsorientiert im Interesse der Einheit oder Fortbildung des geltenden Rechts eröffne32. Selbst wenn klar sei, dass im Falle einer zugelassenen Revision die Auslegung und Gültigkeit der in Rede stehenden Vorschrift des Unionsrechts erheblich wäre und das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen einer zugelassenen Revision diese Frage dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen müsste, und zwar unabhängig davon, dass die Vorschrift längst außer Kraft getreten und auch nicht durch eine gleich oder ähnlich gelagerte Vorschrift ersetzt worden ist, führe das nicht zur Revisionszulassung, da die Verfahrensentscheidung, ob die Revision zuzulassen sei, davon abhänge, ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe, und das sei eben bei ausgelaufenem oder auslaufendem Recht nicht der Fall33. Auch in Bezug auf ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht wendet das Bundesverwaltungsgericht konsequent die anerkannten Ausnahmefälle an. Grundsätzliche Bedeutung ist danach anzunehmen, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage bei den unionsrechtlichen Bestimmungen, die den außer Kraft getretenen Vorschriften nachgefolgt sind, in gleicher Weise stellt. Dies muss jedoch offensichtlich sein34, weil es nicht Aufgabe des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens ist, in diesem Zusammenhang mehr oder weniger komplexe Fragen des jetzt geltenden Rechts zu klä28 BVerwG, NJW 1987, 601; 1988, 664; Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 15; Beschluss vom 05.05.2009 – 3 B 14.09 –, juris, Rn. 6; Eyermann/Kraft (Fußn. 8), § 132 Rn. 20; Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 65; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 13; Pietzner/Buchheister, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 132 (20. Erg.Lfg. 2010) Rn. 49. 29 BVerwG, Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 15; Beschluss vom 05.05.2009 – 3 B 14.09 –, juris, Rn. 6; Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 8. 30 BVerwG, Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 15; Beschluss vom 05.05.2009 – 3 B 14.09 –, juris, Rn. 6. 31 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3; Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 12. 32 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 12. 33 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3. 34 BVerwG, Buchholz 451.511 § 6 MOG Nr. 9, Rn. 9.
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ren und die frühere mit der geltenden Rechtslage zu vergleichen35. Ferner ist eine grundsätzliche Bedeutung zu bejahen, wenn das ausgelaufene Unionsrecht noch für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft von Bedeutung ist36. III. Konsequenzen für die Grundsatzberufung Es ist konsequent, die Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf die Grundsatzberufung zu übertragen. Die Grundsatzberufung erstreckt sich zwar anders als die Grundsatzrevision auch auf Tatsachenfragen von grundsätzlicher Bedeutung37, doch entspricht das Verständnis der Grundsätzlichkeit der Rechtsfrage dem der Vorschrift des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO38. Dementsprechend wird in der Rechtsprechung folgerichtig angenommen, eine Berufungszulassung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO komme bei ausgelaufenem oder auslaufendem Unionsrecht grundsätzlich nicht in Betracht39. Zwar ist im Bereich der Berufungszulassung die praktische Relevanz der Frage, ob ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO hat, dadurch etwas abgemildert, dass über die Berufungszulassungsgründe des ernstlichen Zweifels (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der besonderen rechtlichen Schwierigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) noch weitere, bei der Revisionszulassung nicht zur Verfügung stehende Zulassungsgründe vorhanden sind, die gerade bei Auslegungszweifeln hinsichtlich des Unionsrechts greifen können. Gleichwohl ist auch bei der Berufungszulassung nicht auszuschließen, dass die Frage, ob ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO haben kann, entscheidungsrelevant werden kann. IV. Grundsatzrevision zur Vorlage ausgelaufenen oder auslaufenden Unionsrechts an den Europäischen Gerichtshof Die Auffassung, dass ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht der Rechtssache regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1
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BVerwG, Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 6. BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 13; Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 7. 37 VGH Mannheim, NVwZ 1997, 405 (406); Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 124 Rn. 10; Roth, DÖV 1998, 191 ff.; ders. (Fußn. 2), § 124 Rn. 53. 38 Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 124 Rn. 10; Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 52. 39 OVG Lüneburg, Beschluss vom 20.06.2008 – 8 LA 11/08 –, juris, Rn. 25; VG Aachen, Urteil vom 05.08.2009 – 8 K 339/07 –, juris, Rn. 88; VG Köln, Urteil vom 20.10.2010 – 24 K 7532/08 –, juris, Rn. 92. 36
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VwGO zu verleihen vermag, kann nicht überzeugen. Sie wird den unionsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. 1. Vorlagepflicht letztinstanzlich entscheidender Gerichte Jedes Gericht ist zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet, wenn die Entscheidung auf die Ungültigkeit einer Rechtsnorm oder eines sonstigen Aktes eines Organs der Europäischen Union gestützt werden soll40. Ansonsten sind nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nur letztinstanzlich entscheidende Gerichte zur Vorlage verpflichtet, nämlich wenn die entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts durch den Europäischen Gerichtshof noch nicht beantwortet und in ihrer möglichen Beantwortung nicht unzweifelhaft ist, wenn eine etwaige vorliegende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet hat bzw. eine Fortentwicklung dieser Rechtsprechung nicht nur als entfernte Möglichkeit in Betracht kommt, oder wenn von einer vorliegenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgewichen werden soll41. Wenn eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts noch nicht Gegenstand einer (erschöpfenden) Auslegung des Europäischen Gerichtshofs war und deshalb nicht als „acte ¦clair¦“ angesehen werden kann42, darf nach der acte clair-Doktrin von der Vorlage nur abgesehen werden, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt43. Dabei genügt nicht, dass das innerstaatliche Gericht selbst keine Zweifel über die richtige Auslegung hegt, vielmehr muss es überzeugt sein, dass über die richtige Auslegung auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Europäischen Gerichtshof die gleiche Gewissheit besteht44. Ob diese Möglichkeit besteht, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung (zahlreiche gleichermaßen verbindliche Sprachfassungen, eigenständige Terminologie, Gesamtzusammenhang und Entwicklungsstand 40 EuGH, Slg. 1987, 4199, Rn. 20 – Foto-Frost; Slg. 2005, I-10513, Rn. 17 – Gaston Schul; Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, EVR Rn. 129; Gaitanides, in: von der Groeben/ Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EG Rn. 68. 41 EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 13 – Cilfit; BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198); BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269); Roth, NVwZ 2009, 345 (346). 42 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 21.12.2010 – 1 BvR 3461/08 –, juris, Rn. 8; Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 56. 43 EuGH, Slg. 2005, I-10513, Rn. 16 – Gaston Schul; BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09 –, juris, Rn. 102; BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (289); Geiger/ Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rn. 19; Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 57; Roth, NVwZ 2009, 345; ders. (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a; krit. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 234 EGV Rn. 28. 44 EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – Cilfit; BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269); BGH, NJW 2006, 1978 (1979); Roth, NVwZ 2009, 345 (346 f.).
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des Unionsrechts) sowie der Gefahr divergierender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Europäischen Union zu beurteilen45. Liegen abweichende Entscheidungen von Gerichten anderer Mitgliedstaaten vor, kann nicht mehr von einer Eindeutigkeit ausgegangen werden46. Auch ein Meinungsstreit in der Rechtsprechung oder Literatur spricht gegen die Offenkundigkeit der richtigen Auslegung47. 2. Grundsatzrevision zur Ermöglichung der Vorlage Das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht haben bereits mehrfach entschieden, dass, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht abhängt, die grundsätzliche Bedeutung jedenfalls dann bejaht werden muss, wenn eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht48. Denn das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, da nach Nichtzulassung der Revision keine ordentlichen Rechtsmittel vorgesehen sind (§ 133 Abs. 5 Satz 3 VwGO), bei der Entscheidung über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als letztinstanzliches Gericht und ist daher Adressat der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV. Mit dieser zutreffenden Erkenntnis steht es nicht in Einklang, die grundsätzliche Bedeutung dann zu verneinen, wenn die unionsrechtliche Frage sich auf eine ausgelaufene oder auslaufende Rechtsnorm bezieht. a) Das Bundesverwaltungsgericht hat selbst zutreffend anerkannt, dass die in Art. 267 Abs. 3 AEUV normierte Vorlagepflicht auslaufendes oder ausgelaufenes Unionsrecht nicht ausnimmt49. Vielmehr sind entscheidungserhebliche Auslegungsfragen des Unionsrechts dem Europäischen Gerichtshof auch dann vorzulegen, wenn die unionsrechtliche Rechtsnorm bereits außer Kraft getreten ist. Die Einholung einer Vorabentscheidung kann nicht deshalb unterbleiben, weil die im Raum stehende Vorlagefrage auslaufendes oder ausgelaufenes Unionsrecht betrifft50. Auch in Bezug auf Übergangsvorschriften des Unionsrechts besteht eine Vorlageverpflichtung gemäß den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen51.
45 EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 17 ff. – Cilfit; Slg. 2005, I-8151, Rn. 33 – Intermodal Transports. 46 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2004, 1346 (1347); NJW 2011, 288 (289). 47 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1270); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (189); Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a. 48 BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 611 (612); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2009, 519; BVerwG, NVwZ 1997, 178; 2008, 1115 (1116); Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 132 Rn. 10; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124 Rn. 136. 49 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3; Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 12. 50 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3. 51 Vgl. BVerwGE 126, 74 (95 ff.); BVerwG, Buchholz 442.066 § 150 TKG Nr. 2, Rn. 22 ff.
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Ziel der Vorlagepflicht ist nämlich weniger die Rechtsfortbildung als vielmehr die Wahrung der Rechtseinheit und Rechtsgleichheit innerhalb der Europäischen Union52. Diese aber wird immer beeinträchtigt, wenn Gerichte in Mitgliedstaaten eine unionsrechtliche Vorschrift unterschiedlich auslegen, selbst wenn das nur je einen Fall in verschiedenen Mitgliedstaaten beträfe. Während das Bundesverwaltungsgericht eine nicht absehbare oder zumindest erhebliche Zahl von Fällen fordert, um eine grundsätzliche Bedeutung zu bejahen, soll die Vorlagepflicht verhindern, dass auch nur zwei Fälle in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich entschieden werden. Ferner dient die Vorlageverpflichtung gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV auch der Ermöglichung von Individualrechtsschutz53, eben weil die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht zur letztverbindlichen Auslegung von Unionsrecht befugt sind, diese vielmehr dem Europäischen Gerichtshof vorbehalten ist. Für die Gewährleistung von Individualrechtsschutz kommt es allein auf die Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Vorschrift an, nicht darauf, ob diese noch in Kraft ist. Die Bedeutsamkeit dieses Gesichtspunktes wird besonders in den Fällen deutlich, in denen es um die Frage geht, ob der Mitgliedstaat das Unionsrecht im Verhältnis zu den Bürgern zutreffend umgesetzt hat. Es könnte schwerlich hingenommen werden, wäre der Mitgliedstaat von einer Prüfung und Klärung dieser Frage durch den Europäischen Gerichtshof dadurch befreit, dass das Unionsrecht inzwischen ausgelaufen ist, zumal letzteres womöglich auch darauf zurückzuführen sein kann, dass das behördliche und/oder gerichtliche Verfahren (zu) lange gedauert hat. Dass Gesetzesvorschriften schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit geändert werden, ist im Unionsrecht genauso wenig ungewöhnlich wie im innerstaatlichen Recht. Es ist deshalb kein seltener Ausnahmefall, dass, bis etwa Richtlinienbestimmungen in innerstaatliches Recht umgesetzt und über die behördlichen und gerichtlichen Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht gelangt sind, die zugrunde liegende unionsrechtliche Vorschrift bereits geändert worden ist. Die innerstaatliche Verfahrensdauer, die oftmals von den Verfahrensbeteiligten nicht oder nur eingeschränkt beeinflusst werden kann, darf nicht mit dem Argument, mittlerweile sei die unionsrechtliche Vorschrift aufgehoben oder geändert worden bzw. ihr Außerkrafttreten stehe bevor, zu einer prozessualen Aushöhlung der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV führen. Andernfalls hinge die Vorlagepflicht davon ab, wie lange das – innerstaatliche – behördliche und gerichtliche Verfahren dauert. b) Entfällt hiernach aber die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht deshalb, weil es sich um ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht handelt, 52 EuGH, Slg. 1977, 957 (972), Rn. 5 – Hoffmann-La Roche; Slg. 2005, I-10513, Rn. 21 – Gaston Schul; Czybulka (Fußn. 7), § 132 Rn. 18; Ehricke, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 234 EGV Rn. 4; Gaitanides (Fußn. 40), Art. 234 EG Rn. 7 ff.; Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 2; Wegener (Fußn. 43), Art. 234 EGV Rn. 1. 53 EuGH, Slg. 2003, I-10239, Rn. 35 – Köbler; Dörr (Fußn. 40), EVR Rn. 110; Ehricke (Fußn. 52), Art. 234 EGV Rn. 6; Gaitanides (Fußn. 40), Art. 234 EG Rn. 12 f.; Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 3; Wegener (Fußn. 43), Art. 234 EGV Rn. 1.
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dann darf die Revisionszulassung nicht mit Erwägungen abgelehnt werden, die sich allein auf deutsches Prozessrecht beziehen, mit den unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 267 Abs. 3 AEUV jedoch nicht in Einklang stehen. Auch das Prozessrecht bedarf einer unionsrechtskonformen Auslegung und Anwendung. Nach Art. 4 Abs. 3 EUV (= ex-Art. 10 EGV) ergreifen die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen ergeben. Hiernach dürfen zum einen die Modalitäten für Klagen zur Durchsetzung unionsrechtlicher Rechte nicht ungünstiger sein als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen (Grundsatz der Äquivalenz oder Gleichwertigkeit). Zum anderen müssen nationale Verfahrens- und Prozessvorschriften so ausgestaltet und ausgelegt werden, dass die Tragweite und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (Grundsatz der Effektivität)54. Es widerspricht diesem Effektivitätsgrundsatz, die Erfüllung der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV mit der Begründung zu versagen, das deutsche Prozessrecht sehe dies nicht vor. Die unionsrechtliche Vorlageverpflichtung hängt nicht von der Ausgestaltung der Revisionszulassungsgründe nach deutschem Verwaltungsprozessrecht ab. Es ist daher nicht zulässig, diese so auszulegen und anzuwenden, dass die Vorlageverpflichtung ins Leere läuft. Dem kann nicht entgegengehalten werden, die Tatsache, dass die in Art. 267 Abs. 3 AEUV normierte Vorlagepflicht auslaufendes oder ausgelaufenes Unionsrecht nicht ausnimmt, ändere nichts daran, dass der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die erst erstrebte Grundsatzrevision regelmäßig nur zukunftsorientiert im Interesse der Einheit oder Fortbildung des geltenden Rechts eröffne55 und das nationale Recht es nun einmal allein als erheblich ansehe, ob die Klärung einer Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren zur Fortentwicklung des Rechts beitragen kann oder ob die Rechtsfrage eben auslaufendes oder ausgelaufenes Recht betrifft56. Dass der Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die erst erstrebte Grundsatzrevision regelmäßig nur zukunftsorientiert im Interesse der Einheit oder Fortbildung des geltenden Rechts eröffnet, mag nach deutschem Prozessverständnis zutreffen. Aber dies wird von der unionsrechtlichen Vorlageverpflichtung überlagert. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO muss – und kann – unionsrechtskonform ausgelegt werden, und nicht umgekehrt richtet sich die unionsrechtliche Vorlageverpflichtung nach deutschem Prozessrecht. Wenn nach dem Unionsrecht eine Vorlageverpflichtung auch dann besteht, wenn es um ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht geht, dann muss das deutsche Prozessrecht so gehandhabt werden, dass diese Verpflichtung erfüllt werden kann. 54 EuGH, Slg. 2000, I-3201, Rn. 31 – Preston; Slg. 2006, I-2585, Rn. 22 – Kapferer; v. Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 41. Erg.Lfg. 2010, Art. 4 EUV Rn. 79 ff.; Geiger/Khan/Kotzur (Fußn. 43), Art. 4 EUV Rn. 39; Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 10 EGV Rn. 31, 44. 55 BVerwG, Buchholz 442.066 § 24 TKG Nr. 4, Rn. 12. 56 BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3.
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Da aus Gründen der unionsrechtskonformen Auslegung der Zulassungsgründe sowie zur Gewährleistung des Europäischen Gerichtshofs als gesetzlicher Richter eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO angenommen werden muss, wenn im Revisionsverfahren eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Betracht kommt, kann folglich im Rahmen des Zulassungsgrundes des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Frage, ob die unionsrechtliche Rechtsnorm ausgelaufenes oder auslaufendes Recht darstellt, keine Rolle spielen. Wenn der Europäische Gerichtshof keine Hinderungsgründe sieht, Vorlagefragen zu ausgelaufenem oder auslaufendem Unionsrecht zu beantworten, dann sollte auch das Bundesverwaltungsgericht keine Hinderungsgründe sehen, die Revision in solchen Fälle zuzulassen, um die betreffenden unionsrechtlichen Rechtsfragen dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen zu können. c) Die restriktive Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts kann auch nicht mit der Überlegung kompensiert werden, dass mit der Verneinung der grundsätzlichen Bedeutung bei ausgelaufenem oder auslaufendem Unionsrecht als Revisionszulassungsgrund womöglich das Oberverwaltungsgericht zu dem im Verfahren konkret letztinstanzlich entscheidenden Gericht würde und hiernach selbst der Vorlagepflicht unterfiele57, so dass die Nichtvorlage durch das Oberverwaltungsgericht als Verfahrensfehler der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 138 Nr. 1 VwGO) gerügt werden könnte58. Zweifellos verdient der Appell Zustimmung, das Oberverwaltungsgericht möge, wenn es die Entscheidungserheblichkeit ausgelaufenen oder auslaufenden Unionsrechts erkennt, von seiner Vorlagebefugnis gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV Gebrauch machen und nicht darauf warten, dass das Bundesverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht die Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfüllen muss. Indessen kann der Verweis darauf, die Nichtvorlage der Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof durch das Oberverwaltungsgericht als Verfahrensmangel der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter geltend zu machen, schon im Ausgangspunkt nicht greifen. Er taugt daher nicht als Argument gegen eine Verpflichtung, zur Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens die Revision zuzulassen. Die vom Bundesverwaltungsgericht aufgeworfene, aber nicht näher untersuchte Frage, „ob in derartigen Fällen dann das Berufungsgericht als letztinstanzliches Gericht im Sinne von [Art. 267 Abs. 3 AEUV] anzusehen ist“59, ist nämlich zu verneinen60. Das Oberverwaltungsgericht kann nicht dadurch zu einem letztinstanzlichen Gericht gemacht werden, dass die Grundsätzlichkeit ausgelaufenen oder auslaufenden Unionsrechts verneint wird. Abgesehen davon, dass die Revisionszulassungsgründe 57 58 59 60
BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3. In diese Richtung aber BVerwG, Beschluss vom 27.10.2010 – 5 B 18.10 –, juris, Rn. 10. BVerwG, Beschluss vom 08.10.2007 – 3 B 16.07 –, juris, Rn. 3. BVerwG, Beschluss vom 12.10.2010 – 7 B 22.10 –, juris, Rn. 9.
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der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) unabhängig von der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind und schon deshalb das Oberverwaltungsgericht bei Erlass seines Berufungsurteils kein Gericht ist, „dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“ (Art. 267 Abs. 3 AEUV), liefe der Versuch, das Oberverwaltungsgericht durch restriktive Fassung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung zu einem letztinstanzlichen Gericht zu machen, geradewegs auf einen Zirkel hinaus: Angenommen, das Oberverwaltungsgericht wäre, weil die Grundsatzrevision wegen ausgelaufenen oder auslaufenden Unionsrechts nicht eröffnet wäre, ein letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUVund deshalb zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof verpflichtet; dann würde es diese Pflicht mit der Nichtvorlage verletzen und dadurch die Beteiligten dem gesetzlichen Richter entziehen; dann wäre dieser Verfahrensmangel mit der Verfahrensrevision (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) anfechtbar – was aber gerade der Prämisse widerspricht, das Oberverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht zu betrachten. Ist das Berufungsurteil mit der Verfahrensrevision angreifbar, dann ist das Oberverwaltungsgericht kein letztinstanzlich entscheidendes Gericht und liegen folglich die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht vor. Unterliegt aber das Oberverwaltungsgericht keiner Vorlagepflicht, kann die Nichtvorlage keinen Verfahrensmangel begründen61. Diesem Zirkel ist nur zu entgehen, wenn nicht das Oberverwaltungsgericht, sondern das Bundesverwaltungsgericht als letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUVangesehen wird. Das Oberverwaltungsgericht ist allein bei seiner Entscheidung über die Berufungszulassung (§ 124 Abs. 1, § 124a Abs. 5 Satz 1 VwGO) letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV, weil die Nichtzulassung der Berufung mit keinerlei ordentlichem Rechtsmittel mehr angefochten werden kann (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO); deshalb muss das Oberverwaltungsgericht die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zulassen, wenn die aufgeworfene Frage die Auslegung von Unionsrecht betrifft und sich für das letztinstanzliche Gericht deswegen voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen62. Bei Erlass eines Berufungsurteils hingegen entscheidet das Oberverwaltungsgericht nicht als letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV63. Letztinstanzlich entscheidendes Gericht ist vielmehr das Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. 61 BVerwG, NJW 1987, 601; Beschluss vom 03.12.2008 – 9 B 36.08 –, juris, Rn. 5; Beschluss vom 12.10.2010 – 7 B 22.10 –, juris, Rn. 9. 62 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2009, 519; BVerwG, NVwZ 1997, 178; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 124 Rn. 10; Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a. 63 BVerwG, NJW 1987, 601; NVwZ 1993, 770; OVG Magdeburg, Urteil vom 24.11.2010 – 3 L 36/08 –, juris, Rn. 184; Dörr (Fußn. 40), EVR Rn. 126; Gaitanides (Fußn. 40), Art. 234 EG Rn. 64.
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d) Als letztinstanzliches Gericht unterliegt das Bundesverwaltungsgericht der Vorlageverpflichtung gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV, die von Unionsrechts wegen nicht deshalb entfällt, weil die dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegende Rechtsfrage sich auf ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht bezieht. Da eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht in Betracht kommt, muss folglich das Bundesverwaltungsgericht die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zulassen, wenn im Revisionsverfahren eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV hinsichtlich der ausgelaufenen oder auslaufenden unionsrechtlichen Vorschrift bestehen wird. V. Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle einer Vorlagepflichtverletzung durch Nichtzulassung der Revision Wird die Revision entscheidungstragend deshalb nicht zugelassen, weil sich die Rechtsfrage auf ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht bezieht, so verletzt dies nicht nur Art. 267 Abs. 3 AEUV, sondern als Folge dessen zugleich auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil dem Beschwerdeführer hierdurch der Europäische Gerichtshof als gesetzlicher Richter entzogen wird. Eine solcherart begründete Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde wäre daher auf Verfassungsbeschwerde aufzuheben. 1. Verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab Das Bundesverfassungsgericht beschränkt seine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Vorlagepflichtverletzungen auf offensichtliche Verstöße64. Nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht stellt zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar; ein solcher Verstoß liegt nur vor, wenn Auslegung und Handhabung der Zuständigkeitsnorm des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind65. 2. Offensichtlicher Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV bei Nichtvorlage wegen Auslaufens des Unionsrechts Indessen stellt es einen offensichtlichen Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUVund damit auch gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar, die Revision deshalb nicht zuzulas64 BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427); Beschluss vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09 –, juris, Rn. 103; BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); NVwZ-RR 2008, 658 (659); BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269). 65 BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09 –, juris, Rn. 103; BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 08.07.2010 – 2 BvR 520/07 –, juris, Rn. 16; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 10.11.2010 – 1 BvR 2065/10 –, juris, Rn. 23.
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sen – und folglich keine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof vorzunehmen –, weil es um ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht geht. Eine solcherart begründete Nichtzulassungsentscheidung unterliegt daher ohne weiteres der verfassungsgerichtlichen Aufhebung. Hinsichtlich der im Verfassungsbeschwerdeverfahren inzident zu prüfenden Vorfrage66, ob in dem vom Nichtzulassungsbeschwerdeführer angestrebten Revisionsverfahren eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV geboten sein wird, sind die verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstäbe im Fluss. Das Bundesverfassungsgericht geht in der überwiegenden Zahl seiner Entscheidungen davon aus, aufgrund der Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Vorlagepflichtverletzungen auf offensichtliche Verstöße sei ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG schon dann zu verneinen, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht die durch den Europäischen Gerichtshof noch nicht geklärte entscheidungserhebliche unionsrechtliche Rechtsfrage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat67, sofern eine tragfähige Würdigung der unionsrechtlichen Aspekte vorliegt68. Dies greift jedoch zu kurz69. Für die verfassungsgerichtliche Prüfung der Vorlagepflichtverletzung kommt es nicht auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der prozessualen Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV70. Nach der acte clair-Doktrin des Europäischen Gerichtshofs (oben IV.1.) darf indes die Vorlage nur unterbleiben, wenn die richtige Beantwortung der unionsrechtlichen Rechtsfrage offenkundig und zweifelsfrei ist; die Vertretbarkeit der vom Gericht des Mitgliedstaates gefundenen materiellrechtlichen Auslegung lässt die prozessuale Vorlagepflicht unionsrechtlich nicht entfallen. Von der Vorlage schon deshalb abzusehen, weil die Auslegung der unionsrechtlichen Rechtsvorschrift vertretbar ist, stellt folglich eine offensichtlich unrichtige Anwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV dar und muss infolgedessen als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter angesehen werden71. Einige jüngere Kammerent66 Zu dieser Inzidentprüfung vgl. etwa BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschluss vom 10.11.2010 – 1 BvR 2065/10 –, juris, Rn. 24 ff. 67 BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198); BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2008, 780 (781); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2009, 519 (520); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 08.07.2010 – 2 BvR 520/07 –, juris, Rn. 18 f. 68 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2009, 519 (520); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (289); CR 2011, 85. 69 Eingehend hierzu Roth, NVwZ 2009, 345 ff.; ferner Karpenstein (Fußn. 25), Art. 234 EGV Rn. 68, 70; Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a.1. 70 BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09 –, juris, Rn. 104; BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (289); CR 2011, 85; Beschluss vom 10.11.2010 – 1 BvR 2065/10 –, juris, Rn. 23; Roth (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a.1. 71 Roth, NVwZ 2009, 345 (350); ders. (Fußn. 2), § 124 Rn. 57a.1.
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scheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben sich dieser Auffassung angeschlossen72. Der in einer neueren Senatsentscheidung gebrauchte Maßstab, eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV könne ohne Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unterbleiben, wenn das letztinstanzliche Gericht „im Ergebnis vertretbar davon ausgehen“ kann, dass die richtige Auslegung des Unionsrechts „offenkundig“ ist, wenn das letztinstanzliche Gericht also „das Ergebnis in vertretbarer Weise für so eindeutig gehalten [hat], dass eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV unterbleiben konnte“73, genügt den unionsrechtlichen Vorgaben nicht. Von einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV darf nur abgesehen werden, wenn die Auslegungsfrage im Sinne der acte clair-Doktrin tatsächlich offenkundig ist. Es genügt nicht, dass eine „Offenkundigkeit“ nur in vertretbarer Weise angenommen werden kann. Wird das Ergebnis lediglich „in vertretbarer Weise“ für offenkundig gehalten, so deutet dies darauf hin, dass es wohl auch „vertretbar“ wäre, das Ergebnis nicht für offenkundig zu halten. Wenn das Vorliegen von „Offenkundigkeit“ aber nicht offenkundig, sondern nur „vertretbar“ ist, dann liegt überhaupt keine „Offenkundigkeit“ vor. Infolgedessen sind die Voraussetzungen von acte clair nicht erfüllt, mit der Konsequenz, dass die Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof unvertretbar ist und die Prozessbeteiligten hierdurch in willkürlicher Weise ihrem gesetzlichen Richter entzogen werden. Offenkundig ist in einem solchen Fall lediglich der Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUVund damit auch gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. VI. Ergebnis Das Bundesverwaltungsgericht muss, wenn in der Nichtzulassungsbeschwerde als eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung eine Frage des Unionsrechts dargelegt wird, prüfen, ob diese Frage durch eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof klärungsbedürftig ist oder ob es sich um einen acte clair handelt, bei dem eine solche Vorlage unter den vom Europäischen Gerichtshof dargelegten einschränkenden Voraussetzungen unterbleiben darf. Liegt kein acte clair vor und besteht daher im Revisionsverfahren eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV, so muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage bejaht und die Revision nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen werden, um sodann im Revisionsverfahren der Vorlagepflicht genügen zu können. Verstöße hiergegen sind als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Entsprechendes gilt für die Berufungszulassung, die nicht versagt werden darf, wenn in einem späteren Verfahrensstadium eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehen wird. Ob es sich um ausgelaufenes oder auslaufendes Unionsrecht handelt, spielt bei alledem keine Rolle, da dies auch für das Bestehen der Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV irrelevant ist. 72 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288; CR 2011, 85. 73 BVerfG, Beschluss vom 25.01.2011 – 1 BvR 1741/09 –, juris, Rn. 110.
Kontingentierung von Nutzungsmöglichkeiten im Baurecht – insbesondere für Einzelhandelsbetriebe Von Bernd Schieferdecker I. Einleitung Das Bauplanungsrecht wird in eigenwilligem Gegensatz zum vorgelagerten Raumordnungsrecht durch Typenstrenge und das Prinzip der enumerativen Einzelermächtigungen beherrscht. Der planenden Gemeinde steht zwar ein weiter planerischer Gestaltungsspielraum zu, sie kann und muss vieles abwägen, sie muss ihre Planung aber in die Form gießen, die §§ 9, 9a BauGB i.V.m. der BauNVO vorgeben. Ein Festsetzungserfindungsrecht steht der Gemeinde nicht zu.1 Sie muss sich der Festsetzungsmöglichkeiten bedienen, die das Gesetz bereit hält. Lässt sich eine Festsetzung im Bebauungsplan nicht auf den gesetzlichen Ermächtigungskatalog stützen, ist sie rechtswidrig und nichtig. Das Sondergebiet des § 11 BauNVO eröffnet den Gemeinden einen Ausweg aus Typenzwang und Festsetzungskatalog. Sie nutzen dieses Mittel bei der Steuerung des großflächigen Einzelhandels, einem Gebiet, auf dem sich der Jubilar bereits früh rechtswissenschaftlich betätigt hat.2 „Steuerung“ bedeutet in der Praxis Ausschluss oder fein dosierte Zulassung durch maßgeschneiderte Festsetzungen. Wie die neuere Rechtsprechung des BVerwG zu Verkaufsflächenobergrenzen zeigt, bestehen jedoch auch im Sondergebiet rechtliche Grenzen. Der vorliegende Beitrag greift diese Rechtsprechung auf und untersucht, ob und in welchem Umfang eine Nutzungskontingentierung durch Bebauungsplanfestsetzung zulässig ist. Wenn im Folgenden von Nutzungskontingentierung gesprochen wird, bedarf zunächst der Begriff des Nutzungskontingents der Präzisierung. Das Bauplanungsrecht ermöglicht und begrenzt bauliche Nutzungen. Durch die Begrenzung des räumlichen Geltungsbereichs bzw. der eingeschlossenen Grundstücke und durch Festlegung von Art und Maß der Nutzung legt die Gemeinde fest, welche Bebauung auf den einzelnen Grundstücken zulässig sein soll.3 Jeder Grundstückseigentümer kann diese Bebauung 1
BVerwGE 92, 56; OVG Koblenz, Urt. v. 21.01.2011 – 8 C 10850/10 – juris, Rn. 28. Schenke, UPR 1986, 281 ff.; DÖV 1988, 233 ff.; NVwZ 1989, 632 ff.; vgl. auch WiVerw 1990, 226 ff. und die von Schenke betreute Dissertation von Kopf, Rechtsfragen bei der Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten, Berlin 2002. 3 Vgl. VGH Mannheim, BRS 74 Nr. 78 zu Verkaufsflächenbeschränkungen mit Hilfe eines der von § 16 Abs. 2 BauNVO zugelassenen Parameter (Grundfläche, Geschossfläche). 2
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unabhängig vom Verhalten anderer Bauwilliger verwirklichen. Hierin liegt der Unterschied zum Nutzungskontingent, das ein Grundstückseigentümer nur nutzen kann, wenn es noch nicht erschöpft ist. Das Kontingent kann von vielen Bauwilligen in Anspruch genommen werden, reicht jedoch nicht zur Befriedigung aller Bauwünsche aus. Können beispielsweise in einem Sondergebiet 10.000 m2 Geschossfläche errichtet werden, sind jedoch insgesamt nur 1.500 m2 Verkaufsfläche zulässig, könnte dieses Kontingent durch den ersten Bauwilligen verbraucht werden, der einen Lebensmittelmarkt errichtet. Andere Einzelhandelsnutzungen wären im Gebiet nicht mehr zulässig. Im Rahmen dieses Beitrags kann und soll nur auf Nutzungskontingente eingegangen werden, die durch Bebauungsplan geschaffen werden. Vergleichbare Probleme bestehen jedoch auch auf höheren Planungsebenen, insbesondere in Bezug auf Einzelhandelsregelungen der Regionalpläne. Fragen der Nutzungskontingentierung stellen sich in der Praxis oft, aber nicht nur bei Einzelhandelsbetrieben. Eine Kontingentierung liegt z. B. auch vor, wenn die Zahl der möglichen Windenergieanlagen, Vergnügungsstätten, Gaststätten, Mobilfunkanlagen oder Betriebswohnungen begrenzt wird. II. Nutzungskontingentierung in den typisierten Baugebieten (§§ 2 – 9 BauNVO) 1. Gebietsbezogenes Nutzungskontingent a) Verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorfragen Die Gemeinde kann ein gebietsbezogenes Nutzungskontingent durch Bebauungsplan nur festsetzen, wenn hierfür eine verfassungsgemäße4 und europarechtskonforme gesetzliche Ermächtigung besteht. Zweifel an der Europarechtskonformität gesetzlicher Nutzungskontingente ergeben sich aus dem Urteil des EuGH vom 24. 03. 2011 zu Einzelhandelsregelungen in der Autonomen Gemeinschaft Katalonien.5 Diese Regelungen wirkten sich als regionales Verkaufsflächenkontingent und Beschränkung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) aus. Der EuGH führt zur ersten Rüge der Kommission aus, Regelungen zur Beschränkung großer Einzelhandelseinrichtungen hinsichtlich Standort und Größe seien zwar ein geeignetes Mittel, um die vom Königreich Spanien genannten Ziele der Raumordnung und des Umweltschutzes6 zu erreichen.7 Jedoch seien im Jahr 2009 in 37 von 41 4
Zu den verfassungsrechtlichen Schranken z. B. BVerwG, ZfBR 2011, 255, 257 f. und ausführlich Schenke, WiVerw 1990, 226 ff. 5 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris. 6 Das Königreich Spanien hatte zu den angegriffenen Einzelhandelsregelungen angeführt, sie sollten „umweltbelastende Autofahrten vermeiden, dem innerstädtischen Verfall entge-
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Bezirken der Autonomen Gemeinschaft Katalonien weitere große Einzelhandelseinrichtungen ausgeschlossen gewesen. In den verbleibenden vier Bezirken durften auf neue Verbrauchermärkte nicht mehr als 7 – 9 % bestimmter Verbraucherausgaben entfallen und ihre höchstzulässige Verkaufsfläche war auf insgesamt 23.667 m2 begrenzt. Diese Regelungen schränkten insgesamt gesehen die Möglichkeit zur Eröffnung großer Einzelhandelseinrichtungen „spürbar“ (schwerwiegend) ein.8 Unter diesen Umständen müsse ein Mitgliedstaat eine Untersuchung zur Zweckmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen und genaue Tatsachen zur Stützung seines Vorbringens anführen. Das Königreich Spanien habe nicht hinreichend erläutert, weshalb die fraglichen Beschränkungen zur Erreichung der angestrebten Ziele erforderlich seien. Die erlassenen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit seien daher nicht gerechtfertigt.9 Die zweite Rüge der Kommission richtete sich gegen die Vorgabe, dass vor Erteilung einer Erlaubnis für große Einzelhandelsbetriebe die Ausstattung des betreffenden Gebiets mit Einzelhandelseinrichtungen und die Auswirkungen einer neuen Ansiedlung auf die Einzelhandelsstruktur dieses Gebiets zu berücksichtigen waren. Der EuGH führt aus, auch diese Bestimmungen schrieben Obergrenzen für die Ansiedlungsdichte und die Auswirkungen auf den bestehenden Einzelhandel vor. Sie dienten nicht dem Verbraucherschutz. Vielmehr handele es sich um rein wirtschaftliche Erwägungen, die nach der Rechsprechung des Gerichtshofs keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellten und daher eine Einschränkung der Niederlassungsfreiheit nicht rechtfertigen könnten.10 Diese Aussage überrascht. Der EuGH betrachtet die Auswirkungen einer neuen Ansiedlung auf die vorhandene Einzelhandelsstruktur nur unter dem Gesichtspunkt einer wirtschaftlichen Bedarfsprüfung oder des Konkurrenzschutzes. Da jedoch jede Planung mittelbar Einfluss auf das Wettbewerbsgeschehen hat, kann es nur darauf ankommen, ob die eigentliche planerische Zielsetzung von städtebaulichen Gründen getragen ist.11 Solche Gründe hatte das Königreich Spanien angeführt. Der EuGH hat diese Gründe im Rahmen der ersten Rüge akzeptiert; es fehlte nur am Nachweis der Erforderlichkeit. Ebenso hätte der EuGH bei der zweiten Rüge entscheiden müssen.12
genwirken, ein umweltgerechtes Stadtmodell erhalten, den Bau neuer Straßen vermeiden und den Zugang zu diesen Einrichtungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln sicherstellen“ (EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 78). 7 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 80; ebenso BVerwG, ZfBR 2011, 255, 259. 8 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 82. 9 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 84 f. 10 EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 95 – 98. 11 So BVerwGE 131, 86, Rn. 22 m. w. Nachw. 12 Unklar Schröer/Kullick, NZBau 2011, 349, 351, die zwar ebenfalls eine Berücksichtigung der vorhandenen Versorgungsstruktur für möglich halten, aber gleichwohl eine Marktöffnung durch Befristung von Genehmigungen erwägen.
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In Bezug auf die Frage der Erforderlichkeit hat sich das BVerwG in seiner IKEA Rastatt-Entscheidung mit dem Hinweis begnügt, das Raumordnungsrecht stelle zu dem streitgegenständlichen Kongruenzgebot keine mildere Alternative zur Verfügung und die Verhältnismäßigkeit sei durch die Möglichkeit eines Zielabweichungsverfahrens gewährleistet.13 Entscheidend ist jedoch nicht, ob das geltende Recht mildere Alternativen zur Verfügung stellt, sondern ob der Verzicht auf mildere Alternativen erforderlich ist. Jedenfalls bei schwerwiegenden Einschränkungen (solche werden in der Regel bei einer Kontingentierung vorliegen) muss deren Erforderlichkeit nachgewiesen werden. Ob an den geforderten Nachweis der Erforderlichkeit aufgrund der Vorgaben des Europarechts hohe Anforderungen zu stellen sind, lässt sich dem Urteil des EuGH vom 24. 03. 2011 nicht eindeutig entnehmen.14 Daher ist auch zweifelhaft, ob diese Anforderungen jenen entsprechen, die nach dem Abwägungsgebot beim Erlass von Bebauungsplänen bereits nach nationalem Recht zu beachten sind.15 b) Keine gesetzliche Ermächtigung in § 9 Abs. 1 BauGB Aus dem Katalog des § 9 Abs. 1 BauGB ergibt sich keine Ermächtigung zur Festsetzung von Nutzungskontingenten. Die hier vorgesehenen Festsetzungsmöglichkeiten betreffen Baugrundstücke und Anlagen. Eine gebietsbezogene Kontingentierung über mehrere Baugrundstücke hinweg sieht § 9 Abs. 1 BauGB nicht vor. Dies zeigt beispielsweise § 9 Abs. 1 Nr. 6 BauGB, der die Festsetzung einer höchstzulässigen Zahl der Wohnungen in Wohngebäuden zulässt, nicht aber die Festsetzung einer Höchstzahl für das gesamte Baugebiet. c) Keine gesetzliche Ermächtigung in § 1 Abs. 5 ff. BauGB Zur Festlegung der Art der baulichen Nutzung können im Bebauungsplan die in § 1 Abs. 2 bezeichneten Baugebiete festgesetzt werden. Die Bestimmungen der typisierten Baugebiete in §§ 2 bis 9 BauGB sehen ebenfalls keine gebietsbezogene Nutzungskontingentierung vor. Wenn im Einzelfall eine zahlenmäßige Beschränkung vorgesehen ist, bezieht sich diese wie z. B. in § 2 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO nur auf das jeweilige Wohngebäude und damit auf das Baugrundstück, nicht das Baugebiet. Abweichungen von den Gebietstypen der §§ 2 bis 9 BauNVO sind nur im Rahmen des § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO zulässig. Auch diese Bestimmungen lassen jedoch die Festsetzung eines gebietsbezogenen Nutzungskontingents nicht zu. Nach § 1 Abs. 5 BauNVO kann nur festgesetzt werden, dass bestimmte Arten von Nutzungen nicht 13
BVerwG, ZfBR 2011, 255, 259; vgl. auch VGH Mannheim, VBlBW 2010, 357. EuGH, Urt. v. 24. 03. 2011 – C-400/08 – juris, Rn. 83 f.: Der Mitgliedstaat müsse „eine Untersuchung […] vorlegen sowie genaue […] Tatsachen anführen“, Spanien habe „keine hinreichenden Gesichtspunkte vorgetragen“. 15 Dies nehmen im Grundsatz Schröer/Kullick, NZBau 2011, 349, 351 an. 14
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zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können. § 1 Abs. 7 BauNVO erlaubt eine weitergehende räumliche Feinsteuerung. § 1 Abs. 9 BauNVO gestattet eine Differenzierung nach bestimmten Arten von Anlagen.16 § 1 Abs. 10 BauNVO gibt der Gemeine schließlich die Möglichkeit, Festsetzungen über zulässige Änderungen von Bestandsanlagen zu treffen. Dieses Instrumentarium der planerischen Feinsteuerung erlaubt eine Differenzierung nach räumlichen und anlagespezifischen Kriterien, ist aber ebenso wie § 1 Abs. 5 BauNVO darauf ausgerichtet, bestimmte Anlagen oder Nutzungen für zulässig, unzulässig oder ausnahmsweise zulässig zu erklären. Nach der Normstruktur des § 1 BauNVO kann die Zulässigkeit einer Nutzungsart oder Anlage jedoch nicht vom Bestehen eines Bedarfs, der Ausschöpfung eines Kontingents oder von anderen Kriterien abhängig gemacht werden. Eine vorhabenunabhängige Kontingentierung von Nutzungsoptionen ist der Baunutzungsverordnung grundsätzlich fremd.17 d) Keine gesetzliche Ermächtigung in §§ 16 ff. BauNVO Eine gebietsbezogene Verkaufsflächenbeschränkung ist auch keine zulässige Bestimmung des Maßes der baulichen Nutzung. Sie wird nicht mit Hilfe der von § 16 Abs. 2 BauNVO zugelassenen Parameter, insbesondere der Grundfläche oder der Geschossfläche, vorgenommen.18 Auch die vom BVerwG in Sondergebieten19 für zulässig angesehene Verhältniszahl für die zulässige Verkaufsfläche je Quadratmeter Grundfläche kann in den typisierten Baugebieten mangels Rechtsgrundlage nicht festgesetzt werden. § 16 BauNVO berechtigt nur zur Festsetzung einer Grundflächenzahl oder Geschossflächenzahl, nicht aber zur Festsetzung einer „Verkaufsflächenzahl“. § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO lassen die Festlegung einer Verkaufsflächenquote ebenfalls nicht zu.20 Für ein Mischgebiet hat das BVerwG entschieden, es sei unzulässig, den Wohnnutzungsanteil auf einen bestimmten Prozentsatz der Geschossfläche zu beschränken.21 Entsprechendes gilt für andere Formen der Nutzungsquotierung. 16 BVerwGE 77, 317, 322: Die Begrenzung der höchstzulässigen Verkaufsfläche trage die Umschreibung eines Typs von baulicher Anlage nicht gleichsam in sich selbst. Vielmehr müsse die Gemeinde darlegen, warum Betriebe unter bzw. über einer bestimmten Größe generell oder doch jedenfalls unter Berücksichtigung der besonderen örtlichen Verhältnisse eine bestimmte Art von baulichen Anlagen darstellten. 17 BVerwGE 131, 86, Rn. 15 – 17, vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1994, 138; OVG Münster, UPR 1993, 152; Birk, VBlBW 1988, 281, 286; Schenke, DÖV 1988, 233, 243; Kopf, Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten (Fn. 2), S. 158; Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1824; Reidt, UPR 2009, 1, 2. 18 BVerwGE 131, 86, Rn. 14. 19 Siehe BVerwGE 131, 86, Rn. 16 und unten III. 3. 20 Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn gerade durch die Verkaufsflächenquote ein bestimmter Anlagentyp im Sinne des § 1 Abs. 9 BauNVO definiert werden kann. 21 BVerwG, NVwZ-RR 1991, 455, 456.
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e) Gesetzliche Ermächtigung in § 9 Abs. 2 BauGB Soweit ersichtlich wurde bislang in Rechtsprechung und Literatur nicht erörtert, ob sich die erforderliche Rechtsgrundlage für die Festsetzung eines Kontingents aus § 9 Abs. 2 BauGB ergeben kann. Nach dieser Vorschrift kann im Bebauungsplan in besonderen Fällen festgesetzt werden, dass bestimmte der im Bebauungsplan festgesetzten baulichen und sonstigen Nutzungen und Anlagen nur für einen bestimmten Zeitraum zulässig oder bis zum Eintritt bestimmter Umstände zulässig oder unzulässig sind (sogenanntes Baurecht auf Zeit).22 Unter den genannten Voraussetzungen ist es zulässig, eine Bebauungsplanfestsetzung mit einer aufschiebenden oder auflösenden Bedingung zu versehen, die bei Bedingungseintritt zum Inkrafttreten oder zum Wegfall der Festsetzung führt. Das Wesen des Nutzungskontingents besteht darin, dass bestimmte Nutzungen bis zur Erschöpfung des Kontingents zulässig und nach Erschöpfung nicht mehr zulässig sind. Durch eine Bedingung kann diese Rechtswirkung herbeigeführt werden. Im Folgenden wird am Beispiel von Einzelhandelsbetrieben untersucht, ob und gegebenenfalls in welcher Weise eine gebietsbezogene Verkaufsflächenobergrenze von z. B. 10.000 m2 Verkaufsfläche durch auflösende oder aufschiebende Bedingungen festgesetzt werden kann: aa) Besondere Fälle Baurecht auf Zeit soll nur „in besonderen Fällen“ zur Anwendung kommen. Die Festsetzungsmöglichkeit ist auf spezifische Planungskonstellationen, die diese Lösung erfordern, beschränkt. Nutzungskontingente dürfen somit, soweit sie überhaupt auf § 9 Abs. 2 BauGB gestützt werden können, nicht zum Regelfall werden.23 bb) Bestimmte im Bebauungsplan festgesetzte bauliche Nutzungen und Anlagen Eine Bedingung nach § 9 Abs. 2 BauGB muss sich auf eine Festsetzung des Bebauungsplans über die Zulässigkeit bestimmter baulicher und sonstiger Nutzungen und Anlagen beziehen.24 Der Anwendungsbereich ist weit. Wie die Begriffe Nutzungen und Anlagen zeigen, sind jedenfalls alle Festsetzungsmöglichkeiten des § 9 Abs. 1 BauGB25 und alle Möglichkeiten zur Feinsteuerung nach § 1 Abs. 4 ff. BauNVO erfasst.26 22
Siehe Schieferdecker, BauR 2005, 320 ff. Vgl. OVG Magdeburg, Urt. v. 17.02.2011 – 2 K 102/09 – juris, Rn. 54; Berkemann, in: Berkemann/Halama, Erstkommentierungen zum BauGB 2004, 2005, § 9 Rn. 41; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Kommentar, Loseblatt, § 9 BauGB Rn. 240 p; Schrödter, in: Schrödter, BauGB, Kommentar, 7. Aufl. 2006, § 9 Rn. 171 d. 24 Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, Kommentar, 11. Aufl. 2009, § 9 Rn. 98 h. 25 Vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.12.2010 – 4 BN 24/10 – juris, Rn. 4 f.; VGH München, Urt. v. 29.03.2010 – 1 N 07.767 – juris, Rn. 30. 23
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Regelungstechnisch ist zu beachten, dass der Bedingungseintritt zum Wegfall der Zulässigkeit von Einzelhandel führen soll. Die Bedingung muss somit an eine Festsetzung anknüpfen, die nur die Zulässigkeit von Einzelhandel betrifft. In Betracht kommen insbesondere Festsetzungen nach § 1 Abs. 5 und 9 BauGB. Die allgemeine Zweckbestimmung des Baugebiets muss nach Ausschluss des Einzelhandels gewahrt bleiben. Beispielsweise könnte festgesetzt werden, dass Einzelhandelsbetriebe nicht zulässig sind oder nur ausnahmsweise zugelassen werden können (§ 1 Abs. 5 BauNVO). Da dieser Einzelhandelsausschluss nur für den Fall der Ausschöpfung des Kontingents gelten soll, müsste er mit einer entsprechenden aufschiebenden Bedingung versehen werden. Stehen wegen der Schließung eines Einzelhandelsbetrieb wieder Verkaufsflächen innerhalb des Kontingents zur Verfügung, sollte der Einzelhandelsausschluss wieder entfallen. Dies kann durch eine entsprechende auflösende Bedingung bewirkt werden. Rechtskonstruktiv lässt sich somit ein flexibles Kontingent durch Kombination aufschiebender und auflösender Bedingungen festlegen. cc) Eintritt bestimmter Umstände als Bedingung Eine aufschiebende oder auflösende Bedingung nach § 9 Abs. 2 BauGB muss an den „Eintritt bestimmter Umstände“ anknüpfen. Die Erschöpfung eines Verkaufsflächenkontingents von z. B. 10.000 m2 kann bei städtebaulicher Relevanz27 ein „Umstand“ im Sinne des Gesetzes sein. Die besondere Herausforderung bei der Festsetzung bedingten Baurechts liegt darin, die Umstände und die Voraussetzungen ihres Eintritts im Bebauungsplan hinreichend bestimmt festzulegen. Zunächst muss die Bedingung im Bebauungsplan hinreichend bestimmt formuliert sein. Der Rechtsunterworfene muss also aus dem Bebauungsplan, gegebenenfalls auch im Zusammenhang mit seiner Begründung, zweifelsfrei erkennen können, ob überhaupt eine Bedingung geregelt werden soll und welchen (abstrakten) Inhalt sie hat. Insoweit gilt nichts anderes als sich nach dem Bestimmtheitsgebot für jede Bebauungsplanfestsetzung ergibt. Schwieriger ist die Festlegung der Eintrittsvoraussetzungen. Bedingtes Baurecht wird fast immer an Umstände anknüpfen, die im Bebauungsplan zwar abstrakt beschrieben werden können, deren Eintritt aber nur durch Prüfung tatsächlicher Veränderungen in der Umgebung oder anhand sonstiger Informationsquellen außerhalb des Bebauungsplans festgestellt werden kann. Das Bestimmtheitsgebot steht dem nicht entgegen. Es genügt, wenn sich anhand des im Bebauungsplan niedergelegten Entscheidungsprogramms eindeutig feststellen lässt, welche Bebauung zulässig ist. Diese Prüfung wird in aller Regel geringe Schwierigkeiten bereiten, wenn sich die Umstände auf Verhältnisse auf dem Baugrundstück beziehen. Die Feststellung des Bedingungseintritts wird dagegen schwieriger, wenn der Bedingungseintritt von Ver26 27
Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 9 BauGB Rn. 240 h. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 9 BauGB Rn. 240 l.
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hältnissen auf Nachbargrundstücken abhängig ist. Bei einem gebietsbezogenen Verkaufsflächenkontingent wäre dies der Fall. § 9 Abs. 2 BauGB schließt zwar die Anknüpfung an derartige gebietsbezogene Umstände nicht aus. Je weiter jedoch die maßgeblichen Umstände über das eigene Baugrundstück hinaus reichen und je mehr sie dem unmittelbaren Zugriff und der unmittelbaren Einsichtnahme des Bauherrn entzogen sind, desto strengere Anforderungen sind an die Bestimmtheit solcher Bedingungsregelungen zu stellen. Der Bebauungsplan muss auch in solchen Fällen den Bedingungseintritt an Umstände knüpfen, die eindeutig festgestellt werden können.28 Der Eintritt der Bedingung muss für jedermann erkennbar sein.29 Die Bedingung muss an in der Öffentlichkeit ablesbare Tatsachen anknüpfen.30 Der Bebauungsplan muss hierzu u. U. auch das Verfahren zur Feststellung des Bedingungseintritts oder die hierfür maßgeblichen Informationen detailliert regeln. Den Bestimmtheitsanforderungen kann mangels gesetzlicher Regelung eines solchen Verfahrens nicht durch öffentliche Bekanntmachung des Bedingungseintritts genügt werden.31 In Bezug auf Verkaufsflächenobergrenzen bedeutet dies, dass zunächst der Begriff der Verkaufsfläche im Bebauungsplan hinreichend bestimmt zu regeln ist. Gleiches gilt für Unterscheidungen etwa nach bestimmten Sortimenten und deren Innenstadtrelevanz. Vor allem aber muss die Gemeinde genau bestimmen (können), unter welchen Umständen das Verkaufsflächenkontingent erschöpft sein soll. Es wird unter dem Gesichtspunkt der Bestimmtheit nicht genügen, nur auf die „vorhandene“ oder „genutzte“ Verkaufsfläche abzustellen. Denn ob und vor allem in welchem Umfang Verkaufsflächen auf fremden Grundstücken vorhanden und gegebenenfalls genutzt werden, wird ein Bauherr in aller Regel nicht eindeutig und erst recht nicht mit zumutbarem Aufwand feststellen können. Auch die „genehmigte“ Verkaufsfläche kann ein Bauherr nicht selbst ermitteln. Für die Erfüllung des Bestimmtheitsgebotes im Rahmen des § 9 Abs. 2 BauGB dürfte es zwar genügen, wenn sich die maßgeblichen Umstände aus öffentlich zugänglichen Quellen und Katastern ergeben. Die Bauakten der Baugenehmigungsbehörde sind jedoch nicht öffentlich zugänglich. Ein Bauherr kann versuchen, bei der Baugenehmigungsbehörde eine entsprechende Auskunft einzuholen. Er hat jedoch keinen Anspruch auf Auskunft. Auch praktisch stößt eine Bezugnahme auf „genehmigte“ Verkaufsflächen auf erhebliche Hindernisse. Denn die Baugenehmigungsbehörde wird in aller Regel nicht über eine zusammenfassende Dokumentation der genehmigten Verkaufsflächen im Baugebiet verfügen. Eine Überprüfung aller Genehmigungen aus Anlass eines neuen Bauantrags – und erst 28
Schrödter, in: Schrödter (Fn. 23), § 9 Rn. 171 e; eher großzügig Kuschnerus, ZfBR 2005, 125, 127. 29 Berkemann, in: Berkemann/Halama (Fn. 23), § 9 Rn. 66. 30 OVG Magdeburg, Urt. v. 17.02.2011 – 2 K 102/09 – juris, Rn. 82. 31 Berkemann, in: Berkemann/Halama (Fn. 23), § 9 Rn. 67; a. A. Schrödter, in: Schrödter (Fn. 23), § 9 Rn. 171 m; Löhr, in: Battis/Krautzberger/Löhr (Fn. 24), § 9 Rn. 98 h.
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recht zur Vorbereitung eines solchen Bauantrags – wird der Behörde und dem Bauherrn nicht zumutbar sein. Den Bestimmtheitsanforderungen würde es genügen, wenn die Gemeinde nach Auswertung bestehender Baugenehmigungen für ein Gebiet ein Verkaufsflächenverzeichnis für dieses Gebiet erstellt, öffentlich zugänglich macht und fortlaufend aktualisiert. Nimmt eine Bedingung im Bebauungsplan auf die genehmigten Verkaufsflächen gemäß einem solchen Verzeichnis Bezug, kann einfach festgestellt werden, ob das Kontingent erschöpft ist. Eine solche Lösung wirft jedoch andere Probleme auf. Die Gemeinde kann sich nicht durch einen Verweis im Bebauungsplan auf eine andere von ihr erstellte Unterlage ohne Rechtssatzcharakter die Möglichkeit verschaffen, wesentliche Inhalte des Bebauungsplans außerhalb des Verfahrens zur Aufstellung eines Bebauungsplans durch bloße Fortschreibung dieser Unterlage zu ändern. Das Verkaufsflächenverzeichnis ist daher in Wirklichkeit kein Umstand, an den eine Bedingung im Sinne des § 9 Abs. 2 BauGB anknüpfen kann, sondern eine Bebauungsplanfestsetzung, die nicht in der vorgeschriebenen Form getroffen wird und deshalb nicht rechtsverbindlich ist. Knüpft das Kontingent nicht an Verkaufsflächen an, sondern an eine in der tatsächlichen Realität einfacher zu bestimmende Größe – z. B. die Zahl der Windenergieanlagen in einem bestimmten Gebiet –, sind die Bestimmtheitsanforderungen überwindbar.32 In solchen Fällen ist es bei Erfüllung der sonstigen rechtlichen Anforderungen möglich, ein Nutzungskontingent mit den Mitteln des § 9 Abs. 2 BauGB festzusetzen. dd) Einfluss der Planbetroffenen auf den Bedingungseintritt? Kuschnerus hält eine Bedingung nur für zulässig, wenn ihr Eintritt vom Eigentümer „in gewissem Umfang beeinflussbar ist“.33 Berkemann bezeichnet umgekehrt die Zulässigkeit von Bedingungen, die der Betroffene maßgeblich beeinflussen kann, für zweifelhaft.34 Meines Erachtens sind beide Auffassungen abzulehnen. Ein Einfluss des Betroffenen ist weder erforderlich, noch schadet er. Die Auffassung von Kuschnerus würde den Anwendungsbereich des § 9 Abs. 2 BauGB erheblich einschränken, weil ein (maßgeblicher) Einfluss aller Planbetroffener kaum jemals angenommen werden kann und eine Beschränkung auf Einzelne willkürlich wäre. Sie findet ebenso wie die von Berkemann befürwortete Einschränkung im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Die Beeinflussbarkeit des Bedingungseintritts spielt im Rahmen der Bestimmtheit (s. o.) und der Abwägung35 eine Rolle, ist jedoch keine Tatbestandsvoraussetzung. 32 Vgl. Kuschnerus, ZfBR 2005, 125, 127; kritisch Berkemann, in: Berkemann/Halama (Fn. 23), § 9 Rn. 67. 33 Kuschnerus, Der sachgerechte Bebauungsplan, 3. Aufl. 2005, Rn. 661. 34 Berkemann, in: Berkemann/Halama (Fn. 23), § 9 Rn. 72 hält umgekehrt die Zulässigkeit von Bedingungen, die der Betroffene maßgeblich beeinflussen kann, für zweifelhaft. 35 So zutreffend Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 9 BauGB Rn. 241 e.
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ee) Abwägung Die Festsetzung eines Kontingents hat bei Ausschöpfung des Kontingents zur Folge, dass im gesamten Baugebiet Einzelhandelsbetriebe ausgeschlossen sind. Bereits genehmigte Einzelhandelsvorhaben wären auf Bestandsschutz verwiesen. Dies und die spezifischen Belastungen durch das Kontingent bedürfen der besonderen Berücksichtigung in der Abwägung.36 Die Folgen des Bedingungseintritts gehen allerdings nicht über den in der Praxis üblichen nachträglichen Ausschluss von Einzelhandel (in Gewerbegebieten) durch Änderungsbebauungsplan hinaus. f) Ergebnis Die Gemeinde kann grundsätzlich Nutzungskontingente in der Form aufschiebend und auflösend bedingten Baurechts gemäß § 9 Abs. 2 BauGB festsetzen. Derartige Nutzungskontingente sind mangels hinreichender Bestimmtheit unzulässig, wenn sie – wie Verkaufsflächenobergrenzen – an schwer zu überprüfende tatsächliche Verhältnisse anknüpfen. Sie sind nur zulässig, wenn die Bedingungen für die Ausschöpfung des Kontingents so bestimmt im Bebauungsplan festgelegt werden, dass es mit zumutbarem Aufwand möglich ist, den Bedingungseintritt eindeutig festzustellen. § 9 Abs. 2 BauGB wird deshalb nur in einfach gelagerten Fällen zur Festsetzung von Nutzungskontingenten herangezogen werden können. Im Übrigen enthalten das BauGB und die BauNVO (zu Sondergebieten s. unten III.) keine Rechtsgrundlage für die Festsetzung eines gebietsbezogenen Nutzungskontingents. Der Mangel der Rechtsgrundlage betrifft „alle denkbaren Fälle gebietsbezogener Kontingentierungen“.37 Unzulässig ist z. B. eine Beschränkung der Verkaufsfläche in einem Gewerbegebiet auf maximal 700 m2.38 Gleiches gilt für eine Festsetzung, die die Zahl der Einzelhandelsbetriebe im Plangebiet auf zwei Stück39 oder auf zwei Betriebe mit je 2.000 m2 Verkaufsfläche begrenzt.40 Außerhalb des §§ 9 Abs. 2 BauGB besteht für eine Beschränkung der Zahl der in einem Kerngebiet zulässigen Vergnügungsstätten41 ebenso wenig eine Rechtsgrundlage wie für eine textliche Festsetzung, nach der in einem Gewerbegebiet maximal eine Betriebswohnung pro Grundstück42 oder in einem Sondergebiet nur eine bestimmte Zahl von 36
Berkemann, in: Berkemann/Halama (Fn. 23), § 9 Rn. 49; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 9 BauGB Rn. 240 c; Kuschnerus, Der sachgerechte Bebauungsplan (Fn. 33), Rn. 666; Schieferdecker, BauR 2005, 320, 327 f. 37 Reidt, UPR 2009, 1, 3. 38 OVG Münster, BauR 2008, 320. 39 OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.1993 – 10 C 12147/91 –, juris, Rn. 11. 40 VGH Mannheim, VBlBW 1994, 253, 355 – im zugrunde liegenden Fall war aber kein Kontingent festgesetzt worden, die Verkaufsflächenbegrenzung ergab sich lediglich mittelbar aus nach Auffassung des VGH allerdings rechtswidrigen Festsetzungen nach § 1 Abs 7 BauNVO. 41 Dazu Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1828. 42 OVG Münster, NuR 2008, 811, 818; vgl. auch OVG Münster, ZfBR 2009, 583, 584.
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Windenergieanlagen43 zulässig ist. Schließlich sind Summenpegel oder Zaunwerte, die die gesamten Immissionen eines Baugebiets erfassen, unzulässige gebietsbezogene Kontingente.44 2. Nutzungskontingentierung im Rahmen von Ausnahmeentscheidungen a) Unzulässigkeit auch der Kontingentierung ausnahmsweise zulassungsfähiger Nutzungen Auch die Festsetzung von Ausnahmen bedarf einer Rechtsgrundlage.45 Gemäß § 1 Abs. 5 BauNVO kann festgesetzt werden, dass im Baugebiet bestimmte Arten von Nutzungen nur ausnahmsweise zugelassen werden können. In der Praxis wird versucht, die Erteilung der Ausnahme daran zu knüpfen, dass ein bestimmtes Nutzungskontingent noch nicht erschöpft ist. Ob eine solche Kontingentierung „durch die Hintertüre“ zulässig ist, erscheint zweifelhaft. aa) Städtebauliche Rechtfertigung Es ist schon fraglich, ob eine Gemeinde überhaupt zum Instrumentarium des § 1 Abs. 5 BauNVO greifen kann, wenn die ausgeschlossene Nutzung nach ihrem Willen – zumindest innerhalb des Kontingents – zulässig sein soll. Nach der Rechtsprechung fehlt es einem Bebauungsplan an der städtebaulichen Rechtfertigung nach § 1 Abs. 3 BauGB, wenn die Nutzung, deren Ansiedlung der Plan ermöglichen soll, nur für ausnahmsweise zulässig erklärt wird.46 Auch stellt sich die Frage, ob eine städtebauliche Rechtfertigung für eine Ausnahmeregelung bestehen kann, wenn die erstrebte Nutzungskontingentierung durch Bebauungsplan nicht festgesetzt werden kann. bb) § 31 Abs. 1 BauGB ist keine Rechtsgrundlage für die Bestimmung von Art und Umfang der zulässigen Ausnahmen Nach § 31 Abs. 1 BauGB können von den Festsetzungen des Bebauungsplans solche Ausnahmen zugelassen werden, die im Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind. Unter der Art der zulässigen Ausnahme ist die Festsetzung des Bebauungsplans zu verstehen, von der eine Ausnahme zulässig ist. Der Umfang bezeichnet die Grenze, bis zu der von dieser Festsetzung des Bebauungsplans abgewichen werden darf. Art und Umfang der zulässigen Ausnahmen richten sich allein danach, was im Bebauungsplan zulässigerweise festgesetzt wurde. § 31 Abs. 1 BauGB erlaubt insbesondere keine über § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO hinausgehende 43
OVG Koblenz, Urt. v. 21.01.2011 – 8 C 10850/10 –, juris, Rn. 27. BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817 m. w. Nachw. Davon zu unterscheiden sind grundstücksbezogene Festsetzungen wie die Festsetzung eines immissionswirksamen flächenbezogenen Schallleistungspegels, die zulässig sind (BVerwG, NVwZ 1998, 1067). 45 Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 31 BauGB Rn. 22. 46 OVG Münster, ZfBR 2009, 583, 585; vgl. auch Schenke, DÖV 1988, 233, 242. 44
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Feindifferenzierung, sondern knüpft an die nach diesen Bestimmungen getroffenen Ausnahmen an.47 Wenn überhaupt eine Befugnis zur Kontingentierung von Ausnahmen bestehen soll, müsste sich diese somit aus § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO ergeben. cc) § 1 Abs. 5 und 9 BauGB erlauben keine Beschränkung des Umfangs der zulässigen Ausnahmen Der Umfang der nach § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO zulässigen Feinsteuerung unterscheidet sich nicht danach, ob die Nutzungsart oder der Anlagentyp im Bebauungsplan für allgemein oder nur ausnahmsweise zulässig erklärt werden.48 Da die Vorschriften nach allgemeiner Auffassung eine Kontingentierung der für zulässig erklärten Nutzungsarten oder Anlagentypen nicht zulassen, kann auf ihrer Grundlage auch keine Ausnahme festgesetzt werden, die ein Kontingent voraussetzt.49 Bestimmt der Bebauungsplan, dass Einzelhandelsbetriebe nur ausnahmsweise zugelassen werden können, sind die zulässigen Ausnahmen ihrer Art nach auf Einzelhandelsbetriebe beschränkt. Wird festgesetzt, dass Ausnahmen für Einzelhandelsbetriebe nur bis zu einer bestimmten Obergrenze der Betriebe oder ihrer Verkaufsflächen zugelassen werden dürfen, stellt dies eine Beschränkung der zulässigen Ausnahmen dem Umfang nach dar. Eine solche Beschränkung dem Umfang nach sehen weder § 1 Abs. 5 BauNVO noch § 1 Abs. 9 BauNVO vor. Die nur ausnahmsweise zulässigen Nutzungen sind zahlenmäßig nicht beschränkt.50 Der in § 31 Abs. 1 BauGB angesprochene Umfang der zulässigen Ausnahmen spielt nur bei Ausnahmen vom zulässigen Maß der baulichen Nutzung, nicht aber bei Ausnahmen von der zulässigen Art der baulichen Nutzung eine Rolle.51 Somit besteht außerhalb des § 9 Abs. 2 BauGB auch für eine Kontingentierung der Ausnahmen keine Rechtsgrundlage.52 47 Vgl. Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Kommentar, Loseblatt, § 31 BauGB Rn. 16; a. A. OVG Münster, Urt. v. 18.09.2009 – 7 D 85/08.NE – juris, Rn. 78. In der Sache richtig, wegen der Bezugnahme auf § 31 Abs. 1 BauGB aber gleichwohl missverständlich ist es, wenn Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1825 formuliert, § 31 Abs. 1 BauGB sei eine kontingentierende Betrachtungsweise, die an die Zahl der im Plangebiet vorhandenen Anlagen anknüpft, fremd. 48 Ziegler, in: Brügelmann (Fn. 47), § 1 BauNVO Rn. 360; vgl. auch BVerwGE 133, 310, Rn. 12 f.; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 1 BauNVO Rn. 77. 49 A. A. offenbar Roeser, in: Berliner Kommentar zum BauGB, 3. Aufl., Loseblatt, § 31 Rn. 6: Festsetzung des Ausmaßes von Ausnahmen sei „bezogen auf das Baugebiet“ möglich, aber wohl nur zur Erhaltung des Gebietscharakters. 50 Für Betriebswohnungen im Gewerbegebiet Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 8 BauNVO Rn. 37; Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl. 2004, Rn. 1547. 51 Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 31 BauGB Rn. 24; Roeser, in: Berliner Kommentar (Fn. 49), § 31 Rn. 6; weniger eindeutig Rieger, in: Schrödter (Fn. 23), § 31 Rn. 9: Festsetzung der Art der ausnahmsweise zulässigen Nutzung „ausreichend“; unklar auch Dürr, in: Brügelmann (Fn. 47), § 31 BauGB Rn. 18. 52 Anders in der Begründung Mampel, BauR 2009, 435, 440: Unzulässige Verlagerung der Entscheidung über die Gewährung von Baumöglichkeiten auf die Genehmigungsbehörde.
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dd) § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO erlauben nicht die Festsetzung von Ermessensgrenzen Das OVG Koblenz hat in einer unveröffentlichten Entscheidung eine Festsetzung, wonach bis zu einer bestimmten Höchstzahl Schank- und Speisewirtschaften ausnahmsweise zugelassen werden konnten, für zulässig gehalten. Seiner Auffassung nach handelte es sich nicht um eine Gliederung nach § 1 Abs. 5, 9 und § 4 a Abs. 4 BauNVO. Die Festsetzung schränke vielmehr das Ermessen der Baugenehmigungsbehörde bei Erteilung einer Ausnahme gemäß § 31 Abs. 1 BauGB dahingehend ein, dass sie über die festgesetzte Höchstzahl nicht hinausgehen dürfe.53 Der VGH Mannheim hatte sich in einem Urteil vom 03. 11. 200354 mit einer Festsetzung zu befassen, nach der Einzelhandelsbetriebe ausnahmsweise zulässig waren, „soweit dies zur Versorgung der Wohnbevölkerung im Stadtteil Kallenberg mit Waren des täglichen Bedarfs erforderlich ist“. Der VGH hielt diese Festsetzung für unwirksam, weil die Festsetzung keinen abstrakt bestimmbaren Anlagentyp definiere, sondern in ihrer Umsetzung zu einer am konkreten Versorgungsbedarf orientierten Einzelfallzulassung führe. Damit sei sie von § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO nicht gedeckt. Auch § 31 Abs. 1 BauGB gewähre der Gemeinde keinen über § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO hinausgehenden Spielraum.55 Daher sei auch unerheblich, dass die Zulassung einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB im Ermessen stehe. Dieses Ermessen werde nicht vom Planungsträger, sondern von der Baurechtsbehörde ausgeübt. Bei der Festsetzung handele es sich nicht um eine vorweggenommene Ermessensausübung hinsichtlich zukünftiger Ausnahmeentscheidungen, sondern um eine verbindliche planungsrechtliche Festsetzung, durch die eine spätere Ausnahmeentscheidung überhaupt erst ermöglicht werden solle. Die Regelung könne auch nicht als Leitlinie für die Erteilung oder Versagung des nach § 36 BauGB bei einer Ausnahmeentscheidung erforderlichen gemeindlichen Einvernehmens ausgelegt werden. Der Entscheidung des OVG Koblenz kann nicht gefolgt werden. § 31 Abs. 1 BauGB begründet kein Festsetzungserfindungsrecht der planenden Gemeinde, sondern nimmt Bezug auf § 1 Abs. 5 ff. BauNVO. Diese Vorschriften erlauben Ausnahmen von der Art der baulichen Nutzung. Für Festsetzungen, die keine Feinsteuerung nach der Art der baulichen Nutzung zum Ziel haben, sondern abweichend von der anlagen- und nutzungsbezogenen Systematik des § 1 Abs. 5 ff. BauNVO das Ermessen der Baugenehmigungsbehörde einschränken sollen, bieten § 1 Abs. 5 ff. BauNVO keine Rechtsgrundlage.56
53
OVG Koblenz, Urt. v. 22.02.1991 – 8 A 10301/89.OVG –, nicht veröffentlicht, zitiert nach Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1824. 54 BRS 66 Nr 80 = juris, Rn. 26. 55 So auch Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 31 BauGB Rn. 22. 56 Zutreffend daher VGH Mannheim, BRS 66 Nr 80 = juris, Rn. 26.
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b) Ausnahme ohne verbindliche Kontingentierung Eine Gemeinde kann den Einwänden gegen eine Kontingentierung des innenstadtrelevanten Einzelhandels aus dem Wege gehen, wenn innenstadtrelevanter Einzelhandel ausnahmsweise zugelassen wird (§ 1 Abs. 5 und 9 BauNVO), ohne dass die Ausnahme förmlich an die Einhaltung eines bestimmten Verkaufsflächenkontingents gebunden ist. Hierdurch wird zwar das Kontingent nicht verbindlich festgeschrieben. Die Gemeinde kann jedoch gewisse Leitplanken setzen, die im Baugenehmigungsverfahren ihre Wirkung entfalten. Die Gemeinde kann in der Bebauungsplanbegründung auf die Notwendigkeit einer restriktiven Ausnahmepraxis hinweisen und diese mit vorliegenden Marktgutachten oder regionalplanerischen Anforderungen begründen. Dabei kann sie auch Obergrenzen nennen, bis zu denen die nur ausnahmsweise zulässigen Nutzungen als verträglich angesehen werden.57 Die Gemeinde ist im Rahmen des Einvernehmens nach § 36 BauGB zu hören und kann auch in diesem Zusammenhang eine restriktive Anwendung der Ausnahmevorschrift fordern. Die für die Ausnahmeentscheidung zuständige Baurechtsbehörde kann sich im Rahmen der Ermessensausübung auf diese städtebaulichen Gründe stützen. Sie hat auch die generelle Entscheidung des Plangebers, Einzelhandel grundsätzlich auszuschließen und nur ausnahmsweise zuzulassen, zu berücksichtigen. Hiermit kann die Ablehnung weitergehender Anträge gerechtfertigt werden, auch wenn die als verträglich angesehene Obergrenze im Bebauungsplan nicht verbindlich festgeschrieben wird.58 III. Nutzungskontingentierung in Sondergebieten Gemäß § 11 Abs. 1 BauNVO kann ein Sondergebiet festgesetzt werden, wenn sich das geplante Gebiet von den Baugebieten nach den §§ 2 bis 10 BauNVO wesentlich unterscheidet. Das ist nach der Rechtsprechung der Fall, wenn ein Festsetzungsgehalt gewollt ist, der sich keinem der in den §§ 2 ff. BauNVO geregelten Gebietstypen zuordnen und der sich deshalb sachgerecht auch mit einer auf sie gestützten Festsetzung nicht erreichen lässt.59 Bei diesem Vergleich sind einerseits die konkreten Festsetzungen des Sondergebiets und andererseits die allgemeine Zweckbestimmung des jeweilige Baugebietstyps zu betrachten. Können die mit der Planung verbundenen Zielsetzungen mit der allgemeinen Zweckbestimmung der anderen Baugebiete nicht in Deckung gebracht werden, unterscheiden sie sich von ihnen wesentlich und ist den Erfordernissen des § 11 Abs. 1 BauNVO entsprochen. Dagegen scheidet die Festsetzung eines Sondergebiets aus, wenn die planerische Zielsetzung der Gemeinde durch Festsetzung eines Baugebiets nach den §§ 2 bis 10 BauNVO in Kombination
57 58 59
Vgl. Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt (Fn. 50), Rn. 1711. Vgl. Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1829. BVerwGE 56, 283, 286; BVerwG, ZfBR 2009, 682.
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mit den Gestaltungsmöglichkeiten des § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO verwirklicht werden kann.60 1. Gebietsbezogenes Nutzungskontingent Seit dem Urteil des BVerwG vom 27. 04. 199061 schien geklärt, dass in Sondergebieten gebietsbezogene Nutzungskontingente festgesetzt werden können.62 Gegenstand der Entscheidung war ein „Sondergebiet für ein Einzelhandelsgroßprojekt“. Die maximale Verkaufsfläche war im Sondergebiet auf 8.000 m2 begrenzt. In dem gesamten Gebiet war ein Einkaufszentrum errichtet worden. Das BVerwG stellte fest, die Verkaufsflächenbegrenzung sei wirksam63 und stehe daher der beantragten Erweiterung der bereits genehmigten Verkaufsfläche entgegen. Die Gemeinde dürfe in einem Bebauungsplan, mit dem Sie ein „Sondergebiet für einen großflächigen Handelsbetrieb“ festsetze, nach Quadratmetergrenzen bestimmte Regelungen über die höchstzulässige Verkaufsfläche treffen. Mit solchen Regelungen fächere die Gemeinde in Fortführung des vom Verordnungsgeber geschaffenen Konzepts einer nach der Betriebsgröße abgegrenzten besonderen Nutzungsart „großflächiger Einzelhandel“ diese Art der Nutzung weiter auf. Die im Bebauungsplan insoweit festgesetzte Grenze müsse nicht einem bestimmten Anlagentyp als Unterart einer der in der BauNVO genannten Nutzungsarten entsprechen. Vielmehr bilde die Gemeinde im Sondergebiet selbst den Anlagentyp durch die von ihr bestimmte Größenbegrenzung.64 Bis zum Urteil des BVerwG vom 03. 04. 200865 blieb in Literatur und Praxis weithin unbeachtet, dass sich das BVerwG in seiner Entscheidung vom 27. 04. 1990 nicht für die Zulässigkeit einer gebietsbezogenen, sondern einer betriebsbezogenen Verkaufsflächenbegrenzung ausgesprochen hatte. In dem Sondergebiet, das Gegenstand der Entscheidung vom 27. 04. 1990 war, befand sich nur ein Einzelhandelsbetrieb. Das BVerwG hatte in der Urteilsbegründung hervorgehoben, dass sich „die Verkaufsflächenbegrenzung […] nur für ein Unternehmen auswirkt“. Das BVerwG begründete die Zulässigkeit der Verkaufsflächenbegrenzung damit, dass die Gemeinde im Sondergebiet den zulässigen Anlagentyp definieren könne. Ein gebietsbezogenes Kontingent konnte und sollte mit diesen Erwägungen nicht gerechtfertigt werden.
60 BVerwG, ZfBR 2009, 682; Fickert/Fieseler, BauNVO, Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 11 Rn. 5.3 und 7; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 11 BauNVO Rn. 19. 61 BVerwG, NVwZ 1990, 1071. 62 So z. B. Fickert/Fieseler, BauNVO (Fn. 60), § 11 Rn. 11.1; a.A. Kopf, Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten (Fn. 2), S. 288; ebenso bereits zuvor Birk, VBlBW 1988, 281, 286; Schenke, DÖV 1988, 233, 243. 63 BVerwG, NVwZ 1990, 1071, 1072. 64 BVerwG, NVwZ 1990, 1071, 1073. 65 BVerwGE 131, 186.
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Das BVerwG hat mit seinem Urteil vom 03. 04. 200866 klargestellt, dass eine baugebietsbezogene, vorhabenunabhängige Verkaufsflächenobergrenze zur Steuerung des Einzelhandels auch in einem Sondergebiet nicht festgesetzt werden kann. Diese Rechtsprechung hat das BVerwG in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt und präzisiert.67 Die Untergerichte haben sich ihr angeschlossen.68 Auch in der Literatur wurde dieser Rechtsprechung überwiegend zustimmend aufgenommen.69 Zur Begründung führt das BVerwG aus, die Gemeinde unterliege in Sondergebieten zwar geringeren Beschränkungen als bei der Festsetzung von Baugebieten nach den §§ 2 bis 9 BauNVO. Insbesondere könne die Gemeinde in einem Sondergebiet den Anlagentyp durch die von ihr bestimmte Begrenzung der Verkaufsflächen selbst definieren. Der Gemeinde sei es jedoch nicht gestattet, durch eine betriebsunabhängige Festsetzung von Verkaufsflächenobergrenzen für alle im Sondergebiet ansässigen oder zulässigen Einzelhandelsbetriebe das System der vorhabenbezogenen Typisierung zu verlassen, auf dem die Vorschriften der BauNVO zur Art der baulichen Nutzung beruhen.70 § 11 Abs. 2 Satz 1 BauNVO setze die anlagen- und betriebsbezogene Typisierung, die den §§ 2 bis 9 BauNVO zugrunde liegt, fort.71 Eine gebietsbezogene Kontingentierung ist keine nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BauNVO in Sondergebieten zulässige Festsetzung der Art der baulichen Nutzung.72 Unter den engen (Bestimmtheits-) Anforderungen, die oben herausgearbeitet wurden, könnte ein Nutzungskontingent allerdings auch in einem Sondergebiet durch bedingte Festsetzungen gemäß § 9 Abs. 2 BauGB festgesetzt werden.73 2. Nutzungskontingentierung bei Zulässigkeit nur eines einzigen Betriebs a) Anforderungen nach der Rechtsprechung Nach Auffassung des BVerwG kann eine gebietsbezogene Verkaufsflächenbegrenzung ausnahmsweise dann unbedenklich sein, wenn in dem in Rede stehenden Sondergebiet nur ein einziger Handelsbetrieb zulässig ist. Denn in diesem Fall sei 66
BVerwGE 131, 186. BVerwG, ZfBR 2010, 138, 139; ZfBR 2010, 471, 473; Beschl. v. 09.02.2011 – 4 BN 43/ 10 – juris, Rn. 6. 68 VGH Mannheim, BRS 74 Nr. 78; OVG Koblenz, NVwZ-RR 2009, 711; OVG Münster, Urt. v. 04.10.2010 – 10 D 30/08.NE – juris, Rn. 37; OVG Schleswig, Urt. v. 22.04.2010 – 1 KN 19/09 – juris, Rn. 83. 69 Uechtritz, BauR 2008, 1821; Schlarmann/Krappel, DVBl 2008, 1473; Reidt, UPR 2009, 1; Mampel, BauR 2009, 435; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 11 BauNVO Rn. 30 und 128; eher kritisch Kirchberg, DVBl. 2010, 125; Bischopink, ZfBR 2010, 223; ablehnend Hentschel/Wurzel, NVwZ 2008, 1201. 70 BVerwGE 131, 86, Rn. 16. 71 BVerwGE 131, 86, Rn. 15. 72 BVerwGE 131, 86, Rn. 14. 73 Dazu oben II. 1. e). 67
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die gebietsbezogene mit einer zulässigen vorhabenbezogenen Verkaufsflächenbeschränkung identisch.74 Das BVerwG hält in seinem Urteil vom 03. 04. 2008 eine Festsetzung des Bebauungsplans, wonach der Verkaufsflächenanteil für Randsortimente innerhalb zweier Bauflächen insgesamt 500 m2 nicht überschreiten darf, für wirksam.75 Zur Begründung erklärt das Gericht, mit der Festsetzung werde die Nutzung der Verkaufsflächen innerhalb des Einkaufszentrums gesteuert. Daher sei die Festsetzung nicht flächen-, sondern vorhabenbezogen. Die beiden Bauflächen, für die die Festsetzung gelte, bildeten das Areal, das für das Einkaufszentrum vorgesehen sei.76 Das BVerwG grenzt diesen Fall von mehreren nebeneinander gelegenen Einzelhandelsgroßbetrieben ab, für die keine gebietsbezogenen Verkaufsflächenbeschränkungen festgesetzt werden dürften.77 Nach dieser Rechtsprechung hängt die Qualifikation einer Festsetzung als unzulässige gebietsbezogene Kontingentierung oder als zulässige vorhabenbezogene Obergrenze davon ab, ob in dem Gebiet nur ein Betrieb zulässig ist. Daher kommt es darauf an, unter welchen Voraussetzungen angenommen werden kann, dass im Sondergebiet nur ein Betrieb zulässig ist. aa) Irrelevanz der Eigentumsverhältnisse Von einem einzigen Betrieb ist nicht bereits deshalb auszugehen, weil das betreffende Baugebiet derzeit nur einem einzigen Eigentümer gehört. Denn es ist jederzeit möglich, dass Grundstücke im Plangebiet an andere, auch unterschiedliche Eigentümer veräußert oder durch Teilung oder Zusammenlegung verändert werden. Der Bebauungsplan ist nicht „eigentümerbezogen, sondern städtebaulich-bodenrechtlich zu betrachten“.78 Die Eigentumsverhältnisse im Sondergebiet sind somit irrelevant. bb) Irrelevanz der derzeitigen oder beabsichtigten Nutzung Unerheblich ist weiter, ob das Sondergebiet nur einen Einzelhandelsbetrieb aufweist oder ob dort nur ein einziger Einzelhandelsbetrieb errichtet werden soll. Denn die Verhältnisse können sich im Nachhinein ändern.79 Es genügt auch nicht, dass die Gemeinde im Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses – z. B. weil sie mit dem Vorhabenträger einen städtebaulichen Vertrag geschlossen hat – davon ausgehen
74
BVerwGE 131, 86, Rn. 18; ebenso schon BVerwG, NVwZ 1990, 1071, 1073. BVerwGE 131, 86, Rn. 25. 76 BVerwGE 131, 86, Rn. 25. 77 BVerwGE 131, 86, Rn. 25; ebenso VGH Mannheim, BRS 74 Nr. 78. 78 BVerwG, ZfBR 2010, 138, 139 im Anschluss an VGH Mannheim, BRS 74 Nr. 78 = juris, Rn. 33; ebenso BVerwG, ZfBR 2010, 471, 473; OVG Schleswig, Urt. v. 22.04.2010 – 1 KN 19/ 09 – juris, Rn. 86. 79 BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817. 75
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kann, dass im Sondergebiet tatsächlich nur ein einziger Handelsbetrieb verwirklicht werden wird.80 cc) Ein Betrieb bei Agglomeration Nach der Rechtsprechung des BVerwG zur Großflächigkeit und zur Agglomeration von Einzelhandelsbetrieben liegt in rechtlicher Hinsicht nur ein einziger Betrieb vor, wenn die Gesamtfläche durch einen Einzelhandelsbetrieb als Hauptbetrieb geprägt wird und auf baulich abgetrennten Flächen zu dessen Warenangebot als Nebenleistung ein Warenangebot hinzutritt, das in einem inneren Zusammenhang mit der Hauptleistung steht, diese jedoch nur abrundet und von untergeordneter Bedeutung bleibt.81 Konsequenterweise nimmt das BVerwG an, dass Hauptbetrieb und Nebenbetriebe in einem solchen Fall auch in Bezug auf eine festgesetzte Verkaufsflächenobergrenze nur als ein einziger Betrieb anzusehen sind. Eine Obergrenze soll dann als betriebsbezogene Festsetzung zulässig sein.82 dd) Ausschluss mehrerer Betriebe durch Bebauungsplan Nach der Rechtsprechung sind nicht die Art und Weise der Realisierung des Bebauungsplans maßgeblich, sondern dessen Festsetzungen.83 Eine das gesamte Sondergebiet erfassende Kontingentierung kann nur dann als betriebsbezogene Regelung verstanden werden, wenn die Festsetzungen des Bebauungsplan nur die Errichtung eines einzigen Betriebs zulassen.84 Der Bebauungsplan muss die Zulässigkeit mehrerer Betriebe rechtsverbindlich ausschließen.85 b) Festsetzung von SO-Teilgebieten Folgt man der Rechtsprechung, kann die Gemeinde festsetzen, dass in einem Sondergebiet nur ein einzelner Einzelhandelsbetrieb zulässig ist. Die Verkaufsflächen und Sortimente dieses Betriebs können beschränkt werden. Die Gemeinde kann auf diese Weise den im Sondergebiet zulässigen Betriebstypus definieren. Sollen mehrere Einzelhandelsbetriebe zulässig sein, soll eine Gliederung des Sondergebiets in Teilgebiete in Betracht kommen, in denen jeweils nur ein einziger Betrieb für zulässig erklärt und durch seine Verkaufsflächen definiert wird.86 Diese Möglichkeit stößt allerdings an Grenzen, wenn viele, auch kleinere, Einzelhandelsbetriebe ange80 81 82 83 84
Rn. 6. 85
So aber Reidt, UPR 2009, 1, 4. BVerwGE 124, 376, 381 f.; BVerwG, ZfBR 2010, 471, 473. BVerwG, ZfBR 2010, 471, 473. BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817. BVerwG, ZfBR 2010, 471, 473; BVerwG, Beschl. v. 09.02.2011 – 4 BN 43/10 – juris,
BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817. VGH Mannheim, BRS 74, Nr. 78 = juris, Rn. 35; Uechtritz, BauR 2008, 1821, 1827 f.; kritisch Schmidt-Eichstaedt, BauR 2009, 755, 757. 86
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siedelt werden sollen. Eine Untergliederung und Bildung von Teilgebieten für zahlreiche Betriebe ist wenig praktikabel.87 c) Kritik Die Rechtsprechung des BVerwG begegnet insofern Zweifeln, als sie die Zulässigkeit einer Kontingentierung (Verkaufsflächenobergrenze) davon abhängig macht, dass der Bebauungsplan nicht mehr als einen Betrieb zulässt. Dabei wird implizit unterstellt, dass § 11 BauNVO eine solche Festsetzung zulässt. Das trifft jedoch nicht zu. Die Beschränkung der Zahl der zulässigen Betriebe auf einen einzigen Betrieb ist ebenfalls eine gebietsbezogene Kontingentierung. Für eine solche Kontingentierung besteht ebenso wie für eine gebietsbezogene Beschränkung der Zahl der Anlagen auf zwei oder mehr Anlagen und wie für eine gebietsbezogene Verkaufsflächenbeschränkung keine Rechtsgrundlage.88 Die Rechtsprechung, die von der Möglichkeit ausgeht, die Zulässigkeit nur eines Betriebs festzusetzen, ist widersprüchlich.89 aa) Unterschiedliche Zulässigkeit je nach der Zahl der zulässigen Anlagen? Nach der Rechtsprechung des BVerWG ist es unzulässig, ein Kontingent für zwei oder mehr Anlagen festzusetzen. Ein Kontingent nur für eine Anlage soll jedoch zulässig sein. Auf der Suche nach Gründen für diese Differenzierung wird man in § 11 BauNVO nicht fündig. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 BauNVO ist für sonstige Sondergebiete die Art der Nutzung festzusetzen. Wie das BVerwG hervorgehoben hat, setzt diese Vorschrift die anlagen- und betriebsbezogene Typisierung, die den §§ 2 bis 9 BauNVO zu Grunde liegt, fort.90 Der Verordnungsgeber gestattet den Gemeinden somit die Festsetzung eines Typus der zulässigen Anlagen. Er räumt den Gemeinden in § 11 Abs. 2 BauNVO auch die Befugnis ein, diesen Typus näher zu definieren. Von der Definition des Anlagentypus ist jedoch die Festsetzung der Zahl der zulässigen Anlagen und auch die Festsetzung, dass nur eine Anlage des festgelegten Typs zulässig sein soll, zu unterscheiden. Eine Beschränkung der Zahl der zulässigen Anlagen einschließlich der Beschränkung auf eine einzige Anlage ist der BauNVO grundsätzlich fremd. Eine solche Festsetzung ist im Rahmen der §§ 2 bis 9 BauNVO unzulässig. Nach der Rechtsprechung gilt dies für Sondergebiete jedenfalls dann, wenn die Zahl von Anlagen auf zwei oder mehr beschränkt wird. Weshalb dann für den Ausschluss aller anderen Anlagen und die Festsetzung, dass nur eine Anlage zulässig sein 87
Dazu auch Schmidt-Eichstaedt, BauR 2009, 755, 757. So auch Bischopink, ZfBR 2010, 223, 227; OVG Koblenz, Urt. v. 21.01.2011 – 8 C 10850/ 10 – juris, Rn. 27 ff. für Windenergieanlagen; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.1993 – 10 C 12147/ 91 – juris, Rn. 11 und VGH Mannheim, VBlBW 1994, 353, 355 für Einzelhandelsbetriebe. 89 Ebenfalls gegen diese Ausnahme, aber mit anderer Begründung Mampel, BauR 2009, 435, 441 f. 90 BVerwGE 131, 86, Rn. 15. 88
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soll, etwas anderes gelten soll, leuchtet nicht ein. § 11 Abs. 2 BauNVO ist für eine solche Differenzierung nichts zu entnehmen. bb) Beschränkung der Zahl zulässiger Anlagen ist keine vorhabenbezogene Festlegung Die Differenzierung kann insbesondere nicht damit begründet werden, dass beispielsweise eine Verkaufsflächenbeschränkung bei Zulässigkeit nur eines Handelsbetriebs eine zulässige vorhabenbezogene Bestimmung der Art der Nutzung darstelle. Bei dieser Betrachtung wird nicht hinreichend unterschieden zwischen der Beschränkung der Zahl der zulässigen Handelsbetriebe und der Beschränkung deren Verkaufsfläche. Wird festgesetzt, dass ein Handelsbetrieb mit einer bestimmten maximalen Verkaufsfläche zulässig sein soll, kann zwar die Verkaufsflächenbeschränkung (als Definition des zulässigen Anlagentyps) auf § 11 Abs. 2 BauNVO gestützt werden. Die weitere Festsetzung, dass nur ein einziger dieses Anlagentyps zulässig sein soll, stellt sich jedoch als unzulässige Beschränkung der Zahl der im Sondergebiet zulässigen Betriebe dar. cc) Prioritätskonflikt, Windhundrennen In der Rechtsprechung des BVerwG zur Unzulässigkeit von Gebietskontingenten scheint die Vermeidung von Prioritätskonflikten (sog. Windhundrennen) das Leitmotiv zu sein.91 Die Rechtsprechung nimmt möglicherweise an, Kontingente seien (nur) unzulässig, wenn ein Prioritätskonflikt zu befürchten ist. Dem ist zu widersprechen: Die BauNVO schließt Prioritätskonflikte nicht generell aus. Prioritätskonflikte können beispielsweise in einem Mischgebiet auftreten, weil wegen der gebotenen Durchmischung von Gewerbe und Wohnen92 weniger gewerbliche Nutzungen oder Wohnnutzungen zulässig als Bauflächen vorhanden sind. Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn im Anwendungsbereich des § 15 BauNVO eine grundsätzlich zulässige Nutzung ausnahmsweise nicht genehmigt werden kann. Aber auch im Übrigen besteht kein Anhaltspunkt, dass die anlagen- und betriebsbezogene Typisierung, die die BauNVO prägt, gerade der Vermeidung von Prioritätskonflikten dient. Mangels anderer Anzeichen spricht mehr dafür, dass das Regelungsprinzip der anlagen- und betriebsbezogenen Typisierung uneingeschränkt Geltung erlangen soll, also auch dann, wenn ein Prioritätskonflikt nicht zu befürchten ist. Eine Festsetzung, nach der nur ein einziger Betrieb im Baugebiet zulässig ist, kann die mit der Priorität einer Nutzung verbundenen Probleme nicht vermeiden. Setzt beispielsweise eine Gemeinde ein Sondergebiet in der Weise fest, dass nur ein einziger großflächiger Einzelhandelsbetrieb mit einer Verkaufsfläche von bis zu 5.000 m2 zulässig ist, so kann nur einer von mehreren Eigentümern im Plangebiet diese Festsetzung ausnutzen. Der Eigentümer, der zuerst eine Baugenehmigung oder auch nur 91 92
BVerwGE 131, 86, Rn. 17. BVerwGE 68, 207, 210; 79, 309, 313; BVerwG, NVwZ 1986, 643, 644.
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einen Bauvorbescheid erwirkt, sichert sich das gesamte Baurecht. Alle anderen Eigentümer sind jeder baulichen Nutzungsmöglichkeit beraubt. Die Kontingentierung der Zahl der Betriebe hat in diesem Fall weitaus drastischere Auswirkungen als die bloße Kontingentierung der Verkaufsfläche. Da nämlich das zulässige Nutzungsmaß nicht ausgeschöpft werden muss, wäre jede weitere bauliche Nutzung im Sondergebiet selbst dann unzulässig, wenn der erste Bauantragsteller z. B. nur einen Discountmarkt mit 1.000 m2 Verkaufsfläche errichten will. Weitere Probleme der Ein-Betrieb-Kontingentierung ergeben sich, wenn eine Ansammlung von Einzelhandelsbetrieben, die die Voraussetzungen der Agglomeration erfüllt und damit bei Errichtung als ein Betrieb anzusehen ist, in der Folgezeit in mehrere einzelne Betriebe auseinanderfällt (z. B. durch Veräußerung einzelner Betriebe und räumliche wie auch funktionale Entflechtung). Wenn auf diese Weise aus einem Betrieb zwei oder mehr Betriebe entstehen, stellt sich ebenfalls die Frage der Priorität: Wenn nur ein Betrieb zulässig ist, welcher der beiden ist dies? Möglicherweise entfällt die ursprünglich erteilte Baugenehmigung, weil zwei Betriebe gegenüber dem genehmigten einheitlichen Betrieb ein aliud darstellen. Dann käme es im Sinne des Windhundrennens darauf an, welcher der beiden Betreiber zuerst eine Baugenehmigung für seinen Betrieb erhält. Die Rechtsprechung unterstellt, wenn sie von der Zulässigkeit nur eines einzigen Handelsbetriebs ausgeht, dass nur ein Eigentümer vorliegt oder dass entsprechend der Planungsabsichten der Gemeinde auch nur ein einziger Handelsbetrieb errichtet werden wird. Diesen Annahmen ist die Rechtsprechung jedoch selbst entgegen getreten. Sie hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Eigentumsverhältnisse jederzeit ändern können93 und dass die Annahme, es werde im Sondergebiet tatsächlich nur ein einziger Handelsbetrieb verwirklicht werden, nicht genügt.94 dd) Fazit Im Ergebnis ist festzuhalten: Auch eine Festsetzung, nach der nur ein einziger Betrieb im Sondergebiet zulässig ist, stellt sich als gebietsbezogene Kontingentierung der Zahl der Anlagen dar. Sie widerspricht der anlagen- und betriebsbezogenen Typisierung, die die BauNVO prägt. Bestimmungen über die maximal zulässige Zahl von Anlagen in einem Baugebiet sind der BauNVO fremd. Es bestehen auch keine überzeugenden Gründe für die Annahme, dass zwar eine Kontingentierung auf zwei oder mehr Anlagen ausgeschlossen, die Festsetzung nur einer einzigen zulässigen Anlage aber zulässig sei. Eine solche Differenzierung lässt sich insbesondere nicht damit begründen, dass bei nur einer zulässigen Anlage Prioritätskonflikte nicht zu befürchten seien. Wie dargestellt wurde, ergeben sich gerade bei dieser 93 BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817; ZfBR 2010, 138, 139; ZfBR 2010, 471, 473; VGH Mannheim, BRS 74 Nr. 78 = juris, Rn. 33; OVG Schleswig, Urt. v. 22.04.2010 – 1 KN 19/09 – juris, Rn. 86. 94 BVerwG, NVwZ 2000, 815, 817; ZfBR 2010, 471, 473; BVerwG, Beschl. v. 09.02.2011 – 4 BN 43/10 – juris, Rn. 6.
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(strengsten) Form der Kontingentierung erhebliche Konflikte, für deren Hinnahme § 11 Abs. 2 BauNVO nichts zu entnehmen ist. Damit besteht für eine Festsetzung, dass in einem Sondergebiet nur ein einziger Betrieb zulässig sein soll, keine Rechtsgrundlage. Ist eine solche Festsetzung nicht zulässig, ist der für solche Festsetzungen von der Rechtsprechung bejahten Ausnahme vom Verbot der gebietsbezogene Nutzungskontingentierung weitgehend der Boden entzogen. Eine gebietsbezogene Nutzungskontingentierung kann nur dann als ausnahmsweise zulässige Definition der Art der zulässigen Nutzung verstanden werden, wenn aufgrund anderer zulässiger Festsetzungen des Bebauungsplans (z. B. zum Maß der baulichen Nutzung) oder aufgrund besonderer örtlicher Verhältnisse tatsächlich nur ein Betrieb errichtet werden darf oder kann. 3. Festsetzung einer grundflächenabhängigen Verkaufsflächenquote Nach der Rechtsprechung hat die Gemeinde in einem Sondergebiet auch die Möglichkeit, die höchstzulässige Verkaufsfläche für das jeweilige Grundstück in der Form festzusetzen, dass die maximale Verkaufsflächengröße im Verhältnis zur Grundstücksgröße durch eine Verhältniszahl festgelegt wird, sofern dadurch die Ansiedlung bestimmter Einzelhandelsbetriebstypen und damit die Art der baulichen Nutzung im Sondergebiet geregelt werden soll.95 Die Formulierung, dass durch die Verhältniszahl die Ansiedlung bestimmter Einzelhandelsbetriebstypen geregelt werden soll, stellt keine strengeren Anforderungen als allgemein im Sondergebiet gelten.96 Die Gemeinde hat im Sondergebiet grundsätzlich die Definitionsmacht, den zulässigen Betriebstyp „maßgeschneidert“ festzulegen. Sie kann deshalb die zulässigen Betriebe durch die genannte Verhältniszahl definieren, sofern es dafür nur städtebauliche Gründe gibt.97 Die Regelung einer grundflächenabhängigen Verkaufsfächenquote kann durch städtebauliche Gründe getragen sein, wenn sie dem Schutz der zentralen Versorgungsbereiche oder der Einhaltung entsprechender Vorgaben der Regionalplanung dient. Außerhalb von Sondergebieten ist die Festsetzung einer grundflächenabhängigen Quote nicht zulässig.98 IV. Zusammenfassung Die Gemeinden können im Bebauungsplan durch aufschiebende und auflösende Bedingungen Nutzungskontingente festsetzen (§ 9 Abs. 2 BauGB). Dies setzt jedoch voraus, dass die für den Bedingungseintritt maßgeblichen Umstände in einer Weise festgelegt werden (können), die dem Bestimmtheitsgebot Rechnung trägt. Den An95 BVerwGE 131, 86, Rn. 16; Reidt, UPR 2009, 1, 4; Kirchberg, DVBl. 2010, 125, 126; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger (Fn. 23), § 11 BauNVO Rn. 128. 96 A. A. Bischopink, ZfBR 2010, 223, 227. 97 BVerwG, Beschl. v. 09.02.2011 – 4 BN 43/10 – juris, Rn. 6. 98 Siehe oben II. 1. d).
Kontingentierung von Nutzungsmöglichkeiten im Baurecht
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forderungen des Bestimmtheitsgebotes ist nicht genügt, wenn eine eindeutige Feststellung des Bedingungseintritts (mit zumutbarem Aufwand) nicht möglich ist. Insbesondere für gebietsbezogene Verkaufsflächenobergrenzen stellt dies eine kaum überwindbare Hürde dar. Außerhalb des § 9 Abs. 2 BauGB besteht für die Festsetzung eines gebietsbezogenen Nutzungskontingents im Bebauungsplan keine Rechtsgrundlage. Dies gilt auch für Sondergebiete gemäß § 11 BauNVO. Nach der Rechtsprechung kann sich eine grundsätzlich unzulässige gebietsbezogene Obergrenze zwar als zulässige vorhabenbezogene Bestimmung über die Art der Nutzung darstellen, wenn in dem betreffenden Sondergebiet insgesamt nur ein Betrieb zulässig ist. Eine Festsetzung des Inhalts, dass in einem Sondergebiet nur ein einziger Betrieb zulässig ist, erweist sich jedoch als Kontingentierung nach der Zahl der zulässigen Nutzungen, für die § 11 Abs. 2 BauNVO ebenfalls keine Rechtsgrundlage bietet.
In-camera-Verfahren Von Eberhard Schmidt-Aßmann Noch vor gut einem Jahrzehnt waren in-camera-Verfahren dem Verwaltungsprozess fremd. Der Ausgleich zwischen der erforderlichen Öffentlichkeit des Prozessstoffes und Geheimhaltungsinteressen der Verwaltung wurde nach einem einfachen dualistischen Modell geregelt: Die Behörden waren zur Vorlage ihrer Akten verpflichtet, die von den Beteiligten eingesehen werden konnten und als solche auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Die oberste Aufsichtsbehörde konnte jedoch, wenn wichtige Belange der Geheimhaltung entgegenstanden, eine Sperrerklärung abgeben. Das Gericht entschied nur darüber, ob die Gründe dafür glaubhaft gemacht waren; zu eigener Aktenkenntnis gelangte es dabei nicht. Dieses die Verwaltungsgerichtsordnung von Anfang an bestimmende Modell der §§ 99 und 100 war lange Zeit kaum auf Kritik gestoßen. In der aufsehenerregenden Entscheidung vom 27. Oktober 1999 beanstandete das Bundesverfassungsgericht die Regelung als eine unnötige Einschränkung des Art. 19 Abs. 4 GG: Die Überprüfung allein der Glaubhaftmachung ermögliche nur eine indirekte Kontrolle; berechtigten Geheimhaltungsinteressen könne auch nach Vorlage der Akten an das Gericht in einem in-camera-Verfahren Rechnung getragen werden, bei dessen Ausgestaltung der Gesetzgeber „weitgehende Freiheit“ habe.1 Seither sind in-camera-Verfahren im Prozessrecht gefragte Institute:2 Die Verwaltungsgerichtsordnung wurde 2001 mit einem solchen Verfahren ausgestattet (§§ 99 Abs. 2, 189). Die Finanzgerichtsordnung hat eine auf die Besonderheiten ihres Instanzenzuges abgestimmte entsprechende Regelung erhalten (§ 86 Abs. 3). Für das Sozialgerichtsgesetz, das die Beschränkung der Aktenvorlage und der Akteneinsicht in den §§ 119, 120 Abs. 3 nur unvollständig regelt, wird eine entsprechende Anwendung des § 99 Abs. 2 VwGO vorgeschlagen.3 Eigenständige Regelungen enthalten
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BVerfGE 101, 106 (124 ff., 127, 130). Zur Entwicklung vgl. Schenke, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2009, S. 115; von Egidy, Vorlagepflichten und Geheimhaltungsinteressen im Verwaltungsprozess in Deutschland und Frankreich, 2004, bes. S. 47 ff. und 144 ff.; Schüly, Das „in-camera“-Verfahren der Verwaltungsgerichtsordnung, 2006, S. 45 ff.; Sawang, Geheimhaltung und rechtliches Gehör im Schiedsverfahren nach deutschem Recht, 2010, S. 147 ff. 3 Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 119 Rn. 5d; ebenso Roller, in: Hk-SGG, § 119 Rn. 5; speziell zur Rolle des Datenschutzes Brink/H. A. Wolff, NVwZ 2011, 134 (136). 2
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das Telekommunikationsgesetz (§ 138) und das Stasi-Unterlagengesetz.4 Das Patentrecht, in dem der Geheimnisschutz seit je eine besondere Rolle spielt und entsprechende Verfahrensvorkehrungen verlangt,5 hat bei der Umsetzung der sog. Enforcement-Richtlinie der Europäischen Union6 eine generalklauselartige Ermächtigung erhalten,7 die als ultima ratio auch ein in-camera-Verfahren umfassen soll.8 Auch die Zivilprozessordnung ist gegenüber entsprechenden Änderungen nicht mehr immun. In der Literatur mehren sich die Stimmen, die ihre Ergänzung um ein in-camera-Verfahren anregen und dabei auch auf § 99 Abs. 2 VwGO verweisen.9 Selbst für die Schiedsgerichtsbarkeit werden Möglichkeiten eines in-camera-Verfahrens untersucht.10 Eine Reihe anderer europäischer Rechtsordnungen kennt in unterschiedlichen Ausgestaltungen solche Verfahren.11 Im Prozessrecht der Unionsgerichte sind in-camera-Prüfungen seit 2001 ausdrücklich in Art. 67 § 3 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehen.12 Die Konjunktur des in-camera-Gedankens im gerichtlichen Verfahrensrecht hat unterschiedliche Gründe,13 die jedoch in einem Punkte zusammenfließen: der gesteigerten Bedeutung von Informationen als Steuerungsressourcen. Verwaltungen sind angesichts ihrer hochkomplexen Aufgaben wie denen der Gesundheitsvorsorge, der Regulierung und der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit auf ein hohes Maß verlässlicher und stets aktualisierungsbedürftiger Informationen angewiesen. Die Entwicklung hat längst die überkommenen Grenzen zwischen administrativem und gesellschaftlichem Bereich überwunden. Umweltschutz und Verbraucherschutz werden als gemeinsame Aufgaben verstanden, deren Erfüllung sich mehr in den eingesetzten Instrumenten als in den Informationsvoraussetzungen unterscheidet, die notwendig sind, um diese Aufgaben wirksam zu erfüllen.14
4 Zu diesen Sonderregelungen vgl. Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 99 (Stand 2007), Rn. 66 ff. 5 Vgl. nur BGH GRUR 2002, 1046 (1048 f.); OLG Düsseldorf GRUR 1982, 741: sog. Düsseldorfer Verfahren. 6 Richtlinie zu Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums 2004/48/EG vom 29. 4. 2004, Abl. EU Nr. L 195/16. 7 § 140c PatG ermächtigt das Gericht, insoweit die „erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen. Kritisch auch wegen einer fehlenden Abstimmung dieser Regelung mit §§ 142 – 144 ZPO Hess, JZ 2011, 66 (70). 8 Stadler, ZZP 2010 (123), 261 (279 f.). Abl. bisher allerdings die Kommentare zum PatG. 9 Stadler (Fußn. 8), 282; auch Beckhaus, Die Bewältigung von Informationsdefiziten bei der Sachaufklärung, 2010, S. 374 ff.; ferner Sawang (Fußn. 2), S. 186 ff. 10 Sawang (Fußn. 2), S. 236 ff. 11 Zu Frankreich von Egidy (Fußn. 2), S. 168 ff.; zur Schweiz Sawang (Fußn. 2), S. 203 ff. 12 Dazu und zu einer schon älteren Gerichtspraxis Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union, 2004, S. 263 f. 13 Dazu Rudisile (Fußn. 4), § 99 Rn. 6c. 14 Vgl. H. Chr. Röhl, Zur kognitiven Dimension des Rechts, DV Beiheft 9, 2010.
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I. Unterschiedliche Erscheinungsformen von in-camera-Verfahren Die in den Gesetzen vorgesehenen oder in der Literatur diskutierten in-cameraVerfahren haben durchaus unterschiedliches Gepräge und unterschiedlichen Zuschnitt. Ein einheitliches Verfahrensmodell gibt es nicht. Gemeinsam sind den vorkommenden Varianten nur gewisse Grundzüge: Stets geht es um Prozesssituationen, in denen die Geheimhaltungsbedürftigkeit entscheidungserheblicher Informationen geltend gemacht, Akten aus diesem Grunde nicht vorgelegt und Auskünfte nicht erteilt werden sollen. Stets werden gewisse Verfahrensgestaltungen notwendig, die den Kreis derer, die eingeweiht werden müssen, möglichst eng ziehen, im äußersten Fall auf wenige Mitglieder eines einzigen Spruchkörpers beschränken. Im Einzelnen sind freilich unterschiedliche Ausgestaltungen denkbar. Mindestens zwei Haupttypen sollten auch begrifflich klar getrennt werden: – In-camera-Verfahren als Zwischenverfahren: Hier wird „in camera“ allein über die Berechtigung der Geheimhaltungsgründe und die Pflicht zur Aktenvorlage entschieden (1). – In-camera-Verfahren in der Hauptsache: Hier geht es um die Verwertung nur dem Gericht zugänglich gemachter Informationen bei der Sachentscheidung unter gleichzeitiger Abschottung gegenüber den Prozessbeteiligten, z. B. durch die Beschränkung ihrer Akteneinsichts- und Äußerungsrechte (2). Während das Zwischenverfahren entweder zur Offenlegung der Akten oder zu einer beweisrechtlichen Lösung des Geheimhaltungskonflikts führt, wird eine in-camera-Verwertung von der herrschenden Lehre bisher für unzulässig gehalten.15 Doch mehren sich gewichtige Stimmen, die für ihre Zulassung, ja für ihre verfassungsrechtliche Gebotenheit eintreten (dazu unter II). Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen des gesamten in-camera-Gedankens werden deutlicher, wenn man sich die genannten Typen solcher Verfahren näher anschaut. 1. In-camera-Verfahren als Zwischenverfahren Dieses ist der in der Literatur am häufigsten mit der Bezeichnung eines in-cameraVerfahrens belegte Verfahrenstyp. Er kommt seinerseits in mehreren Varianten vor, die sich im Maß der Verselbstständigung des Zwischenverfahrens gegenüber dem Verfahren in der Hauptsache unterscheiden. Im Folgenden werden das Verfahren der Verwaltungsgerichtsordnung (a), des Telekommunikationsgesetzes (b) und des Kartellrechts (c) einander gegenübergestellt.16 15 Schüly (Fußn. 2), S. 85 ff.; mit Hinweis auf § 99 Abs. 2 VwGO auch BVerwG DVBl 2004, 105 (106). Ausf. mit Nachweisen zur Gegenauffassung und mit Erwägungen zur verfassungskonformen Anwendung des Beweisrechts Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 99 Rn. 3. 16 Vgl. u. a. Ohlenburg, NVwZ 2005, 15 (17 f.).
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a) Das isolierte Zwischenverfahren des § 99 VwGO Das in-camera-Verfahren der Verwaltungsgerichtsordnung repräsentiert den Typ des isolierten Zwischenverfahrens.17 Es findet vor einem besonderen Fachsenat statt, den jedes Oberverwaltungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht einzurichten haben (§ 189 VwGO). Diesen (und nur diesen) müssen von den Behörden auf entsprechende Anforderung die Akten vorgelegt, die elektronischen Dokumente übermittelt und die Auskünfte erteilt werden, um deren Geheimhaltung es geht. Diese besondere Zuständigkeitsbegründung ist die Kernaussage des § 99 Abs. 2 VwGO. Dass sie umstritten war und auch heute umstritten ist, wird später zu erörtern sein (dazu unter II). Hier geht es zunächst darum, ihren das gesamte Verfahren prägenden Charakter herauszuarbeiten. Das Verfahren setzt den Antrag eines Beteiligten voraus. Wird ein solcher Antrag nicht gestellt, bewendet es bei der in § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO vorgesehenen Verweigerungserklärung der obersten Aufsichtsbehörde, die die besondere Prozesssituation erst herbeigeführt hat. Das Hauptsachegericht, das die Akten angefordert und dabei ihre Entscheidungserheblichkeit geprüft hat, kann die behördliche Weigerung selbst nicht überwinden. Es kann das in-camera-Verfahren nicht einmal initiieren, sondern nur eine Antragstellung eines Beteiligten, regelmäßig des Klägers, nach § 86 Abs. 3 VwGO anregen. So sehr die Aktenvorlagepflicht der Verwaltung sonst mit der Untersuchungsmaxime und mit objektiv-rechtlichen Kontrollaufgaben des Verwaltungsprozesses in Zusammenhang stehen mag, in diesem Punkte dominiert in verfassungsrechtlich durchaus akzeptabler Weise der Dispositionsgrundsatz.18 An eine Frist ist die Antragstellung nicht gebunden. Verlangt wird aber, dass der Antragsteller ein Rechtsschutzbedürfnis geltend machen kann. Die gesetzlich festgelegte besondere Zuständigkeit eines Fachsenates ist Ankerpunkt für die Regelungsdetails, die § 99 Abs. 2 VwGO für einen wirksamen Geheimnisschutz aufbietet: Das Verfahren unterliegt den Vorschriften des materiellen Geheimnisschutzes (Satz 7), der ganz bestimmte technisch-praktische, organisatorische und gegebenenfalls räumliche Vorkehrungen verlangt, um die Vertraulichkeit der übermittelten Informationen und Informationsträger zu gewährleisten. Die Mitglieder der Fachsenate sind gesetzlich zur Geheimhaltung verpflichtet (Satz 10 Hs. 1). Für das nichtrichterliche Personal gelten die Regelungen des personellen Geheimnisschutzes (Satz 11), die nach Maßgabe des einschlägigen Rechts eine besondere Sicherheitsüberprüfung erforderlich machen. Für die überlassenen Dokumente ist das den Prozessbeteiligten nach § 100 VwGO sonst zustehende Einsichtnahmerecht ausgeschlossen (Satz 9). Die Fachsenate entscheiden ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss (Satz 1). Die Gründe ihrer Entscheidungen dürfen Art und Inhalt der geheim gehaltenen Unterlagen nicht erkennen lassen (Satz 10 Hs. 2). Der Gesetz17 Zum Folgenden Rudisile (Fußn. 4),§ 99 Rn. 31 ff.; Schüly (Fußn. 2), S. 132 ff.; Gärditz/ Orth, JuS 2010, 317 (319 f.). 18 Rudisile (Fußn. 4), § 99 Rn. 31a.
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geber hat also ein ganzes Netz von Regelungen zur Sicherung der Geheimhaltung ausgespannt, das zwei Ziele verfolgt: Ausgeschlossen werden zum einen die normalen Möglichkeiten, die das Prozessrecht den Beteiligten und der Öffentlichkeit sonst bietet, vom Prozessstoff Kenntnis zu erlangen. Verhindert werden sollen zum anderen aber auch Lücken des Geheimnisschutzes, die der normale gerichtliche Aktenumgang wahrscheinlich macht und die auch immer wieder vorkommen. Die Zuständigkeit besonderer Spruchkörper wird erkauft durch eine prozedurale Distanz des Zwischenverfahrens zum Verfahren in der Hauptsache. Die Fachsenate erhalten zwar gleich zu Beginn des Verfahrens mit dem Antrag auf Durchführung des in-camera-Verfahrens auch die Hauptsacheakten (§ 99 Abs. 2 S. 4 VwGO). Erst deren Studium wird oft erst auch die Aussage darüber ermöglichen, ob und inwieweit die behördliche Verweigerung der Akteneinsicht rechtmäßig ist. Doch ist der Prozessstoff durch die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit, die der Aktenanforderung nach § 99 Abs. 1 VwGO voraufgeht, durch das Hauptsachegericht schon vorstrukturiert. Zwischenlösungen zu finden ist dem für das in-camera-Verfahren zuständigen Fachsenat durch diese Distanz erschwert. b) Das integrierte Zwischenverfahren des § 138 TKG In § 138 TKG ist der Typ eines integrierten in-camera-Verfahrens normiert. Auf die Bildung eines eigenen Spruchkörpers ist verzichtet. Die notwendigen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Geheimhaltungsbedürftigkeit von Akten trifft das Gericht der Hauptsache. Auch hier geht es aber nicht um eine in-camera-Verwertung,19 sondern um die Berechtigung geltend gemachter Geheimhaltungsgründe. Dafür steht ein Zwischenverfahren zur Verfügung (Abs. 3), in dem die Behörde die Akten dem Gericht auf jeden Fall vorzulegen hat, in dem aber die nach § 100 VwGO sonst bestehenden Akteneinsichtsrechte der Beteiligten ganz so wie im isolierten Zwischenverfahren des § 99 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen sind. (Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf die Verfahrensstruktur und auf die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse; inwieweit § 138 TKG in Einzelpunkten nach Maßgabe der einschlägigen Telekommunikationsrichtlinien europarechtskonform ausgelegt werden muss, ist nicht ihr Gegenstand.) Breiter gefasst ist das Verfahrensziel. Entschieden wird nicht nur über die Frage, ob Akten vorzulegen sind, sondern auch umgekehrt darüber, ob Akten nicht vorgelegt werden dürfen (§ 138 Abs. 2 TKG). Dahinter steht die Erkenntnis, dass Geheimhaltungskonflikte oft mehrpolige Konflikte sind, in denen die behördliche Entscheidung über Publizität oder Geheimhaltung auf zwei Privatpersonen mit diametral entgegen-
19 Eine solche wird – erkennbar auch gegen OVG Münster NVwZ 2001, 820 (821) gerichtet – in § 138 Abs. 4 S. 2 TKG sogar ausdrücklich ausgeschlossen, es sei denn, alle Beteiligten hätten sich mit ihr einverstanden erklärt.
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gesetzten Interessen trifft.20 Das gilt etwa für den Umgang mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Es ist kein Zufall, dass diese Mehrpoligkeit des Geheimnisschutzes in § 138 TKG von vorneherein eingearbeitet worden ist; denn für das Regulierungsrecht stellt sie die Standardsituation dar. Um ihr Rechnung zu tragen und die notwendige Waffengleichheit der privaten Rechtsträger sicherzustellen, ist das Ziel des regulierungsrechtlichen in-camera-Verfahrens von Anfang an ausdrücklich entsprechend breit gefasst worden,21 während die Möglichkeit, auch das Verfahren des § 99 Abs. 2 VwGO zu nutzen, um eine behördlich beabsichtigte Offenlegung von Geheimnissen zu unterbinden, erst auf dem Wege verfassungskonformer Interpretation gewonnen werden musste.22 Auch die Bindung des Antrags auf Durchführung des incamera-Verfahrens an eine Monatsfrist, die das Verfahren nach § 99 VwGO nicht kennt, und überhaupt das Bemühen um eine schnelle Lösung des Geheimhaltungskonflikts in einem integrierten Zwischenverfahren erklären sich aus der Mehrpoligkeit der Interessenlage, die für das Regulierungsrecht charakteristisch ist. Dessen ungeachtet ist das integrierte Verfahren des § 138 TKG klar als in-cameraVerfahren ausgewiesen. Auch hier wird unter Einschränkung der normalen Verfahrensstandards des Art. 103 Abs. 1 GG „in camera“ entschieden.23 Die Mitglieder des Gerichts werden über ihre allgemeinen Pflichten zur Amtsverschwiegenheit und zur Wahrung des Beratungsgeheimnisses hinaus ausdrücklich zur Geheimhaltung verpflichtet; die Entscheidungsgründe dürfen Art und Inhalt der geheim gehaltenen Unterlagen nicht erkennen lassen. § 138 Abs. 3 S. 3 TKG formuliert hier wortgleich mit § 99 Abs. 2 VwGO. Umso mehr fällt auf, dass die zusätzlichen Bestimmungen, die in der Verwaltungsgerichtsordnung zur praktischen Gewährleistung des Geheimnisschutzes für notwendig gehalten werden, im Text des § 138 TKG nicht zu finden sind. Das gilt für die Unterstellung des Zwischenverfahrens unter den materiellen Geheimnisschutz und für die Verpflichtung des nichtrichterlichen Personals auf die Regelungen des personellen Geheimnisschutzes. In der Kommentarliteratur wird umstandslos eine entsprechende Anwendung der diesbezüglichen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung befürwortet.24 Das mag im praktischen Ergebnis akzeptiert werden. Für die im vorliegenden Zusammenhang interessierende Analyse unterschiedlicher Verfahrenstypen jedoch sollten die Textunterschiede als Anstoß genommen werden, um auch insoweit auf die unterschiedlichen Regelungssituationen, auf die die beiden Typen gemünzt sind, aufmerksam zu machen. Für § 138 TKG stehen private Geheimnisse im Vordergrund. Dass die zur Aktenvorlage verpflichtete Behörde ihre Weigerung im Einzelfall auch einmal auf den Schutz staat20 Dazu grundlegend BVerfGE 115, 205 (232 ff.); zu weiteren Konsequenzen Schenke (Fußn. 2), S. 128 ff. 21 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs, Bundestags-Drs. 15/2316, S. 102. 22 BVerwG NVwZ 2004, 105 f.; Kopp/Schenke (Fußn. 15), § 99 Rn. 18; Schenke (Fußn. 2), S. 129 f. 23 Gurlit, in: Säcker (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Telekommunikationsgesetz, 2. Aufl. 2009, § 138 Rn. 23. 24 Gurlit (Fußn. 23), Rn. 23.
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licher Geheimhaltungsinteressen stützen kann, ist nicht ausgeschlossen, denn in § 138 Abs. 1 TKG ist mit dem Verweis auf § 99 Abs. 1 VwGO das gesamte Spektrum der dort aufgeführten Ablehnungsgründe in Bezug genommen. Eindeutig im Vordergrund stehen jedoch private Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, während § 99 VwGO umgekehrt zwar auch den Schutz der Letzteren mit umfasst, primär jedoch staatliche Geheimhaltungsinteressen im Blick hat. Diese Unterschiede in der Regelungssituation setzen sich bei denkbaren Folgeproblemen fort. Während eine Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen notfalls durch Geldleistung ausgeglichen werden könnte, scheidet eine solche Kompensation bei der Verletzung wichtiger staatlicher Geheimnisse im Regelfall aus. Das ist zu beachten, wenn heute das integrierte Verfahren des § 138 TKG gelegentlich als „Muster“ auch für das in-cameraVerfahren des allgemeinen Prozessrechts empfohlen wird.25 Das integrierte in-camera-Verfahren hat den Vorzug größerer Nähe zum Hauptsacheverfahren. Das für beide Verfahren zuständige Gericht kann nach Zwischenlösungen suchen. Es ist, wie es im Schrifttum heißt, flexibler als die auf die Frage nach der Berechtigung der Geheimhaltungsgründe festgelegten Fachsenate. Man sollte diesen Unterschied jedoch nicht überschätzen. Nach derzeitigem Konzept des § 138 TKG darf das Gericht, wenn die Unterlagen zu Recht nicht vorgelegt zu werden brauchten, die im in-camera-Verfahren erlangten Kenntnisse im Hauptsacheverfahren nicht verwerten. Das legt § 138 Abs. 4 S. 2 TKG ausdrücklich fest, und davon kann nur mit Einverständnis der Beteiligten abgewichen werden. Obwohl das integrierte Zwischenverfahren gerichtsorganisatorisch näher beim Hauptsacheverfahren angesiedelt ist, wird hier – jedenfalls de lege lata – doch eine ähnliche Distanz zwischen beiden Verfahren aufgebaut, wie sie das isolierte Verfahren kennzeichnet.26 Die Zuständigkeit des Gerichts der Hauptsache impliziert keine in-camera-Verwertung im Hauptsacheverfahren. c) Das versteckte in-camera-Verfahren des § 72 GWB Einen dritten Weg, um Probleme des prozessualen Geheimnisschutzes zu lösen, zeigt § 72 GWB auf. Der primäre Anwendungsbereich dieser Vorschrift sind Verfahren gegen die Entscheidungen von Kartellbehörden (§§ 54 ff. GWB). Nach § 120 Abs. 2 GWB ist die Bestimmung aber auch in allen Vergaberechtsstreitigkeiten anzuwenden, die den §§ 97 ff. GWB unterfallen. Eine dem § 72 GWB entsprechende Regelung treffen § 84 EnWG für Regulierungsentscheidungen auf dem Gebiet der Energiewirtschaft und § 57 Abs. 2 des WpÜG für bestimmte Entscheidungen der Finanzaufsichtsbehörden. Für alle diese Streitigkeiten sind kraft spezieller Rechtswegklauseln die Zivilgerichte (Oberlandesgerichte, Bundesgerichtshof) zuständig. Materiell handelt es sich jedoch um Streitigkeiten in Verwaltungsrechtssachen. § 72 GWB 25
Vgl. z. B. Schoch, VBlBW 2010, 333 (342). Ähnlich BVerwGE 127, 282 (291 f.); Gurlit (Fußn. 23), § 138 Rn. 30, dort auch zur Frage, ob dieses Verwertungsverbot im Anwendungsbereich des Art. 4 der Telekommunikations-Rahmenrichtlinie Nr. 2002/21 EG nicht angewendet werden darf. 26
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steht für jenen Sektor des Verwaltungsrechtsschutzes, der nicht den Verwaltungsgerichten, sondern den ordentlichen Gerichten anvertraut ist, der aber gleichwohl die Aufmerksamkeit der Verwaltungsprozessrechtswissenschaft verdient. Er umfasst keineswegs nur die Traditionsmaterien der Art. 14 Abs. 3 S. 4 und Art. 34 S. 3 GG, sondern weist gerade in jüngerer Zeit, wie das Energie- und das Finanzaufsichtsrecht zeigen, Wachstumstendenzen auf,27 die zutreffend kritisch beobachtet werden.28 Entsteht hier ein „dritter“ zwischen Verwaltungsgerichtsordnung und Zivilprozessordnung oszillierender Rechtsweg, der die Prozessmaximen beider Verfahrensordnungen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen präsentiert? So betrachtet lässt sich § 72 GWB systematisch durchaus in Parallele zu §§ 99, 100 VwGO setzen. Anders angelegt ist freilich die Regelungstechnik:29 Auch § 72 GWB beginnt zwar mit einem Recht der Akteneinsicht, das jedenfalls den Hauptbeteiligten des Kartellverfahrens (§ 67 Abs. 1 Nr. 1 und 2 und Abs. 2 GWB) umfassend eingeräumt wird (Absatz 1), und das sich nicht nur auf die Prozessakten, sondern auch auf Vorakten, Beiakten und andere Vorgänge beziehen soll, die zu den Gerichtsakten gelangt sind. Die Einsichtnahme in Letztere wird aber sogleich an die Zustimmung derjenigen gebunden, „denen die Akten gehören“ (Absatz 2 Satz 1). Das sind je nach der Fallgestaltung die Kartellbehörde, andere Behörden und auch Unternehmen. Der Kartellbehörde wird für die von ihr zu treffenden Zustimmungsentscheidungen besondere Sorgfalt im Umgang mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen ausdrücklich zur Pflicht gemacht (Satz 3). Wird die Einsicht abgelehnt, so dürfen die Unterlagen bei späteren Entscheidungen nicht verwertet werden (Satz 4). Nicht ganz klar ist, inwieweit die Versagung der Zustimmung gerichtlich überprüft werden kann. § 72 Abs. 2 S. 4 – 6 GWB sieht ein Zwischenverfahren vor, in dem das Gericht die Offenlegung geheim zu haltender Informationen anordnen kann, wenn andere Möglichkeiten der Sachaufklärung nicht bestehen und die Bedeutung der Sache für die Sicherung des Wettbewerbs die Geheimhaltungsinteressen überwiegt. Ob sich das Gericht dazu die geheimhaltungsbedürftigen Akten selbst ansehen kann und in welcher Weise das geschehen sollte, bleibt offen. Einige Autoren sehen in diesem Verfahren eine abschließende Spezialregelung, die zugleich bewirke, dass die Entscheidungen der Kartellbehörden nach Satz 1 als solche nicht gerichtlich überprüft werden könnten.30 Dieses Ergebnis erscheint jedoch zweifelhaft. Der Weg einer gerichtlichen Offenlegungsanordnung erschöpft das Konfliktpotential, das aus den voraufgehenden Entscheidungen der Kartellbehörde folgen kann, nicht. Nicht erfasst werden vor allem die Fälle, in denen die Behörde den Aktenzugang 27
Vgl. die Aufstellung bei Kopp/Schenke (Fußn. 15), § 40 Rn. 49a. Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III 2009, § 50 Rn. 99: „In Gang gesetzt worden ist eine schleichende Auszehrung vor allem der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit“. Kritisch auch Gärditz, DV 2010 (43), 309 (315 ff.). 29 Vgl. zum Folgenden die Nachweise bei Sawang (Fußn. 2), S. 39 f. 30 So für den gleichlautenden § 84 Abs. 2 S. 4 EnWG Hanebeck, in: Britz/Hellermann/ Hermes (Hrsg.), Energiewirtschaftsgesetz, 2. Aufl. 2010, § 84 Rn. 6. 28
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unter Verletzung der in Satz 2 festgelegten Pflicht zur Wahrung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen freigeben will. Es liegt daher näher, dass Abwägungsverfahren des Satzes 4 als ein zusätzliches Mittel anzusehen, die Informationslage im Kartellverfahren transparenter zu machen, den Beteiligten daneben aber die Möglichkeit offen zu halten, die Entscheidungen der Kartellbehörden, nach Satz 1 der Einsichtnahme zuzustimmen bzw. sie abzulehnen, gerichtlich überprüfen zu lassen. Zutreffend wird daher für diese Fälle eine analoge Anwendung des § 99 Abs. 2 VwGO befürwortet,31 wobei die in-camera-Prüfung vom Gericht der Hauptsache vorzunehmen ist, weil gesonderte Fachsenate in der Zivilgerichtsbarkeit dafür nicht vorgesehen sind. Viel spricht dafür, die Entscheidung des Gerichts über eine auf § 72 Abs. 2 S. 4 GWB gestützte Offenlegungsanordnung, wenn die Fallkonstellation dazu Veranlassung gibt, in diese Prüfung zu integrieren. Eine solche Verschränkung findet sich im in-camera-Verfahren des § 138 Abs. 2 TKG, ist dort aber weniger deutlich ausgedrückt. Vergleicht man den Entscheidungsgegenstand aller drei der von uns skizzierten incamera-Regelungen noch einmal, so wird ein wichtiger Unterschied zwischen der allgemeinen Regelung der Verwaltungsgerichtsordnung und den regulierungs- bzw. wettbewerbsrechtlichen Varianten deutlich: In § 99 Abs. 2 VwGO wird eine behördliche Entscheidung über die Verweigerung (oder Ermöglichung) der Aktenvorlage auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft und damit mittelbar über den Aktenzugang entschieden. In den beiden anderen Fällen entscheidet das Gericht unmittelbar darüber, ob Unterlagen vorzulegen sind oder nicht vorgelegt werden dürfen, und trifft dabei eine eigene Abwägungsentscheidung darüber, ob das Interesse an der Vorlage der Unterlagen die Interessen an der Wahrung von Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen überwiegt. Das in § 72 Abs. 2 S. 4 – 6 GWB vorgesehene eigenständige Zwischenverfahren macht diesen Punkt besonders deutlich. Der Abwägungsauftrag ist aber ebenso in § 138 Abs. 2 S. 2 TKG festgeschrieben. Regulierungs- und Wettbewerbsrecht legen das Gericht so auf eine stärker aktive Rolle für die Herstellung von Zugänglichkeit fest. Sie haben es freilich auch im Wesentlichen mit Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, nicht mit dem Geheimnisschutz in seiner ganzen Breite zu tun, wie das für § 99 VwGO gilt. 2. In-camera-Verfahren in der Hauptsache Hier geht es nicht um einen zu einem Zwischenverfahren verdichteten, eigenständigen Verfahrensabschnitt, sondern um Vorkehrungen, die es dem Gericht der Hauptsache ermöglichen, geheim zu haltende Informationen bei der Sachentscheidung zu verwerten, ohne sie der Kenntnis anderer Preis zu geben. Die dazu einsetzbaren Instrumente und Techniken hängen zunächst einmal davon ab, ob die Informationen nur der allgemeinen Öffentlichkeit oder auch den Prozessbeteiligten vorenthalten werden 31
Rn. 7.
So K. Schmidt, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, 4. Aufl. 2007, § 72
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sollen. Im ersten Fall kann es schon genügen, nach §§ 171b, 172 GVG in Verbindung mit § 173 VwGO die Öffentlichkeit der Verhandlung zu beschränken und den Beteiligten gem. § 174 Abs. 3 S. 1 GVG ein strafbewehrtes Schweigegebot aufzuerlegen.32 In den meisten Fällen geht es jedoch darum, Geheimhaltung gerade auch gegenüber Prozessbeteiligten zu gewährleisten. Dann müssen auf jeden Fall zunächst einmal deren Rechte auf Akteneinsicht eingeschränkt werden. Darüber hinaus kann es erforderlich werden, Beteiligte von der Beweisaufnahme auszuschließen und Aufklärungshinweise und Beweisbeschlüsse entsprechend undeutlich zu formulieren. Ferner müssen die Begründungen der Gerichtsentscheidungen so abgefasst werden, dass sie Art und Inhalt der geheim zu haltenden Informationen nicht erkennen lassen. Inwieweit mit Zustimmung der Beteiligten weitere Kautelen geschaffen werden können, ist an dieser Stelle nicht zu untersuchen. Insgesamt geht es auch hier um ein ganzes Netz von Einschränkungen der sonst zur Verfügung stehenden prozessualen Befugnisse der Beteiligten und von praktischen Geheimhaltungsvorkehrungen des Gerichts, das über das gesamte Verfahren in der Hauptsache gespannt werden und in einer Weise festgezogen werden muss, dass in jeder Phase ein wirksamer Geheimnisschutz gewährleistet ist. Wenn das gelingt, hat die in-camera-Verwertung den Vorzug, der richtigen Erkenntnis der materiellen Rechtslage zum Durchbruch zu verhelfen – freilich um den Preis, das Hauptsacheverfahren in gewissen Phasen zum Geheimverfahren zu machen und die kommunikativen Komponenten des Prozesses zu beschädigen. II. Verfassungsfragen des in-camera-Verfahrens Trotz ihrer Beliebtheit und ihrer Notwendigkeit sind in-camera-Verfahren verfassungsrechtlich Kompromisskandidaten. Die Spannungen zwischen Geheimnisschutz und Rechtsschutz, zwischen Gehörgrundsatz und Arkanpraxis,33 zwischen materiellem und prozeduralem Rechtsverständnis müssen zu einem Ausgleich gebracht werden, für den es trotz des sympathischen Begriffs der Konkordanz keine festen, allgemein akzeptierten Abwägungsregeln gibt. Das ist schon in der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidung zu § 99 VwGO a. F. klar erkennbar geworden.34 In der Entscheidung vom 14. März 2006 zu in-camera-Verfahren unter den Bedingungen der „Mehrpoligkeit“ tritt die Konflikthaftigkeit der zugrundeliegenden Regelungssitua-
32
Vgl. Schüly (Fußn. 2), S. 57 f. und 62. Zu dem in diesem Zusammenhang nicht selten benutzten Begriff „Geheimverfahren“ kritisch, weil er „sachfremde Assoziationen“ evoziere, Sawang (Fußn. 2), S. 14 f. mit weiteren Nachweisen. 34 BVerfGE 101, 106 (129). Die dortige Aussage, Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG dürften „nicht in Gegensetz zueinander gerückt werden“, verschleiert die Problematik eher, als dass sie zur Lösung beiträgt. Es geht um die Einzelausprägungen. Beide Bestimmungen können eingeschränkt werden und in bestimmten Situationen die Einschränkung der jeweils anderen nahelegen. 33
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tion noch deutlicher hervor35 – besonders pointiert herausgestellt im Sondervotum des Richters Gaier.36 Es wundert daher nicht, dass die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen andauern, sich gleichsam in das Institut hinein verlagert haben. Sie betreffen zum einen eine Reihe wichtiger Einzelfragen.37 Sie betreffen aber auch Grundfragen der richtigen Umsetzung des in-camera-Gedankens selbst. Gerade in jüngster Zeit sind dabei die beiden oben herausgestellten Grundtypen und die Frage ihres Verhältnisses zueinander zum Problem – plakativ formuliert: zu einem Verfassungsstreit „Zwischenverfahren in camera“ versus „Verwertung in camera“ geworden. Die rechtspraktischen Vorzüge und Schwächen der beiden Typen haben wir oben bereits skizziert (unter I). Rechtsdogmatisch statuiert die Verwaltungsgerichtsordnung in § 99 Abs. 2 heute einen Exklusivitätsanspruch des Zwischenverfahrens, der eine in-camera-Verwertung der als geheimhaltungsbedürftig anerkannten Unterlagen im Hauptsacheverfahren schon vom tatsächlichen Verfahrensablauf her nicht zulässt.38 Wer dagegen eine solche Verwertung nicht nur für sinnvoll, sondern für verfassungsgeboten hält, muss sich folglich vor allem gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 99 Abs. 2 VwGO wenden (1). Aber auch weniger radikale Vorschläge könnten es nahelegen, die beiden Typen von in-camera-Verfahren durch entsprechende Gesetzesänderungen in ein anderes Verhältnis zueinander zu bringen (2 – 3). 1. Generalangriff auf § 99 Abs. 2 VwGO Gewichtige verfassungsrechtliche Einwände gegen die bisherige Regelung hat 2009 Wolf-Rüdiger Schenke erhoben.39 Sein Ausgangpunkt ist die verfassungsgerichtliche Entscheidung vom 27. Oktober 1999, die er mit ihrer Frage nach der Erforderlichkeit einer Rechtsschutzverkürzung beim Wort nehmen möchte. Angesetzt wird dazu bei den Konsequenzen des Zwischenverfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO: gelange der Fachsenat nämlich zur Bestätigung der Geheimhaltungsbedürftigkeit, so erhalte das Gericht der Hauptsache keinerlei Kenntnis vom Inhalt der Akten und könne sich diese auch nicht verschaffen; in einer solchen Nichtberücksichtigung entscheidungserheblicher Akten liege eine Einschränkung des verfassungsrechtlich garantierten Rechtsschutzes; um Art. 19 Abs. 4 GG zu genügen, müsste diese aus Gründen des Geheimnisschutzes erforderlich sein; daran aber fehle es, denn auch bei einer in-camera-Verwertung könne dieser Schutz etwa dadurch, dass den Prozessbeteiligten die Akten nicht vorgelegt und die Entscheidungsgründe 35 BVerfGE 115, 205 (240: „angemessene Kollisionsbewältigung“; 244: „kollidierende Rechtsgüter“). 36 BVerfGE 115, 205 (255 f.). 37 So die Frage nach den aus § 99 VwGO (so BVerwG DVBl 2006, 1245, 1246) oder aus dem jeweils einschlägigen Fachrecht zu entnehmenden Entscheidungsmaßstäben im Falle der selbstständigen Einsichtnahmeansprüche (so Schoch (Fußn. 25), 342). 38 BVerwGE 118, 352 (356); 127, 282 (291). 39 Schenke (Fußn. 2), S. 117 ff. unter Hinweis auf die Bedenken schon bei Beutling, DVBl 2001, 1252 ff. und Mayen, NVwZ 2003, 537 ff.
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entsprechend gefasst würden, gewährleistet werden; eingeschränkt sei eine solche Verwertung allerdings dort, wo sie nicht ohne eine (auch nur faktische) Preisgabe erfolgen könnte; solche Fälle würden in der Praxis nicht selten sein, aber außerhalb dieser Fälle liege es durchaus in der Logik der Entscheidung vom 27. Oktober 1999, eine in-camera-Verwertung „in Verbindung mit unselbständigen entscheidungserheblichen Informationsansprüchen auch in Bezug auf die Hauptsacheverfahren für grundsätzlich geboten anzusehen“.40 Unterstützt sehen kann sich diese Ansicht durch das oben zitierte Sondervotum des Richters Gaier, das „die strukturelle Unzulänglichkeit der Regelung in § 99 Abs. 2 VwGO“ kritisiert und „eine wirkungsoptimierte Zuordnung von Justizgewährung und Geheimnisschutz“ verlangt.41 Sie soll in der Zulassung der Verwertung geheimhaltungsbedürftiger Unterlagen im Hauptsacheverfahren bestehen, das insoweit „in camera“ zu führen sei. Die damit verbundenen Einschränkungen des Art. 103 Abs. 1 GG begegnen nach Ansicht des Sondervotums „keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken“, weil sie durch sachliche Gründe gerechtfertigt sind. § 99 Abs. 2 VwGO dagegen soll „jedenfalls hinsichtlich der Begrenzung auf ein in camera geführtes Zwischenverfahren in multipolaren Konstellationen“ mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren sein. Dem ist unter detaillierter Erörterung der in solchen Konstellationen wirksamen gegensätzlichen Rechtspositionen Judith Sawang in ihrer Dissertation zum Geheimnisschutz im Schiedsverfahren beigetreten.42 Die Kritik hat jedoch auch andere Fälle im Blick: So beanstandet Friedrich Schoch, dass bei den selbstständigen Informationsansprüchen die Entscheidung nicht mehr im Hauptsacheverfahren, sondern faktisch schon im Fachsenat falle, und fragt, ob das mit der Gewährleistung des „gesetzlichen Richters“ in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist. Wie Wolff-Rüdiger Schenke so erinnert auch er zudem an Art. 19 Abs. 4 GG und die darin aufgegebene umfassende Prüfung des Rechtsschutzbegehrens durch das zuständige Gericht.43 Auch er verlangt eine in-camera-Verwertung durch das Gericht der Hauptsache. Angesichts eines solchen Aufgebotes an juristischer Kompetenz scheinen die Tage des § 99 Abs. 2 VwGO und seines Exklusivitätsanspruches gezählt. 2. Einige retardierende Zwischenüberlegungen Bevor der Abschiedsbrief jedoch endgültig verfasst, der Stab über § 99 Abs. 2 VwGO wirklich gebrochen wird, seien einige Überlegungen formuliert, die vielleicht zu einer etwas anderen Einschätzung veranlassen. Es sind die altbekannten Gegen40
Schenke (Fußn. 2), S. 121. BVerfGE 115, 205 (250, 253 ff.). 42 Sawang (Fußn. 2), S. 148 ff. und 166 ff.; knapp auch schon von Egidy (Fußn. 2), S. 162. 43 Schoch (Fußn. 37), 342. Im Ergebnis ähnlich auch Gärditz/Orth (Fußn. 17), die nicht auf das Verfassungsrecht, sondern auf europarechtliche Impulse abstellen und eine entsprechende Anerkennung der in-camera-Verwertung im Hauptsacheverfahren rechtspolitisch empfehlen. 41
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positionen des Geheimnisschutzes (a) und des Rechts auf Gehör vor Gericht (b), die gerade die jüngsten Diskussionen meiner Ansicht nach in einer etwas verkürzten Perspektive wahrgenommen und in ihrer Bedeutung daher nur unvollkommen erfasst haben. a) Geheimnisschutz als wirksamer Schutz (aa) Kritik an § 99 Abs. 2 VwGO wird heute besonders gern von den Besonderheiten mehrpoliger Interessenkonstellationen her begründet. Die verfassungsgerichtliche Entscheidung zum telekommunikationsrechtlichen in-camera-Verfahren und vor allem das Sondervotum Gaier sind ganz von dieser Perspektive geprägt. Aber auch im sonstigen Regulierungsrecht sowie im Kartell- und Vergaberecht geht es um solche mehrpoligen Konfliktsituationen, in denen, eingebunden in Verwaltungsverfahren, private Rechtsträger ihre gegensätzlichen Positionen durchsetzen wollen. Die in Streit befindlichen Geheimnisse sind hier regelmäßig Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Auch sie genießen verfassungsrechtliche Anerkennung; auch sie gehören zu den Geheimnissen, die die zuständigen Behörden nach Maßgabe des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO vor unberechtigter Preisgabe zu schützen haben.44 Aber sie erschöpfen den Kreis schützenswerter Geheimnisse im Sinne dieser Bestimmung nicht, mehr noch: sie sind für die dort normierten Geheimnisse nicht einmal repräsentativ. Das hat einmal damit zu tun, dass sie wie ihre Gegenpositionen auch grundrechtlich begründet sind und diese Gleichheit des Rechtsbodens dazu veranlasst, bei Rechtsdurchsetzung und Rechtsverteidigung soweit wie irgend möglich auf korrespondierende prozessuale Instrumente zu sehen. Insoweit § 99 Abs. 2 VwGO dieses strukturell verhindert und in der Hauptsache nur eine Entscheidung nach Beweislastregeln ermöglicht, sprechen die besseren Gründe für eine Änderung des bisherigen Rechts und für die Zulassung einer in-camera-Verwertung. (bb) Für die anderen der in § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO als schutzwürdig anerkannten Geheimnisse bedarf es weiterer Differenzierungen. Was sich hinter den umständlich formulierten gesetzlichen Tatbestandmerkmalen als Geheimnis verbirgt und in der Kommentarliteratur materialreich ausgebreitet wird, ist ein Konglomerat von Interessen sehr unterschiedlicher Herkunft und Schutzbedürftigkeit:45 Steuer- und Sozialgeheimnisse, Angaben in Personalakten und Verfassungsschutzakten, Unterlagen des diplomatischen und konsularischen Verkehrs, Prüfungsakten, und vieles mehr. Die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder fassen die Tatbestände zwar anschaulicher, machen zur Schutzwürdigkeit im Einzelfall aber letztlich auch keine präziseren Angaben.46 Das Meiste erscheint in seinem Schutzanspruch plausibel, teilweise sogar grundrechtlich abgesichert; es ist von Verwaltungen und Gerich-
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Kopp/Schenke (Fußn. 15), § 99 Rn. 12. Vgl. nur Rudisile (Fußn. 4), § 99 Rn. 15 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 15), § 99 Rn. 10 ff. 46 Zu den einschlägigen §§ 3 – 6 IFG vgl. Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 2009, zusammenfassend § 9 Rn. 85. 45
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ten selbstverständlich sorgsam zu schützen, ohne freilich auf einen Geheimnisschutz im Panzerschrank festgelegt zu sein. (cc) In seiner qualifizierten Schutzbedürftigkeit herausgehoben aber ist ein engerer Kreis von Vorgängen mit hohem Risikopotential im Falle ihrer Entdeckung. Begrifflich lassen sich diese Fälle der Gruppe von Geheimnissen zuordnen, deren Bekanntwerden in der Formulierung des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO „dem Wohle des Bundes oder eines Landes Nachteile“ bereiten würde; sie machen dort aber nur den Kernbestand aus. Eine Belastung der internationalen Beziehungen oder der Vertraulichkeit internationaler Verhandlungen genügt nicht, um zu diesem Kern gerechnet zu werden. Vielmehr geht es um sicherheitsempfindliche Belange im militärischen, polizeilichen und technischen Bereichen: Gutachten zu Sicherheitskonzepten kerntechnischer und chemischer Anlagen, Einsatzpläne des Personenschutzes, Namen von Polizeiinformanten. Verfassungsschutz und Nachrichtendienste sind ihre bevorzugten Stellen. Doch lassen sie sich nicht allein dort lokalisieren, sondern können, wie die Beispiele des Personen- und Objektschutzes zeigen, ubiquitär in der Verwaltung wichtig werden. Es geht hier keineswegs nur um „Staatsgeheimnisse“ in jenem missverständlichen Sinne, dass der Staat über den Schutz dieser Geheimnisse zu disponieren befugt, ein liberaler Staat vielleicht sogar zu besonders großzügig laxem Umgang mit ihnen angehalten wäre. Hinter vielen dieser Geheimnisse stehen auch grundrechtliche Schutzinteressen und Schutzaufträge, die auch das Prozessrecht auf jeden Fall berücksichtigen muss. Zutreffend ist die Schutzwürdigkeit dieses engeren Kreises staatlicher Geheimnisse von der Rechtsprechung denn auch immer wieder anerkannt worden.47 Entscheidend ist jedoch nicht nur die Schutzwürdigkeit; ebenso wichtig ist die Wirksamkeit des Schutzes. Dem Gesichtspunkt der Effektivität – als „Rechtsschutzeffektivität“ in Literatur und Rechtsprechung zu Art. 19 Abs. 4 GG breit entfaltet48 – ist auch bei anderen verfassungsrechtlichen Schutzgütern Rechnung zu tragen. Wirksamkeit des Geheimnisschutzes zu gewährleisten verlangt neben rechtlichen Abschottungsregelungen ein erhebliches Maß an tatsächlichen Vorkehrungen. Sie durch eine Zuständigkeitskonzentration des in-camera-Verfahrens bei wenigen Fachsenaten zu bieten, war der wesentliche Grund für die detaillierte Regelung des § 99 Abs. 2 VwGO.49 Dieser Grund ist für den umschriebenen Kernbestand sicherheitssensibler Geheimnisse nicht fortgefallen. Geheimnisse dieser Art einer in-cameraVerwertung des Gerichtsalltags zu überlassen, würde ihrem Risikopotential nicht gerecht. Was an organisatorischen und technischen Vorkehrungen in § 99 Abs. 2 VwGO 47 Vgl. nur BVerfGE 101, 106 (127 f.); aus jüngerer Zeit BVerwGE 117, 8; BVerwG Buchholz 310 § 99 Nr. 54 Rn. 8; BVerwG Buchholz 310 § 99 Rn. 9; BVerwG, Beschluss vom 20. 9. 2010, Az. 20 F 7.10, BeckRS 2010, 26855; BVerwG, Beschluss vom 5. 2. 2009, Az. 20 F 3.08, BeckRS 2009, 31762. 48 Dazu Schenke, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Stand 2009, Rn. 637 – 694. 49 Zur Entstehungsgeschichte Rudisile (Fußn. 4), § 99 Rn. 2a. Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, Bundestag-Drucksache 14/7474, S. 14 f.
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vorgeschrieben ist, um ein wirksames Sicherheitsnetz aufzuspannen, kann nicht in allen Spruchkörpern jedes Gerichts vorgehalten werden. Ohne eine Zuständigkeitskonzentration geht es nicht. Damit aber ist mindestens für die hier herausgehobenen Geheimnisse eine in-camera-Verwertung in der Hauptsache nicht möglich. Um das Gegenteil zu belegen wird gelegentlich § 138 TKG ins Feld geführt, der einer in-camera-Verwertung leicht geöffnet und so zum „Muster“ für eine allgemein anzustrebende in-camera-Verwertung werden könnte.50 Der Vorschlag übersieht, dass die unverzichtbare Zuständigkeitskonzentration, ohne die im allgemeinen Verwaltungsprozessrecht nicht auszukommen ist und die dort zum in-camera-Verfahren vor Fachsenaten führt, im Regulierungsprozessrecht des Telekommunikationsgesetzes nahezu automatisch eintritt, weil es praktisch nur um Klagen gegen einen speziellen Beklagten geht, nämlich die Bundesnetzagentur. Das wird schon an § 137 TKG deutlich. Die Bundesnetzagentur in Bonn ist es auch, die anstelle einer obersten Aufsichtsbehörde gemäß § 138 Abs. 2 S. 2 TKG in Verbindung mit § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO mit der Abgabe der Sperrerklärung betraut ist. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass die Prozesse hier im Regelfall gemäß § 52 Nr. 2 VwGO vor dem Verwaltungsgericht Köln beginnen51 und im Instanzenzug über das Oberverwaltungsgericht Münster zum Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts laufen werden. Geheimhaltungsprobleme des in-camera-Verfahrens stellen sich angesichts dieser Zuständigkeitslage für die Hauptsacheverfahren also von vorneherein nur für einen sehr kleinen Kreis von Spruchkörpern. Das ist eine vollständig andere Situation als diejenige, der sich die allgemeine Regelung des § 99 VwGO gegenübersieht, in der das Gericht der Hauptsache jedes Verwaltungsgericht und innerhalb des Gerichts jede Kammer bzw. jeder Senat sein kann. Ein etwas veränderter § 138 TKG kann folglich ein Muster für die Bewältigung der in-camera-Problematik in Gebieten mit ähnlicher Entscheidungsstruktur, nicht aber für das Verwaltungsrecht in ganzer Breite sein. b) Rechtliches Gehör In-camera-Verfahren sind notwendig mit Einschränkungen des rechtlichen Gehörs der Beteiligten verbunden. Bereits die Entscheidung vom 27. Oktober 1999 hat dazu Ausführungen gemacht und gewisse Verkürzungen mit dem Hinweis auf den durch ein in-camera-Verfahren insgesamt verbesserten Rechtsschutz gerechtfertigt.52 Das Bundesverfassungsgericht, so heißt es,53 habe damit „das vermeintliche Tabu einer Gehörseinschränkung gebrochen“. Jedenfalls ist es erstaunlich, wie schnell die Diskussionen der in-camera-Problematik den Art. 103 Abs. 1 GG seither beiseitegeschoben haben, der doch sonst als ein ganz wichtiger Garant von Rechts-
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Vgl. BVerfGE 115, 205 (254 Sondervotum Gaier); auch Schoch (Fußn. 25), 342. Ruffert, in: Säcker (Fußn. 23), § 116 Rn. 25 f. BVerfGE 101, 106 (129). So Sawang (Fußn. 2), S. 156 f.
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staatlichkeit angesehen wird und gewährleisten soll, dass der Einzelne „nicht bloßes Objekt des Verfahrens“ ist.54 Auch hier scheint mir die Perspektive der jüngeren Diskussionen einer gewissen Korrektur zu bedürfen: Weder ging es in der Entscheidung von 1999 um den Bruch eines Tabus, nach dessen Beseitigung man nun mit den Anforderungen des rechtlichen Gehörs desto sorgloser verfahren könnte, denn Schranken des Art. 103 Abs. 1 GG waren auch schon vorher anerkannt;55 noch lässt sich der verfassungsgerichtlichen Entscheidung ein Grundsatz entnehmen, demzufolge jede Verkürzung des Gehörrechts hinzunehmen sei, wenn nur ein (vermeintlich) besserer Rechtsschutz erzielt wird. Die Entscheidung bezieht sich nur auf „in camera“ geführte Zwischenverfahren. Wenn das Gehörrecht dagegen auch im Verfahren der Hauptsache eingeschränkt werden soll, um dort eine in-camera-Verwertung zu ermöglichen, sind die Gewichte neu auszutarieren. Die Senatsmehrheit hat in der Entscheidung vom 14. März 2006 dazu einige Gesichtspunkte zusammengetragen, die Sache aber offen gelassen.56 Die einfache Rechnung, der in seinen Verfahrensrechten eingeschränkte Beteiligte erhalte ja auf jeden Fall einen Vorteil in der Sache, geht hier nicht auf. Ergeben die „in camera“ verwerteten Tatsachen, dass der Klageanspruch nicht besteht, so wird der Kläger abgewiesen, ohne dass er die Möglichkeit hatte, sich zu diesen Tatsachen zu äußern. Das ist ein erhebliches Gravamen. Damit ist nicht endgültig gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer in-camera-Verwertung Stellung genommen. Aber der Eigenwert des Verfahrensrechts und die mit einer solchen Verwertung notwendig verbundenen Verkürzungen des Art. 103 Abs. 1 GG müssen wesentlich genauer bedacht werden.57 Mit dem Hinweis, das Recht auf Gehör sei kein Selbstzweck,58 ist es nicht getan. Das rechtliche Gehör ist auch Selbstzweck; anders kann es seine Funktion, Ausprägung auch des Menschenwürdeschutzes zu sein,59 nicht erfüllen. In der Plenarentscheidung des Bundesverfassungsgerichts heißt es dazu:60 „Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können“. Auch die Einschränkungen, die der Grundsatz der Verfahrensöffentlichkeit durch die Zulassung einer in-camera-Verwertung hinzunehmen hätte, sind in Rechnung zu stellen. Das alles spricht dagegen, § 99 Abs. 2 VwGO in ganzer Breite als verfassungswidrig einzustufen. Soweit Änderungen geboten sind, ist der parla54
So die Formulierungen bei Kopp/Schenke (Fußn. 15), § 108 Rn. 19. Dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 (Stand 2006), Rn. 17 ff. 56 BVerfGE 115, 205 (239 f., 246); kurz auch nur im Sondervotum Gaier dazu S. 255 f. 57 Dazu ausf. Schüly (Fußn. 2), S. 90 ff. (mit abl. Ergebnis); für multipolare Rechtsverhältnisse und für den Zivilprozess positiver, aber eine gesetzliche Regelung verlangend Sawang (Fußn. 2), S. 125 (177 ff., 200 ff.). 58 So Sawang (Fußn. 2), S. 200 unter Bezugnahme auf Blomeyer. 59 BVerfGE 55, 1 (6). 60 BVerfGE 107, 395 (408 f.). 55
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mentarische Gesetzgeber aufgerufen (dazu unter 3.).61 Dieser muss nicht nur die dazu notwendigen Textänderungen der §§ 99 und 108 Abs. 2 VwGO vornehmen, sondern auch über Möglichkeiten eines Ausgleichs nachdenken. c) Drohpotential des EU-Rechts? Bedenken gegen das Konzept eines isolierten in-camera-Verfahrens nach Art des § 99 Abs. 2 VwGO werden in der Literatur nicht selten auch auf EU-Recht gestützt.62 Direkt sind davon allerdings bisher nur Verfahren in speziellen Verwaltungsbereichen – zunächst das telekommunikationsrechtliche Verfahren, später auch das vergaberechtliche Verfahren – erfasst. In diesen Gebieten legen die einschlägigen Richtlinien die Notwendigkeit unabhängiger Beschwerdestellen bzw. Nachprüfungsstellen fest, durch die „wirksame Einspruchsmöglichkeiten“ gegeben sein müssen. Der Europäische Gerichtshof verlangt dazu, dass die Stellen „sämtliche Informationen“ besitzen müssen, damit sie „in voller Kenntnis der Umstände“ – auch geheim zu haltender Umstände – entscheiden können. Zu ihnen heißt es sodann:63 „Der Schutz dieser Informationen und von Geschäftsgeheimnissen muss jedoch sichergestellt und so ausgestaltet sein, dass er mit den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes und der Wahrung der Verteidigungsrechte der am Rechtsstreit Beteiligten im Einklang steht“. Damit ist das „Trilemma von Geheimnisschutz, Rechtsschutz und rechtlichem Gehör“ zwar benannt, aber zu seiner Lösung nicht viel beigetragen.64 § 138 TKG wird in unionsrechtskonformer Auslegung seither ohne das Verwertungsverbot des Absatzes 4 Satz 2 angewandt,65 so dass eine in-camera-Verwertung im Verfahren der Hauptsache ermöglicht wird. In einer für das Vergaberecht einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 2008 beschäftigte sich der Gerichtshof speziell mit dem Verhältnis der anerkannten prozessualen Verteidigungsrechte, zu denen vor allem das Recht auf Gehör zählt, zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen und hält es mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens für vereinbar, wenn eine Nachprüfungsinstanz „angesichts eines außerordentlich schweren Schadens“, der aus einer Weitergabe von Informationen an Mitbewerber entstünde, die Unterlagen vertraulich behandelt und damit das Anhörungsrecht des Mitbewerbers beschränkt.66 Die Union hat nicht die Kompetenz, allgemein das Verwaltungsprozessrecht der Mitgliedstaaten zu regeln. Die Zugriffe des Unionsrechts erfassen immer nur Teile. Sie können bestehende nationale Regelungen auf diese Weise allerdings erheblich 61
So auch BVerfGE 115, 205 (237, 240). Ausf. Sawang (Fußn. 2), S. 172 ff.; kurz Schenke (Fußn. 2), S. 123; Schoch (Fußn. 37), S. 342. 63 EuGH, Urteil vom 13. 7. 2006, Rs. C-438/04 „Mobistar“, Slg. 2006, I-6675 Tz. 40. 64 So zutreffend Gurlit (Fußn. 23), § 138 Rn. 31. 65 BVerwGE 127, 282 (288, 291 f.). 66 EuGH, Urteil vom 14. 2. 2008, Rs. C-450/06 „Varec SA“, EuZW 2008, 209 Tz. 44 ff. 62
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„durchlöchern“. Das gilt auch für den § 99 VwGO. Das isolierte in-camera-Verfahren steht als solches nicht zur Disposition; aber eine in-camera-Verwertung könnte den Mitgliedsstaaten auch in anderen Bereichen als dem Telekommunikations- und Vergaberecht zur Pflicht gemacht werden. Dabei dürften wirtschafts- und umweltrechtliche Bereiche für Unionsaktivitäten im Vordergrund stehen, Bereiche also, in denen es um mehrpolige Konfliktlagen und um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse geht. Das sind eben jene Bereiche, für die sich auch aus deutscher Perspektive am ehesten die Zulassung einer in-camera-Verwertung empfiehlt. Dabei sind die Impulse des Unionsrechts in der Sache alles andere als eindeutig. Jedenfalls wäre es verfehlt, ihnen einen generellen Nachrang des Anhörungsrechts entnehmen zu wollen. Wie auch das Eigenprozessrecht der Unionsgerichte zeigt, sind Unterlagen und Beweisstücke, wenn sie verwertet werden sollen, den Parteien zugänglich zu machen. In gesetzlich bestimmten besonderen Situationen jedoch kommt eine in-camera-Verwertung in Betracht. 3. Für ein gesetzliches Kern-Schalen-Konzept im Recht der in-camera-Verfahren Meine Überlegungen lassen sich für die weitere Rechtsentwicklung in folgender These zusammenfassen: § 99 Abs. 2 VwGO muss erhalten bleiben. Aber es muss nicht alles das, was unter dem Geheimnisbegriff des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO rubriziert, dem aufwendigen isolierten Zwischenverfahren unterstellt und einer in-camera-Verwertung im Hauptsacheverfahren entzogen werden. Daraus ergibt sich ein Kern-Schalen-Konzept der in-camera-Techniken: – Für den engeren Bestand hoch sensibler Unterlagen ist ein Zwischenverfahren vor einem besonderen Spruchkörper unverzichtbar, weil nur so die erforderlichen organisatorischen, personellen und technischen Vorkehrungen verfügbar gehalten werden können, die die verfassungsrechtlich gebotene Schutzeffektivität durchgängig gewährleisten. – Für das Gros der von § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO tatbestandlich erfassten Geheimnisse steht es dem Gesetzgeber frei, ein isoliertes Zwischenverfahren oder eine Verwertung im Hauptsacheverfahren „in camera“ vorzusehen. Weder das Verfassungsrecht noch das Unionsrecht schreiben ein bestimmtes Modell verbindlich vor. Auf Dauer dürfte sich – zumal unter dem mittelbaren Einfluss bereichsspezifischen europäischen Rechts – eine Entwicklung zur in-camera-Verwertung durchsetzen. Die damit notwendig verbundenen Verkürzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör und der Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen müssen sorgfältig ermittelt und, soweit das möglich ist, durch die gerichtliche Praxis ausgeglichen werden. – Bei Geheimnissen in mehrpoligen Interessenlagen, insbesondere bei Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, sprechen schon heute die besseren verfassungsrechtlichen Gründe für die gesetzliche Zulassung ihrer in-camera-Verwertung. Die erforderlichen Gesetzesänderungen sollten sich (zunächst) auf einzelne Gebiete des Be-
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sonderen Verwaltungsrechts konzentrieren, der Gesetzgeber sollte sie aber aus eigener Initiative vornehmen, bevor ihn Urteile aus Karlsruhe oder Luxemburg dazu zwingen. Wie lassen sich, wenn sich ein Gesetzgeber die in-camera-Verwertung künftig in größerem Umfang zu gestatten anschickt, die erforderlichen Differenzierungen zwischen den betroffenen Geheimnissen juristisch ins Werk setzen? Nicht weiterführend erscheint eine Unterscheidung nach den in Streit befindlichen (selbständigen oder unselbständigen) Informationsansprüchen. Man könnte daran denken, die Vorlage der Akten nur ganz bestimmter, vorwiegend im Sicherheitsbereich tätiger Behörden und Ämter stets an ein isoliertes Zwischenverfahren zu binden. Doch wäre ein solches Raster zu grob; denn bei weitem nicht alles, was in den Akten dieser Behörden zu finden ist, gehört zum Kreis besonders sensibler Geheimnisse, wie umgekehrt besonders sensible Geheimnisse, die den Schutz des isolierten Zwischenverfahrens verdienen, auch bei anderen Behörden existieren können. Die Differenzierung wird folglich nur über eine materielle gesetzliche Schutzwürdigkeitsstufung zu erreichen sein. Die traditionellen Begriffe „Nachteile“ für das „Wohl des Bundes oder eines Landes“, die als solche zu weit sind, müssten dazu durch den Hinweis auf die Schwere der Verletzungsfolgen spezifiziert und um die Schutzgüter „Leben, Freiheit und Gesundheit“ ergänzt werden. Nur für diese besonders sensiblen Geheimnisse wäre die Sperrerklärung der obersten Aufsichtsbehörde in der jetzigen Form und mit der Möglichkeit, ein in-camera-Verfahren zu beantragen, beizubehalten. Eine in-camera-Verwertung geheim zu haltender Unterlagen im Hauptsacheverfahren käme insoweit auch künftig nicht in Betracht. Für Akten mit weniger sensiblen, gleichwohl aber dem Geheimnisbegriff unterfallenden Informationen wäre entgegen der bisherigen Regelung eine Vorlagepflicht an das Gericht der Hauptsache vorzusehen; die Behörde müsste dabei die schützenswerten Geheimnisse bezeichnen und auf ihre Verwertung nur „in camera“ dringen. In streitigen Grenzfällen behielte die Behörde die Verfahrensherrschaft insofern, als sie mit der Sperrerklärung den Weg in das isolierte Zwischenverfahren wiese. Der jeweilige Fachsenat hätte dann zunächst über seine Zuständigkeit zu entscheiden. Verneint er sie, sind die Akten an das Gericht der Hauptsache zu einer Verwertung „in camera“ herauszugeben. Die von den unterschiedlichen in-camera-Techniken umgriffenen Fallkonstellationen sind ebenso vielfältig wie die gegenläufigen Rechts- und Interessenpositionen, die von ihnen zu einem Ausgleich zu bringen sind. In-camera-Verfahren selbst sind „Kompromisskandidaten“ – aber für das Prozessrecht der Informationsgesellschaft notwendige!
Die Konfliktschlichtungsformel Zur Neubegründung des subjektiven öffentlichen Rechts Von Matthias Schmidt-Preuß I. Der Stellenwert des subjektiven öffentlichen Rechts Zu den zentralen Stützpfeilern des Rechtsstaats gehört seit jeher das subjektive öffentliche Recht. Zugleich handelt es sich um eine eminente Rechtsfigur des Verwaltungsrechts, die über die Klagebefugnis auch weit reichende Auswirkungen im Verwaltungsprozessrecht hat. Das deutsche Rechtsschutz-Modell zeichnet sich dadurch aus, dass nicht jede Verletzung des objektiven Rechts für eine Einzelperson vor Gericht anfechtbar ist. Vielmehr setzt dies voraus, dass zugleich ein eigenes subjektives öffentliches Recht verletzt sein kann. Ist es verletzt, wird das Gericht den belastenden Akt kassieren. Verwaltungsrechtsschutz vor unabhängigen Gerichten ist ein Markenzeichen des Rechtsstaats. Hierbei kommt dem subjektiven öffentlichen Recht die Funktion eines Schlüssels zu, der das Tor zum Gericht öffnet. Umso dringlicher stellt sich daher die Frage nach seinen Voraussetzungen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich der Jubilar dem Faszinosum des subjektiven öffentlichen Rechts nicht verschließen konnte. Immer wieder hat er sich seiner angenommen und zur Fortentwicklung dieses Instituts in Breite und Tiefe maßgeblich beigetragen.1 II. Die bipolare Begrenztheit der Schutznormtheorie 1. Die Schutznormtheorie als eingliedrige Interessenschutzformel Die Rspr. deutscher Verwaltungsgerichte bestimmt subjektive öffentliche Rechte seit jeher bekanntlich nach der sog. Schutznormtheorie. In der Sache sollte man al1 Z.B. Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl., 2011, § 42 Rn. 59 ff., 118 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl., 2009, Rn. 493 ff., 513 ff.; ders., in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 (Aktualisierung Dezember 2009) Rn. 211 ff., 398 ff., 451; ders., Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009), 2009, S. 77 ff., 92 ff.; ders., in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III/2, 2009, § 78 Rn. 6, 40 ff.; s. ferner aus der Fülle von Einzelabhandlungen u. a. ders., NVwZ 2011, 321 ff.; ders., DVBl. 1990, 328 ff.; ders., NuR 1983, 81 ff.
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lerdings von der eingliedrigen Interessenschutzformel sprechen. Nicht dass (überhaupt) eine Schutznorm gefordert ist, macht den Kern der nach ihr benannten „Theorie“ aus, sondern ihre inhaltliche Ausgestaltung. Danach liegt ein subjektives öffentliches Recht dann vor, wenn die Norm nicht nur der Allgemeinheit, sondern – zumindest auch – den Interessen des Einzelnen zu dienen bestimmt ist.2 Um die Tauglichkeit dieser eingliedrigen Interessenschutzformel bei der Bewältigung von Drittschutzproblemen würdigen zu können, muss man sich ihre Genese vergegenwärtigen. Nur so werden die unverrückbaren konzeptionellen Grenzen deutlich, die a limine ihre Eignung für die Bestimmung subjektiver öffentlicher Rechte in multipolaren Konfliktlagen ausschließen. 2. Die Vermutung der Freiheit als limitierender Faktor: von Bühler zu Bachof Ausgangspunkt ist die seinerzeitige Definition des subjektiven öffentlichen Rechts durch Ottmar Bühler,3 der hierfür drei Voraussetzungen verlangte. Danach muss die Norm (1) zwingenden Charakter haben (Striktheitsgebot), (2) zumindest auch im Individualinteresse erlassen sein (Interessenschutz-Kriterium) und (3) zur Klageerhebung befähigen (Rechtsmacht-Element). Wie leicht zu sehen ist, blieb von diesen drei Elementen nur das mittlere – die heutige Standardformel der Rspr. – übrig. Hierfür sorgte Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Otto Bachof. Er erklärte den Wegfall des Striktheitsgebots ohne weiteres damit, dass auch eine Ermessensnorm feste Grenzen in dem gesetzlich vorgegebenen Rahmen aufweise und insoweit zwingend sei.4 Zentrale dogmatische Bedeutung hat der Wegfall des dritten Erfordernisses, das mit der Rechtsmacht auf die Ebene der Durchsetzung verweist. Dieses machte Bachof dadurch entbehrlich, dass er aus dem Verfassungsrecht – zunächst aus Art. 19 IV GG, sodann vor allem aus dem vom Grundgesetz geforderten Vorrang der Freiheit eine Vermutung ableitete: Wenn eine Norm zumindest auch den Interessen des Einzelnen zu dienen bestimmt sei, dann führe diese Freiheitsvermutung dazu, dass dem begünstigten Bürger auch die Rechtsmacht zustehen solle, diese Interessen vor Gericht durchzusetzen.5 Hiermit rechtfertigte Bachof den Schluss vom zweiten auf das dritte Erfordernis der BühlerÏschen Definition. Als Residuum blieb deren Interessenschutz-Kriterium, das bis heute weithin als Schutznormtheorie bezeichnet wird, aber – wie betont – als eingliedrige Interessenschutzformel bezeichnet werden sollte.6 Hiermit gelang Bachof ein bedeutender Schritt zur Effektivierung des subjektiven öffentlichen Rechts in bipolaren Fallkonstellationen, in denen der Einzelne dem Staat 2
Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., 2011, § 8 Rn. 8. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 21. 4 Bachof, GS W. Jellinek, 1955, S. 287 (295); ders., VVDStRL 12 (1954), S. 37 (76). 5 Vgl. Bachof, GS W. Jellinek, 1955, S. 287 (301). 6 Zur konzeptionellen Genese Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2005, S. 186 ff. m.w.N. 3
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gegenüber steht. Nur hier macht es Sinn, das Prinzip „in dubio pro libertate“ anzuwenden. Nicht dagegen ist es aussagekräftig in multipolaren Konfliktlagen. Wo sich Einzelne als Akteure mit kollidierenden Privatinteressen gegenüberstehen, versagt die Legitimationswirkung einer Vermutung der Freiheit. Der durch einen belastenden Verwaltungsakt Beschwerte kann gegenüber dem Staat seinen Freiheitsstatus geltend machen. Völlig anders sieht es aber insoweit in multipolaren Konfliktlagen aus. Hier könnte sich jeder der beiden privaten Konfliktgegner legitimer Weise auf die Vermutung der Freiheit berufen. Z.B. verfolgt der Bauherr seine Gestaltungsinteressen auf Kosten der kollidierenden Verschonungsinteressen des Nachbarn. Jener beruft sich auf Baufreiheit im Sinne aktiver Gestaltung, dieser will sein Eigentum ohne Beeinträchtigung nutzen. Die beidseitige Berufung auf die Vermutung für die Freiheit ist aber Widerspruch in sich.7 Damit erweist sich die eingliedrige Interessenschutzformel, also die herkömmliche Schutznormtheorie, als strikt beschränkt auf bipolare Konstellationen (Staat-Bürger-Relation). Konzeptionell untauglich ist sie jedoch in der multipolaren Konfliktlage. III. Multipolare Konfliktlagen 1. Multipolarität und das anspruchsbegründende sowie -maßstabsbildende Horizontalverhältnis Die Erkenntnis, dass sich im Verwaltungsrecht private Konfliktgegner gegenüberstehen und der eine nur auf Kosten des anderen seine Interessen durchsetzen kann, ist für die notwendige Neubegründung des subjektiven öffentlichen Rechts konstitutiv. Dies soll die vorgeschlagene Kategorie der multipolaren Konfliktlage8 zum Ausdruck bringen. Die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Privaten ist typischerweise die Domäne des Zivilrechts. Kollidierende Privatinteressen sind aber auch ein Phänomen des Verwaltungsrechts. Das zeigt der klassische Baunachbarkonflikt ebenso wie die moderne Zugangskonkurrenz beim „Kampf“ um knappe Frequenzen. Von dieser multipolaren Konfliktlage geht die Neubegründung des subjektiven öffentlichen Rechts aus. Entscheidend ist, wie der Gesetzgeber den bestehenden Konflikt austariert hat. Damit tritt die normative Ausprägung im Horizontalverhältnis der Bürger-Bürger-Relation ins Blickfeld. Hier kommt es maßgeblich darauf an, ob eine Norm die kollidierenden Privatinteressen in einer bestimmten Weise ordnet und ausgleicht. So wie z. B. im Zivilrecht §§ 1004, 906 BGB anhand von Ortsüblichkeit und Zumutbarkeit ausbalancierende Bewertungsstandards und -kriterien vorgeben, liegt es auch im Verwaltungsrecht: Insofern ist von der anspruchsbegründenden und -maß-
7 8
In diesem Sinne Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 IV Rn 3, 144. Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 3, 9 ff., 30 ff., 705 ff.
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stabsbildenden Funktion des normativen Horizontalverhältnisses9 zu sprechen. Es kommt auf den Ausgleich der verflochtenen, widerstreitenden Privatinteressen an.10 „Dürfen“ und „Können“ gehören in der multipolaren Dogmatik zusammen, sind aber zu unterscheiden.11 Die Kategorie des Dürfens bezieht sich auf die Austarierung der kollidierenden Privatinteressen in der horizontalen Bürger-Bürger-Relation. Was der eine darf und der andere hinnehmen muss, bestimmt sich nach dem normativen Ausgleich der kollidierenden Privatinteressen. Die subjektiv-rechtliche Freiheitssphäre des einen wird durch die des anderen begrenzt. Demgegenüber betrifft die Kategorie des Könnens die Durchsetzung der kollidierenden Privatinteressen gegenüber dem Staat als Pflichtsubjekt. Entscheidend kommt es auf die Exegese der tatbestandlichen Einzelelemente nach den bewährten Auslegungsregeln an. Nur so kann beantwortet werden, ob der eine der privaten Konfliktgegner seine Interessen auf Kosten des anderen verwirklichen darf und durchsetzen kann. 2. Multipolarität in der Rspr. des BVerfG Das BVerfG12 hat den Kerngedanken der multipolaren Konfliktlage im grundrechtlichen Kontext wiederholt aufgegriffen. Dies sei im Folgenden anhand von zwei Entscheidungen exemplifiziert, die in besonderem Maße auf das wissenschaftliche Interesse des Jubilars gestoßen sind. a) TK-rechtliche Entgeltregulierung und Geheimnisschutz Als erstes Beispiel ist der DTAG-Beschluss des BVerfG13 vom 14. 3. 2006 zu nennen, in dem sich das frühere Staatsunternehmen und ein Wettbewerber im Rahmen eines Netzentgelt-Genehmigungsverfahrens gegenüberstanden. Der Konkurrent begehrte Offenlegung der Unterlagen, um sein Rechtsschutzanliegen begründen zu können. Die DTAG hielt dem entgegen, dass die Entgeltkalkulation Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse enthalte und deren Offenlegung zu Markteinbußen führen würde. Damit handelt es sich um eine multipolare Konfliktlage par excellence.14 Auch das Erfordernis, dass der eine der beiden Konfliktgegner seine Interessen nur auf Kosten des anderen durchsetzen kann, ist im Streit nach § 99 II VwGO erkennbar 9
Ibid., S. 141 ff. Ibid., S. 248; dementsprechend BVerfGE 116, 135 Tz. 69 – Vergaberecht: „… die miteinander kollidierenden und verflochtenen Interessen in einen Ausgleich zu bringen …“. 11 Hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 130 ff., 708 f. 12 Außer den beiden folgenden Entscheidungen s. z. B. noch BVerfGE 116, 1 Rn. 40 – Insolvenzverwalter. 13 BVerfGE 115, 205 (233) – DTAG; dazu Schenke, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht. Klagebefugnis, In-camera-Verfahren, Rechtsmittelrecht, 2008, S. 115 (122 f.). 14 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 824 f.; BVerfGE 115, 205 (232, 233, 235, 240) – DTAG. 10
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erfüllt: Was der Wettbewerber an Verbesserung seiner Rechtsschutzinteressen gewinnt, geht zwangsläufig auf Kosten der Geheimhaltungs- und Marktinteressen der DTAG. Damit ist die Ausgangslage der Konfliktschlichtungsformel gegeben. Notwendig ist eine die kollidierenden Privatinteressen austarierende Abwägung. Das BVerwG15 hatte allerdings ohne weiteres den Rechtsschutzinteressen den Vorrang gegeben. Genau hier hatte das BVerfG16 – zu Recht – eine Herstellung praktischer Konkordanz vermisst, weil die Entscheidung des BVerwG die Berufsfreiheit ohne Beachtung der Angemessenheit beschränkte. Schenke17 hat den multipolaren Charakter des DTAG-Falles zu Recht unterstrichen und die Notwendigkeit hervorgehoben, Art. 12 GG einerseits und Art. 19 IV GG andererseits zu einem Ausgleich zu bringen. Eine „Vermutung für die Vorlagepflicht“ kommt – so der Jubilar – nicht in Betracht.18 Das ergibt sich aus der Logik der multipolaren Konfliktlage. Sie schließt – wie oben (II.2) ausgeführt – Vermutungen per se aus. Stattdessen ist dem Fachsenat im Zwischenverfahren gem. § 99 II VwGO eine abwägende Entscheidung zwischen den Aufklärungsinteressen des effektiven Rechtsschutz Begehrenden einerseits und den Geheimhaltungsinteressen des Netzbetreibers andererseits aufgegeben: Hierbei muss – wie Schenke betont – sowohl der hohe Rang eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 IV GG) wie auch das gewichtige Interesse des Geheimnisträgers (Art. 12, 14 GG) abgewogen werden.19 Damit ist in der Tat der Kern umschrieben: Es geht darum, den multipolaren Konflikt durch Austarierung der kollidierenden Privatinteressen zu bewältigen.20 In diesem Sinn will jetzt auch der Gesetzentwurf zur TKG-Novelle von 2011 im neugefassten21 § 138 TKG22 reagieren. Das nunmehr in dessen Abs. 2 eingeführte echte „in camera“-Verfahren23 trägt der multipolaren Konfliktlage voll Rechnung, indem es eine Prüfung verlangt, ob „nach Abwägung aller Umstände das Geheimhaltungsinteresse das Interesse der Beteiligten auf rechtliches Gehör auch unter Beachtung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz überwiegt.“ 15
BVerwGE 118, 350 (352) – DTAG. BVerfGE 115, 205 (241) – DTAG. 17 Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 99 Rn. 21 i.V.m. Rn. 12. 18 Schenke (Fußn. 13) S. 126. 19 Ibid., S. 128 f. 20 s. BVerfGE 115, 205 (233) – DTAG: „In den hier betroffenen Rechtsverhältnissen können die für bipolare Konfliktlagen entwickelten Regeln zur abwägenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs nicht ohne Anpassung an die Besonderheit der Mehrpoligkeit, und damit nicht ohne Beachtung der Möglichkeit jeweils unterschiedlicher Beeinträchtigungen und Begünstigungen, angewendet werden.“ In seinem dissenting vote moniert Verfassungsrichter Gaier, dass der Senat die Probleme der praktischen Konkordanz nicht gelöst habe (S. 250 ff.) und den Fall hätte nutzen müssen, seine Rechtsprechung zum „in camera“-Verfahren „insbesondere mit Blick auf multipolare Konstellationen fortzuentwickeln“ (S. 253). 21 Seit 2002 galt nicht mehr § 99 VwGO, sondern die telekommunikationsrechtliche Spezialregelung des § 138 TKG (a.F.). 22 § 138 II TKG 2011, Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Regelungen, BR-Drucks. 129/11 (4. 3. 2011). 23 Dazu Schenke (Fußn. 13), S. 124 ff. 16
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b) Der Schutz des Versicherten in der kapitalbildenden Lebensversicherung Als zweites Beispiel ist das VAG-Urteil des BVerfG24 vom 26. 7. 2005 zu nennen. In diesem Fall wandte sich der Versicherte einer kapitalbildenden Lebensversicherung gegen die Genehmigung einer Bestandsübertragung durch das damalige Bundesamt für das Versicherungswesen (BAV), da er in der Person des neuen Schuldners seine Belange nicht gesichert sah. Insbesondere seien Aktiva sowie stille Reserven in Millionenhöhe bei der übertragenden Gesellschaft verblieben, die den Versicherten zustünden. Nach damaligem Recht war – wie heute – § 415 BGB ausgeschlossen. Das übertragende Konzernunternehmen hatte sich in einer Vereinbarung mit dem BAV dazu verpflichtet, im Falle eines Verkaufs die Versicherten an den in den Aktiva enthaltenen stillen Reserven zu beteiligen. Das in einziger Instanz zuständige BVerwG25 hielt die Klage für zulässig, insbesondere die Klagebefugnis für gegeben. Dem ist zuzustimmen. Nach der Konfliktschlichtungsformel handelt es sich bei § 14 VAG (damaliger wie heutiger Fassung) um eine drittschützende Norm: Der Versicherer will seine Gestaltungsinteressen zwecks Konzernneustrukturierung oder z. B. aus Anlass einer Sanierung durchsetzen. Dagegen setzt der Versicherte seine Verschonungsinteressen, um die Basis seiner Überschussbeteiligung zu sichern. Die kollidierenden Privatinteressen werden damit zu einem Ausgleich gebracht, der die Konzernbildungsinteressen des Versicherers wie auch die Wahrung der Belange der Versicherten umfasst. Ihnen gewährt § 14 VAG daher ein subjektives öffentliches Recht.26 Damit sind die Versicherten rechtlich befähigt, eine einseitige Risikoverlagerung aus Anlass einer Bestandsübertragung auf dem Klageweg zu verhindern. Im konkreten Fall wies das BVerwG die somit zulässige Klage als unbegründet ab. Mit der Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und dem BAV seien die Belange des Versicherten gewahrt. Eine wirtschaftliche Schwächung infolge der Zurückbehaltung von Aktiva sei nicht ersichtlich und die Gefahr, im Falle einer Veräußerung an den stillen Reserven nicht partizipieren zu können, gebannt. Die hiergegen erhobene Urteilsverfassungsbeschwerde des Versicherten hatte Erfolg. Das mag zunächst überraschen, weil der Gesetzgeber in § 14 i.V.m. § 8 I Nr. 2 VAG (a.F.) eine Norm bereitgestellt hatte, die sogar explizit die Beachtung der Belange der Versicherten im Fall einer Bestandsübertragung verlangt. Auch in diesem Fall handelt es sich beispielhaft um eine multipolare Konfliktlage. Nicht fehlender Drittschutz, sondern die konkrete gesetzliche Ausgestaltung genügte dem BVerfG27 nicht, um einen „angemessenen Interessenausgleich“ zu gewährleisten. Vielmehr müsste 24
BVerfGE 114, 1 (33 ff.) – Bestandsübertragung. BVerwGE 95, 25 (27) – Bestandsübertragung. 26 Vgl. Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 367 f., 764 f.; ebenso Kaulbach, in: Fahr/Kaulbach/ Bähr, VAG, 4. Aufl., 2007, § 14 Rn. 15; s. auch ders., ibid., Vor § 1 Rn. 7 sowie § 8 Rn. 6. 27 BVerfGE 114, 1 (43 ff.) mit ungewöhnlich detaillierten Anforderungen an den Gesetzgeber; zu den Problemen, denen sich dieser bei der Novelle des VAG gegenübersah, Schenke, VersR 2006, 725 (727 ff.). 25
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gesetzlich geregelt werden, wie die zurückgehaltenen Aktiva samt stiller Reserven und die verbliebenen Passiva einschließlich sog. „stiller Lasten“ zu bewerten seien. Die Unternehmen könnten sonst betriebswirtschaftlichen Zielen zu Lasten der Belange der Versicherten den Vorzug geben. Damit sah das BVerfG ein Normdefizit – und dies sowohl im zivil- wie im öffentlich-rechtlichen Kontext.28 Dem müsse abgeholfen werden durch eine gesetzliche Bestimmung der relevanten Abwägungsfaktoren, um die Belange der Versicherten vollständig ermitteln und ungeschmälert berücksichtigen zu können. Namentlich sei auch zu klären, unter welchen Umständen Aktiva zurückbehalten werden dürfen und wie die stillen Reserven zu berechnen seien. Konstruktiv basierte das BVerfG seine Entscheidung auf die Schutzpflicht aus Art. 2 I und 14 GG. Diesem dogmatischen Weg steht der Jubilar mit Skepsis gegenüber.29 Er stellt die – angesichts des beträchtlichen Detaillierungsgrads der vom BVerfG geforderten Regelungen – nicht fern liegende Frage, ob die Schutzpflicht wirklich geeignet ist, vom Gesetzgeber Regelungen darüber zu verlangen, wie die aus Prämienzahlungen erwachsenen Vermögensbestandteile samt stillen Reserven bei der späteren Überschussbeteiligung zu bewerten sind. In der Tat war es st. Rspr., dass der Gesetzgeber bei der Erfüllung der Schutzpflicht auf der Stufe des „Wie“ einen weiten Gestaltungsspielraum habe.30 Des weiteren fällt die vom BVerfG31 vorgenommene außerordentliche Erweiterung des Schutzumfangs des Eigentumsgrundrechts ins Auge. Erfasst seien (nunmehr) auch die noch nicht im Rahmen der Überschussbeteiligung zugeordneten und damit noch nicht zum Eigentum erwachsenen Vermögensbestandteile. Da sie sich aus dem freien Vermögen speisen, besteht insoweit auch keine Anwartschaft oder eine „Automatik“, die zwangsläufig zum Eigentum führt. Dennoch hält das BVerfG die Position des Versicherten für einen Schutzgegenstand der Eigentumsgarantie, weil sie versicherungsvertrags- und –aufsichtsrechtlich „vorgezeichnet“ sei. Hieran ändere das durch Art. 12 GG geschützte Interesse des Versicherers an einer flexiblen Gestaltung der Unternehmensorganisation nichts. Diese Ausweitung der Schutzbereichs ist im Vergleich zu anderen zivilrechtlichen Vertragsverhältnissen bemerkenswert. Von daher überrascht es nicht, wenn der Jubilar ihr aus verfassungsrechtlichen Gründen widersprochen hat, da die Konturen des Eigentumsschutzes nicht mehr erkennbar seien.32 Dass hier die multipolare Abwägung maßgeblich von der norminternen Reichweite des Eigentumsschutzes abhängt, liegt auf der Hand. 28
BVerfGE 114, 1 (33 ff., 43 ff.) – sowie zusammenfassend LS 1 und 2 – Bestandsübertragung. 29 Schenke, VersR 2006, 871 (873 f.); s. auch ders., in: Bähr (Hrsg.), Handbuch des Versicherungsaufsichtsrechts, 2011, § 1 Rn. 8. 30 BVerfG, NVwZ 2007, 805 f. – Mobilfunksendeanlagen; Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl., 2010, Rn. 113: „grundsätzlich beträchtliche Entscheidungsfreiheit“ (kurs. i.O.). 31 BVerfGE 114, 1 (41): „programmiertes werdendes Eigentum“; die beiden folgenden Zitate finden sich auf S. 42 und 38. 32 Schenke, VersR 2006, 871 (872 f.).
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IV. Multipolarität und Grundrechte 1. Die Konfliktschlichtungsprärogative des Gesetzgebers Die Konfliktschlichtungsprärogative liegt beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber.33 Er kann daher prinzipiell entscheiden, ob er den gebotenen Schutz objektiv-rechtlich oder darüber hinaus auch subjektiv-rechtlich ausgestaltet.34 Diese verfassungsrechtliche Funktionszuweisung muss auch die Judikative respektieren. Vor einer „Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Judikative und der Legislative“ durch eine zu rasche Zuerkennung subjektiv-rechtlicher Positionen hat nicht zuletzt der Jubilar gewarnt.35 Selbstverständlich darf der grundrechtliche Mindeststandard nicht unterschritten werden.36 Dieser ergibt sich in der multipolaren Konfliktlage aber nicht eindimensional, sondern als Lösung einer Grundrechtskollision. Sie ist durch verhältnismäßige Zuordnung der kollidierenden Grundrechtspositionen zu lösen.37 Dieser Ausgleich verhindert, dass einer der beiden Konfliktgegner unzuträglich belastet wird. Wenn der Vorteil des einen nur auf Kosten eines nicht hinnehmbaren Nachteils des anderen erkauft werden könnte, wäre die Kollisionslösung defizitär. Nur soweit dies vermieden ist, kann der Gesetzgeber darüber entscheiden, ob er einer Norm Drittschutz zuerkennt oder nicht. Inwieweit auch die grundrechtliche Schutzpflicht zur Begründung subjektiver öffentlicher Rechte beitragen kann, ist eine schwierige – vom Jubilar positiv beantwortete38 – Frage. Als Alternativmodell für die Begründung subjektiv-rechtlicher Positionen der privaten Konfliktgegner bietet sich die – im Folgenden aufzugreifende – Grundrechtskollision an (IV. 2.).39 Präferiert man dagegen den Weg über die Schutzpflicht, müsste ermittelt werden, wann für bzw. gegen den einen oder anderen Träger kollidierender Privatinteressen die Schwelle der evidenten Grundrechtsverletzung überschritten wäre. 2. Multipolare Grundrechtskollision Auf grundrechtlicher Ebene stellt sich die multipolare Konfliktlage als Grundrechtskollision dar. Das hat Folgen in zweierlei Hinsicht. Die erste Variante ist die norminterne Wirkung. Hiervon ist zu sprechen, wenn grundrechtliche Wertungen bestätigend oder bekräftigend in die Auslegung der einfachgesetzlichen Ordnungsnorm 33
Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 37 ff., 719 f.; s. ebenso Schenke, in: Bonner Kommentar (Fußn. 1), Art. 19 Abs. 4 Rn. 441. 34 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 40. 35 Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 120. 36 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 40; ebenso Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 119. 37 Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Rn. 123 f.; Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 51 ff., 721 ff. 38 Schenke, FS Lorenz, 1994, S. 473 (497 m. Fußn. 88). 39 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 69 ff., konkret im versicherungsaufsichtsrechtlichen Kontext S. 364 f.
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einfließen.40 Insofern schlägt sich nieder, dass Grundrechte zum normativen Umfeld der einfachgesetzlichen Konfliktschlichtung gehören. Die zweite Variante multipolarer Grundrechtskollision ist die normexterne Grundrechtswirkung.41 Sie liegt vor, wenn sich beide Konfliktgegner unmittelbar auf Grundrechte berufen müssen, weil es an einer einfachgesetzlichen Ordnungsnorm überhaupt fehlt. Hier steht Grundrecht gegen Grundrecht. Es gilt das Prinzip der gleichen Freiheit.42 Vermutungen greifen nicht. Es bedarf der unvoreingenommenen multipolaren Abwägung. So liegt es z. B. bei Kapazitätsklagen im Hochschulzulassungsrecht. Auch der Konkurrentenstreit im gesetzlich nicht geregelten Subventionsrecht ist ein Paradebeispiel für die multipolare Aktivierung von Grundrechten in normexterner Wirkung.43 V. Multipolare Eckwerte 1. Die fünf multipolaren Grundkonstellationen Operativ sind fünf Grundkonstellationen multipolarer Konfliktlagen zu unterscheiden.44 In der ersten Variante will z. B. der Bauherr oder Anlagenbetreiber seine aktiven Gestaltungsinteressen verwirklichen. Hierzu sieht er sich durch die Zulassungsnorm – sofern er deren Voraussetzungen erfüllt – legitimiert. Ihm tritt der Dritte – z. B. der Nachbar – entgegen, der seine passiven Verschonungsinteressen realisieren und sein Begehren durch Klage durchsetzen will. Dies ist die Konstellation der Drittabwehr. Der Dritte will nicht etwa das Projekt selbst durchführen, er will es schlicht verhindern. Die zweite Variante ergibt sich prozessual ebenfalls aus der Person des Dritten. Diesmal begehrt er aber ein – ermessensabhängiges – Tätigwerden bzw. Einschreiten der Behörde zu Lasten des privaten Konfliktgegners.45 Ein Beispiel hierfür ist z. B. der Wunsch des akut in seiner Ruhe Gestörten, die Ordnungsbehörde möge gegen den Störer vorgehen. Insoweit ist von der Drittvornahme zu sprechen. Die dritte multipolare Konstellation ist die Gestaltungsabwehr. Hier wendet sich der Genehmigungsinhaber z. B. gegen eine ihn belastende Nebenbestimmung zugunsten des Dritten. Wird dem Genehmigungspetenten die begehrte Zulassung etc. vorenthalten, muss er – viertens – den Weg der Klage beschreiten. Es handelt sich um den Fall der Gestaltungsvornahme. Die fünfte und letzte multipolare Grundkon40
Ibid., S. 41 ff., 720 f.; Schenke, in: Bonner Kommentar (Fußn. 1) Rn. 451; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 118 f.; Ruthig/Storr, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 112; Scherzberg in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, Rn. 12 f. 41 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 54 ff., 721 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 121 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 125 f.; Scherzberg (Fußn. 40), Rn. 14 ff. 42 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 425 ff. 43 Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 142 f. 44 Vgl. im Einzelnen Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 9 ff., 712. 45 Hierzu Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl., 2009, Rn. 104.
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stellation betrifft kapazitätsbezogene Auswahl- und Verteilungsprozesse. Kennzeichnend sind hier konkurrierende Zugangsinteressen, deren Verfolgung notwendig zum Ausschluss der Wettbewerber führt. Mit diesen fünf Grundkonstellationen sind alle denkbaren Fallgestaltungen multipolarer Konfliktlagen erfasst. Damit steht ein Raster für sämtliche materiell-rechtlichen und prozessualen Fragestellungen bereit. Die Konfliktschlichtungsformel verschließt keineswegs die Augen vor weiterreichenden objektiv-rechtlichen Auswirkungen,46 die darauf hin geprüft werden müssen, ob sich aus ihnen Rückschlüsse auf das Gewicht der kollidierenden Privatinteressen gewinnen lassen. Entscheidend ist aber stets das anspruchsbegründende und -maßstabsbildende Horizontalverhältnis der Ordnungsnorm. Die fundamentale Entscheidung für das deutsche Rechtsschutz-Modell47 bedeutet den Ausschluss der Popularklage und die Differenzierung zwischen (rein) objektivrechtlicher und subjektiv-rechtlicher Dimension. Dies hat zwangsläufig zur Konsequenz, dass jene weiter reicht als diese. Die subjektiv-rechtliche Konfliktschlichtung ist stets nur ein Ausschnitt aus dem objektiv-rechtlichen Ordnungsgefüge.48 2. Kehrseitigkeit und Wechselbezüglichkeit Multipolare Konfliktlagen lassen sich in zwei übergeordnete Konflikttypen unterteilen: Kehrseitigkeit und Wechselbezüglichkeit.49 Im ersten Fall stehen sich die aktiven Gestaltungsinteressen z. B. des Bauherrn oder Anlagenbetreibers auf der einen und die passiven Verschonungsinteressen des Nachbarn auf der anderen Seite gegenüber. Jener will – auf Kosten des Nachbarn – ein Bauwerk errichten. Dieser möchte verhindern, dass jener sein Vorhaben realisiert. Von Wechselbezüglichkeit50 spricht die multipolare Dogmatik, wenn zwei oder mehr Nachfrager um ein Gut konkurrieren, das nur einmal vorhanden ist. Auch dieser – zweite – multipolare Konflikttypus ist durch die charakteristische Situation geprägt, dass der eine seine Privatinteressen nur auf Kosten des anderen verwirklichen darf und durchsetzen kann. Sie manifestiert sich hier als kapazitätsbezogener Auswahlund Verteilungsstreit, der sich als Nullsummenspiel darstellt.
46 In diese Richtung die Bemerkung von Hoffman-Riem, in: Ders./Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 9 (43) Fußn. 114. 47 Schenke, in: Merten/Papier (Fußn. 1), Rn. 6: „Systementscheidung für einen Individualrechtsschutz“; ebenso ders., in: Bonner Kommentar (Fußn. 1), Art. 19 Abs. 4 Rn. 398. 48 Vgl. Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 27, 712. 49 Ibid., S. 31, 34 ff., 712; so auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rn. 140; Wahl, in: Schoch/Schmidt/Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 99, 102; P. M. Huber, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 1997, S. 119 f. 50 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 34 ff., 712; s. Fußn. 45.
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VI. Die Konfliktschlichtungsformel In multipolaren Konfliktlagen ist ein konzeptionell neuer Ansatz erforderlich. Er muss sich lösen von der entwicklungs-historisch bedingten bipolaren Verkettung der eingliedrigen Interessenschutzformel mit der Staat-Bürger-Beziehung. Vielmehr kommt es auf den normativen Ausgleich der kollidierenden Privatinteressen an. Dies ist die Basis subjektiver öffentlicher Rechte. Von zentraler Bedeutung ist, ob der eine seine Interessen nur auf Kosten des anderen verwirklichen und durchsetzen kann – et vice versa. Maßgeblich ist somit die spezifische Art der normativen Austarierung der kollidierenden Privatinteressen: das Konfliktschlichtungsprogramm. Die Neubegründung steht im Gegensatz zur bipolaren Staat-Bürger-Beziehung und der ihr verhafteten eingliedrigen Interessenschutzformel. Es geht nicht darum, sie nur bestimmter zu machen, sondern sie als bloße Residualgröße überkommener Bipolarität zu erkennen, die in multipolaren Konfliktlagen nicht passt. Diesen Neuansatz verfolgt die Konfliktschlichtungsformel. Nach ihr liegt ein subjektives öffentliches Recht dann vor, wenn eine „Ordnungsnorm die kollidierenden Privatinteressen in ihrer Gegensätzlichkeit und Verflochtenheit wertet, begrenzt, untereinander gewichtet und derart in ein normatives Konfliktschlichtungsprogramm einordnet, dass die Verwirklichung der Interessen des einen Privaten notwendig auf Kosten des anderen geht.“51 Nur wenn die kollidierenden Privatinteressen in dieser Weise normativ austariert sind, liegt eine drittschützende Norm vor. Insoweit ergibt sich für beide Konfliktgegner aus dem Gesetz, wie weit der eine seine Interessen auf Kosten des anderen verwirklichen darf und durchsetzen kann. Ob eine Norm diesen Test der Konfliktschlichtungsformel besteht, bedarf in der Regel der Auslegung. Die erforderliche Normexegese muss die konkrete Einzelvorschrift, darüber hinaus aber auch das normative Umfeld52 in den Blick nehmen. So erschließt sich die gesetzliche Konfliktschlichtung oftmals durch Verweisungs- und Bezugsketten hindurch. Was das erste Element der Konfliktschlichtungsformel – die Wertung der kollidierenden Privatinteressen – anbelangt, so kommt es hier darauf 51 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 247 f., 713 f. (kurs. i.O.); zustimmend in der Lit. z. B. Kopp/ Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 120; ders., in: Bonner Kommentar (Fußn. 1), Rn. 451; ders, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 498; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV Rn. 140 und 163 sowie ders., in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Einleitung Rn. 194; P. M. Huber (Fußn. 49), S. 113; Scherzberg (Fußn. 40), § 14 Rn. 18; Kingreen, Die Verwaltung 36 (2003), 33 (48); Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007, S. 88; Attendorn, in: BeckÏscher Kommentar zum TKG, 3. Aufl., 2006, § 21 Rn. 353; ders., MMR 2008, 444 (448 f.); Schmaltz, in: Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz, Niedersächsische Bauordnung, 8. Aufl., 2006, § 72 Rn. 14 ff. – Aus der Rspr. z. B. (zum Baurecht) BVerwGE 101, 364 (371 f.) – Baustufenplan; BVerwGE 107, 215 (220 f.) – Dauerkleingärten; BVerwGE 94, 151 (154 ff.); s. auch BVerfGE 116, 135 (155) – Vergaberecht, wonach der „Gesetzgeber … auch bei der Ausgestaltung des Rechtsschutzes dazu berufen [ist], die miteinander kollidierenden und verflochtenen Interessen in einen Ausgleich zu bringen, der allen in verhältnismäßiger Weise gerecht wird …“. 52 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 165 ff.
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an, dass sie normative Anerkennung genießen. Allgemeine Zielstellungen und bloße Leitlinien reichen dafür nicht aus. Als zweite Voraussetzung ist die Begrenzung der kollidierenden Privatinteressen notwendig. Hiermit wird das multipolare Leitmotiv verdeutlicht, dass keiner der beiden Konfliktgegner sich voll durchsetzen kann. Beide müssen Abstriche hinnehmen. Die Gewichtung verlangt als drittes Element, dass die kollidierenden Privatinteressen nicht nur für sich genommen Anerkennung finden, sondern auch im Verhältnis zueinander gewürdigt werden. Als viertes Kriterium rückt sodann das normative Konfliktschlichtungsprogramm in den Mittelpunkt. Es enthält den normativen Sachmaßstab des subjektiv-rechtlichen Interessenausgleichs. Das können nachbarliche Interessen, unzumutbare (erhebliche) Beeinträchtigungen, das Prioritätsprinzip oder die Bestenauslese sein, um nur wenige Beispiele zu nennen. Dies ist die Basis für den Ausgleich und damit für den Drittschutz.53 Unter den Bedingungen der Konfliktschlichtungsformel werden beiderseits subjektiv-rechtliche Positionen zuerkannt. Dieser multipolare Konnex begründet und legitimiert subjektive öffentliche Rechte hier wie dort. Konstitutiv ist der normative Ausgleich der kollidierenden Privatinteressen. So sind z. B. Bauherr und Nachbar in die subjektiv-rechtliche Konfliktschlichtung einbezogen. Wenn dagegen von Drittschutz gesprochen wird, indiziert bereits diese Terminologie den bipolaren Charakter der eingliedrigen Interessenschutzformel. Gerade die Austarierung der Interessen zweier privater Konfliktgegner in der verwaltungsrechtlichen Ordnungsnorm ist der Grund dafür, dass sie rechtlich befähigt sind, ihre kollidierenden Privatinteressen verwirklichen zu dürfen und durchsetzen zu können. VII. Dignität der Freiheit oder Mechanik des Gesetzesvollzugs 1. Der Inhalt des subjektiven öffentlichen Rechts Von der Frage, wann ein subjektives öffentliches Recht vorliegt, ist jene zu unterscheiden, was unter diesem inhaltlich zu verstehen ist. Vielfach wird es im Anschluss an Windscheid54 und Jehring55 als die vom öffentlichen Recht dem Einzelnen zur Verfolgung seiner Interessen eingeräumte Willens- oder Rechtsmacht verstanden.56 Die bipolare Limitierung ist unübersehbar. In der multipolaren Dogmatik besteht das subjektive öffentliche Recht stattdessen in der normativen Einräumung von Handlungsoptionen, die stets durch kollidierende Privatinteressen konditioniert sind. Insofern schlägt durch, dass der eine seine Interessen nur auf Kosten des anderen verwirklichen darf und durchsetzen kann. In dieser multipolaren Verflochtenheit verleiht das subjek53
In diesem Sinne auch Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 84. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I, 9. Aufl. (bearb. von Theodor Kipp), Bd. 1, 1906, Neudruck von 1963, S. 155 f. mit Fußn. 3. 55 Jehring, Geist der römischen Rechts, Dritter Teil, erste Abteilung, 8. Aufl. (photomechanischer Neudruck), 1954, S. 339 ff. 56 Z.B. Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 496; Maurer (Fußn. 2), § 8 Rn. 2. 54
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tive Recht Autonomie, Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten. Es verleiht die Rechtsmacht, die den privaten Konfliktgegnern jeweils zu Gebote steht. Diese Handlungsoptionen stehen ihnen zum eigenen Nutzen – in Freiheit – zu. In der ökonomischen Diktion sind es Präferenzen, zu deren Realisierung die Wirtschaftssubjekte befähigt werden. Diese Dignität der Freiheit macht das subjektive öffentliche Recht in seinem Wesen aus und hebt es grundsätzlich von der Mechanik des bloßen Gesetzesvollzugs ab. 2. Klagemöglichkeiten ohne Rechte Selbstverständlich kann der Gesetzgeber auch Klagemöglichkeiten ohne eigene oder auch überhaupt ohne Rechte schaffen. Das kann nahe liegen, wo dies einen effektiveren Gesetzesvollzug verspricht. Damit wird zwar die berechtigte Person nicht autonom begabt, sondern als Transporteur objektiver Rechtsdurchsetzung ausgestattet. Dies heißt allerdings nicht, dass der Gesetzgeber nicht auch von dieser Modalität Gebrauch machen kann.57 Zu denken ist hier an den Fall der Verbandsklage, deren Einführung durch die „soweit-Klausel“ in § 42 II Hs. 1 VwGO abgedeckt ist. Das Entscheidende aber ist, dass dies ein echtes aliud und die klare Ausnahme darstellt.58 Der Normalfall ist dagegen – wie betont – die Handlungsoptionen begründende bzw. erweiternde, auf Autonomie und Freiheit basierende Zuerkennung subjektiver öffentlicher Rechte. Eine Privatperson klagt i. d. R. nicht, weil sie objektives Recht durchsetzen will, sondern weil sie ihren Nutzen mehren, ihre (eigenen) Interessen verwirklichen möchte. Als Sachwalter der Allgemeinheit agieren zu können, ist keine Mehrung individueller Freiheit, sondern trägt Züge einer Indienstnahme für den Gesetzesvollzug. Daher kann der sachbezogene Verzicht auf die Verletzung eigener Rechte als Klagevoraussetzung in einem einzelnen Sachkontext wie dem Naturschutzrecht ein probates Instrument sein, um Vollzugsdefiziten zu begegnen. Sicherlich ist er aber kein generelles Äquivalent zum freiheitlich konzipierten subjektiven öffentlichen Recht. 3. Raum für weitere Ausnahmen Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Gedanke eines – eben erwähnten – Klagerechts ohne individuellen Freiheitscharakter dem deutschen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht keineswegs fremd ist, sind absolute Verfahrensrechte.59 Werden sie verletzt, führt dies ohne weiteres zu einem per-se-Aufhebungsanspruch – ganz unabhängig vom materiellen Recht.60 Dies ist aber ein klarer Ausnahmefall,
57 Weitergehend Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 6 ff., 50 ff., 221 ff.; ders., in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 7 Rn. 112 ff. 58 Happ, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl., 2010, § 42 Rn. 174. 59 Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), Rn. 502; Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 95. 60 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 521.
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der bislang im Wesentlichen in drei virulenten Bereichen akzeptiert wurde.61 Dabei ging es bislang schon um (1) die Beteiligung von anerkannten Naturschutzverbänden an Planfeststellungsverfahren, (2) die Beteiligung von Gemeinden am luftverkehrsrechtlichen Genehmigungsverfahren und (3) die Beteiligung am Enteignungsverfahren. Dies sind – von § 42 II Hs. 1 VwGO („soweit …“) ermöglichte – Ausnahmen, nicht Regelfälle. Nichts anderes gilt für den Ende 2006 hinzugetretenen Fall der Verbandsklage im Umweltsektor62 in der Neufassung, die in Kürze zu erwarten ist (VII). Schließlich ist auch die formalisierte (Drittanfechtungs-)Beschwerdebefugnis im Energiewirtschafts- sowie im Kartellrecht zu nennen. Beide sind – im Kern – nicht materiell-rechtlich konzipiert, weil sie im Ausgangspunkt von der einfachen Beiladung durch die Behörde abhängen. Dies bedeutet zunächst einmal – gemessen am Eingriffsrecht im Ganzen – eine das Individualrechtssystem transzendierende Erweiterung der Drittposition.63 Dass diese zwar über das subjektive öffentliche Recht hinausgeht, aber sicherlich nicht unlimitiert sein soll, zeigt das vom BGH64 entwickelte ungeschriebene Erfordernis einer materiellen Beschwer. Beim vollen subjektiven öffentlichen Recht bleibt es im Falle der Verpflichtungsbeschwerde und des – zu Unrecht wenig beachteten – Eilverfahrens in der freigabebezogenen Drittbeschwerdekonstellation.65 VIII. Vorgaben des EU-Rechts? 1. Konsistenz mit EU-Recht Die Forderung nach einer Ausweitung des subjektiven öffentlichen Rechts unter Berufung auf das EU-Recht muss sich zunächst dem allein sachgerechten Vergleich zwischen der (Dritt-)Anfechtbarkeit von Entscheidungen der Kommission auf der einen und von mitgliedstaatlichen Verwaltungsakten auf der anderen Seite stellen. Nur auf diese Weise ist eine valide komparative Betrachtung der Bewältigung multipolarer Konfliktlagen im EU-Recht und im Recht der Mitgliedstaaten möglich.66 Nur wenn hier tatsächlich der EU-Drittschutz weiterginge als der mitgliedstaatliche, bestünde Grund zur Neujustierung, Anpassung und ggf. Erweiterung des deutschen subjektiven öffentlichen Rechts. Genau dies aber ist nicht der Fall.67 So erweist eine Analyse von Drittnichtigkeitsklagen gemäß dem (unveränderten) Art. 263 IV Var. 2 AEUV im Bereich des Außenwirtschafts-, Kartell- und Beihilferechts, dass die Plau61
Ibid., S. 521 mit Fußn. 146 m.w.N. So ausdrücklich Kopp/Schenke (Fußn. 1), § 42 Rn. 95. 63 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 753 ff. 64 BGH WuW/E DE-R 1163 (1165 f.) – HABET/Lekkerland. 65 Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 755. 66 Hierzu und zum Folgenden Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 796 f. sowie S. 244 ff.; ders., NVwZ 2005, 489 (493 f.). 67 Vgl. Ehlers, VerwArch. 84 (1993), 139 (156): „Im Vergleich zum deutschen Recht stellt sich das Gemeinschaftsrecht … keineswegs als prinzipiell rechtsschutzfreundlicher dar. Eher dürfte die umgekehrte Feststellung zutreffen“. 62
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mann-Formel angewandt wird. Nach ihr nimmt der EuGH68 die Klagebefugnis eines Dritten an, „wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn dabei in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“. Die Parallele zum Abgrenzbarkeits-Kriterium des Dispens-Urteils des BVerwG69 ist evident. Der begünstigte Personenkreis ist in auffällig ähnlicher Weise abgegrenzt.70 Die EU kann aber von den Mitgliedstaaten nicht mehr verlangen, als sie selber zu geben bereit ist. Die Aufgabe des Rechtsverletzungs-Modells zugunsten einer Interessentenklage ist damit EU-rechtlich nicht indiziert. Die Mitgliedstaaten bleiben im übrigen im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie befugt, das (Verwaltungs-)Prozessrecht nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Richtig ist, dass der EuGH71 aus verfahrensrechtlicher Beteiligung auf die Klagebefugnis schließt. Dies findet seine Begründung darin, dass die Personalausstattung der EU-Kommission nicht ausreicht, um flächendeckende Ermittlungen zu führen. Damit ist hier in der Tat eine extensive Berücksichtigung von Verfahrenspositionen angezeigt. Daraus lässt sich aber angesichts der andersartigen administrativen Infrastruktur auf mitgliedstaatlicher Ebene nichts für eine Erweiterung des subjektiven öffentlichen Rechts ableiten. 2. Nicht umgesetzte Richtlinien Damit ist bereits die Frage einer EU-rechtlich gebotenen Ausweitung des subjektiven öffentlichen Rechts – verneinend – beantwortet. Ergänzend sei noch auf den verbreiteten Begründungsstrang für die Forderung nach Erweiterung des subjektiven öffentlichen Rechts eingegangen, der auf den Kontext nicht umgesetzter Richtlinien rekurriert. Insoweit hat der Sog der Europäisierung des Rechts vor dem subjektiven öffentlichen Recht nicht Halt gemacht. Der Jubilar hat hier klar Stellung bezogen und betont, dass eine „Anreicherung der subjektiven Rechtsstellung Privater“72 im Bereich des Gemeinschaftsrechts durchaus in Betracht käme. Ebenso klar aber hat er unterstrichen, dass eine Aufgabe des deutschen Individualrechtsschutz-Modells „aus gemeinschaftsrechtlicher Warte nicht zwingend geboten“ ist. Genau dies sind die Pole, zwischen denen sich die Antwort auf die Frage einer (erweiternden) Europäisierung beantworten lässt. Keine Probleme bereitet es, wenn subjektive öffentliche Rechte unmittelbar durch EU-Recht begründet werden. Geschieht dies durch eine EU-Verordnung, dann kann sich ein durch sie Begünstigter auf sie berufen und sein Recht vor mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten geltend machen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass gem. 68
EuGH, Slg. 1963, 211 (238) – Plaumann. BVerwG, NVwZ 1986, 409 f. – Dispens. 70 Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (493 f.). 71 s. z. B. EuGH, Slg. 1998, I – 1375 Tz. 53 ff. – ScPA; zum Ganzen Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 797 m.w.N. 72 Schenke, in: Bonner Kommentar (Fußn. 1), Art. 19 Abs. 4 Rn. 410; dort auch das folgende Zitat. 69
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Art. 288 II AEUV EU-Verordnungen verbindlich sind und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten. Auch der Fall korrekt umgesetzter Richtlinien bietet keine besonderen Schwierigkeiten. Die Richtlinie ist nach Art. 288 III AEUV hinsichtlich des Ziels verbindlich. Im Blick auf Form und Mittel haben die Mitgliedstaaten dagegen die Wahl. Enthält eine Richtlinie z. B. einen klassischen umweltrechtlichen Emissionsgrenzwert und wird er umgesetzt, dann wird die Auslegung des mitgliedstaatlichen Gesetzes ergeben, dass kein Drittschutz besteht. Entsprechendes würde im umgekehrten Fall – wenn eine Richtlinie die Einräumung von Drittrechten verlangt – gelten. Problematisch liegen die Dinge dagegen – wie der Jubilar unterstrichen hat73 – wenn die Richtlinie keine subjektiven Rechte einräumt und nicht fristgerecht umgesetzt wird. Dabei sei unterstellt, dass die Richtlinienbestimmung gegenüber dem Mitgliedstaat eindeutig verpflichtenden Charakter hat. In diesem Falle muss sie objektivrechtlich von den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten angewandt werden. Dem Umsetzungsdefizit ist dann abgeholfen: Die Richtlinie wird unmittelbar vollzogen. Dieser Fall einer rein objektiv-rechtlichen Direktanwendung lag dem Großkrotzenburg-Urteil des EuGH74 zugrunde. Sehr klar und zu Recht koppelte der Gerichtshof die ganz andere Frage nach der Existenz einer subjektiv-rechtlichen Drittposition von der Direktgeltung ab: „Diese Frage (der direkten Anwendbarkeit, scil. d. Verf.) hat mit der … Möglichkeit für den einzelnen, sich gegenüber dem Staat unmittelbar auf unbedingte sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun.“ Noch zu klären ist – sieht man vom sogleich aufzugreifenden Belastungsverbot einmal ab – , ob sich im diskutierten Test-Beispiel der Drittanfechtungskläger auf die objektive Verletzung der Richtlinie – also die Erteilung einer immissionschutzrechtlichen Genehmigung unter Überschreitung des in der Richtlinie enthaltenen vorsorgebezogenen Emissionsgrenzwerts – subjektiv-rechtlich berufen kann. Wer dies bejahen wollte, um die Durchsetzung des EU-Rechts zu effektivieren, müsste sich folgender Paradoxie bewusst sein: Bei korrekter Umsetzung würde die Drittanfechtungsklage mangels Klagebefugnis abgewiesen. Dann kann es nicht richtig sein, wenn im „pathologischen“ Fall rechtswidrig unterbliebener Umsetzung nunmehr der Drittanfechtungsprozess gewonnen wird, nur weil die EU-Richtlinie nicht umgesetzt wurde. Vielmehr wäre – wie im Normalfall korrekter Umsetzung – die Drittanfechtungsklage mangels Klagebefugnis abzuweisen. Dem Kläger bliebe der mitgliedstaatliche Staatshaftungsanspruch. Neben allem anderen würde schließlich auch noch das Belastungsverbot75 in multipolaren Konfliktlagen gegen eine EU-rechtlich basierte Erweiterung des deutschen Rechtsschutz-Modells sprechen. Danach scheidet eine Direktwirkung nicht umge73 74 75
Ibid., Art. 19 Abs. 4 Rn. 458; ders., Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1) Rn. 531 c. EuGH, Slg.1995, I – 2189 Tz. 26 – Großkrotzenburg. Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 244 ff., 799 f. m.w.N.
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setzter Richtlinien aus, wenn sich aus ihr eine Verpflichtung Privater ergäbe.76 Dies wäre in dem hier diskutierten Beispiel einer Drittanfechtungsklage der Fall. Würde sie Erfolg haben, wäre die zwingende rechtliche Folge eine kassatorische Entscheidung. Ipso iure ginge der Genehmigungsinhaber im Zeitpunkt der Rechtskraft des Urteils seiner Genehmigung verlustig.77 Diesen rechtlich verbindlichen Nachteil als Folge eines Umsetzungsdefizits muss er nicht hinnehmen. IX. Die Verbandsklage im Umweltsektor 1. Der Ausnahmefall kollektiven Rechtsschutzes a) Die naturschutzrechtliche Verbandsklage Die kollektive Wahrnehmung von Interessen stellt ein kontroverses Themenfeld dar. Nach § 64 I BNatSchG kann unabhängig vom Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz78 eine anerkannte Naturschutzvereinigung gegen bestimmte Entscheidungen auch ohne Verletzung in eigenen Rechten Rechtsbehelfe einlegen. Dabei muss sie geltend machen, dass (1) die Entscheidung gegen naturschutzrechtliche Vorschriften des Bundes oder der Länder oder andere naturschutzbezogene Normen verstößt, (2) der satzungsgemäße Aufgaben- und Tätigkeitsbereich berührt wird und (3) sie von der Berechtigung zur Mitwirkung an bestimmten bundes- bzw. landesrechtlichen Verfahren Gebrauch gemacht hat oder ihr dieses Recht verweigert wurde (§ 63 I Nr. 2 – 4 und II Nr. 5 – 7 BNatSchG). Es handelt sich um einen der erwähnten Ausnahmefälle, in denen aus nachvollziehbaren Gründen eine Ausnahme vom RechtsschutzModell indiziert ist.79 Das Naturschutzrecht ist in der deutschen Rechtstradition von Hause aus rein objektiv-rechtlicher Natur. Vor diesem Hintergrund versteht sich die Verbandsklage als Beitrag zur effektiven Rechtsdurchsetzung. b) Die Verbandsklage nach dem Umweltrechtsbehelfsgesetz Einen anderen Weg hat der Gesetzgeber bei der Umsetzung der Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie80 beschritten. Er hat in § 2 I Nr. 1 URG die Regelung getrof76
EuGH, Slg. 1994, I 3325 Tz. 24 ff. – Faccini Dori. Auch die Delena-Wells-Entscheidung des EuGH, Slg. 2004, I – 723 Tz. 55 ff.) steht dem nicht entgegen; vgl. Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 800; s. hierzu auch sogleich unter IX.2. 78 Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz) vom 7. 12. 2006, BGBl. I, S. 2816 (im Folgenden: URG). 79 Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 1), S. 101. 80 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 5. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG, ABl. L Nr. 156 (vom 25. 6. 2003), S. 17. 77
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fen, dass eine anerkannte Vereinigung ohne eigene Verletzung den Verstoß gegen Umweltvorschriften geltend machen kann, sofern diese „Rechte einzelner begründen“. Diese Klausel war richtlinienrechtlich nicht geboten. Der deutsche Gesetzgeber führte sie ein, um – so ist zu vermuten – zwar eine altruistische Verbandsklage zu schaffen, aber durch Kopplung überhaupt an subjektive öffentliche Rechte einen Mittelweg zu gehen. Ein anerkannter Verband konnte daher den Verstoß gegen eine rein objektiv-rechtliche Vorschrift des Naturschutzrechts nicht rügen. Es genügte aber für die Klagebefugnis, dass fremde Rechte möglicherweise verletzt worden sind. 2. Das Trianel-Urteil des EuGH vom 12. 5. 2011 a) Interessentenklage oder Rechtsverletzungs-Modell Der EuGH hat am 12. 5. 201181 – auf ein Vorabentscheidungsersuchen des OVG Münster82 – in seinem mit Spannung erwarteten Trianel-Urteil § 2 I Nr. 1 URG als Verstoß gegen Art. 10a UVP-RL in der durch die Öffentlichkeitsbeteiligungs-RL geänderten Fassung83 angesehen. Die Vorschrift muss also angepasst werden. Dies eröffnet der Verbandsklage im Umweltrecht neue Möglichkeiten. Die in § 2 I Nr. 1 URG vorgenommene Beschränkung der Klagebefugnis von Verbänden auf Normen, die Rechte Dritter schützen, hielt der EuGH für einen Verstoß gegen Art. 10a UVPRL. Das Urteil ist konsequent und doch überraschend, weil Art. 10a der UVP-RL ebenso wie Art. 9 II UAbs. 1 lit. a) und lit. b) der Aarhus-Konvention (AK) zwei verschiedene alternative Modelle unterscheiden: in lit. a) die Interessentenklage und in lit. b) das Rechtsverletzungs-Modell. Dieser klare Gegensatz fällt ins Auge. In diesem Sinne hatte schon der Implementation Guide84 deutlich hervorgehoben, dass man die beiden Alternativen a) und b) trennen müsse und im letzten Fall das klassische „Recht“ gemeint sei, das sich von den Interessen der lit. a) unterscheide.85 Hieran ändert auch nichts das Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit „einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren“ (Art. 10a III 1 UVP-RL, Art. 9 II UAbs. 2 AK). Hierbei handelt es sich um ein Leitbild, das sich nicht gegen den harten Wortlaut durchsetzen kann.86 Demgegenüber gehen die beiden Varianten im Urteil des EuGH z. T. ineinander über. Dies verwundert auch in systematischer Hinsicht, da sie in lit. a) und b) schon äußerlich als Gegensätze erscheinen.
81 EuGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – Rs. C-115/09, EuZW 2011, 510 = DVBl. 2011, 757 m. Anm. Durner; vgl. hierzu Appel, NuR 2011, 414 ff.; s. auch die Bedenken bereits bei Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (Fn.1), S. 101. 82 OVG Münster, 5.3.2009 – 8 D 58/08.AK, NVwZ 2009, 987. 83 Art. 3 Nr. 7 Öffentlichkeitsbeteiligungs-RL. 84 Stec/Casey-Lefkowitz/Jendroska, The Aarhus-Convention: An Implementation Guide, 2000, S. 129. 85 Vgl. Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (495 f.); von Danwitz, NVwZ 2004, 272 (279). 86 Hierzu Schmidt-Preuß (Fußn. 6), S. 801 f.; ders., NVwZ 2005, 489 (495).
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b) Keine Folgerungen für die Einzelrechtsposition Das Trianel-Urteil des EuGH betrifft allein die Verbandsklage. Keine Konsequenzen hat es für die Einzelrechtsposition. Dies ergibt sich klar aus der Randnummer 45. Dort hat der EuGH87 ausgeführt: „Was Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren fraglichen betrifft, steht es dem nationalen Gesetzgeber … frei, die Rechte, deren Verletzung ein Einzelner im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, Handlung oder Unterlassung im Sinne von Art. 10a der Richtlinie 85/337 geltend machen kann, auf subjektiv-öffentliche Rechte zu beschränken …“
Damit bleibt für das subjektive öffentliche Recht des Einzelnen in der multipolaren Konfliktlage alles wie es ist. Die Mitgliedstaaten haben die Wahl.88 Deutschland hat sich für das Rechtsverletzungs-Modell entschieden. Hierbei kann es nach geltendem Völker- und Europarecht bleiben. X. Ausblick Am Ende der tour dÏhorizon hat sich gezeigt: Das subjektive öffentliche Recht ist eine rechtsstaatliche Kardinalkategorie. Angesichts bipolarer Limitierung der eingliedrigen Interessenschutzformel bedarf es eines konzeptionellen Neuansatzes. Die Konfliktschlichtungsformel bemisst subjektive öffentliche Rechte in der multipolaren Konfliktlage anhand des normativen Ausgleichs der kollidierenden Privatinteressen. Werden sie gewertet, begrenzt und gewichtet sowie anhand eines Konfliktschlichtungsprogramms austariert, wird Drittschutz begründet. Was hierbei der eine gewinnt, geht auf Kosten des anderen. Diese Konzeption des subjektiven öffentlichen Rechts ist dem deutschen Individualrechtsschutz-Modell verpflichtet, das sich seinerseits in die Vorgaben des EU- und des Völkerrechts einfügt. Das rechtsstaatliche Zentralinstitut des subjektiven öffentlichen Rechts wird Wissenschaft und Praxis auch künftig vor Herausforderungen stellen. Dass es sich bislang bewährt hat, ist nicht zuletzt dem Jubilar zu verdanken. Auch bei der Bewältigung der zukünftigen Aufgaben werden die wissenschaftliche Expertise und das ausgewogene Urteil von Wolf-Rüdiger Schenke gefragt, ja unverzichtbar sein. Dass er weiterhin seine Stimme erhebt, ist zu hoffen. Auch die Dogmatik des subjektiven öffentlichen Rechts kann hiervon nur profitieren.
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EuGH, Urteil vom 12. 5. 2011 – Rs. C-115/09 (Fußn. 81), Tz. 45. Davon unberührt bleibt die Frage, ob sich – nach Maßgabe mitgliedstaatlicher, dem Effektivitätsgrundsatz entsprechender Vorschriften – Verbände (auch) auf Art. 9 III AK berufen können, bejahend EuGH, Urteil vom 8. 3. 2011 – Rs. C-240/09, NVwZ 2011, 673 Tz. 51 – Zoskupenie. 88
Der trialistische Behördenbegriff Von Friedrich E. Schnapp I. Einführung Der Jubilar und der Verfasser der folgenden Zeilen sind sich zuerst 1974 begegnet, als Wolf-Rüdiger Schenke auf eine Professur an der Ruhr-Universität Bochum berufen wurde und der Verfasser sich an der dortigen Juristischen Fakultät im „Endspurt“ seines Habilitationsverfahrens befand. Die Ruhr-Universität war damals erst neun Jahre alt, und es war noch die eine oder andere Pionierarbeit zu leisten. An manchen Stellen machten sich auch die Nachwehen der Ï68er Bewegung weiterhin bemerkbar. Trotz der Mehrarbeit: Es hat manche Mühen, aber auch Freude bereitet, eine junge Hochschule aufzubauen. Unsere äußeren Wege haben sich bald getrennt; der Verfasser ging 1977 zunächst nach Münster, Wolf-Rüdiger Schenke zwei Jahre darauf nach Mannheim. Der persönlichen wie auch der wissenschaftlichen Verbindung konnte die räumliche Entfernung nichts anhaben. Das bedeutet – natürlich – nicht, dass wir stets derselben Ansicht gewesen wären. Kollegialität zeigt sich ja keineswegs darin, dass man immer einer Meinung ist – wie langweilig – aber Meinungsverschiedenheiten werden in einer Hygiene der Distanz ausgetragen, in einer akademischen Streitkultur, welche die Achtung des Gegenübers einschließt. Es vollzieht sich nach den Worten von Karl R. Popper etwa so: Wir können beide voneinander lernen, solange wir nicht vergessen, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer am Ende Recht behält, als vielmehr darauf, der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Berührungspunkte unserer wissenschaftlichen Interessen waren neben dem Beamtenrecht1 vor allem das Organisations- und das Verfahrensrecht, auch wenn diese Querschnittsgebiete sich zumeist auf unterschiedliche Referenzmaterien des besonderen Verwaltungsrechts bezogen. Gerade darin liegt aber das Reizvolle: Phänomene, dogmatische Konstrukte und Erkenntnisse in je anderen Rechtsgebieten sind gut geeignet, gedankliche Anstöße auch in weiteren Feldern zu geben. Die Hinwendung zum Organisations- und Verfahrensrecht geschah bei uns beiden in der Überzeugung und der Einsicht, dass – wie der „Altmeister“ Hans J. Wolff bereits formuliert hat – diese Rechtsmaterie unentbehrlich ist für die „Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung des materiellen Rechts“.2 Materielles Recht kann eben aus sich heraus gar 1 Niederschlag beim Jubilar z. B. in: Fälle zum Beamtenrecht, 1986, 2. erw. Aufl. 1990; Neues und Altes zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, 2008, S. 655 ff. 2 Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1976, § 71 IV d. Siehe auch schon Lutz Richter, Die Organisationsgewalt, 1926, S. 12.
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nicht die „Gewissheit staatlichen Handelns“ garantieren,3 sondern bedarf der Komplettierung durch Organisations- und Verfahrensrecht,4 dem insofern „Umsetzungsfunktion“ und der Charakter eines „Transmissionsriemens“ für das materielle Recht zukommt.5 Auch die weit verbreitete Rede von der (bloß) dienenden Funktion des formellen Rechts6 erweckt den Eindruck von dessen Inferiorität und nährt zudem die problematische Redeweise vom juristischen Formalismus. Das erinnert an das mittelalterliche Bild von der Philosophie als der Magd der Theologie (philosophia ancilla theologiae). Ähnlich wie sich aber die Philosophie von der Theologie emanzipiert hat, kommt auch dem Organisations- und Verfahrensrecht Eigenstand und Eigenwert zu.7 Doch erst die Symbiose dieser drei Rechtskreise macht ein funktionierendes neuzeitliches Rechtssystem aus. In der Gewissheit, dass Wolf-Rüdiger Schenke diesen Thesen zustimmt, seien ihm daher in freundschaftlich-kollegialer Verbundenheit die folgenden Überlegungen gewidmet. II. Juristische Person und Behörde im Verwaltungsaufbau 1. Vorüberlegungen zur Rechtsfähigkeit Zentrale Figur und damit zugleich Ausgangspunkt und Schlüsselbegriff aller dogmatischen Überlegungen des gegenwärtigen Organisationsrechts ist die juristische Person. Das Aufkommen dieses Rechtsbegriffs, seine dogmengeschichtliche Entwicklung insbesondere im Zusammenhang mit dem Staatsbegriff sowie derzeit noch nicht ausdiskutierte rechtsdogmatische Einzelfragen können und müssen für den vorliegenden Zusammenhang dahingestellt bleiben. Es genügt, einige zentrale 3
Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 260. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 236 ff.; Schnapp, AöR Bd. 105 (1980), 243 ff. (246 f.); Wilhelm Wertenbruch, in: ders. (Hrsg.), Bochumer Kommentar zum Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil, 1979, § 1 Rn. 29. S. a. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Aufl. 2003, S. 104: „Übersetzungsregeln“. 5 Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht II, 2. Aufl. 1967, § 73 III c 2 a gegen Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 2. Aufl. 1991 (1. Aufl. 1965), S. 54 ff. der einen „Rangverlust des Außenrechts“ propagiert; Schnapp, Amtsrecht und Beamtenrecht, 1977, S. 173. Siehe jüngst auch Rixen, in: Festschrift für Friedrich E. Schnapp, 2008, S. 527 ff. (528 f.). 6 Kritisch gegenüber der darin zum Ausdruck kommenden einseitigen Betonung des „Ergebnisses“: Schmidt-Aßmann, in. Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 429 ff. (451); Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, 4. Aufl. 2002, Rn. 589; Kaltenborn, Streitvermeidung und Streitbeilegung im Verwaltungsrecht, 2007. S. 38. Ähnlich bereits Brohm, VVDStRL 30 (1972), 245 (253, 279). Zum Thema siehe jüngst Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, 2010. 7 Vgl. dazu die Referate von Gurlit und Fehling zum Thema „Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht“ auf der letztjährigen Staatsrechtslehrertagung. Dienende Funktion und Eigenwert sind dabei allerdings – wie Fehling (Thesenpapier II 2 [5]) betont – keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille. 4
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Aspekte in das Gedächtnis zurückzurufen. Die Entgegensetzung von „natürlichen“ und „juristischen“ Personen verschleiert den Umstand, dass auch die natürliche Person eine juristische Person ist8: Beiden wird ihr rechtlicher Aktionskreis von der jeweils geltenden Rechtsordnung zugemessen: „Soweit … das Recht reicht, zu dem man fähig ist, soweit ist man ,PersonГ, sagte schon Edmund Bernatzik, und er fügte hinzu: „das lästige Beiwort ,juristischeÐ ist also für den Begriff ganz unwesentlich; es enthält nur einen ungeschickten, wenn auch dogmengeschichtlich erklärlichen Hinweis darauf, daß das Subject kein Mensch ist; einen ungeschickten deshalb, weil die Persönlichkeit des einzelnen Menschen mit ebenso viel oder ebenso wenig Recht eine ,juristischeÐ zu nennen wäre.“ Knapper formuliert Paul Laband: „Die Natur schafft Menschen, aber keine Rechtssubjekte; es gibt keine natürlichen Personen, sondern nur juristische.“9Der Mensch ist also nicht kraft seines Mensch-Seins Rechtssubjekt, sondern kraft Zuerkennung durch das Recht. Der Mensch aus Fleisch und Blut wird in der Rechtsordnung zum „Rechtssubjekt“, an das sich Rechtssätze richten; sprachtheoretisch gewendet: der empirisch-deskriptive Begriff der Tatsachenwelt wird zum normativen Begriff.10 Wäre es anders, wäre also die Menschen-Qualität die Basis und der Grund für Rechtsfähigkeit – und das schließt die Grundrechtsfähigkeit ein – dann wären alle Menschen, ungeachtet übrigens ihrer Staatsangehörigkeit, überall und in gleichem Umfang (grund-)rechtsfähig.11 Ein Blick auf die Rechtsordnung(en) erweist die Haltlosigkeit dieses Standpunktes. Allein dieser Umstand nötigt dazu, einen positivistischen Zugang zu vertreten, der in offenkundigem Gegensatz zu einer anthropozentrisch-naturrechtlichen Sicht der Dinge steht, wie sie beispielsweise von Friedrich Carl v. Savigny formuliert worden ist.12 Danach ist 8 Paul Laband, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 1885, S. 469 ff. (492, 495); ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band 1, 3. Aufl. 1895, S. 85 Fußn. 1. Aus neuerer Zeit: Adomeit, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 2 (1972), 503 ff. (513); Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 52 unter Hinweis auf Pufendorf; Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923, S. 186 f., 518; ders., Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 63; ders. (Fußn. 4), S. 176 ff.; Rupp (Fußn. 5), S. 81 ff; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 165; Hans J. Wolff, Organschaft und juristische Person, Band 1: Juristische Person und Staatsperson, ber. Nachdruck, 1968, S. 142 ff., 150; Schnapp (Fußn. 5), S. 80. Jüngst kritisch dazu: Peter A. Windel, Festschrift für Jan Schapp, 2010, S. 537 ff. 9 Laband, Staatsrecht (Fußn. 8), S. 85, Fußn. 1; ähnlich noch die von Otto Mayer bearbeitete 7. Auflage von 1919 mit dem Titel „Deutsches Reichsstaatsrecht“. 10 Schluep, Einladung zur Rechtstheorie, 2006, S. 135; Mastronardi, Juristisches Denken, 2001, S. 189. Siehe auch Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, 2001, S. 508 ff. 11 Dazu Schnapp, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, § 52 Rn. 24. Eingehend Roth (Fußn. 10), S. 509 ff. Mit der Rechtsfähigkeit der Sklaven in Rom war es übrigens nicht so einfach, wie manche Darstellungen glauben machen wollen. Siehe nur Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, 1954 (unveränderter Nachdruck der Fassung von 1933/34), S. 146 ff. 12 von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Zweiter Band (1840), § 60. In der darauf folgenden Passage ist aber schon von „Modificationen“ durch das positive Recht die Rede, und zwar u. a. im Hinblick auf die juristische Person. Ein vergleichbares vorpositives Verständnis der „vor- und überstaatliche(n) Rechte“ bei Carl Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl. 1928, S. 164 f. An dieser Sicht hielt er ungeachtet der Existenz von Art. 19 Abs. 3 GG fest
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„(j)eder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch,… rechtsfähig“. Abermals erweist ein Blick in die Rechtsordnung, dass es anders ist. Diese disponiert nämlich darüber, wen sie als rechtsfähig ansehen will.13 Kommt es also auf die Zuteilung von Rechtsmacht durch das gesetzte Recht an, dann kann auch die Rechtsfähigkeit immer nur eine Teil-Rechtsfähigkeit sein, weil kein Rechtssubjekt in allen erdenklichen Rechtsverhältnissen und -beziehungen Adressat von Rechtssätzen sein kann. Eine ungemessene Zuteilung von rechtlichen Fähigkeiten, Inpflichtnahmen, Befugnissen und Freistellungen existiert nicht, ebenso wenig wie es Rechtssätze gibt, die alle erdenklichen Zwecke verfolgen und potentiell an jedermann adressiert sind.14 Da mithin soziale Substrate in unterschiedlicher Häufigkeit von Rechtssätzen adressiert werden, unterscheiden sich die Begriffe „Rechtssubjektivität“, „Rechtsfähigkeit“, „natürliche Person“ und „juristische Person“ lediglich quantitativ, also im Umfang, nicht jedoch kategorial. Sie fallen rechtsdogmatisch ineinander.15 Schon die Termini „Vollrechtsfähigkeit“ und „Teilrechtsfähigkeit“ sind irreführend; sie perpetuieren die Vorstellung, es existiere eine gleichsam vorgegebene Vollrechtsfähigkeit, daneben gebe es, quasi als künstliche Konstrukte, eine Reihe von Teilrechtsfähigkeiten. Auch die bürgerlich-rechtliche Vollrechtsfähigkeit schrumpft im Lichte der Gesamtrechtsordnung zur Teilrechtsfähigkeit: Der „rechtsfähige“ Mensch ist rechtlich nicht imstande, Steuern zu erheben, Strafen zu verhängen, Körperschaften des öffentlichen Rechts zu errichten, völkerrechtliche Verträge zu schließen etc.16, ähnlich wie auch der „Staat“ nicht „familienrechtsfähig“ ist oder sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen kann. Disponiert derart die Rechtsordnung über rechtliche Aktionsmöglichkeiten, dann ist Rechtsfähigkeit nicht die Voraussetzung für die, sondern Folge der Zuordnung von Rechten und Pflichten durch die Rechtsordnung17. Ganz wie die natürliche ist auch die juristische Person nicht „von sich aus“ rechtsfähig, wie gelegentlich zu lesen,18 sondern nur, soweit ihr diese Fähigkeit eingeräumt (siehe Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 231). Zur Begriffsgeschichte allgemein Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit, 1963, Erstes Kapitel, II. 13 Ein Beispiel: Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003 (BGBl. I S. 2190) ist dem Gemeinsamen Bundesausschuss, der an die Stelle der früheren Bundesausschüsse getreten ist, in § 91 Abs. 1 Satz 2 SGB V Rechtsfähigkeit zuerkannt worden. Bei den Bundesausschüssen fehlte eine derartige Bestimmung. 14 Schnapp (Fußn.5), S. 234 f. 15 Hans J. Wolff, (Fußn. 8), S. 150; Loeser, System des Verwaltungsrechts, Band 2, 1994, S. 55; Remmert, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, S. 600 f.; Rixen (Fußn. 5), S. 527 ff. (531); ders., VSSR 2004, S. 241 ff. (262 f.); Rupp (Fußn. 5), S. 82; Schnapp (Fußn. 5), S. 80 f.; ders., Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), S. 381 ff. (399 ff.); ders. (Fußn. 11), § 52 Rn. 2. In der Lehrbuch-Literatur wird die Unterscheidung aber weiterhin gemacht; vgl. stellvertretend Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 21 Rn. 6. 16 Schnapp, Artikel „Grundrechtsträger“, Lexikon des Rechts, 5/360, S. 6. 17 Hans J. Wolff (Fußn. 8), S. 146; Rupp (Fußn. 5), S. 83; Roth (Fußn. 10), S. 508; Schnapp (Fußn. 5), S. 81. 18 Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 42.
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ist. Die Rechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts ist also immer beschränkt auf den Wirkungskreis, den die Kompetenzordnung diesen zuweist.19 Dies braucht an sich nicht eigens betont zu werden; es ist der dargestellte Normalfall. 2. Organisationsrechtlicher Numerus clausus? Die juristische Person tritt uns in den tradierten Gestalten der Körperschaft, der Anstalt und der Stiftung entgegen. Freilich beschreibt diese Auflistung keinen Numerus clausus öffentlich-rechtlicher Organisationsformen. Bereits die Auseinandersetzung darum, ob etwa dem Art. 87 Abs. 2 GG ein weiter oder enger Körperschaftsbegriff zugrunde liegt,20 zeugt von einer schwachen Prägekraft dieser Kategorisierung. Wie man den um Begriffshygiene völlig unbekümmerten Umgang des Gesetzgebers mit dem Körperschaftsbegriff auf die Spitze treiben kann, belegte der frühere § 367 SGB III: „Träger der Arbeitsförderung ist die Bundesanstalt für Arbeit als rechtsfähige bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung (Bundesanstalt).“ Ungeachtet des Phänotyps der verschiedenen Sozialversicherungsträger hat der Gesetzgeber mit § 29 Abs. 1 SGB IV den Streit um deren „eigentliche“ Rechtsnatur autoritativ entschieden, ohne sich um wissenschaftliche Kategorienbildung (an die er nicht gebunden ist) zu scheren:21 „Die Träger der Sozialversicherung (Versicherungsträger) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung.“ Wegen dieser unsicheren Gemengelage von gesetzgeberischer und wissenschaftlich-systematischer Qualifikation ist man – zu Recht – auch eher zurückhaltend darin, mit einer bestimmten Organisationsgestalt gewisse weitere Erscheinungen (mitgliedschaftliche Struktur, Selbstverwaltung, Beschränkung auf Rechtsaufsicht) zu assoziieren. Hier waltet nämlich kein Automatismus, weil aus einer begrifflich-konstruktiven Einordnung keine Rechtsfolgen resultieren (können), sondern nur aus Rechtssätzen. Nicht nur entzieht sich die Wirklichkeit der organisatorischen Erscheinungen einer lückenlosen und überschneidungsfreien wissenschaftlichen Schematisierung, es bleibt vor allem dem Gesetz vorbehalten, Rechtsformen und -folgen anzuordnen. Aus diesem Grunde ist der Gesetzgeber auch frei darin, die rechtliche Gestalt von Organisationseinheiten zu ordnen. Nachstehend werden wir gelegentlich auf Erscheinungen stoßen, die sich dem gewohnten Regelbild nicht fügen. Das ist nicht legislative Eigenwilligkeit, sondern Ausdruck des gesetzgeberischen Formenfindungsrechts im öffentlichen Organisationsrecht.22 19 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 204; Laubinger, Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 641 (644); Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 6; Schnapp (Fußn. 5), S. 80 f.; Schnapp/ Rixen, BKR 2006, 360 (364) m. w. N. 20 Ausführlich und mit allen Nachweisen dazu: Butzer, Fremdlasten in der Sozialversicherung, 2001, S. 244 ff. 21 Siehe nochmals Butzer (Fußn. 20), S. 245 mit Fußnote 416. 22 Dazu Augsberg, Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, 2003, 162; Bachof, VVDStRL 44 (1986), 267; Krebs, NVwZ 1985, 609 (614); Quaritsch, VVDStRL 44 (1986), 267; Jestaedt, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 14 Rn. 29; Rixen, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, 2008,
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3. Organ und Behörde Die juristische Person benötigt regelmäßig Untergliederungen. Die gelegentlich zu hörende These, juristische Personen könnten nicht handeln, daher bedürften sie der Organe, die für sie handelten, ist zu kurz gegriffen: Handeln können nur Menschen.23 Deren Handeln muss so vermittelt werden, dass es letztlich als Handeln der juristischen Person gilt, damit ein „Ansprechpartner“ für den Bürger vorhanden ist. Dergestalt wird diesem nach näherer Maßgabe der Rechtsordnung eine rechts-, handlungs-, vermögens- und haftungsfähige Einheit an die Hand gegeben, an die er sich notfalls im Prozess „halten“ kann.24 Innerhalb der juristischen Person bedarf es ferner einer Substruktur. Die erste Ebene wird von den Organen gebildet. Unter „Organ“ im Sinne dieser Begrifflichkeit versteht man ein durch Rechtssätze gebildetes, selbständiges institutionelles Subjekt von transitorischen Zuständigkeiten zur funktionsteiligen Wahrnehmung von Aufgaben einer (rechtsfähigen oder teilrechtsfähigen25) Organisation.26 Juristische Personen wie Organe gibt es nun im öffentlichen wie im privaten Recht. Der Begriff der Behörde dagegen ist – anders als der Organbegriff – völlig auf das öffentliche Recht zugeschnitten. Vereinfachend lässt sich sagen: Die Behörde ist – in diesem System – das Organ des öffentlichen Rechts. Die Organisationsrechtsdogmatik versteht unter Behörde folglich dasjenige Organ eines Trägers öffentlicher Verwaltung, das mit Außenzuständigkeiten zu konkreten Rechtshandlungen auf dem Gebiet materieller Verwaltungstätigkeit ausgestattet ist.27 Soweit eine juristische Person in Außenrechtsbeziehungen tritt, ist das entscheidende Merkmal bei der Behörde in diesem Sinne das der transitorischen Wahrnehmungszuständigkeit. Das bedeutet zweierlei: Zum einen ist ein Organ (und eine Behörde) immer jemandes Organ, hier also: einer juristischen Person des öffentlichen Rechts. Es gibt kein Organ ohne Trägerorganisation. Zum anderen werden Maßnahmen einer Behörde derjenigen juristischen Person zugerechnet, welcher diese Behörde zugehört. Die Behörde hat (bloße) Wahrnehmungs-, die juristische Person Endzu-
S. 527 ff. (542); Seeringer, Der Gemeinsame Bundesausschuss nach dem SGB V, 2006, 73 f.; Schmidt-De Caluwe, in: Becker/Kingreen, SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung, 2008, § 91 Rdn.10. 23 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887, S. 205; Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl. 1934 (Studienausgabe, hrsgg. von Jestaedt, 2009), S. 65 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Festschrift für Hans J. Wolff, 1973, S. 269 ff. (271); Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 19; Schnapp, Jura 1980, 68 (73); Peine, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl., 2008, Rn. 47; Kingreen, Das Sozialstaatsprinzip im europäischen Verfassungsverbund, Tübingen 2003, S. 225; Roth (Fußn. 10) S. 22; s. a. Zippelius (Fußn. 4), S. 94, 99. 24 Schnapp, Jura 1980, 65 (70). 25 Siehe nochmals oben bei Fußnote 15. 26 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 74 I f. Kritik an diesem Organbegriff bei Böckenförde (Fußn. 22), S. 274 ff. Dazu wiederum Schnapp (Fußn. 5), S. 103 ff. 27 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 76 I d (S. 83).
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ständigkeit.28 Das schlägt sich in zwei Lehrsätzen des Verwaltungsorganisationsrechts nieder: 1. Körperschaften sind keine Behörden, sondern sie haben Behörden.29 Im Prozessrecht gilt im Hinblick auf die Beteiligungsfähigkeit – mit Ausnahmen (§ 61 Nr. 3 VwGO) – das Rechtsträgerprinzip: Beteiligter im Prozess ist diejenige juristische Person, der die handelnde Behörde zugehört.30 Ist in diesem Begriffsraster eine Institution als Organ festgemacht, dann wäre es verfehlt, an der Devise festzuhalten „Einmal Organ – immer Organ“. Das gilt nur aus der Perspektive des Außenrechts, die das Organisationsgebäude gewissermaßen in einer statischen Momentaufnahme betrachtet und an der „Außenschale“ trifft. Dadurch wird allerdings das Innenleben der juristischen Person nicht vollends ausgeleuchtet und nicht in allen Facetten abgebildet. Stellt man nämlich auf das Verhältnis der Organe zueinander und zu der juristischen Person ab, dann hat diese Sichtweise folgende Konsequenzen: (1) Zum einen werden dann Organe zu Rechtssubjekten des Innenrechts, weil sie ihre durch Rechtssätze eingeräumten Zuständigkeiten insofern, d. h. im Verhältnis zur juristischen Person selbst und zu deren übrigen Organen, als eigene wahrnehmen.31 Diese können sie ggf. in einem Organstreitverfahren verteidigen. Dass es im Innenbereich einer juristischen Person Rechtsbeziehungen gibt, ist freilich noch nicht allzu lange Gemeingut der Verwaltungsrechtswissenschaft. Während Staats- (Verfassungs-)Organe mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG immerhin ein prozessualer „Anker“ zur Verfügung steht, fehlt eine Entsprechung in der VwGO. Das hat zunächst zu Abwehrbewegungen geführt, die unter dem Stichwort „In-sich-Prozess“ bekannt sind, der zunächst a limine, bald darauf immerhin noch grundsätzlich unzulässig sein sollte. Mit der Überwindung der Impermeabilitätstheorie und im Schlepptau des Kommunalverfassungsstreits hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die kompetenzrechtlichen Beziehungen zwischen den Organen einer juristischen Person veritable Rechtsbeziehungen darstellen und Streitigkeiten zwischen diesen um Kompetenzübergriffe als Rechtsstreitigkeiten gerichtlich ausgetragen werden können.32 Die Scheu, auch hier von subjektiven Rechten zu sprechen, rührt u. a. daher, dass 28 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 74 I f 7; Erichsen, Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 211 (215). 29 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 76 I d 5 (S. 85); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2009, Rn. 202. 30 BVerwGE 14, 330 (331); Schenke, in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2009, § 78 Rn. 3; Keller/Leitherer in: Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2005, § 70 Rn. 4. 31 Siehe die Fallgestaltungen in BVerwGE 45, 207; BSG SozR 4 – 1500 § 70 Nr. 1; ferner Böckenförde (Fußn. 23), S. 278; Erichsen (Fußn. 28), S. 227 f.; Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 26; Roth (Fußn. 10), S. 503 f.; Schnapp (Fußn. 5), S. 141. 32 Bethge, Der Kommunalverfassungsstreit, in: Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 3. Aufl. 2007, § 28 Rn. 16. Wegbereitend war insofern, nach maßgeblichen Vorarbeiten von Hoppe, Kisker, Tsatsos und einigen „Pionierentscheidungen“ von Gerichten (s. die Nachweise bei Krebs, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, S. 141 ff., Fußn. 3), Roth (Fußn. 10), 2001, bes. S. 485 ff., 541 ff. Siehe jetzt auch Grote, Der Verfassungsorganstreit, 2010.
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man das Definitionselement „Individualinteresse“ mit dem individualpsychologischen Merkmal „menschliches Interesse“ verwechselt.33 Ein Interesse im letzteren Sinne können juristische Personen, Behörden etc. natürlich nicht haben. Bei Lichte besehen, ist das Definitionselement des Interesses nur eine Dogmatisierungshülse für die Begünstigungsabsicht des Normautors. Um es mit den Worten von Georg Jellinek auszudrücken:34 Ein subjektives öffentliches Recht ist nicht schon dann anzunehmen, wenn eine Norm zu jemandes Gunsten wirkt (dann: Rechtsreflex), sondern wenn sie um seinetwillen statuiert ist. (2) Zum anderen wird in diesem Interorganverhältnis die dogmatische Figur der transitorischen Wahrnehmungszuständigkeit entbehrlich und damit hinfällig.35 Da diese nämlich die Funktion hat, das Organhandeln im Außenverhältnis der juristischen Person zuzurechnen, ist sie funktionslos, sobald das Verhältnis von Organen der juristischen Person zueinander (und zu dieser selbst) in Frage steht. Hier gibt es nichts zuzurechnen. Das mündet in das (scheinbare) Paradox: Auf der Organebene sind „Organe“ nicht mehr Organe.36 Ob diese ihre Rechte in einem Insichprozess verteidigen können, ist keine axiomatische Frage, als die sie lange Zeit behandelt wurde (und z. T. noch wird), sondern eine solche des positiven Rechts: Ihre Beantwortung hängt (allein) davon ab, „mit welchen – eigenen – Rechten der Kläger des Insichprozesses von der Rechtsordnung ausgestattet worden ist.“37 Sofern der Zuständigkeitskomplex innerhalb einer Behörde ein Aufgabenbereich ist, der von einem einzigen Menschen wahrgenommen werden kann, spricht man vom Amt (im organisationsrechtlichen Sinne).38 Es bildet gleichsam die unterste Ebene. Ein Amt kann dabei zugleich Organ sein. Die Person, welche die in diesem Amt zusammengefassten Aufgaben wahrzunehmen hat, wird als Amtswalter bezeichnet.39
33 Dazu eingehend Schnapp, VerwArch. Bd. 78 (1987), S. 407 ff. (424 ff.). Zu diesem Unterschied siehe auch Wolfgang Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, 1969, S. 176 f.; Grote (Fußn. 32), S. 39; Schnapp, Jura 1980, 293 ff. (303). Dezidiert vom Menschen als der Schlüsselfigur ausgehend: Krebs, Festschrift für Friedrich E. Schnapp, 2008, S. 141 ff. (145). 34 System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 44. 35 VGH Mannheim, DÖV 1983, 862; Erichsen (Fußn. 28), S. 216; Klaus Ewald, DVBl. 1970, 237 (241); Manfred Heinrich, Verwaltungsgerichtliche Streitigkeiten im Universitätsinnenbereich, 1975, S. 51 f., 194; Roth (Fußn. 10), S. 504; Schnapp (Fußn. 5), S. 97 f. 36 Schnapp, Rechtstheorie 1984, S. 275 ff. (285 mit Nachweisen). Gleichsinnig: Erichsen (Fußn. 28), S. 211 ff. (215 f.). Siehe auch Böckenförde (Fußn. 23), S. 269 ff. (278). 37 BVerwGE 45, 207 (210). 38 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 73 I c. Den Unterschied haben diejenigen Gesetzgeber nicht verstanden, die für Organe und Ämter (also Zuständigkeitskomplexe!) geschlechtsspezifische Bezeichnungen normieren. 39 Ein Beispiel für das Zusammenfallen von Amt und Organ ist etwa der Bundespräsident. Der Amtswalter (der gewählte „Herr Bundespräsident“) nimmt alle Aufgaben des Staatsorgans „Der Bundespräsident“ wahr. Sofern es sich dabei um Verwaltungsmaßnahmen im Außenverhältnis – wie etwa die Beamtenernennung – handelt, ist der Bundespräsident Behörde (Maurer [Fußn. 15], § 21 Rn. 32) und als solche ein „Ein-Personen-Organ“. Daran ändert nichts, dass ihm ein Bundespräsidialamt beigegeben ist. Dieses berät und unterstützt den Bundespräsidenten, ist aber keine organisatorische Untergliederung des Staatsorgans, sondern
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Diese Konzentration auf das Amt ist allerdings typisch für die monokratisch-hierarchisch aufgebaute Verwaltungsorganisation mit ihrem pyramidenförmigen Aufbau und dem Weisungsrecht des Vorgesetzten. In einer kollegial strukturierten Verwaltungseinheit wird sie zwar nicht völlig obsolet; denn auch innerhalb eines Kollegiums können dessen einzelne Mitglieder ein Amt innehaben, wie etwa die Prüfer eines Prüfungsausschusses, die ihr Fachgebiet selbständig prüfen. Das Amt „verschwindet“ aber spätestens bei einer Entscheidungsfindung durch Mehrheitsbeschluss hinter der horizontalen Koordination innerhalb der Personenmehrheit, eben dem Kollegium.40 III. Der funktionale Behördenbegriff Das vorstehend skizzierte organisationsrechtliche Begriffssystem ist losgelöst von irgendwelchen normativen Vorgaben durch Rechtswissenschaft und Rechtsprechung entwickelt worden, um organisatorische Zusammenhänge systematisch erfassen zu können. Das muss hier festgehalten werden, weil im weiteren Verlauf der Darstellung deutlich werden wird, dass die juristische Qualifizierung von organisatorischen Einheiten abhängig ist „von der Bezugsordnung, auf die jeweils abgestellt wird.“41 Unmittelbare Rechtsfolgen resultieren aus der tradierten Klassifizierung nicht, und zwar auch deshalb nicht, weil ihrer Konstruktion kein normatives Material zugrunde gelegen hat, auf das sie sich hätte beziehen können. Sie war ein „reiner Wurf der Wissenschaft“. Der Gesetzgeber ist an solche wissenschaftlichen Systeme nicht gebunden.42 Deshalb war er frei darin, in § 1 Abs. 4 VwVfG, ebenso wie in § 1 Abs. 2 SGB X, den Behördenbegriff autonom zu bestimmen und festzulegen, dass Behörde jede Stelle ist, die (und das heißt: soweit sie) Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Damit ist ein wesentliches Element des organisationsrechtlichen Behördenbegriffs aufgegeben, nämlich das der (bloß) transitorischen Wahrnehmungszuständigkeit mit der ihm eigenen Funktion der Zurechnung – aber nicht nur dieses, wie zu zeigen ist. Die Urheber der Verwaltungsverfahrensgesetze haben sich mit der autonomen verwaltungsverfahrensrechtlichen Begriffsbestimmung von dem organisationsrechtlichen Behördenbegriff losgelöst. Die Literatur ist dieser Absetzbewegung allerdings nur auf halbem Wege gefolgt. In den entsprechenden Kommentierungen finden sich nach wie vor die Merkmale der (gewissen) Selbst- oder Eigenständigkeit43 und der nur ein „administrativer Annex“ der Institution „Bundespräsident“. Siehe Butzer, VerwArch 82 (1991), 497 (502). 40 Thomas Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, 1999, S. 3. 41 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 74 II b 1 a. 42 Möllgaard, in: Knack, Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Aufl. 2004, § 1 Rn. 8; Schnapp, ZSR 1984, 140 ff. (152). 43 Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 10. Aufl., München 2009, § 1 Rn. 51; Bertram, in: Giese/Wahrendorf, Sozialgesetzbuch I und X (Loseblatt, Stand: Juli 2002), X § 1 Rn. 10; Roos, in: v. Wulffen (Hrsg.), SGB X – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz, 6. Aufl. 2008, § 1 Rn. 9; Schliesky, in: Knack/Henneke, Verwaltungsverfahrensgesetz,
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Außenwirkung,44 obwohl dem Gesetz, das immerhin eine Legaldefinition (!) enthält, diese Kriterien unbekannt sind.45 Auch die Redeweise von einem „weiten“ oder „erweiterten“ Behördenbegriff signalisiert zwar, dass (quantitativ) mehr Verwaltungseinrichtungen dem funktionalen als dem organisatorischen Behördenbegriff unterfallen. Sie entbehrt aber nicht nur der dogmatischen Schärfe, sondern bleibt der tradierten Vorstellung verhaftet, weil sie diese als Ausgangspunkt nimmt. Beim verfahrensrechtlichen Behördenbegriff handelt es sich nämlich nicht um eine Variante oder eine Modifikation, sondern um einen eigenständigen, nämlich verfahrensrechtlichen Behördenbegriff46 und damit um ein aliud.47 Für die Anwendbarkeit der Verwaltungsverfahrensgesetze reicht mithin die Feststellung aus, dass (irgendeine) „Stelle“ Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.48 Das ist ein qualitativer und nicht nur ein quantitativer Unterschied. Das teilweise Festhalten am Moment der Außenwirkung mag verständlich sein, weil durch § 9 VwVfG eine gesetzliche Festlegung des Verwaltungsverfahrens dahingehend erfolgt, dass es auf den Erlass eines Verwaltungsakts oder den Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages gerichtet sein muss. Das darf jedoch nicht zu dem Schluss verleiten, Behörden könnten nur solche Stellen sein, die Verwaltungsakte erlassen oder öffentlich-rechtliche Verträge abschließen.49 Das ergibt sich schlicht aus dem Gesetz, das auch hier verdient, beim Wort genommen zu werden: § 1 Abs. 4 VwVfG spricht nicht vom Erlass eines Verwaltungsakts oder vom Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, sondern von der Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung. M. a. W.: Wenn die Außenwirkung ein Begriffsmerkmal des Verwaltungsakts ist, dann kann sie nicht ein Tatbestandsmerkmal der „Behörde“
9. Aufl. 2010, § 1 Rn. 69; Sodan, Kollegiale Funktionsträger als Verfassungsproblem, 1987, S. 112 ff.; Thieme, in: Wannagat (Hrsg.), Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (Loseblatt, Stand: April 2001), § 1 Rn. 12. 44 OVG Münster, NVwZ 1986, 761; Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 32; Grüner/Dalichau, Verwaltungsverfahren (SGB X) – (Loseblatt, Stand: 1993), § 1 Anm. III.; Jörn Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. Aufl. 2009, Rn. 312 (S. 68); Obermayer, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 2 Aufl. 1990, § 1 Rn. 74; Ule/ Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 4. Aufl. 1995, S. 75; Vogelgesang, in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch – SGB X (Loseblatt, Stand: XI/04), K § 1 Rn. 22; Wallerath, in: v. Maydell/Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl. 2008, § 11 Rn. 22; Waschull, in: Dierig/Timme/Waschull, Sozialgesetzbuch X, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 7. 45 Zutreffend Möllgaard (Fußn. 42), § 1 Rn. 8; Peine (Fußn. 23), Rn. 330 (S. 82). 46 Möllgaard (Fußn. 42), § 1 Rn. 8; Peine (Fußn. 23), § 7 III 1 a (S. 82). 47 Schnapp, ZSR 1984, 140 (152 f.). 48 Detterbeck (Fußn. 29), Rn. 201; Möllgaard (Fußn. 42), § 1 Rn. 8. 49 So aber Maurer (Fußn. 15) , § 21 Rn. 33; Walter Rudolf, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1998, § 52 Rn. 31; Ule/Laubinger (Fußn. 44), S. 75; Wallerath (Fußn. 44), § 11 Rn. 22. Wie hier Jörn Ipsen (Fußn. 44), Rn. 219; Peine (Fußn. 23), Rn. 330 (S. 82); Heribert Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 1 Rn. 242, 243.
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sein.50 Diese Aufgabenwahrnehmung kann nämlich auch auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet sein (mehr verlangt § 9 VwVfG nicht), ohne dass die Stelle selbst den Verwaltungsakt erlässt. Das zeigt sich etwa an (internen) Mitwirkungshandlungen wie der Erteilung des Einvernehmens.51 Der intern mitwirkenden Stelle die Eigenschaft einer Behörde absprechen heißt das Merkmal „Rechtswirkung nach außen“ aus § 35 Satz 1 in § 1 Abs. 4 VwVfG in unzulässiger Weise hineinprojizieren. Für die Annahme der Behördeneigenschaft ist der Erlass eines Verwaltungsakts also eine zwar hinreichende Bedingung (condicio per quam), aber keine notwendige (condicio sine qua non).52 Nicht zuletzt spricht für einen eigenständigen Behördenbegriff im Sinne des Verwaltungsverfahrens der Umstand, dass das Gesetz dies mit der Formulierung „Behörde im Sinne dieses Gesetzes“ selbst erkennen lässt. Aus diesem Grunde ist es auch verfehlt, wenn in den Kommentierungen zu § 1 Abs. 4 VwVfG zum Beleg für die fehlende Behördeneigenschaft einer Einrichtung solche Gerichtsentscheidungen zitiert werden, die sich ausdrücklich (nur) zur Behördeneigenschaft im Sinne des Prozessrechts (d. h. der §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO) geäußert haben.53 Dass dies kein terminologisches Glasperlenspiel ist, muss sich an der Frage erweisen, ob es Phänomene gibt, die nur einem der beiden vorgestellten Behördenbegriffe unterfallen. Das lässt sich – gerade an Erscheinungen des Sozialrechts – demonstrieren. Als Essentialien des tradierten organisatorischen Behördenbegriffs firmieren, wie bereits gesagt, die Existenz einer Trägereinrichtung und, damit verknüpft, die der Behörde (= Organ) zukommende transitorische Wahrnehmungszuständigkeit. Dass beides fehlen kann, eine Institution aber gleichwohl als Behörde im Sinne des Verwaltungsverfahrensrechts anzusprechen ist, soll nachstehend nur beispielhaft am Schiedsamt gem. § 89 SGB V (gesetzliche Krankenversicherung) demonstriert werden.54 Dieses Schiedsamt ist gebildet worden, weil in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht alle Angelegenheiten der Ärzte und Krankenkassen durch Gesetz 50 Ruffert, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 21 Rn. 19; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008 § 35 Rn. 50; Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1992, S. 62, 70; Quaas, in: Schnapp (Hrsg.), Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, Berlin 2004, Kap. C Rn. 189. 51 Peine (Fußn. 23), Rn. 330 (S. 82); Heribert Schmitz (Fußn. 48), § 1 Rn. 244. 52 Dazu Joerden, Logik im Recht, 2005, S. 19 f. Die oft zu lesende Schreibweise „conditio“ entspricht zwar der englischen Version, nicht aber der lateinischen. Dort bedeutet conditio (von condere) „Gründung“, condicio dagegen die hier gemeinte „Bedingung“. 53 Siehe etwa BVerwGE 70, 4, LS 1: „Die Prüfungsausschüsse… sind keine Behörden im Sinne der §§ 68 ff. VwGO.“ [Hervorhebung von mir] Das wird nicht beachtet von Ruffert (Fußn. 50), S. 678 (Rn. 20). Problematisch daher auch die amtl. Begründung zum VwVfG: BTDrucks. 7/910, S. 32 f. und dazu Ehlers, Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 379 ff. (389). 54 Eingehend zu allen Aspekten dieser Institution: Schnapp, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des sozialrechtlichen Schiedsverfahrens, 2004, Kapitel B (S. 21 ff.). Eine knappe Darstellung neueren Datums bei Ziermann, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2010, § 22 (S. 623 ff.).
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geregelt sind. In nicht wenigen Bereichen der vertragsärztlichen Versorgung erfolgt die Regelung vielmehr durch Verträge zwischen den kassenärztlichen Vereinigungen und den (Landesverbänden der) Krankenkassen, wie z. B. durch den Gesamtvertrag nach § 83 SGB V. Kommt ein solcher Vertrag nicht zustande, so setzt das Schiedsamt den Vertragsinhalt per Beschluss fest. Damit soll der Eintritt eines vertragslosen Zustandes verhindert werden. Das Schiedsamt besteht aus drei unparteiischen Mitgliedern, von denen eines den Vorsitz führt, sowie aus Vertretern der Krankenkassen und der Ärzte in gleicher Zahl. Es ist nun fast einhellige Meinung, dass das Schiedsamt eine Behörde im Sinne des § 1 Abs. 4 SGB X (= § 1 Abs. 2 VwVfG) darstellt.55 Indem es nämlich an Stelle der Verfahrensbeteiligten den Inhalt eines öffentlich-rechtlichen Vertrages festsetzt, nimmt es eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung wahr. Ihm fehlt jedoch nahezu alles, was eine Behörde im Sinne des Organisationsrechts ausmacht: Es besitzt keine Trägerkörperschaft, deren Organ es sein und welcher sein Handeln zugerechnet werden könnte, so dass damit auch das Merkmal der transitorischen Wahrnehmungszuständigkeit hinfällig ist. Vielmehr entscheidet das Schiedsamt im eigenen Namen.56 Der Schiedsspruch selbst hat Doppelnatur:57 Gegenüber den Verfahrensbeteiligten, also den Vertragsparteien (Kassenärztlichen Vereinigungen und Landesverbänden der Krankenkassen), ist die Festsetzung ein Verwaltungsakt, was mittelbar dadurch bestätigt wird, dass das Gesetz selbst von der Klage gegen die Festsetzung des Schiedsamts spricht (§ 89 Abs. 1 Satz 6 SGB V). Im Verhältnis zu den Mitgliedern der Beteiligten, also den Kassen und Ärzten, ist die Entscheidung dagegen Normsetzung.58 Für den Rechtschutz gegen die Entscheidungen des Schiedsamts hat das folgende Konsequenzen: Nicht klagebefugt sind die einzelnen Ärzte und Krankenkassen, weil sie lediglich von der normativen Wirkung des Schiedsspruchs „betroffen“ sind und das Sozialgerichtsgesetz keine prinzipale Normenkontrolle kennt. Die Entscheidungen können jedoch von den Adressaten, d. h. den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden der Krankenkassen, mit der Anfechtungsklage angegriffen werden (§ 89 Abs. 1 Satz 6, Abs. 1a Satz 4 SGB V), wobei das Schiedsamt selbst als beklagte Partei firmiert. Dieser Umstand hindert das Bundessozialgericht allerdings nicht daran, dem Schiedsamt dann, wenn es selbst eine aufsichtsbehördliche Beanstandung mit der Anfechtungsklage angreift, die Klagebefugnis abzusprechen.59 Das kann nicht richtig sein. Zur Begründung seiner Ansicht hat das Bundessozialgericht u. a. ausgeführt, 55 Statt aller: Schnapp, GesR 2007, 392 mit allen erforderlichen Nachweisen, auch zur Gegenmeinung. Ebenso zuletzt Ziermann (Fußn. 54), § 22 Rn. 18 (S. 630). 56 Düring (Fußn. 50), S. 58. 57 Gegen eine Doppelnatur hoheitlicher Maßnahmen aus Gründen der Rechtslogik: Schenke, (Fußn. 30), Anhang zu § 42 Rn. 8. Dass aber ein Vorgang mehrere Rechtsakte bündeln kann, dürfte anerkennt sein; vgl. Schnapp (Fußn. 5), S. 158 mit Fußn. 152. 58 Schnapp (Fußn. 54), Kapitel B Rn. 101 (S. 64) mit allen Nachweisen. 59 BSGE 86, 126 (134 f.) = SozR 3 – 2500 Nr. 37 S. 291. Dazu Schnapp, NZS 2007, 561 (565 f.).
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das Schiedsamt habe keine originären, sondern nur „nachgeordnete und ersetzende Befugnisse“.60 Das ist ein terminologisches Vexierspiel, das zudem mit der Frage der Klagebefugnis keinen ersichtlichen Zusammenhang aufweist. Nun mag es schwierig sein, sich in der Frage der Klagebefugnis an der nicht sonderlich geglückten Vorschrift des § 54 SGG zu orientieren. Aber nicht einmal das darauf gerichtete Bemühen lässt die Begründung des Bundessozialgerichts erkennen. Abgesehen von der Normtextferne offenbart die Begründung auch rechtsdogmatische Defizite. „Originär“ (ursprünglich) ist in der allgemeinen Rechtsprache der Gegensatz zu „derivativ“ (abgeleitet). Wovon sollte die Befugnis des Schiedsamtes abgeleitet sein, wenn nicht aus dem Gesetz? Wenn das nicht die Zuerkennung einer originären Befugnis ist, lässt sich nur noch an eine naturrechtliche Begründung denken. Das aber wollen wir dem Bundessozialgericht nicht unterstellen. Ferner: Zwar tritt die Entscheidung des Schiedsamts an die Stelle des Vertrages, den die Verfahrensbeteiligten zu schließen unterlassen haben, eine „ersetzende Befugnis“ ist dem Verwaltungsrecht aber unbekannt. Nicht einmal bei der klassischen Ersatzvornahme wird von „ersetzender Befugnis“ gesprochen. Die Befugnis ist auch nicht etwa „nachgeordnet“ (zu fragen wäre: wem eigentlich?). Vielmehr ist dem Schiedsamt eine eigene Befugnis vom Gesetz zugewiesen; damit ist sie originär, d. h. unabgeleitet, und das Schiedsamt ist Zurechnungsendsubjekt dieser Rechtsposition.61 Dass aus solchen Einräumungen im Fall der rechtswidrigen Beeinträchtigung Abwehrrechte (Reaktionsansprüche) resultieren, ist sogar für den Innenrechtsstreit anerkannt.62 Das muss erst recht gelten, wenn es sich um eine eigenständige Institution wie das Schiedsamt handelt, das weisungsfrei ist63 (§ 89 Abs. 3 Satz 8 SGB V), keiner Körperschaft eingeordnet und keiner Instanz nachgeordnet ist.64 Aus der Kompetenzzuweisung folgt also bei „Statuseinbrüchen“ ein entsprechender Reaktionsanspruch65 und damit die Klagebefugnis des Schiedsamtes.66 Träfe die Ansicht des Bundessozialgerichts zu, dann hätte letzten Endes ein Schiedsamt de facto die Stellung einer nachgeordneten, weisungsgebundenen Behör60 61
(228).
BSGE 86, 126 (132 unten) = SozR 3 – 2500 Nr. 37 S. 293. Letzteres Kriterium sieht als entscheidend an: Hans-Uwe Erichsen (Fußn. 28), S. 211 ff.
62 BSGE 39, 260 (262 f.); Erichsen (Fußn. 28), S. 211 ff. (228); Alexander Herbert, DÖV 1994, 108 ff.; Schenke (Fußn. 30), § 42 Rn. 80. Siehe auch Schnapp, VerwArch Bd. 78 (1987), S. 407 ff. (418 ff.) mit umfangreichen Nachweisen. 63 Dazu, dass dieses Merkmal für den In-sich-Prozess sprechen kann, siehe Wolfgang Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2005, § 54 Rn. 15b. Ebenso BSG SozR 4 – 1500 § 70 Nr. 1 Rn. 19. 64 Auf die Erheblichkeit dieser Topoi weist hin: Herbert, DÖV 1994, 108 (111) mit weiteren Nachweisen. 65 Zu dieser Konstruktion siehe Schnapp, VerwArch Bd. 78 (1987), S. 407 ff. (427). 66 Wie hier auch Düring, Das Schiedswesen, in: Schnapp/Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts – Das gesamte Kassenarztrecht, 2. Aufl. 2006, § 9 Rn. 66; Ulrich Hencke, in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung (Loseblatt, Stand: Juli 2008), § 89 SGB V Rn. 25; Liebold/Zalewski, Kassenarztrecht (Loseblatt, Stand: Sept. 1993), § 89 Rn. C 89 – 41.
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de. Es müsste jeder Beanstandung, sei sie nun zu Recht oder zu Unrecht erfolgt, unverzüglich nachkommen. Aus der umgekehrten Perspektive: Die Aufsichtsbehörde könnte ihren Ermächtigungsrahmen beliebig überschreiten, ohne dass ein Schiedsamt diese Frage zur gerichtlichen Überprüfung stellen könnte. Der Verweis des Bundessozialgerichts auf die Möglichkeit der Vertragsparteien, selbst eine gerichtliche Überprüfung der Beanstandung herbeizuführen,67 hilft hier nicht weiter. Unter Rechtsschutzaspekten kann es nicht darauf ankommen, ob auch andere Rechtssubjekte eine behördliche Maßnahme anfechten können, sondern allein darauf, ob der von einem belastenden Verwaltungsakt selbst Betroffene diese Maßnahme zur gerichtlichen Überprüfung stellen kann. Die Vertragsparteien können aus vielerlei Beweggründen, nicht nur wegen rechtlicher Fragen, davon absehen, eine aufsichtsbehördliche Beanstandung anzufechten. Mit diesen Anmerkungen soll es hier sein Bewenden haben. Ein ähnliches Bild wie das Schiedsamt bieten mehrere andere kollegiale Gremien in der gesetzlichen Krankenversicherung,68 die deshalb, ebenso wie das Schiedsamt, keine Behörden im Sinne des Organisationsrechts, wohl jedoch im Sinne des Verwaltungsverfahrensrechts sind.69 Deutlicher kann das Auseinanderklaffen der beiden Behördenbegriffe nicht demonstriert werden. Wie nicht selten, bietet auch hier das Sozialrecht wieder genügend Anschauungsmaterial zur Anreicherung der Organisationsrechtsdogmatik. IV. Der prozessuale Behördenbegriff Neben die beiden vorstehend erörterten Behördenbegriffe tritt noch derjenige des Prozessrechts.70 Insofern haben wir es mit einem trialistischen Behördenbegriff zu tun. Was das sozialgerichtliche Verfahren angeht, so hat das Sozialgerichtsgesetz mittlerweile eine Regelungstechnik gewählt, welche der Prozessrechtsdogmatik einiges an Arbeit abnimmt. § 70 Nr. 4 SGG spricht die Beteiligtenfähigkeit den „gemeinsame(n) Entscheidungsgremien von Leistungserbringern und Krankenkassen oder Pflegekassen“ zu. Für das bereits erwähnte Schiedsamt und weitere kollegiale Gremien der sog. gemeinsamen Selbstverwaltung erübrigt sich mithin die Frage, ob sie als Behörde im Sinne des Prozessrechts zu qualifizieren sind, weil sie schon
67
BSGE 86, 126 (132). Z. B. die Schiedsstellen nach § 114 SGB Voder § 18a KHG. Dazu Manssen, ZFSH/SGB 1997, 81 ff. (83 l. Sp.). Siehe auch Trefz, Der Rechtsschutz gegen die Entscheidungen der Schiedsstellen nach § 18 a KHG, 2002, S. 95 ff. sowie Schnapp, ZSR 1984, 140 ff. Zuletzt zu neueren Schiedseinrichtungen: Schnapp, NZS 2010, 241 (245 f.). 69 Ebenso Peter Becker, Festschrift für Bernd Wiegand, 2003, S. 271 ff. (272); Plantholz, RsDE 2007, 1 (17). Siehe auch. Schnapp (Fußn. 54), Kap. B Rn. 40 mit weiteren Nachweisen. 70 Dazu schon Schnapp, ZSR 1984, 140 (154); ders., in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Band I: Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49 Rn. 157 ff., 220 ff.; ebenso Peter Becker (Fußn. 69), S. 271 ff. (278); Düring (Fußn. 66), § 9 Rn. 12; Plantholz, RsDE 2007, 1 (17). Siehe auch Heribert Schmitz (Fußn. 49), § 1 Rn. 212, 218. 68
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nach § 70 Nr. 4 SGG kraft Gesetzes beteiligtenfähig sind.71 Vor der Neufassung von § 70 Nr. 4 SGG durch das 6. SGG-Änderungsgesetz v. 17. 8. 2001 (BGBl. I S. 2144) war die Rechtslage weniger klar: Lediglich das Schiedsamt (§ 89 SGB V) und der Berufungsausschuss (§ 97 SGB V) waren in dieser Vorschrift ausdrücklich als beteiligtenfähig aufgeführt.72 Allerdings ist in § 70 SGG nur die Beteiligtenfähigkeit geregelt, ohne dass eine dem § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO entsprechende Vorschrift eine Bestimmung dazu enthielte, ob – eine landesrechtliche Vorschrift vorausgesetzt – eine Behörde auch als beklagte Partei firmieren könnte. Nach Ansicht des Bundessozialgerichts hat der Bundesgesetzgeber im SGG unausgesprochen vorausgesetzt, dass dann, wenn das Landesrecht eine Beteiligtenfähigkeit der Behörde anordnet, zwangsläufig auch diese Behörde der richtige Beklagte, Kläger oder Beigeladene – also der richtige Beteiligte – ist.73 Dieser Gedankengang lässt sich auf das Schiedsamt übertragen: Was einen Insichprozess angeht, so besitzen die Vorschriften der Prozessordnungen über die Beteiligtenfähigkeit nach Ansicht des Bundessozialgerichts, das sich dem Bundesverwaltungsgericht angeschlossen hat, „keinen weiteren Erkenntniswert“.74 Sie sind lediglich, sofern die Voraussetzungen für einen Insichprozess vorliegen, entsprechend anzuwenden. Da insbesondere in der VwGO eine Vorschrift wie § 70 Nr. 4 SGG fehlt, ist man für den Verwaltungsgerichtsprozess nicht der Frage enthoben, ob eine Einrichtung der Verwaltungsorganisation (auch) als Behörde im prozessualen Sinne anzusprechen ist. Dass insbesondere der funktionale und der prozessuale Behördenbegriff nicht deckungsgleich sind, sondern auseinander fallen können,75 soll kurz am Beispiel des Prüfungsausschusses nach den §§ 15 und 16 des nordrhein-westfälischen Juristenausbildungsgesetzes (JAG NRW)76 dargestellt werden (Die Rechtslage in den übrigen Ländern dürfte sich nicht wesentlich anders darstellen). Dem Prüfungsausschuss obliegt es, die mündliche Prüfung bei der ersten juristischen Staatsprüfung abzunehmen. Er besteht aus drei weisungsfreien Personen, von denen eine den Vorsitz führt. Nach dem Gesetz trifft er alle Entscheidungen über Prüfungsleistungen,77 insbesondere die Entscheidung über das Prüfungsergebnis. Andere Befugnisse kommen ihm nicht zu. Vielmehr sind gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 JAG NRW die Vorsitzenden des Justizprüfungs71 Unstreitig, vgl. BSGE 87, 199 (200) für die Schiedsstelle gem. § 76 SGB XI; BSGE 90, 61 (63) = SozR 3 – 2500 § 87 Nr. 35 für den (erweiterten) Bewertungsausschuss; siehe im Übrigen Düring (Fußn. 66), § 9 Rn. 12 mit weiteren Nachweisen. 72 Zu den Gründen für diese selektive Benennung siehe BSG SozR 1500 § 70 Nr. 1 S. 3. Siehe auch BSGE 87, 199 (200) zum „Versehen des Gesetzgebers“. 73 BSG, Urteil vom 29. 9. 2009, B 8 SO 19/08 R, Rn. 14. Zum (allgemeinen) Verwaltungsgerichtsverfahren gilt Ähnliches; siehe Ehlers (Fußn. 53), S. 390. 74 BSG SozR 4 – 1500 § 70 Nr. 1 Rn. 18 im Anschluss an BVerwGE 45, 207 (208). 75 So auch Schmitz (Fußn. 49), § 1 Rn. 240. 76 Vom 11. März 2003 (GV. NRW S. 135, 431), zuletzt geändert durch Artikel 19 des Gesetzes vom 21. April 2009 (GV. NRW S. 224). Zur Rechtsnatur des Prüfungsausschusses: Schnapp, NWVBl. 2010, 419 ff. 77 Abgesehen von der Bewertung der Aufsichtsarbeiten (§ 14 Abs. 1 JAG NW).
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amts für alle Entscheidungen und sonstigen Maßnahmen im Rahmen des Prüfungsverfahrens zuständig, soweit keine andere Regelung getroffen ist. Nach Rechtsprechung und Literatur wird der Prüfungsausschuss – soweit sich Stimmen finden lassen – als Behördenteil qualifiziert.78 Das Kennzeichen eines solchen Behördenteils wiederum wird darin gesehen, dass er nicht eigenständig ist79 – freilich ohne dass ein Kriterium angegeben wird, nach welchem sich die Eigenständigkeit bemisst. Eines solchen Kriteriums bedarf es aber schon deshalb, weil juristische Qualifikationsbegriffe nicht „in der Gegend herumstehen“, sondern relativ sind.80 Das bedeutet, dass sie eines normativen Anknüpfungs- und Bezugspunktespunktes bedürfen, von dem her sie ihre jeweilige Eigenschaft beziehen. M. a. W.: Rechtliche Qualifikationen und ihre „Richtigkeit“ sind abhängig „von der Bezugsordnung, auf die jeweils abgestellt wird.“81 Was den Prüfungsausschuss angeht, so kann man einmal auf dessen Relation zum Justizprüfungsamt abstellen, zum anderen auf die Relationen zu Prüflingen oder sonstigen Personen und Einrichtungen, die mit dem Justizprüfungsamt in Kontakt treten. Aus der Sicht der Prüflinge erweist sich der Prüfungsausschuss insoweit als nicht eigenständig, als seine Entscheidungen dem Justizprüfungsamt zugerechnet werden, also solche des Justizprüfungsamtes sind, das ihnen auch die Ergebnisse der Prüfung förmlich mitteilt: Das Justizprüfungsamt macht sich die Entscheidungen des Prüfungsausschusses über die Prüfungsleistungen zu Eigen, indem es (durch die Vorsitzenden) die Zeugnisse über das Bestehen der Prüfungen ausstellt (§ 3 Abs. 3 Satz 2 JAG). Auf diesen Zeugnissen erscheinen jeweils die Gesamtnoten, die der Prüfungsausschuss nach § 16 Abs. 3 Satz 2 JAG festlegt. Diese förmliche, mittels einer Beweisurkunde bewirkte Mitteilung ist bereits keine „eigene“ Entscheidung des Prüfungsausschusses mehr, sondern eine Verlautbarung des Justizprüfungsamtes. Der Prüfungsausschuss übergibt nach der Verkündung der Prüfungsergebnisse die geschlossenen Prüfungsakten dem Justizprüfungsamt „zur weiteren Veranlassung“ und entlässt diese damit aus seiner Sphäre. Nach der kurzen mündlichen Erläuterung und Begründung der Einzel- und Gesamtnoten, die im Anschluss an die Verkündung des Ergebnisses durch den Vorsitzenden des Prüfungsausschusses gegeben werden, ist das Prüfungsgeschehen beendet (abgesehen von der formlosen Gratulation im Fall des Bestehens). Der Prüfungsausschuss in seiner konkreten Zusammensetzung hört auf zu sein. Seine Existenz und ihr Erlöschen kann man sich in Anlehnung an eine Digestenstelle (D. 42, 1, 55 a. A.– Ulpian) so verdeutlichen: Lata sententia examinator desinit esse examinator.
78 OVG Münster, DÖV 1975, 361; Rasch, VerwArch 50 (1959), 1 (27); Rudolf (Fußn. 49), § 52 Rn. 32. 79 Rudolf (Fußn. 49), § 52 Rn. 32. Als Beispiel wird etwa das Ordnungsamt angeführt. Unklar Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 23. Danach soll ein Organ zwar organisatorisch, nicht aber rechtlich selbständig sein. Zur Problematik dieser Begrifflichkeit siehe Heinz Wagner, Die Vorstellung der Eigenständigkeit in der Rechtswissenschaft, 1967, bes. S. 49 f. 80 Hierzu und zum Folgenden eingehend Schnapp, Rechtstheorie Beiheft 5 (1984), 381 ff. 81 Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 74 II b 1 a (S. 55).
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Ist die Entscheidung getroffen, so hört der Prüfer auf, Prüfer zu sein (so endet das Prüferamt).82
In der Dogmatik des Ausschusswesens erscheint er als eingegliederter Ausschuss,83 er entbehrt mithin des Eigenstandes und wird deshalb auch insoweit konsequent als Behördenteil qualifiziert. Stellt man hingegen auf das Binnenleben des Justizprüfungsamtes ab, so hat der Prüfungsausschuss durchaus Eigenstand, weil ihm die durch § 16 Abs. 1 Satz 1 JAG zugewiesenen Entscheidungsbefugnisse zu eigenem, unentziehbarem Recht zukommen:84 Es gibt keine Stellvertretung und kein Eintrittsrecht einer anderen Stelle, schon wegen der in § 5 JAG normierten Unabhängigkeit seiner Mitglieder, letztlich: weil Ersetzungsbefugnisse gesetzlich nicht vorgesehen sind. Damit erweist sich das Merkmal der Eigenständigkeit wiederum als relativ: Je nach dem Bezugspunkt kann es vorhanden sein oder fehlen.85 Dem überkommenen Organisationsrecht ist diese relativierende Betrachtungsweise allerdings fremd. Sie bietet immer nur eine systematisch-statische Momentaufnahme. Wie dem auch sei: aus der organisatorisch-externen Perspektive bietet sich folgerichtig der Prüfungsausschuss als Behördenteil dar.86 Damit fehlt ihm jedenfalls die Behördeneigenschaft im Sinne des Organisationsrechts. Für die Anwendbarkeit der Verwaltungsverfahrensgesetze reicht hingegen die Feststellung aus, dass eine „Stelle“ Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt.87 Die entsprechende Frage für den Prüfungsausschuss nach dem JAG NRW aufwerfen, heißt sie bejahen: Die Durchführung eines Teils der juristischen Staatsprüfung (!) ist ohne weiteres Wahrnehmung einer Aufgabe der öffentlichen Verwaltung;88 immerhin ist diese Prüfung eine Voraussetzung für die Erlangung der Befähigung zum Richteramt und zum höheren allgemeinen Verwaltungsdienst (§ 1 Satz 1 JAG). Verwaltungsverfahrensrechtlich kann es aber per definitionem legis keinen Behördenteil geben.89 Nach § 1 Abs. 4 VwVfG ist nämlich eine Stelle der Verwaltung entweder Behörde oder sie ist es nicht – tertium non datur. Wiederum anders fällt die 82
Original: Lata sententia iudex desinit esse iudex. Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (421 l. Sp.). Zur Phänomenologie des Ausschusswesens siehe etwa etwa Borgs-Maciejewski in: Meyer/Borgs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 1982, § 88 Rn. 8 ff.; Thomas Groß (Fußn. 40), S. 45 ff.; Sodan (Fußn. 43), S. 1 ff.; aus der älteren Literatur Jan Eggers, Die Rechtsstellung von Ausschüssen, Beiräten und anderen kollegialen Einrichtungen im Bereich der vollziehenden Gewalt, Diss. Kiel 1969, S. 102 ff.; Diether Haas, VerwArch 49 (1958), 14 (18). 84 Allgemein hierzu: Hans J. Wolff (Fußn. 2), § 74 I f 8 c (S. 51); Böckenförde (Fußn. 23), S. 269 ff. (278); Erichsen (Fußn. 28), S. 211 ff. (227 f.); Schnapp (Fußn. 5), S. 217. 85 Siehe auch Maurer (Fußn. 15), § 21 Rn. 26. 86 OVG Münster, DÖV 1975, 361; Rasch, VerwArch 50 (1959), 1 (27); Rudolf (Fußn. 49), § 52 Rn. 32. 87 Detterbeck, (Fußn. 29), Rn. 201; Möllgaard (Fußn. 42), § 1 Rn. 8 (S. 71). 88 Schnapp, NWVBl. 1989, 425 (429). 89 Verkannt von Bertram (Fußn. 43), § 1 Rn. 10. 83
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Beurteilung aus, wenn man danach fragt, ob der Prüfungsausschuss als Behörde im Sinne der §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO anzusprechen ist, danach also, ob er Behörde im prozessualen Sinne ist. Insofern fehlt ihm jedoch die Behördenqualität.90 Der Grund ist darin zu sehen, dass er nicht befugt und damit rechtlich nicht in der Lage ist, über den Prozessstoff zu verfügen, also etwa Anerkenntnisse abzugeben oder Vergleiche zu schließen.91 Vielmehr ist seine Existenz mit der Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse beendet, und er löst sich formlos auf. Auch nach dem Gesetz kommt ihm keine weitere Befugnis als die Bewertung der Prüfungsleistungen zu. An dieser Stelle wäre das Merkmal der Eigenständigkeit festzumachen und könnte es fruchtbar gemacht werden. Es wäre demgemäß zu fragen, ob der Stelle, deren Behördeneigenschaft im Sinne des Prozessrechts in Frage steht, die angegriffene Entscheidung im Verhältnis zum Kläger als eigene zuzurechnen ist, ihr also insofern Endzuständigkeit zukommt. Das ergibt zwar noch keine (erst noch zu entwickelnde) Dogmatik des prozessualen Behördenbegriffs, deutet aber die Richtung an und erleichtert die Loslösung vom Organisationsrecht. V. Fazit Das Auseinanderfallen der verschiedenen Behördenbegriffe ist hier nur an zwei ausgewählten Beispielsfällen demonstriert worden. Für diese hat sich sub specie Behördenbegriff folgendes ergeben: – Das Schiedsamt gem. § 89 SGB V ist keine Behörde im Sinne des Organisationsrechts; ihm fehlen nämlich eine Trägerkörperschaft und die damit verbundene transitorische Wahrnehmungszuständigkeit. Es stellt jedoch nach praktisch einhelliger Ansicht eine Behörde im Sinne des Verwaltungsverfahrensrecht dar (§ 1 Abs. 2 SGB X). Das sozialgerichtliche Verfahrensrecht enthebt uns einer Beantwortung der Frage, ob es auch eine Behörde im Sinne des Prozessrechts ist: Nach § 70 Nr. 4 SGG sind die gemeinsamen Entscheidungsgremien von Leistungserbringern und Krankenkassen fähig, am Verfahren beteiligt zu sein. Als Ein-
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OVG Münster, DVBl. 1975, 361; Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (424). Siehe ferner OVG Münster NJW 1967, 949 für Prüfungsausschüsse bei den pädagogischen Prüfungsämtern; BVerwGE 70, 4 (7) für die Prüfungsausschüsse der Industrie- und Handelskammern. Ein weiteres Beispiel: Nicht die Stadtkasse (als Vollstreckungsbehörde) ist beteiligtenfähig, sondern die Stadt bzw. der Stadtdirektor/Bürgermeister; vgl. OVG Münster, NVwZ 1986, 761; Schenke (Fußn. 30), § 61 Rn. 13 a. E. Die gegenteilige Entscheidung OVG Münster, DÖV 1958, 314 stützte sich noch auf die MRVO Nr. 165. Siehe auch OVG Münster, NJW 1991, 2586 (2587) = DVBl 1991, 774 (Fakultätsstellen für die Durchführung studienbegleitender Leistungskontrollen als Behörden). In dieser Entscheidung hat es den prozessualen Behördenbegriff allerdings in weitgehender Anlehnung an den organisatorischen bestimmt, wie sich etwa aus der Bezugnahme auf ältere Entscheidungen (z. B. OVGE 30, 15 f.) ergibt. Siehe ferner OVG NRW, DÖV 1989, 594 – Werkleitung eines kommunalen Eigenbetriebes. Auch hier fehlt die Absetzung vom organisationsrechtlichen Behördenbegriff. 91 Schnapp, NWVBl. 1989, 425 ff. (429).
Der trialistische Behördenbegriff
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richtung der sog. gemeinsamen Selbstverwaltung92 ist das Schiedsamt ein solches Gremium. – Der Prüfungsausschuss bei dem Justizprüfungsamt nach den §§ 15, 16 JAG NRW stellt sich im System des Verwaltungsorganisationsrechts lediglich als Behördenteil dar. Er ist jedoch zwanglos als Behörde im funktionellen Sinne anzusprechen (§ 1 Abs. 2 VwVfG NRW). Dagegen fehlt ihm die Behördeneigenschaft im Sinne des Prozessrechts. Eine Suche insbesondere im Bereich des Ausschusswesens93 würde sicherlich eine ganze Reihe weiterer Gremien zutage fördern, die nicht allen drei Behördenbegriffen unterfallen. Auf dem Gebiet der Verwaltung existiert freilich eine solche Fülle von kollegialen Einrichtungen, dass „der Versuch einer vollständigen Bestandsaufnahme wohl von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre.“94 Wenn hier auch nur zwei Einrichtungen unter der Prämisse des trialistischen Behördenbegriffs vorgestellt worden sind, so gilt doch, dass schon die Entdeckung des einen „weißen Raben“ bekanntlich geeignet ist, die Hypothese „Alle Raben sind schwarz“ ins Wanken zu bringen und zu einer Re-Formulierung zu nötigen. Das gilt auch hinsichtlich der Frage, wo der organisationsrechtliche Behördenbegriff noch eine eigenständige Berechtigung hat.95 Dazu wollten die vorstehenden Überlegungen einen Anstoß geben.
92 Zu diesem Spezifikum des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung siehe Axer, Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 339 ff.; Butzer, SDSRV 50 (2003), 51 (69). 93 Ausschuss- und Behördenbegriff decken sich weder noch schließen sie sich gegenseitig aus. Im letzteren Sinne aber offenbar Ruffert (Fußn. 50), S. 678 (Rn. 20); Simmler, GesR 2007, 249 (251). Richtig dagegen BSG SozR 1500 § 70 SGG Nr. 3 S. 2; Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/ Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 88 Rn. 7; Borgs-Maciejewski (Fußn. 83), § 88 Rn. 8; Schnapp, ZSR 1984, 140 (142). Siehe auch Bertram (Fußn. 43), § 1 SGB X Rn. 10 a. E.; Krasney, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherung, Bd. 2 (Loseblatt, Stand: Dez. 2003), § 1 SGB X Rn. 10; Schnapp, NWVBl. 2010, 419 (422 l. Sp.). 94 Groß (Fußn. 40), S. 3. 95 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Rechtsbegriffe neben dogmatischen auch didaktische und systematische (systematisierende) Funktionen haben können. Dazu etwa Schluep (Fußn. 10), S. 193; Schnapp (Fußn. 5), S. 60 ff.
Entbehrlichkeit des Vorverfahrens nach der VwGO kraft Richterrechts Von Friedrich Schoch I. Das Widerspruchsverfahren zwischen Funktionsauftrag und Kritik 1. Das Widerspruchsverfahren als Sachentscheidungsvoraussetzung Vor Erhebung der Anfechtungsklage und der Verpflichtungsklage (in Gestalt der Versagungsgegenklage) sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des (abgelehnten) Verwaltungsakts gemäß § 68 VwGO grundsätzlich in einem dem Verwaltungsprozess vorgeschalteten Vorverfahren nachzuprüfen. Mit der Erhebung des Widerspruchs (§ 69 VwGO) wird ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt;1 aus dem Blickwinkel des Allgemeinen Verwaltungsrechts handelt es sich um ein förmliches Rechtsbehelfsverfahren (vgl. § 79 VwVfG). Die Sichtweise der VwGO auf das Widerspruchsverfahren erschöpft sich nicht in der funktionalen Betrachtung „Vorverfahren“ (§ 68, 69 VwGO); prozessrechtlich präzise spricht das Gesetz von einer „Voraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage“ (§ 77 Abs. 2 VwGO). Das positive Recht bestätigt somit die übliche Zuschreibung: Das Widerspruchsverfahren nach der VwGO ist sowohl ein Verwaltungsverfahren als auch eine prozessrechtliche Sachentscheidungsvoraussetzung.2 Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, ist die Klage unzulässig.3 Im vorliegenden Zusammenhang interessiert die letztgenannte Funktion. Sie nimmt teil an der Wertschätzung, die diesem „doppelgesichtigen“ Verfahren ursprünglich entgegengebracht worden ist.4 Dafür stehen in erster Linie die drei aner1
OVG LSA, NVwZ 1994, 1227; Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, 3. Aufl. 1993, S. 220 f.; Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl. 2010, § 24 Rn. 4; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. § 68 Rn. 2. 2 Ausführlich dazu H. Hofmann, FS Menger, 1985, S. 605 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 642 ff. – Die abweichende Auffassung von Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 68 Rn. 5 ff., ist vereinzelt geblieben. 3 Ehlers, in: ders./Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 22 Rn. 31 ff. (m. w. Nachw.). 4 So spricht H. Hofmann, FS Menger (Fußn. 2), S. 605, von dem in der Praxis „so außerordentlich wichtigen Widerspruchsverfahren“.
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kannten Funktionen, die herausragende Ziele des Verwaltungsverfahrensrechts und des Verwaltungsprozessrechts beschreiben:5 - Im öffentlichen Interesse wird eine Selbstkontrolle der Verwaltung ermöglicht, indem der Widerspruch sowohl der Ausgangsbehörde (§ 72 VwGO) als auch der Widerspruchsbehörde (§ 73 VwGO) die Gelegenheit bietet, die tatsächlichen Grundlagen des Verwaltungsakts und die rechtliche Würdigung des Sachverhalts zu überprüfen und Fehler zu korrigieren. - Die Rechtsschutzfunktion eröffnet dem Widerspruchsführer eine der gerichtlichen Kontrolle vorgelagerte Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts; eine erweiterte Rechtsschutzmöglichkeit kommt dadurch zum Ausdruck, dass bei behördlichen Ermessensentscheidungen auch die Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts kontrolliert werden kann, was dem Gericht versagt ist (§ 114 S. 1 VwGO). - Wiederum im öffentlichen Interesse liegt die Entlastung der Gerichte, die der „Filterfunktion“ des „Vor“verfahrens zu attestieren ist; wird dem Widerspruch abgeholfen oder überzeugt bei einem erfolglosen Widerspruch die Begründung des Widerspruchsbescheids (§ 73 Abs. 3 S. 1 VwGO) mit der Folge, dass eine Klage unterbleibt, werden gerichtliche Ressourcen nicht in Anspruch genommen. Die Bedeutung eines verwaltungsinternen Kontrollverfahrens vor Klageerhebung zeigt sich zudem an der Rechtsprechung zu berufsbezogenen Prüfungen. Als Ausgleich für die Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte bei Prüfungsentscheidungen muss wegen des Grundrechtsschutzes gemäß Art. 12 Abs. 1 GG vor Klageerhebung ein verwaltungsinternes Kontrollverfahren durchgeführt werden; das muss zwar nicht das Widerspruchsverfahren nach §§ 68 ff. VwGO sein,6 fehlt es jedoch an der Existenz eines besonderen, fachgesetzlichen Kontrollverfahrens, bleibt zur Umsetzung des administrativen Grundrechtsschutzes nur das Widerspruchsverfahren.7 2. Sukzessive gesetzliche Abschaffung des Widerspruchsverfahrens Die theoretisch fundierte Wertschätzung des Widerspruchsverfahrens kontrastiert hart mit der Rechtswirklichkeit. Von der im Jahr 1996 geschaffenen Öffnungsklausel zu Gunsten der Länder (§ 68 Abs. 1 S. 2 vor Nr. 1 VwGO)8 ist inzwischen durch etliche Landesgesetzgeber Gebrauch gemacht und das Widerspruchsverfahren weitge5 BVerwGE 26, 161 (166); 40, 25 (28 f.); 51, 310 (314); Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 645 ff.; Dolde/Porsch (Fußn. 1), Vorb § 68 Rn. 1. 6 BVerwGE 92, 132 (136 f.); krit. dazu P. Becker, NVwZ 1993, 1129 (1135): Notwendigkeit der Kontrolle im Widerspruchsverfahren. – Zur verfassungsrechtlichen Vorgabe BVerfGE 84, 34 (36 f.). 7 VGH BW, VBlBW 2005, 100 (101); Dolde/Porsch, VBlBW 2008, 428 (430). 8 Streichung der Einschränkung „für besondere Fälle“ durch Art. 1 Nr. 8 des 6. VwGOÄndG (BGBl I 1996, 1626); dazu Allesch, GS Kopp, 2007, 16 (20 ff.).
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hend abgeschafft worden.9 Maßgebend für diesen rechtspolitischen Kurs sind nach Darstellung einflussreicher Befürworter der „Verschlankung“ nicht nur fiskalische Erwägungen (Entlastung der überschuldeten Landes- und Kommunalhaushalte), sondern vor allem auch die in der Praxis konstatierten Funktionsverluste des Verfahrens: Die Selbstkontrollfunktion werde wegen der „kameradschaftlichen Bürokratie“ weitgehend verfehlt; die Rechtsschutzfunktion werde von den Befürwortern der Beibehaltung des Widerspruchsverfahrens überhöht, da es in Wahrheit weniger um die Gewährung von Rechtsschutz als vielmehr um die Absicherung der Verwaltungsposition im Hinblick auf einen späteren Gerichtsprozess gehe; von einer Entlastung der Verwaltungsgerichte könne angesichts der geringen Erfolgsquote in den Widerspruchsverfahren nicht gesprochen werden.10 Der gegenüber dieser rechtspolitischen Position formulierte Einwand, an Stelle der weitgehenden Abschaffung des Widerspruchsverfahrens sollte mehr als bisher über Möglichkeiten zur Verbesserung oder Fortentwicklung von Widerspruchsverfahren nachgedacht werden,11 fällt einstweilen nicht auf fruchtbaren Boden. Unbehelflich sind die verfassungsrechtlichen Bedenken12 gegen die (teilweise) Abschaffung des Widerspruchsverfahrens durch den Landesgesetzgeber.13 Verfassungsrechtlich ausnahmslos geboten ist die verwaltungsinterne Nachprüfung von Verwaltungsakten in einem gerichtlichen Vorverfahren nicht;14 folglich kann seine Beibehaltung nicht verfassungsrechtlich eingefordert werden. Die Kompetenz des Landesgesetzgebers für einen uneingeschränkten Zugriff auf das Widerspruchsverfahren und seine weitgehende Abschaffung ist nach der Streichung der vormaligen Limitierung „für besondere Fälle“ nicht (mehr) zweifelhaft.15 Die unterdessen zu § 68 Abs. 1 S. 2 vor Nr. 1 VwGO geschaffene Gesetzeslage mag rechtspolitisch bedauert werden, verfassungswidrig ist sie nicht. II. Richterrechtliche Ausnahmen vom Vorverfahren § 68 VwGO normiert in Nr. 1 und Nr. 2 von Absatz 1 Satz 2 weitere Konstellationen, in denen es einer verwaltungsinternen Überprüfung des Verwaltungsakts (bzw. seiner Ablehnung) vor Klageerhebung nicht bedarf. Daneben hat die Rechtsprechung 9
Überblick dazu bei Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, 2009, § 50 Rn. 348. 10 Schönenbroicher, NVwZ 2009, 1144 ff. (m. umfangr. w. Nachw.); zur Kritik an der dahinterstehenden Grundhaltung Cancik, Die Verwaltung 43 (2010), 467 ff. 11 Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2009, 686 ff.; w. Nachw. zu dieser Position bei Schoch, in: GVwR III (Fußn. 9), § 50 Rn. 352. 12 Geiger, BayVBl 2008, 161 ff.; Holzner, DÖV 2008, 217 ff. 13 Vgl. BayVerfGH, BayVBl 2007, 79 ff. und BayVBl 2009, 109 ff. = NVwZ 2009, 716 ff. 14 BVerfGE 35, 65 (73); 60, 253 (291). 15 Lindner, BayVBl 2005, 65 ff.; Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 12.
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seit jeher16 – vornehmlich aus Gründen der Prozessökonomie – weitere Ausnahmen von dem Erfordernis eines Vorverfahrens entwickelt und stetig fortgeführt. 1. Grundlagen Der judikative Verzicht auf das Vorverfahren praeter legem ist von der Überlegung getragen, dass die Durchführung eines funktionslosen und damit überflüssigen Widerspruchsverfahrens keinen Sinn macht. Zwei Grundannahmen sollen – alternativ – zu diesem Befund führen können: - Den Zwecken des Vorverfahrens ist schon auf andere Weise (z. B. durch ein Aufsichtsverfahren) Rechnung getragen oder die Zwecke können nicht mehr erreicht werden.17 - Das Verhalten der Widerspruchsbehörde (im Prozess oder außerhalb des Prozesses) lässt erkennen, dass ein Widerspruch mit großer Wahrscheinlichkeit erfolglos bliebe.18 Ist eine dieser Prämissen erfüllt, erachtet die Rechtsprechung die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens als „leere Förmelei“, so dass darauf verzichtet werden könne. Jene Grundlagen stehen nicht etwa in einem strikten Abgrenzungsverhältnis zueinander, sie können sich im konkreten Fall durchaus überlappen. Dann wird die Entbehrlichkeit des Vorverfahrens aus beiden Gründen angenommen.19 2. Fallgruppen Die beiden erwähnten Prämissen haben eine Konkretisierung durch die Bildung von Fallgruppen erhalten, die den richterrechtlich erlaubten Verzicht auf die Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens im Einzelfall handhabbar machen sollen. Auch dazu gibt es Überschneidungen, die jedoch für die Rechtsanwendung und vor allem für das Ergebnis – Entbehrlichkeit des Vorverfahrens – unschädlich sind. Die Typologie hat in der Kommentarliteratur eine eingehende Darstellung gefunden20 und braucht deshalb hier nicht entfaltet zu werden. Ex16 Krit. Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/v. Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2010, § 68 Rn. 25: Es werde zum Teil unbesehen auf Rechtsprechung zurückgegriffen, die noch vor Inkrafttreten der VwGO ergangen sei. 17 BVerwGE 27, 181 (185); 64, 325 (330); 85, 163 (167); BVerwG, NVwZ 1995, 76 (77); ebenso z. B. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 68 Rn. 30. 18 BVerwG, DVBl 1967, 173 = NJW 1967, 1627; DVBl 1967, 773 (774); DVBl 1981, 190 (191), insoweit in BVerwGE 61, 40 nicht abgedruckt. – Krit. dazu aus der Rechtsprechung OVG SH, NVwZ-RR 2001, 589 (590): Die Auffassung des BVerwG sei „in dieser Allgemeinheit kritikwürdig“. 19 Exemplarisch z. B. BVerwGE 64, 325 (330). 20 Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 22 ff.; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 26 ff.; Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 68 Rn. 161 ff.; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 68 Rn. 23 ff.; Rennert (Fußn. 17), § 68 Rn. 29 ff.
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emplarisch seien einige Konstellationen herausgegriffen, um die Argumentationsmuster verdeutlichen zu können. Der bekannteste und praktisch bedeutsamste Anwendungsfall der richterlichen Lehre von der Entbehrlichkeit des Vorverfahrens praeter et contra legem ist die rügelose Einlassung der beklagten Behörde auf die Klage und die Beantragung der Abweisung als unbegründet.21 Dies soll nach einer verbreiteten Judikatur selbst dann gelten, wenn sich die Behörde nur hilfsweise auf die Sache eingelassen hat.22 Die tragende Erwägung lautet wie folgt: Der Sinn des Widerspruchsverfahrens bestehe darin, der Behörde Gelegenheit zu geben, den angefochtenen Verwaltungsakt selbst zu überprüfen und, falls sie die Einwendungen für berechtigt ansehe, dem Widerspruch abzuhelfen; dem sei Genüge getan, wenn die Behörde an Stelle eines förmlichen Widerspruchsbescheides im verwaltungsgerichtlichen Verfahren unmissverständlich zum Ausdruck bringe, dass sie den Einwendungen nicht abhelfen wolle.23 Der Verzicht auf das Vorverfahren wird sogar dort propagiert, wo die Durchführung des Widerspruchsverfahrens spezialgesetzlich, wie z. B. im Informationsfreiheitsrecht,24 vorgeschrieben ist.25 Schon frühzeitig hat die Rechtsprechung ein Vorverfahren außerdem für entbehrlich erachtet, falls ein behördlicher Irrtum zur Statthaftigkeit bzw. Notwendigkeit des Vorverfahrens den Betroffenen veranlasst hat, entgegen den Anforderungen des § 68 Abs. 1 S. 1 bzw. Abs. 2 VwGO einen Widerspruch nicht zu erheben.26 Bei mehreren Klägern (z. B. Eheleuten) gegen einen Verwaltungsakt soll es § 68 VwGO genügen, wenn einer von ihnen das Widerspruchsverfahren durchgeführt hat; dann habe die Selbstkontrolle der Verwaltung stattgefunden, ein weiteres Widerspruchsverfahren laufe auf eine unvertretbare Förmelei hinaus.27 Dasselbe wird für den Fall der Rechts21
BVerwGE 64, 325 (330); 66, 39 (41); BVerwG, DVBl 1984, 91 = NVwZ 1984, 507 = BayVBl 1984, 155; BayVBl 1990, 667 (668); NVwZ 1995, 76 (77); NVwZ 2009, 924 (925); VGH BW, NVwZ-RR 1992, 184 (185); VBlBW 2004, 187; BayVGH, BayVBl 1983, 309; OVG MV, LKV 1995, 255; OVG NW, StT 1985, 657 f.; ThürOVG, NVwZ-RR 1999, 488 (489). 22 BVerwG, NVwZ 1986, 347; zutr. a. A. BayVGH, BayVBl 1983, 309. 23 BVerwG, DVBl 1984, 91 = NVwZ 1984, 507 = BayVBl 1984, 155, unter Berufung auf BVerwG, NJW 1965, 1731. 24 § 9 Abs. 4 IFG, § 6 Abs. 2 UIG, § 4 Abs. 4 VIG. Nach diesen Bestimmungen ist das Widerspruchsverfahren gemäß §§ 68 ff. VwGO selbst dann durchzuführen, wenn die Entscheidung von einer obersten Bundesbehörde (nach VIG auch: oberste Landesbehörde) getroffen worden ist. 25 VG Weimar, ThürVBl 2009, 92; abl. dazu Schoch, NJW 2009, 2987 (2992) und VBlBW 2010, 333 (341 f.). 26 BVerwGE 18, 300 (301); 37, 87 (88); 39, 261 (265); ThürOVG, NVwZ-RR 1999, 488 (489); zustimmend Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen (Fußn. 1), § 17 Rn. 3; Rennert (Fußn. 17), § 68 Rn. 35; a. A. Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 34; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 39; Kopp/Schenke (Fußn. 20), § 68 Rn. 33; Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664. 27 BVerwG, DÖV 1976, 353 (354); VGH BW, VBlBW 1980, 225 (226); zustimmend H. Hofmann, FS Menger (Fußn. 2), 616; Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen (Fußn. 1), § 17
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nachfolge angenommen; der Widerspruch des früheren Eigentümers eines Grundstücks gegen eine straßenverkehrsrechtliche Anordnung muss vom Grundstückserwerber nicht durch einen zusätzlichen, eigenen Widerspruch ergänzt werden, bevor die Klage erhoben werden darf.28 Das Vorverfahren wird, um eine letzte Fallgruppe zu erwähnen, nach der Rechtsprechung auch dann entbehrlich, wenn im Wege der Klageänderung an Stelle des ursprünglichen Verwaltungsakts ein neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Rechtsstreits wird und das geänderte Klagebegehren im wesentlichen denselben Streitstoff betrifft wie das ursprünglich durchgeführte Vorverfahren.29 III. Kritik des Schrifttums Die richterrechtlichen „Ergänzungen“ des § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO stoßen im Schrifttum überwiegend auf Ablehnung, nur vereinzelt finden sie Zustimmung. Bemerkenswert an dem Befund ist, dass die Kritik vornehmlich grundsätzlicher Art ist; nur selten geht es um Detailfragen (etwa die als unzureichend empfundenen Begründungen der Rechtsprechung). 1. Konzept des § 68 VwGO § 68 VwGO ist im Sinne eines Regel-Ausnahme-Tatbestandes strukturiert. Grundsätzlich ist vor Klageerhebung ein Widerspruchsverfahren durchzuführen (Absatz 1 Satz 1, Absatz 2), ausnahmsweise kann davon abgesehen werden, wenn eine der drei Ausnahmekonstellationen (Absatz 1 Satz 2) vorliegt. Diese Grundlegung führt zu einer Reihe von unverrückbaren Folgerungen: - § 68 VwGO ist zwingendes Recht und steht als Sachentscheidungsvoraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage nicht zur Disposition der Beteiligten.30 - Auch Gründe der Prozessökonomie entbinden nicht von der Anwendung zwingenden Verfahrensrechts; deshalb muss das Gericht von Amts wegen im Rahmen der Zulässigkeit prüfen, ob das gesetzlich vorgeschriebene Vorverfahren durchgeführt worden ist.31
Rn. 2; Rennert (Fußn. 17), § 68 Rn. 32. – Diese Fallgruppe nur bei notwendiger (eigentlicher) Streitgenossenschaft anerkennend Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 36; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 164 ff. 28 BVerwG, DVBl 2006, 1246 (1247) = NVwZ 2006, 1072. 29 BVerwG, VBlBW 1982, 331 (insoweit in BVerwGE 65, 167 nicht abgedruckt). 30 Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664; Ehlers, Rechtsschutz (Fußn. 3), § 22 Rn. 33; v. Mutius, Das Widerspruchsverfahren der VwGO als Verwaltungsverfahren und Prozessvoraussetzung, 1969, S. 56; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 121, 159; Redeker/v. Oertzen (Fußn. 2), § 68 Rn. 4; Rennert (Fußn. 17), § 68 Rn. 29; ebenso BayVGH, BayVBl 1983, 309. 31 In diesem Sinne sogar BVerwG, NVwZ 1987, 412 (413).
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- § 68 VwGO stellt eine abschließende Regelung dar;32 da auch gerichtlich nicht von der Durchführung des Vorverfahrens befreit werden kann, ist eine Klage (falls § 68 Abs. 1 S. 2 VwGO nicht eingreift) nur unter den Voraussetzungen des § 75 VwGO abweichend von § 68 VwGO zulässig.33 - Eine Rechtsprechung, die jenseits der getroffenen Regelungen (§§ 68 Abs. 1 S. 2, 75 VwGO) das Vorverfahren für entbehrlich erklärt, ist ohne Grundlage im Gesetz.34 - Wenn die Rechtsprechung den gesetzlich nicht vorgesehenen Dispens vom Vorverfahren auf ein bestimmtes tatsächliches Verhalten der Widerspruchsbehörde stützt, wird der Verwaltung contra legem eine faktische Dispositionsbefugnis über eine Sachentscheidungsvoraussetzung der VwGO eingeräumt.35 Soweit der Rechtsprechung darin gefolgt wird, dass die Entbehrlichkeit des Vorverfahrens praeter legem mit einer Zweckverfehlung bzw. Zweckerreichung auf andere Weise begründet werden kann, wird eine restriktive Handhabung dieser Topoi gefordert.36 Ein Verzicht auf das Vorverfahren außerhalb der gesetzlich normierten Fälle kommt danach in Betracht z. B. beim Zweitbescheid bzw. Änderungsbescheid (nach Durchführung des Vorverfahrens bezüglich des Erstbescheids),37 bei einem inhaltsgleichen und in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem im Vorverfahren überprüften Verwaltungsakt stehenden neuen Verwaltungsakt38 oder bei der Anfechtung einer Nebenentscheidung des Widerspruchsbescheids (z. B. Kostenentscheidung).39 2. Konkretisierung der Prinzipien Auf Grund des skizzierten Verständnisses zu § 68 VwGO hat das (ganz überwiegende) Schrifttum eine klare Haltung zu den von der Rechtsprechung kreierten außer-
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Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 158. So ausdrücklich sogar BVerwGE 66, 342 (345). 34 Kastner, in: Hk-VerwR (Hrsg. Fehling/Kastner), 2. Aufl. 2010, § 68 VwGO Rn. 43. 35 Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664; Kastner (Fußn. 34), § 68 VwGO Rn. 43; Redeker/v. Oertzen (Fußn. 2), § 68 Rn. 4. 36 H. Hofmann, FS Menger (Fußn. 2), S. 616; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 158. 37 Meier, Die Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens, 1992, S. 54 ff.; Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 24; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 26; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 169 ff.; Kopp/Schenke (Fußn. 20), § 68 Rn. 23. 38 ThürOVG, NVwZ-RR 1999, 488 (489); Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 58 ff.; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 27; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 173 (Ausnahme: Ermessensentscheidung, Rn. 174); Kopp/Schenke (Fußn. 20), § 68 Rn. 24. – Zur Erstreckung schon des Widerspruchs auf den neuen Verwaltungsakt BayVGH, BayVBl 1987, 22 (23); HessVGH, HSGZ 1987, 37 (38); eine „automatische Erstreckung“ gibt es indessen nicht, VGH BW, NVwZ-RR 2006, 154 (155). 39 H. Hofmann, FS Menger (Fußn. 2), S. 616; Kopp/Schenke (Fußn. 20), § 68 Rn. 25; a. A. Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 62 ff. 33
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gesetzlichen Ausnahmen vom Erfordernis des Vorverfahrens entwickelt. Dies lässt sich anschaulich an zwei der Hauptanwendungsfelder jener Judikatur aufzeigen. a) Rügelose Einlassung auf die Klage Die Figur der „rügelosen Einlassung“ der beklagten Behörde auf die Klage, d. h. die Beantragung der Klageabweisung als unbegründet, bemüht die Rechtsprechung aus Gründen der Prozessökonomie; außerdem sei dem Selbstkontrollauftrag der Verwaltung durch die unmissverständliche prozessuale Verfahrenshandlung Genüge getan. Die Gegenargumente der h. L.40 sind durchgreifend: - Der Verwaltung wird eine Dispositionsbefugnis über verwaltungsprozessuale Sachentscheidungsvoraussetzungen zugestanden, die gesetzeswidrig ist. - Die Forderung nach einer Einhaltung des § 68 VwGO ist kein sinnloser Formalismus, sondern zwingende Folge des förmlich ausgestalteten Widerspruchsverfahrens. - Der Hinweis auf die – angeblich erfolgte – Selbstkontrolle der Verwaltung lässt die beiden anderen Funktionen des Vorverfahrens unberücksichtigt. - Ist Beklagter die mit der Widerspruchsbehörde nicht identische Ausgangsbehörde bzw. deren Rechtsträger (§ 78 Abs. 1 VwGO), kann die Klageerwiderung der Ausgangsbehörde die Nachprüfung der Widerspruchsbehörde nicht ersetzen. - Bei behördlicher Ermessensentscheidung wird die Prüfung der Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts ausgeblendet. - Während sich vor Gericht die Positionen verhärtet haben, hätte die Verwaltung im Widerspruchsverfahren eine offene (wenn auch nicht neutrale) und eigenverantwortliche Prüfung durchführen müssen. Der Kritik muss darin zugestimmt werden, wenn sie die Rechtsprechung gesetzeswidrig nennt, weil sie keinen einzigen Anhaltspunkt in der völlig unmissverständlichen Regelung des § 68 VwGO finde.41 Dass die Klageerhebung nicht den Widerspruch zu ersetzen vermag, versteht sich ohnehin.42 Rügt die beklagte Behörde im Verwaltungsprozess die Unzulässigkeit der Klage wegen fehlenden Widerspruchs(verfahrens) und lässt sie sich daneben hilfsweise auf das materielle Vorbringen des Klägers ein, gilt die Rechtsprechung zur Entbehrlich40 Schenke, JZ 2010, 992 (997); ders., Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664; v. Mutius, Widerspruchsverfahren (Fußn. 30), S. 178; Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 72 ff.; H. Hofmann, FS Menger (Fußn. 2), S. 616; Weides, Verwaltungsverfahren (Fußn. 1), S. 218 f.; Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 29; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 33; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 162. 41 Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 33. 42 BayVGH, BayVBl 1975, 591 (592). – Kann nur der statthafte Rechtsbehelf (hier: der Widerspruch) den Eintritt der Bestandskraft hindern, ignoriert die Rechtsprechung zudem die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts; Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 76.
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keit des Vorverfahrens wegen „rügeloser Einlassung“ im Schrifttum als nicht mehr nachvollziehbar.43 Dem ist beizupflichten: Die Unzulässigkeit der Klage wurde seitens der Behörde ausdrücklich geltend gemacht; die vorsorgliche materielle Einlassung kann die Klage abweichend von § 68 VwGO nicht zulässig werden lassen.44 Folglich ist die Sachentscheidungsvoraussetzung für die Zulässigkeit der Klage nicht erfüllt. b) Voraussichtliche Erfolglosigkeit des Widerspruchs Wird die „voraussichtliche Erfolglosigkeit“ eines an sich erforderlichen Widerspruchs für einen Dispens von § 68 VwGO bemüht, entfernt sich die Rechtsprechung noch weiter vom Gesetz. Die Ablehnung im Schrifttum45 ist denn auch nahezu einhellig: - Die Entbehrlichkeit des Vorverfahrens gründet nicht auf dem Gesetz, sondern auf einer Vermutung der Rechtsprechung. - Sämtliche Funktionen des Widerspruchsverfahrens werden ignoriert; nicht einmal die Kontrollfunktion wird im Rahmen eines förmlichen Rechtsbehelfsverfahrens ausgeübt. - Außer Betracht bleibt, dass die Befassung mit dem Vorgang außerhalb des Widerspruchsverfahrens eine ganz andere (auch: psychologische) Qualität hat als die in den Formen des § 73 Abs. 3 VwGO erfolgende Verbescheidung eines Widerspruchsführers.46 Die von der Rechtsprechung entwickelte Ausnahme zu § 68 VwGO ist daher „klar contra legem“.47 IV. Verteidigung des Richterrechts durch das BVerwG Der vorstehend skizzierte Diskussionsstand zur Entbehrlichkeit des Widerspruchsverfahrens kraft Richterrechts ist weithin bekannt. Die Positionen waren „festgefahren“, ein argumentativer Austausch mit den Einwänden des Schrifttums fand seitens der Rechtsprechung seit längerer Zeit nicht mehr statt. Einen für die Verwaltungsgerichtsbarkeit etwas ungewöhnlichen Fall hat das BVerwG zum Anlass ge43 So Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 77; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 33, nennt die Rechtsprechung „indiskutabel“. 44 BayVGH, BayVBl 1983, 309; Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664; Pietzner/Ronellenfitsch, Assessorexamen (Fußn. 1), § 17 Rn. 1; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 162. 45 Meier, Widerspruchsverfahren (Fußn. 37), S. 79 f.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht (Fußn. 2), Rn. 664; Dolde/Porsch (Fußn. 1), § 68 Rn. 32; Funke-Kaiser (Fußn. 16), § 68 Rn. 35; Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 168; Kopp/Schenke (Fußn. 20), § 68 Rn. 32; Redeker/v. Oertzen (Fußn. 2), § 68 Rn. 4; a. A., der Rechtsprechung zustimmend, Rennert (Fußn. 17), § 68 Rn. 32. 46 Vgl. zu diesem Aspekt in Abgrenzung zum gerichtlichen Verfahren unten Fußn. 68. 47 So Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 168.
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nommen, in einer Entscheidung vom 15. September 2010 aus seiner Sicht nochmals rechtsgrundsätzlich zu der Problematik Stellung zu nehmen.48 Schon dies lohnt die erneute Auseinandersetzung mit der Thematik. Hinzu kommt, dass das BVerfG gerade in jüngster Zeit die Fachgerichte an die Einhaltung ihrer Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) erinnert hat. Auf die Argumente seiner Kritiker geht das BVerwG jedoch nicht ein. 1. Der Fall Die Klägerin begehrte von der beklagten Steuerberaterkammer die Festsetzung einer angemessenen Vergütung für die von ihr durchgeführte Abwicklung der Praxis eines verstorbenen Steuerberaters. Zur Praxisabwicklerin war die Klägerin von der Beklagten auf Vorschlag der Witwe des Verstorbenen bestellt worden. Nach dem Verkauf der Praxis durch die Erben des Verstorbenen zu einem Verkaufspreis von über 76.000 Euro stellte die Klägerin den Erben für die Abwicklungstätigkeit einen Betrag i.H.v. knapp 178.000 Euro in Rechnung. Die Erben bezahlten einen Betrag von gut 30.000 Euro; die Klägerin erhob daraufhin beim zuständigen Landgericht Klage auf Zahlung des Restbetrages. Das Landgericht wies die Steuerberaterkammer darauf hin, dass es ihre Aufgabe sei, die Höhe der angemessenen Abwicklungsvergütung festzusetzen. Den Antrag der Klägerin auf Festsetzung der Vergütung lehnte jedoch die Beklagte ab; der maßgebliche § 69 Abs. 4 S. 5 StBerG erfasse nicht die Fälle einer Bestellung des Praxisabwicklers auf Antrag der Erben. Das vom Landgericht als Aufsichtsbehörde über die beklagte Steuerberaterkammer um eine Stellungnahme gebetene Landesfinanzministerium hielt die Beklagte für die Festsetzung der Vergütung unabhängig davon für verpflichtet, ob die Bestellung des Abwicklers auf Antrag oder von Amts wegen erfolgt sei. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten die Festsetzung einer Vergütung von gut 131.000 Euro. Nach einer Besprechung mit den Beteiligten teilte das Landesfinanzministerium der beklagten Steuerberaterkammer schriftlich mit, im vorliegenden Fall erscheine es angemessen, die Durchschnittsmonatsvergütung eines angestellten Steuerberaters als Maßstab für die Abwicklervergütung heranzuziehen; die Kammer werde gebeten, unter Beachtung dieser Kriterien die Abwicklervergütung festzusetzen. Durch Bescheid setzte die Beklagte die Vergütung auf 30.000 Euro fest. Hiergegen erhob die Klägerin beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage und beantragte, die Beklagte zu verpflichten, die Vergütung auf knapp 140.000 Euro festzusetzen. Die Beklagte rügte das fehlende Vorverfahren, so dass die Klage unzulässig sei. Das Widerspruchsverfahren sei keinesfalls entbehrlich und hätte Gelegenheit geboten, die Sache nochmals zu erörtern. Vorsorglich, ohne Verzicht auf die Rüge der fehlenden Durchführung des Vorverfahrens, werde auch die Unbegründetheit der Klage geltend gemacht. Das Verwaltungsgericht wies die Klage als unzulässig ab, weil es an dem nach § 68 VwGO erforderlichen Vorverfahren fehle; der Verwaltungsgerichtshof bestätigte diese Rechtsauffassung; zudem wäre die Durchführung eines Vorverfahrens 48
BVerwG, DStR 2011, 286 (m. Anm. Wacker) = NVwZ 2011, 501 (m. Anm. Schoch).
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auch nicht zwecklos gewesen, zumal eine verbindliche Weisung der Aufsichtsbehörde zur Höhe der festzusetzenden Vergütung nicht vorliege.49 Das BVerwG trat dem entgegen und hob das Berufungsurteil auf; das Vorverfahren sei hier entbehrlich, und in der Sache liege eine verbindliche Weisung auch zur umstrittenen Höhe der angemessenen Vergütung vor. 2. Argumentation des BVerwG und Kritik Das BVerwG beruft sich zunächst auf seine ständige Rechtsprechung, nach der ein Vorverfahren gemäß § 68 VwGO entbehrlich werde, wenn dessen Zweck bereits Rechnung getragen sei oder der Zweck des Vorverfahrens ohnehin nicht mehr erreicht werden könne. Daran werde trotz der Kritik des Schrifttums festgehalten. Das gelte jedenfalls dann, wenn die Ausgangsbehörde – wie hier nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 VwGO – zugleich Widerspruchsbehörde sei und den in Rede stehenden Verwaltungsakt auf Grund einer sie bindenden Weisung der (Rechts-)Aufsichtsbehörde erlassen habe, so dass ein Widerspruchsverfahren nichts mehr ändern könnte.50 Das BVerwG meint, dieses Ergebnis mit den überkommenen Auslegungsmethoden absichern zu können. a) Gesetzeswortlaut Unter Hinweis auf den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) und die Bindung des Normanwenders an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) betont das BVerfG, dass die Rechtsprechung den klaren Wortlaut des Gesetzes nicht überschreiten dürfe; richterliche Rechtsfortbildung dürfe nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setze.51 Der Wortlaut des § 68 VwGO eröffnet kaum Auslegungsspielräume. Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts „sind … nachzuprüfen“ (Absatz 1 Satz 1), sofern nicht eine Ausnahme (Absatz 1 Satz 2) vom Erfordernis des Vorverfahrens eingreift. Das BVerwG meint indes, der Normtext besage nur, dass die Durchführung des Vorverfahrens für die Beteiligten nicht disponibel sei; die Zulässigkeit von (weiteren) Ausnahmen von der Notwendigkeit eines Widerspruchsverfahrens über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus hänge vom abschließenden Charakter der §§ 68 ff. VwGO ab, was angesichts der „Offenheit des Wortlauts“ nur anhand der anderen Auslegungsmethoden geklärt werden könne.52 Diese Deutung des Gesetzeswortlauts begegnet zwei Einwänden: Zum einen hat das BVerwG selbst bereits 49 VG Karlsruhe, Urt. v. 15.3.2007 – 9 K 1149/06 –; VGH BW, Urt. v. 4.3.2009 – 9 S 371/ 08 –, abgedruckt in: Rechtsbeistand 2009, 16 ff. 50 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 26. 51 BVerfG, NJW 2011, 836 (m. Besp. Götz/Bendermüller, NJW 2011, 801, sowie Rieble, NJW 2011, 819) Tz. 52 i. V. m. Tz. 68 bis 70, unter Berufung auf BVerfGE 82, 6 (12); 96, 375 (394); 109, 190 (252); 113, 88 (103 f.). 52 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 27.
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geklärt, dass §§ 68, 75 VwGO abschließende Regelungen zum Verzicht auf das Vorverfahren treffen;53 zum anderen bedarf der Erläuterung, wieso § 68 VwGO als zwingendes Recht54 nur der Dispositionsbefugnis der Beteiligten entzogen sein soll und trotz Art. 20 Abs. 3 GG für die „Disposition“ seitens der Rechtsprechung etwas anderes gelten kann. b) Entstehungsgeschichte Die Entstehungsgeschichte der §§ 68 ff. VwGO hält das BVerwG für „nicht ergiebig“; aus einer Äußerung des Vertreters der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren ergäben sich jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der VwGO-Gesetzgeber die vormalige Rechtsprechung zur Entbehrlichkeit eines Vorverfahrens bei bereits erfolgter Zweckerreichung oder absehbarer Zweckverfehlung habe korrigieren wollen.55 Konsistent ist diese Argumentation kaum:56 Wenn die Entstehungsgeschichte unergiebig ist, können aus ihr gar keine Schlussfolgerungen gezogen werden; ein Regierungsvertreter verkörpert nicht den „Willen des Gesetzgebers“; maßgebend für die Norminterpretation ist der im Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers und nicht eine feuilletonistische Äußerung aus der Exekutive.57 c) Gesetzessystematik Zur Gesetzessystematik anerkennt das BVerwG, dass zwischen § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO einerseits und § 68 Abs. 1 S. 2 sowie § 75 VwGO andererseits ein Regel-Ausnahme-Verhältnis bestehe und fügt hinzu, dass Ausnahmevorschriften einer erweiternden Auslegung, insbesondere im Wege der Analogie, nicht zugänglich seien. Daran schließt sich die Behauptung an: „Um eine solche Erweiterung durch Analogiebildung geht es aber nicht, wenn sich aus Sinn und Zweck der Regelung eine weitere, wenn auch im Gesetz nicht ausdrücklich normierte Ausnahme vom Erfordernis des Widerspruchsverfahrens ergibt und der Regeltatbestand deshalb einschränkend ausgelegt werden muss. Das gilt namentlich für den Fall, dass der Gesetzeszweck ein Widerspruchsverfahren deshalb nicht (mehr) gebietet und erfordert, weil im konkreten Fall dem Zweck des Vorverfahrens bereits Rechnung getragen ist oder der Zweck des Vorverfahrens ohnehin nicht mehr erreicht werden kann.“58
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Vgl. oben Text zu Fußn. 33. Dazu Nachw. oben Fußn. 30. 55 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 28. – Vgl. zur Kritik hieran bereits oben Fußn. 16. 56 Krit. auch Cornils/Mengden, ZJS 2011, 783 (785). 57 Das BVerwG (Fußn. 55) nimmt Bezug auf v. Mutius, Widerspruchsverfahren (Fußn. 30), S. 102 ff., unter teilweiser Übernahme des Zitats (S. 108), MinRat Koehler (BMI) habe hervorgehoben, „dass der Regierungsentwurf“ mit der Vorverfahrensregelung „nicht etwas völlig Neues enthalte, sondern an alte Vorbilder anknüpfe und versuche, diese in ein möglichst gutes Gleis zu bringen“. 58 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 29. 54
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Diese Auffassung ist eindeutig gesetzeswidrig. Das BVerwG behandelt § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO in freier Rechtschöpfung wie eine „Soll“-Vorschrift. Das Gericht spricht methodisch von einer einschränkenden Auslegung, sagt aber nicht, an welcher Stelle § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO einen Auslegungsspielraum eröffnet. Die gesetzlich angeordnete Pflicht zur Durchführung des Vorverfahrens, falls nicht ein gesetzlicher Ausnahmetatbestand vorliegt, ist so eindeutig, dass es gar nichts zu interpretieren gibt. Das Gesetz wird vom BVerwG nicht etwa „ausgelegt“, sondern missachtet. Das ist der Rechtsprechung insgesamt (Art. 20 Abs. 3 GG) und jedem Richter (Art. 97 Abs. 1 GG) jedoch verfassungsrechtlich untersagt. d) Gesetzeszweck Den Gesetzeszweck des § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO verankert das BVerwG zutreffend in den drei Funktionen des Vorverfahrens.59 Daran schließt sich die bereits bekannte Sentenz an, wenn diese Funktionen schon auf andere Weise erreicht worden seien oder nicht mehr erreicht werden könnten, sei ein Widerspruchsverfahren funktionslos und überflüssig. Es folgt die interessante Feststellung: „Ob diese Voraussetzung im konkreten Fall vorliegt, bestimmt sich freilich nicht nach der subjektiven Einschätzung der Behörde oder des Rechtsschutzsuchenden. Vielmehr ist auf einen objektivierten Beurteilungsmaßstab abzustellen.“60 Diese – angebliche – „Objektivierung“ entpuppt sich, wie sogleich zu zeigen sein wird,61 als reiner Euphemismus: Die Einschätzung zu der noch gegebenen Funktionstüchtigkeit des Vorverfahrens oder der schon eingetretenen Funktionslosigkeit hängt allein von richterlichen Feststellungen, Vermutungen und Prophezeiungen ab. Die richterliche Abschätzung zur – tatsächlichen oder vermeintlichen – Aussichtslosigkeit eines Widerspruchs(verfahrens) soll „objektiv“ sein, die behördliche Einschätzung (sowie diejenige des Rechtsschutzsuchenden) wird als „subjektiv“ gleichsam für unbeachtlich erklärt. Dies führt, konsequent zu Ende gedacht, zu einem delikaten Befund: Der an Gesetz und Recht gebundenen Verwaltung(sbehörde) wird einerseits – zutreffend – keine Dispositionsbefugnis in Bezug auf die Einhaltung der Vorgaben des § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO zuerkannt,62 zugleich wird ihr aber – unzutreffend – die Berufung auf diese Gesetzesbestimmung untersagt, wenn die Rechtsprechung die Einhaltung des Gesetzes für „überflüssig“ erklärt. Woher ein Gericht sein gegenüber der Verwaltung(sbehörde) überlegenes Wissen zur Aussichtslosigkeit des Widerspruchs(verfahrens) bezieht, sagt das BVerwG nicht.
59 60 61 62
Vgl. dazu oben I. 1., mit Nachw. in Fußn. 5. BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 30. Vgl. unten IV. 3. a) zum Grundsatz und b) zum Fall. Vgl. oben Text zu Fußn. 30.
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3. Anwendung des Richterrechts auf den Fall Das Berufungsgericht hatte – sich insoweit mit der Judikatur des BVerwG in einen grundsätzlichen Widerspruch setzend – „gute Gründe“ dafür reklamiert, das von § 68 VwGO „zwingend vorgeschriebene Vorverfahren außerhalb der gesetzlich angeordneten Ausnahmekonstellationen als verpflichtend anzusehen“. Jedenfalls wenn sich die beklagte Behörde ausdrücklich auf die fehlende Durchführung des Vorverfahrens berufe und sich lediglich hilfsweise zur Sache einlasse, sei „kein ausreichender Grund dafür ersichtlich …, von dem in § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor Durchführung einer Verpflichtungsklage zwingend vorgeschriebenen Vorverfahren abzusehen“.63 Diese Auffassung entspricht der Gesetzeslage.64 a) Aufsichtsbehördliche Weisung Das BVerwG lässt diese korrekte Argumentation nicht gelten und postuliert die Funktionslosigkeit des Vorverfahrens, „wenn die Behörde durch die zuständige Aufsichtsbehörde zu ihrer Entscheidung verbindlich angewiesen worden ist“: Die von §§ 68 ff. VwGO bezweckte Selbstkontrolle der Verwaltung (durch die Widerspruchsbehörde) sei nicht mehr erreichbar, weil im Rahmen eines (nachgeholten) Widerspruchsverfahrens die Abhilfemöglichkeit gemäß § 72 VwGO nicht mehr bestehe; die Rechtsschutzfunktion des Widerspruchsverfahrens werde ebenfalls verfehlt, und auch eine Entlastung der Gerichte könne nicht mehr stattfinden.65 An dieser Argumentation stört im konkreten Fall schon die „Degradierung“ der beklagten Steuerberaterkammer auf die Abhilfemöglichkeit (§ 72 VwGO). Das BVerwG übersieht in diesem Kontext, dass die Kammer nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 VwGO als Widerspruchsbehörde zu entscheiden hatte. Deshalb ist es mitnichten so, dass sämtliche Funktionen des Vorverfahrens nicht (mehr) erreichbar waren. Unabhängig vom Inhalt der Entscheidung kann der mit einer Begründung zu versehende Widerspruchsbescheid (§ 73 Abs. 3 S. 1 VwGO) – vielleicht sogar auf Grund der Weisung der Aufsichtsbehörde – so überzeugend sein, dass der Betroffene von der Erhebung einer aussichtslosen Klage abgehalten wird;66 dann ist die Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gewährleistet. Im konkreten Fall zielte die aufsichtsbehördliche Weisung auf die „Festsetzung der angemessenen Abwicklervergütung“;67 kommt die angewiesene Behörde dem nicht in dem vom Betroffenen für richtig gehaltenen Ausmaß nach, kann ein Widerspruch selbstverständlich seine Rechtsschutzfunktion erfüllen.68 Unabhängig von dem entschiedenen Fall bleibt zur „Weisungs63
VGH BW, Rechtsbeistand 2009, 16 (20). Vgl. oben Text zu Fußn. 43 und Fußn. 44. 65 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 31. 66 Zutreffend Schenke, JZ 1996, 1055 (1062). 67 So ausdrücklich BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 32. 68 VGH BW, Rechtsbeistand 2009, 16 (20), bemerkt zutreffend, seitens der beklagten Behörde finde eine ergebnisoffene Nachprüfung im Rahmen der Erwiderung auf eine bereits 64
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theorie“ des BVerwG die generelle Frage, wie ein Kläger von dem Verwaltungshandeln in dem inneradministrativen Aufsichtsrechtsverhältnis Notiz bekommt; an sich bleiben ihm die Weisung als solche und deren Inhalt unbekannt.69 Klagt er auf „eigenes Risiko“? Oder sollte er Widerspruch erheben, auch wenn dieser funktionslos (geworden) ist? Oder trifft die Aufsichtsbehörde bzw. die Ausgangsbehörde (nach welcher Rechtsnorm?) eine Informationspflicht gegenüber dem Betroffenen? b) Verbindliche Anordnung der Sachentscheidung Die „Weisungstheorie“ des BVerwG macht – unabhängig von den aufgeworfenen Fragen – selbst unter dem Aspekt der „Selbstkontrolle der Verwaltung“ nur Sinn, wenn die aufsichtsbehördliche Weisung „punktgenau“ erfolgt. Nur wenn die zu treffende Sachentscheidung in ihrem gesamten Inhalt verbindlich angeordnet wird, erübrigt sich eine (erneute) Eigenkontrolle der angewiesenen Behörde. Daran bestanden in dem konkreten Fall durchgreifende Zweifel, weil das Landesfinanzministerium lediglich die Festsetzung einer „angemessenen Vergütung“ angemahnt hatte, die sich nach der „Durchschnittsmonatsvergütung eines angestellten Steuerberaters“ errechne.70 Die Aufsichtsbehörde hatte demnach Kriterien für die Berechnung der Vergütung vorgegeben, also einen Maßstab gesetzt, aber keine Anordnung zur konkreten Höhe der Vergütung getroffen. Das Berufungsgericht hatte daraus die einzig mögliche Konsequenz gezogen und nach der inhaltlichen Reichweite der Weisung differenziert: Zum „Ob“ der Sachentscheidung sei verbindlich angeordnet worden, überhaupt eine angemessene Vergütung für die Klägerin festzusetzen; zur umstrittenen Höhe einer angemessenen Vergütung habe die Weisung nichts angeordnet, da die Höhe der Durchschnittsmonatsvergütung eines angestellten Steuerberaters nicht beziffert worden war.71 Dieses zutreffende Verständnis der Weisung bestätigt die Richtigkeit der Einlassung der beklagten Steuerberaterkammer, das Widerspruchsverfahren sei keinesfalls entbehrlich (gewesen), sondern hätte Gelegenheit zur nochmaligen Erörterung der Sache geboten. Das BVerwG meint indessen, die in der Weisung fehlende ziffernmäßige Festsetzung eines Betrags zu der „angemessenen“ Vergütung stehe der Entbehrlichkeit des Vorverfahrens nicht entgegen, weil das Landesfinanzministerium der Steuerberaterkammer einen handhabbaren Berechnungsmaßstab vorgegeben habe; die geforderte anhängig gemachte Klage regelmäßig nicht mehr statt; demgegenüber könne in der von § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO vorgesehenen, noch von Prozesserwägungen unabhängigen Station eine erneute und vertiefte Befassung auch im Interesse des Widerspruchsführers erfolgen. 69 Cornils/Mengden, ZJS 2010, 783 (786), kritisieren, dass das BVerwG die Erforderlichkeit oder Entbehrlichkeit des Vorverfahrens von intransparenten und für den Kläger nicht nachvollziehbaren Einzelinterpretationen der jeweiligen inneradministrativen Weisung abhängig mache. 70 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 4. 71 VGH BW, Rechtsbeistand 2009, 16 (22).
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betragsmäßige Höhe der „Durchschnittsvergütung“ habe dem verfügbaren statistischen Datenmaterial entnommen werden können.72 Das mag sein oder auch nicht,73 beantwortet jedoch die entscheidende Frage zur Entbehrlichkeit des Vorverfahrens unter dem Aspekt der „Selbstkontrolle der Verwaltung“ nicht. Das BVerwG hätte darlegen müssen, dass die Steuerberaterkammer, eine nur der Rechtsaufsicht (und nicht auch der Fachaufsicht) des Landesfinanzministeriums unterstehende Selbstverwaltungskörperschaft, keinerlei Spielraum für die Festsetzung der Höhe der Vergütung hatte. Diesen Nachweis konnte das BVerwG nicht führen. Auch aus diesem Grund hat das Revisionsgericht das Berufungsurteil zu Unrecht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen (§ 144 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 VwGO).
V. Fazit: Herrschaft der Richter über das Vorverfahren Eine jahrzehntelange Rechtsprechung hat praeter legem et contra legem Ausnahmen vom Erfordernis des Vorverfahrens nach der VwGO entwickelt und damit § 68 Abs. 1 S. 2 und § 75 VwGO „ergänzt“. Auf einem anderen Feld, bei der richterlich legitimierten – gesetzeswidrigen – sachlichen Bescheidung eines verfristeten Widerspruchs wurde die Verwaltung unter dem Topos „Sachherrschaft der Behörde“ zur Herrin über § 70 Abs. 1 VwGO gekürt74 und mit der Dispositionsbefugnis über eine gerichtliche Sachentscheidungsvoraussetzung ausgestattet.75 Mit seinem Grundsatzurteil vom 15. September 2010 hat das BVerwG endgültig seine „Herrschaft“ über § 68 Abs. 1 S. 1 (ggf. i. V. m. Abs. 2) VwGO etabliert und sich unter dem Deckmantel eines „objektivierten Beurteilungsmaßstabs“ die Letzteinschätzung darüber zugesprochen, ob ein „Widerspruchsverfahren funktionslos und überflüssig“ ist.76 Das Gericht zitiert zwar einen Teil des die Rechtsprechung ablehnenden Schrifttums,77 vermeidet jedoch jede argumentative Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Judikatur. Dies ist weder überzeugend in der Sache noch souverän im Stil. Die Behauptung des BVerwG zur Entbehrlichkeit des Vorverfahrens trotz aus72
BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 38. Wacker, DStR 2011, 288, kritisiert, dass es das BVerwG unterlassen hat, sich zur angemessenen Höhe der Vergütung für den Praxisabwickler zu äußern, und nennt in Anlehnung an die BGH-Rechtsprechung als Faktoren: Zeitaufwand, berufliche Erfahrung des Abwicklers, Schwierigkeit und Dauer der Abwicklung und bei der Konkretisierung dieser Kriterien „Orientierung am Brutto-Monatsgehalt eines angestellten Berufsträgers“. – Das sieht, mit Verlaub, nicht so aus, als habe die Weisung des Landesfinanzministeriums die Sachentscheidung dergestalt vorgeprägt, dass seitens der Steuerberaterkammer mit einem Blick in eine Statistik die ziffernmäßige Höhe der Vergütung festgestellt werden kann. 74 BVerwGE 15, 306 (310); 28, 305 (307 f.); 57, 342 (344 f.); NVwZ 1983, 608; NVwZ-RR 1989, 85 (86); LKV 2007, 178. 75 Zur Kritik an der Rechtsprechung (Fußn. 74) zusammenfassend und m. w. Nachw. Schoch, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 20 Rn. 34. 76 So der maßgebliche Topos von BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 30. 77 BVerwG, NVwZ 2011, 501 Tz. 25. 73
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drücklicher Rüge der beklagten Behörde zum Fehlen des Vorverfahrens78 dürfte als überraschend empfunden werden.79 Das richterliche Selbstbewusstsein beim Umgang mit § 68 VwGO schließt weitere Überraschungen in dieser Hinsicht nicht aus. Die verfassungsrechtliche Bedenklichkeit seiner Judikatur zur Entbehrlichkeit des Vorverfahrens kümmert das BVerwG offenbar nicht. „Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein“, hatte das BVerfG unlängst erkannt.80 In diese unrühmliche Kategorie fällt die Entscheidung des BVerwG zur Entbehrlichkeit des Vorverfahrens vom 15. September 2010. Abhilfe (durch das BVerfG) ist nicht in Sicht; denn begünstigt ist der Kläger, die Behörde kann das BVerfG nicht (im Wege der Verfassungsbeschwerde) anrufen. Das Schrifttum bleibt aufgefordert, auch wenn seine Kritik (einstweilen) wirkungslos ist, dem BVerwG auch weiterhin „den Spiegel vorzuhalten“.
78
Vgl. oben IV. 1. zur Sachverhaltsschilderung. Geis (Fußn. 20), § 68 Rn. 162, meint(e), das BVerwG vertrete diese Rechtsauffassung nicht mehr. 80 BVerfG, NJW 2011, 836 Tz. 53. 79
Ausgewählte Fragen des Rechtsschutzes gegen Veränderungssperre und Zurückstellung Von Christoph Sennekamp Im Jahr 1994 publizierte Wolf-Rüdiger Schenke eine viel beachtete, heute noch grundlegende Untersuchung zum Thema „Veränderungssperre und Zurückstellung des Baugesuchs als Mittel zur Sicherung der Bauleitplanung“,1 die kurz darauf auch als Monographie erschienen ist.2 Seinerzeit lag das Augenmerk des Autors vornehmlich auf der materiell-rechtlichen Dimension der §§ 14 – 17 BauGB. Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich hingegen der prozessrechtlichen Perspektive der von Veränderungssperre und Zurückstellung Betroffenen. Mit ihnen soll der Versuch unternommen werden, einem weiteren Forschungsschwerpunkt des Jubilars – dem Verwaltungsprozessrecht – Rechnung zu tragen. Hierbei wird sich anhand einiger ausgewählter Fragestellungen zeigen, dass auch die prozessrechtliche Seite der nämlichen Vorschriften Beachtung verdient. I. Rechtsschutz gegen die Veränderungssperre Die Veränderungssperre wirft eine Vielzahl prozessualer Fragen auf. Von ihnen seien nachfolgend zwei Konstellationen herausgegriffen. Es ist dies zum einen die Frage, wie der Streit um die individuelle Geltungsdauer der Verbotsnormen auszutragen ist. Zum anderen erscheint klärungsbedürftig, welche prozessualen Auswirkungen § 17 Abs. 4 BauGB und die darin statuierte Pflicht der Gemeinde hat, die Veränderungssperre bereits vor Fristablauf „ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen“. 1. Der Streit um die Normgeltung Die als Satzung beschlossene (§ 16 Abs. 1 BauGB) Veränderungssperre gilt als Norm soweit und solange sie wirksam ist und sich selbst Geltung beimisst. § 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB statuiert eine die Gemeinde bindende erste zeitliche Grenze und bestimmt, dass die Veränderungssperre nach Ablauf von zwei Jahren außer Kraft tritt. Diese Frist kann um ein Jahr verlängert werden (§ 17 Abs. 1 Satz 3 BauGB), unter „besonderen Umständen“ auch um ein weiteres (viertes) Jahr. So 1
Schenke, WiVerw 1994, 253 ff. Schenke, Veränderungssperre und Zurückstellung des Baugesuchs als Mittel zur Sicherung der Bauleitplanung, 1995, 114 S. 2
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weit, so unproblematisch. Die Übersichtlichkeit der Rechtslage erfährt eine gewisse Verunklarung mit dem Begehren desjenigen, der für sich (und nur für sich3) – vom Gesetzgeber durch § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB entsprechend animiert – eine individuelle, scheinbar kürzere Normgeltung einfordert. Es ist dies regelmäßig derjenige Bauherr, der Anlass für die erste Zurückstellung und Veränderungssperre gegeben hat und zu dessen Lasten die Bebauung des Grundstücks bereits einige Zeit zuvor mit einer – wie auch immer gearteten – Bausperre belegt war. Dieser Bauherr – so will es der Gesetzgeber nicht zuletzt im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Bindungen aus Art. 14 Abs. 1 GG – wird dergestalt privilegiert, dass der Zeitraum seit der Zustellung der ersten (rechtmäßigen) Zurückstellung eines Baugesuchs nach § 15 Abs. 1 BauGB auf die Zweijahresfrist des § 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB anzurechnen ist (§ 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB). In Rechtsprechung4 und Literatur5 besteht weitgehend Einigkeit, dass Entsprechendes gilt, wenn es sich um keine förmliche, sondern eine (rechtswidrige) faktische Zurückstellung handelt6 und dass anrechnungsfähig auch frühere Zurückstellungen zulasten anderer Bauherrn auf demselben Grundstück sind.7 Hiervon soll im Folgenden nicht die Rede sein. Jedoch verdient die Frage, wie der Streit um die individuelle Geltung der Veränderungssperre prozessual auszutragen ist, eine nähere Betrachtung. Die verwaltungsgerichtliche Praxis zeigt, dass häufig bereits bei Bekanntmachung der Veränderungssperre zwischen Bauherr und Gemeinde Unklarheit oder gar Streit besteht, welche Zeiten einer vorangegangenen Zurückstellung auf die Geltungsdauer der Veränderungssperre anzurechnen sind. Der Gemeinde wird häufig nicht bekannt sein, welche Verzögerungen des andernorts geführten Baugenehmigungsverfahrens als faktische Zurückstellung auf die Veränderungssperre anzurechnen sind. Sie muss dies aber nicht zuletzt im Blick auf die Verlängerung der Veränderungssperre, den zeitlichen Horizont für aufzustellenden Bebauungsplan und etwaige Entschädigungsansprüche verbindlich klären. Zwar erhält sie durch die keineswegs unproblematische Rechtsprechung des BVerwG8 insoweit Unterstützung, als die Verlängerung der gegenüber dem Bauherrn bereits außer Kraft getretenen Veränderungssperre allein aufgrund der Befugnis zur (künftigen) Normsetzung gewissermaßen fingiert wird; das kurzzeitige „Wiederaufleben“ des Baurechts wird mit diesem – dogmatisch fragwürdigen – Kunstgriff verhindert. Gleichwohl hat die Gemeinde naturgemäß ein erhebliches Interesse an der frühzeitigen Klärung der Frage, wann 3
BVerwGE 51, 121; Schenke, WiVerw 1994, 253 (285). BVerwGE 51, 121; BVerwG, NJW 1971, 445; NVwZ 1992, 1090. 5 Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 17 Rn. 8; Bielenberg/Stock, in: Ernst/Zinkahn/ Bielenberg, BauGB, Rn. 17; Rieger, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 17 Rn. 4; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB, BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 17 Rn. 14; Berkemann, in: Festschrift für Weyreuther, 1993, S. 389 (416); einschränkend Schenke, WiVerw 1994, 253 (290 ff.). 6 Vgl. zum Begriff: Schenke, WiVerw 1994, 253 (288). 7 Schenke, WiVerw 1994, 253 (285); BVerwG, BauR 2004, 1263; VGH Mannheim, BauR 2003, 840. 8 BVerwGE 51, 121; NVwZ 1991, 62 (63); vgl. hierzu ausführlich Schenke, WiVerw 1994, 253 (304 f.). 4
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die Veränderungssperre dem ersten Bauwilligen im künftigen Plangebiet nicht mehr entgegengehalten werden kann. Ähnlich verhält es sich mit der Baugenehmigungsbehörde und dem Bauherrn. Für alle der genannten Akteure besteht somit ein handgreifliches Bedürfnis, die Frage der Dauer der Sperrwirkung verbindlich zu klären. a) Statthaftigkeit des Normenkontrollantrags (§ 47 VwGO) Zunächst liegt die Annahme nahe, die Frage der individuellen Gültigkeit sei ebenso wie jene der satzungsmäßigen Geltungsdauer der Veränderungssperre im Wege der Normenkontrolle nach § 47 VwGO zu klären. Denn zweifellos kann der Bauherr im Verfahren nach § 47 VwGO geltend machen, eine Bestimmung in der Satzung – und sei es jene zu deren Geltungsdauer – verstoße gegen höherrangiges Recht und sei daher unwirksam. Diese für einen „absoluten Verstoß“ geltenden Grundsätze dürfen – so könnte man meinen – bei einem nur auf „relative Unwirksamkeitserklärung“ gerichteten Begehren9 nicht außer Betracht bleiben. Derlei Annahmen führen jedoch ins Abseits. Gegenstand der prinzipalen Normenkontrolle kann nur eine Norm sein. In dem hier interessierenden Zusammenhang kommt als Norm nur die als Satzung beschlossene Veränderungssperre und damit auch (nur) die darin allgemein angeordnete Dauer dieser Sperre in Betracht. Um deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht geht es dem Bauherrn aber nicht. Er will lediglich die ihm zugedachte Privilegierung aus § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB einfordern und eine individuelle, normunabhängige Korrektur des Außer-Kraft-Tretens herbeiführen. Ihm geht es – vereinfacht gesagt – nicht um das Recht, sondern um die dem Recht folgende Berechnung. Hierfür steht die Normenkontrolle nicht zur Verfügung.10 Dabei bedarf es nicht einmal der Klärung, ob dieses Ergebnis dem Umstand geschuldet ist, dass das Normenkontrollverfahren ein (nur) objektives Rechtsbeanstandungsverfahren ist, bei dem der Schutz subjektiver Rechte allenfalls ein Reflex der objektiven Kontrollfunktion ist.11 Denn die in Rede stehende satzungsrechtliche Norm über das Inkrafttreten und das Außer-Kraft-Treten ist in Fällen dieser Art weder absolut noch „relativ unwirksam“. Die gegenteilige Sichtweise beruht auf einem Missverständnis. § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB besagt als bloße Anrechnungsvorschrift nämlich nur, dass der Beginn der Frist des § 17 Abs. 1 Satz 1 BauGB individuell vorverlegt wird. Dieses individuelle Berechnungsverfahren ändert – für sich betrachtet – nichts an der objektiven oder subjektiven Rechtmäßigkeit der allgemein angeordneten Veränderungssperre.12 Da die 9 Im beim VGH Mannheim anhängig gewesenen Verfahren 5 S 893/91 (VBlBW 1992, 259) lautete der gestellte Normenkontrollantrag dahingehend, die (näher bezeichnete) „Veränderungssperre gegenüber der Antragstellerin für unwirksam zu erklären.“ 10 BVerwG, NVwZ 1992, 1090; Schenke, WiVerw 1994, 253 (326); Broß, VerwArch 85 (1994), 129 (136). 11 Insoweit missverständlich: BVerwG, NVwZ 1992, 1090; VGH Mannheim, VBlBW 1992, 259. 12 So zutreffend BVerwG, NVwZ 1992, 1090.
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nach § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB gebotene Anrechnung somit nicht die Rechtsgültigkeit der satzungsrechtlich angeordneten Veränderungssperre, sondern nur die Berechnung im Einzelfall betrifft, kann diese Berechnungsweise selbst nicht Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle sein. b) Statthafte Klageart Dieser Befund lenkt den Blick auf das „reguläre“ System der Klagearten. Einigkeit dürfte darin bestehen, dass der Bauherr eines genehmigungspflichtigen Vorhabens eine verbindlichen Klärung des individuellen Außer-Kraft-Tretens der Veränderungssperre inzident im Rahmen einer auf Erteilung der Baugenehmigung gerichteten Verpflichtungsklage gegen die Baugenehmigungsbehörde erreichen kann.13 Diese Art der Rechtsschutzgewähr weist aber Schwächen auf. Denn der Bauherr ist in dieser Konstellation gehalten, auf eigenes Risiko zu planen, hat erst zu einem späten Zeitpunkt Gewissheit über die Einschätzung der Baurechtsbehörde und die Gemeinde ist an diesem Rechtsstreit überhaupt nicht beteiligt, es sei denn, sie wird vom Verwaltungsgericht – was möglich, aber nicht zwingend ist14 – beigeladen. Diese Einschränkungen werfen die Frage nach der Zulässigkeit der Feststellungsklage – etwa gerichtet auf die Feststellung des Außer-Kraft-Tretens der Veränderungssperre dem Kläger gegenüber – auf.15 Die besseren Gründe sprechen jedoch gegen deren Statthaftigkeit. Für die Zulassung einer gegen den Normgeber – die Gemeinde – gerichteten (atypischen) Feststellungsklage besteht schon kein Bedürfnis, da der Streit um die individuelle Normgeltung auf der Vollzugsebene mit der Baurechtsbehörde ausgetragen werden kann, ohne dass der Bauherr Einbußen bezüglich der Effektivität des Rechtsschutzes zu gewärtigen hätte.16 Aber auch gegenüber der Baurechtsbehörde bedarf es der Zulassung der allgemeinen Feststellungsklage nicht. Für die Fälle, in denen eine verbindliche Klärung im Rahmen der auf Erteilung einer Baugenehmigung gerichteten Verpflichtungsklage erfolgen kann, folgt dies daraus, dass eine Durchbrechung des aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz folgenden Grundsatzes des repressiven Rechtsschutzes17 trotz der genannten strukturellen Schwächen der Verpflichtungsklage nicht erforderlich ist. Denn die Feststellung allein, die Veränderungssperre trete dem Bauherrn gegenüber ab einem bestimmten Zeitpunkt außer Kraft, schafft zwar Klarheit hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Grundla13
VGH Mannheim, VBlBW 1992, 259. BVerwGE 92, 66. Notwendig im Sinne des § 65 Abs. 2 VwGO wäre eine Beiladung allenfalls dann, wenn die Gemeinde ihr Einvernehmen nach § 36 BauGB versagt hätte. 15 Der VGH Mannheim (VBlBW 1992, 259) hat diese Frage aus kompetenziellen Gründen nicht entscheiden müssen, sondern – mit fragwürdiger Begründung – abgelehnt. 16 Vgl. hierzu im Zusammenhang mit self-executing-Normen: Schenke, Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht, 2009, S. 169; ders., Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 394. 17 Vgl. dazu Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 GG (Drittbearbeitung), Rn. 206. 14
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gen, bringt den Bauherrn seinem Ziel, ein genehmigungspflichtiges Vorhaben errichten zu dürfen, aber noch nicht weiter. Die dahinter liegende Frage der Genehmigungsfähigkeit eines Baugesuchs hat der Gesetzgeber hingegen bewusst dem Baugenehmigungsverfahren zugewiesen. Dort (erst) soll der Streit ausgetragen werden; diese prozedurale Zuordnung von Risiko und Verantwortung hat das Rechtsschutzsystem zu respektieren. Für eine Feststellungsklage des Bauherrn mit vorbeugendem Charakter ist somit kein Raum. 2. Der Streit um das Außer-Kraft-Setzen Nach § 17 Abs. 4 BauGB ist die Veränderungssperre vor Fristablauf ganz oder teilweise außer Kraft zu setzen, sobald die Voraussetzungen für ihren Erlass weggefallen sind. Die Vorschrift statuiert eine Rechtspflicht der Gemeinde, hinsichtlich derer sich die – materiell-rechtliche – Frage stellt, ob das Außer-Kraft-Setzen deklaratorische oder konstitutive Wirkung hat; dieser Frage schließen sich ggf. prozessrechtliche Fragen danach an, wer die Aufhebungspflicht einzufordern berechtigt ist und welches Rechtsschutzbegehren hierfür zur Verfügung steht. a) Wirkung des Außer-Kraft-Setzens Die Frage, ob § 17 Abs. 4 BauGB (nur) zur Beseitigung des Rechtsscheins einer materiell-rechtlich bereits außer Kraft getretenen Veränderungssperre zwingt oder die Beseitigung der Satzung erst selbst herbeiführen soll, hat erhebliche praktische Bedeutung. Denn ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bebauungsplanverfahren kommt unter der Geltung einer Veränderungssperre zum Erliegen; gelegentlich wird in der verwaltungsgerichtlichen Praxis auch sichtbar, dass eine positive städtebauliche Planung nicht mehr beabsichtigt ist und dass die Veränderungssperre in Wahrheit nur noch der Verhinderung eines der Gemeinde missliebigen Vorhabens dient. In diesen Fällen des nachträglichen Wegfalls einer anfänglich hinreichend konkretisierten, sicherungsbedürftigen Planung stellt sich für die von der Veränderungssperre betroffenen Grundstückeigentümer die Frage, ob die Satzung bereits ungültig geworden ist oder die Ungültigkeitserklärung erst in einem Verwaltungs(gerichts)verfahren erstritten werden muss. Das BVerwG18 hat sich – unter Bezugnahme auf eine Entscheidung, die diese Frage gar nicht beantwortet19 – zu dem nicht näher begründeten Satz verstiegen, die Veränderungssperre werde unwirksam, wenn die Voraussetzungen für ihren Erlass während ihrer Geltungsdauer endgültig entfallen seien. Angesichts der in der Literatur ganz überwiegend vertretenen gegenteiligen Auffassung20 hätte für das BVerwG hinreichend Anlass bestanden, die nicht näher be18
BVerwG, BauR 2008, 328. BVerwG, ZfBR 2005, 576. 20 Krautzberger, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2009, § 17 Rn. 8; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB, BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 17 Rn. 3; Bielenberg/Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 17 Rn. 61; Grauvogel, in: Brügelmann, BauGB, § 17 Rn. 52; Gaentzsch, BauGB 1991, § 17 Rn. 8; Rieger, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 17 19
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gründete Feststellung durch ein Argument abzusichern. Wolf-Rüdiger Schenke hat sich ebenfalls für die gleichsam automatisch eintretende Unwirksamkeit mit der Begründung ausgesprochen, andernfalls müsse man den Normunterworfenen einen Anspruch auf Aufhebung der Veränderungssperre zuerkennen; dies sei im deutschen Rechtsschutzsystem jedoch die Ausnahme, die durch die von ihm befürwortete Auslegung vermieden werden könne.21 Seine Auffassung hat in der Literatur einige Gefolgschaft gefunden.22 Sie erweist sich nach wie vor als zutreffend. Zwar mag sich das Rechtsschutzargument, auf das nachfolgend noch näher einzugehen ist, heute als weniger schlagkräftig darstellen als noch seinerzeit, ist doch nunmehr unbestritten, dass dem Einzelnen ein Anspruch gegen den Staat auf Erlass einer Rechtsnorm zustehen kann.23 Auch mag man dieser Begründung entgegen halten, dass sich die Auslegung des materiellen Rechts nicht zuvörderst nach seiner prozessualen Durchsetzbarkeit richten kann. Als durchschlagend erweist sich nach der hier vertretenen Auffassung jedoch das Argument, dass die Norm – einem allgemeinen Grundsatz folgend – wegen des nachträglich eingetretenen Widerspruchs zum höherrangigen Recht rechtswidrig und damit unwirksam geworden ist.24 Die Prüfung der Vereinbarkeit von bedingten mit den sie bedingenden Normen ist nämlich keine Momentaufnahme. Vielmehr ist die Bewahrung der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht ein Merkmal der Geltungserhaltung von Rechtsnormen.25 Nicht zuletzt im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 14 Abs. 1 GG bedarf auch die Veränderungssperre der fortlaufenden Rechtfertigung durch das Voranschreiten des rechtmäßigen Planungsvorgangs, den sie sichert.26 Würde die Veränderungssperre in ihrem Bestand und Geltungsanspruch auch dann erhalten, wenn sie keinen im Werden befindlichen Bebauungsplan mehr sichert, wäre dies im Blick auf das Eigentumsgrundrecht nicht zu rechtfertigen. Insofern handelt es sich um eine verfassungsrechtlich motivierte Ausprägung der allgemein geltenden Regel cessante causa cessat lex – mit dem Wegfall des Grundes entfällt das Gesetz. Hierbei beweist die Veränderungssperre ihre strikte Akzessorietät zur Planung: Wo keine mehr Planung ist, kann keine Veränderungssperre mehr sein. Die auf Geltungserhaltung setzende h.L. hat die Problematik ebenfalls erkannt und sucht den verfassungsrechtlichen Bindungen der Gemeinde dergestalt Rechnung zu tragen, dass sie an der Geltung der Veränderungssperre festhält, dem Bauherrn aber einen Anspruch auf Zulassung einer Ausnahme nach § 14 Rn. 15; Kirchmeier, in: Ferner/Kröninger/Aschke, BauGB, 2. Aufl. 2008, § 17 Rn. 8; Hornmann, in: Spannowsky/Uechtritz, BauGB, § 17 Rn. 21; Spindler, DÖV 2010, 217 (219 f.). 21 Schenke, WiVerw 1994, 253 (309). 22 Lemmel, in: Berliner Kommentar zum BauGB, § 17 Rn. 15; Hager/Kirchberg, NVwZ 2002, 400 (404). 23 Vgl. hierzu eingehend: Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, a.a.O., Rn. 338 ff.; ders., Rechtsschutz gegen normatives Unrecht, S. 28 ff. et passim. 24 Vgl. hierzu im Einzelnen: Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen 1996, S. 177 ff. 25 s. hierzu Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen 1996, S. 177 ff.; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen 1997, S. 466 ff. 26 Zutr. Lemmel, in: Berliner Kommentar zum BauGB, § 17 Rn. 15.
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Abs. 2 BauGB zubilligt. Zu überzeugen vermag dies freilich nicht. Denn hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, der Gesetzgeber habe mit § 17 Abs. 4 BauGB von der allgemein-gültigen Regel abweichen wollen, dass gegen höherrangiges Recht verstoßende Normen eo ipso unwirksam sind, sind nicht ersichtlich. Namentlich erscheint es im Blick auf den handgreiflichen Grundrechtsbezug wenig überzeugend, die jeder Rechtfertigung entbehrende Veränderungssperre – gleichsam schikanös – als wirksam zu fingieren und die von ihr betroffenen Grundstückseigentümer in ein (verwaltungsgebührenpflichtiges) Verfahren auf Zulassung einer Ausnahme mit ungewissem Ausgang zu drängen oder sie auf den unwegsamen Pfad der Normerlassklage gegen die Gemeinde zu verweisen, wo doch § 1 Abs. 3 Satz 2 BauGB ausdrücklich bestimmt, dass auf die Aufstellung von städtebaulichen Satzungen kein Anspruch besteht. Der Auffassung von Wolf-Rüdiger Schenke, die § 17 Abs. 4 BauGB unterfallende Veränderungssperre sei mit dem dauerhaften Wegfall der Voraussetzungen für ihren Erlass mit Wirkung für die Zukunft unwirksam geworden, ist daher uneingeschränkt beizupflichten. b) Verwaltungsprozessuale Umsetzung Folgt man diesem Ansatz, schließt sich die Frage an, welche Rechtsschutzmöglichkeiten dem von der unwirksam gewordenen Veränderungssperre betroffenen bauwilligen Grundstückseigentümer zu Gebote stehen. Am naheliegendsten erweist sich die auf Erteilung der Baugenehmigung gerichtete Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO. Der Weg zu ihrer Zulässigkeit führt freilich über ein Verwaltungsverfahren und – in den meisten Bundesländern – über ein Vorverfahren nach §§ 68 ff. VwGO. Als solches ist dies kein Hemmnis; im Gegenteil sind grundsätzliche Zweifel an der Effizienz des Verwaltungsverfahrens einschließlich des Vorverfahrens nicht veranlasst. Allerdings gilt es in Konstellationen der hier vorliegenden Art die Hürde der – bisweilen negierten – administrativen Normverwerfungskompetenz zu überspringen. Denn die Baurechts- und Widerspruchsbehörden sind regelmäßig nicht berechtigt, die sich formell weiterhin Geltung beimessende Veränderungssperre ohne Weiteres unangewendet zu lassen. Nach herrschender, hier nicht im Einzelnen darstellbarer Auffassung27 muss die Behörde vor der inzidenten Verwerfung der Norm im Verwaltungsverfahren die Gemeinde beteiligen und ihr Gelegenheit geben, den Verstoß gegen höherrangiges Recht selbst zu beheben oder die Norm aufzuheben. Die verwaltungsgerichtliche Praxis lässt deutlich vermuten, dass die administrative Normverwerfung selbst bei Einhaltung dieser prozeduralen Voraussetzungen Seltenheitswert hat. Dies mindert die Attraktivität der Kombination aus Vorverfahren und Verpflichtungsklage jedenfalls in Bezug auf die zeitliche Dimension des Streits um die Baugenehmigung.
27 BGH, NVwZ 2004, 1143; Schenke, WiVerw 1994, 253 (319 ff.); Baumeister/Ruthig, JZ 1999, 117; Engel, NVwZ 2000, 1258 (1259).
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Damit ist die Frage nach der Zulässigkeit der – allein oder zusätzlich anzustrengenden – prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 VwGO aufgeworfen. Sie ist mit dem Rechtsschutzziel, die Veränderungssperre ab dem (ggf. näher zu bestimmenden) Zeitpunkt des endgültigen Wegfalls der Voraussetzungen für ihren Erlass für unwirksam zu erklären, statthaft. Das Normenkontrollverfahren ist insbesondere nicht auf die Prüfung beschränkt, ob eine Rechtsvorschrift formell und materiell rechtmäßig zustande gekommen ist. Vielmehr besteht der Zweck der Normenkontrolle in der Klärung, ob die zur Prüfung gestellte Vorschrift geltender Bestandteil der Rechtsordnung ist. Diese Frage kann, wenn hierzu Anlass besteht, auch die Prüfung erfordern, ob die – rechtswirksam erlassene – Rechtsvorschrift noch fortgilt, ob sie also nicht unwirksam geworden ist.28 Der Normenkontrollantrag gegen eine nachträglich unwirksam gewordene Veränderungssperre kann sowohl von den normvollziehenden Behörden als auch von den normunterworfenen Grundstückseigentümern und Bauherrn angestrengt werden, von Letzteren auch und gerade in Kombination mit der – allerdings beim Verwaltungsgericht zu erhebenden – Verpflichtungsklage und motiviert durch die Erkenntnis, dass die rechtskräftige Feststellung der nachträglichen Unwirksamkeit der Veränderungssperre durch ein Oberverwaltungsgericht für einen sich gegebenenfalls anschließenden Entschädigungsstreit von ausschlaggebender Bedeutung sein kann. Als problematisch erweist sich jedoch die durch Art. 3 des Gesetzes zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte vom 21. Dezember 200629 auf ein Jahr verkürzte Antragsfrist von einem Jahr „nach Bekanntmachung der Rechtsvorschrift“.30 Denn die hier typischerweise interessierenden Fälle zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Veränderungssperre im Zeitpunkt ihrer Bekanntmachung rechtmäßig war und – wegen späteren Fortfalls der sie legitimierenden Planungsabsichten – erst nachträglich rechtswidrig geworden ist. Die Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO wird dann häufig abgelaufen sein. Teilweise wird dieses missliche Ergebnis in der Rechtsprechung mit der Folge hingenommen, dass die prinzipale Normenkontrolle für die Fälle des nachträglichen Widerspruchs zu höherrangigem Recht faktisch nicht zur Verfügung steht.31 Dies überzeugt indes nicht. Denn die an die Bekanntmachung der Norm anknüpfende Frist zielt auf die Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit von Normen ab. Die Normadressaten sollen sich darauf verlassen können, dass eine Vorschrift, die eine bestimmte Zeit unbeanstandet geblieben ist, eine gewisse Vermutung der Übereinstimmung mit der Rechtslage für sich hat. Auf die Fälle der anfänglich rechtmäßigen Normen, deren Geltungsgrund aus tatsächlichen Gründen erst nachträglich defizitär wird, passt dieser Normzweck aber nicht. Denn in diesen Fällen stimmt die Wirklich28 Vgl. BVerwGE 108, 71 (Normenkontrollfähigkeit der Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen). 29 BGBl. I S. 3316 (3320). 30 Vgl. zur Einführung von Antragsfristen bei der Normenkontrolle mit Recht kritisch: Schenke, NJW 1997, 81 (83 ff.). 31 So zum Funktionslos-Werden von Bebauungsplänen OVG Lüneburg, BauR 2005, 523 (524).
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keit mit dem Geltungsgrund der Norm nicht mehr überein. Die „Entfremdung“ der Veränderungssperre von den tatsächlichen Verhältnissen verdient den Schutz durch Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und -beständigkeit nicht. Im Gegenteil würde der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit – als Kategorie des Vertrauensschutzes – eher dafür streiten, kein Vertrauen in eine Norm zu honorieren, die ihres Regelungsgrundes faktisch bereits entkleidet wurde. Daher verbietet sich beim späteren Wegfall der Voraussetzungen der Veränderungssperre das Anknüpfen der Antragsfrist an den Zeitpunkt der Bekanntmachung der Veränderungssperre.32 Vielmehr kann der bauwillige Grundstückseigentümer auch im zweiten Jahr der Geltung der Veränderungssperre im Wege der Normenkontrolle beantragen, die Veränderungssperre wegen nachträglichen Wegfalls der sie legitimierenden Voraussetzungen für unwirksam zu erklären, wobei ihm dann die Geltendmachung anfänglicher Wirksamkeitsmängel fristbedingt selbstverständlich nicht (mehr) möglich ist. Unzulässig ist nach der hier vertretenen Auffassung hingegen die auf (deklaratorische) Normaufhebung gemäß § 17 Abs. 4 BauGB gerichtete – und damit „unechte“ – Normerlassklage. Denn ungeachtet der Frage, ob § 17 Abs. 4 BauGB ein subjektives Recht auf Aufhebung einer rechtswidrig gewordenen Veränderungssperre verleiht33 und des sich hieran anschließenden Problems, mit welcher Klageart ein solcher Normaufhebungsanspruch ggf. durchzusetzen wäre34, besteht das erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Klage auf deklaratorisches Außer-Kraft-Setzen einer Veränderungssperre angesichts des oben beschriebenen breiten Spektrums an „regulären“ Rechtsschutzmöglichkeiten nicht. Durch sie könnte der betroffene Bauherr nichts erreichen, was er nicht durch ein anderes und „rechtsschutzintensiveres“ Vorgehen ebenfalls erfolgreich klären lassen könnte.35 Die – ggf. um die Verpflichtungsklage beim Verwaltungsgericht zu ergänzende – Normenkontrolle sichert dem Bauherrn hinreichend effektiven Rechtsschutz gegenüber solchen Veränderungssperren, die ihres einzig legitimen Sicherungsgrundes – der in Aufstellung befindlichen Bebauungsplanung – verlustig gegangen sind. II. Rechtsschutz gegen die Zurückstellung Das Sicherungsinstrument der Veränderungssperre wird in § 15 BauGB ergänzt um die Zurückstellung. Sie wird auf Antrag der planenden Gemeinde durch die Bau32 Vgl. ebenso im Falle der Funktionslosigkeit von Bebauungsplänen VGH München, NVwZ-RR 2005, 776; Gerhardt/Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 47 Rn. 38; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 47 Rn. 85. 33 s. hierzu Spindler, DÖV 2010, 217 (222 f.). 34 Vgl. hierzu mit Nachweisen zur (für unzutreffend gehaltenen) Rechtsprechung; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 1081 ff.; Schoch, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, 2009 § 50 Rn. 225. 35 So selbst für den Fall der konstitutiven Wirkung des § 17 Abs. 4 BauGB: Rieger, in: Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006, § 17 Rn. 15; Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl. 2004, Rn. 2388.
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genehmigungsbehörde erlassen. In materiell-rechtlicher Hinsicht sind im Blick auf die Zurückstellung mannigfaltige Probleme aufgeworfen, die ihren Grund zum einen in der Anrechnung des einen auf das andere Sicherungsmittel haben und zum anderen auf dem nicht immer klaren Verhältnis zur Veränderungssperre beruhen.36 Aber auch die Frage des Rechtsschutzes gegen die Zurückstellungsverfügung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein verwaltungsprozessualer Dauerbrenner. Mit ihr verbunden sind vielfältige Probleme mit Blick auf den Rechtscharakter der Zurückstellung, ihrer selbstständigen „Klagbarkeit“ und Anfechtbarkeit. 1. Zurückstellung als Verwaltungsakt In Rechtsprechung und Literatur besteht, was zumeist nicht einmal ausführlich diskutiert, sondern nur anhand der für statthaft gehaltenen Klagearten sichtbar wird, selbstverständliche Übereinstimmung, dass es sich bei der Zurückstellung um einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG handelt.37 Allerdings liegt die Annahme, die Aussetzung eines Verwaltungsverfahrens – die Zurückstellung ist nichts anderes als die Aussetzung der Entscheidung über die Zulässigkeit von Vorhaben (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB) – stelle eine Regelung im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG dar, zunächst einmal eher fern. Mit der Aussetzung eines Verwaltungsverfahrens soll üblicherweise die Effizienz des behördlichen Handelns sichergestellt werden, indem Verfahrenshandlungen so lange unterbleiben, bis auf der Grundlage eines anderen Verfahrens Erkenntnisse gewonnen werden können, die im laufenden Verfahren Verwendung finden können.38 Solche Verfahrenshandlungen einer Behörde, die den Ablauf und die Ausgestaltung eines Verwaltungsverfahrens organisieren, sollen die nachfolgende Sachentscheidung regelmäßig nur vorbereiten, enthalten aber zumeist keine Regelung im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG.39 Dem entsprechend wird die im VwVfG nicht ausdrücklich normierte, aber übereinstimmend als zulässig angesehene Aussetzung des Verwaltungsverfahrens überwiegend nicht als Verwaltungsakt angesehen.40 Bei der Zurückstellung als einer qualifizierten Form der Aussetzung verhält es sich anders. Die Zurückstellung dient nämlich nicht nur der Verbesserung der bereits vorliegenden Erkenntnisse durch Zuwarten auf eine Entscheidung in einem anderen Verwaltungsverfahren. Ihr liegt ein multipolares Rechtsverhältnis (Gemeinde – Baugenehmigungsbehörde – Bauherr) zugrunde, hinter welchem die mit Verfassungsrang geschützten Rechtsgüter Planungshoheit und Eigentumsschutz stehen und das durch die Zurückstellung zeitweise einfachrechtlich ausgestaltet wird. Das Verwaltungsverfahren wird in den Fällen des § 15 Abs. 1 Satz 1 nicht (nur) im Hinblick auf 36 37 38 39 40
s. hierzu Schenke, WiVerw 1994, 253 (328 ff.). Vgl. statt vieler Schenke, WiVerw 1994, 253 (329). Schwarz, in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 9 VwVfG Rn. 20. Henneke, in: Knack/Henneke, VwVfG, 9. Aufl. 2010, § 35 Rn. 66. Vgl. nur U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 35 Rn. 150.
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eine andere (vorgreifliche oder sonst bedeutsame) Entscheidung ausgesetzt, sondern die Aussetzung dient dem Zweck, die Vollziehbarkeit der „anderen Entscheidung“ – der Planung – erst zu ermöglichen. Mit der Zurückstellung werden somit die materiell-rechtlichen Rechtsbeziehungen zwischen Gemeinde, Baugenehmigungsbehörde und Bauherr für eine bestimmte Zeit abschließend geregelt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG, auch wenn die Regelung in ein (nur) verfahrensrechtliches Gewand gekleidet ist. Für das Vorliegen einer „Regelung“ sprechen ferner die unmittelbar durch die Zurückstellung ausgelösten Rechtsfolgen, namentlich unterbricht sie – was für die gerichtliche Aussetzung aus § 173 VwGO in Verbindung mit § 249 Abs. 1 ZPO erhellt, für das Verwaltungsverfahren aber ebenso zu gelten hat41 – die im Baugenehmigungsverfahren laufenden Fristen, insbesondere diejenige für die Fiktion des Einvernehmens nach § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB, aber auch etwaige landesrechtliche Fristen42 für die Entscheidung über den Bauantrag. Die Einordnung der Zurückstellung als Verwaltungsakt erweist sich demnach wegen ihres materiellrechtlichen Gehalts und der von ihr ausgehenden Wirkungen als zutreffend. 2. Rechtsbehelfsfähigkeit der Zurückstellung (§ 44a VwGO) Handelte es sich bei der Zurückstellung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB um eine behördliche Verfahrenshandlung, könnten Rechtsbehelfe – gleich welcher Art – nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden (§ 44a Satz 1 VwGO); die Zurückstellung wäre nicht isoliert „rechtsbehelfsfähig“. Die Frage nach der „Rechtsbehelfsfähigkeit“ ist von der Einordnung der Zurückstellung als Verwaltungsakt unabhängig. Denn § 44a Satz 1 VwGO knüpft an den verfahrensrechtlichen Gehalt und Zweck der behördlichen Handlung an,43 deren Rechtscharakter ist insoweit zunächst nicht erheblich.44 Die Vorschrift will – gleichsam als Ausdruck der Ergebnisorientiertheit des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts – sicherstellen, dass Rechtsschutz nicht verfahrensbegleitend, sondern jedenfalls im Grundsatz nachträglich gewährt wird. Soweit sie Verwaltungsakte erfasst, wird der zwischenzeitliche Eintritt der Bestandskraft dadurch gehindert, dass Rechtsbehelfsfristen frühestens mit der Bekanntgabe der Sachentscheidung zu laufen beginnen.45
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s. Siegmund, in: Brandt/Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2009, Kap. B Rn. 121. 42 Vgl. z. B. § 54 Abs. 5 LBO BW, § 61 Abs. 4 HessBauO, § 69 Abs. 4 SächsBauO, § 63 Abs. 7 BbgBauO. 43 Vgl. Eichberger, Die Einschränkung des Rechtsschutzes gegen behördliche Verfahrenshandlungen, 1986, S. 138. 44 Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 44a Rn. 3; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 44a Rn. 39; P. Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 44a Rn. 15. 45 P. Stelkens, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 44a Rn. 23.
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Entgegen vereinzelter Stimmen in der Literatur46 handelt es sich bei der Zurückstellung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB freilich nicht um eine § 44a Satz 1 VwGO unterfallende „behördliche Verfahrenshandlung“. Denn die Zurückstellung dient nicht der Vorbereitung (irgend)einer Sachentscheidung, sondern der Vorbereitung einer ganz bestimmten, inhaltlich anderen Sachentscheidung, nämlich der Entscheidung über den Baugenehmigungsantrag auf anderer rechtlicher Grundlage. Sie verbessert damit nicht die Verfahrens- oder Ergebnisqualität des Baugenehmigungsverfahrens, wie es für typische behördliche Verfahrenshandlungen im Sinne des § 44a Satz 1 VwGO (z. B. Sachverhaltsaufklärung, Beweiserhebung, Gewährung von Akteneinsicht) nachgerade kennzeichnend ist. Sie verfolgt als verfahrensrechtliches Mittel zur Sicherung der Planungshoheit das Ziel, der Gemeinde binnen einer Frist den Austausch der Rechtsgrundlagen des Baugesuchs zu ermöglichen, über das eine (zumeist positive) Sachentscheidung jedoch bereits getroffen werden könnte. Die Zurückstellung geht damit in ihrem Zweck über eine verfahrensrechtliche Aussetzungsentscheidung, die § 44a Satz 1 VwGO mit guten Gründen unterfallen mag, deutlich hinaus. Der hinter der Zurückstellung stehende materiell-rechtliche Gehalt lässt sie trotz des nicht zu leugnenden Verfahrensbezugs selbst Sachentscheidung, jedenfalls aber keine behördliche Verfahrenshandlung im Sinne des § 44a Satz 1 VwGO sein.47 Die Zurückstellung kann demnach selbst mit Rechtsbehelfen angegriffen werden; von der „Sperrwirkung“ des § 44a Satz 1 VwGO wird sie nicht erfasst. 3. „Isolierte“ Anfechtbarkeit der Zurückstellung? Seit jeher besteht Streit um die Frage, ob die Zurückstellung isoliert angefochten werden kann oder ob Rechtsschutz gegen die Zurückstellung (nur) im Zusammenhang mit der auf Verpflichtung zur Erteilung der Baugenehmigung gerichteten Verpflichtungsklage zu gewähren ist.48 Wolf-Rüdiger Schenke tendierte zunächst zu letzterem Ansatz,49 hat sich aber zwischenzeitlich für die isolierte Anfechtbarkeit der Zurückstellung ausgesprochen.50 Die Frage der zur Verfügung stehenden Rechtsschutzalternativen ist systematisch bei dem Prüfungspunkt des Rechtsschutzinteresses zu verorten. Versteht man nämlich die Zurückstellung – wie hier – als Verwaltungsakt, muss sie – soll sie nicht be46
s. z. B. Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB, BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 15 Rn. 27. So im Ergebnis auch Rieger, BauR 2003, 1512 (1517). 48 Für isolierte Anfechtbarkeit OVG Lüneburg, BauR 2007, 522; OVG Schleswig, NordÖR 2004, 439; OVG Berlin, NVwZ 1995, 399; OVG Koblenz, NVwZ-RR; OVG Münster, BauR 2007, 684; VG Sigmaringen, VBlBW 1999, 432; Hill, BauR 1981, 523 (532); Rieger, BauR 2003, 1512 (1514 ff.); Hinsch, NVwZ 2007, 770 (775); a.A. VGH Mannheim, VBlBW 1999, 216; NVwZ-RR 2003, 333; Lemmel, in: Berliner Kommentar zum BauGB, § 15 Rn. 22; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB, BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 15 Rn. 27. 49 Schenke, WiVerw 1994, 253 (341). 50 Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2010, § 42 Rn. 30; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 594a. 47
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standskräftig werden und Tatbestandswirkung entfalten – rechtzeitig mit Rechtsbehelfen angegriffen werden. Namentlich wäre eine (nur) auf Verpflichtung der Baurechtsbehörde zur Erteilung der Baugenehmigung gerichtete Untätigkeitsklage im Falle der Bestandskraft der Zurückstellung nicht erfolgsversprechend. Denn die bestandskräftige Zurückstellung vermittelt der Baugenehmigungsbehörde den „zureichenden Grund“ im Sinne des § 75 Satz 3 VwGO, der das Verwaltungsgericht zur Aussetzung des auf Verpflichtung der Baugenehmigungsbehörde zur Erteilung der Baugenehmigung gerichteten verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bis nach dem Ende der Zurückstellung verpflichtet.51 Der Bauherr kann die Erteilung der Baugenehmigung im Wege der Verpflichtungsklage somit nur erreichen, wenn die Zurückstellung spätestens zeitgleich kassiert wird oder sie jedenfalls einer inzidenten Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit zugänglich bleibt. Im Falle ihrer Bestandskraft ist dies nicht der Fall; die Anfechtung der Zurückstellung ist damit in jedem Falle geboten.52 Die Vertreter der These der Unzulässigkeit der gegen die Zurückstellung erhobenen isolierten Anfechtungsklage stützen ihre Auffassung darauf, dass die mit ihr allein erreichbare Aufhebung des Zurückstellungsbescheids dem Bauherrn keinen Nutzen brächte, denn damit werde noch keine Sachentscheidung über sein Baugesuch getroffen.53 In der Tat ist allgemein anerkannt, dass das bei Anfechtungsklagen gegen belastende Verwaltungsakte regelmäßig indizierte Rechtsschutzinteresse ausnahmsweise zu verneinen sein kann, wenn dem Kläger ein einfacheres Mittel zur Erreichung seines Ziels zur Verfügung steht oder er eine „rechtsschutzintensivere Rechtsschutzform“54 wählen könnte. Dies beim Rechtsschutz gegen die Zurückstellung anzunehmen und den Bauherrn zusätzlich auf die Verpflichtungsklage verweisen zu wollen, beruht aber auf einem Fehlverständnis. Bei der Zurückstellung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 BauGB handelt es sich nicht um die Ablehnung des Bauantrags. Hätte die Baugenehmigungsbehörde das Vorhaben nicht zurückstellt, sondern das Baugesuch in der Sache geprüft und abgelehnt, könnte sich der Bauherr selbstverständlich nicht auf die Anfechtung der ablehnenden Entscheidung beschränken.55 Darum geht es hier aber nicht. Denn gegenüber der Ablehnung des Baugesuchs in der Sache ist die Zurückstellung des Baugesuchs kein – in Bezug auf den Rechtsschutz gleich zu behandelndes – minus, sondern ein aliud. Die Zurückstellung folgt eigenen Gesetzen und ergeht in einem besonders geregelten Verfahren. Sie wird nur auf Antrag der Gemeinde ausgesprochen, der Bauherr ist gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG vor ihrem Erlass anzuhören, die Entscheidung ergeht durch Verwaltungsakt, ist zu begründen und zuzustellen (§ 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB). Sie hat an51
Zutr. Rieger, BauR 2003, 1512 (1514). Zumindest missverständlich daher: VGH Mannheim, VBlBW 1999, 216, der „allein eine Verpflichtungsklage“ für zulässig zu halten scheint. 53 VGH Mannheim, VBlBW 1999, 216; Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiss, BauGB, BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 15 Rn. 27. 54 So Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 40 Rn. 81; vgl. auch Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 587. 55 Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 281. 52
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dere Wirkungen als die Ablehnung eines Baugesuchs und sperrt den weiteren Fortgang des „regulären“ Baugenehmigungsverfahrens, an dessen bloßer Durchführung der Bauherr durchaus ein eigenständiges und schutzwürdiges Interesse haben kann. Das Zurückstellungsverfahren kommt damit einem eigenständigen Verwaltungsverfahren gleich, selbst wenn es nur innerhalb eines anderen Verfahrens – dem Baugenehmigungsverfahren – durchgeführt werden kann. Zur Beseitigung der Zurückstellungsverfügung gibt es keine rechtsschutzintensivere Rechtsschutzform als deren Anfechtung. Selbst die Vertreter der gegenteiligen Auffassung müssen aus den oben genannten Gründen konzedieren, dass die Anfechtung der Zurückstellung geboten ist, um den Eintritt ihrer Bestandskraft zu verhindern. Sie übersehen aber, dass ein zulässiger Anfechtungsrechtsbehelf nicht dadurch unzulässig wird, dass der Kläger ihm nicht noch ein weiteres – auf ein anderes Ziel gerichtetes – Begehren (die Verpflichtungsklage) zur Seite stellt. Daher ist auch der Begriff der „isolierten“ Anfechtung der Sache nach unzutreffend. Beim Vorgehen gegen die Zurückstellungsverfügung geht es um die „normale“Anfechtung eines „gewöhnlichen“ belastenden Verwaltungsakts, nicht um mehr, aber keinesfalls um weniger. Konsequenterweise müssten die Vertreter der gegenteiligen Auffassung auch den (Anfechtungs-)Widerspruch gegen die Zurückstellungsverfügung solange für unzulässig halten, als nicht der Bauherr beim Verwaltungsgericht Untätigkeitsklage erhoben hat. Eine solche – der Gefahr eines Zirkelschlusses unterliegende – Sichtweise führte nicht nur zu untragbaren Ergebnissen, sondern auch dazu, dass die dem Rechtsschutzsuchenden aus Gründen der Effektivität des Rechtsschutzes einseitig eingeräumte Chance der Untätigkeitsklage zur Obliegenheit würde. § 75 VwGO ist eine den Bürger ausschließlich begünstigende Vorschrift, die ihm das Recht einräumt, das Verwaltungsverfahren oder das Vorverfahren ausnahmsweise „überspringen“ zu dürfen, entsprechende Pflichten aber nicht statuiert.56 Ein anderes Verständnis des § 75 VwGO negierte im Falle der Zurückstellungsverfügung außerdem den Umstand, dass die Definition des zu erreichenden Ziels Sache des Klägers ist. Der Bauherr bestimmt, ob er sich mit einer Beseitigung der Zurückstellung zufrieden gibt, was schon deshalb sinnvoll sein kann, weil er das auch seinen Interessen dienende (kostengünstige) Baugenehmigungsverfahren gerade im Blick auf baurechtliche Zweifelsfragen und die Beratungsfunktion der Genehmigungsbehörde weiter durchführen will. Es steht den Verwaltungsgerichten nicht an, den Bauherrn unter Hinweis auf das andernfalls zu verneinende Rechtsschutzinteresse zu einem Verzicht auf die ihm eingeräumten Verfahrensrechte zu bewegen mit der Folge, dass das Baugenehmigungsverfahren mit größeren Risiken und Kosten gleichsam vor dem Verwaltungsgericht durchgeführt wird. Die Erhebung einer (Untätigkeits-)Verpflichtungsklage neben der isolierten Anfechtung des Zurückstellungsbescheids ist damit zwar möglich, aber im Hinblick auf das Rechtsschutzinteresse des Bauherrn nicht notwendig. Vielerlei Umstände (z. B. unklare Erfolgsaussichten, Kostengründe) mögen den Bauherrn dazu bewegen, es einstweilen bei der Anfechtung der Zurückstellungsentscheidung zu belassen. 56 Vgl. hierzu im Zusammenhang mit dem klagefähigen Anspruch auf Erlass eines Widerspruchsbescheids auch Schenke, DÖV 1996, 529 ff.
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Hiergegen ist unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzinteresses nichts zu erinnern. Denn auch bei einer Normenkontrollklage gegen die Veränderungssperre wird nicht gefordert, dass der Bauherr beim Verwaltungsgericht zugleich Verpflichtungsklage auf Erteilung der Baugenehmigung erhebt. Vielmehr kann er seine Vorgehensweise auch hier darauf beschränken, beim Oberverwaltungsgericht isoliert gegen die Veränderungssperre vorzugehen.57 III. Schluss Wolf-Rüdiger Schenke hat bereits aus Anlass seiner grundlegenden Untersuchung darauf hingewiesen, dass die §§ 14 ff. BauGB eine Reihe grundsätzlicher, noch weit von einer dogmatischen Klärung entfernter Fragen aufwerfen. Er hat diese Feststellung mit dem Zusatz versehen, „jeder Lösungsansatz bewege sich hier von vornherein auf unsicherem Terrain“.58 Dass diese Sorge heute weniger begründet ist als seinerzeit, dass es den Verwaltungsgerichten gelingt, bei Streitigkeiten um Veränderungssperre und Zurückstellung überzeugende Ergebnisse auf einer dogmatisch fundierten Grundlage zu liefern, ist nicht zuletzt sein Verdienst.
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Zutr. Rieger, BauR 2003, 1512 (1516). Schenke, WiVerw 1994, 253 (261).
Die Enteignung zugunsten des privaten Unternehmers in Korea Von Jong Hyun Seok* Geleitwort Es ist für mich eine große Ehre, einen Beitrag zu der Festschrift zu leisten, die Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke zu seinem 70. Geburtstag gewidmet ist. Es tut mir sehr leid, dass ich aus zeitlichen Gründen keinen neuen Beitrag verfassen konnte. Als ich im Jahre 2001 Präsident der Vereinigung der Koreanischen Rechtslehrer des Öffentlichen Rechts war, lud ich Herrn Professor Schenke im Rahmen eines koreanischdeutschen Symposiums mit Unterstützung der Konrad Adenauer-Stiftung zu einem Gastvortrag ein. Dadurch konnte ich Herrn Professor Schenke persönlich kennenlernen und ihn in Seoul betreuen. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihn auch zu einer Gastvorlesung für Jura-Studenten an der Dankook University eingeladen. Damals waren meine Studenten von der Vorlesung von Professor Schenke begeistert. Nach diesem ersten Aufenthalt von Professor Schenke in Korea blieben wir miteinander wissenschaftlich und persönlich in enger Verbindung. Zu der mir zu meinem 60. Geburtstag gewidmeten Festschrift hat Herr Professor Schenke einen Beitrag mit dem Titel „Entwicklung und heutiger Stand der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland“ verfasst. An der Festschrift zu meinem 65. Geburtstag wirkte er mit einer Abhandlung zum Thema „Die gerichtliche Kontrolldichte (Rechtsfolgeermessen, Planungsermessen, normatives Ermessen, Beurteilungsspielraum)“ mit und schrieb zugleich ein Geleitwort zu der Festschrift. Ich zitiere aus dem Geleitwort: „Professor Seok war sich immer dessen bewusst, dass das wechselseitige Verständnis für die Entwicklungen der jeweils anderen Rechtskultur durch Veröffentlichungen zwar gefördert werden kann, noch wichtiger aber der persönliche Austausch ist. Immer wieder hat er deshalb den weiten Weg nach Deutschland auf sich genommen, um hier in Vorträgen und Diskussionen Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Umgekehrt hat er keine Mühen gescheut, um deutsche Kollegen nach Korea einzuladen und ihnen ein hochinteressantes Forum zum Meinungsaustauch zu bereiten“. Die Verbindung zwischen mir und Herrn Professor Schenke entwickelte sich zunehmend zu einer Brückenrolle zwischen den koreanischen und deutschen Kollegen und förderte damit einen intensiven rechtswissenschaftlichen Gedankenaustausch. * Dieser Aufsatz erschien zuerst im Verwaltungsarchiv Bd. 97 (2006), S. 611 – 638. Verbunden mit einem herzlichen Glückwunsch widme ich ihn Professor Dr. Wolf-Rüdiger Schenke zu seinem 70. Geburtstag.
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So wurde 2005 ein erstes deutsch-koreanisches Symposium in Mannheim zum Rahmenthema „Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea“ durchgeführt. Im Rahmen dieses Symposiums hielten sieben koreanische Kollegen Vorträge. Entsprechende Symposien wurden 2006 in Seoul, sowie im Jahre 2007 und 2009 in Speyer veranstaltet. Bei dieser wissenschaftlichen Verbindung hat Herr Professor Schenke eine dominierende Rolle übernommen. Meine Kollegen und ich bedanken uns bei Professor Schenke für die großen Verdienste, die ihm in Bezug auf die Förderung und Fortentwicklung des rechtswissenschaftlichen Dialogs zwischen unseren beiden Ländern zukommen. Wenn Herr Professor Schenke sich hier nicht so bemüht hätte, wäre dieser Dialog in dieser Weise nicht möglich gewesen. Daher kann ich sagen, dass mein Zusammentreffen mit Herrn Kollegen Schenke zu den glücklichsten Begegnungen in meinem ganzen wissenschaftlichen Leben gehört und ich auf unsere Verbindung sehr stolz bin. Die Koreaner kennen den Namen Schenke als den eines großen Rechtslehrers und großen Meisters. Wer Professor Wolf-Rüdiger Schenke kennt, weiß, dass er sich auch weiterhin der Vertiefung der Rechtsbeziehungen zwischen der koreanischen und der deutschen Verwaltungsrechtslehre widmen und auch zukünftig einer ihrer tragenden Säulen sein wird. Professor Wolf-Rüdiger Schenke ist für mich ein bedeutender Repräsentant der deutschen Rechtswissenschaft. I. Einleitung 1. Problemstellung Am 1. Mai 2005 trat in Korea das Sondergesetz über die Entwicklung der Unternehmerstädte (abgekürzt : „UntStG“)1 in Kraft, das den neuen Begriff der „Unternehmerstadt“ eingeführt hat und dessen § 1 das Ziel des Gesetzes vorgibt: Danach regelt es die notwendigen Bestimmungen für die Entwicklung und Verwaltung einer selbstversorgten Stadt, die den privaten Unternehmer mit einer planmäßigen, dominierenden Rolle im Bereich von Industrie, Forschung und Tourismus ausstattet, um zur Förderung des öffentlichen Wohls und der Volkswirtschaft sowie der harmonisierten Entwicklung des Landes durch die planmäßige Entwicklung der Staatsflächen und die Förderung der Investitionen des privaten Unternehmers beizutragen. Der private Unternehmer nimmt daher eine öffentliche Aufgabe wahr, wenn er die Unternehmerstadt planmäßig zu entwickeln hat. Eine solche räumliche Entwicklung ist erst möglich, wenn eine Möglichkeit zur Enteignung benötigter Flächen besteht. Daher verleiht das UntStG dem Unternehmer unter bestimmten Voraussetzungen das Enteignungsrecht (§ 14 Abs. 1 UntStG). Damit aber tauchte die Frage auf, ob das UntStG verfassungswidrig ist und eine Ent1 Sondergesetz über die Entwicklung der Unternehmerstädte vom 31. Dez. 2004(Gesetz Nr. 7310), auf koreanisch Gieupdosigäbalteogbyulbop. Es tritt ab. 1. Mai 2005 in Kraft.
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eignung zugunsten des privaten Unternehmers dem koreanischen Enteignungsrechtssystem entspricht oder nicht.2 2. Der Begriff der Unternehmerstadt Das UntStG definiert den Begriff der Unternehmerstadt (company city, company town) wie folgt: Die Unternehmerstadt ist eine Stadt, die von einem privaten Unternehmer als industrieller Standort und hinsichtlich der Wirtschaftstätigkeiten entwickelt wird, um die dominierenden Funktionen von Industrie, Forschung, Tourismus, Freizeit, Geschäftstätigkeiten und Wohnen, Verkehr, Medizin, Kultur usw. als selbständige Mehrzweckfunktionen bereitzustellen (§ 2 Nr. 1 UntStG). Unterscheiden lassen sich insoweit vier Arten, nämlich die an Industrie und Handel orientierte Unternehmerstadt, die wissenschaftsorientierte, die auf Tourismus und Freizeit ausgerichtete und die als Renovationsstandort3 konzipierte Unternehmerstadt (§ 2 Nr. 1 UntStG). II. Hintergründe der Einführung der Unternehmerstadt Zu beachten ist, dass die Regierung die gesetzliche Einführung des Modells einer Unternehmerstadt auf Wunsch der privaten Unternehmer vorgenommen hat. Bei der Entwicklung einer Unternehmerstadt wiederum spielen die Unternehmer selbst eine dominierende Rolle, indem sie die Stadt planen und entwickeln, während die Regierung nur unterstützende Verwaltungsmaßnahmen vorzunehmen hat. Daher kritisieren Bürgerinitiativen und einige Sachkundige, dass die Regierung den großen Unternehmen eine besondere Vergünstigung gewährt habe, sehe doch das UntStG viele Deregulierungen für unternehmerische Handlungen und gerade eine Bevorzugung der großen Unternehmer vor4.
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Die Enteignung und das Enteignungsrecht gehören zum öffentlichen Lastenrecht im besonderen Verwaltungsrecht in Korea. Hierzu vgl. vor allem Jong Hyun Seok, Besonderes Verwaltungsrecht, 2005, S. 605; ders., Rechtsdogmatik der Entschädigung, 2005, S. 229 ff. 3 Diese Unternehmerstadt ist eine Stadt, die öffentliche Einrichtungen zu umgeben bestimmt ist. Die koreanische Regierung versucht gerade, die im Hauptstadtgebiet liegenden öffentlichen Einrichtungen und Institutionen auf die Landesebene zu verlagern. Wenn dies verwirklicht wird, dann wird diese auf einen als Renovationsstandort orientierte Unternehmerstadt aufgenommen. 4 Vgl. So Mi Seong, A Legal Review on the Publicness Securement of Company City, Korean Apprailsal Review, Vol. 15 No.1 (June 2005), S. 142 f.
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1. Beschleunigung der unternehmerischen Investitionen und Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Staates Im koreanischen Rechtssystem spielen der Staat und die Verwaltungsbehörden bei der räumlichen Entwicklung eine dominierende Rolle.5 Über die Raumentwicklung wird durch staatliche und verwaltungsbehördliche Planungsmaßnahmen entschieden. Will ein Unternehmer ein bestimmtes Bauvorhaben durchführen, so muss er zunächst die nach den jeweiligen – über 80 – Gesetzen erforderlichen Baugenehmigungen und Erlaubnisse einholen. Nach verbreiteter Auffassung ist die Einholung dieser Genehmigungen so schwer, dass sie das unternehmerische Bauvorhaben nahezu unmöglich macht. Insbesondere dauert das Genehmigungsverfahren eine extrem lange Zeit. Wegen dieser Umstände haben die Unternehmer kein großes Interesse an Investitionen. Daher sind die Förderung von Investitionen der Unternehmer und die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Staates zentrale Ziele der koreanischen Regierung. So geht man z. B. davon aus, dass die Entwicklung einer Unternehmerstadt mit einer Größe von 16,5 km2 etwa 290.000 neue Arbeitsplätze schafft. Die Regierung hält es zur Förderung des Investitionswillens der Unternehmer für förderlich, dass der Unternehmer eine Stadt dominierend in ihrer Initiative und Aktivität entwickeln kann. Gleichzeitig nutzt die Regierung die Gelegenheit, um durch Deregulierung ein unternehmerfreundliches Umfeld zu schaffen und eine Systematisierung für die Erweiterung der staatlichen Förderungen vorzunehmen. 2. Beitrag zur harmonisierten Staatsentwicklung durch die Verstärkung der Renovationsfähigkeiten auf der kommunalen Ebene In Korea vollzog sich die räumliche Entwicklung wesentlich im Bereich der großen Städte. Daher musste die räumliche Entwicklung der Städte auf der Provinzebene im Vergleich zu den großen Städten weitgehend zurückbleiben, wodurch es zu Dysbalancen der räumlichen Entwicklung kam. Die Unternehmerstädte sollen ihre Standorte gerade in städtischen Räumen der Provinzen haben. An der Unternehmerstadt konzentrieren sich dann bestimmte Industrien, wobei die koreanische Regierung sowohl die Spitzenindustrie, z. B. in den Bereichen Information und Telekommunikation, Gentechnik, Weltraumentwicklung usw., als auch Tourismus und Freizeitindustrie sowie Forschungs- und Bildungsfunktionen strategisch fördern will. Hierdurch soll die Unternehmerstadt zum Motor der räumlichen Renovationen werden und einen Impuls zur balancierten Entwicklung des Staates setzen.
5 Siehe dazu auch Jong Hyun Seok, Aktuelle Probleme der Verkehrswegeplanung in Korea, in: Ziekow (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Luftverkehrs-, Fachplanungs- und Naturschutzrechts, im Erscheinen, S. 222 ff.
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III. Gesetzliche Grundlagen für die Enteignung 1. Art. 23 Abs. 3 Koreanische Verfassung Art. 23 Abs. 3 der Koreanischen Verfassung (KV) gilt als verfassungsrechtliche Grundlage für die Enteignung. Danach kann die Zulässigkeit einer Enteignung, Benutzung, Einschränkung und Entschädigung der Eigentumsrechte durch Gesetz aus Gründen des Gemeinnutzes vorgesehen werden. In diesen Fällen wird eine gerechte Entschädigung gezahlt. Insgesamt ist Art. 23 Abs. 3 KV stark an Art. 14 GG orientiert6. In der koreanischen Literatur unterscheidet man zwischen der sog. klassischen Enteignung (Gongyongsuyong) und der erweiterten Enteignung (Gongyongchimhä). Im Begriff der klassischen Enteignung hat die koreanische Literatur das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte Rechtsinstitut der Enteignung übernommen. Nachdem dieser Begriff bis zum Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts maßgeblich geblieben ist, musste in neuerer Zeit das Rechtsinstitut der Enteignung neu definiert werden, da sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Gefolge des wirtschaftlichen Aufschwungs der letzten 30 Jahre stark verändert haben. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff der erweiterten Enteignung entwickelt. Insbesondere wurde der Enteignungsbegriff auf bloße Beschränkungen des Eigentums, vor allem Nutzungsbeschränkungen, erweitert und der zulässige Enteignungszweck auch auf das allgemeine öffentliche Interesse erstreckt. Der Begriff der erweiterten Enteignung (Gongyongchimhä) umfasst daher den Eingriff in Eigentumsrechte durch Enteignung, Benutzung und Einschränkung. Dieses in der Literatur entwickelte erweiterte Verständnis der Enteignung löst nach den koreanischen Gesetzen bisher keine Entschädigung aus. Daher stellt sich die Frage, ob die Eigentumsbeschränkung nicht doch als eine Enteignung (im Sinne der deutschen und auch der koreanischen Literatur) anzusehen und damit entschädigungspflichtig ist. Um die Abgrenzung von zulässiger Eigentumsbindung und Sonderopfer zu klären, hat die koreanische Literatur die deutschen Abgrenzungstheorien zum Vorbild genommen, nämlich die Sonderopfertheorie, die Schutzwürdigkeitstheorie, die Zumutbarkeitstheorie, die Privatnützigkeitstheorie, die Zweckentfremdungstheorie, die Sozialbindungstheorie und die Theorie von der Situationsgebundenheit des Eigentums. Der Grund für diese Orientierung an der deutschen Diskussion liegt darin, dass die Rechtsprechung in Korea bisher keine Abgrenzungskriterien gebildet hat, gibt es doch nur Klagen um die Höhe der Entschädigung, wie sie im jeweiligen Enteignungsgesetz angeordnet ist, aber keine Klage auf gesetzlich nicht vorgesehene Entschädigung. Die planungsrechtlichen Gesetze regeln bloße Beschränkungen, vor allem Nutzungsbeschränkungen des Eigentums und sehen bisher keine Entschädigung für sol6 Vgl. Jong Hyun Seok, Die Rezeption des deutschen Verwaltungsrechts in Korea, 1991, S. 194 f.
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che Nutzungsbeschränkungen vor. Zur Klärung der Frage, inwieweit Beschränkungen noch als Sozialbindung anzusehen sind, sind die genannten Abgrenzungstheorien herangezogen worden – mit dem Ergebnis, dass nicht jede Eigentumsbeschränkung mit der Sozialbindung des Eigentums gleichgesetzt werden darf. Wenn z. B. ein Grundstück wegen der öffentlichen Planung mit Benutzungsbeschränkungen belastet wird – etwa in einem Straßenbaugebiet zehn Jahre lang nicht bebaut werden darf –, ist das nicht zumutbar. Dies konkretisiert nicht die Sozialbindung, sondern ist eine Nutzungsbeschränkung und muss entschädigt werden (als rechtswidrig schuldloser Eingriff). Aber dafür fehlt bisher in Korea eine Anspruchsgrundlage. Um diese Lücke durch eine entsprechende Anwendung des Art. 23 Abs. 3 KV zu schließen, versuchte man, das deutsche Rechtsinstitut des enteignungsgleichen und des enteignenden Eingriffs zum Vorbild zu nehmen. Daher werden diese deutschen Rechtsinstitute in den koreanischen Lehrbüchern7 eingehend behandelt. Man vertritt die Meinung, dass die koreanische Rechtsprechung den deutschen Rechtsinstituten folgen sollte, um die Entschädigungsfrage hinsichtlich der Nutzungsbeschränkungen zu bewältigen. Doch nimmt die Rechtsprechung diese Lehrmeinungen bisher nicht auf. Das koreanische Verfassungsgericht8 vertritt die Meinung, dass die Entschädigung nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen darf. Wenn eine Eigentumsbeschränkung nicht zumutbar ist, dann sollte das beschränkende Gesetz eine Entschädigungsbestimmung vorschreiben. Wenn dies nicht der Fall ist, ist das Gesetz verfassungswidrig. Diese Verfassungswidrigkeit des Gesetzes soll durch eine Gesetzesänderung beseitigt werden. Jedoch genügt die Verfassungswidrigkeit der beschränkenden Bestimmung noch nicht, um entschädigt zu werden. Die Entschädigung erfolgt erst dann, wenn das Gesetz ausdrücklich eine Entschädigungsbestimmung vorsieht. Hierzu ist zu bemerken, dass das koreanische Verfassungsgericht in Anlehnung an die deutsche Rechtsprechung, nach welcher die Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums i. S. des Art. 14 Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG von der Enteignung i. S. des Art. 14 Abs. 3 GG begrifflich strikt zu trennen ist, über die Frage der Entschädigung hinausgegangen ist. Das Eigentum bedarf als Rechtsinstitut der gesetzlichen Ausgestaltung. Der Gesetzgeber hat deshalb durch generell-abstrakte Regelungen zu bestimmen, was überhaupt im Einzelnen zum verfassungsrechtlich geschützten Eigentum gehört. Dabei ist er allerdings nicht frei, sondern hat die grundsätzliche Anerkennung des Privateigentums in Art. 23 Abs. 1 KV einerseits und die Sozialbindung des Art. 23 Abs. 2 KV andererseits und in diesem Zusammenhang den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Vertrauensschutzprinzip, den Gleichheitssatz und den Wesensgehalt des Eigentums (Art. 37 Abs. 2 KV) zu beachten. Eine inhaltsbestimmende gesetzliche Vorschrift bleibt ihrem Rechtscharakter nach auch dann eine Regelung i. S. des Art. 23 Abs. 2 KV, wenn sie die verfassungsrechtlichen Grenzen überschreitet. Sie 7 Vgl. Vor allem Jong Hyun Seok, Rechtsdogmatik (Fußn. 2), S. 209 ff.; ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, 2005, S. 701 ff. 8 KVerfGE vom 24. 12. 1998 Heonma 214.
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wandelt sich nicht in eine Enteignungsnorm, sondern ist verfassungswidrig und nichtig. Diese Verfassungswidrigkeit der inhaltsbestimmenden gesetzlichen Vorschrift soll durch die Entschädigungsbestimmung beseitigt werden, wobei diese dem Gesetzgeber zu überlassen ist. Mit dieser Begründung hat das koreanische Verfassungsgericht die Rechtsinstitute des enteignungsgleichen- und des enteignenden Eingriffs abgelehnt. 2. Das Enteignungs- und Entschädigungsgesetz Das Enteignungs- und Entschädigungsgesetz9 (EgSG) gilt als allgemeines Gesetz für die Enteignung und Entschädigung. Dieses Gesetz enthält allgemeine Bestimmungen über die öffentlichen Vorhaben, die Voraussetzungen und das Verfahren der Enteignung, das Anerkennungsverfahren eines Vorhabens als Öffentlichkeitsvorhaben, die Grundsätze der Entschädigung und die Arten der Entschädigungen, den Enteignungsausschuss usw. a) Die Verwirklichung öffentlicher Interessen als Enteignungsvorausetzung Nach Art. 23 Abs. 3 KV ist die Enteignung nur zum Wohle der Allgemeinheit bzw. bei Gemeinnützigkeit zulässig. Das EgSG zählt die Arten der Vorhabens zur Verwirklichung öffentlicher Interessen auf (§ 4 EgSG), nämlich z. B. 1. Vorhaben über Verteidigung und Wehrtechnik, 2. im öffentlichen Interesse durchzuführende Infrastrukturvorhaben, die einer Genehmigung, Erlaubnis, Anerkennung oder Festsetzung nach dem betreffenden Fachgesetz bedürfen, , wie z. B. Eisenbahnen, Straßen, Flughäfen, Häfen, Parkplätze, Frachtterminals, Flüsse, Dämme, Kanäle, Seen usw., 3. Vorhaben für öffentliche Einrichtungen, die vom Staat und den Selbstverwaltungskörperschaften zu errichten sind, 4. die eine Genehmigung, Erlaubnis, Anerkennung oder Festsetzung nach den betreffenden Gesetzen erfordernden, im öffentlichen Interesse durchzuführenden kulturellen und Bildungsvorhaben, z. B. das Bauen von Schulen, Bibliotheken, Museen und Kunsthallen, 5. Vorhaben über den Bau von Eigentumswohnungen und die Errichtung von Baugrundstücken, welche der Staat, die Selbstverwaltungskörperschaften, öffentliche Unternehmer kommunale öffentliche Unternehmer oder ein vom Staat und Selbstverwaltungskörperschaften bestimmter Beauftragter zwecks der Vermietung oder Veräußerung durchzuführen haben,
9 Gongiksäupeuluihan tojideungui chidok mid bosange kwanhan bopryul (Gesetz über die Erwerbung des Grundstücks für die öffentlichen Vorhaben und über die Entschädigung) vom 4. Feb. 2002 (Gesetz Nr. 6656, zul. geändert am 14. Jan. 2005(Gesetz Nr. 7335).
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6. Vorhaben, für die nach anderen Gesetzen die Enteignung oder Benutzung vorgeschrieben ist. Aber das EgSG lässt auch zu, dass ein Sondergesetz Vorhaben zur Verwirklichung öffentlicher Interessen vorschreiben kann. Einige Sondergesetze, die die Enteignung zugunsten der Privaten vorsehen, schreiben solche Vorhaben vor. Sondergesetzlich vorgesehene Vorhaben, wie z. B. die Warenverkehr-Standort Entwicklungsvorhaben nach §15 Abs. 1 GüES, räumliche Entwicklungsvorhaben nach § 19 Abs. 1 GüEF, Städteentwicklungsvorhaben nach § 21 Abs. 1 GüSE, Entwicklungsvorhaben nach § 10 Abs. 1 GzGS, Städtesanierungsvorhaben nach §38 GüSW erfüllen die Voraussetzung der Gemeinnützigkeit eines Vorhabens zur Enteignung nach Art. 23 Abs. 3 KV. Vorhaben zur Wahrnehmung öffentlicher Interessen können sowohl der Staat und die öffentlichen Institutionen als auch Private vornehmen. Dabei spielt es keine große Rolle, ob der Vorhabensträger öffentlich ist oder nicht. Vielmehr ist nach Inhalt und Charakter des jeweiligen Vorhabens zu entscheiden10. Nach dieser Lehrmeinung und der Rechtsprechung ist es zu bejahen, dass das Enteignungsrecht nicht beim Staat monopolisiert ist. b) Staatliche Anerkennung eines Vorhabens als Vorhaben im öffentlichen Interesse Nach § 19 Abs. 2 EgSG muss ein Vorhaben als Vorhaben im öffentlichen Interesse vom Bauminister anerkannt werden, wenn der Vorhabensträger die Grundstücke nutzen oder das Eigentum an ihnen erlangen will. Diese staatliche Anerkennung eines Vorhabens als Vorhaben im öffentlichen Interesse verleiht dem Vorhabensträger das Enteignungsrecht, wobei die Anerkennung rechtlich als Verwaltungsakt zu qualifizieren ist. Es genügt zur Begründung eines Enteignungsrechts also nicht, dass ein Vorhaben als ein solches im Sinne des § 4 EgSG zu qualifizieren ist. Vielmehr wird zusätzlich vorausgesetzt, dass in einem staatlichen Anerkennungsverfahren festgestellt worden ist, ob das Vorhaben dem Wohle der Allgemeinheit dient. Wenn der Bauminister das Vorhaben als ein Vorhaben im öffentlichen Interessen anerkennen will, muss er zuvor mit dem betreffenden Minister und Provinzchef das Einvernehmen herstellen und nach den Bestimmungen der Präsidial-Verordnung vorher den Zentralausschuss für die Enteignung und die Betroffenen anhören (§ 21 EgSG).
10 Vgl. Jong Hyun Seok, Bes. Verwaltungsrecht, S. 614 f.; ders., Rechtsdogmatik der Entschädigung, 2005, S. 307 f.; KHG, Urteil vom 22. 9. 1970 70 Nu 81; vom 22.10. 71 Da 1716.
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IV. Ausnahmeregelung zur Enteignung des Vorhabensträgers zugunsten Privater 1. Vorbemerkung Bei Privaten handelt sich nicht um behörderliche Vorhabensträger. Behördliche Vorhabensträger sind der Staat, die Provinzen und die Städte, welche den örtlichen Gebietskörperschaften angehören. Diese gelten als öffentliche Vorhabensträger im engeren Sinne. Öffentliche Vorhabensträger im weiteren Sinne sind auch die öffentlichen Unternehmer, welche die Aufgabe des Staates bei der räumlichen Entwicklung oder beim Strassenbau, der Wohnflächen-Entwicklung oder dem Wohnungsbau dominierend übernommen haben. Der Unternehmer kann auch Vorhabensträger werden, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist und wenn die Behörde den Unternehmer als Vorhabensträger festgesetzt hat. Die Sondergesetze für die Enteignung zugunsten der Privaten sind in drei Typen einzuteilen, in diejenigen Fälle, in denen 1. die Enteignung unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, 2. die Enteignung ohne bestimmte Voraussetzungen zulässig ist, 3. die Enteignung unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, während der Unternehmer eine dominierende Rolle spielt.
2. Typ I der Sondergesetze für die Enteignung zugunsten der Privaten Ein Privater, z. B. ein Unternehmer, kann erst dann als Vorhabensträger im öffentlichen Interesse tätig sein, wenn es sondergesetzlich vorgeschrieben ist. Diesen Fall sehen einige Gesetze vor. Diese Gesetze enthalten eine Ausnahme vom Anerkennungsverfahren nach § 20 Abs. 1 EgSG, wobei der Genehmigung eines Vorhabens nach dem jeweiligen Gesetz Konzentrationswirkung zukommt. Nach § 10 Abs. 2 Nr. 5 des Gesetzes über die Entwicklungen von Standorten im Warenverkehr11 (GüES) können die nach dem Zivilgesetz oder Handelsrecht gegründeten Gesellschaften Träger für die Warenverkehr-Standort-Entwicklungsvorhaben werden, wenn sie als Träger vom Bauminister bestimmt worden sind. Der Bauminister soll einen Gesamtplan über Warenverkehr-Standortentwicklung im Rahmen des Landesgesamtplans nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 Landesplanungsrahmengesetz12 aufstellen. Der Träger soll den Durchführungsplan über die Warenverkehr-Standortentwicklung nach den Bestimmungen der Präsidial-Verordnung aufstellen und die Billigung des Bauministers einholen. Diese Billigung entfaltet Konzentrationswirkung für Erlaub11 Youtongdanji gäbalchojinbop vom 29. Dez. 1995 (Gesetz Nr. 5105), zuletzt geändert am 14. Jan. 2005 (Gesetz Nr. 7335). 12 Guktogibonbop i.d. F. vom 4. Feb. 2002 (Gesetz Nr. 6654).
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nisse, Billigungen, Genehmigungen, Konzessionen, Zustimmungen, Befreiungen oder sonstige Verwaltungsakte, die nach dem jeweiligen Gesetz vorgeschrieben sind (§ 13 Abs. 1 GüES). Der Vorhabensträger nach § 10 Abs. 2 Nr. 5 GüES kann erst dann die Grundstücke und die Gebäude enteignen oder benutzen, wenn er die Flächen des Vorhabensgebiets zu zwei Dritteln bereits erworben hat. Für die übrigen Flächen kann die private Gesellschaft als Vorhabensträger das Enteignungsrecht ausüben (§ 15 Abs. 1 GüES). Die gleichen Voraussetzungen für eine Enteignung zugunsten Privater wie 15 Abs. 1 GüES schreiben weitere Gesetze vor, nämlich das Gesetz über räumlich harmonisierte Entwicklungen und zur Förderung von kleinen Unternehmen im örtlichen Gebiet (GüEF)13, das Gesetz über die Städteentwicklungen (GüSE)14, das Förderungsgesetz zur Gestaltung der örtlichen kleinen Städte (GzGS)15 und das Gesetz über Städte- und Wohnumweltsanierung (GüSW)16. 3. Typ II der Sondergesetze für die Enteignung zugunsten der Privaten Nach Typ I ist die Enteignung zugunsten des Unternehmers zulässig, wenn der Unternehmer als Vorhabensträger die Grundstücke des Vorhabengebiets zu zwei Dritteln bereits erworben hat und danach die übrigen Grundstücke enteignet. Aber das Gesetz über industrielle Standorte und deren Entwicklungen17 (GüSE) und das Gesetz über die Festsetzung und die Direktion der Wirtschaftsfreigebiete (GwfG)18 lässt dies auch ohne solche Voraussetzungen zu. Also hat der Unternehmer das Enteignungsrecht wie ein öffentlicher Vorhabensträger ohne besondere Voraussetzungen. Daher tauchte die Frage auf, ob das GüSE verfassungswidrig wäre. Ein vom Verfasser erstelltes Rechtsgutachten kommt zu dem Ergebnis, dass die Bestimmungen der § 15 und § 16 GüES verfassungsgemäß sind. Denn Art. 23 KV schreibt die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Enteignung vor. Diese sind die Zielsetzung zum Wohle der Allgemeinheit (Gemeinnützigkeit) und eine gesetzliche Grundlage. Damit ist entscheidend, ob die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind oder nicht. Dabei
13 Jiyeoggunhyunggäbal mid jibangjungsogieup rugseongekwanhan bopryul vom 7. Jan. 1994 (Gesetz Nr. 4722), zuletzt geändert am 16. Jan. 2004 (Gesetz Nr. 7061). 14 Dosigäbalbop vom 28. Jan. 2000 (Gesetz Nr. 6242), zuletzt geändert am14. Jan. 2005 (Gesetz Nr. 7335). 15 Jibangsodöup rukseongjiwonbop vom 8. Jan. 2001(Gesetz Nr. 6341), zuletzt geändert am 29. Mai 2003 (Gesetz Nr. 6916). 16 Dosi mid jugeohwankyeong jungbibop vom 30. Dez. 2003 (Gesetz Nr. 6852), zuletzt geändert am 14. Jan. 2005 (Gesetz Nr. 7335). 17 Saneobibji mid gäbalekwanhan bopryul vom 13. Jan. 1990 (Gesetz Nr. 4216), zuletzt geändert am 30. Dez. 2002 (Gesetz Nr. 6842). 18 Kyeongjä jayougu ryugui jijong mid unyoungekwanhan bopryul vom 30. Dez. 2002 (Gesetz Nr. 6835), zuletzt geändert am 27. Jan. 2005 (Gesetz Nr. 7349).
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spielt es keine große Rolle, ob der Enteigner öffentlich oder privat tätig ist, wobei auf diese Frage in anderem Zusammenhang noch einzugehen sein wird. Das Ziel des GüSE ist es, die ausreichende Versorgung der industriellen Standorte zu sichern und zu einer gerechten Verteilung der Industrie mit der Zielsetzung der harmonisierten Landesentwicklung und fortdauernden Industriefortentwicklungen zur Entwicklung der Volkswirtschaft beizutragen. Das GüSE schreibt die Festsetzung und die Entwicklungsvorhaben der Industrie-Siedlungsgelände19 vor. Diese Entwicklungsvorhaben sind ( § 2 Nr. 6 GüSE)zur Gestaltung von Industrie-Siedlungsgelände durchzuführen, wie z. B. das Vorhaben zum Geländebau von Fabrikanlagen, Einrichtungen der Wissensindustrie, Einrichtungen der Kulturindustrie, Einrichtungen zur Informationskommunikation, Einrichtungen zur Reichtümerverlagerung. Da die Industrie von Unternehmern betrieben wird, sollten die Unternehmen großes Interesse an diesem Siedlungsgelände haben. Im Prinzip wird diese Siedlungsgelände vom Staat, örtlichen Gebietskörperschaften und kommunalen-öffentlichen Unternehmern entwickelt. Ein Privater, nämlich ein einzelner Unternehmer, welcher dem Entwicklungsplan des Industrie-Siedlungsgeländes entsprechende Anlagen bauen will und auf dem Gelände ansiedeln will, kann auch Träger des Entwicklungsvorhabens im Industrie-Siedlungsgelände werden, wenn der Durchführungsplan vom jeweiligen Minister bewilligt worden ist. Die öffentlichen und privaten Vorhabensträger des Entwicklungsplanes können das Enteignungsrecht ausüben (§ 22 Abs. 1 GüSE). Im Jahr 2002 wurde in Korea ein System von Wirtschaftsfreigebieten eingeführt, um die Betriebsumwelt der ausländischen investierenden Unternehmer und die Lebensumwelt der Ausländer20 zu verbessern (§ 1 GwfG). Das Wirtschaftsfreigebiet wird vom Finanz- und Wirtschaftsminister aufgrund der Anforderung des Oberbürgermeister der Hauptstadt Seoul, der selbständigen Großumlandsstädte und der Provinzchefs (im Folgenden als Provinzchefs abgekürzt) festgesetzt (§ 4 Abs. 1 GwfG). Bei der Anforderung der Festsetzung von Wirtschaftsfreigebieten sollen die Provinzchefs den Entwicklungsplan zum Wirtschaftsfreigebiet vorlegen (§ 4 Abs. 2 GwfG). Der Entwicklungsplan muss Titel, Standort und Flächen des Freigebiets, die Notwendigkeit der Festsetzung, die Träger der vorgesehenen Entwicklungsvorhaben usw. enthalten (§ 6 GwfG). Nach der Festsetzung sollen die Träger der Entwicklungsvorhaben innerhalb von 2 Jahren nach der Bekanntmachung der Festsetzung die Bewilligung des Finanz- und Wirtschaftsministers einholen (§ 9 Abs.1 GwfG). Nach der 19 Diese Gelände unterteilt sich in drei Arten, nämlich Industrie-Siedlungsgelände des Staates, welches vom Bauminister festzusetzen ist, kommunale Industrie-Siedlungsgelände, welche die vom Oberbürgermeister bzw. Provinzchef festzusetzen ist, und in den Städten Spitzen-Industriesiedlungsgelände, welche vom Oberbürgermeister festzusetzen sind (§§ 6, 7, 7 – 2 GüSE). 20 Ausländer sind einzelne Personen, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, und Gesellschaften, die aufgrund der Gesetze des jeweiligen Landes gegründet worden sind, und die zusammenarbeitenden Institutionen im Rahmen der Weltwirtschaft (§ 2 Nr. 1 Förderungsgesetz für die Investition der Ausländer vom 16. Sep. 1988 (Gesetz Nr. 5559), zul. geändert am 31. 12. 2003 (Gesetz Nr. 7039).
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Bewilligung kann der Träger des Entwicklungsvorhabens die Vorhaben durchführen. Wenn es der Träger bei der Durchführung für notwendig hält, kann er die Grundstücke, Gebäude und die insoweit bestehenden Rechte enteignen oder benutzen (§ 13 Abs. 1 GwfG). Also hat der Träger das Enteignungsrecht. 4. Typ III der Sondergesetze für die Enteignung zugunsten der Privaten Zum Typ III gehört das Sondergesetz über die Entwicklung der Unternehmerstädte (UntStG). Das UntStG räumt dem Unternehmer das Enteignungsrecht unter ähnlichen Voraussetzungen wie bei Sondergesetzen nach Typ I ein. Während jedoch bei Typ I der Unternehmer zuerst die Grundstücksflächen des Vorhabensgebiets zu zwei Dritteln erwerben muss, ist bei Typ III lediglich der Erwerb von 50 % der Grundstücke erforderlich(§ 14 Abs. 4 UntStG). Das Enteignungsrecht kann der Unternehmer bei Typ I und Typ III für die übrigen Flächen ausüben. Es gibt somit einen unterschiedlichen Prozentsatz zwischen Typ I und Typ III (vgl. § 14 Abs.1 UntStG; § 15 Abs. 1 GüES). Das UntStG gilt als ein Sondergesetz im Hinblick auf die Enteignungsvoraussetzungen nach dem allgemeinen Enteignungs-und Entschädigungsgesetz, wobei dieses die Gemeinnützigkeit eines Vorhabens und die staatliche Anerkennung eines Vorhabens durch das Anerkennungsverfahren für die Enteignung vorschreibt. Diese Sonderregelung hängt mit der Festsetzung eines Entwicklungsgebiets für die Unternehmerstadt und der Genehmigung zum Durchführungsplan der Entwicklungsplanung einer Unternehmerstadt zusammen. Allerdings tauchte auch die Frage auf, ob die Enteignung zugunsten der Wirtschaftsunternehmer nach dem § 14 UntStG verfassungswidrig oder verfassungsgemäß ist. Zu dieser Frage habe ich ein Rechtsgutachten21 im Auftrag des Bauministers erarbeitet und bin darin zum Ergebnis gekommen, dass das UntStG nicht verfassungswidrig ist. Wie oben bereits erwähnt, ist nach Art. 23 Abs. 3 KV die Enteignung abhängig davon, dass das Vorhaben überhaupt die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt, nämlich die Zielsetzung zum Wohle der Allgemeinheit (Gemeinnützigkeit) und eine gesetzliche Grundlage, wobei ich auf diese Frage in anderem Zusammenhang noch eingehen möchte. a) Entwicklungsgebiet der Unternehmerstadt aa) Vorschlag zur Festsetzung als Entwicklungsgebiet Ein Privatunternehmer kann zusammen mit dem betreffenden Bürgermeister der selbständigen Großumlandstadt und dem Bürgermeister der Städte (Si) und dem Be-
21 Rechtsgutachten über das Enteignungsrecht nach der Entwicklung der Unternehmerstadt, bearbeitet von Jong Hyun Seok im Auftrag der Korea Public Land Law Association, Dez. 2004.
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zirkchef (Gunsu) (im folgenden Sijang und Gunsu22 abgekürzt) dem Bauminister die Festsetzung eines Entwicklungsgebiets der Unternehmerstadt vorschlagen (§ 4 Abs.1 S. 1 UntStG). Ein Privatunternehmer kann auch zusammen mit dem Provinzchef einen solchen Vorschlag unterbreiten, wenn bei der Abstimmung im Hinblick auf den gemeinsamen Vorschlag mit Sijang und Gunsu eine erhebliche Verzögerung zu befürchten ist oder wenn das Unternehmen zusammen mit dem Provinzchef das Entwicklungsvorhaben durchführen will (§ 4 Abs.1 Satz 2 UntStG). Bei diesem Vorschlag muss der Unternehmer bestimmte Dokumente, z. B. Titel, Standort und Flächengröße des Entwicklungsgebiets, Grundcharakter der Unternehmerstadt und die Grundausrichtung der Entwicklung, den Entwicklungsplan der Unternehmerstadt, die finanzielle Lage der vorschlagenden Stellen, Angaben über die benötigten Flächen und die Zeichnungs-Karte vorlegen (§ 4 Abs. 2 UntStG). bb) Festsetzung des Bauministers Der Bauminister kann das Entwicklungsgebiet gemäß dem Vorschlag nach § 4 UntStG festsetzen. Dabei soll der Bauminister die Meinung der Kwangyeogsijang oder der Provinzchefs hören und sich mit dem betreffenden Minister über die Festsetzung abstimmen. Danach muss diese vom Zentral-Ausschuss für die Städteplanung nach § 106 Landesplanungs- und Bodennutzungsgesetz und vom Ausschuss für die Unternehmerstadt nach § 39 UntStG beraten werden (§ 5 Abs. 1 UntStG). Wenn der Bauminister das Entwicklungsgebiet nach § 5 Abs. 1 UntStG festsetzen oder ändern will, soll er die Meinung der Bürger und Fachkundigen hören und eine öffentliche Anhörung durchführen (§ 5 Abs. 2 UntStG). Dieses Anhörungsverfahren kann entfallen, wenn die Sijang und Gunsu bereits die Meinung der Bürger und der Fachkundigen eingeholt oder die öffentliche Anhörung durchgeführt haben (§ 5 Abs. 4 UntStG). Der Bauminister soll die Festsetzung oder Änderung des Entwicklungsgebiets im Amtsblatt bekannt machen (§ 5 Abs. 5 UntStG). b) Rechtswirkung der Festsetzung Für die baulichen Maßnahmen im festgesetzten Entwicklungsgebiet sind die Erlaubnisse der Sijang und Gunsu einzuholen (§ 9 Abs. 1 UntStG). Die baulichen Maßnahmen, die nach den Bestimmungen der betreffenden Gesetze bereits genehmigt , jedoch noch nicht vollständig ausgeführt worden sind, sollen dem Sijang und Gunsu gemeldet werden (§ 9 Abs. 2 UntStG). Nach dieser Meldung sollen die Sijang und Gunsu innerhalb von 15 Tagen die Stellungnahme des Vorhabensträgers der Unternehmerstadtentwicklung einholen und danach die Genehmigung aufgrund der betreffenden Gesetze aufheben oder einen Baueinstellungsbefehl verfügen. Sijang und
22 Die Selbstverwaltungskörperschaften in Korea unterteilen sich in die Hauptstadt Seoul (Teogbyulsi), die selbständige Großumlandstadt (Kwangyeogsi), die Provinzen (Do), die Städte (Si), Gu und die Bezirke (Gun).
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Gunsu können jedoch auch die Genehmigungsbehörde zur Aufhebung der Genehmigung oder zum Erlass einer Baueinstellungsverfügung auffordern. c) Festsetzung des Vorhabensträgers Der Bauminister hat den Privatunternehmer als Vorhabensträger des Entwicklungsplans, der die Festsetzung eines Entwicklungsgebiets nach § 4 Abs. 1 UntStG vorgeschlagen hat, festzusetzen (§ 10 Abs. 1 UntStG). Der Bauminister kann auch einen gemeinsamen Vorhabensträger festsetzen, wenn die Unternehmer oder staatliche Institute oder Selbstverwaltungskörperschaften, das von der Regierung investierte Institut, kommunale öffentliche Unternehmer usw. nach der Abstimmung mit dem vom Bauminister festgesetzten Unternehmensvorhabensträger nach § 10 Abs. 1 UntStG die Entwicklungsvorhaben gemeinsam durchführen wollen und dies beim Bauminister beantragt worden ist (§ 10 Abs. 2 UntStG). Der Unternehmer, der nach § 10 Abs. 1 UntStG als Vorhabensträger vom Bauminister festgesetzt werden möchte, soll vor der Festsetzung das Eigenkapital und Investitionskapital für 20 % der Entwicklungskosten hinsichtlich der Baukosten bereitstellen(§ 10 Abs. 1 UntStG). c) Billigung des Entwicklungsplans Jemand, der die Festsetzung eines Entwicklungsgebiets nach § 4 UntStG vorschlägt, soll den Unternehmerstadt-Entwicklungsplan aufstellen und danach die Billigung des Bauministers einholen. Dies gilt auch für die Änderung des Entwicklungsplans (§ 10 Abs. 1 UntStG). Der Entwicklungsplan soll folgende Gegenstände beinhalten, nämlich 1. Titel, Standort, Gesamtflächen und Vorhabensträger, 2. die Zeitdauer des Entwicklungsvorhabens, 3. Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung sowie zur Bodennutzung, zum Verkehr und zum Umweltschutz, 4. die Finanzierungsplanung und den jährlichen Investitionsplan, 5. den Errichtungsplan über Einrichtungen der Erziehung, der Kultur, des Sports, der Gesundheit, der Medizin sowie hinsichtlich der der Wohlfahrt dienenden Einrichtungen, 6. Verkehrswege, Wasser- und Abwasserleitungen usw. sowie den Errichtungsplan für die sozialen infrastrukturellen Einrichtungen, a) den Kostenplan über die Errichtungskosten von indirekt betroffenen Einrichtungen außerhalb des Entwicklungsgebiets sowie die Kosten der öffentlichen Zwecken dienenden Einrichtungen innerhalb des Entwicklungsgebiets,
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b) die Errichtung und die Verlegung der unternehmerischen Gebäude und die einziehenden Einrichtungen, c) Versorgung und Verkauf der entwickelten Grundstücke und gemeinsamer Häuser, d) die Einzelheiten über den Gegenstand der Enteignung oder der Benutzungen, e) den Entschädigungsplan (einschließlich der Siedlungsmaßnahmen). Bei der Billigung des Entwicklungsplans soll der Bauminister die Meinung der Kwangyeogsijang oder der Provinzchefs einholen und sich mit dem betreffenden Minister über die Festsetzung abstimmen. Danach muss diese vom Zentral-Ausschuss für die Städteplanung nach § 106 Landesplanungs- und Bodennutzungsgesetz und dem Ausschuss für die Unternehmerstadt nach § 39 UntStG beraten werden (§ 10 Abs. 1 i. V. mit § 5 Abs. 1 UntStG). Wenn der Bauminister den Entwicklungsplan gebilligt hat, dann ist dies im Amtsblatt nach Maßgabe der Präsidial-Verordnung bekanntzumachen (§ 11 Abs. 4 UntStG). Diese Bekanntmachung erfasst etwa auch die Billigung des Bauministers über die Aufstellung oder Änderung des Städtegrundplans nach § 18 LpBG und § 22 LpBG, die Entscheidung der Städteleitplanung nach § 30 LpBG und die Gebietsänderung zum Stadtgebiet nach § 6 Nr. 1 LpBG. 5. Billigung des Durchführungsplans a) Billigungsverfahren Der Träger des Entwicklungsvorhabens nach § 10 Abs. 1, Abs. 2 UntStG soll den Durchführungsplan des Entwicklungsvorhabens aufstellen und die Billigung des Bauministers einholen (§ 12 Abs. 1 UntStG). Dabei sollen folgende Unterlagenbeigefügt werden: 1. Dokument zum Kostplan, 2. die Standortkarte und die Katasterkarte der Vorhabensflächen, 3. die Flächenkarte und die Skizze-Entwurfkarte, 4. der stufenweise Bauplan (wenn es notwendig ist), 5. die mit den betreffenden Sijang und Gunsu abgeschlossenen Vertragsdokumente über die Durchführung des Entwicklungsvorhabens, 6. der Verkaufsplan über die entwickelten Grundstücke. Wenn der Bauminister den Durchführungsplan oder den Änderungsplan billigen will, soll er die Meinung der betreffenden Provinzchefs und Sijang bzw. Gunsu einholen und sich vom Ausschuss für die Unternehmerstädte beraten lassen (§ 12 Abs. 3 UntStG). Danach soll der Bauminister die Billigung im Amtsblatt bekannt machen und dem Vorhabensträger und den betreffenden Sijang bzw. Gunsu eine Abschrift
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der betreffenden Dokumente zuschicken. Sijang bzw. Gunsu sollen die Inhalte der Dokumente öffentlich auslegen (§ 12 Abs. 4 UntStG). b) Die Rechtswirkung der Billigung Wenn sich der Bauminister bei der Billigung des Durchführungsplanes nach § 12 Abs. 1 UntStG mit der betreffenden Verwaltungsbehörde über den Durchführungsplan hinsichtlich der Erlaubnis, der Genehmigung, der Festsetzung, der Abstimmung und der Anmeldung nach den jeweiligen Gesetzen abgestimmt hat, dann werden diese von der Billigung des Bauministers ersetzt (§ 12 Abs. 4 UntStG). Insoweit hat die Billigung des Bauministers Konzentrationswirkung. 6. Würdigung Aus der obigen Darstellung ergibt sich, dass die gesetzlichen Grundlagen für die Enteignung zugunsten der Privaten hinsichtlich der Enteignungsvoraussetzungen verschiedene Anforderungen stellen. Die Frage der Verfassungswidrigkeit tauchte im Zusammenhang mit den Sondergesetzen des Typ II und des Typ III auf. Denn die Gesetze GüSE und GwfG nach Typ II gewähren dem Unternehmer das Enteignungsrecht ohne einschränkende Voraussetzungen, und das UntStG nach Typ III lässt eine dominierende Rolle des Unternehmers bei der Entwicklung der Unternehmerstädte zu und gewährt dem Unternehmer das Enteignungsrecht unter günstigeren Voraussetzungen (nämlich 50 % der Vorhabensflächen) im Vergleich zu den Sondergesetzen nach Typ I (nämlich zwei Drittel der Vorhabensflächen). Das koreanische Rechtssystem über die Enteignung zugunsten der Privaten, das ich anhand des UntStG dargestellt habe, schreibt verfahrensrechtliche Voraussetzungen vor. Jedes Sondergesetz enthält eine Ausnahmebestimmung gegenüber EgSG. Danach schreibt das Sondergesetz verfahrensrechtlich folgende Schritte vor: die Festsetzung des Vorhabensgebiets, dann die Aufstellung des Entwicklungsplans und die behördliche Billigung des Entwicklungsplans, danach die Aufstellung des Durchführungsplans von Entwicklungsvorhaben und dazu die behördliche Billigung, die Konzentrationswirkung der Billigung. Aus diesem System ergibt sich, dass die Enteignung zugunsten der Privaten voraussetzt, dass der Vorhabensträger für die vom Bauminister gebilligten Vorhaben im Bereich der bereits festgesetzten Vorhabensgebiete zu enteignen ist. V. Die Lehrmeinung zur Frage der Enteignung zugunsten der Privaten In der koreanischen Verwaltungsrechtsliteratur23 wird die Meinung vertreten, dass eine Enteignung zugunsten der Privaten als zulässig angesehen werden sollte. Da eine 23
Vgl. Jong Hyun Seok, Rechtsdogmatik der Entschädigungen, 2005, S. 232 f.
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Enteignung – wie in Deutschland – nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist (Art. 23 Abs. 3 KV), begründet man die Dogmatik von der Enteignung zugunsten der Privaten damit, dass der Begriff des Allgemeinwohls nach der Veränderung der sozialen-wirtschaftlichen Gegebenheiten zu erweitern sein sollte. Bisher verneint man24 die Allgemeinwohlausrichtung des jeweiligen Vorhabens, wenn ein Vorhaben nur erwerblichen oder geschäftlichen Zwecken dient oder wenn ein Vorhaben die Begünstigung von bestimmten Personen betrifft, und das Vorhaben sich mit dem sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Leben nicht im direkten Zusammenhang befindet und wenn der Vorhabensträger die enteigneten Grundstück nicht zum Eigenbedarf benutzt. Wenn man den erweiterten Begriff des Allgemeinwohls zugrunde legt, ist für die Zulässigkeit der Enteignung nicht entscheidend, ob sie zugunsten eines Privaten oder eines Trägers öffentlicher Verwaltung erfolgt. Nach Art. 23 Abs. 3 KV kommt es allein darauf an, ob das mit der Enteignung zu verwirklichende Vorhaben dem Wohl der Allgemeinheit dient25. Da sich Gewinnorientierung und Gemeinnützigkeit nicht von vornherein ausschließen, kann grundsätzlich zugunsten eines Privatunternehmens enteignet werden. Bei der Begründung der Enteignung zugunsten eines Privatunternehmens wird in der koreanischen Literatur26 auf die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, wobei das Bundesverfassungsgericht bislang vor allem private Vorhaben aus dem Bereich der Daseinsvorsorge als allgemeinwohldienlich eingestuft hat27. Wenn bereits der Geschäftsgegenstand des Unternehmens dem allgemein anerkannten Bereich der Daseinsvorsorge zuzuordnen ist, genügt es nach Ansicht der Bundesverfassungsgerichts zur dauerhaften Sicherung der Allgemeinwohldienlichkeit, wenn hinreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass die öffentliche Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt wird28. In der koreanischen Literatur wird auch auf die Boxberg-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen, das Enteignungen zugunsten privater Unternehmen selbst dann für möglich hält, wenn von dem Vorhaben mittelbar positive Effekte für das Allgemeinwohl – z. B. durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur – ausgehen29.
24
Vgl. Yun Heun Park, Verwaltungsrecht II, 2004, S. 592; Jong Hyun Seok, Bes. Verwaltungsrecht, 2005, S. 607 f. 25 Hierzu vgl. BVerfGE 74, 264, 285. 26 Vgl. Sung Soo Kim, Allg. Verwaltungsrecht, 2004, S. 412 ff.; Jong Hyun Seok, Rechtsdogmatik der Entschädigung, 2005, S. 233 ff.; ders., Bes. Verwaltungsrecht, 2005, S. 608 ff.; Nam Jin Kim, Allg. Verwaltungsrecht, 2000, S. 610 f. 27 BVerfGE 66, 248, zur Enteignung für Zwecke der öffentlichen Energieversorgung auch zugunsten privatrechtlich organisierter Energieversorgungsunternehmen; BVerfG DVBl 1999, 701 zur Enteignung zur Errichtung einer Waldorfschule durch einen privaten Verein. 28 BVerfGE 74, 264, 286. 29 BVerfGE 74, 264.
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VI. Schlusswort Wie oben dargestellt, lässt das koreanische Rechtssystem die Enteignung zugunsten Privater zu, und die Lehrmeinung hält dies auch für verfassungsgemäß. Hierzu sehen die Sondergesetze unterschiedliche Voraussetzungen für die Enteignung zugunsten Privater vor, wobei ich drei Typen unterschieden habe. Zur Frage, ob die sondergesetzlichen Bestimmungen über die Enteignung zugunsten der Privaten verfassungswidrig sind oder nicht, gibt es noch keine Rechtsprechung des OGH und koreanischen Verfassungsgerichts. Wie sich die Rechtsprechung über diese verfassungsrechtlichen Fragen in der Zukunft entwickeln wird, kann ich hier nicht sagen, sondern bleibt abzuwarten.
Das Merkmal der Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO Von Helge Sodan I. Einleitung § 40 Abs. 1 VwGO bestimmt im Wege einer Generalklausel und vorbehaltlich gesonderter gesetzlicher Rechtswegzuweisungen, dass der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten gegeben ist, sofern die Streitigkeiten „nichtverfassungsrechtlicher Art“ sind. Auch wenn es aufgrund der vermeintlich zentralen Begrifflichkeit erstaunen mag: Welche Streitigkeiten als „verfassungsrechtliche“ aus der prinzipiellen Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte ausgeschlossen sind, muss auch heute noch zu den nicht abschließend geklärten Fragen des Verwaltungsprozessrechts gezählt werden. Im Vergleich zu der in der Rechtspraxis deutlich häufiger notwendigen Abgrenzung zwischen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten im Sinne des § 40 VwGO und privatrechtlichen ist die genauere Durchdringung der Problematik „(nicht)verfassungsrechtliche Streitigkeiten“ sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung eher vereinzelt geblieben. Umso mehr darf es zu einem der vielen Verdienste von Wolf-Rüdiger Schenke gezählt werden, sich mit den damit verbundenen Fragen in einer besonderen rechtswissenschaftlichen Tiefe befasst zu haben. Bereits in seiner 1979 veröffentlichten Habilitationsschrift „Rechtsschutz bei normativem Unrecht“ legte Schenke unter kritischer Betrachtung der bis dahin vorherrschenden (und zumeist auch heute noch vertretenen) Sichtweisen den Grundstein für seine eigene Auffassung zum Bedeutungsgehalt des Merkmals der (nicht)verfassungsrechtlichen Streitigkeiten1, verfeinerte diese Position insbesondere in seinem 1993 erstmals erschienenen, mittlerweile in der 12. Auflage (2009) vorgelegten Lehrbuch zum Verwaltungsprozessrecht2 und beschäftigte sich mit diesem Thema auch in anderen Publikationen in besonderer Weise3. Der folgende Beitrag wird sich daher dem in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO aufgestellten Merkmal der Streitigkeit (nicht)verfassungsrechtlicher Art widmen und dabei ein besonderes Augenmerk auf die von Schenke vertretene Position legen.
1
W.-R. Schenke, Rechtsschutz gegen normatives Unrecht, 1979, S. 264 ff., 334 ff. W.-R. Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 129 ff. 3 Zentral zuletzt etwa in folgendem Aufsatz: Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art im Sinne des § 40 VwGO, AöR 2006 (131), 117 ff. 2
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II. Allgemeines zum Merkmal der nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeit Eine eigenständige Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelte sich in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So errichtete das Großherzogtum Baden im Jahre 1864 als erstes deutsches Land einen Verwaltungsgerichtshof als unabhängiges, von den Verwaltungsbehörden getrenntes Gericht, das in zweiter und letzter Instanz in bestimmten Streitigkeiten über öffentliches Recht nach mündlicher, öffentlicher Verhandlung zu entscheiden hatte4. Die Zuständigkeiten dieser in der Folgezeit auch in anderen Ländern etablierten Verwaltungsgerichte waren jedoch noch nicht im Wege einer auf allgemeine Kriterien abstellenden Generalklausel wie der des § 40 VwGO geregelt, sondern durch das Enumerationsprinzip.5 Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden sich dann erstmals generalklauselartige Rechtswegeröffnungen zu den Verwaltungsgerichten, wie etwa in der 1948 für die britische Zone verabschiedeten Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 1656, deren § 22 Abs. 1 den Verwaltungsrechtsweg für „Streitigkeiten des öffentlichen Rechts mit Ausnahme von Verfassungsstreitigkeiten“ eröffnete. Mit der am 21. 1. 1960 verkündeten Verwaltungsgerichtsordnung7 wurde diese Absage an das Enumerationsprinzip dann auch bundeseinheitlich in Gestalt des § 40 VwGO eingeführt. Durch die generalklauselartige Rechtswegeröffnung hinsichtlich öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten sollte nicht zuletzt der Vorgabe des Art. 19 Abs. 4 GG entsprochen werden, der den Rechtsweg gegen Rechtsverletzungen durch „die öffentliche Gewalt“ vorsieht. Dieser eine subsidiäre Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte enthaltende Auftrag ist durch § 40 VwGO somit – vorbehaltlich abweichender Sonderzuweisungen an andere Gerichte – den Verwaltungsgerichten als auf die Überprüfung von öffentlichem Recht „spezialisierten“ Spruchkörpern zugewiesen. Die Herausnahme von verfassungsrechtlichen Streitigkeiten aus der Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte wird in der Entwurfsbegründung zu § 40 VwGO (in der Entwurfsfassung noch § 38) lediglich mit dem kurzen Hinweis begründet, dass „Verfassungsstreitigkeiten […] meist besonderen Gerichten (Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgericht oder Staatsgerichtshof der Länder) übertragen“ seien8. Was genau als Verfassungsstreitigkeit in diesem Sinne zu gelten hat, wird in der Entwurfsbegründung jedoch nicht näher erläutert. Einigkeit innerhalb der verschiedenen Ansätze, die in Rechtsprechung und Schrifttum hierzu in der Folgezeit entwickelt wurden, besteht vor allem hinsichtlich der Funktion, die dem Merkmal der nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeit in § 40 4
s. näher Kronisch, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 1 Rn. 5. s. zu Beispielen Sodan, in ders./Ziekow, VwGO, Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 40 Rn. 34 Fußn. 30. 6 VOBl. für die britische Zone, S. 263. 7 BGBl. I S. 17. 8 BT-Drucks. III/55, S. 30 (zu § 38). 5
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Abs. 1 S. 1 VwGO zukommt. Diese liegt in der sachgerechten Abgrenzung der Zuständigkeiten von Verfassungs- und Verwaltungsgerichten9, welcher insoweit eine erhebliche Bedeutung zuteil wird, als beide Gerichtszweige nicht nur über „ein teilweise andersartiges Instrumentarium“ verfügen, sondern sich zudem als „verfahrensmäßig gesondert ausgestaltet“ erweisen10. Durch die Ausgrenzung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten sollen die Verwaltungsgerichte auf die Gewährung von Rechtsschutz in Verwaltungsangelegenheiten beschränkt werden.11 Spezifische Fragestellungen des Verfassungsrechts sollen hingegen dem qualifizierten Entscheidungsvorbehalt verfassungsgerichtlicher Erkenntnis unterworfen sein12, auch wenn in diesem Zusammenhang anzumerken ist, dass – jedenfalls bei Zugrundelegung eines materiellen Begriffsverständnisses – mit der Feststellung einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit, für welche die Verwaltungsgerichte keine Zuständigkeit besitzen, nicht zwangsläufig ein positives Urteil über die Zuständigkeit der Verfassungsgerichte gefällt wird. Mangels einer mit § 40 VwGO vergleichbaren Generalklausel sind Verfassungsgerichte nämlich weder auf Bundes- noch auf Landesebene allgemein für „verfassungsrechtliche“ Streitigkeiten zuständig, sondern nur auf der Grundlage enumerativer Zuständigkeitskataloge (s. etwa § 13 BVerfGG). Diese erstrecken sich zwar typischerweise auf materiell verfassungsrechtliche Streitigkeiten (wobei den Verfassungsgerichten allerdings auch Streitigkeiten zugewiesen werden können, die unter Zugrundelegung eines materiellen Begriffsverständnisses „nichtverfassungsrechtliche“ darstellen13). Gleichwohl kann es auch verfassungsrechtliche Streitigkeiten geben, für die eine Zuständigkeit der Verfassungsgerichte mangels Erfassung in den Enumerationskatalogen nicht begründet ist – was angesichts der prinzipiellen Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte für verfassungsgerichtliche Streitigkeiten die Folgefrage der Justitiabilität solcher Streitigkeiten aufwirft, wofür wiederum die Reichweite des Rechtsschutzauftrages des Art. 19 Abs. 4 GG maßgeblich ist. Einigkeit besteht ferner darin, dass für die Annahme einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40 VwGO nicht jedwede bloße Relevanz bundes- oder landesverfassungsrechtlicher Normen im Rahmen rechtlicher Auseinandersetzungen ausreichen kann. Denn Rechtsstreitigkeiten unter Involvierung des Staates betreffen wegen der unmittelbaren Bindung aller Staatsgewalten an den Grundrechtskatalog (Art. 1 Abs. 3 GG), der Verpflichtung der Legislative zur Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung sowie der Bindung von Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) häufig, ja regelmäßig auch verfassungsrechtliche Fragen, z. B. im Rahmen einer grundrechtskonformen Auslegung einfachgesetzlicher Nor9
s. etwa W.-R. Schenke, AöR 2006 (131), 117. Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79. 11 Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Loseblatt (Stand: Mai 2010), § 40 Rn. 145. 12 Ehlers (Fußn. 11). 13 Bethge, Jura 1998, 529 (530); Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 164. 10
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men oder allein schon aufgrund der zumeist vorzunehmenden Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip hergeleitet wird und verfassungsrechtlichen Rang14 besitzt. Mit einer derart extensiv verstandenen „Verfassungsrechtlichkeit“ würde das durch § 40 VwGO nicht zuletzt von seinem Wortlaut15 her implizierte, den Großteil aller öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten bei den Verwaltungsgerichten ansiedelnde Verhältnis zwischen Verwaltungs- und Verfassungsrechtsweg in sein Gegenteil verkehrt.16 Abseits dieses Minimalkonsenses wird es aber nach wie vor uneinheitlich beurteilt, auf welcher inhaltlichen Basis das Merkmal der (nicht)verfassungsrechtlichen Streitigkeit ermittelt werden und die grundsätzliche Weichenstellung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit erfolgen soll. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar mehrfach darauf hingewiesen, dass eine eindeutige und allgemeingültige Abgrenzungsformel zur Bestimmung der (nicht)verfassungsrechtlichen Art der Streitigkeit nicht in Betracht komme17. Es hat letztlich einer „mehr praktischen“, stark einzelfallabhängigen Abgrenzung den Vorzug gegeben.18 Auf eine positive Definition der Verfassungsrechtsstreitigkeit kann jedoch bereits im Interesse der Rechtssicherheit sowie angesichts der oben beschriebenen rechtlichen Relevanz nicht verzichtet werden.19
III. Die unterschiedlichen Interpretationsansätze 1. Formelle Abgrenzung Eine Abgrenzungsformel, welche vor allem in der unmittelbaren Folgezeit der Schaffung einer generalklauselartigen Verwaltungsrechtswegeröffnung vertreten wurde, stellt auf ein rein formelles Kriterium ab: Für eine verfassungsrechtliche Streitigkeit und somit einen Ausschluss des Verwaltungsrechtsweges sei allein maßgeblich, dass die betreffende Streitigkeit den Verfassungsgerichten zugewiesen ist. Alle und nur solche Streitigkeiten, die nach dem Willen des Verfassungs- oder Gesetzgebers von den Verfassungsgerichten aufgrund deren enumerativer Zuständigkeitsvorschriften zu entscheiden sind, seien danach Verfassungsstreitigkeiten.20 Für alle übrigen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten könne danach über die verwaltungsge14 s. etwa BVerfGE 19, 342 (348 f.); Sodan, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 2009, Vorb. Art. 1 Rn. 60 f. 15 Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs in „allen öffentlich-rechten Streitigkeiten …“. 16 Vgl. auch Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 138. 17 s. etwa BVerwGE 24, 272 (279); 36, 218 (227 f.); 50, 124 (130). 18 So BVerwGE 24, 272 (279). 19 Vgl. Bethge, JuS 2001, 1100 (1101); Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79. 20 s. etwa Wertenbruch, DÖV 1959, 506 (507), zu der mit § 40 VwGO prinzipiell vergleichbaren Regelung des § 22 Abs. 1 MRVO Nr. 165 (s. zu dieser Norm auch oben, bei Fußn. 6); ferner Schunck/De Clerck, VwGO, 1961, § 40 Anm. 2. a) aa) – die Auffassung wurde allerdings bereits ab der 2. Aufl. 1967 wieder aufgegeben.
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richtliche Generalklausel der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Ob der Streit materiell dem verfassungsrechtlichen Bereich angehört, sei für die Rechtswegfrage insoweit unerheblich. Diese rein formelle Abgrenzung hat zwei nicht unbeachtliche Vorzüge. Zum einen handelt es sich um eine sehr klare, trennscharfe, weil kaum Interpretationsspielräume oder Auslegungsprobleme hervorrufende Abgrenzung, da eine Subsumtion unter allgemeine inhaltliche, die Rechtsnatur einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit materiell definierende Kriterien nicht notwendig ist. Es genügt die in der Regel relativ einfach zu treffende Feststellung, ob ein Streit kraft ausdrücklicher enumerativer Zuweisung der Entscheidungshoheit der Verfassungsgerichte überantwortet ist. Wenn ja, sind diese zuständig, wenn nicht, sind es die Verwaltungsgerichte (sofern die Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Natur ist und keine abdrängenden Zuweisungen an andere Gerichte bestehen). Der zweite Vorzug liegt in der Lückenlosigkeit des hierdurch erreichten Rechtsschutzes für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten. Denn entweder sind für deren Entscheidung die Verfassungsgerichte zuständig, oder – wenn eine ausdrückliche Zuständigkeit der Verfassungsgerichte nicht begründet ist – eben die Verwaltungsgerichte. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art, für die weder die Verfassungs- noch die Verwaltungsgerichte zuständig sind, kann es hiernach nicht geben. Im Hinblick auf die rechtsschutzsichernde, den Verfassungsauftrag des Art. 19 Abs. 4 GG ausfüllende Funktion des § 40 VwGO stellt dies ein durchaus beachtliches Ergebnis dar. Zur Stützung dieser rein formellen Abgrenzung lässt sich indes – abgesehen von einer vorrangig ergebnisorientierten Betrachtung21 – nur sehr wenig finden. Mitunter wird diese Sichtweise denn auch eher behauptet als begründet.22 Der – spärlich bekundete (s. oben) – Wille des Gesetzgebers lässt sich hierfür kaum fruchtbar machen. Zwar begründet der Gesetzgeber den Ausschluss verfassungsrechtlicher Streitigkeiten damit, dass diese „meist besonderen Gerichten (Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgericht oder Staatsgerichtshof der Länder) übertragen sind“23, und legt damit auf den ersten Blick eine rein formelle Abgrenzung nahe24. Aber eben nur auf den ersten Blick, denn allein schon die Verwendung des Wortes „meist“ impliziert, dass aus Sicht des Gesetzgebers nicht alle „verfassungsrechtlichen“ Streitigkeiten den Verfassungsgerichten zugewiesen sind, was klar gegen die bloß formelle Abgrenzung über die bestehenden verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten spricht. Auch der Wortlaut des strittigen Merkmals liefert kein eindeutiges Ergebnis, spricht sogar eher gegen das formelle Abgrenzungsverständnis: Denn sollten tatsächlich nur die den Verfassungsgerichten ausdrücklich zugewiesenen Streitigkeiten „verfassungsrechtliche“ sein, hätte es näher gelegen, von „verfassungsgerichtlichen“ 21
Schunck/De Clerck, VwGO, 1961, Anm. 2. a) aa). Wertenbruch (Fußn. 20) etwa lässt seiner Behauptung, es sei „abwegig“, auf materielle Aspekte abzustellen, keine inhaltlichen Argumente für seine rein formelle Sichtweise folgen. 23 s. oben, bei Fußn. 8. 24 In diese Richtung etwa Schunck/De Clerck (Fußn. 21). 22
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Streitigkeiten zu sprechen.25 Oder es hätte, wie in einzelnen, vor Erlass der Verwaltungsgerichtsordnung geltenden Verwaltungsgerichtsgesetzen der Länder bzw. den dort geregelten Generalklauseln, ein ausdrücklicher Vorbehalt zugunsten der bestehenden Zuständigkeiten der Verfassungsgerichte aufgenommen werden können (s. etwa § 15 Abs. 3 VGG Rheinland-Pfalz26, § 22 VGG Bayern27, § 22 VGG Württemberg-Baden28, § 22 VGG Hessen29). Vor allem aber entzieht ein gesetzessystematisches Argument der formellen Abgrenzungstheorie letztlich den Boden. Denn wären mit den Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art tatsächlich nur solche gemeint, für die eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit begründet ist, wäre das Merkmal redundant, weil sich in diesen Fällen die Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte bereits aus § 40 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 VwGO (i. V. m. der jeweiligen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeitsnorm) ergäbe; denn dort ist der Ausschluss des Verwaltungsrechtsweges geregelt, wenn die betreffende Streitigkeit kraft bundesgesetzlicher (S. 1 Hs. 2) oder landesgesetzlicher (S. 2) Zuständigkeitsbegründung einem anderen Gericht zugewiesen ist. Solche abdrängenden Sonderzuweisungen stellten auch die bestehenden Zuweisungen an die Verfassungsgerichte dar. Das Merkmal „Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art“ hätte daneben allenfalls noch eine Klarstellungsfunktion, welcher es aber angesichts der unmissverständlichen Regelung in § 40 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, S. 2 VwGO nicht bedürfte. Schenke30 weist zudem auf eine nicht unbeachtliche Ungereimtheit hin, die sich aus der rein formellen Abgrenzung ergäbe. Würde nämlich beispielsweise der Organakt eines obersten Bundesorgans angegriffen, so wäre der Verfassungsrechtsweg eröffnet, wenn einer der Antragsberechtigten des bundesverfassungsgerichtlichen Organstreitverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) die Streitigkeit initiiert, hingegen der Verwaltungsrechtsweg, wenn ein nicht nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG Antragsberechtiger, etwa ein Bürger, das Verfahren einleitet. Dies würde einerseits die Begrenzung des Organstreitverfahrens auf einen bestimmten Kreis von Antragsberechtigten konterkarieren und überdies dem aus Art. 93 und 95 GG zu entnehmenden Rechtsgedanken entgegenstehen, wonach sachlich zusammenhängende Streitigkeiten grundsätzlich von derselben Gerichtsbarkeit zu entscheiden sind. Die formelle Abgrenzungstheorie vermag daher nicht zu überzeugen, wird heutzutage allerdings auch nicht mehr ernsthaft vertreten. Es besteht insoweit zumindest Einigkeit, dass das Merkmal der (Nicht-)Verfassungsrechtlichkeit unter Heranzie-
25 So auch Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 139; ferner schon Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl. 1980, § 40 Rn. 61. 26 Vom 14. 4. 1950, GVBl. I S. 103. 27 Vom 25. 9. 1946, GVBl. S. 281. 28 Vom 16. 10. 1946, RegBl. (für Württemberg-Baden) S. 221. 29 Vom 31. 10. 1946, GVBl. (für Groß-Hessen) S. 194. 30 AöR 2006 (131), 117 (119).
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hung materieller Gesichtspunkte zu bestimmen ist. Hierzu haben sich die folgenden Abgrenzungstheorien herausgebildet. 2. Materielle Abgrenzungstheorien a) Doppelte Verfassungsunmittelbarkeit Nach derzeit wohl immer noch überwiegender Auffassung in Rechtsprechung31 und Literatur32 setzt eine verfassungsrechtliche Streitigkeit zweierlei voraus: Der Rechtsstreit muss sich sowohl beiderseitig auf unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte (Verfassungsrechtssubjekte) beziehen als auch solche Rechte und Pflichten betreffen, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind. Die kumulativen Anforderungen werden unter dem Begriff der „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“ zusammengefasst.33 Unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligte in diesem Sinne sind die Gebietskörperschaften (Bund, Länder), oberste Staatsorgane (auf Bundesebene insbesondere Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Bundespräsident), Teile dieser Organe, soweit ihnen ein eigener verfassungsrechtlicher Status eingeräumt ist (etwa Bundestagsabgeordnete, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, Regierungsmitglieder, Art. 65 S. 1, 2 GG, Parlamentsfraktionen, der Bundestagspräsident),34 sowie sonstige Faktoren des Verfassungslebens wie etwa die politischen Parteien hinsichtlich ihrer Mitwirkung an der politischen Willensbildung (Art. 21 GG)35. Nach dieser Auffassung ist eine verfassungsrechtliche Streitigkeit im Verhältnis von Staat und Bürger hingegen grundsätzlich ausgeschlossen.36 Allenfalls ausnahmsweise könne auch der Bürger das Beteiligungskriterium erfüllen, wenn er selbst unmittelbar am Verfassungsleben teilnehme und ihm das Verfassungsrecht insoweit eine besondere Rechtsstellung zubillige, etwa als Teilnehmer eines Volksbegehrens.37 Das Bundesverfassungsgericht hat sich der These von der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit bislang nicht ausdrücklich angeschlossen. Zwar geht es in einzelnen Entscheidungen davon aus, dass eine verfassungsrechtliche Streitigkeit nur zwischen 31
BVerwGE 36, 218 (227 f.); BVerwG, NJW 1976, 637 f.; NJW 1976, 1648. s. etwa v. Albedyll, in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/v. Albedyll, VwGO, 4. Aufl. 2007, § 40 Rn. 85 f.; Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 11 Rn. 49 f.; Schmieszek, in: Brandt/Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2009, L Rn. 31; Schmitt Glaeser/Horn, Verwaltungsprozeßrecht, 15. Aufl. 2000, Rn. 56; Tettinger/ Wahrendorf, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2005, § 9 Rn. 25; Würtenberger (Fußn. 13), Rn. 161. 33 BVerwG, NJW 1976, 637; Hufen (Fußn. 32); Schmitt Glaeser/Horn (Fußn. 32); Tettinger/Wahrendorf (Fußn. 32), § 9 Rn. 26. 34 Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 40 Rn. 22; Schenke (Fußn. 3), S. 120 f. 35 Vgl. etwa BVerfGE 1, 208 (221); 60, 53 (60 ff.). 36 Schmitt Glaeser/Horn (Fußn. 32); Würtenberger (Fußn. 13), Rn. 166. 37 VGH München, NVwZ 1991, 386, der in einer rechtlichen Auseinandersetzung über die Frage, ob die wahlgesetzlich geregelte Eintragungsfrist für ein Volksbegehren verlängert werden müsse, von der verfassungsrechtlichen Natur der Streitigkeit ausging. 32
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„Faktoren“ bestehen kann, die am Verfassungsleben beteiligt sind38. Dennoch beziehen sich diese Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts nur auf den Enumerationskatalog des Art. 93 GG und die dort benannten Streitverfahren. Sie sind insoweit nicht verallgemeinerungsfähig und können nicht unbesehen auf die Interpretation des § 40 Abs. 1 S. 1 GG übertragen werden.39 Die doppelte Verfassungsunmittelbarkeit als Kriterium zur Trennung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtsweg wurde während der Zeit der Weimarer Republik entwickelt.40 Damals wurde überwiegend die Auffassung vertreten, „nicht jeder Streit über den Sinn eines Verfassungsartikels“ sei „ein Verfassungsstreit“; es komme vielmehr zunächst auf die „streitenden Subjekte“ an.41 Zudem sei die „Eigenart des Streitgegenstandes“ maßgeblich.42 Im Ergebnis wurde festgestellt: „Der Begriff der Verfassungsstreitigkeit ist […] durch Gegenstand und Partei bestimmt“.43 Dieser Einordnung lag noch die Vorstellung zugrunde, dass das Kernelement der Staats- bzw. Verfassungsgerichtsbarkeit die rechtsstaatliche „Kontrolle der inneren Staatswillensbildung“ sei; die Verwaltungsgerichtsbarkeit verfolge hingegen den Zweck, die „Kontrolle der Handhabung der Staatsgewalt gegen Außenstehende“ zu gewährleisten.44 Daraus wurde eine Zweiteilung der judiziellen Aufgabenverteilung mit dem Inhalt gefolgert, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Gleichordnungsverhältnisse erstrecke, die Verwaltungsgerichtsbarkeit dagegen auf Subordinationsverhältnisse.45 Aufgrund geänderter Verfassungsrechtslage lässt sich der Begriff der verfassungsrechtlichen Streitigkeit jedoch nicht mehr mit dem der verfassungsrechtlichen Organstreitigkeit gleichsetzen.46 Zwar kann zumindest das Bund-Länder-Streitverfahren – als ein „Urgestein deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit“47 – durch die Einbeziehung auch anderer unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligter als nur der Verfassungsorgane (s. oben) noch über das Kriterium der doppelten Verfassungsunmittelbarbeit als Verfassungsstreit qualifiziert werden. Bereits hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren (insbesondere Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 GG) ge38
BVerfGE 1, 208 (221); 27, 240 (246); vgl. auch BVerfGE 2, 143 (155, 159); 13, 54 (72 f.). Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 142. 40 Vgl. Kassimatis, Der Bereich der Regierung, 1967, 180 ff.; Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtssetzung gehörende Akte der Legislative, 1977, 156 ff. 41 Thoma, AöR 1922 (43 bzw. 4 n. F.), 267 (283). 42 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 19 Anm. 2. 43 Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: Anschütz/Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, 523 (534). 44 Schmelter (Fußn. 40), S. 160 m. w. N.; Thoma, in: Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben I, 1929, 179 (184). 45 Schmelter (Fußn. 40), S. 160; s. ferner Eyermann/Fröhler (Fußn. 25). 46 Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 144. 47 Bethge, Jura 1998, 529 (532). 39
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lingt dies jedoch nicht mehr ohne weiteres.48 Beispielsweise sind die einfachen Gerichte, welche nach Art. 100 Abs. 1 GG eine konkrete Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht initiieren können, keine unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligten, weil sich ihre maßgeblichen Aufgaben nicht direkt aus der Verfassung ergeben.49 Die Erkenntnis, dass es bei nicht-kontradiktorischen Verfahren wie den Normenkontrollen streng genommen „eine ,zweiteÏ Seite nicht wirklich gibt“50 und demgemäß das Verlangen, die unmittelbare Beteiligung am Verfassungsleben müsse für beide Seiten gelten, schon dort wenig Sinn hat, schwächt die Überzeugungskraft der Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit zusätzlich. Auch mit der Einführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens (1951) und der ausdrücklichen Verankerung desselben in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG (1969) ist der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit der argumentative Begründungsansatz entzogen worden.51 Denn jedenfalls die unmittelbar gegen einen Gesetzgebungsakt der Legislative gerichtete Rechtssatzverfassungsbeschwerde stellt nicht nur ein Kernelement verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes des Bürgers dar, sondern lässt sich mangels Normverwerfungskompetenz der Verwaltungsgerichte hinsichtlich nachkonstitutionellen Parlamentsgesetzen auch kaum als nichtverfassungsrechtliche, also verwaltungsrechtliche Streitigkeit, welche nur kraft abdrängender Sonderzuweisung der Verfassungsgerichtsbarkeit überantwortet ist, klassifizieren.52 Genau dies müsste auf Grundlage der Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit aber geschehen.53 Wird mit der Aussonderung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten der Zweck verfolgt, spezifisch verfassungsrechtliche Fragestellungen den Verfassungsgerichten vorzubehalten, d. h. dem qualifizierten Entscheidungsvorbehalt verfassungsgerichtlicher Erkenntnis zu unterstellen, sowie die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Verwaltungskontrolle zu beschränken54, so ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolle auch bei solchen Rechtsstreitigkeiten zu versagen, bei denen es um die Auseinandersetzung über explizite verfassungsrechtliche Rechte und Pflichten nur eines Rechtsträgers geht.55 Als verfassungsrechtliche Streitigkeit ist es daher beispielsweise zu be-
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Bethge, Jura 1998, 529 (533). Dies gilt trotz ihrer Nennung in Art. 95 Abs. 1 GG und ihrer darin geregelten Existenzgarantie sogar für die obersten Bundesgerichte, vgl. dazu Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 95 (Abs. 1) Rn. 26. – Dass die Streitbeteiligung einer in der Verfassung lediglich erwähnten Institution die Streitigkeit nicht zu einer verfassungsrechtlichen macht, ist etwa auch hinsichtlich der Rechnungshöfe (z. B. Art. 114 Abs. 2 GG: Bundesrechnungshof) anerkannt, s. OVG Münster, NJW 1980, 137. 50 Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79 (80). 51 Vgl. Kassimatis (Fußn. 40), S. 182; Schmelter (Fußn. 40), S. 160 f. 52 s. zu diesem Einwand auch Schenke (Fußn. 3), S. 127 f. 53 So etwa Würtenberger (Fußn. 13). 54 Unruh, in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 40 VwGO Rn. 169. 55 Ehlers (Fußn. 11). 49
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werten, wenn der Einzelne die Änderung eines parlamentarischen Haushaltsbeschlusses im Rechtsweg begehrt.56 Gleiches gilt, wenn es um die Klage eines Bürgers auf Erlass oder auf prinzipale Kontrolle eines formellen Gesetzes geht. Auch derartige Rechtsschutzbegehren, die sich explizit gegen die Entscheidungsbefugnis des parlamentarischen Gesetzgebers als obersten Staatsorgans richten, können nur der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen.57 Wollte man dem Maßstab der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit hier gerecht werden, müsste der den Rechtsstreit betreibende Bürger kurzerhand zum Verfassungsrechtssubjekt „umfunktioniert“ werden. Das Erfordernis einer beiderseitigen Beteiligung von Verfassungsrechtssubjekten erweist sich somit als zu eng, um das Wesen verfassungsrechtlicher Streitigkeiten sachgemäß erfassen zu können.58 b) Materielle Subjektstheorie Ist nach den zuvor angestellten Überlegungen geklärt, dass ein rein formeller Abgrenzungsansatz ebensowenig überzeugen kann wie ein materieller, welcher eine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit als ausschlaggebend für das Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit erachtet, so liegt es nahe, eine solche davon abhängig zu machen, ob der Rechtsschutzgegner ein Verfassungsrechtssubjekt59 ist, das als solches verpflichtet werden soll (sog. materielle Subjektstheorie).60 Statt auf eine Verfassungsunmittelbarkeit auf beiden Seiten des Rechtsstreits ist hiernach auf eine solche allein auf der Seite des Rechtsschutzgegners abzustellen. Mit der Verhinderung einer Einmischung der Verwaltungsgerichtsbarkeit „in die Willensbildung und Betätigung oberster Staatsorgane“ verfolgt die Aussparung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten in § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO letztlich den Sinn, „nur den Rechtsschutzgegner vor einer gerichtlichen Kontrolle seiner verfassungsrechtlichen Kompetenzen durch die Verwaltungsgerichte“ zu schützen.61 Aus diesem Grund reicht es für die Begriffsbestimmung in der Tat aus, allein auf die Position des Rechts56
s. OVG Hamburg, DÖV 1986, 439 (440). BVerwGE 80, 355 (358); vgl. hierzu auch BVerfGE 10, 124 (127 f.); 70, 35 (67). So hat etwa das OVG Münster, DVBl. 1994, 124, das Begehren einer gewerkschaftlichen Spitzenorganisation auf vorläufigen Nichtgebrauch des Gesetzesinitiativrechts durch die Bundesregierung als verfassungsrechtliche Streitigkeit eingeordnet. Ohne nähere Begründung wird offenbar davon ausgegangen, dass die verfassungsrechtliche Natur der Sache das Kriterium der Beteiligung am Verfassungsleben überlagert; s. hierzu auch Lerche, FS BayVerfGH 1997, 79 (89 f.). 58 So beispielsweise Di Fabio, Rechtsschutz in parlamentarischen Untersuchungsverfahren, 1988, 106 ff.; Rennert (Fußn. 34), § 40 Rn. 21; ders., JZ 1995, 828 f.; Sodan, NVwZ 2000, 601 (607). 59 s. oben bei Fußn. 34. 60 Maßgeblich entwickelt von Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 149 ff.; dieser Theorie folgend etwa Rennert (Fußn. 34), § 40 Rn. 21; Unruh (Fußn. 54), § 40 VwGO Rn. 171. 61 Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 145 und 155. 57
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schutzgegners abzustellen. Dabei muss es dann „um das rechtliche Können, Dürfen oder Müssen eines Verfassungsrechtssubjektes als solches gehen, d. h. gerade um dessen (materielle) verfassungsrechtliche Funktionen“.62 Diese materielle Subjektstheorie verdient daher Zustimmung. Sie umfasst die Vorzüge einer materiellen Abgrenzung, die auch der Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit zu eigen sind, vermeidet aber deren Nachteile, indem sie den Begriff der Verfassungsstreitigkeit nicht unnötig verengt. So kann sie beispielsweise zufriedenstellend erklären, warum der von einer unstreitig kein Verfassungsrechtssubjekt darstellenden gewerkschaftlichen Spitzenorganisation gestellte Antrag, die Bundesregierung zu verpflichten, von ihrer Befugnis zur Gesetzesinitiative keinen Gebrauch zu machen, als verfassungsrechtlicher Streit zu werten ist.63 Denn der gestellte Antrag bezieht sich auf den Erlass eines förmlichen Gesetzes bzw. das diesbezügliche Initiativrecht und zielt somit darauf ab, ein Verfassungsrechtssubjekt (Bundesregierung, vgl. Art. 76 GG) im Hinblick auf dessen in der Verfassung geregelte Befugnisse in die Pflicht zu nehmen. Mit der materiellen Subjektstheorie lassen sich folglich auch die „Kernstücke“ des verfassungsgerichtlichen Instrumentariums als verfassungsrechtliche Streitigkeiten klassifizieren, während dies die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit nicht ohne weiteres vermag. Auf die Überprüfung formeller Gesetze bezogene Normenkontrollverfahren einschließlich der nur von Nicht-Verfassungsrechtssubjekten initiierbaren konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) beziehen sich insoweit auf verfassungsrechtliche Streitigkeiten, als sie die Tätigkeit des Verfassungsrechtssubjekts Bundestag (oder Landesparlament) im Hinblick auf dessen allein aus der Verfassung resultierendes und allein an deren Vorgaben zu messendes Können bzw. Dürfen beurteilen. Vergleichbares gilt für die Verfassungsbeschwerde, soweit sie unmittelbar gegen einen Legislativakt gerichtet ist und somit als ein dem Bürger an die Hand gegebenes Normenkontrollverfahren fungiert.64 Selbst der Fall des Art. 100 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG (Prüfung der Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetz) dürfte sich entgegen mitunter geäußerter Kritik65 als verfassungsrechtlicher Streit erfassen lassen, weil auch insoweit das spezifisch verfassungsrechtliche Pflichtenprogramm (Art. 31 GG) der Landesparlamente bei deren Legislativtätigkeit zur Prüfung steht. Auch die übrige gegen die materielle Subjektstheorie vorgebrachte Kritik vermag im Ergebnis nicht zu überzeugen. Insbesondere der Vorwurf, die Verteilung der Kläger- und Beklagtenrolle sei kein taugliches Abgrenzungskriterium, weil es am Rechtsweg nichts ändern könne, wenn das Verfassungsrechtssubjekt nicht auf der Be-
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Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 156. So im Ergebnis zu Recht OVG Münster, DVBl. 1994, 124, allerdings ohne explizit auf die materielle Subjektstheorie abzustellen; s. dazu auch schon Fußn. 57. 64 s. Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 154: verfassungsrechtliche Streitigkeit. 65 Etwa von W.-R. Schenke, AöR 2006 (131), 117 (129). 63
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klagtenseite erscheine, sondern auf der Klägerseite,66 geht am Selektionsmechanismus der materiellen Subjektstheorie vorbei. Diesbezügliche Einwände wären nur dann begründet, wenn die materielle Subjektstheorie tatsächlich in einer formal-prozessualen Betrachtung bezüglich der Beteiligtenrollen verharren würde. Dies ist indes nicht der Fall. Für die judizielle Weichenstellung erweist sich ein ganz anderer Umstand als maßgeblich. Die Bezeichnung materielle Subjektstheorie deutet es bereits an. Geht es um die Inpflichtnahme des Verfassungsrechtssubjekts als solchen, d. h. ganz spezifisch „um dessen (materielle) verfassungsrechtliche Funktionen“ bzw. um dessen „rechtliche[s] Können, Dürfen oder Müssen“67 mit Blick auf die Verfassung, so entfalten – formal betrachtet – die Beteiligtenrollen des Rechtsstreits bei der Begriffsbestimmung keine Relevanz. Allein auf die verfassungsspezifische Position des Rechtsschutzgegners oder anders ausgedrückt: auf die Rechte und Pflichten begründende Stellung des Verfassungsrechtssubjekts im Rahmen eines materiellen verfassungsrechtlichen Verhältnisses kommt es an. Im Hinblick auf die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Funktionen muss grundsätzlich zwar neben dem geschriebenen auch das ungeschriebene Bundesund Landesverfassungsrecht Berücksichtigung finden.68 Nicht jedoch kann das materielle Verfassungsrecht in Gänze erfasst sein. Zu Recht wird gerade auch die Verknüpfung zur formellen Verfassung eingefordert.69 Wird von der formellen Verfassung gesprochen, so ist damit nicht nur das ausdrückliche Regelungswerk im Verfassungsgesetz gemeint. Erfasst sind auch die vorgelagerten Verfassungsprinzipien in allen ihren Gehalten, welche ihrerseits zwar eine enge Bindung an das Verfassungsgesetz aufweisen, dort jedoch, wenn überhaupt ausdrücklich, dann zumeist unvollständig benannt sind.70 Konkretisierungen „nach unten hin“, d. h. einfachgesetzliche Konkretisierungen, können ausnahmsweise dann in die Betrachtung einbezogen werden, wenn sie eine unmittelbare Bindung zum formellen Verfassungsrecht aufweisen.71 Damit lässt sich das die Verfassung ausfüllende einfache Recht (z. B. das PartG, Wahlgesetze oder Abgeordnetengesetze) nicht ohne weiteres in den im Rahmen des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO heranzuziehenden Verfassungsbegriff aufnehmen.72 Probleme im Hinblick auf das maßgebliche verfassungsrechtliche Pflichtenprogramm des in die Pflicht zu nehmenden Verfassungsrechtssubjekts können hinsichtlich Grundrechten bestehen. Da diese gemäß Art. 1 Abs. 3 GG jedwede Staatsgewalt 66
So Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79 (91). s. oben Fußn. 62. 68 Insoweit zutreffend Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 151. 69 s. etwa Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79 (81 ff.). 70 Beispielhaft sei auf den „Vorrang der Privatheit“ hingewiesen, der zwar keine ausdrückliche Nennung im GG erfährt, sich aber aus einer ganzheitlichen Analyse der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Determinanten ergibt. Vgl. hierzu Sodan, DÖV 2000, 361 ff.; H. J. Meyer, Vorrang der privaten Wirtschafts- und Sozialgestaltung als Rechtsprinzip, 2006. 71 Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79 (81 ff.). 72 BVerwG, NJW 1985, 2344; vgl. auch BVerfGE 27, 152 (157); 41, 399 ff.; BVerwGE 51, 69 (71). 67
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(und nicht bloß Verfassungsorgane) binden, wird gelegentlich davon ausgegangen, dass Grundrechtsverhältnisse von vornherein bei der Bestimmung des dem § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO zugrunde liegenden Verfassungsbegriffs herauszunehmen seien. Ein Streit, der im Grundrechtsverhältnis wurzele, sei nämlich keine Auseinandersetzung über „spezifisches“ Verfassungsrecht bzw. spezifische verfassungsrechtliche Rechte oder Pflichten von Verfassungsrechtssubjekten. „Von ,spezifischemÐ Verfassungsrecht“ könne nur gesprochen werden, „wenn es sich bei dem konkreten Rechtssatz um alleiniges Verfassungsrecht“ handele. Derartige Grundrechtsverhältnisse seien aber „auch Bestandteile des unterverfassungsrechtlichen Rechts“.73 Darauf kommt es indes mit der materiellen Subjektstheorie nicht an. Entscheidend im Hinblick auf Grundrechte ist nicht, dass sie auch Bestandteile des unterverfassungsrechtlichen Rechts sein können und dieses „durchdringen“ (weswegen sie bei der Anwendung des einfachen Rechts durch Exekutive und Judikative ebenfalls zu beachten sind), sondern entscheidend ist die Anknüpfung an das spezifische Pflichtengefüge des betreffenden Verfassungsrechtssubjekts. Dieses spezifische verfassungsrechtliche Pflichtengefüge kann auch die Achtung der Grundrechte nur oberhalb der Ebene des einfachen Rechts umfassen, wie Art. 20 Abs. 3 GG hinsichtlich der Legislative durch deren Bindung allein an die verfassungsmäßige Ordnung zeigt. Dann können aber auch Grundrechte zu einer spezifischen verfassungsrechtlichen Pflichtenbindung führen und damit zu einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit, wie etwa im Falle einer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein formelles Gesetz.74 Dies ändert gleichwohl nichts an der Richtigkeit der Aussage, dass ein Rechtsverhältnis, das „von den Grundrechten und sonstigen Verfassungsrechtssätzen unmittelbar beeinflußt und von ihnen letztlich getragen“ wird, nicht ohne weiteres als verfassungsrechtliche Streitigkeit qualifiziert werden kann.75 3. „Gemischte“ Theorien Neben der materiellen Subjektstheorie werden ferner verschiedene Ausprägungen von „gemischten“ Theorien vertreten, die zu einer möglichst präzisen Erfassung (nicht)verfassungsrechtlicher Streitigkeiten formelle und materielle Aspekte kombinieren. a) Abgestufte Prüfung Reimer76 votiert für eine abgestufte Prüfung, welche die unterschiedlichen Anforderungen an den Ausschluss verfassungsrechtlicher Streitigkeiten aus dem Verwaltungsrechtsweg operationalisierbar machen sollen. In einem ersten Schritt seien zunächst verfassungsgerichtliche Streitigkeiten auszuschließen (formelles Kriterium). 73 74 75 76
Lerche, FS BayVerfGH, 1997, 79 (88) – Hervorhebungen im Original. Vgl. Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 154. BVerwGE 50, 124 (131); BVerwG, NJW 1985, 2344. In: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 40 Rn. 98 ff.
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Sodann komme es primär auf das Wesen der unmittelbar streitentscheidenden Norm, sekundär auf den Status der Beteiligten an, wobei Letzteres dem Kriterium der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit entspricht. Dieser rein praktisch orientierte Ansatz hat den Vorzug, dass er in der Regel zu „guten Ergebnissen“77 führt, weil er die Vorzüge aller Sichtweisen kombiniert zur Anwendung bringt. Nachteilig an ihm ist aber, dass er keine eigene Lösung, somit letztlich keinen allgemeingültigen Erkenntnisgewinn über das Wesen (nicht)verfassungsrechtlicher Streitigkeiten liefert (indes auch gar nicht liefern will). Überdies führt er rein dogmatisch (wenn auch nicht praktisch) zu widersprüchlichen Ergebnissen, wenn er etwa die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG zunächst als verfassungsgerichtliche Streitigkeit dem Bereich der verfassungsrechtlichen Streitigkeiten im Sinne von § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO zuweist, dann später aber für verfassungsrechtliche Streitigkeiten eine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit fordert, die im Hinblick auf konkrete Normenkontrollen nach Art. 100 Abs. 1 GG jedoch – wie bereits oben gezeigt wurde – gerade nicht besteht. Nicht recht konsequent erscheint es auch, wenn in einem ersten Schritt nur solche verfassungsgerichtlichen Rechtsbehelfe als verfassungsrechtliche ausgesondert werden, die „über die bloße Verfassungsbeschwerde hinaus“ gehen.78 Dies gilt umso mehr, als über die beiden dann folgenden Schritte die unmittelbar gegen ein formelles Gesetz gerichtete Verfassungsbeschwerde nur schwer als verfassungsrechtliche Streitigkeit erfasst werden kann. b) Schenkes Ansatz Einen eher auf allgemeingültige Ergebnisse abzielenden Misch-Ansatz verfolgt demgegenüber Wolf-Rüdiger Schenke.79 Sein Ansatz stimmt dabei im dogmatischen Ausgangspunkt mit der materiellen Subjektstheorie partiell überein, insbesondere in Bezug auf eine stärkere normative Anbindung des Begriffs der Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art. Maßgebend für das Vorliegen einer solchen Streitigkeit ist nach Schenke, ob eine Streitigkeit, soweit sie überhaupt justitiabel ist80, aufgrund verfassungsgesetzlicher Zuständigkeitsvorschriften grundsätzlich (vorbehaltlich abweichender verfassungsmäßiger gesetzlicher Regelungen) den Verfassungsgerichten vorbehalten sein soll. Mit dem Abstellen auf die bestehenden verfassungsgesetzlichen bzw. verfassungsgerichtlichen Zuständigkeitsnormen wird insoweit partiell das formelle Abgrenzungskriterium81 aufgegriffen, jedoch mit einem materiellen Gehalt aufgeladen. Inwieweit eine Streitigkeit den Verfassungsgerichten vorbehalten sein „soll“, bezieht sich dabei nicht auf virtuelle, normativ kaum fassbare Wunsch77
H. v. Nicolai, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 40 Rn. 3. Reimer (Fußn. 76), § 40 Rn. 99. 79 s. insbesondere AöR 2006 (131), 117 (130 ff.) sowie Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009, Rn. 129 ff. 80 Zu von vornherein nicht-justitiablen Akten der öffentlichen Gewalt s. Sodan (Fußn. 5), Rn. 82 ff. 81 s. oben III. 1. 78
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vorstellungen, sondern darauf, inwieweit mit der Begründung bestehender Zuständigkeitsvorschriften zugleich Aussagen über die Verfassungsrechtlichkeit vergleichbarer Rechtsschutzziele verbunden sind. Aus der verfassungsrechtlichen Art einer konkret begründeten Zuständigkeit der Verfassungsgerichte folge eine Sperre des Verwaltungsrechtsweges nicht nur für diejenigen, die das betreffende Verfahren vor dem Verfassungsgericht initiieren dürfen, sondern ebenso für andere Antragsteller, die insoweit denselben Gegenstand betreffende Streitigkeiten weder vor den Verfassungsgerichten (mangels Zugehörigkeit zum Kreis der Beteiligungsfähigen) noch vor den Verwaltungsgerichten (wegen verfassungsrechtlicher Art der Streitigkeit) anbringen können. Beispielsweise folge aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i. V. m. den §§ 63 ff. BVerfGG, dass ein nicht zum Kreis der hiernach Antragsberechtigten Gehörender (also etwa ein Bürger) ein Organverhalten, welches zum Gegenstand eines Organstreitverfahrens gemacht werden kann, auch nicht im Verwaltungsrechtsweg zur Überprüfung stellen darf. Insoweit unterscheidet sich Schenkes Ansatz deutlich von der rein formellen Abgrenzungstheorie82, welche zu diesem Ergebnis nicht zu führen vermag83. Hiermit gelangt Schenke auf deutlich „unkomplizierterem“ und letztlich eleganterem Weg zu einem Ergebnis, welches die materielle Subjektstheorie allerdings auch erreicht, denn durch ihr Abstellen allein auf die Stellung des Verfahrensgegners (und nicht beider Beteiligter) kann sie anders als etwa die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit das von einem Bürger angestrebte Organstreitverfahren ebenfalls als verfassungsrechtliche Streitigkeit qualifizieren und damit den Verwaltungsrechtsweg auch in diesem Fall ausschließen. Ferner führt Schenkes Sichtweise im Hinblick auf Normenkontrollen einschließlich Verfassungsbeschwerden gegen formelle Gesetze unproblematisch zur zutreffenden Erfassung als verfassungsrechtliche Streitigkeiten, was die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit hingegen nicht vermag. Den Vorzug seiner Abgrenzungslösung gegenüber der materiellen Subjektstheorie sieht Schenke vor allem in der von ihm befürworteten, auf der Grundlage von Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG unproblematisch und konsequent möglichen Erfassung von prinzipalen Normenkontrollen gegen untergesetzliche Rechtsvorschriften als verfassungsrechtliche Streitigkeiten, da Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die prinzipale Kontrolle auch von untergesetzlichen Normen umfasst und solche Streitigkeiten demgemäß der Verfassungsgerichtsbarkeit vorbehalten sein „sollen“.84 Die materielle Subjektstheorie hingegen muss Normenkontrollen gegen untergesetzliche Normen konsequenterweise als nichtverfassungsrechtliche Streitigkeiten werten; denn es handelt sich hierbei um eine Hoheitstätigkeit, welche verfassungs82
s. oben III. 1. s. oben bei Fußn. 30. 84 W.-R. Schenke, AöR 2006 (131), 117 (133 ff.). – Für die Erfassung prinzipaler Normenkontrollen gegen untergesetzliche Normen als verfassungsrechtliche Streitigkeiten auch Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 47 Rn. 8 f. 83
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funktionell nicht ausschließlich den in Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG aufgezählten Verfassungsrechtssubjekten vorbehalten ist, weil Art. 80 Abs. 1 S. 4 GG auch die Weiterdelegierung der Normsetzung an andere Behörden gestattet.85 Dies würde allerdings nur gegen die materielle Subjektstheorie sprechen, wenn man auch der Auffassung wäre, dass die Kontrolle der Setzung untergesetzlicher Normen verfassungsrechtlicher Natur ist. Trotz der nicht unbeachtlichen Gegenargumente sieht die wohl herrschende Meinung86 – ebenso wie der Verfasser des vorliegenden Beitrags – in diesen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtliche, weil die gerichtliche Überprüfung der Exekutive, auch deren rechtsetzender Tätigkeit, prinzipiell Aufgabe der Verwaltungsgerichte ist87. Dieser hier favorisierte Befund ändert aber nichts an der bestechenden Leichtigkeit und Konsequenz, mit der Schenkes Abgrenzungsansatz die von ihm befürwortete Einstufung untergesetzlicher Normenkontrollen als verfassungsrechtliche zu begründen vermag. Im Übrigen gibt es noch einen letzten – wenn auch eher theoretischen – Einwand gegen die von Schenke vertretene Abgrenzungstheorie. Er resultiert aus der doch recht formalen Anbindung an den bestehenden verfassungsgerichtlichen Zuständigkeitskatalog. Letztlich müsste nämlich konsequenterweise jede verfassungsgerichtliche Streitigkeit – insoweit deckungsgleich mit der rein formellen Theorie – zugleich als verfassungsrechtliche gelten. Dies kann sich vor dem Hintergrund als problematisch erweisen, dass es dem Gesetzgeber unbenommen ist, auch verwaltungsrechtliche Streitigkeiten den Verfassungsgerichten zuzuweisen,88 sofern er dies für zweckmäßig erachtet. Nach Schenkes Ansatz müssten diese bisher – materiell – verwaltungs- bzw. nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeiten dann eigentlich konsequenterweise allein aufgrund des formalen Umstandes der Zuweisung an die Verfassungsgerichte als verfassungsrechtliche Streitigkeiten gelten, gleichsam also zu solchen „mutieren“, obwohl sich am Inhalt der Streitigkeit allein durch die Zuständigkeitsverschiebung an sich nichts ändert. Insoweit scheint Schenkes Ansatz ein Korrektiv zu fehlen, aufgrund welchen sich entscheiden ließe, ob die betreffende Streitigkeit nun wegen abdrängender Sonderzuweisung den Verfassungsgerichten zugewiesen ist (mithin aber eine nichtverfassungsrechtliche bleibt), oder ob sie als verfassungsrechtliche per se aus der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte auszuscheiden hat. Abdrängende Zuweisungen nichtverfassungsrechtlicher Streitigkeiten an die Verfassungsgerichte kann es auf der Grundlage von Schenkes Ansatz an sich nicht geben – obwohl sie keineswegs undenkbar erscheinen. Die praktischen Auswirkungen dieses Problems dürften sich allerdings in Grenzen halten. Dieser kleine Kritikpunkt wird jedoch in anderer Hinsicht sogar zum Vorteil. Die Verfassungsbeschwerde gegen Akte von Exekutive und Judikative muss nämlich 85
Ehlers (Fußn. 11), § 40 Rn. 156. s. etwa BVerfGE 70, 35 (55); BVerwGE 80, 355 (358); Bethge, Jura 1998, 529 (533); Hufen (Fußn. 32), § 19 Rn. 2 f. 87 s. bereits Sodan, NVwZ 2000, 601 (608). 88 s. bereits oben bei Fußn. 13. 86
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auch nach der materiellen Subjektstheorie (und ohnehin nach der Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit) als nichtverfassungsrechtliche gelten, weil sie regelmäßig und anders als diejenige gegen formelle Gesetze kein spezifisches Pflichtenprogramm eines Verfassungsrechtssubjekts zum Gegenstand hat. Nach Schenkes Ansatz kann sie hingegen als verfassungsrechtliche Streitigkeit erfasst werden. Bedenkt man, dass Verfassungsbeschwerden mit über 90 Prozent den weitaus größten Anteil an den verfassungsgerichtlichen Verfahren haben89 und innerhalb der Verfassungsbeschwerden diejenigen gegen Gerichtsurteile und Behördenakte wiederum deutlich in der Überzahl sind90, so entscheidet das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage der materiellen Subjektstheorie wie auch der Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit jeweils als Hüter der Verfassung zum Großteil über nichtverfassungsrechtliche Streitigkeiten. Nun können rein quantitative Erwägungen zwar nicht allein ausschlaggebend für den Wert einer rechtlichen Abgrenzung zwischen verfassungs- und nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeiten sein. Und trotzdem: Mit Schenkes Ansatz wird dieser quantitativ begründete „Schönheitsfehler“ korrigiert. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass Schenke mit seinem Ansatz einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des nach wie vor sehr problematischen Merkmals der Streitigkeit (nicht)verfassungsrechtlicher Art geleistet hat. Die von ihm entwickelte Abgrenzung ist inhaltlich stimmig, trennscharf und verhältnismäßig leicht zu handhaben. Dem Jubilar ist zu wünschen, dass er die Diskussion nicht nur über das Merkmal der Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, sondern auch zu anderen wichtigen verwaltungsprozessrechtlichen Fragen auch künftig mit seinen Beiträgen nachhaltig beeinflussen und damit wesentlich bereichern wird.
89
So jedenfalls im Falle des Bundesverfassungsgerichts, s. die betreffenden Statistiken auf der Homepage des Gerichts, www.bundesverfassungsgericht.de/organisation.html. 90 Von den zum Bundesverfassungsgericht erhobenen Verfassungsbeschwerden waren im Geschäftsjahr 2010 lediglich etwa 5 Prozent solche, die sich unmittelbar oder auch nur mittelbar gegen Rechtsnormen gerichtet haben, s. www.bundesverfassungsgericht.de/organisati on/gb2010/A-IV-8.html.
Zum Stand des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes in Deutschland Von Udo Steiner I. Vom Notrechtsschutz der Nachkriegszeit zum Rechtsschutzstaat der Gegenwart 1. Der Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg Als zentraler Baustein der Wiederherstellung einer rechtsstaatlichen Ordnung in Bayern gilt nach 1945 der (Wieder-)Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit.1 Wie auf anderen Gebieten auch beginnt die amerikanische Besatzungsmacht überraschend bald nach der Kapitulation, Vertrauen in die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit zu fassen. Die Militärregierung ordnet an, dass die Verwaltungsgerichte in Bayern ihre Tätigkeit mit dem 15. November 1945 wiederaufnehmen. Dies ist aber jedenfalls dem BayVGH, der noch formell besteht, nicht ohne weiteres möglich. Nur zwei Richter sind greifbar. Akten und Bibliothek in München sind vollständig zerstört. Bescheiden startet die erstinstanzliche Verwaltungsgerichtsbarkeit an zunächst fünf Standorten mit ein bis zwei Kammern. Gemessen daran hat sich derjenige, der sich heute über aktuelle Fragen des Rechtsschutzes im öffentlichen Recht und damit auch über dessen Qualität und Effizienz äußert, eher mit Luxusproblemen zu befassen. Längst ist der öffentlich-rechtliche Rechtsschutz auf Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit und natürlich auch auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern verteilt, mit zwei bis drei Rechtszügen, zahlreichen Kammern und Senaten, einer vierstelligen Zahl von Richterinnen und Richtern, drei obersten Bundesgerichten in Leipzig, München und Kassel. Dies kann sich auch in Europa sehen lassen. Ob wir freilich Europameister des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes sind, wird bezweifelt. 2. Aufbau und Abbau des Verwaltungsrechtsschutzes Immerhin waren 15 Jahre Zeit des Experiments notwendig, um 1960 die VwGO bundesweit in Kraft zu setzen. Als Vollendung des Rechtsstaats 1945 neu belebt, wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch die verwaltungsgerichtliche Generalklausel in eine umfassende Verantwortung für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit
1 Dazu näher Steiner, in FS Wahl, 2011; zur Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der DDR siehe Classen, JurArbeitsblätter 2010, 487, 490.
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der Verwaltung genommen.2 Erste Krisensymptome zeigten sich dann in den 1980er Jahren mit der zunehmenden Last der Asylverfahren, mit deren Einfluss auf die Struktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit und mit der moralischen Überforderung mancher Richterinnen und Richter in den menschlichen Fragen dieses Verfahrens. Erst in den 1990er Jahren aber geriet die Verwaltungsgerichtsbarkeit wirklich in Bedrängnis. Die Politik wollte den zügigen Abschluss der Gerichtsverfahren bei Vorhaben der öffentlichen Infrastruktur, meinte, die Verwaltungsrichter griffen unerlaubt in den Kernbereich der Verwaltung ein; die Verwaltungsgerichtsbarkeit koste zuviel Geld, und sie sei lästig. In Infrastrukturfragen sei der Wirtschaftsstandort Deutschland in Gefahr.3 Aus richterlicher Sicht4 sah man Mitte der 1990er Jahre die „Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Krise“. Stelkens, damals Vorsitzender Richter am OVG für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster, in Erwartung des Sechsten Gesetzes zur Änderung der VwGO vom 1. November 19965, aus der Sicht der Richter ein Strukturgesetz und nicht nur eine Summe punktueller Eingriffe, formulierte: Vielleicht befinde sich die Verwaltungsgerichtsbarkeit in einer midlife-crisis; darauf reagiere man aber im sonstigen Leben durch psychologischen Beistand, nicht aber – wie vom Gesetzgeber bei der VwGO geplant – durch Amputation von Gliedmaßen oder das Entfernen wichtiger Organe.6 Die Neuerungen des damaligen Änderungsgesetzes sind durchaus noch aktuell, weil sich viele Beteiligte – Rechtsanwälte ebenso wie Richter und Wissenschaftler – mit diesen Neuerungen bis heute nicht abfinden wollen. Dies gilt beispielsweise für die Zulassungsberufung. 2010 bilanziert Wilfried Erbguth die Entwicklung seitdem unter dem Stichwort „Abbau des Verwaltungsrechtsschutzes“.7 II. Verwaltungsverfahren als vorgelagerter Rechtsschutz 1. Funktionsverlust des Verwaltungsverfahrens a) Das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ist als rechtskulturelles Glanzstück 1976 gestartet. Ihm liegt bekanntlich die Idee zugrunde, ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren sichere eine sachrichtige und mit dem geltenden
2
Siehe für Süddeutschland Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 25. 9. 1946 (VGG), BayGVBl. S. 281. 3 Siehe dazu Manssen, Verwaltungsrecht als Standortnachteil, 2006. 4 Stelkens, DVBl. 1995, 1105. 5 Dazu auch Schenke, in: Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 1027, 1032 ff.; zur Gesetzesbegründung siehe BT-Drucks. 13/3993 vom 6. 3. 1996. 6 Stelkens, DVBl. 1995, 1105. 7 Erbguth, DÖV 2009, 921; ders., (Hrsg.), Verwaltungsrechtsschutz in der Krise: vom Rechtsschutz zum Schutz der Verwaltung?, 2010; siehe auch den Bericht über die Rostocker Tagung zur Situation des Verwaltungsrechtsschutzes von Schubert, NVwZ 2009, 1214.
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Recht übereinstimmende Verwaltungsentscheidung.8 Dieser Sicherungseffekt greife vor allem in den Fällen, in denen das Gesetz der Verwaltung durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessensermächtigungen oder Einräumung von Planungsermessen erhebliche Entscheidungsspielräume gewähre. Das Verwaltungsverfahren entlaste den richterlichen Verwaltungsrechtsschutz, dessen Kontrolle bei offenen Handlungsermächtigungen der Verwaltung an Grenzen stoße. Der berühmte Mülheim-KärlichBeschluss des BVerfG9 hat diesen Gedanken 1979 pointiert: Grundrechtsschutz durch Verfahren. Auch das Europäische Gemeinschaftsrecht setzt auf Richtigkeitsund Rechtmäßigkeitsgewähr durch Verfahren. Man spricht hier von Prozedualisierung.10 b) Heute, im Jahr 2011, hat dieser schöne Gedanke an Glanz verloren. Die Funktion des Verwaltungsverfahrens scheint eher geschwächt zu sein.11 Das Verwaltungsverfahren sei – so die jüngere Doktrin – nicht Selbstzweck, sondern dienender Natur. Mängel im Verfahren seien daher nur relevant, wenn sie für das Ergebnis von Bedeutung sind. In den 1990er Jahren wollte man die Verwaltungsverfahren (und natürlich auch die verwaltungsgerichtlichen Verfahren) beschleunigen. Man hatte es eilig mit der Herbeiführung der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen, zuerst in den Neuen Ländern, dann in der gesamten Bundesrepublik, vor allem bei Maßnahmen der öffentlichen Infrastruktur, darüber hinaus im gesamten Investitionsbereich.12 Die Gesetzesnamen sind bekannt13: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz (1991), Planungsvereinfachungsgesetz (1993), Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsgesetz (1996), Infrastrukturvorhabenplanungsbeschleunigungsgesetz (2006), Immissionsrechtbeschleunigungsgesetz (2007), Innenentwicklungsgesetz (2006), insbesondere die Einführung eines beschleunigten Verfahrens für Bebauungspläne der Innenentwicklung (§ 13a BauGB)14, Energieausbauleitungsgesetz (2009)15. Zwar ist physikalisch Beschleunigung nicht gleich Geschwindigkeit. Gleichwohl: Fachplanungsrecht, Recht der Bauleitplanung und allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht haben durch den Beschleunigungsgedanken ein rechtsstaatlich neues Gesicht erhalten. 8 Zum Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht siehe die Grundsatzreferate von Gurlit und Fehling, in: VVDStRL Bd. 70 (2011); siehe zur Verfahrensgerechtigkeit allgemein Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 36. 9 BVerfGE 53, 30. 10 Näher dazu etwa Grünewald, Die Betonung des Verfahrensgedankens im deutschen Verwaltungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht, 2010, S. 123 ff. 11 Voßkuhle spricht von Aufstieg und Fall des Verwaltungsverfahrens (in: Willoweit, Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert, 2007, S. 935, 940 ff.). 12 Siehe dazu etwa Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 76 ff. 13 Zu den Anfängen siehe die Beiträge in: Blümel/Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994. 14 Dazu umfassend Robl, Das beschleunigte Verfahren für Bebauungspläne der Innenentwicklung, 2010. 15 Dazu Holznagel/Nagel, DVBl. 2010, 669.
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c) Die Kritiker der gesetzlichen Entwicklung des Verwaltungsverfahrensgesetzes haben mehrere Änderungen auf die rechtsstaatliche Verlustliste gesetzt. Die Pflicht zur Anhörung Beteiligter (§ 28 VwVfG) – das Verfahrensgrundrecht schlechthin – ist unverändert geblieben. Es bleibt allerdings auch hier immer eine wichtige Forderung an die Praxis, dass der Betroffene „inneres Gehör“ findet, dass man ihm also zuhört und ihn nicht nur anhört.16 Seit Ende 1996 kann nun die Anhörung nachgeholt werden (§ 45 Abs. 1 Nr. 4 VwVfG), und zwar bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens (§ 45 Abs. 2 VwVfG). Dies geht an die rechtsstaatliche Substanz. Die nachgeholte Anhörung als Formalie abzuwerten, ist durchaus ab dem Zeitpunkt nicht unberechtigt, in dem Verwaltung und Betroffene sich vor dem Verwaltungsgericht gegenüberstehen. 2. Das Fehlerfolgenkonzept des Gesetzgebers a) Ohne Zweifel wertet der Gesetzgeber das Verwaltungsverfahren ab, wenn formelle Fehler ohne Folgen für den Bestand der Verwaltungsentscheidung bleiben. Sie bleiben dies grundsätzlich, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 46 VwVfG). Seit 1996 gilt die Unbeachtlichkeitsvorschrift des § 46 VwVfG für alle Verwaltungsakte, auch solche, deren Erlass im Ermessen der Verwaltung stehen. Das Planfeststellungsrecht hat den Gedanken der Bestandserhaltung aufgenommen (§ 75 Abs. 1a VwVfG), aus praktischer Sicht verständlich. Die negativste Ausprägung dieses Gedankens sind ohne Zweifel die Vorschriften der §§ 214 und 215 BauGB über die sog. Planerhaltung im Zusammenhang mit städtebaulichen Plänen und Satzungen, die die kommunale Verwaltung bei vielen formellen und teilweise auch bei materiellen Fehlern in Schutz nehmen.17 Die hohe Kunst der Bestandssicherung durch Fehlernichtfolgenrecht hat der Gesetzgeber detailliert in § 214 Abs. 2a des BauGB 2007 für den Bebauungsplan der Innenentwicklung (§ 13a BauGB) fortgesetzt.18 Es dürfte der planenden Verwaltung schwer fallen, einen Fehler im Zusammenhang mit einem derartigen Bebauungsplan zu begehen, der beachtlich ist. Es kann in rechtsstaatlicher Hinsicht aber nicht zweifelhaft sein: Können die Verwaltungsgerichte Entscheidungen der Verwaltung nicht mehr wegen formeller Fehler aufheben, so entfällt die Drohung gegenüber der Verwaltung mit einem empfindlichen Übel. Es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne Einfluss auf die rechtstaatlich gebotene Verfahrensdisziplin bleibt. Natürlich sind – deutschem Brauchtum entsprechend – alle diese Schritte des Gesetzgebers begleitet worden mit Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit und der Drohung mit dem Bundesverfassungsgericht.19 Diesen Zweifeln muss man hier nicht 16
Steiner, NZS 2002, 113, 116. Vgl. kritisch auch Steiner, BayVBl. 2009, 1, 3. 18 Siehe dazu Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2009, Vorb §§ 214 – 216 Rn. 12. 19 Siehe Battis (Fußn. 18), § 214 Rn. 24. 17
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nachgehen. Insgesamt aber scheint es wohl so zu sein, dass der Gesetzgeber immer an die Grenze dessen gegangen ist, was verfassungsrechtlich zulässig ist; er hat dabei eher rechtstaatliche Qualität vermindert und weniger verfassungswidrig gehandelt. b) Sieger in der Beschleunigungsgesetzgebung ist die Verwaltung auch geblieben, soweit es um die Möglichkeit der Ergänzung von Planungs- und Ermessungsentscheidungen durch Ergänzung oder durch ein ergänzendes Verfahren geht. § 114 Satz 2 VwGO ist 1996 in die VwGO aufgenommen worden, systematisch dort wohl deplaziert. Ergänzt können der Planfeststellungsbeschluss und die Plangenehmigung werden (§ 75 Abs. 1a Satz 2 VwVfG), und natürlich der Flächennutzungsplan und die städtebauliche Satzung (§ 214 Abs. 4 BauGB). Formell gesehen sind solche Regelungen keine Minderung des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes. Abwehren kann der Bürger nur den rechtswidrigen Verwaltungsakt und die rechtswidrige Satzung. Erledigt sich die Rechtswidrigkeit durch Nachbesserung, kann der Hoheitsakt nicht Rechte verletzen. Bei der Erfolgseinschätzung hat deshalb der Rechtsanwalt hier – also im Zusammenhang mit den gesetzlich vorgesehenen Heilungs- und Unbeachtlichkeitsoptionen – den Mandanten realistisch bei der Beratung aufzuklären. Andererseits ist eine selbstbewusste verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in der Lage, durch Auslegung erheblichen Einfluss auf die Tragweite aller dieser Bestimmungen zu nehmen, und sie hat dies teilweise auch getan. Ergänzung und ergänzendes Verfahren können nicht Wege der Korrektur sein, wenn es um die Konzeption der Maßnahme oder des Vorhabens geht. Mängel des Grundgerüsts der Abwägung sind nicht reparabel, Reparatur scheidet aus, wenn Fehler die Identität des Planes oder den Kern der Abwägungsentscheidung treffen.20 3. Weitere Schritte zur rechtlichen Stabilisierung von Verwaltungsentscheidungen a) Kontinuierlich hat der Gesetzgeber Fristen verkürzt, um zügige Entscheidungen der Verwaltung und der Verwaltungsgerichtsbarkeit herbeizuführen. Knappe Fristsetzungen zu Lasten der Behörden und der Träger der öffentlichen Belange gehören dazu (§ 73 Abs. 3a VwVfG). Seit 2006 kann der Bebauungsplan nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nur noch innerhalb eines Jahres nach Bekanntmachung angegriffen werden; davor waren es zwei Jahre. § 215 Abs. 1 BauGB setzt eine Frist für die Geltendmachung von Rechtsmängeln des Flächennutzungsplans und der Satzungen von einem Jahr. Das ist eine kurze, manche meinen zu kurze Frist, aber sachlich überzeugender als die früher bestandene, eher mysteriöse Differenzierung nach ein oder sieben Jahren. Hinzu kommt schon seit langem die materielle Präklusion, die innerhalb und außerhalb des Fachplanungsrechts den Rechtsanwalt zu einer höchst sorgfältigen und umsichtigen Verfahrensmoderation zwingt. b) Den Suspensiveffekt kann man als den großen Verlierer der 1990er Jahre unter den Institutionen des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes bezeichnen. § 212a 20
Dazu etwa Manssen (Fußn. 3), S. 23 ff.
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BauGB steht beispielhaft für viele Fälle über zahlreiche Rechtsmaterien des deutschen Verwaltungsrechts hinweg.21 Manche formulieren, der Wegfall des Suspensiveffekts sei schon eher die Regel als die Ausnahme.22 Auch der Landesgesetzgeber kann entsprechende Regelungen treffen. Hinzu kommt eine begrenzte Dauer des Suspensiveffekts (§ 80b VwGO). Nicht gerne gesehen ist der Suspensiveffekt auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht. Er ist sozusagen nur geduldet, weil er die Anwendung und Durchsetzung von (sekundärem) EU-Recht vorläufig hemmt. Der EuGH23 gibt aber auch der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5, § 80a, § 47 Abs. 6 und § 123 VwGO eher eine restriktive Linie vor, wenn die Gültigkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsaktes in Frage gestellt wird. Bei Verwaltungsakten, die auf Gemeinschaftsverordnungen beruhen, aber auch bei sonstigen Verwaltungsakten der europäischen Organe soll gelten, weil der EuGH das Gemeinschaftsrecht in allen Mitgliedstaaten nach einheitlichen Grundsätzen durchgesetzt sehen will: Die Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung müssen erheblich sein. Nur in Fällen der Dringlichkeit darf der Vollzug ausgesetzt werden. Das Gericht muss das Interesse der Gemeinschaft an effektivem und gleichmäßigem Vollzug seiner Rechtsetzungsakte angemessen berücksichtigen.24 Entsprechendes gilt für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO.25 Diese Vorgaben bewirken eine nicht erfreuliche geteilte Rechtslage in der verwaltungsgerichtlichen Praxis des Eilrechtsschutzes zwischen dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht und dem Vollzug rein nationalen Rechts.26 In Zweifel hat man auch gezogen, ob das europäische Recht überhaupt über eine Kompetenz verfügt, in die nationalen Verwaltungsprozessordnungen einzugreifen.27 4. Perspektiven Es wäre aber freilich nicht fair und nicht redlich bilanziert, bliebe die verstärkte Einführung von Genehmigungsfiktionen in das Verwaltungsrecht unerwähnt. Prototyp der fingierten Genehmigung ist die im BBauG von 1960 enthaltene fiktive Bodenverkehrsgenehmigung (§ 19 Abs. 4). Der Gesetzgeber hat die Figur der fingierten 21
Siehe etwa § 84 Abs. 1 AufenthG; § 54 Abs. 4 BeamtStG; § 4 Abs. 4 SchfHwG. Schoch, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 29 Rn. 55. 23 Siehe etwa EuGH, NVwZ 1991, 460. Zu den aufgeworfenen Fragen siehe näher Dörr/ Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233; Ziekow, NVwZ 2010, 793. Zum Recht auf effektiven Rechtsschutz im gemeineuropäischen Rechtsstaatsverständnis siehe Sommermann, in: FS Merten, 2007, S. 443. 24 Dazu näher Schoch (Fußn. 22) § 29 Rn. 149. 25 EuGH, NJW 1996, 1333. 26 Siehe etwa Ehlers, DVBl. 2004, 1441; M.P. Huber, BayVBl. 2001, 577 sowie Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht unter europäischem Einfluss, 2003. 27 Siehe zur Kompetenzfrage etwa Schwarze, NVwZ 2000, 241, 244; Nachweise zur Kompetenzkritik bei Schoch (Fußn. 22), § 29 Rn. 149 i.V.m. Fußn. 371. 22
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Verwaltungsentscheidung bereits in mehreren Bereichen eingesetzt.28 Seit 2008 ist sie als Muster ohne unmittelbaren normativen Wert in § 42a VwVfG enthalten. Nach Ablauf einer bestimmten Frist – drei Monate nach Eingang der vollständigen Unterlagen mit der Möglichkeit einer angemessenen Verlängerung – gilt die beantragte Genehmigung als erteilt, sofern der entsprechende Antrag hinreichend bestimmt ist. Dies ist ohne Zweifel eine bürgerfreundliche Option des modernen Verwaltungsrechts. Sie kann freilich nicht greifen, wenn gewichtige Belange der Allgemeinheit oder Dritter durch die Genehmigung berührt werden. Zu Recht hebt man hervor, dass das Institut der Genehmigungsfiktion der Verwaltungsbehörde eine Befugnis zur Disposition über diese Belange nicht geben darf.29 b) Mehr Beschleunigungsgesetzgebung wird es wohl bis auf weiteres nicht geben. Andererseits gibt es aber wohl auch keinen Weg zurück, also keine Art Entschleunigungsgesetzgebung. Ob es zu einer Wiederkehr des Widerspruchverfahrens in den Ländern nach dessen grundsätzlicher Abschaffung mit und ohne fakultative Komponenten kommt oder kommen soll, lässt sich schwer einschätzen.30 Allerdings liegt gegenwärtig noch im Zusammenhang mit der Beschleunigungsgesetzgebung ein Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern zum VwVfG vor. Er hat die Aufnahme einer Vorschrift in das Planfeststellungsrecht des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Ziel. Danach kann der Erörterungstermin nach Verfahrensermessen der Verwaltung im Planfeststellungsverfahren entfallen.31 Ob dies im Ergebnis zügiger zu rechtmäßigen Planfeststellungsbeschlüssen führt, ist wohl eine Frage des Einzelfalls. Die Zweckmäßigkeit dieser Gesetzesänderung wird ohnehin vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit „Stuttgart 21“ zu diskutieren sein.32 III. Die Gegenwartslage des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes 1. Das Rollenverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit a) In der Literatur macht man der Verwaltungsgerichtsbarkeit den Vorwurf, sie habe selbst an der Verlustliste des Verwaltungsrechtsschutzes mitgewirkt.33 Es wird behauptet, sie habe durch ein wenig rechtsschutzfreundliches Verständnis der 28
Dazu Uechtritz, DVBl. 2010, 684; ders., in: Festgabe Martin Bullinger, 2011, 2. Teil. Dazu Uechtritz, DVBl. 2010, 684, 685. 30 Zu den bayerischen Erfahrungen siehe Eibner, Die Abschaffung des verwaltungsrechtlichen Vorverfahrens in Bayern, Diss. Erlangen-Nürnberg, 2010. Grundsätzlich zum Verhältnis von Verwaltungsrechtsschutz und Widerspruchsverfahren Breuer, in: FS Steiner, 2009, S. 92 ff. 31 Dazu den Bericht von Stüer, DVBl. 2010, 1492, 1493. Zur öffentlichen Diskussion dieser Frage siehe FAZ Nr. 5 vom 7. 1. 2011, S. 11. 32 Siehe dazu – aus staats- und verwaltungsrechtlicher Sicht – Kämmerer, NJW-Editorial 7/ 2010; Kotzur, NJW-Aktuell 2010/52, S. 10 f.; Leisner, NJW 2001, 33; Steinberg, FAZ vom 14. 12. 2010. 33 Zum Folgenden siehe Erbguth, DÖV 2009, 921, 927 ff. 29
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dargestellten gesetzlichen Vorschriften zur Schmälerung eines effizienten Rechtsschutzes beigetragen. Man beklagt: Die Rechtsprechung verlange bei formellen Fehlern den Nachweis materiell-rechtlicher Relevanz. Es werde für die Möglichkeit der Entscheidungsbeeinflussung durch Fehler im Abwägungsvorgang eine einzelfallorientierte Kausalität gefordert. Auch nimmt man dem BVerwG die Mahnung übel, die Verwaltungsgerichte sollten sich nicht ungefragt auf Fehlersuche bei Bebauungsplänen begeben, sollten auf eine fehlerrechtliche Rasterfahndung also verzichten. Es soll hier offen bleiben, ob man dies so kritisch sehen kann. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit sieht sich wahrscheinlich dem Geist der Gesetze verpflichtet (was ja keine methodisch abwegige Linie ist). Wissenschaft und Anwaltschaft erwarten offenbar im Zusammenhang mit der Beschleunigungsgesetzgebung von der Rechtsprechung eine eher kontraproduktive Linie (man kann auch sagen: oppositionelle Linie). Das muss zu Enttäuschungen führen.34 b) Für die verwaltungsgerichtliche Bestimmung der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO treffen die zitierten kritischen Worte ohnehin weniger zu. Hier sind durchaus klägerfreundliche Entwicklungen zu verzeichnen: Die sog. Konkurrentenklage ist etabliert, über das Beamtenrecht hinaus in anderen Rechtsmaterien, im Gewerbe- und Gesundheitsrecht beispielsweise.35 Im Baurecht hat die Rechtsprechung die sog. Schutznormtheorie im Bedarfsfall komplettiert durch die subjektivrechtliche Komponente des Rücksichtnahmegebots.36 Sie hat sich dem Gesetzgeber entgegengestellt, als dieser die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO der Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO angenähert hat, um dem Angriff auf die Abwägung in der Bauleitplanung Grenzen zu setzen.37 Sehr schnell hat hier die Rechtsprechung die Anerkennung eines subjektiven Rechts auf rechtmäßige planerische Abwägung für die abwägungsrelevanten privaten Belange (§ 1 Abs. 7 BauGB) auch unter dem neuen Recht fortgesetzt. c) Bekanntlich haben auch das europäische Gemeinschaftsrecht und der EuGH den Zugang des Bürgers zur Verwaltungsgerichtsbarkeit durch Gewährung von subjektiven Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO verstärkt.38 Der Bürger, und nicht zuletzt der in Verbänden organisierte Bürger (Verbandsklage des Umweltrechtsbehelfsgesetzes)39, soll mit Hilfe der Verwaltungsgerichte für einen effizienten Vollzug des europäischen und des nationalen Rechts, das europäisches Recht umsetzt, und dies sind bei vorsichtiger Schätzung 50 % des in Deutschland geltenden Rechts, aktiviert werden. Dieses Segment der Europäisierung des Verwaltungsrechts und des 34
Siehe in diesem Zusammenhang auch Steiner, BayVBl. 2009, 1, 3. Dazu etwa Schenke, in: FS Schnapp, 2008, S. 679 (Beamtenrecht); Steiner, NVwZ 2009, 486 (Gesundheitswesen). 36 Siehe etwa Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl. 2009, § 27 Rn. 15 ff. 37 Dazu Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 47 Rn. 44. 38 Dazu – mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH – Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233, 1234 ff. 39 Siehe dazu Marty, ZUR 2009, 115. 35
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Verwaltungsrechtsschutzes hat viele Facetten. Als prominente Beispiele seien genannt der Anspruch auf Erlass eines Aktionsplans nach § 47 BImSchG (im Zusammenhang mit Maßnahmen der Luftreinhaltung)40 oder der Anspruch auf Mitteilung von Umweltinformationen nach § 3 Abs. 1 Umweltinformationsgesetz (UIG).41 2. Strukturfragen der Verwaltungsgerichtsbarkeit a) Seit 1996 – also dem 6. VwGO-Änderungsgesetz – ist dem Einzelrichter durch § 6 VwGO eine wichtige Rolle im gerichtlichen Verfahren zugewiesen. Bis dahin hatte die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit ihrem erstinstanzlichen Kammerprinzip eine qualitative Sonderstellung. Hinzu kommt: Auch gegen Urteile des Einzelrichters ist die Berufung beschränkt (§ 124 VwGO). Gewiss werden informell der Einzelrichter und insbesondere der Proberichter im ersten Jahr nach seiner Ernennung (§ 6 Abs. 1 Satz 2 VwGO) den Rat der Kammer oder zumindest den des Vorsitzenden suchen, auch wenn der Einzelrichter nach dem Konzept der VwGO nur für tatsächlich und rechtlich einfach gelagerte Fälle zuständig ist. Zudem hat die Kammer in Anwendung des § 6 VwGO weitreichenden Spielraum bei der Übertragung der Entscheidung eines Rechtsstreits auf den Einzelrichter. Es bleibt aber dabei, dass die Befassung einer Sache durch die Kammer Kläger und Behörden mehr Respekt erweist und auch die Chance auf Akzeptanz der Entscheidung bei beiden Parteien erhöht. b) Zu den höchst aktuellen Fragen des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes gehört die Sanktionierung überlanger Gerichtsverfahren. Nunmehr liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vor42 und ist inzwischen dem Bundesrat zugeleitet. Er trägt der Diskussion des Referentenentwurfs in einigen wichtigen Teilen Rechnung. Die Literatur43 will festgestellt haben, dass sich die Verwaltungsgerichte in der Vergangenheit gegenüber Beschwerden wegen überlanger Verfahrensdauer resistent gezeigt hätten. Dies gelte auch für Fälle des „Verfahrenskomas“.44 Es gebe – so die Verwaltungsgerichte45 – eben keinen Rechtsbehelf für Fälle der Untätigkeit der Verwaltungsgerichte. Der Gesetzentwurf belässt es bei sei40 EuGH, NVwZ 2008, 984; dazu Paternoster, Verkehrsbeschränkungen zur Verringerung der innerstädtischen Feinstaubbelastung, 2010, S. 206 ff. Die Zuerkennung von klagefähigen Ansprüchen ist nicht auf das Verwaltungsrecht beschränkt. Siehe etwa zur Rechtsprechung des EuGH zur Geltendmachung von Kartellschäden Emmerich, Kartellrecht, 11. Aufl. 2008, § 7 Rn. 1b. 41 Zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben siehe Merten, NVwZ 2005, 1157 f.; Koch, Umweltrecht, 2. Aufl. 2007, S. 112 f. 42 BT-Drucks. 17/3802 v. 17. 11. 2010. 43 Ziekow, Rechtsschutzmöglichkeiten bei Untätigkeit des Verwaltungsgerichts, 1998. Siehe zur Problematik auch Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1980 f. 44 Ziekow (Fußn. 43), S. 10. 45 Ziekow (Fußn. 43), S. 29 ff.
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ner grundsätzlichen Lösung, Entschädigung zu gewähren für die Nachteile einer unangemessen langen Verfahrensdauer, wenn der Betroffene vorher eine Verzögerungsrüge erhoben habe. Neu ist gegenüber dem Referentenentwurf, dass die Entscheidung über Entschädigungsansprüche bei der jeweils betroffenen Gerichtsbarkeit liegt, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit also bei den Oberverwaltungsgerichten bzw. den Verwaltungsgerichtshöfen. Bei unangemessen verzögerten Verfahren vor den Obersten Bundesgerichten entscheiden jeweils die betroffenen Obersten Bundesgerichte selbst. Auch für das BVerfG sind entsprechende Regelungen vorgesehen. Bekanntlich ist der deutsche Gesetzgeber erst aufgrund der Rechtsprechung des EGMR46 aktiv geworden. Man sollte sich in der Frage der überlangen Dauer gerichtlicher Verfahren in Deutschland nichts vormachen. In einem Musterurteil vom 2. September 201047 hat der EGMR festgestellt, die überlange Dauer von Gerichtsverfahren sei in Deutschland ein allgemeines, also strukturelles Problem. Mehr als die Hälfte der gegen Deutschland ergangenen Urteile des EGMR hätten darin ihren Grund, nach einer anderen Zählung sogar 80 %. Aber auch das BVerfG, das selbst Probleme bei der überlangen Dauer seiner eigenen Verfahren und damit auch Probleme mit dem EGMR hat48, hat immer wieder festgestellt, dass die überlange Dauer eines Verfahrens eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG darstellt. Die Rechtsprechung des BVerfG ist in der Sache klar49 : Die Dauer von Klageverfahren im öffentlich-rechtlichen Bereich ist an den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG zu messen. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Frage, ab wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Natur des Verfahrens und die Bedeutung der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfahrensdauer für die Beteiligten, die Schwierigkeit der Sachmaterie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten, insbesondere Verfahrensverzögerungen durch sie, sowie die gerichtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter, vor allem der Sachverständigen. Das ist Stand der Rechtsprechung schon seit vielen Jahren. In einem Punkt ist diese Rechtsprechung freilich ebenso kompromisslos wie möglicherweise naiv: Der Staat kann sich nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen. Dazu gehört eben vor allem die personelle und sachliche Unterausstattung von Gerichten und Gerichtsbarkeiten bei hohem Geschäftsanfall. In der Sozialgerichtsbarkeit ist dies bekanntlich nicht erst seit der SGB II-Gesetzgebung der Fall. Es darf aber die Frage gestellt werden, ob sich die Rechtsprechung des BVerfG wirklich positiv auf die Stellen- und Ausstattungspläne der Justizhaushalte ausgewirkt hat. 46
EGMR, NJW 2006, 2389; NVwZ 2008, 289. EGMR, NJW 2010, 3355. 48 Dazu Steiner, in: Detterbeck u. a. (Hrsg.), FS Bethge, 2009, S. 653, 656 ff. 49 Nachweise zur Rechtsprechung bei Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Kommentar, 11. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 66. Siehe aus jüngerer Zeit BVerfG, Beschl. v. 14. 12. 2010, 1 BvR 404/ 10 – Juris. 47
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IV. Grundgesetzliche Vorgaben für einen effektiven Rechtsschutz 1. Justizgewährung und Justizgrundrechte Das Grundgesetz lässt die Rechtsprechung nicht mit dem Gesetzgeber allein. Unter seiner Geltung hat die Dritte Gewalt einen Ansehensaufstieg und eine Einflusszunahme erfahren, auch wenn sich dies in den Justizhaushalten nicht immer niederschlägt. Es sind nicht zuletzt die verfassungsrechtlichen Prinzipien, deren Entfaltung diese Entwicklung bewirkt hat. Allen voran ist es Art. 19 Abs. 4 GG, der gegen Akte der öffentlichen Gewalt den Rechtsschutz gewährleistet, und man darf nach der Rechtsprechung des BVerfG hinzufügen: effektiven Rechtsschutz. Greift die Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG nicht, weil es nicht um Akte der öffentlichen Gewalt geht, steht der sog. Justizgewährleistungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) dem rechtsuchenden Bürger zur Seite. Zur Effizienz des Verwaltungsrechtsschutzes gehören zeit-, sach- und lebensnahe Urteile. Andere Gewährleistungen des Grundgesetzes kommen hinzu. Es ist der gesetzliche Richter, den das BVerfG50 und auch die sonstige deutsche Rechtsprechung in einer Weise entfaltet haben, die man als weltmeisterlich bezeichnen kann. Weiter ist es der Anspruch auf rechtliches Gehör, der das BVerfG51 und dessen Plenum (mehrheitlich) veranlasst hat, die Anhörungsrüge zu erfinden – eine Erfindung, zu der das Plenum heute wegen der inzwischen vorliegenden Erfahrungen möglicherweise nicht mehr so stehen würde. Insgesamt: Den Bürgern und deren Anwälten hat das BVerfG nicht alle Wünsche erfüllt, die sie im Zusammenhang mit unserem öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzsystem hatten und haben, hat jedoch einige wichtige Akzente gesetzt. Zu den noch offenen Wünschen gehört die Anerkennung des Art. 19 Abs. 4 GG als Justizgrundrecht, auf das sich auch juristische Personen des öffentlichen Rechts und Privatrechtssubjekte in öffentlicher Trägerschaft, z. B. staatliche oder kommunale Unternehmen, berufen können. Dieser Wunsch richtet sich auch an Wolf-Rüdiger Schenke als Großkommentator des Art. 19 Abs. 4 GG.52 Das BVerfG hat die Anwendung des Art. 19 Abs. 4 GG auf Rechtsschutzbegehren von öffentlichen Aufgabenträgern ohne Begründung und im Kontext materieller Grundrechte und nicht der Justizgrundrechte verneint53, in späteren Entscheidungen diese Frage aber offen gelassen.54 Das Schrifttum ist sich nicht einig.55 Gesteht man juristischen Personen des öffentlichen 50 Siehe die Nachweise zur Rechtsprechung bei Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 101 Rn. 5 ff. 51 Siehe BVerfGE 107, 395. 52 Schenke, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4, Rn. 32 ff., 38 (Drittbearbeitung 2009). 53 BVerfGE 39, 302, 316. 54 Siehe BVerfGE 61, 82, 109; 107, 299, 310 f.; siehe auch die Kammerentscheidungen BVerfG, NVwZ 2007, 1176, 1177 (Justizgewährungsanspruch); 2008, 778, 779. 55 Für eine Gleichbehandlung mit den anderen Justizgrundrechten siehe etwa Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 Abs. 3 Rn. 42; Maurer, in: Badura/Dreier, FS 50 Jahre
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Rechts und deren „ausgegründeten“ Privatrechtssubjekten die Berufung auf Art. 19 Abs. 4 GG im Verwaltungsrecht nicht zu, entsteht eine eigenartige Asymmetrie innerhalb des grundsätzlich für alle gleich geltenden Verwaltungsprozessrechts. Private können sich, gestützt auf Art. 19 Abs. 4 GG, gegen eine übermäßig strenge Auslegung und Anwendung der Vorschriften der VwGO über die Voraussetzungen für den Zugang zu Rechtsmitteln und über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wenden56, Träger staatlicher oder kommunaler Aufgaben dagegen nicht. Dieser Unterschied ist schwer zu rechtfertigen. 2. Rechtsschutzgarantie und Suspensiveffekt Das BVerfG hat den gesetzlichen Suspensiveffekt nicht vor dem Gesetzgeber gerettet. Es gesteht ihm zwar hohes rechtstaatliches Gewicht zu, vor allem in seiner Funktion zu verhindern, dass durch den Vollzug einer Verwaltungsentscheidung eine irreparable Situation eintritt. Das Gericht hat auch klargestellt, dass der Wegfall des Suspensiveffekts aufgrund gesetzlicher Anordnung die Ausnahme bleiben muss.57 Es spricht davon, dass das Rechtsschutzsystem des § 80 VwGO auf dem Suspensiveffekt aufbaut. Es können jedoch – so das Gericht – überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Einzelnen einstweilig zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dies lässt das Gericht vor allem für die sog. mehrpoligen Verwaltungsrechtsverhältnisse, wie etwa im Immissionsschutzrecht, gelten. Hier muss auch das Interesse des Genehmigungsempfängers in die gesetzgeberische Wertung eingehen. Am Rande weist das Gericht darauf hin, dass der grundsätzliche automatische Eintritt der aufschiebenden Wirkung bei belastenden Verwaltungsakten eher ein deutscher Sonderweg in Europa und im europäischen Recht ist.58
BVerfG, Bd. II, 2001, S. 467, 485; Zuck, EuGRZ 2008, 680, 683 i.V.m. Fußn. 32. Roellecke (in: Umbach/Clemens, GG, Mitarbeiter-Kommentar, Bd. I, 2002, Art. 19 Abs. 1 – 3 Rn. 106) meint, zu den Prozessgrundrechten gehöre auch Art. 19 Abs. 4 GG, weil der demokratische Rechtsstaat ein eigenes Interesse an der gerichtlichen Kontrolle habe. Eine starke Gegenmeinung im Schrifttum sieht dies allerdings anders. Siehe etwa Dietlein (Fußn. 43), S. 1814 ff. mit umfangreichen Nachweisen; Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Abs. 3 Rn. 324; Sachs, in: Sachs (Fußn. 50), Art. 19 Rn. 108; Schenke, a.a.O.; wohl auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz-Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 40 ff. (Bearbeitungsstand: 2003). 56 Siehe zum Folgenden unter 3. mit Nachweisen. 57 Zum Folgenden siehe BVerfG, NVwZ 2009, 240, 241; vgl. auch BVerfG, NJW 2010, 1871 (Fehlen eines Suspensiveffekts im Sozialleistungsrecht). 58 BVerfG, NVwZ 2009, 240, 242.
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3. Rechtsschutzorientierte Interpretation der Prozessordnung a) Andererseits hat das BVerfG immer wieder in die tägliche Praxis der Anwendung der jeweiligen Prozessrechtsordnung eingegriffen, wenn die Gerichte den Zugang zum Rechtsmittelgericht unzumutbar erschwert haben. Dies ist auch für die Verwaltungsrechtsprechung wichtig, weil die VwGO die Einlegung der Berufung an eine Zulassung gebunden und damit sachlich eingeschränkt hat. Das BVerfG59 hat zwar dem Grundgesetz keine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung eines Rechtsmittelzugs entnommen, also keine Verpflichtung zum prozessual institutionalisierten Schutz gegen den Richter. Wird aber eine Instanz eröffnet, muss effektiver gerichtlicher Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet werden. Das Rechtsmittelgericht darf – so das Verfassungsgericht – ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und nicht für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen.60 Es sei dem Gericht durch das Rechtsstaatsgebot verboten, wenn es die verfahrensrechtliche Vorschrift auslegt und anwendet, den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen von Voraussetzungen abhängig zu machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen sind.61 Dies hat beispielsweise Bedeutung für die Substanzierungslast bei Revisionsrügen, etwa im Jugendgerichtsgesetz bei der Anforderung der eindeutigen Angabe eines zulässigen Angriffsziels.62 b) Ein dritter und für die Praxis durchaus wichtiger Punkt: Das BVerfG hat immer wieder in Einzelfällen die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung beanstandet. Es sieht die jeweilige Vorschrift des Prozessrechts im Lichte der Rechtsschutzgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Wird ein Prozessbeteiligter mit entscheidungserheblichem Vorbringen deshalb ausgeschlossen, weil ihm bei fristgebundenen Rechtsbehelfen die Wiedereinsetzung aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, versagt wird, ist sein (verfassungsrechtlicher) Anspruch auf effektiven Zugang zum Gericht betroffen. Folgerichtig verlangt das BVerfG, dass die Anforderungen an die Gewährung der Wiedereinsetzung nicht „überspannt“ werden. Dies gilt vor allem dann, wenn der Grund für die Versäumung der Frist auch in der Sphäre des Gerichts oder der Verwaltung zu finden ist.63
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BVerfGE 87, 48, 61; st. Rspr. BVerfGE 9, 27, 39; 112, 185, 208. 61 BVerfGE 112, 185, 208; BVerfG, NJW 2011, 1276. 62 BVerfGK 11, 383; BVerfG, NVwZ 2010, 1482. 63 Siehe z. B. BVerfGK 12, 303, 306. Zu dieser Rechtsprechung siehe auch Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 60 Rn. 9. 60
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V. Versuch einer Bilanz Wer mit der Bundesrepublik Deutschland groß und alt geworden ist, darf trotz aller aufgezeigten Rückschritte der letzten Jahrzehnte die Rechtsschutzbilanz 2011 positiv interpretieren. Der unabhängige und gut ausgebildete Berufsrichter ist ein ganz starkes Stück Deutschland. Richter und Anwälte genießen nach einer Studie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK)64 hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Deutlich vor ihnen liegen mit einem Spitzenwert die Feuerwehrleute (97 %). Damit kann die Rechtspflege leben. Der öffentlich-rechtliche Rechtsschutz durch Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichte sorgt dafür, dass der Rechtstaat den Bürger mit dem Staat nicht allein lässt. Die insgesamt positive Einschätzung der Situation des Verwaltungsrechtsschutzes in Deutschland schließt aber Wünsche nicht aus. Eine Rückkehr zum verwaltungsprozessualen Zustand vor der sechsten Änderung der VwGO 1996 wird es nicht geben. Auf der Wunschliste der Verwaltungsrichter steht die Lösung anderer Probleme.65 Auch über die Gestaltung des Instanzenzuges ist nachzudenken. Es erscheint vor allem ein Problem, wenn die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die de facto nicht selten das Verwaltungsstreitverfahren insgesamt beenden, in der zweiten Instanz und damit in der Landesinstanz durch Entscheidungen von Landesrichtern enden, und zwar vor allem dort, wo starke und spezifische Landesinteressen durch die richterliche Entscheidung berührt werden. Hier könnte – abgesehen von der Frage der Wahrung der Rechtseinheit und der Entscheidung von Grundsatzfragen (§ 132 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwGO) – der richterliche Blick der ferneren Bundesinstanz auf solche Verfahren dem Kläger das Gefühl einer wirklich unabhängigen richterlichen Beurteilung vermitteln. Dies gilt beispielsweise für die Entscheidung beamtenrechtlicher Fragen. In Richtung Wissenschaft gibt es dagegen keine Wünsche. An Aufmerksamkeit der deutschen Prozessrechtswissenschaft fehlt es nicht. Vor allem beim Jubilar Wolf-Rüdiger Schenke ist der verwaltungsrechtliche Rechtsschutz bekanntermaßen in den allerbesten Händen.
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Siehe NJW-Aktuell 2010/26, S. 12. Siehe dazu die Beiträge von Paetow und Storost, in: Magiera/Sommermann, Daseinsvorsorge und Infrastrukturgewährleistung, Symposion zu Ehren von Willi Blümel zum 80. Geburtstag, 2009, S. 105 und S. 109. 65
Zur Entwicklung des Wirtschaftsüberwachungsrechts Ein Rechtsgebiet zwischen Gefahrenabwehr, Risikobewältigung, Regulierung und unternehmerischer Eigenverantwortung Von Rolf Stober I. Zum Engagement des Jubilars im Schnittfeld zwischen Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht Der Jubilar ist auf vielen wissenschaftlichen Feldern zuhause. Er hat zahlreiche Facetten des Staats- und Verwaltungsrechts tiefgründig bearbeitet. Ein Schwerpunkt seiner Forschungsaktivitäten ist das Ordnungsrecht, zu dem er ein in vielen Auflagen erschienenes Lehrbuch vorgelegt hat1. Dabei kommen die ordnungsrechtlichen Bezüge zum Wirtschaftsverwaltungsrecht nicht zu kurz. Immerhin ist Wolf-Rüdiger Schenke einer der langjährigen Mitherausgeber der Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv mit dem Titel „Wirtschaft und Verwaltung“. Deshalb liegt es nahe, dem Jubilar einen Beitrag aus der ordnungsrechtlichen Perspektive zu widmen, der sich mit wirtschaftsüberwachungsrechtlichen Fragestellungen befasst. Damit soll gleichzeitig sein Engagement im Schnittfeld zwischen Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht gewürdigt werden. II. Wirtschaftsüberwachung als Korrektiv von Verkehrsfreiheiten und Wirtschaftsgrundrechten Die Wirtschaftsüberwachung ist eine klassische Staatsaufgabe. Sie steht in der Tradition des wirtschaftlichen Liberalismus sowie der beginnenden Industrialisierung und hat sich als Korrektiv der Gewerbefreiheit herausgebildet. Dieser Zusammenhang lässt sich noch heute aus den aus dem Jahre 1869 stammenden §§ 1 ff. GewO ablesen, die auch in den jüngsten Novellierungen das Herz des Wirtschaftsüberwachungsrechts bilden. In der modernen Industrie-, Dienstleistungs- und Informationswirtschaft bezieht die Unions- und Staatsaufgabe Wirtschaftsüberwachung ihre Legitimation aus dem in Art. 3 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der wettbewerbsfähigen, sozialen Marktwirtschaft, aus grundrechtlichen Schutzpflichten und aus der Staatsfunktion Prävention. Binnenmarktrechtlich handelt es sich um ein Korrektiv der Verkehrsfreiheiten, das in zahlreichen Bestimmungen zum Vorschein kommt (Art. 36, 52 und 12 AEUV). Zusammengenommen ist Wirtschaftsüberwa1
W.-R. Schenke, Polizei und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009.
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chung daher Korrelat der Wirtschaftsfreiheit im Interesse des Gemeinwohls. Denn je offener und freiheitlicher eine Wirtschaftsordnung ausgestaltet ist, umso mehr bedarf es für Wirtschaftsgesetzgebung und Wirtschaftsverwaltung der Möglichkeit, das Wirtschaftsgeschehen mit den Mitteln des Ordnungsrechts zu kontrollieren, um von der wirtschaftlichen Betätigung ausgehende Risiken, Gefahren und Schäden abzuwenden. Die Wirtschaftsüberwachung hat den Unternehmer (Mensch als Risikofaktor) sowie das Unternehmen im Auge und erstreckt sich auf eine Personen-, Transport-, Betriebs-, Produkt- und Anlagenüberwachung. III. Wirtschaftsüberwachung als Gewährleistungsund Regulierungsüberwachung In jüngerer Zeit hat sich die Schutzrichtung der Wirtschaftsüberwachung auf Grund fundamentaler ordnungspolitischer Entwicklungen verändert, die mit den Stichworten Privatisierung, Stärkung der unternehmerischen Eigenverantwortung2 und des Verbraucherschutzes sowie Rückzug des Staates aus bestimmten Aufgabenbereichen umschrieben werden können. Aus der staatlichen Leistungs- und Erfüllungsverwaltung entstand eine Gewährleistungsverwaltung, die sich mit der wirtschaftsverwaltungsrechtlich geprägten Gewährleistungsüberwachung zu befassen hat. Eine besondere Ausprägung dieser neuen Wirtschaftsüberwachung ist die wirtschaftsverwaltungsrechtliche Regulierung. Zwar ist der Regulierungsbegriff mehrdeutig, weil er auch Rechtsetzung oder allgemein Wirtschaftsregulierung meinen kann3. Er wird jedoch mehrheitlich in einem engeren Sinne als Unterfall der Wirtschaftsregulierung und spezielles Privatisierungsfolgenrecht verstanden, das sich mit ehemals staats- oder kommunalmonopolisierten Unternehmen befasst, die als in die Privatwirtschaft entlassene Wirtschaftszweige einer Regulierungsüberwachung4 durch eine besondere Regulierungsbehörde bedürfen (Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahn – § 54 EnWG). Das wirtschaftsverwaltungsrechtlich motivierte Regulierungsrecht hat einen aus den Regulierungszielen (§ 1 f. EnWG, § 1 TKG, § 1 AEG) ableitbaren dreifachen Auftrag, der sich teilweise mit der Aufgabe wirtschaftliche Infrastruktur überschneidet5 und eine marktoptimierende Wirtschaftsüberwachung bezweckt6 : 2 s. näher Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 17. Aufl. 2011, § 2 I 5 und § 3 III. 3 s. näher Stober, in: FS für R. Scholz, 2007, 943 ff.; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht II, 7. Aufl. 2010, § 95. 4 Ebenso Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2007, § 5 II. 5 Ebenso Knauff, VerwArch. 98 (2007), 382, 384; s. näher: Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 17. Aufl., § 26. 6 Ebenso Badura, Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl., S. 150 f.; Schorkopf, JZ 2008, 20 ff.; Bumke, Verw. 41 (2008), 227 ff.; Franzius, DVBl. 2010, 1086 ff.
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– Herstellung eines wirksamen, unverfälschten Wettbewerbs, – Gewährleistung einer Grundversorgung mit Gütern und Dienstleistungen, – Sicherstellung gewerberechtlicher Anforderungen. Folglich ist die wirtschaftsverwaltungsrechtliche Regulierung dadurch gekennzeichnet, dass sie neben dem Korrektiv der Gewerbefreiheit ein Korrektiv der Wettbewerbsfreiheit aufrichtet7 und die betroffenen Unternehmen im Interesse des Gemeinwohls (public utility regulation) in hohem Maße in die Pflicht nimmt8. IV. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Wirtschaftsüberwachung Die Aufgabe Wirtschaftsüberwachung wird weder im Unionsrecht noch im Grundgesetz ausdrücklich erwähnt. Sie wird meistens im Regelungszusammenhang mit anderen Rechtsfragen angesprochen. Anhaltspunkte finden sich in Art. 36, 52, 114, 168 und 191 AEUV etwa unter den Aspekten Ordnung, Sicherheit, Sittlichkeit, Umwelt, Verbraucherschutz und Gesundheit und in Art. 20a, 73 Abs. 1 Nr. 14, 74 Abs. 1 Nr. 19, 20 und 24 GG unter den Aspekten Umwelt-, Gefahren- und Lebensmittelschutz. Lediglich in Art. 65 und 127 AEUV ist von der Aufsicht über Finanzinstitute die Rede. Daneben wird diese Aufgabe teilweise im Landesverfassungsrecht hervorgehoben (s. etwa Art. 152 BayVerf). Wegen der Europäisierung des nationalen Wirtschaftsverwaltungsrechts wird die Wirtschaftsüberwachung zunehmend durch das Unionsrecht und die Unionsüberwachung geprägt, wobei das Anerkennungsbzw. Herkunftslandprinzip eine große Rolle spielt, das allerdings durch die DLR modifiziert wird9. V. Wirtschaftsüberwachung versus Wirtschaftsaufsicht ? Unbeschadet der Tradition und der allgemeinen Anerkennung der Kontrollfunktion hat die Aufgabe Wirtschaftsüberwachung keine festen Konturen. Es handelt sich nicht um ein homogenes Rechtsinstitut, sondern um ein komplexes Instrumentarium aus divergierenden Vorschriften in verschiedenen Normbereichen. Deshalb verwundert es nicht, wenn es trotz wissenschaftlicher Bemühungen um Eingrenzung, Systematisierung und Umschreibung an begrifflicher Klarheit fehlt. Die Überwachung wird teilweise pauschalierend und irreführend als Wirtschaftsgestaltung10, als Wirtschaftsaufsicht11 oder missverständlich als Staatsaufsicht12 bezeichnet. Die Verwen7
Masing, Verw. 36 (2003), 1, 31 ff.; Schmidt-Preuß, in: HdBStR III, 3. Aufl. 2006, § 93 DI. Fehling/ Ruffert (Hg.), Regulierungsrecht, 2010. 9 s. näher Möstl, DÖV 2006, 281 ff. 10 So Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der EU, 1996, S. 281 ff. 11 s. etwa Ehlers, Ziele der Wirtschaftsaufsicht, 1997, der Wirtschaftsüberwachung und Wirtschaftslenkung als Teil der Wirtschaftsaufsicht qualifiziert, S. 43 ff. und 67 ff.; Gramlich, 8
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dung der Ausdrücke Wirtschafts- und Staatsaufsicht ist historisch und rechtssystematisch problematisch. Aus wirtschaftsverwaltungsgeschichtlicher Perspektive ist Überwachung das dogmatische Gegenteil von Aufsicht durch die sog. „gute Policey“, die Wohlfahrtspolizei im Sinne des umfassend die Geschicke der Menschen leitenden Wohlfahrtsstaates13. Aus rechtssystematischer Perspektive ist zu bedenken, dass die Begriffe Überwachung und Aufsicht teilweise in demselben Wirtschaftsüberwachungsgesetz vorkommen, aber eine unterschiedliche Bedeutung haben. So wird Überwachung als Unternehmerkontrolle und Aufsicht im Sinne von Staatsaufsicht, als behördeninterne Kontrolle14 oder als Rechtsaufsicht etwa über Kammern verstanden. Anders formuliert: Überwachung ist Freiheitskorrelat und Aufsicht ist Verwaltungs- und Selbstverwaltungskorrelat15. Lediglich im Kreditwirtschaftsrecht ist – wie auch das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz belegt – durchgehend von „Aufsicht“ die Rede. Die Verwendung dieses Ausdrucks ist aber wegen seiner sektoralen Bedeutung schon deshalb nicht begriffsprägend für das gesamte Wirtschaftsverwaltungsrecht, weil selbst jüngere Aufgabenausführungsgesetze von Überwachung sprechen. Exemplarisch sei nur die Überwachung von Ratingagenturen nach § 17 Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung genannt16. Verwechslungen sind auch zwischen Wirtschaftsüberwachung und Gewerbeaufsicht möglich. Die Gewerbeaufsicht ist eine fachlich beschränkte Sonderwirtschaftsüberwachung, die früher ausschließlich dem Arbeitsschutz diente, heute aber zunehmend Umweltschutzaufgaben erledigt. Sie ist traditioneller und sachlich essenzieller Bestandteil der Wirtschaftsüberwachung (§ 139b GewO, § 14 GPSG, §§ 13 und 15 ArbZG)17. Im Übrigen ist die Beschränkung auf den Begriff Wirtschaftsüberwachung auch deshalb angebracht, weil er durchgängig dem modernen Gesetzesrecht zugrundeliegt (Vor §§ 33 ff. AWG, §§ 38 ff. LFGB, vor §§ 64 ff. ArzneimittelG, § 21 ChemG, §§ 18 ff. GüKG, § 25 GenTG, § 52 BImSchG, §§ 40 ff. KrW/AbfG, § 2 LuftSiG, § 21 TEHG, § 41a HwO, §§ 8 ff. GPSG, § 14 Abs. 1 Satz 3 GewO, § 9 GefahrgutbeförderungsG, § 31 WeinG, Art. 30 Abs. 1 DLR). VerwArch. 88 (1997), 598 ff.; Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 362, der behauptet, der Begriff „Wirtschaftsaufsicht“ sei relativ unstreitig; Hecker, Marktoptimierende Wirtschaftsaufsicht, 2007, S. 13 ff. 12 T. Meyer, Staatsaufsicht über Private, insbesondere Wirtschaftsunternehmen, 1988; Mösbauer, Staatsaufsicht über die Wirtschaft, 1990; Lühmann, DVBl. 1999, 752 ff. 13 s. auch Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 35, 46 ff., 130; Stober, NJW 1997, 889 ff.; R. Schmidt, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht I, 2. Aufl. 2000, § 1 C IV. 14 Ebenso Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 32, 364; Schmidt-Aßmann, in: ders./HoffmannRiem (Hg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 13. 15 Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 52; ders., in: FS Stober, 2008, S. 509, 519 ff . 16 BGBl. I, 2010, S. 786 ff. 17 Ebenso Gramlich, VerwArch. 88 (1997), 598 ff.; Gröschner, Das Überwachungsrechtsverhältnis, 1992, S. 130.
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Der Rückgriff auf die Bezeichnung Wirtschaftsaufsicht ist auch deshalb entbehrlich, weil sich innerhalb des Produktsicherheitsrechts bzw. des technischen Verbraucherschutzrechts neuerdings der Begriff Marktüberwachung herausgebildet hat. Darunter werden die von den Behörden durchgeführten Tätigkeiten und von ihnen getroffenen Maßnahmen verstanden, die sicherstellen sollen, dass der betroffene Gegenstand mit den Anforderungen der einschlägigen Rechtsvorschriften der EU übereinstimmt und keine Gefährdung für die Gesundheit, die Sicherheit oder andere im öffentlichen Interesse schützenswerte Bereiche darstellt (siehe etwa Art. 3 Nr. 15 Spielzeug-RL 2009/48/EG; Art. 2 Nr. 17 VO 765/2008/EG). Hier liegt der Schwerpunkt wie bei dem klassischen Wirtschaftsüberwachungsrecht bei der wirksamen Überwachung des Inverkehrbringens von Produkten sowie der in den Verkehr gebrachten Produkte auf der Grundlage eines Überwachungskonzeptes, das dem Risikoüberwachungsrecht entstammt und gewährleistungsrechtliche Züge aufweist. Dementsprechend werden den zuständigen Behörden zahlreiche Befugnisse eingeräumt (Art. 19 VO 765/2008/EG; § 8 Abs. 2 GPSG; § 7 Energiebetriebene-Produkte-Gesetz). VI. Wirtschaftsüberwachung im Binnenmarkt Einen eigenständigen Überwachungsbegriff hat die EU-Gesetzgebung im Interesse der funktionierenden Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten (§§ 8a ff. VwVfG) mit der mehrdeutigen Bezeichnung Kontrolle eingeführt. Danach umfasst Kontrolle nach dem Erwägungsgrund Nr. 106 DLR Tätigkeiten wie Überwachung und Faktenermittlung, Problemlösung, Verlängerung und Vollstreckung von Sanktionen und die damit verbundenen Folgemaßnahmen. Insbesondere aus Art. 30 Abs. 1 DLR sowie Art. 2 Nr. 9 Lebens- und FuttermittelkontrollVO ist zu entnehmen, dass Kontrolle mit Unternehmerüberwachung gleichgesetzt wird. Allerdings weicht dieser Kontrollbegriff von der Verwaltungskontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht ab. Im Interesse der Umsetzung des EU-Binnenmarktes wird der grenzüberschreitende Verkehr vielfach erleichtert und das zulässige Überwachungsinstrumentarium reduziert. Insbesondere wird Art. 16 Abs. 2 DLR der Charakter eines absoluten Verbotes beigemessen.18 Hinsichtlich der Erbringung von Dienstleistungen ist das mitgliedstaatliche Überwachungsrecht grundsätzlich unanwendbar, weil davon ausgegangen wird, dass die Überwachung durch den Heimatstaat ausreicht und eine effektive Zusammenarbeit der Verwaltung Kontroll- und Vollzugsdefizite ausgleichen kann.19
18 19
Korte, DVBl. 2009, 489 ff.; Luch/Schulz, GewArch. 2009, 184 ff. Heidfeld, NVwZ 2009, 1471 ff.; Schliesky/Schulz, DVBl. 2010, 601 ff.
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VII. Gefahrenabwehr, Gefahrenvorsorge, Risiko- und Marktüberwachung 1. Gefahrenbewältigung im Präventionsstaat In einer hoch technisierten Industriewirtschaft, die mit vielen neuartigen komplexen Verfahren, Produkten und Anlagen arbeitet und die auf den nachhaltigen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gerichtet ist, reicht die bloße Gefahrenabwehr zum effektiven Rechtsgüterschutz nicht aus. Insbesondere bei risikobehafteter Innovation (Stichwort Risikogesellschaft) bedarf es darüber hinaus Vorkehrungen in dem Sinne, dass bereits dem Entstehen von Gefahren vorgebeugt wird20. Gegenstand der Gefahrenvorsorge sind nachteilige Einwirkungen unterhalb der Gefahrenschwelle. Hier kommen die Staatsfunktion Prävention und die staatliche Verantwortung für die wirtschaftsverwaltungsrelevanten Risiken zum Tragen (Risikowirtschaftsverwaltungsrecht)21. Ferner ist die Vorverlagerung des Schutzbereiches und staatlicher Einwirkungsmöglichkeiten wegen der aus Grundrechten fließenden Schutzpflichten geboten. Folglich ist die größtmögliche Vorsorge gegen vorhandene oder vermutete Gefahren ein zentrales Anliegen der jüngeren Wirtschaftsverwaltungs- und Technikgesetzgebung. 2. Gefahrenabwehr und Risikomanagement Die Ausdehnung der Wirtschaftsüberwachung auf die Gefahrenvorsorge wirft die Frage auf, wie Gefahr und Risiko abzugrenzen sind. Teilweise wird Risiko als die unterhalb der Gefahrenschwelle liegende Möglichkeit eines Schadenseintritts verstanden. Teilweise wird Risiko als Oberbegriff betrachtet, der die Gefahr als Unterfall mit der Folge einschließt, dass sie ein besonderes verdichtetes Risiko ist22. Unabhängig davon, welcher Definition man folgt, besteht Einigkeit darüber, dass die Rechtsfigur des Risikos die Einbeziehung unwahrscheinlicher und damit unkalkulierbarer Geschehensabläufe und Auswirkungen gestattet23. Im Gegensatz zur Gefahr bezieht sich das Risiko auf den möglichen aber ungewissen zukünftigen Eintritt eines beeinträchtigenden Ereignisses. Der Unterschied zur Gefahr besteht also darin, dass Schadensverlauf und Eintrittswahrscheinlichkeit weder empirisch noch kognitiv hinreichend sicher beurteilt werden können24. Dementsprechend kann man Risikoregulie20 Dazu U. Beck, Risikogesellschaft, 1986; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 53 f.; Scherzberg, VerwArch. 84 (1993), 484 ff. 21 s. R. Wahl, Staatsaufgabe Prävention, 1995; s. näher Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 91 ff.; ähnlich Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000, S. 378; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 252 ff.; Scherzberg, VVDStRL 63 (2004), 216, 219 ff. 22 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 100. 23 Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, § 12 B I 3. 24 Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Verwaltungsverfahren und Verwaltungsverfahrensgesetz, 2002, S. 277, 330.
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rung als Entscheidung unter Unsicherheit bezeichnen, die im Risikoverwaltungsrecht ihren Ausdruck findet. Zur Risikobewältigung hat sich in jüngerer Zeit ein Risikomanagement25 herausgebildet, dem ein ganzheitliches Risikoüberwachungskonzept zugrunde liegt (s. auch § 8 Abs. 2 GPSG; Art. 3 Nr. 9 ff. EU-LebensmittelbasisVO). Art. 4 Nr. 20 Zollkodex definiert Risikomanagement wie folgt: „die systematische Ermittlung von Risiken und die Anwendung aller für die Risikobegrenzung erforderlichen Maßnahmen.“ Dazu gehören Tätigkeiten wie Sammeln von Daten und Informationen, die Analyse und Bewertung von Risiken, das Vorschreiben und Umsetzen von Maßnahmen sowie die regelmäßige Überwachung und Überarbeitung dieses Prozesses und seiner Ergebnisse. Es setzt sich aus mehreren Schritten zusammen, wobei aber weder die Definition noch die einzelnen Details abschließend geklärt sind26. Da die Gefahrenlage mit der Beendigung der Wirtschaftstätigkeit bzw. der Betriebseinstellung nicht zwingend endet, gewinnt die nachsorgende Wirtschaftsüberwachung im Präventionsstaat an Bedeutung. Insofern muss der Gesetzgeber geeignete Unternehmerpflichten aufrichten und Instrumente bereithalten, die eine möglichst gefahrlose Betriebs- und Anlagenabwicklung sicherstellen. Man denke nur an die Sicherheitsleistung zur Erfüllung der Pflichten nach § 5 Abs. 3 BImSchG27 oder an die Sicherheitsleistung nach § 12 Abs. 1 BImSchG für Abfallentsorgungsanlagen28. VIII. Schutzgüter der Wirtschaftsüberwachung 1. Einzelne Rechtsgüterschutztypen Die Wirtschaftsüberwachung zielt auf den Schutz von Rechtsgütern. Sie lassen sich nicht einheitlich bestimmen, weil den Wirtschaftsverwaltungsgesetzen unterschiedliche Schutzzwecke zugrundeliegen. Anknüpfungspunkt können kollektive, individuelle, personale und sachliche Rechtsgüter sein: – Kollektiver Rechtsgüterschutz: Schutz von Gemeinschaftsgütern i. S. v. § 38 Abs. 2 GewO, Sicherheit und Ordnung, öffentliche Sittlichkeit, Umweltschutz, Wettbewerbsschutz, Vermögensschutz (Art. 36, 191 AEUV, Art. 37 EU GR Charta, § 1 BImSchG, § 27c LuftVG, § 2 TKG, § 2 EnWG). – Individueller Rechtsgüterschutz: Gesundheit, Leben (Art. 36, 191 AEUV, Art. 35 EU GR Charta, Art. 2 Abs. 2 GG).
25
Riedel (Hg.), Risikomanagement im öffentlichen Recht, 1997; P. T. Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, 2003, S. 266 ff.;Trenkler, Risikoverwaltung im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2010, S. 24 ff. 26 s. auch Hoffmann-Riem, Verw. 38 (2005), 145 ff. 27 BVerfG, NVwZ 2009, 1484 ff. 28 BVerwG, DVBl. 2008, 978 ff.
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– Personaler Rechtsgüterschutz: Verbraucherschutz, Nachbarschutz, Arbeitnehmerschutz, Jugendschutz, Gästeschutz, Gläubigerschutz, Konkurrentenschutz (Art. 169 AEUV, Art. 38 EU GR Charta, § 1 LFGB, § 1 EnWG, § 5 GPSG). – Sachlicher Rechtsgüterschutz: Vermögen, Eigentum (Art. 36 AEUV, § 34c Abs. 2 und § 34d Abs. 2 GewO, § 1 BImSchG), Schutz vor Täuschung (§ 1 LFGB). 2. Verbraucherschutzrecht als Wirtschaftsüberwachungsrecht Teilweise haben sich einzelne Schutzbereiche zu eigenständigen Rechtsgebieten entwickelt. Das gilt etwa für das Verbraucherschutzrecht29. Es ist zwar nach wie vor eine Domäne des Wirtschaftsprivatrechts, wie sich aus der verbraucherschutzrechtlichen Aufwertung des BGB anlässlich der Schuldrechtsmodernisierung und das UWG nachweisen lässt30. So definiert § 13 BGB den Verbraucherbegriff und die §§ 312 ff. BGB befassen sich mit speziellen verbraucherschutzrelevanten Vertriebsformen. Aber auch im Wirtschaftsverwaltungsrecht findet das Verbraucherschutzrecht in jüngerer Zeit zunehmend Bedeutung und Anerkennung. Das ist unter anderem eine Folge des Querschnittscharakters dieser Rechtsmaterie31, die ein Musterbeispiel für das Zusammenwirken von Privat- und Verwaltungsrecht ist. Die wirtschaftsverwaltungsrechtliche Aufwertung des Verbraucherschutzrechts ist vornehmlich auf unionsrechtliche Vorgaben zurückzuführen, die in vielen Sektoren Maßstäbe setzen. Immerhin befassen sich Art. 168 AEUV und Art. 37 f. EU GR Charta ausdrücklich mit der Verbraucherpolitik, die auf ein hohes Schutzniveau gerichtet ist32. Dementsprechend beabsichtigt die EU, einen allgemeinen Richtlinienrahmen für Verbraucherrecht zu erlassen33. IX. Ausgewählte Instrumente der Wirtschaftsüberwachung Der Rechtsgüterschutz durch Wirtschaftsüberwachung erfolgt durch Vorschriften und Maßnahmen, die bei der Aufnahme, bei der Ausübung und bei der Beendigung der wirtschaftlichen Tätigkeit ansetzen. In diesem Zusammenhang bedienen sich Gesetzgebung und Verwaltung unterschiedlicher, hier nur auszugsweise erwähnter Regelungstechniken, deren Eingriffsintensität nach dem jeweiligen Präventionsanlie29 s. etwa Micklitz/Reich, EuZW 1992, 593 ff.; N. Reich/Micklitz, Europäisches Verbraucherschutzrecht, 4. Aufl. 2003; Schnyder (Hg.), Internationales Verbraucherschutzrecht, 1995; Tonner, JZ 1996, 533 ff.; Bülow/Artz, Verbraucherprivatrecht, 2003; Borchert, Verbraucherschutzrecht, 2. Aufl. 2003; Martis/Meinhof, Verbraucherschutzrecht, 2. Aufl. 2005. 30 s. G v. 27. 6. 2000 BGBl. I, S. 897 ff. und zur Neufassung BGBl. I 2002, S. 42 ff. und näher Roth, JZ 2001, 475 ff. 31 Graf/Paschke/Stober (Hg.), Staatlicher Verbraucherschutz und private Unternehmerverantwortung, 2003. 32 Törnblom, in: Graf/Paschke/Stober (Hg.), Staatlicher Verbraucherschutz, a.a.O., S. 111 ff.; Klindt, NJW 2004, 465. 33 Tonner, JZ 2009, 277 ff.
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gen variiert und die im Schrifttum nach verschiedenen Kriterien systematisiert werden. Schlüssel für die wirtschaftliche Betätigung sind Anzeige- und Zulassungsnormen. Nur ausnahmsweise wird auf eine Aufnahmeüberwachung völlig verzichtet, um eine möglichst freie Entfaltung bestimmter wirtschaftlicher Aktivitäten oder die Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt zu sichern (Zugangsfreiheit zu Telemedien im Rahmen des § 4 TMG). Hinsichtlich der Eröffnungskontrolle sind gegenwärtig zwei gegenläufige Tendenzen erkennbar. Teilweise wird im Rahmen der Deregulierung nach der Abschaffung von Erlaubnissen gerufen. Teilweise werden vornehmlich im Interesse des Verbraucherschutzes neue Zulassungskontrollen aufgerichtet. Die EU setzt im Interesse der Vollendung des Binnenmarktes auf eine weitere Liberalisierung des Marktzugangs und alternative Überwachungsinstrumente. Insbesondere Art. 26 ff. DLR machen deutlich, dass die Qualitätssicherung insbesondere durch Institute der Selbstregulierung (Zertifizierung, Verhaltenskodizes, Haftpflichtversicherungen) erfolgen soll. X. Staatliche Wirtschaftsüberwachung und unternehmerische Eigenverantwortung 1. Wirtschaftsüberwachung und Kooperationsprinzip Einerseits sind wirtschaftsverwaltungsrechtliche Pflichten, Ge- und Verbote geeignete, effiziente und zuverlässige Instrumente der Gefahrenabwehr und des Rechtsgüterschutzes. Andererseits ist Wirtschaftsüberwachung ein Korrektiv der Unternehmerfreiheit und Ausdruck des Verursacherprinzips. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die auf imperativem Zwang (sog. Eingriffsverwaltung) beruhende Command and Control Regulation nicht durch marktwirtschaftlich wirkende Instrumente ergänzt werden kann und muss, die bei der unternehmerischen Eigenverantwortung im Sinne der Produkt-, Anlagen-, Betriebs-, Personal- und Transportverantwortung ansetzen. Dabei ist zu bedenken, dass derartige Rechtsinstitute das Eigeninteresse des Unternehmers an einem bestimmten wirtschaftsverwaltungsrechtlich gewünschten Verhalten fördern sowie betriebliche Maßnahmen auslösen können, die über die staatliche Gefahrenabwehr hinausgehen34 und damit dem Vorsorgeprinzip sowie der Risikosteuerung35 optimal zur Geltung verhelfen können. In der Vergangenheit war diese Lösung regelmäßig an dem staatlichen Monopol für Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge gescheitert. Hier zeichnet sich jedoch in jüngerer Zeit insofern ein Wandel in der Sicherheitsphilosophie und Risikobewertung ab, als der Staat kein Wirtschaftsüberwachungsmonopol besitzt und die Rechtsgüter
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Hoffmann-Riem, WuV 1983, 120 ff. Appel, NVwZ 2001, 395 f.; Scherzberg, VVDStRL 63 (2004), 216, 235 f.
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Sicherheit, Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz inzwischen unter Kosten-, Qualitäts-, Werbe- und Wettbewerbsgesichtspunkten betrachtet werden36. Gegen das überkommene System der Wirtschaftsüberwachung wurde vorgebracht, es sei zu kostspielig, zu bürokratisch reguliert, zu starr und zu einseitig auf Gebote und Verbote konzentriert. Das Genehmigungsrecht sei zu wenig an den tatsächlichen Kosten orientiert, die nicht internalisiert würden. Diese polizeirechtlich geprägte Wirtschaftsverwaltung lähme die technische Entwicklung (Schweigekartell der Ingenieure), zementiere industrielle Strukturen (Bestandsschutz für überholte Technikstandards, Übergangsfristen) und verzerre den Wettbewerb. Deshalb wird vorgeschlagen, das administrativ aufwändige Ordnungsrecht durch Instrumente zu ergänzen, mit deren Hilfe wirtschaftliche Schadenswirkungen aus dem Markt- und Wettbewerbsprozess heraus korrigiert werden37. Im Vordergrund stehen die Leitbilder des schlanken Staates, des aktivierenden Staates und des gewährleistenden Staates, die auf Förderung privater Initiative und Selbstregulierung bei funktionaler Äquivalenz der privat inspirierten Steuerung gerichtet sind38. Ergänzend kommt eine Reduktion staatlicher Wirtschaftsüberwachung durch geeignete Managementsysteme in Betracht39. Dieser Paradigmenwechsel produziert allerdings neue Regulierungen und Überwachungsaufgaben für die Exekutive40, weil der Staat – wie oben dargestellt – seiner Gewährleistungsverantwortung nachkommen muss. 2. Erledigung von Wirtschaftsüberwachungsaufgaben durch Private a) Einschaltung Privater, Aufgabenprivatisierung und Zertifizierung Die Erledigung von Wirtschaftsüberwachungsaufgaben durch Private erfolgt durch die Einschaltung bzw. Beauftragung Dritter in die staatliche Wirtschaftsüberwachung oder durch Funktionsprivatisierung und Beleihung41. 36 s. näher BVerwG, DÖV 1986, 198 und BVerwGE 81, 185; 95, 188, 197 ff.; Deregulierungskommission, GewArch. 1991, 256 f; Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1997; ders., NJW 1997, 889 ff.; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 162 ff.; P. M. Huber, DVBl. 1999, 489 ff.; Marburger/Reinhardt/Schröder (Hg.), Rückzug des Ordnungsrechts im Umweltrecht, 1999. 37 Jahresgutachten 1987/88 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Ds. 11/1317, S. 138 f.; Bericht EnquÞtekommission Schutz des Menschen und der Umwelt, BT-Ds. 12/8260, S. 300 ff. 38 Schoch, NVwZ 2008, 241 ff. 39 Sarvan, Reduktion staatlicher Wirtschaftsüberwachung durch Managementsysteme, 2010. 40 s. näher Hoffmann-Riem, DÖV 1999, 221 ff.; Stober, Rückzug des Staates im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1997; Franzius, VerwArch. 99 (2008), S. 351 ff. 41 Näher Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht 17. Aufl, § 40.
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Neben diese bekannten Modelle tritt in jüngerer Zeit das der Qualitätssicherung und der Gefahrenabwehr (Marktüberwachung) dienende Rechtsinstitut der Zertifizierung. Er erfasst bestimmte Ausstattungen von Einrichtungen sowie gefährliche Produkte (DIN EN 45001), Personen (DIN EN 45013) und Qualitätssicherungssysteme (DIN EN 45012) und erfolgt nach der Maßgabe von in deutsches Recht umgesetzten EU-Richtlinien durch unabhängige sog. zugelassene oder benannte Stellen (s. die Definition in § 2 Abs. 15 GPSG und § 17 Abs. 5 GPSG), die für einen bestimmten Aufgabenbereich zuständig sind, Prüfungen und Konformitätsbewertungsverfahren nach der RL 96/98/EG durchführen und Bescheinigungen (GS-Zeichen) verleihen bzw. Konformitätserklärungen abgeben dürfen, denen verwaltungsähnliche Wirkung zukommt, die unionsweit über die Marktzulassung entscheidet. Die unionsrechtlich inspirierte Zertifizierung gilt im Gewährleistungsstaat als Modell einer sog. regulierten Selbstregulierung, weil auf eine hoheitliche Präventivkontrolle verzichtet wird und sich der Staat hauptsächlich auf die Überwachung der Akkreditierungsstelle zurückzieht42. Die Zulassung dieser Stellen erfolgt in einem Akkreditierungsverfahren gemäß DIN EN 45003 oder aufgrund § 11 sowie § 17 GPSG, in dem das Vorliegen der Zulassungsvoraussetzungen geprüft wird (Fachkenntnis, Zuverlässigkeit, Unabhängigkeit usw.). Die Akkreditierung soll als Bezeichnung für eine förmliche staatliche Anerkennung auf Grund nachgewiesener Kompetenz das Vertrauen in das unionsrechtliche Prüf- und Zertifizierungswesen sicherstellen43. Da die Akkreditierung eine offizielle Aussage darüber bezweckt, ob eine Stelle über die Kompetenz verfügt, Konformitätsbewertungstätigkeiten durchzuführen, wurde diese Aufgabe bei einer Einrichtung konzentriert, die den Namen „Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH“ trägt44. Die zuständige Behörde überwacht die benannten Stellen und prüft im Rahmen sog. Audits regelmäßig die Erfüllung der jeweiligen Anforderungen. Ferner kontrolliert sie im Rahmen der erwähnten Marktüberwachung stichprobenweise, ob die Voraussetzungen für das Inverkehrbringen von Produkten bzw. für die Beschäftigung von Personen erfüllt sind. b) Zur DIN-Normierung von Dienstleistungen In Anlehnung an die technische Normierung werden zunehmend DIN-Normen verabschiedet, die sich mit der Qualifikation und Qualität von Dienstleistungsbranchen befassen. Sie richten einen Kodex guter Praxis auf, dienen der Wettbewerbsfähigkeit und erleichtern teilweise geforderte Präqualifikationen.
42
Schoch, NVwZ 2008, 241, 247. Kollmer, GewArch. 1999, 48 ff.; H. C. Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 22; Schumann, Bauelemente des europäischen Produktsicherheitsrechts; Gesmann-Nuissl/Strübbe, DÖV 2007, 1046 ff. 44 Erwägungsgrund 15 und Art. 4 Abs. 1 der VO 765/2008 und VO v. 21. 12. 2009, BGBl. I, S. 3962 ff. 43
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Obwohl es sich bei den DIN-Normen nicht um Rechtsvorschriften, sondern um private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter handelt45, liegt der Vorteil derartiger Regelwerke in der Beteiligung aller Interessenebenen bei der Normentwicklung, die dadurch erreichte allgemeine Akzeptanz sowie die Möglichkeit der Internationalisierung der Standards, die gesetzliche Regelungen teilweise erübrigen kann. 3. Unternehmerische Eigenüberwachung und Selbstbeschränkung a) Eigenüberwachung als Wettbewerbs-, Marketing- und Umweltfaktor Die unternehmerische Eigenverantwortung wird vor allem durch das Instrument der Eigenüberwachung gefördert. Diese Rechtsfigur beruht zum einen auf der betriebswirtschaftlichen Überlegung, dass jedes Unternehmen ein langfristiges Wettbewerbs- und Marketinginteresse daran haben muss, dass sich seine Einrichtungen, Anlagen, Produktions- und Verkaufsstätten in einem einwandfreien Zustand befinden und seine Produkte und Dienstleistungen hohen Qualitätsanforderungen sowie dem geltenden Recht entsprechen. Dieses Ziel verfolgt das Customer Relationship Management, das zugleich als betriebliches Qualitätsmanagement (Code of best practice) zum Schutz vor Produkthaftung und als Compliance-Management zum Schutz vor nachteiligen zivil- und öffentlich-rechtlichen Folgen im Sinne eines umfassenden Risikomanagements fungieren kann46. Eigenüberwachung ist insofern ein Surrogat staatlicher Überwachung und ein Anwendungsfall des Subsidiaritätsprinzips47. Diese Formen der Eigenüberwachung sind nicht identisch mit staatlich veranlassten betriebseigenen Kontrollen, wie sie dem sog. Eigenkontrollkonzept des EU-Lebens- und Futtermittelrechts sowie des Immissionsschutzrechts zugrunde liegen (§ 36 Abs. 1 LFGB, §§ 26 ff. BImSchG)48. Danach haben Betriebe, die bestimmte Erzeugnisse herstellen, behandeln oder in den Verkehr bringen, zur Gewährleistung der Lebensmittelsicherheit und zur Vermeidung gesundheitlicher Gefahren betriebsbezogene Kontroll- und Überwachungsverfahren einzurichten und entsprechende Dokumentationspflichten zu erfüllen. So existiert eine DEHOGA-Leitlinie für eine gute Hygienepraxis in der Gastronomie, die als einzelstaatliche Leitlinie unter Beteiligung aller Betroffenen entwickelt und gegenüber der EU-Kommission notifiziert wurde.
45
BGHZ 139, 16. Stober, DÖV 2005, 333 ff.; Graf/Paschke/Stober (Hg), Customer Relationship Management, 2006; Sarvan, Reduktion staatlicher Wirtschaftsüberwachung, 2010. 47 s. Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 17. Aufl., § 12. 48 Scheidler, WiVerw 2010, 177 ff. 46
Zur Entwicklung des Wirtschaftsüberwachungsrechts
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b) Selbstzertifizierung Eine spezielle nach außen wirkende Form der Eigenüberwachung ist die Selbstzertifizierung. Sie erfolgt durch die Kennzeichnung des Produktes mit einem CE-Zeichen. Damit bestätigt der Hersteller, dass das Produkt bzw. die Leistung bestimmten in Normen festgelegten Sicherheits-, Gesundheits- und anderen Qualitätsanforderungen entspricht (sog. Konformitätserklärung). Die Selbstzertifizierung beruht auf zahlreichen in deutsches Recht umgesetzten EG-Richtlinien. Sie hat ferner zum Ziel, Doppelprüfungen zu verhindern und den Marktzugang zu erleichtern, wie etwa § 8 BauPG, §§ 5 f. GPSG belegen. c) Selbstbeschränkungsabkommen Eine besondere Form der Eigenüberwachung sind Selbstbeschränkungsabkommen, mit denen sich einzelne Unternehmer oder Branchen verpflichten (Selbstverpflichtungen, code of conduct), bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten zu dulden, zu unterlassen oder vorzunehmen. Diese Gentlemen-Agreements dienen vor allem dazu, drohende gesetzliche Maßnahmen zu verhindern (sog. Knüppel-im-Sack-Politik). Hier verzichtet der Staat auf den Erlass von Geboten oder Verboten, weil er auf die Einhaltung des Selbstbeschränkungsabkommens vertraut49. Das ist auch die Richtung von Art. 36 DLR, die sich in unterschiedlichen Verbandserklärungen niederschlägt (Kodex für Verhaltensempfehlungen der Arzneimittelhersteller50, freiwillige Verbändeerklärung zum Benchmarking Wasserwirtschaft mit dem Ziel, die technische und wirtschaftliche Leistung sowie die Kundenzufriedenheit zu optimieren51). XI. Internationalisierung der Wirtschaftsüberwachung Die zunehmende Regionalisierung und Globalisierung des Wirtschaftsverkehrs wirkt sich auch auf die Wahrnehmung der Wirtschaftsüberwachung aus, die dieser Internationalisierung Rechnung tragen muss. Da sich Unternehmen wegen der Mobilität der Produktionsfaktoren der nationalen Kontrolle entziehen können, besteht aus bestimmten ordnungsrechtlichen (Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz, Vermögensschutz) und wirtschaftspolitischen Gründen in bestimmten Sektoren ein Bedürfnis nach einheitlichen grenzüberschreitenden Standards der Wirtschaftsüberwachung52. Man denke nur an das Finanzmarktrecht53, das Medienrecht54, das Umweltrecht und das Lebensmittelrecht. 49 Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), 162, 214 ff.; Di Fabio, JZ 1997, 969 ff.; D. Frank, Umweltrecht und Wirtschaft, 2000, S. 293 ff.; Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, 2001; Köpp, Normvermeidende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, 2001. 50 Arzneimittelindustrie-Kodex v. 16. 2. 2004, BAnz 2004 Nr. 40 v. 27. 2. 2004, S. 3545 f. und dazu Balzer/Dieners, NJW 2004, 908 f. 51 s. den Abdruck BT-Ds. 16/1094, S. 43. 52 Stober, Globales Wirtschaftsverwaltungsrecht, 2001, S. 7.
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Voraussetzung für eine effiziente Internationalisierung der Wirtschaftsverwaltung sind multilaterale Abkommen und mit ausreichend Befugnissen ausgestattete Überwachungsorganisationen, die miteinander kooperieren. Hinsichtlich der Überwachung sind unterschiedliche Modelle denkbar, die in der Praxis auch realisiert werden. Zum einen kann die Wirtschaftsüberwachung von einer zentralen Stelle aus erfolgen. Zum anderen kann ein nationales, regionales oder internationales Gremium einheitliche Aufsichtsregeln erlassen, die von den jeweiligen nationalen Stellen etwa im Rahmen einer grenzüberschreitend akzeptierten Sitzlandüberwachung (Anerkennungsprinzip) angewendet werden (transnationale Wirtschaftsüberwachung)55. Soweit verbindliche globale Überwachungsregeln fehlen, kommen Softlaw-Instrumente als erster Harmonisierungsschritt in Betracht. So gehört die International Association of Insurance Supervisors zu den wichtigsten Standardsetzern für die weltweite Versicherungsaufsicht. Sie hat sog. Core Principles mit empfehlendem Charakter verabschiedet, die wegen ihres kulturkreisübergreifenden und auf Konsens beruhenden Ansatzes Vorbild für verpflichtende Rechtsetzung sein können.
53 Stober, in: Pitschas (Hg.), Integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, 2002, S. 21 ff.; Berkenbusch, Grenzüberschreitender Informationsaustausch im Banken-, Versicherungs- und Wertpapieraufsichtsrecht, 2004, und im Anschluss daran Ohler, in: Bungenberg/Danz u. a., Recht und Ökonomik, 2004, 309. 54 Stober, DÖV 2004, 221 ff. 55 Lühmann, DVBl. 1999, 752, 762.
Wie entsteht ein neues Rechtsgebiet: Das Beispiel des Informationsrechts Von Rainer Wahl I. Wie entsteht ein neues Rechtsgebiet? In den letzten 60 Jahren sind im Öffentlichen Recht mehrere neue Rechtsgebiete entstanden. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass es zunächst in der gesellschaftlich-politischen Realität neue Schwerpunkte und Problemkreise gab, auf die das Recht, also Gesetzgebung, Richterrecht und Rechtswissenschaft, reagiert haben. Den Aufstieg und die innere Ausbildung eines neuen Rechtsgebiets habe ich in meiner Studie „Herausforderungen und Antworten. Das Öffentliche Recht der letzten 50 Jahre“1 an den Beispielen des Planungsrechts, des Umweltrechts, des Technikrechts und des Regulierungsverwaltungsrechts (Gewährleistungsrecht) beschrieben. Epochale Entwicklungen spiegeln sich im Entstehen dieser Rechtsgebiete. Im letzten Jahrzehnt gibt es einen neuen Kandidaten für die Qualifizierung als ein solches neues herausgehobenes Rechtsgebiet, in dessen Benennung sich das Selbstverständnis einer Zeit spiegelt, nämlich das Informationsrecht. Auch bei ihm geht es nicht bloß um irgendeine Neuerung, die der Gang der gesellschaftlichen-ökonomischen Entwicklung hervorbringt, sondern um die stürmische Entwicklung des Informationssektors, die bereits zur Selbstcharakterisierung unserer Zeit als Informations- und Wissensgesellschaft geführt hat. Informationsrecht als Widerspiegelung der Informationsgesellschaft – dies ist das Thema der folgenden Überlegungen. Es handelt sich dabei nicht um einen Sachbeitrag zum positiven Informationsrecht, sondern um eine Reflexion über die innere Struktur dieses Rechtsgebiets im Werden.2 1. Aufgabenabhängigkeit neuer Rechtsgebiete im Öffentlichen Recht Neue Rechtsgebiete entstehen nicht aus dem Nichts, auch nicht aus dem bloßen Gedanken oder einem reinen Prinzip. Neue Rechtsgebiete entstehen aus gesellschaftlich-politischen Veränderungen und antworten auf die von diesen ausgehenden Herausforderungen. Am Ausgangspunkt stehen neue reale Sachverhalte, Problemlagen 1 Wahl, Herausforderungen und Antworten. Das Öffentliche Recht der letzten 50 Jahre, 2006. 2 Deshalb sind keine umfassenden oder flächendeckenden Literaturhinweise angestrebt. Die Literaturnachweise beschränken sich vielmehr auf einige Standardwerke und auf grundsätzliche Artikel.
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und Konflikte. Da das Recht soziale Beziehungen und aus ihnen hervorgehende Konflikte regelt, bringen neue soziale Beziehungen und Problemfelder neues Recht hervor. Mit diesen Worten ist meine These von der Aufgabenabhängigkeit der (meisten) Weiterentwicklungen im Öffentlichen Recht formuliert. Zugleich ist damit auch gesagt, dass es meist nicht rechts-interne, sondern rechts-externe Anstöße sind, die zu neuen Rechtsgebieten führen. Bei aller Kürze meiner Darlegungen bedarf die These von der Aufgabenabhängigkeit wenigstens eines Schrittes der Verfeinerung. Der Zusammenhang zwischen realem Wandel und neuem Recht darf nicht als zu einfach verstanden werden, er ist im Gegenteil überaus komplex. Die „Reaktion“ im Recht vollzieht sich nicht einfach oder umstandslos. Recht ist nicht einfach ein Abbild oder eine schlichte Übersetzung der Realität, sondern der Weg vom Wandel in der Realität zu neuem Recht ist durchaus weit und wird in hohem Maße von rechtsinternen Kriterien der Verarbeitung bestimmt. Bei bedeutsamen neuen gesellschaftlichen Entwicklungen hat also das Recht wenig Spielraum für die Antwort darauf, ob es den realen Neuerungen überhaupt Rechnung tragen will; das Recht hat aber beträchtlichen Spielraum in der Art und Weise der Verarbeitung. 2. Der Beginn eines neuen Rechtsgebiets – Um-Interpretation vorhandener Rechtsmaterien und Einordnung unter ein umfassenderes Konzept Typisch für Neues und für das Entstehen eines neuen Rechtsgebiets ist nicht, dass alles neu erfahren und neu bestimmt wird. Einen Anfang bei null gibt es regelmäßig nicht. Typischerweise zeigt sich das Neue darin, dass schon länger Bekanntes plötzlich eine neue, gesteigerte Bedeutung erhält, dass es neu interpretiert wird und sich unter einem neuen Vorzeichen zusammenfindet. Es sind zumeist Interpretationen, die das Vorhandene verwandelt und es in ein neues Licht und einen neuen Zusammenhang bringt.3 Die Initialzündung geht dabei typischerweise von einem neuen ausstrahlungskräftigen Begriff aus, der die Neuinterpretation leitet und trägt. In unserem Zusammenhang ist dies das Konzept der Informationsgesellschaft. Entscheidend daran ist, dass alles, was bisher verstreut und unsystematisch unter Information (und Informationsrecht) verstanden wurde, jetzt in einen neuen inneren Zusammenhang gerät. Der Begriff der Informationsgesellschaft hat eine schnelle und steile Karriere erlebt.4 Die 3 So haben die neuen informationstechnischen Entwicklungen beim Rechtsinstitut des geistigen Eigentums eine umfassende Grundsatzdiskussion über dessen Funktionen ausgelöst. Der Schutz des geistigen Eigentums bewirkt eine Monopolisierung der wirtschaftlichen Verwertung beim Erfinder, damit zugleich auch eine Beschränkung der Informationszirkulierung; dazu neuestens Haedicke, Patente und Piraten: geistiges Eigentum in der Krise, 2011. 4 Exemplarisch Schoch, Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung, VVDStRL 57 (1998), S. 158; Vesting, Ladeur und Albers, alle in: Hoffmann-Riem/
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Botschaft dieses Begriffs lautet: Wir leben jetzt in einer Informationsgesellschaft, und alles, was mit Information zusammengehört, gehört zum Wichtigsten dieser Gesellschaft. Behauptet wird also eine Bedeutungssteigerung und einer Höherschätzung von allem, was mit Information oder Wissen zusammenhängt. Exemplarisch zeigt sich eine solche Um-Interpretation im vorliegenden Zusammenhang auch und gerade bei einer Rechtsmaterie, die dazu noch relativ jung ist, aber schon als in sich gefestigt galt, nämlich dem Datenschutzrecht. Nahezu zeitgleich mit dem Aufkommen des neuen Begriffs des Informationsrechts hat Spiros Simitis, einer der besten Kenner des Datenschutzrechts in Wissenschaft und als Datenschutzbeauftragter auch in der Verwaltungspraxis, in seinem programmatischen Aufsatz „Datenschutz – Rückschritt oder Neubeginn?“5 einen Wendepunkt für diese Rechtsmaterie diagnostiziert. Inzwischen ist die Entwicklung des Datenschutzrechtes in den letzten Jahren zu einem Exempel für die Umorientierung eines vorhandenen Rechtsgebiets durch Einbeziehung in größere neue Systemzusammenhänge geworden6 – genau dies ist nun aber ein beim Entstehen eines Rechtsgebiets erwartbarer Prozess. Solche Um-Interpretationen bedürfen freilich eines Anstoßes und Neuerungen in der Realität. Vorbereitet durch die Begriffe der „Medien“7 und der „Neuen Medien“ wurde dann das ganz und gar Neuartige des Internets sichtbar. Die Rechtspolitik reagierte darauf früh, wie das Thema des 62. Deutschen Juristentags von 1998 zeigt: „Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlass, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?“8 Im Weiteren wurde das Internet Katalysator, Bewusstseinsbildner und Indikator für Neues. Verstärkt wurde und wird dies alles durch hohe Erwartungen und Pro-
Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 20, § 21 und § 22. 5 NJW 1998, S. 2473 ff.; s. auch Hoffmann-Riem, Informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft - Auf dem Weg zu einem neuen Konzept des Datenschutzes, AöR 123 (1998), S. 513-540. 6 Grundsätzlich und tiefgehend schildert Albers, Der Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 22 Rn. 1-6 (mit zahlreichen Nachweisen), dieses Hinauswachsen des Datenschutzrechts aus seiner anfänglichen Beschränkung auf die elektronische Datenverarbeitung zu einem Teilelement von übergreifenden Konzepten wie demjenigen der „Informationsordnung“ bzw. des „Informationsverwaltungsrechts“. - Zur Diskussion um die Modernisierung des Datenschutzesrechts mit Literaturhinweisen dies., ebd., § 22 Rn. 98. 7 Vorher hatte es statt des Oberbegriffs die alten Begriffe wie Rundfunk, Fernsehen, Presse, später Video und DVD gegeben. 8 Kloepfer, Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlass, Notwendigkeit und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen?, Gutachten D zum 62. Deutschen Juristentag 1998.
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phezeiungen („Advent des herrschaftsfreien Diskurs durch Internet“, Ablösung der Schriftkultur durch Medienkultur)9 und Gefahrenszenarien („der gläserne Mensch“). Das Bewusstsein des Neuen und bisher Einzigartigen hat sich rasch verbreitet. Es genügt hier ein Zitat, und zwar der Anfang des großen Lehrbuchs von Michael Kloepfer und Andreas Neun zum „Informationsrecht“: „Die Informationsgesellschaft ist keine Zukunftsvision mehr. Sie hat längst begonnen. … Information steht in früher unvorstellbar großer Fülle und hoher Geschwindigkeit als geistige Ressource zur Verfügung, häufig zwar gewerblich geschützt oder nur bestimmten Nutzerkreisen vorbehalten, zunehmend jedoch als open source. Informationen und Wissen fungieren unbestreitbar als „Hebel“ und Motor für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Veränderungen.“10 Andere sehen zu Recht in der Selbstthematisierung der Gesellschaft als Informations- und Wissensgesellschaft ein wichtiges Indiz für den zugleich realen wie Bewusstseinswandel.11 Richtig ist demnach, dass es zwar einige reale Neuerungen gibt. Im Übrigen aber liegt alles Wichtige im Vorgang der Bewusstseinsveränderung. Dies schließt nicht aus, dass in das Neue in einem beträchtlichen Maße Altes aufgenommen ist. Für das Recht bedeutet dies, dass zwar ein neues Rechtsgebiet entsteht, dass aber viele Bestandteile unter anderem Namen schon vorhanden waren. Dieses Phänomen lässt sich anschaulich auch am Umweltrecht studieren. Der neue Zentralbegriff der Umwelt und des Umweltrechts ist in vielen Ländern am Ende der 60er Jahre in recht kurzer Zeit entstanden. Der neue Begriff „Umwelt“ brachte eine neue Einstellung gegenüber der Natur und der Welt um den Menschen zum Ausdruck, auch das Bewusstsein von der Einheit der Umwelt. Unter diesem neuen Begriff und in dem neu entstehenden Rechtsgebiet wurden bereits lange bestehende Rechtsmaterien wie das Wasserrecht, das Naturschutzrecht und das Luftreinhalterecht zu Bestandteilen des übergreifenden neuen Verständnisses von Umwelt. Ähnlich verhält es sich beim Informationsrecht. Einige (Bestand-)Teile des Informationsrechts gab es schon einige Zeit, bevor der neue Begriff gebräuchlich wurde, so das Medienrecht, das Telekommunikationsrecht und im Zivilrecht das Recht des geistigen Eigentums. Längere Zeit aber wurden sie als eigene und isolierte Materien verstanden. Erst unter dem Vorzeichen der „Informationsgesellschaft“ fanden diese Vor9
Die erste Formel stammt von Kittler, Krieg im Schaltkreis, FAZ Nr. 2775 v. 25. 11. 2001, S. 1, zit. nach Kloepfer/Neun, Informationsrecht, 2002, § 1 Rn. 38 Fußn. 96 , zur zweiten Formel ebd. § 1 Rn. 29. 10 Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 1 Rn. 1. 11 Vesting, Die Bedeutung von Information und Kommunikation für die verwaltungsrechtliche Systembildung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 20 Rn. 36 ff. (Veränderungen im Realbereich: Die Herausforderungen durch die Informations- und Wissensgesellschaft), bei Rn. 36 auch die Formel von der Selbstthematisierung der Gesellschaft als Informations- und Wissensgesellschaft.
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läufer ein verbindendes Dach, sie erhielten ein Gravitationszentrum. Exemplarisch zeigt sich dies am Archivrecht, das lange Jahrzehnte eine reine Spezialisten- und Praktikermaterie war, jetzt aber als „Gedächtnis des Staates“ und als Institution der Informationsvorsorge und Informationsversorgung zu einem Bestandteil der generellen gesellschaftlichen und öffentlichen Informationsarchitektur werden und unter die neuen Anforderungen der Informationsfreiheitsgesetzes treten wird.12 Um solche systematisierenden Integrationsleistungen erbringen zu können, mussten zuerst die Grundbegriffe formuliert und in einen inneren systematischen Zusammenhang gebracht werden. Als Schlüsselbegriffe oder besser: als erschließende Begriffe erweisen sich Daten, Information, Wissen und Kommunikation.13 Bei diesen Begriffen wiederholte sich die schon geschilderte Entwicklung, dass schon lange gebräuchliche Ausdrücke nun begrifflich „geschärft“ wurden und spezifische Konturen erhielten, die sie tauglich machten, zu den wichtigsten Bausteinen des Informationsrecht zu werden.14 Im Recht hatten diese Begriffe eine rasche Karriere, weil sie außerhalb des Rechts beträchtlich auf- und höher bewertet worden waren. Bahnbrechend war das Verständnis von Informationen als vielfältig verwertbare Ressource15 oder in einer bekannten Formel von Helmut F. Spinner: „Information als Rohstoff der Produktion, Information als Rohstoff von Macht, Information als Treibstoff der Veränderung“.16 Zu Recht stellt Friedrich Schoch heraus: „Eine bestimmte Information, ein bestimmtes Wissen kann dem Individuum eine reflektierte Freiheitsausübung ermöglichen, fungiert also als Grundrechtsvoraussetzungsschutz; dieselbe Information mag in Verbindung mit einem spezifischen Wissen einem Unternehmen (oder der Wirtschaft allgemein) als Produktionsfaktor dienen; und der Verwaltung schließlich kann diese Information, eingebettet in das gewachsene administrative Wissen, als Grundlage für ihre Aufgabenerfüllung, z. B. des Gesetzesvollzugs dienen.“17
12 Schoch/Kloepfer/Garstka, Archivgesetz. Entwurf eines Archivgesetzes des Bundes (ArchG-ProfE), 2007. 13 Dazu unten II. 2. 14 Dies ist noch nicht vollständig geleistet. In der Literatur begegnen immer noch auffällige Lücken zwischen der Beschreibung des großen Neuen und dessen Umsetzung in die Welt des Rechts mit seinen Begriffen, Instituten, Begriffen und Rechtsregeln. Der hier zurückzulegende Weg ist weit. 15 Treffender Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 1 Rn. 1: Information als „geistige Ressource“. 16 Helmut F. Spinner, Die Wissensordnung. Ein Leitkonzept für die dritte Grundordnung des Informationszeitalters, 1994, S. 19, zit. bei Schoch, Öffentlich-rechtliche Rahmenbedingungen einer Informationsordnung, VVDStRL 57 (1998), S. 158, 168. 17 Wörtlich Schoch, Das Recht in der Informations- und Wissensgesellschaft. Deutschkoreanisches Symposium, Freiburg 2008, S. 10, 11 (noch nicht veröffentlicht); der Sache nach schon in: ders. (Fußn. 16), 168: „Der unmittelbare Bezug zum Rechtssystem wird sichtbar, wenn es an jenem „Rohstoff“ mangelt. Dem Individuum fehlt eine Grundvoraussetzung zur reflektierten Freiheitsausübung, die Verwaltung hat eine brüchige Basis für ihre Aufgabenerfüllung“.
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3. Ein Rechtsgebiet – die Interdependenz dreier Reflexions-Ebenen: die drei Ebenen des Informationsrechts Das hier zugrunde gelegte Konzept von Herausforderung (durch gesellschaftliche Veränderungen) und Antwort (durch das Recht) ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Bisher ist der Zwischenschritt der Interpretation von realen Veränderungen (auch im Recht) hervorgehoben worden. Anderes tritt gleichwohl hinzu; davon soll hier nur ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden.18 Neue Herausforderungen, die aus dem gesellschaftlichen Wandel und der geänderten Wahrnehmung resultieren, prallen nicht unvermittelt auf das Recht und die Rechtspolitik. Sie beeinflussen das Recht über mehrere Zwischenstationen. In meinem Konzept spreche ich von drei unterschiedlichen Ebenen, von drei Reflexionsebenen. Die erste und zeitlich früheste Ebene bilden typischerweise neue Rechtsvorschriften und zwar solche Rechtsvorschriften, deren rechtliche Elemente nicht einfach in die bisherige Dogmatik eingefügt werden können, weil sie mit den Systemgedanken, die der bisherigen Dogmatik zugrunde liegen, nicht oder nicht völlig erfasst werden können. Auslöser von weitereichenden Überlegungen sind also einerseits neue Vorschriften oder neue Rechtsinstitute, andererseits das Ungenügen, sie im Kontext des Bisherigen zu interpretieren und zu verorten. Auf einer zweiten Stufe oder Reflexionsebene muss dann das Besondere, das sich auf der ersten Stufe gezeigt hat, verstanden und in die Konstruktion eines neuen Rechtsinstituts oder eines neuen Systemgedankens umgesetzt werde. Ein bekanntes Beispiel bietet wiederum das Umweltrecht: Die zentrale systembildende Innovation im Umweltrecht ist nach verbreiteter und zutreffender Auffassung das Vorsorgeprinzip. Damit geht das Umweltrecht weit und entschieden über das zuvor bekannte Gefahrenabwehrrecht hinaus. Mit dem Vorsorgeprinzip hat das Umweltrecht seinen Weg in die Eigenständigkeit begangen und erfolgreich durchschritten.19 Innovationen im Recht, die zur Bildung eines neuen eigenständigen Prinzips oder Instituts führen, sind nicht einfach und auch nicht alltäglich. Zu ihrer Entstehung tragen zumeist – und dies ist die dritte Reflexionsebene – grundsätzliche Überlegungen bei. Um beim Beispiel des Umweltrechts zu bleiben: Warum soll das Neue im Umweltrecht durch das Vorsorgeprinzip ausgedrückt und charakterisiert werden? Warum ist es das Vorsorgeprinzip und nicht etwas anderes? Hier hilft die generelle und breite aus vielen Quellen sich speisende Diskussion weiter. In ihr hat sich das allgemeine Bestreben, die Umwelt besser zu schützen, zu der Einsicht verdichtet, dass es nicht nur zu reagieren gilt, sondern die Entstehung von Umweltbeeinträchtigungen vorbeugend und vorsorgend zu bekämpfen sei. Daraus erwächst eine neue Aufgabe des Staates. nämlich eine bewusste Zukunftsvorsorge zu betreiben oder zumindest anzustreben. Damit ist die letzte und dritte Reflexionsebene erreicht. Die neuen 18 19
Zu anderen Aspekten bereits Wahl (Fußn. 1), S. 45. Dazu Wahl (Fußn. 1), S. 59 f.
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Rechtsvorschriften – erste Ebene – und die neuen Prinzipien oder Institute – zweite Ebene – sind Ausdruck einer neuen Staatsaufgabe und erhalten von diesem Staatsaufgabenverständnis her ihre Konturen und Prägung. Dieser dritten Ebene des Staats(aufgaben)verständnisses kommt zentrale Bedeutung zu,20 weil die hier anzustellenden Überlegungen zugleich die beste Brücke zu den Nachbarwissenschaften und damit zur Interdisziplinarität sind. Was die Rechtswissenschaft auf den Ebenen der konkreten Rechtsvorschriften und einzelnen Rechtsinstitute nicht vermag, nämlich mit den Geistes- und Sozialwissenschaften in einen geordneten wissenschaftlichen Kontakt zu treten, ist auf der Ebene der Grundsatzfragen von Staat und Staatsaufgaben nicht nur möglich, sondern notwendig. 4. Exkurs: Interdependenz dreier Reflexions-Ebenen allgemein im (Öffentlichen) Recht Das dargelegte Verständnis eines Rechtsgebietes als die Interdependenz dreier Reflexions-Ebenen kann – in der Form eines kurzen Exkurses – auf das Recht und die Rechtsgebiete im Öffentlichen Recht insgesamt verallgemeinert werden. Das Recht und die Rechtsgebiete sind zunächst eine große Ansammlung von einzelnen Rechtsvorschriften. Zum Rechtsgebiet wird die Vielzahl einzelner Rechtsvorschriften nur durch eine interne Strukturierung des Stoffes, wie sie auf den folgenden drei Ebenen geschieht. (1) Auf einer ersten Ebene (dogmatisch-systematisierende Ordnung) muss die dabei zu beobachtende Vielfalt an Normen geordnet und auf systematische Figuren bezogen werden. Im Kern ist dies die gewohnte dogmatische Bearbeitungsebene. (2) Die Dogmatik ihrerseits ist auf Leitprinzipien angewiesen. Ein neues Rechtsgebiet entsteht nur, wenn auf der zweiten Ebene eine oder mehrere zentrale neue Leitfiguren entstehen, etwa die planerische Abwägung oder das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht. Es ist dies die Ebene der Prinzipien und Instrumente. (3) Noch allgemeiner wird die Analyse auf der dritten Ebene, wenn die Fülle der neuen Rechtsvorschriften als Teil einer neuen Staats- bzw. Verwaltungsaufgabe interpretiert werden kann. Im Recht der Information und Kommunikation bietet sich dabei das Konzept der Wissensgesellschaft und den dem Staat in ihr zukommenden Aufgaben an. Hier tritt der staats- oder gesellschaftstheoretische Bezug hervor.
20 Zu diesem Gedankengang am Beispiel der Planung Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bd. 2, 1978, S. 78 ff., insb. S. 101 ff., und ders. (Fußn. 1), S. 45 ff.
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5. Die Abfolge neuer Rechtsgebiete in den letzten Jahrzehnten In meiner Studie „Herausforderungen und Antworten. Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte“21 habe ich einige Entwicklungen im Öffentlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland als die Herausbildung neuer Rechtsgebiete beschrieben und interpretiert. Zu neuen Rechtsgebieten kommt es, wenn gesellschaftlicher Wandel und Herausforderungen zu neuen Staatsaufgaben führen und diese einen Schub an neuem Recht auslöst. Dargestellt wurden dabei – die Planung, – der Umweltschutz, – das Risiko- und Technikrecht sowie – die Privatisierung inklusive Gewährleistungsrecht bzw. Regulierungsrecht. Als weiteren Kandidaten in dieser Reihe von gesellschaftlichen Veränderungen, die zu neuen Aufgaben und zu einem neuen Rechtsgebiet führen, habe ich schon damals das Informationsrecht bezeichnet. Kloepfer und Neun behandeln dieses Thema ebenfalls und bejahen die aufgeworfene Frage, indem sie auf neu gegründete Forschungsinstitute, Zeitschriften und Lehrbücher zum Informationsrecht verweisen.22 Daran ist sicherlich richtig, dass solche Neugründungen auch die Entstehung eines neuen Rechtsgebiets indizieren und nahelegen; die Entstehung selber liegt aber zeitlich und inhaltlich davor. Das Neue muss sich in der Substanz ausweisen, erst dann können Lehrbücher folgen. Deshalb ist im Weiteren gemäß dem oben dargelegten Programm zu untersuchen, ob die Ausbildung dreier Ebenen der unterschiedlichen juristischen Zugriffs oder drei Ebenen der Reflexion über einen vorhandenen positiven Rechtstoff bereits gibt. Die weiteren Ausführungen beschäftigen sich daher mit den drei Ebenen des Informationsrechts und der inneren Architektonik dieses Rechtsgebiets. II. Erste Ebene: das positive Recht und seine dogmatisch-systematische Durchdringung 1. Die Abgrenzung des Rechtsgebiets Dass das Informationsrecht bzw. die Rechtsmaterien, die unter diesem Vorzeichen vorgestellt werden, eine veritable Fülle von Rechtsvorschriften, und zwar auch und gerade von neuartigen Regelungen, enthält, zeigt sich schon beim ersten Versuch, dieses neue Rechtsgebiet zu umreißen: in der Auflistung der dazugerechneten Materien. Vorbildhaft ist die von Michael Kloepfer schon 1999 in seinem rechtspolitischen Plädoyer für ein geschlossenes Informationsgesetzbuch vorgelegte Systematik gewor-
21 22
Siehe bereits oben (Fußn. 1). Kloepfer/Neun (Fußn. 9).
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den.23 Ähnlich ist auch sein mit Andreas Neun verfasstes Lehrbuch „Informationsrecht“ von 2002 gegliedert. In dessen Gliederung findet sich zunächst ein (nicht als solcher bezeichneter) Allgemeiner Teil; er umfasst – Grundlagen des Informationsrechts (umfassend und ausdifferenziert), – europäisches und internationales Informationsrecht, – ein zentrales Kapitel über Grundideen und Strukturprinzipien der rechtlichen Informationsordnung, – die Instrumente des Informationsrechts, – rechtsgebiets-übergreifend die Ausprägungen als Informations-Verfassungsrecht, das Informations-Zivilrecht und Informations-Strafrecht. Der „Besondere Teil“ enthält – das Datenschutzrecht, – das Geheimnisschutzrecht, – das Informationszugangsrecht und – das Telekommunikationsrecht, das Postrecht, das Recht der elektronischen Informations- und Kommunikationsdienste, das Rundfunkrecht und das Presserecht. Es bleiben – natürlich und zumal in der Anfangsphase eines neuen Rechtsgebiets – beträchtliche Abgrenzungsprobleme.24 Diese Auflistung und auch die daran anschließenden Schritte zu inneren Systematisierung sind ersichtlich vom nationalen staatlichen Recht geprägt. Das Informationsrecht ist jedoch als junge Rechtsdisziplin und aus der Natur seines Sachbereichs heraus von Anfang an und wesentlich ein europarechtlich und internationalrechtlich verflochtenes Recht und von diesen Rechtsschichten maßgeblich beeinflusst:25 Informationsaustausch und Kommunikation machen – natürlich – an den Grenzen eines Staates nicht Halt. Das gilt für Informations- und Kommunikationsbeziehungen pri23
Kloepfer, Informationsgesetzbuch – Zukunftsvision, K & R 1999, S. 241 ff. Darin die Forderung nach und der Vorschlag für ein Informationsgesetzbuch (IGB): Allgemeiner Teil 1. Kap. Allgemeine Vorschriften, 2. Kap. Datenrecht, 3. Kap. Geheimnisschutz, 4. Kap. Staatliche Informationen, 5. Kap. Informationspflichten Privater, 6. Kap Ordnungswidrigkeiten. Besonderer Teil 1. Kap. Sicherung des Postwesens und der Telekommunikation, 2. Kap. Post, 3. Kap. Telekommunikation, 5. Kap. Presse- und Medienrecht, soweit bundesrechtlich geregelt), 6. Kap. Recht am eigenen Wort/Bild. 24 Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 1 Rn. 76 ff. rücken diesen Abgrenzungsproblemen mit der bekannten und doch unbefriedigenden Unterscheidung von Informationsrecht im engeren und im weitern Sinne zu Leibe. In den weiteren Kreis des Informationsrechts gehören demnach auch Verlags- und Filmrecht, Hochschul- und Schulrecht. Aus der Humangenetik werden der Umgang mit Erbinformationen und sonstige informationsbezogene Teilregelungen einbezogen. 25 Ersterem widmen Kloepfer/Neun (Fußn. 9) zu Recht einen eigenen Abschnitt. Zu den europarechtlich einschlägigen Materien gehören auch die Wettbewerbspolitik und das Beihilfenregime.
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vater wie staatlicher Stellen. Von Anfang an waren deshalb auch die Informationsbeziehungen im europäischen Verwaltungsverbund Bestandteil des Informationsrechts.26 Die informationsrechtliche Sicht auf die Verflechtungen der mitgliedstaatlichen mit den europäischen Verwaltungseinheiten rückt bedeutsame Seiten der Verflechtungen ins Blickfeld, die bei der traditionellen Ausrichtung auf Entscheidungen und Normen unbelichtet bleiben.27 In der noch weiterreichenden internationalen Verflechtung ist das Internet ein Synonym für Grenzüberschreiten und Globalisiertheit. Die internationale Dimension von privatem, gesellschaftlichem und öffentlichem Handeln erreicht hier eine neue und eigene Qualität, die das Informationsrecht zu einem Exempel und zu einem unübersehbaren Probierstein für das Recht macht. Über alle Einzelfragen hinaus wirft es zudem die Frage der Normierbarkeit und der Erwünschtheit rechtlicher Regeln auf. Das deutsche Recht macht – wie übrigens auch das Gemeinschaftsrecht – einen heterogenen Eindruck. Ältere Gesetze, die in einem speziellen und anderen Kontext entstanden sind, stehen neben themenspezifischen Gesetzen. Alles ist nicht aus einem Guss, nicht flächendeckend28 – deshalb gibt es zu Recht die rechtspolitische Forderung nach einem IGB.29 Außerdem erhält das Verfassungsrecht mit seinen Grundrechten eine starke systembildende, auch lückenfüllende Bedeutung, wie die beträchtliche Ausstrahlungskraft des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und – in neuerer Zeit – seiner speziellen Ausprägung als „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“30 zeigen. 2. Grundbegriffe und Bausteine Die relevanten Definitionen finden sich teils als Legaldefinitionen in speziellen Gesetzen, teilweise generell im wissenschaftlichen Schrifttum (in beabsichtigter
26 v. Bogdandy, Informationsbeziehungen im europäischen Verwaltungsverbunds, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 25; zum Pendant, dem innerstaatlichen Bereich Holznagel, Informationsbeziehungen in und zwischen Behörden, ebd. § 24. 27 Dazu Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 68 ff., zu den Problemen in der mitgliedstaatlichunionalen Zwei-Ebenen-Konzeption. 28 Noch stärker gilt diese Einschätzung der Heterogenität der Regelungsebenen und -konzeptionen für das EU-Recht, Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 39 ff. 29 Kloepfer (Fußn. 23). Vgl. dazu auch das starke rechtspolitische Engagement durch „Professorenentwürfe“ von Kloepfer/Schoch, Informationsfreiheitsgesetz. Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (IFG-ProfE), (Beiträge zum Informationsrecht Bd. 1), Berlin 2002, sowie Schoch/Kloepfer/Garstka, Archivgesetz (Fußn. 12). 30 BVerfGE 120, 274 (302 ff.) – Zum Ganzen, auch zum typischen Gegenwartsproblem der doppelten Grundrechtssicherung in den Mitgliedsstaaten und in der EU, Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 39 ff. sowie Rn. 68 ff.
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Übereinstimmung mit dem nicht-juristischen Schrifttum).31 Im Kern stimmen sie überein: Daten sind Zeichen oder Symbole, Informationen gedeutete oder interpretierte Daten; Wissen sind Informationen, die ihren Überraschungswert eingebüßt haben.32 Kommunikation ist die intersubjektive Bewegung von einem Sender zum Empfänger. Diese Definitionen sind dem generellen Sprachgebrauch in allen Informationswissenschaften sehr nahe, wenn nicht gleich. Für juristische und rechtswissenschaftliche Zwecke bedürfen sie regelmäßig der näheren Spezifizierungen, etwa zu „persönlichen Daten“, zu „personengebundene Daten“ oder zu „amtlichen Informationen“ (§ 2 Nr. 1 Informationsfreiheitsgesetz). Ein weiterer Schritt zur problemadäquaten juristischen Begrifflichkeit ist es, wenn der allgemeine Daten-Begriff in den konkreten Konzepten des Datenschutzes33 oder der Datensicherheit spezifiziert wird; ähnlich verhält es sich mit „Informationsfreiheit“. Der allgemeine Kommunikationsbegriff erhält seinen unmittelbaren rechtlichen Bezug durch die bekannte Rechtsfigur der Kommunikationsgrundrechte. Beides ist notwendig, sowohl der Bezug der rechtswissenschaftlichen Sprache auf den Sprachgebrauch der generellen Informationswissenschaften wie auch die schrittweise Präzisierung der juristischen Begriffe im Hinblick auf Regelungsprobleme. 3. Aufgaben der Dogmatik auf dieser ersten Ebene Es liegt auf der Hand, dass in einem aus verschiedenen Quellen zusammenwachsenden neuen Rechtsgebiet ein großer Bedarf nach Systematisierung, überhaupt nach Pionierleistungen besteht. Der Anfang ist immer eine Stunde der Rechtswissenschaft, die diese begrifflich-systematischen „Aufbauleistungen“ erbringen muss, die von den Gerichten nicht en passant im Rahmen von einzelnen Gerichtsentscheidungen erbracht werden können. Auch das Abstecken neuer Horizonte und Systemzusammenhänge übersteigt die Kapazität von Richterecht, hier ist die – interdisziplinär informierte und fachlich ausformulierende – Literatur gefordert. In dieser Weise ist die Entwicklung im Informationsrecht geradezu idealtypisch verlaufen, wie das rasch angeschwollene Schrifttum und vor allem die Literaturgattung der Professorenentwürfe beweist.34 Zentrale Themen der rechtlichen Durchdringung, nicht nur in der Anfangsphase, sind u. a.
31 Schoch (Fußn. 16), S. 158, 166 ff; Vesting (Fußn. 11), § 20 Rn. 11 ff., 18 ff., 26 f., 28 ff.; Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 1 Rn. 49 ff; Albers (Fußn. 6) § 22 Rn. 1 ff., 7 ff.; Trute, Der Schutz personenbezogener Informationen in der Informationsgesellschaft, JZ 1998, S. 822 (825). 32 So Vesting (Fußn. 11), § 20 Rn. 26. 33 Treffend dazu Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 29 ff. Albers formuliert eine typisch juristische Perspektive, indem sie den Begriff Datenschutz von der Schutzbedürftigkeit der Einzelnen her denkt. 34 Zu letzteren die Nachweise in Fußn. 29.
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– die Prüfung, ob alle Rechtsmaterien, die zum Informationsrecht gezählt werden, überhaupt oder in ihrer Fülle zum Informationsrecht gehören, – die Beseitigung von Wertungswidersprüchen, – das Herausbilden von einheitlichen Grundbegriffen, – das Entwickeln von Rechtsinstituten sowie – der Umgang mit den offensichtlichen Unterschieden in den verschiedenen Gesetzen und Teilgebieten. 4. Einige Beobachtungen über Neues am Informationsrecht Informationsrecht, wie es in der Literatur systematisch angelegt ist, ist mehrdimensional und zugleich eine Querschnittsmaterie. Informationsrecht ist Mehr-Ebenen-Recht; darüber hinaus übergreift es die innerstaatliche Normenhierarchie ebenso wie die großen Rechtsgebiete Privat-, Straf- und Öffentliches Recht. Besonders diskutiert wird die weitere Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen Zivil- und Öffentlichem Recht sowie zwischen nationalem und überstaatlichem Recht. Entgegen manch abstrakten Theorien vorwiegend im rechtssoziologischen Schrifttum sind diese beiden Grundentscheidungen zwar nicht überholt, sie sind sicherlich aber auch nicht genauso wie bisher fortzuführen. Das Informationsrecht dürfte seinen Schwerpunkt im Öffentlichen Recht haben, die ebenfalls dazugehörenden Teile des Zivilrechts dürfen aber nicht schlicht als „angehängt“ verstanden werden, sondern es wird aufwendiger, aber auch Ertrag versprechender Integrationsleistungen bedürfen. Jedenfalls werden wichtige Teile des Informationsrechts nicht mehr nur isoliert als Privat- oder als Öffentliches Recht bearbeitet werden können.35 Noch deutlicher ist das Bedürfnis nach einem neuen Zusammenspiel im Verhältnis von internationalem und nationalem Recht. Diese Notwendigkeit wird anschaulich, wenn man die beträchtliche Liste von gemeinschaftsrechtlichen und völkerrechtlichen Regelungen im Informationsrecht bedenkt.36 Das Informationsrecht ist internationalisiertes Recht, weil seine „Materie“, vor allem das Internet, ein internationalisierter „Gegenstand“ per se ist.37
35 Problembewusst und differenzierend am Beispiel des Datenschutzrechts Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 90. 36 Listen von EU- und internationalen Regelungen bei Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 2 Rn. 10 ff. und Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 39 ff (ausführlich und detailliert zu den europarechtlichen Grundlagen), Rn. 68 ff. (zu den Mehrebenenproblemen). 37 v. Bogdandy (Fußn. 26).
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III. Die mittlere Ebene der Reflexion: Prinzipien, neue Institute und neue Systemgedanken 1. Notwendigkeit von Umorientierungen Steht am Anfang eines neuen Rechtsgebiets eine Perspektivenänderung, so ist es eine der ersten Aufgaben der Rechtswissenschaft, diese Neuorientierungen in die bisherige Dogmatik hineinzutragen. Dies setzt Innovationen auf dem Feld der Prinzipien und Rechtsinstitute voraus. Deshalb müssen auf dieser mittleren Ebene der Konstruktion eines Rechtsgebiets neue Leitlinien und Perspektiven entwickelt werden, welche die notwendige Neuorientierung prägen. In der Pionierliteratur zum Informationsrecht wird diese Aufgabe auch immer wieder aufgegriffen. Nach Thomas Vesting darf „die thematische Perspektive des Informationsverwaltungsrechts nicht zu eng gefasst werden. Informationsverarbeitung verweist auf eine neue Grundlegung des Verwaltungsrechts. Begriffe wie „Information“, „Kommunikation“ und „Wissen“ sind Grundkategorien der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft. Sie sind auf der gleichen Ebene angesiedelt wie etwa der Begriff der „Handlung“ oder „Entscheidung“ im überkommenen Verwaltungsrecht.“38 In diesen Worten findet man ein klares und weites Ausgreifen des Programms eines Informationsrechts, von dem man eine beträchtliche Reform des Öffentlichen Rechts erwartet. So postuliert Vesting im Weiteren: „Mit der Umstellung der verwaltungsrechtlichen Systembildung auf eine informationstheoretische Perspektive soll einerseits die Einsicht in den informationellen Charakter des rechtsgebundenen Verwaltungshandelns akzentuiert werden. Das Informationsverwaltungsrecht will auf der anderen Seite eine neue Sicht auf bestimmte Entscheidungs- und Organisationsprobleme der Verwaltung eröffnen.“39 Es ist deutlich: der Anspruch auf Neuorientierung wird explizit erhoben, der Weg zur dogmatisch-systematischen Verarbeitung ist aber noch weit. Vor allem die Verknüpfung der alten handlungs- und entscheidungsbezogenen Grundbegriffe mit den neuen informationstheoretischen Basisbegriffen ist noch nicht vollzogen.
38
Vesting (Fußn. 11), § 20 Rn. 5; auch Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 7. Vesting (Fußn. 11), § 20 Rn. 7 und 47 ff. (Aufgaben, Felder und Regelungssektoren eines Informationsverwaltungsrechts); auch Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 5 und insg. 90-100; kennzeichnend die Überschrift Rn. 1: „Der Umgang mit personenbezogenen Informationen und Daten als eigenständige Dimension des Verwaltens“. Zu den Folgerungen für einen Umbau des Verwaltungsrechts neben Vesting ebd. auch Gusy, Die Informationsbeziehungen zwischen Staat und Bürger, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 23 Rn. 6, 27, 28 ff., 112 ff. zu den Regelungsaufgaben eines „angemessenen Informationsrecht“ im Staat-Bürger-Verhältnis. 39
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2. Regelungskonzepte Eine erste Ausgangsentscheidung für die Transformation von wissenschaftlichem Programm in konkretes positives Recht betrifft das grundsätzliche Regelungskonzept. In der Literatur wird dieses Thema zu Recht als anspruchsvolles Problem behandelt, das weit über die Frage „Gesamtkodifikation versus Einzelgesetze“ hinausführt. Es geht beim Gesetzgebungskonzept um die grundsätzlichere Frage nach dem Regelungssubjekt, die in der Gegenwart alles andere als einfach zu beantworten ist. Deshalb diskutiert Kloepfer eine Reihe von Alternativen: legal regulation, self regulation, technical regulation, non regulation, court regulation.40 Schon diese Aufzählung macht deutlich, dass hinter den Alternativen unterschiedlich beantwortbare Grundfragen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft stehen. Als Leitidee der Aufgabenwahrnehmung dürfte das Kooperationsprinzip zu gelten haben:41 Aber mit dieser Formel sind die Probleme nicht gelöst, es kommt alles auf die Kombinationen der einzelnen Regelungsmodelle an. Was das Regelungsmodell für die der legal regulation obliegenden (Teil)Aufgaben des Informationsrecht betrifft, so kann nicht überraschen, das in der Wissenschaft eine gesamthafte Kodifikation statt bereichsspezifischer Einzelnormierungen präferiert wird. Das Vorbild dafür ist einerseits das Sozialgesetzbuch mit seinen 12 Büchern, andererseits das Projekt eines Umweltgesetzbuches. Das zweimalige Scheitern des UGB-Projekts zeigt aber auch die besonderen Schwierigkeiten, selbst ein inhaltlich und konzeptionell überzeugendes Projekt im politischen Prozess zum Erfolg zu führen. Der politische Gesetzgebungsalltag ist für eine Gesetzgebung, deren Mehrwert in der mittleren und langfristigen Perspektive liegt, wenig aufnahmefähig und -willig. 3. Systembildende Konzepte und Institute Hier muss sich der Hauptertrag der rechtswissenschaftlichen Arbeit erweisen. Wenn Informationen und vor allem die Informations-Infrastruktur eine Grundlage von immer mehr gesellschaftlichen und individuellen Handlungen bilden, sind die Neutralität der Informationswege und die Unverfälschtheit der Informationen im Informationskreislauf die wesentlichen und rechtsgebietsspezifischen Anforderungen. Am Anfang steht die Datensicherheit.42 Die Benutzung der Informationswege ist nur dann sinnvoll, wenn es auch Datensicherheit auf diesen Wegen gibt. Die technischen Debatten und Ereignisse im Netz und anderswo zeigen, dass diese – so selbstverständlich klingende – Anforderung höchst voraussetzungsvoll ist und Datensicherheit letztlich nicht vollständig gewährleistet werden kann.
40
Dazu Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 4 Rn. 6 ff. Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 4 F. 42 Eine Voraussetzung für viele im Informationszeitalter erhofften Leistungen ist die Gewährleistung von Datensicherheit, nämlich die technisch perfekte Übertragung, ohne dass Unbefugte Zugriff nehmen können, also Sicherheit gegen Viren und gegen das Abhören. 41
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Die nächsten Schritte sind spezifischer vom Recht geprägt: Der Informationskreislauf kann seine Funktion nur erfüllen, wenn es freien und offenen Zugang (open access) zu Daten und Informationen gibt: Für Datensammlungen der öffentlichen Hand besteht grundsätzlich Informationsfreiheit, außerdem das Recht auf Zugang oder auf Auskunft; Einschränkungen bei persönlichen Daten sowie Betriebsund Geschäftsgeheimnissen sind vorbehalten.43 In der Gesetzgebung ist dieser Grundgedanke im Informationsfreiheitsgesetz44 enthalten. Unter den Vorzeichen möglicher zukünftiger Kapazitätsgrenzen der Netze wurde in letzter Zeit sehr stark das Leitbild der Netzneutralität diskutiert.45 In der Tat sind der offene Netzzugang und die diskriminierungsfreie Teilhabe und Nutzung der Netze rechtliche Grundanforderungen, die ein aktuelles Informationsrecht ausgestalten muss. Bei all diesen Fragen kommt dem Staat eine – im Einzelnen zu präzisierende – Gewährleistungsverantwortung zu.46 Ein wichtiger Grundsatz ist neben der Neutralität der Netze die möglichste Ungehindertheit und Diskriminierungsfreiheit der Benutzung von Informationsnetzen für (möglichst viele) Bürgerinnen und Bürger. Zu ihrer Sicherung ist die abwehrrechtliche Seite der Informationsfreiheits- und -gleichheitsrechte zu entfalten, so wie die Literatur generell Freiheit und Gleichheit unter den Bedingungen der Informationsgesellschaft ausbuchstabieren und spezifizieren. Die dafür neu geprägten Begriffe und Rechtsinstitute sind zum Teil schon genannt, nämlich: die Vermutung für ungehinderte Kommunikation, der offene Zugang zu Informationen als Zentralbegriff47 sowie der Ausgleich zwischen Informationsfreiheit und Informationsrestriktion (etwa unter dem Gesichtspunkt des Schutzes personenbezogener Daten und von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen sowie von Staatsgeheimnissen48).
43 Kloepfer/Neun (Fußn. 9), § 4 C. III. 3.: Ausgleich zwischen Informationsfreiheit und Informationsrestriktion. 44 § 1 (1) InformationsfreiheitsG: „Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes gegenüber den Behörden des Bundes einen Anspruch auf Zugang zu amtlichen Informationen.“ Es folgen Begrenzungen wegen des Schutzes besonderer öffentlicher Belange (§ 3), des Schutzes des behördlichen Entscheidungsganges (§ 4) und des Schutzes personenbezogener Daten (§ 5). 45 Schlauri, Network neutrality. Netzneutralität als neues Regulierungsprinzip des Telekommunikationsrechts, 2010. 46 Dazu Jens Peter Schneider, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Gewährleistungsverantwortung des Staates für freien Netzneutralität, Vortrag bei der von Kloepfer im Dez. 2010 in Berlin veranstalteten Wissenschaftlichen Tagung: Netzneutralität in der Informationsgesellschaft, sowie Holznagel, Kommunikationsfreiheiten und Netzneutralität, und Degenhart, Netzneutralität bei Presse und Rundfunk, ebd. (Publikation im Erscheinen), 2011; außerdem die Tagung in Karlsruhe (Zentrum für Angewandte Rechtswissenschaft) von Spieker gen. Döhmann, 2nd International Symposium on Communications Regulation: Net Neutrality and Open Access am 22./23. November 2010. 47 Informationsfreiheitsgesetz des Bundes und der Länder, und bereits zuvor das UmweltinformationsG. 48 Bei allen drei möglichen Gründen für Informationsrestriktionen muss im Einzelnen sehr genau abgegrenzt werden, pauschale Lösungen gibt es nicht.
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Im Weiteren müssen die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen im neuen Gebiet Geltung erlangen und das Informationsrecht prägen. Auch hier gilt: „Informationsordnung als konkretisiertes Verfassungsrecht“. Dieser Grundsatz mag im Informationsrecht nicht so intensiv ausfallen wie in anderen Rechtsgebieten, etwa dem Polizeirecht, aber die grundlegenden Verfassungsprinzipien schlagen sich auch im neuen Rechtsgebiet nieder oder sie werden dem neuen Rechtsgebiet als „einfachem“ Gesetzesrecht eingeschrieben. Außerdem finden sich auf dieser „mittleren“ Reflexionsebene informationsrechtliche Konkretisierungen von allgemeinen Grundsätzen, so Dogmatik zu den personengebundenen Daten, die das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung spezifiziert; hierher gehört auch der Grundsatz der Einwilligung in das Zugänglichmachen von persönlichen Daten. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist ein sektortypisches verfassungsrechtliches Leitbild des Informationsrechts.49 Es ist die Grundlage des Informationsrechts im Staat-Bürger-Verhältnis.50 Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, selbst eine Konkretisierung eines umfassenderen Grundrechts, nämlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ist seinerseits zur Quelle für sachnahe Konkretisierungen geworden, wie zuletzt beim Recht auf „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“51 (sog. „Computer-Grundrecht“). Eine sektorspezifische Konkretisierung des Sozialstaates ist darüber hinaus das Leitbild der informationellen Grundversorgung. Darin kommt die spezifische Staatsaufgabe zum Ausdruck, Basisleistungen allen gleichermaßen zugutekommen zu lassen. Die Rolle des Verfassungsrechts ist trotz der internationalen Verflechtung nicht gering; solches internationales oder europäisches Recht ist meist fragmentarisch, sektoral und in Einzelschritten entwickelt. Demgegenüber müssen übergeordnete Maßstäbe und Prinzipien durch Verfassungsrecht geltend gemacht werden. Dafür kommen die nationalen Verfassungsgerichte in Betracht, wenn sie auch nicht mehr alleine oder autonom diese internationalen Regeln bestimmen können. Freilich gibt es keine ihnen überlegene Instanz, die gegenüber dem positiven Recht und der Gesetzgebungspolitik, soweit erforderlich, die konstitutionellen Grundgedanken geltend machen könnten. Einen Übergang zur dritten und grundsätzlichsten Ebene bildet Kloepfers und Neuns oberster Leitsatz, der alle Grundideen und Strukturprinzipien der rechtlichen Informationsordnung überwölbt,52 nämlich das inhaltliche Leitbild der Informationsgerechtigkeit.53 49
Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 56 charakterisiert das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als verfassungsrechtliches Leitbild. 50 Albers (Fußn. 6), § 22 Rn. 58 ff. zur Konzeption des Bundesverfassungsgerichts und Rn. 69 ff. zu ihrer eigenen Neukonzeption. 51 BVerfGE 120, 274 (302 ff.). 52 So der Titel des grundlegenden § 4 des Lehrbuchs (Fußn. 9).
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IV. Die gesellschafts- und staatstheoretische Ebene 1. Überlegungen zur dritten Ebene im Informationsrecht Für das Informationsrecht ist kennzeichnend, dass gesellschaftstheoretische Postulate, vor allem die „Erfindung“ der Begriffe Informations- und Wissensgesellschaft, am Anfang standen und erst danach, sozusagen von oben nach unten, diese Grundgedanken ins Recht, also in Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtspraxis, Eingang fanden.54 Von Anfang an war deutlich, dass es sich beim Informationsrecht nicht um eine gewisse Anzahl interessanter Normen handelt, sondern immer um Regelungen, die in einem stets thematisierten Bezug zu zentralen Entwicklungen der Gesellschaft und dann auch des Rechts stehen. Insofern ist dem Informationsrecht und seiner Bearbeitung in Dogmatik und Systematik der weitere, grundsätzliche Bezug zur staats- und gesellschaftstheoretischen Ebene immanent oder selbstverständlich. Insofern sind die informationsrechtlichen Regeln Ausdruck von Veränderungen zuerst der Gesellschaft, dann aber auch des Staates und seiner Staatsaufgaben. Auch der Staat als Organisation und Handlungssystem verändert sich unter dem Eindruck der Veränderungen und Herausbildung des Informationssektors.55 Der neue Zentralbegriff, jetzt auch im rechtlichen Kontext verwendet und den Horizont der Überlegungen bildend, war und ist die Informationsgesellschaft und sind die von dieser Informationsgesellschaft herausgeforderten neuen Staatsaufgaben. (1) Die Grund- und Ausgangsfrage ist die nach der Verteilung der neuen Aufgaben zwischen Staat und Gesellschaft.56 Die Antwort leitet sich aus den Grundregeln des grundrechtlich geprägten Verfassungsstaats ab: Auch in der Informationsordnung sind die gesellschaftlichen Aktivitäten vorrangig. Der Informationssektor, seine Instrumente und Medien sind zum großen Teil von den Einzelnen und gesellschaftlichen Akteuren getragen. Die Wissensordnung ist als dritte gesellschaftliche Grundordnung neben wirtschaftlicher und Rechtsordnung zu verstehen.57 53 § 4 C. Über den allgemeinen Grundgedanken hinaus interessieren vor allem die näheren Ausprägungen. Als solche nennen Kloepfer/Neun wie folgt: 1. Informationsrechtliche Freiheit für möglichst alle Bürger, 2. gerechter Ausgleich zwischen unterschiedlichen Informationsinteressen, 3. Informationsfreiheit und Informationsrestriktion, 4. offener Zugang zur öffentlichen Meinungsbildung, 5. gleicher Zugang zu Informationen, 6. Überwindung des digital divide, 7. informationelle Grundversorgung (mit Unterthemen), 8. Schutz vor übermächtiger Informationsmacht, 9. Mindestanforderungen an Informationsinhalte, 10. gerechte Informationsverfahren, 11. Verhinderung von (Un)Rechtsoasen. 54 Zur Rezeption von Informations- und Wissensgesellschaft im Recht statt aller Kloepfer/ Neun (Fußn. 9) § 1, S. 1 ff.; Vesting (Fußn. 11), § 20 Rn. 37; Schoch (Fußn. 16), S. 160 ff. 55 Zu Veränderungen in der Verwaltung selbst und den daraus folgenden Herausforderungen an das Verwaltungsrecht Ladeur, Die Kommunikationsstruktur der Verwaltung, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 2008, § 21 Rn. 102 mit der Formel vom „virtuellen Staat“ als Netzwerkstaat. 56 Gusy (Fußn. 39), § 23 Rn. 10 ff. 57 Vgl. den insofern programmatischen Titel von Spinner (Fußn. 16); zur Sache mit einem breiteren Überblick auch Schoch (Fußn. 16), S. 166 – 181.
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(2) Parallel zu der Neuformulierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in den Zeiten von Privatisierungen (und regelmäßig verbleibenden Steuerungsaufgaben des Staates) lässt sich eine grundsätzliche Staatsaufgabe zur infrastrukturellen Grundversorgung begründen. Diese Aufgabe kann zugleich als eine sektorspezifische Konkretisierung des Sozialstaates verstanden werden. Darin kommt die spezifische Staatsaufgabe zum Ausdruck, dass Basisleistungen allen gleichermaßen zugutekommen sollen. Außerdem kommen dem Staat in wichtigen Teilen des Informationssektors auch Gewährleistungs- bzw. Regulierungsaufgaben zu. (3) Anknüpfen kann das Informationsrecht auch an Neuorientierungen im Verständnis von manchen Verwaltungstätigkeiten, die zunehmend als Dienstleistungen verstanden werden. Dieses – in manch anderen Zusammenhängen problematische – neue Verständnis hat im Informationsrecht für vom Staat gesammelte bzw. beim Staat vorhandene Informationen eine unbestrittene Berechtigung; solche Datenbestände, etwa in Archiven, müssen als Dienstleistung für die Gesellschaft gesehen werden. Deshalb ist auch der Informationszugang der Einzelnen zu diesen Informationen grundlegend. (4) Die individualrechtliche Seite der Informationsordnung hatte schon vor dem Aufkommen der neuen Begrifflichkeit des Informationsrechts seinen Leitbegriff gefunden im Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Gerade seine Entstehung und Entwicklung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zeigt eine generelle Dynamik und Entwicklungsoffenheit von Grundrechtsbestimmungen, wenn sie als Antwort auf neue Sachverhalte und Herausforderungen eingesetzt werden. „Information“ und das grundsätzlich neue Verständnis von Information(sordnung) in der Gesellschaft können zu Innovationen im Grundrechtsverständnis führen. Diese rechtlichen Neu-Entwicklungen werden von den gesellschaftstheoretischen Neubewertungen des Informationssektors angetrieben. Nicht nur in der Entstehungsphase eines neuen Rechtsgebiets sind solche gesellschafts- und staatstheoretischen Überlegungen eine Brücke zwischen dem allgemeinen Denken über einen Sachbereich und dem Recht, wobei der Weg bis zum positiven Recht lang ist und viele „Übersetzungstationen“ einschließt (dazu unten 2.). (5) Auf der fundamentalsten Ebene sind dann zuletzt die generellen Fragen nach der Rolle des Rechts und weit darüber hinaus nach den Möglichkeiten und Grenzen der Normierbarkeit, zumal für die nationalen Rechtsetzer, zu beantworten. Der letzte gedanklich und prinzipielle Ausgriff richtet sich auf die Frage nach der Wünschbarkeit von Normierungen: In die hergebrachte dichotomische Alternative von Selbstregulierung und Regulierung durch Recht ist durch die Vorstellungen vom prinzipiell und sogar absolut ungeregelten Internet eine neue Variante und zusätzliche Schärfe hineingebracht worden. Ist die Vision von der grenzenlosen Freiheit des Netzes realistisch? Oder ist sie inzwischen relativiert? Wie verändert sich die Wahrnehmung von Recht überhaupt, wenn Recht als solches als Eingriff verstanden wird, wenn Recht nicht mehr in seiner klassischen Doppelfunktion als Ermöglichung und Begrenzung von gesellschaftlichem Handeln verstanden wird, sondern die Vorstellung
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der reinen Freiheit des Netzes propagiert wird? Vielleicht ist diese Vision aber auch schon wieder im Abflauen. 2. Der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen drei Ebenen der Reflexion Die dritte Ebene, auf der das positive Recht und die Rechtspolitik in Staatsverständnis und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft (etwa als Wissensgesellschaft) gespiegelt werden bzw. von dort Impulse, Erwartungen und Regelungsaufgaben „angedient“ bekommen, ist eine elementare „Stellschraube“ für Veränderungen, für schnelle oder aber, was wohl häufiger ist, langsame und schleichende Veränderungen im Recht. Sind die erste und die zweite Ebene Bestandteile der Dogmatik, also mit ihren Aussagen unmittelbar auf die rechtliche Grundoperationen „rechtmäßig oder unrechtmäßig“ ausgerichtet, so ist die dritte Ebene der gedankliche Ort, an dem es zum Dialog zwischen Rechtsgrundsätzen einerseits und Zeitströmungen sowie veränderten Szenarien für die Zukunft andererseits kommt. Die dritte Ebene ist das richtige Reflexionsforum, auf dem rechtsgrundsätzliche Überlegungen (nicht die einzelne Regelungen oder Rechtsinstitute)58 und gesellschaftliche Diskurse über neue Themen und Problemlage aufeinandertreffen. Als Resultat werden neue Regelungsaufgaben identifiziert und zuweilen auch Leitlinien für die grundsätzliche Rechtspolitik entwickelt. Auf der dritten Ebene geht es also auch um die Zufuhr von (neuen) Leitlinien oder Leitgedanken in das Recht auf einem grundsätzlichen Niveau, kurz um das Einwirken von rechtsbeeinflussenden Vorstellungen, die aber selbst dem Recht nicht zugehören und schon deshalb nicht zugehören, weil sie nicht in der Sprache des Rechts formuliert sind. Wie dann solche neuen Ideen oder Postulate den Weg bis zur ersten Ebene, bis zur Dogmatik des geltenden Rechts in Gesetzgebung oder Richterrecht finden, ist im Einzelnen immer schwierig zu beschreiben. Dass es diese Zufuhr aus generellen Leitbildern und Umwertungen im Gefolge von Veränderungen der Zeitströmungen oder neuer Entwicklungen gibt, ist andererseits unbestritten. Das Informationsthema ist ein gutes Beispiel für eine solche Umwandlung und die Einwirkung von allgemeinen Gegenwartsideen ins positive Recht und in seine konkreten Regeln hinein. Auch insoweit ist das Informationsrecht auf einem guten Weg, ohne ihn schon voll abge58 Bei den allgemeinen Postulaten zum interdisziplinären Arbeiten und zur Einbeziehung anderer Wissenschaften in die Rechtswissenschaft (und Rechtspraxis?) bleibt es häufig beim allgemeinen Postulat; weniger wird darüber nachgedacht, an welcher Stelle diese Einbeziehung geschehen könnte. Nach den Ausführungen im Text ist es höchst unwahrscheinlich und ungenügend, dass man bei der Arbeit am positiven Recht (also bei der Interpretation einzelner Normen und bei der Subsumtion) als Richter oder Anwalt in einem großen Umfang interdisziplinär arbeiten könnte. Gleiches gilt auch für die praxisnahe Rechtswissenschaft, also bei deren Umgang mit speziellen Rechtsnormen und konkreten Entscheidungsproblemen. Aber auf der oben dargelegten dritten und zum Teil auch schon auf der zweiten Ebene ist die Kooperation ausgesprochen erfolgversprechend, oft auch notwendig. Ganz entscheidend ist es, sich über die Verbindungsstellen oder Verknüpfungsbereiche Gedanken zu machen.
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schritten zu haben. Ein eigenes Rechtsgebiet aber kann man das Informationsrecht ohne Weiteres bereits nennen. Es ist auf allen drei Reflexionsebenen des Rechts und in deren Verflechtungen miteinander gut ausgebildet.
Zur Zulässigkeit der Klage eines Bundeslandes gegen die Festlegung von Flugrouten Von Jan Ziekow* Neben anderem, darunter dem langjährigen Bemühen um die Veranstaltungen des deutsch-koreanischen Symposiums zum Verwaltungsrecht1, verbindet den Verfasser mit dem Jubilar insbesondere die Arbeit an der Verwaltungsgerichtsordnung. WolfRüdiger Schenkes nahezu unglaubliche Leistung, nicht nur ein umfassendes Lehrbuch zum Verwaltungsprozessrecht2 – neben anderen Standardlehrbüchern3 –, sondern auch eine Eine-Mann-Kommentierung der gesamten VwGO4 vorzulegen, dürfte nur schwer nachahmbar sein. Es ist daher ein Ausdruck tiefsten Respekts, für einen Beitrag für die Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke ein Thema aus dem Verwaltungsprozessrecht zu wählen. Das Problem des Rechtsschutzes gegen die Festlegung von Flugrouten ist in jüngster Zeit durch die (Aus-)Bauprojekte an zwei großen deutschen Flughäfen (Frankfurt/ Main, Berlin Brandenburg International) wieder verstärkt in die Schlagzeilen gekommen. Einschlägige Entscheidungen sind bislang nur auf Klagen natürlicher Personen, von Privaten beherrschter juristischer Personen des Privatrechts und von Gemeinden ergangen. Das politische Ziel, zum Schutz der im eigenen Bundesland ansässigen Unternehmen und Bevölkerung tätig zu werden, hat zu Überlegungen auf Landesregierungsebene geführt, ob nicht auch ein Bundesland zulässigerweise Klage gegen die Festlegung von Flugverfahren, die einen in einem anderen Bundesland gelegenen Flughafen betreffen, erheben könnte. * Der Beitrag beruht auf einem Rechtsgutachten, das der Verfasser dem Wirtschaftsministerium eines Bundeslandes erstattet hat; die Ausführungen geben allein die Auffassung des Verfassers wieder. 1 Siehe Wolf-Rüdiger Schenke/Jong Hyun Seok (Hrsg.), Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea, 2006 (darin: Schenke, Die verfassungsrechtliche Garantie des Rechtsschutzes gegenüber staatlichen Hoheitsakten in Deutschland, 31 ff.); Jong Hyun Seok/Jan Ziekow (Hrsg.), Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, 2008 (darin: Schenke, Staatliche Haftung für Fehlverhalten von Privaten, die in die Erfüllung staatlicher Aufgaben einbezogen sind, S. 199 ff.); Jong Hyun Seok/Jan Ziekow (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Sektor, 2010 (darin: Wolf-Rüdiger Schenke, Mediation und verwaltungsgerichtliches Verfahren, S. 155 ff.). 2 Wolf-Rüdiger Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 12. Aufl. 2009. 3 Wolf-Rüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009. 4 Ferdinand O. Kopp/Wolf-Rüdiger Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2009.
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I. Verfahren der Flugroutenfestlegung Rechtsgrundlage für die Neufestlegung der Abflugrouten am Flughafen Frankfurt/ Main ist § 27a II 1 LuftVO. Diese Norm ermächtigt das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung (BAF) zur Festlegung von Flugverfahren einschließlich der Flugwege, Flughöhen und Meldepunkte durch Rechtsverordnung. Im Rahmen des Auftrags der Deutsche Flugsicherung GmbH (DFS) zur sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs wird die Festlegung von Flugverfahren inhaltlich regelmäßig durch die DFS vorbereitet. Den von ihr erstellten Entwurf übermittelt die DFS an die für den jeweiligen Verkehrsflughafen gemäß § 32b LuftVG gebildete Fluglärmkommission. Der von der Genehmigungsbehörde berufenen Fluglärmkommission gehören u. a. Vertreter der vom Fluglärm in der Umgebung des Flugplatzes betroffenen Gemeinden, Vertreter der Bundesvereinigung gegen Fluglärm, Vertreter der Luftfahrzeughalter, Vertreter des Flugplatzunternehmers und Vertreter der von der Landesregierung bestimmten obersten Landesbehörden an. Die Kommission kann zu dem Entwurf der DFS Stellung nehmen und dem BAF Vorschläge unterbreiten. Allerdings ist das BAF an die Vorschläge der Fluglärmkommission nicht gebunden; ihm obliegt lediglich eine Begründungspflicht, wenn es die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen für nicht geeignet oder für nicht durchführbar hält. Über die Beteiligung der jeweiligen Fluglärmkommission hinausgehende Pflichten zur Beteiligung von natürlichen oder juristischen Personen bestehen nicht. Natürlichen Personen steht auch dann kein Beteiligungsrecht zu, wenn sie als Eigentümer von im Bereich der Flugrouten gelegenen Grundstücken von Beeinträchtigungen durch Fluglärm betroffen sind.5 Gemeinden, die durch die geplanten Flugrouten voraussichtlich von höheren Lärmeinwirkungen betroffen sein werden, haben kein Recht auf Beteiligung vor der Festlegung von Flugverfahren. Da § 32b LuftVG ein spezielles Beteiligungsinstrument auch unter Einbeziehung der lärmbetroffenen Gemeinden institutionalisiert, werden die Interessen der Gemeinden hierdurch hinreichend abgebildet.6 Weitergehende Beteiligungsrechte ergeben sich auch aus Art. 28 II GG nicht.7 Hieraus wird man schließen müssen, dass einem Bundesland ebenso wenig ein Recht auf Beteiligung an dem Verfahren zur Festlegung von Flugrouten zusteht, selbst wenn diese Flugrouten zu einer stärkeren Belastung durch Fluglärm in jenem Bundesland führen. Spezifischen Situationen, die eine Einbeziehung von Behörden des Nachbarbundeslandes nahe legen, kann in ausreichendem Maße durch die Möglichkeit zur Berufung in die Fluglärmkommission wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls nach § 32b IV 2 LuftVG Rechnung getragen werden. Im weiteren Verfahren bezieht dann die DFS die Vorschläge der Fluglärmkommission in ihren Vorschlag der Flugverfahrensfestlegung an das BAF zumindest in der 5
VGH Kassel, Urt. v. 11.2.2003 – 2 A 1569/01 –. BVerwG NVwZ 2004, 473, 475; 2004, 1229; ebenso VGH Mannheim VBlBW 2006, 425. 7 Eingehend BVerwG NVwZ 2004, 473, 475; 2004, 1229. A. M. VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132 f. 6
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Weise ein, dass sie sich mit den Vorschlägen der Fluglärmkommission auseinandersetzt. Das BAF muss dann in nach außen nachvollziehbarer Weise eine eigene Abwägungsentscheidung treffen8, d. h. zumindest eine inhaltliche Prüfung des Vorschlags der DFS dokumentieren. Da die Festlegung der Flugrouten allein in der Zuständigkeit des BAF liegt, unterliegt es bei dieser Abwägungsentscheidung hinsichtlich der Festlegung der Flugrouten keinen Bindungen an die der Planfeststellung oder der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung des Flughafens annahmeweise zugrunde gelegte oder die bestehende Flugroutenführung9. Zwar ist es im Planfeststellungs- bzw. Genehmigungsverfahren notwendig, die voraussichtlich zu erwartenden Flugrouten in die Fluglärmberechnung einzustellen. Doch ist es eine Frage der vom BAF im Einzelfall zu treffenden Abwägungsentscheidung, ob es die im Planfeststellungs- bzw. Genehmigungsverfahren zugrunde gelegten Flugrouten bestätigt oder andere festlegt.10 Andererseits ist das BAF insofern an die mit dem Planfeststellungsbeschluss oder der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung getroffenen Entscheidungen gebunden, als es das durch diese festgesetzte Lärmpotential des Flughafens bei der Festlegung der Flugrouten in der Weise zu beachten hat, dass es die Ausnutzung dieser Entscheidungen über den Betrieb des Flughafens nicht konterkarieren darf. Das BAF ist darauf verwiesen, das hierdurch vorhandene Lärmpotential lediglich verteilen zu können.11 Die Auswahl zwischen mehreren in Betracht kommenden An- und Abflugrouten hat das BAF im Wege einer Abwägungsentscheidung zu treffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfolgt die Festlegung von Flugrouten in Erfüllung einer staatlichen Planungsaufgabe, für die das rechtsstaatliche Abwägungsgebot gilt. Es verlangt der zuständigen Behörde (dem BAF) ab, die in der räumlichen Umgebung des Flughafens auftretenden Probleme und Interessenkonflikte zu bewältigen.12 In einem ersten Schritt ist zu ermitteln, welche Routen für An- und Abflüge zu bzw. von dem jeweiligen Flughafen in Erwägung zu ziehen sind. Anschließend sind die mit diesen Flugrouten verbundenen abwägungsrelevanten Belange zu ermitteln und im Verhältnis der verschiedenen möglichen Flugrouten untereinander zu gewichten.13
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VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 879. Zur insoweit fehlenden Kompetenz der Planfeststellungsbehörde vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.11.2010 – 4 A 4000/09 –; VGH Kassel, Urt. v. 21.8.2009 – 11 C 227/08 u. a. –, in LKRZ 2010, 66 nur teilweise abgedruckt. 10 BVerwG, Beschl. v. 18.8.2005 – 4 B 17/05 –. Für einen umfassenden Problembewältigungsansatz de lege ferenda hingegen Regine Rausch-Gast, Die Festlegung von Flugrouten auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung zu § 29b LuftVG, in: Ziekow, Aktuelle Probleme des Luftverkehrs-, Planfeststellungs- und Umweltrechts 2009, 2010, 63, 68. 11 BVerwGE 111, 276, 281; Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; NVwZ 2005, 1061, 1063; Beschl. v. 7.4.2006 – 4 B 69/05 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 12 BVerwGE 111, 276, 281; BVerwG NVwZ 2004, 473, 476; vgl. auch OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 13 BVerwG, Beschl. v. 18.8.2005 – 4 B 17/05 –. 9
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Dabei ist zu beachten, dass die für das Abwägungsgebot bei fachplanerischen Entscheidungen entwickelten Grundsätze der gerichtlichen Überprüfbarkeit von Abwägungsfehlern bei der der Festlegung von Flugrouten zugrunde liegenden Abwägung nicht in vollem Umfang gelten14. Dies beruht zum einen darauf, dass auch mit ihr verbundene unzumutbare Beeinträchtigungen nicht die Auswahl einer bestimmten Flugroute hindern, zum anderen an der geschilderten Beschränkung, auf den Umfang der durch Planfeststellungsbeschluss bzw. luftverkehrsrechtliche Genehmigung definierten Lärmquelle nicht zugreifen und deren Umfang nicht beeinflussen zu können, und drittens auf dem zu anderen Verkehrswegeplanungen bestehenden Unterschied, dass Flugrouten lediglich eine ein „Flugerwartungsgebiet“ umreißende Ideallinie beschreiben, die keine „parzellenscharfe“ Prognose konkreter Lärmbeeinträchtigungen ermöglicht.15 Funktional ist die Festlegung von Flugverfahren primär Gesichtspunkten der Flugsicherheit zur Verhaltenssteuerung verpflichtet.16 Allerdings hat das BAF dem Wesen der Flugroutenfestlegung als Abwägungsentscheidung Rechnung zu tragen und auch andere Belange als solche der Flugsicherheit in seine Abwägung einzustellen. Zu den zu berücksichtigenden Belangen gehört zwingend das Interesse der Bevölkerung an einem Schutz vor Fluglärm.17 Die dem BAF obliegende Untersuchungstiefe wird durch die Intensität der zu erwartenden Lärmbeeinträchtigungen skaliert: Je wahrscheinlicher es ist, dass auf der betreffenden Flugroute mit unzumutbarem Lärm im Sinne des § 29b II LuftVG zu rechnen ist, desto intensiver hat das BAF – korrelierend mit der Höhe der Überschreitung der Zumutbarkeitsschwelle – eventuelle Streckenalternativen zu überprüfen. Umgekehrt sinken die Anforderungen an die Untersuchungsintensität um so stärker, je deutlicher die Schwelle unzumutbarer Lärmbeeinträchtigungen unterschritten wird.18 Auch Fluglärmbeeinträchtigungen, die im Sinne des § 29b II LuftVG als unzumutbar zu bewerten sind, stehen der Festlegung der betreffenden Flugroute nicht entgegen.19 Bestehen Zielkonflikte zwischen Fluglärmschutz und Luftsicherheit, so kann das BFA den Sicherheitsgesichtspunkten den Vorrang einräumen, sofern es diesen Vorrang mit dem Vorliegen zwingender Gründe der sicheren, geordneten und flüssigen Abwicklung des Luftverkehrs besonders zu rechtfertigen vermag.20 14
BVerwG NVwZ 2005, 1061, 1063. BVerwGE 111, 276, 283; BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –. 16 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; NVwZ 2005, 1061, 1063; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 17 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; NVwZ 2005, S. 1061, 1063. 18 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; Beschl. v. 18.10.2005 – 4 B 43/05 -; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 19 BVerwG, Urt. v. 28.6.2000 – 11 C 13.99 –, insoweit in BVerwGE 111, S. 276, nicht abgedruckt. 20 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; Beschl. v. 7.4.2006 – 4 B 69/05 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 15
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In die Abwägung des BAF einzubeziehen ist auch solcher Fluglärm, der unterhalb der Unzumutbarkeitsgrenze des § 29b II LuftVG liegt.21 Allerdings unterliegt das BFA in diesem Fall keinem besonderen Rechtfertigungszwang. Eine Optimierung von Lärmschutzbelangen in dem Sinne, dass die angemessenste oder bestmöglichste Lösung gewählt worden ist, ist nicht geboten. Vielmehr reicht es aus, wenn das BAF gegenüber den Lärmschutzinteressen sachlich vertretbare Gründe für die Wahl der konkreten Flugroute anführen kann.22 Eine Grenze ergibt sich erst dann, wenn die Behörde „die Augen vor Alternativen verschließt, die sich unter Lärmschutzgesichtspunkten als eindeutig vorzugswürdig aufdrängen, ohne zur Wahrung der für den Flugverkehr unabdingbaren Sicherheitserfordernisse weniger geeignet zu sein“.23 II. Statthaftigkeit der Feststellungsklage und Bestehen des Feststellungsinteresses Die Beantwortung der Frage nach der statthaften Verfahrensart wird durch die in § 27a II 1 LuftVO enthaltene Bestimmung, dass die Festlegung in Form einer Rechtsverordnung des BFA erfolgt, geprägt. Da das BFA eine Bundesbehörde ist, ist eine prinzipale abstrakte Normenkontrolle nach § 47 VwGO nicht eröffnet24. Dem aus Art. 19 IV GG fließenden Rechtsschutzanspruch von durch eine Flugverfahrensfestlegung in ihren Rechten Betroffenen wird auch durch die Eröffnung einer Feststellungsklage nach § 43 VwGO in hinreichendem Maße Rechnung getragen. Da die BAF im Falle der Begründetheit der Klage die rechtlich gebotenen Konsequenzen auch ohne Bestehen eines Vollstreckungsdrucks ziehen wird, steht der in § 43 II VwGO statuierte Grundsatz der Subsidiarität der Feststellungsklage nicht entgegen.25 Gegenüber der Statthaftigkeit einer Feststellungsklage26 entfaltet § 47 VwGO keine Sperrwirkung in dem Sinne, dass die Gültigkeit einer Norm nur in den in § 47 I VwGO normierten Fällen verwaltungsgerichtlich überprüft werden könnte.27 Nicht ausgeschlossen ist insbesondere eine Inzidentprüfung im Rahmen der Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, selbst wenn die Normprüfung der eigentliche Zweck der Feststellungsklage ist.28
21 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; NVwZ 2005, 1061, 1063; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 22 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 23 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –. 24 Natalie Lübben, in: Hobe/von Ruckteschell, Kölner Kompendium Luftrecht, Bd. 2: Luftverkehr, 2009, Teil I E Rdnr. 107. 25 BVerwGE 111, 276, 279. 26 So BVerwGE 111, 276, 278 f.; BVerwG NVwZ 2004, 473, 474; Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; VGH Kassel, Urt. v. 11.2.2003 – 2 A 1569/01 –. 27 BVerwGE 111, 276, 278; VGH Kassel, Urt. v. 11.2.2003 – 2 A 1569/01 –. 28 BVerwG NJW 1983, 2208; BVerwGE 111, 276, 278 f.
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Die Zulässigkeit einer Feststellungsklage setzt nach § 43 I VwGO voraus, dass der Kläger ein berechtigtes Interesse an einer baldigen gerichtlichen Feststellung hat. In der die Zulässigkeit von Feststellungsklagen gegen Flugrouten prüfenden Rechtsprechung wird diese Zulässigkeitsvoraussetzung regelmäßig nicht problematisiert, sondern nur darauf abgehoben, ob der Kläger klagebefugt ist. Dahinter steht die Überlegung, dass ein Feststellungsinteresse jedenfalls immer dann vorliegt, wenn der Kläger eine Gefährdung seiner subjektiven Rechte befürchten muss29. Zumindest im Regelfall entscheidet nach diesem Ansatz die Möglichkeit der Geltendmachung einer Verletzung in subjektiven Rechten zugleich über das Bestehen oder Nichtbestehen des Feststellungsinteresses.30 III. Bestehen der Klagebefugnis Ungeachtet der berechtigten wissenschaftlichen Kritik31 an dieser Auffassung hält die Rechtsprechung daran fest, dass Sachentscheidungsvoraussetzung auch der Feststellungsklage eine den Anforderungen des § 42 II VwGO entsprechende Klagebefugnis ist. An der erforderlichen Klagebefugnis in diesem Sinne fehlt es nur, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise subjektive Rechte des Klägers verletzt sein können.32 Für die Untersuchung, ob einem Bundesland die Klagebefugnis gegen die Festlegung von Flugverfahren zusteht oder nicht, wird zunächst die die Klagebefugnis natürlicher Personen oder juristischer Personen des Privatrechts, deren Anteile ausschließlich in privater Hand liegen, betreffende (unten III. 1.) und anschließend die die Klagebefugnis von kommunalen Gebietskörperschaften zum Gegenstand habende (unten III. 2.) Rechtsprechung analysiert. Anschließend ist zu untersuchen, welche Folgerungen sich aus dieser Rechtsprechung für das Bestehen einer Klagebefugnis eines Landes Rheinland-Pfalz ziehen lassen (unten III. 3.). 1. Klagen natürlicher und privater juristischer Personen a) Natürliche Personen aa) Berufung auf eine Schutznorm Das Vorliegen der Klagebefugnis bei Klagen natürlicher Personen wird entscheidend vom Charakter der Flugverfahrensfestlegung als dem Abwägungsgebot unterliegende Planungsentscheidung (dazu oben I.) bestimmt. Wie bei anderen Planungs29
Vgl. Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 43 Rdnr. 24. Zu Recht kritisch Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2010, § 43 Rdnr. 76. 31 Siehe nur Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 42 Rdnr. 63; Sodan (Fußn. 30), § 43 Rdnr. 72. 32 BVerwGE 111, 276, 279 f.; BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; VGH Mannheim VBlBW 2006, 425, 426. 30
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entscheidungen33 kommt dem Abwägungsgebot auch hier die Wirkung als Schutznorm zu34. Zumindest dann, wenn es sich bei diesen Belangen um rechtlich geschützte Interessen des Klägers handelt, hat der Kläger ein subjektives Recht auf gerechte Abwägung dieser Belange.35 Die Frage, ob sich dieses Recht auf gerechte Abwägung wie im Bau- und Fachplanungsrecht über die rechtlich geschützten Interessen hinaus auch auf alle weiteren abwägungserheblichen privaten Belange erstreckt oder nicht, ist vom BVerwG mehrfach ausdrücklich offen gelassen worden.36 Hierüber hinausgehend hat der VGH Mannheim auch solche abwägungserheblichen privaten Belange dem durch das rechtsstaatliche Abwägungsgebot vermittelten Drittschutz unterstellt, die nicht selbst rechtlich geschützt sind.37 Dem wird in der wissenschaftlichen Literatur zu Recht beigepflichtet.38 Im Ergebnis ist die Diskussion allerdings nur in Randbereichen von Bedeutung. Denn selbst dann, wenn sich der Schutznormcharakter des Abwägungsgebots bei der Festlegung von Flugverfahren auf abwägungsrelevante rechtlich geschützte Interessen beschränken würde, ergäbe sich daraus keineswegs, dass nur die Geltendmachung unzumutbaren Fluglärms, nicht aber auch die Geltendmachung zumutbaren, nicht unerheblichen Fluglärms die Klagebefugnis begründen würde39. Denn das BVerwG hat den Schutznormcharakter des Abwägungsgebots auch für solche Personen angenommen, „die keinem unzumutbaren Fluglärm im Sinne des § 29b Abs. 2 BImSchG ausgesetzt werden, deren Lärmschutzinteressen das Luftfahrt-Bundesamt (jetzt: das BAF) bei seiner Abwägungsentscheidung aber gleichwohl im Rahmen des rechtsstaatlich unerlässlichen Minimums Rechnung zu tragen hat“40. Diesen Hinweis des Gerichts auf das „rechtsstaatlich unerlässliche Minimum“ wird man nicht in der Weise einschränkend zu verstehen haben, dass das Abwägungsgebot für unterhalb der Unzumutbarkeitsschwelle bleibenden Fluglärm nur insoweit als Schutznorm wirkt, wie das BAF nicht gegenüber den Lärmschutzinteressen sachlich vertretbare Gründe für die Wahl der konkreten Flugroute anführen kann (dazu oben I.). Denn hierbei handelt es sich um eine Frage der Prüfungstiefe des Gerichts 33
Dazu Jan Ziekow, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl. 2010, § 74 Rdnr. 27 m. w. N. BVerwGE 111, 276, 281 f.; Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –; Nikolas Stoermer, Der Schutz vor Fluglärm unter besonderer Berücksichtigung der luftverkehrsrechtlichen Zulassung von Flughäfen und der Festlegung der Flugverfahren, 2005, S. 200. 35 BVerwGE 111, 276, 281. 36 BVerwGE 111, 276, 281 f.; BVerwG NVwZ 2004, 473, 476. 37 VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129. 38 Christoph Alber, Zum Rechtsschutz gegen Fluglärn – Insbesondere gegen die Festlegung so genannter Flugrouten, 2004, S. 151 ff.; Steffen Schleiden, Rechtliche Grundfragen der Flugroutenfestlegung, 2009, S. 63 f.; Gernot Sydow/Lilly Fiedler, Flugroutenfestlegung. Zum Verhältnis von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren am Beispiel der Bestimmung von Flugverfahren, DVBl. 2006, 1420, 1424. 39 So aber Sydow/Fiedler (Fußn. 38), 1424. 40 BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –. 34
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gegenüber der vom BAF vorgenommenen Abwägung, die im Rahmen der Begründetheit der Feststellungsklage, nicht aber schon bei der Prüfung des Vorliegens der Sachentscheidungsvoraussetzungen zu erörtern ist. Als Schutznorm wirkt das Abwägungsgebot zugunsten natürlicher Personen dementsprechend hinsichtlich – einer Beeinträchtigung von im Einwirkungsbereich der betreffenden Flugroute gelegenen Grundeigentums des Klägers mit Blick auf Art. 14 I GG41, – solcher Fluglärmimmissionen, die den Bereich des durch Art. 2 II 2 GG Geschützten oder des Unzumutbaren im Sinne von § 29b II LuftVG erreichen42, sowie – unterhalb der Unzumutbarkeitsschwelle des § 29b II LuftVG bleibender Fluglärmeinwirkungen, die als mehr als nur unerheblich vom BAF in die Abwägung einzustellen sind43. Juristische Personen des Privatrechts, deren Anteile sich vollständig in der Hand Privater befinden, können sich zur Begründung ihrer Klagebefugnis von vornherein nicht auf Normen zum Schutz der Gesundheit wie Art. 2 II GG berufen, da diese Vorschriften ausschließlich dem Schutz der Gesundheit natürlicher Personen dienen. Dies gilt selbst dann, wenn die juristische Person besonders lärmempfindliche Einrichtungen wie etwa Krankenhäuser, Altenheime oder Schulen betreibt.44 In Betracht kommt hingegen eine Berufung auf das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG und den durch Art. 14 GG gewährleisteten Schutz des Eigentums. Grundsätze hierzu sind in der Rechtsprechung in Ansätzen entwickelt worden. Der Beschluss des BVerwG vom 4. 5. 2005 betraf die Klage eines ausländischen Betreibers eines im Ausland gelegenen Flughafens (Zürich) gegen die Festlegung von Flugrouten über deutschem Gebiet. Zur Begründung seiner Klagebefugnis hatte der Flughafenbetreiber im Verfahren vor dem VGH Mannheim45 vorgetragen, die Festlegung greife unverhältnismäßig in eine seit Jahrzehnten bestehende Infrastruktur und damit in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb des Klägers ein, weil sie zu erheblichen Kapazitätsbeschränkungen führe und einen enormen Investitionsbedarf auslöse sowie Lärmschutzkosten nach sich ziehe. Der VGH hat das Vorliegen der Klagebefugnis dahin stehen lassen und die Klage als unbegründet abgewiesen. Demgegenüber bejahte das BVerwG das Bestehen der Klagebefugnis, al41 BVerwGE 111, 276, 282; BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –; VGH Kassel, Urt. v. 11.2.2003 – 2 A 1569/01 –. 42 BVerwGE 111, S. 276, 282; BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –; OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 43 VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/ 03 –. 44 VGH Mannheim VBlBW 2006, 425; VG München, Urt. v. 23. 10. 2009 – M 24 K 08.4955 u.a. –. 45 VGH Mannheim VBlBW 2003, 389.
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lerdings ohne jede Begründung46. Im Rahmen der Prüfung der Begründetheit der Klage verneinte das BVerwG Eingriffe in die Grundrechte des Flughafenbetreibers aus Art. 12 I und 14 I GG durch die Flugroutenfestlegung. Die Festlegung regele nicht den Wettbewerb zwischen Flughäfen oder Fluggesellschaften und weise keine objektiv berufsregelnde Tendenz auf. Weiterhin würden weder das Grundeigentum noch die mit dem Geschäftbetrieb verbundenen sonstigen Rechte der den Flughafen betreibenden juristischen Person durch die Flugrouten unmittelbar geregelt.47 Aus dieser Prüfung auf der Stufe der Begründetheit der Klage wird man möglicherweise – ohne dass dies exakt verifizierbar wäre – den Schluss ziehen können, dass das Gericht eine Verletzung dieser Grundrechte des Flughafenbetreibers auf der Stufe der Zulässigkeitsprüfung als nicht offensichtlich und von vornherein ausgeschlossen erachtete. Eine solche Interpretation würde übereinstimmen mit der vom VGH Kassel in seinem Urteil vom 24. 10. 2006 entwickelten Linie. Dort hatte der Verwaltungsgerichtshof die Klagebefugnis eines ein Chemiewerk auf einem von der betreffenden Flugroute tangierten Gelände betreibenden Unternehmens bejaht, da nicht auszuschließen sei, dass bei der Flugverfahrensfestlegung Sicherheitsbelange zu berücksichtigen sind.48 Hierzu hatte das klagende Unternehmen geltend gemacht, dass die behördlicherseits bereits angeordneten und noch zu erwartenden Maßnahmen dem Unternehmen erhebliche finanzielle Aufwendungen abverlangten und bis zu einer Betriebsstillegung führen könnten, womit ein Eingriff in seine Rechte verbunden sei. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass private juristische Personen sich auf ihre Grundrechte aus Art. 12 I und 14 I GG berufen können, um die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Rechte durch die Festlegung von Flugverfahren geltend machen zu können. Die von der Rechtsprechung für die Zulässigkeitsprüfung errichteten Hürden sind recht niedrig. Es reicht aus, wenn das Unternehmen darlegen kann, dass die Flugverfahrensfestlegung zu nicht unerheblichen Kostenfolgen für den Betrieb führen kann. Zu beachten ist, dass sich in keinem der Fälle das klagende Unternehmen auf seine Grundrechte mit Blick auf die von der Flugverfahrensfestlegung ausgehenden Lärmbeeinträchtigungen berufen hat. Diesbezüglich ist an dieser Stelle nur darauf hinzuweisen, dass der Schutz zumindest des Art. 14 I GG auch die Abwehr von auf ein im Eigentum einer privaten juristischen Person stehenden Grundstück einwirkenden Lärmbeeinträchtigungen umfasst. bb) Geltendmachung einer möglichen Rechtsverletzung Grundlegend auch hinsichtlich der an eine gelungene Geltendmachung zu stellenden Anforderungen ist das Urteil des BVerwG vom 28. Juni 2000. Dort hatte das Gericht einerseits auf die Pflicht des Klägers, die Möglichkeit einer Rechtsverletzung 46 47 48
BVerwG NVwZ 2005, 1061, 1062. BVerwG NVwZ 2005, 1061, 1065. VGH Kassel NVwZ 2007, 597, 598.
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hinreichend substantiiert darzulegen, und andererseits darauf hingewiesen, dass die insoweit an den klägerischen Vortrag zu stellenden Anforderungen nicht überspannt werden dürfen. Anschließend sah das Gericht für den konkret zur Entscheidung stehenden Fall die Voraussetzungen der Klagebefugnis als erfüllt an, weil der Kläger erstens unter Bezugnahme auf ein Gutachten darlegte, unzumutbaren Lärmbeeinträchtigungen ausgesetzt zu sein. Allerdings betonte das BVerwG ausdrücklich, dass dieses allein zur hinreichenden Substantiierung nicht ausreiche. Vielmehr müsse der Kläger zweitens darlegen, dass die unzumutbare Lärmbeeinträchtigung eine Folge unzureichender Sachverhaltsaufklärung und fehlender Abwägung sei und somit jeder sachlichen Rechtfertigung entbehre.49 Allerdings geben zwei spätere Entscheidungen des BVerwG zu der Prüfung Anlass, ob es diese strengen Substantiierungsmaßstäbe eventuell teilweise wieder zurückgenommen hat50 : – So hat das Gericht in seinem Urteil vom 26. 11. 2003 ausgeführt: „Aufgabe der Klagebefugnis ist es, Popularklagen zu verhindern. Diese Zugangsvoraussetzung für eine Sachentscheidung des Gerichts soll hingegen nicht dazu führen, dass ernsthaft streitige Fragen über das Bestehen eines subjektiven Rechts, von deren Beantwortung die Begründetheit der Klage abhängt, im Rahmen der Zulässigkeit entschieden werden müssen. … Ob den lärmbetroffenen Gemeinden vor Erlass einer Flugverfahrensverordnung … ein Recht auf förmliche Beteiligung gegenüber dem Luftfahrt-Bundesamt zusteht …, ist … ebenso wenig offensichtlich und nach jeder Betrachtungsweise zu verneinen wie die weitere Frage, ob sie und die klagenden Anwohner einen Anspruch auf Abwägung ihrer Lärmschutzinteressen auch unterhalb der Schwelle einer unzumutbaren Fluglärmbeeinträchtigung haben könnten und ob dieser Anspruch verletzt sein könnte.“51 – In seinem Urteil vom 24. 6. 2004 betonte das Gericht: „Den Klägerinnen fehlt nicht die Klagebefugnis. Diese Zulässigkeitsvoraussetzung … dient ebenso wie im Anwendungsbereich des § 42 Abs. 2 VwGO dazu, Popularklagen zu verhindern. Dagegen ist es nicht ihr Sinn, ernsthaft streitige Fragen über das Bestehen eines subjektiven Rechts, von deren Beantwortung der Klageerfolg abhängen kann, bereits vorab im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu klären. Vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich dem Interesse, vor Fluglärm ohne Rücksicht auf den Grad der Beeinträchtigung bewahrt zu bleiben, nicht von vornherein jegliche rechtliche Relevanz absprechen. Ob diesem
49 BVerwG, Urt. v. 28.6.2000 – 11 C 13.99 –, insoweit in BVerwGE 111, S. 276, nicht abgedruckt. 50 Ein solcher Wandel wird etwa konstatiert von Max-Emanuel Geis, Der Punkt als Norm – Rechtsschutz gegen Flugrouten und Warteschleifen, in: Geis/Umbach, Planung – Steuerung – Kontrolle. FS Bartlsperger, 2006, 215, 223. 51 BVerwG NVwZ 2004, 473, 474.
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Gesichtspunkt im konkreten Fall die Bedeutung zukommt, die ihm die Klägerinnen beimessen, ist der Prüfung im Rahmen der Begründetheit vorzubehalten.“52 Um die Reichweite dieser Ausführungen bewerten zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit der den beiden höchstrichterlichen Urteilen zugrunde liegenden Entscheidungssituationen: – Das dem Urteil des BVerwG vom 26. 11. 2003 voraufgegangene Urteil des VGH Mannheim hatte die Klagebefugnis aller 13 Kläger bejaht. Zugrunde lag dem der Ausgangspunkt, dass die Abwägungsrelevanz von Lärmschutzinteressen voraussetze, dass diese Interessen durch das betreffende Vorhaben mehr als nur geringfügig betroffen seien. Da sich die Kläger auf vom zuständigen Landesministerium beauftragte Schallpegelmessungen berufen konnten, die nach Auffassung des Gerichts zwar keine unzumutbaren, jedoch oberhalb der Schwelle der Abwägungsrelevanz liegende Beeinträchtigungen der klägerischen Grundstücke ergaben, sah der VGH diese Voraussetzung im konkreten Fall erfüllt. Hiergegen hatte sich das Revisionsvorbringen der Beklagten gewandt, die die vom BVerwG aufgestellten Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung nicht erfüllt sahen: Da den Klägern keine willkürliche Belastung mit unzumutbarem Lärm drohe und die voraussichtlichen Lärmbeeinträchtigungen nicht einmal abwägungserheblich seien, fehle den Klägern die Klagebefugnis53. Diesem Revisionsvorbringen trat das BVerwG in seinem Urteil mit den zitierten Ausführungen entgegen. – Auch die Bemerkungen des BVerwG in seinem Urteil vom 24. 6. 2004 bezogen sich allein auf die Bestätigung des Ergebnisses des vorinstanzlichen Urteils unter Zurückweisung des Revisionsvorbringens des Beklagten. Zwar hatte der VGH Kassel die Klagen von zwei der sieben Kläger als unzulässig zurückgewiesen und die Klagen der übrigen fünf Kläger nur als teilweise zulässig angesehen, da die von den Anflugrouten ausgehenden Lärmbeeinträchtigungen zu vernachlässigen seien, weshalb die Klagen insoweit unzulässig seien.54 Jedoch dürfte die Entscheidung des BVerwG hinsichtlich der Zulässigkeitsfrage keine Korrektur des Urteils der Vorinstanz enthalten. Denn einer der beiden Kläger, dessen Klage vollumfänglich als unzulässig abgewiesen wurde, hatte überhaupt keine (Anschluss-)Revision eingelegt, die übrigen Kläger nahmen ihre Anschlussrevisionen später zurück. Wenngleich das Revisionsgericht das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen jederzeit von Amts wegen zu prüfen hat55 und die Bejahung der von der Vorinstanz verneinten Zulässigkeit der Klage jedenfalls dann keine verbotene reformatio in peius darstellt, wenn – wie im entschiedenen Fall – die Klage im Ergebnis als un52
BVerwG NVwZ 2004, 1229, 1230; in der Sache ebenso BVerwG, Beschl. v. 24.6.2004 – 4 C 15/03 –. 53 BVerwG, Urt. v. 26.11.2003 – 9 C 6/02 –, in NVwZ 2004, S. 473 nicht abgedruckt. 54 VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 876. 55 Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 137 Rdnr. 26; Werner Neumann, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2010, § 137 Rdnr. 204.
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begründet abgewiesen wird56, hat sich das BVerwG nicht mit der Zulässigkeit der Klage insgesamt befasst, sondern lediglich mit den „gegen die Zulässigkeit der Feststellungsklage erhobenen Einwände(n) der Beklagten und der Beigeladenen“ auseinandergesetzt57. Diese Einwände bezogen sich darauf, dass die zu befürchtenden Lärmbeeinträchtigungen ausweislich der von den Klägern vorgelegten Gutachten unterhalb der Erheblichkeitsschwelle lägen. In der Zusammenfassung der Rechtsprechung des BVerwG zu den an eine gelungene Geltendmachung einer möglichen Rechtsverletzung im Sinne von § 42 II VwGO bei der Erhebung einer Feststellungsklage gegen die Festlegung von Flugrouten zu stellenden Anforderungen muss der Kläger Tatsachen vortragen – z. B. unter Hinweis auf vorliegende Lärmmessungen oder Gutachten –, die es nicht als offensichtlich ausgeschlossen erscheinen lassen, dass er abwägungsrelevante Lärmbeeinträchtigungen zu gewärtigen haben könnte. Die Frage, ob die Lärmbeeinträchtigungen tatsächlich eine Intensität erreichen, die zur Überschreitung der Schwelle der Abwägungsrelevanz führen, ist hingegen im Rahmen der Begründetheitsprüfung zu beantworten. Die vom BVerwG noch in seinem Urteil vom 28. 6. 2000 zusätzlich geforderte Darlegung des Klägers, dass die Lärmbeeinträchtigung auf einer fehlerhaften bzw. unterlassenen Abwägung seiner Lärmschutzinteressen mit anderen Belangen beruhe und deshalb ohne jede sachliche Rechtfertigung sei, kann sich dementsprechend nur auf den Vortrag beziehen, dass die Lärmschutzinteressen des Klägers entweder überhaupt nicht oder nicht hinreichend in die Abwägung eingestellt worden sind58 bzw. sich andere Belange nicht offensichtlich gegen die Lärmschutzinteressen des Klägers durchsetzen müssen. Es darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass ein Abwägungsmangel vorliegt. 2. Klagen kommunaler Gebietskörperschaften Zur Begründung der Klagebefugnis einer kommunalen Gebietskörperschaft gegen die Festlegung einer Flugroute ist es von vornherein ausgeschlossen, dass sich die Gebietskörperschaft auf das Grundrecht aus Art. 2 II GG oder einfachgesetzliche Vorschriften zum Schutz der Gesundheit vor Lärmbeeinträchtigungen beruft. Diese Vorschriften können Schutzwirkung allein zugunsten natürlicher Personen entfalten. Entsprechendes gilt für die Berufung der Gebietskörperschaft auf allein Allgemeinwohlbelange schützende Normen wie z. B. Umweltschutzvorschriften.59 Auf verfassungsrechtlicher Ebene kommt als eigenes Recht, das Gemeinden als verletzt geltend machen können, allein Art. 28 II GG in Betracht. Nach den allgemeinen, für planfeststellungsbedürftige Vorhaben entwickelten Grundsätzen kann sich 56 Hermann-Josef Blanke, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2010, § 129 Rdnr. 5. 57 BVerwG NVwZ 2004, 1229, 1230. 58 Vgl. OVG Münster, Urt. v. 13.11.2008 – 20 D 124/06.AK –. 59 BVerwG NVwZ 2004, 1229, 1234.
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eine Gemeinde auf ihr verfassungsrechtlich verbürgtes Selbstverwaltungsrecht primär dann berufen, wenn das geplante Vorhaben eine hinreichend konkrete gemeindliche Planung nachhaltig beeinträchtigt oder wesentliche Teile des Gemeindegebiets einer durchsetzbaren eigenen Planung entzogen werden.60 Dabei kann die Gemeinde auch Lärmschutzgesichtspunkte aufgreifen, wenn nämlich der durch das Vorhaben bewirkte Lärmzuwachs nicht nur einzelne Grundstücke, sondern wesentliche Teile durch Bebauungsplan überplanter Gebiete beeinträchtigt.61 Darüber hinaus muss die Planfeststellungsbehörde auf konkrete Planungsabsichten einer Gemeinde in der Weise Rücksicht nehmen, dass diese Absichten nicht in unnötigem Umfang beeinträchtigt werden dürfen.62 Die Rechtsprechung überträgt diese Grundsätze auch auf die Klagebefugnis einer Gemeinde bei einer gegen die Festlegung von Flugverfahren gerichteten Klage.63 Sie gelten darüber hinaus nicht nur bei einer Beeinträchtigung zumindest konkretisierter Planungsabsichten einer Gemeinde, sondern ebenso auch bei einer erheblichen Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit kommunaler Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser etc.64 Sofern eine Gemeinde Eigentümerin von Grundstücken ist, auf die durch die festgelegten Flugrouten Lärmeinwirkungen entstehen könnten, kann sich die Gemeinde nicht auf die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie des Art. 14 GG berufen.65 Ebenso wie ihre Betroffenheit in ihrer zivilrechtlichen Eigentümerstellung einer Gemeinde die Einwendungsbefugnis im Planfeststellungsverfahren verleiht66, kann allerdings das zivilrechtliche Grundeigentum einer Gemeinde einen abwägungsrelevanten Belang bei der Festlegung von Flugverfahren darstellen, auf den sich die Gemeinde zur Geltendmachung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung berufen kann67. Zu beachten ist, dass es sich in den Fällen, in denen die Gerichte eine aus dem zivilrechtlichen Grundeigentum von Gemeinden fließende Klagebefugnis anerkannt haben, jeweils um Grundstücke handelte, auf denen eine Nutzung mit gesteigerter Lärmempfindlichkeit wie z. B. Wohnbebauung oder entsprechender öffentlicher Einrichtungen ausgeübt wurde. Zwar kommt es für die Abwägungserheblichkeit des zi60 Vgl. BVerwGE 77, 134, 138; 81, 95, 106; 90, 96, 100; BVerwG NVwZ-RR 1997, 339; NuR 2003, 288; UPR 2005, 272, 273. 61 BVerwG NVwZ 2006, 1290. 62 BVerwG NVwZ 2006, 1290. 63 Vgl. OVG Münster, Urt. v. 19.7.2005 – 20 D 40/04.AK –; VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 876 f.; VGH München NVwZ-RR 2007, 386, für eine gegen die Festlegung der Platzrundenführung gerichtete Anfechtungsklage. 64 VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 877. Für einen Planfeststellungsbeschluss VGH Kassel NVwZ-RR 2003, 729, 730. 65 Siehe BVerfGE 61, 82, 108 f.; VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 876; VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132. 66 BVerwG NVwZ 1995, 905. 67 OVG Münster, Urt. v. 19.7.2005 – 20 D 40/04.AK –; VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 876; VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1131 f.
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vilrechtlichen Grundeigentums einer Gemeinde nicht darauf an, ob dieses Grundstück einen spezifischen Bezug zur Erfüllung kommunaler Aufgaben aufweist.68 Jedoch wird man daraus nicht schließen können, dass allein die Eigentümerstellung als solche ohne Rücksicht auf die konkrete Grundstücksnutzung der Gemeinde die Klagebefugnis eröffnet. Denn eine Gemeinde kann keinen weitergehenden Schutz als ein privater Grundstückseigentümer beanspruchen69. Die Abwägungserheblichkeit der zivilrechtlichen Position der Gemeinde hängt daher von der Nutzung des Grundstücks und davon ab, welche Beeinträchtigungen dieser Nutzung durch die Flugverfahrensfestlegung zu erwarten sind.70 Für die an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung und die Prüfung auf der Zulässigkeitsstufe einerseits und die Begründetheitsstufe andererseits zu stellenden Anforderungen behandeln die Gerichte private und kommunale Grundeigentümer gleich71 (zu den zu beachtenden Gesichtspunkten im Einzelnen oben III. 1. a) bb)). 3. Klagemöglichkeiten eines Bundeslandes Zur Ermittlung der Möglichkeiten eines Bundeslandes zur Klage gegen eine Festlegung von Flugverfahren ist zwischen der Erhebung durch das Land selbst und der Klage einer juristischen Person, an der das Land beteiligt ist, zu unterscheiden. a) Klage des Landes selbst Auf verfassungsrechtliche Normen könnte sich ein Bundesland zur Begründung seiner Klagebefugnis nicht stützen. Es ist von vornherein ausgeschlossen, dass das Land Träger von Grundrechten sein kann. Auch ist es dem Land verwehrt, diese Rechte für Bürgerinnen und Bürger des Landes geltend zu machen. Auch eine Art. 28 II GG vergleichbare Rechtsposition steht dem Land offensichtlich nicht zu. Die föderale Aufgaben- und Kompetenzzuordnung gewährt anders als die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung durch die genannte Verfassungsnorm keine subjektiven Rechte. Ebenso wenig können sich die Länder auf ein allgemeines Recht zur landesplanerischen Selbstgestaltung oder auf die Pflicht des Bundes zu bundestreuem Verhalten berufen, soweit sie sich durch Maßnahmen von Bundesbehörden – wie hier die Flugverfahrensfestlegung durch das BAF – beeinträchtigt sehen.72 Dies zeitigt auch die Konsequenz, dass der aus Art. 28 II GG ab68
VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132. VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132: „…ebenso wie private Grundstückseigentümer…“. 70 Vgl. VGH Kassel NVwZ 2003, 875, 876; VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132. 71 Siehe nur BVerwG NVwZ 2004, 473, 474; OVG Münster, Urt. v. 19.7.2005 – 20 D 40/ 04.AK –; VGH Mannheim DVBl. 2002, 1129, 1132. Ebenso Richard Pfaff/Torsten Heilshorn, Rechtsschutz der Gemeinden gegen Fugrouten und Warteverfahren des Luftverkehrs, BWGZ 2002, 514, 516. 72 Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 42 Rdnr. 141. 69
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geleitete Funktionsschutz zugunsten lärmempfindlicher öffentlicher Einrichtungen (oben III. 2.) vom Land für von ihm betriebene öffentliche Einrichtungen nicht in Anspruch genommen werden kann. Nach der Rechtsprechung des BVerwG ist die Frage, ob und inwieweit ein Land gegen fachplanerische Maßnahmen von Bundesbehörden vorgehen kann, allein eine solche des einfachen Rechts. Dabei ergibt sich ein einfachgesetzliches subjektives Recht eines Landes nicht bereits daraus, dass seine Behörden bestimmte öffentliche Belange wahrnehmen und es die fehlerhafte Behandlung dieser Belange in der fachplanerischen Abwägung rügen möchte.73 Luftverkehrsrechtliche Vorschriften, die zugunsten eines Bundeslandes ein spezifisches subjektives Recht hinsichtlich der Festlegung von Flugrouten oder der Abwehr von Fluglärm statuieren könnten, sind nicht ersichtlich. Allerdings entfaltet das der Festlegung von Flugverfahren zugrunde liegende Abwägungsgebot (oben I.) Schutzwirkung auch zugunsten eines Bundeslandes, soweit dessen eigene (möglicherweise) abwägungsrelevanten Belange in Rede stehen. Diesbezüglich ist kein Grund ersichtlich, Belange eines Landes anders zu behandeln als solche einer Gemeinde. Auch ein Land hat dementsprechend ein subjektives öffentliches Recht auf gerechte Abwägung seiner Belange. Bedeutung entfaltet dies dann, wenn das Land im Bereich der von den festzusetzenden Flugrouten ausgehenden Lärmbeeinträchtigungen über Grundeigentum verfügen sollte. Das zivilrechtliche Eigentum des Landes kann einen abwägungsrelevanten Belang bei der Festlegung von Flugrouten darstellen, auf den sich das Land zur Geltendmachung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung berufen kann. Die Chancen für das Land, unter Berufung auf sein Grundeigentum die Möglichkeit einer Verletzung in eigenen Rechten im Sinne von § 42 II VwGO geltend machen zu können, wird im Wesentlichen von folgenden Gesichtspunkten abhängen: – Art der Grundstücksnutzung: Da die Abwägungserheblichkeit der zivilrechtlichen Position des Landes wie der einer Gemeinde (oben III. 2.) zunächst von der Art der Nutzung des Grundstücks abhängt, ist es von zentraler Bedeutung, ob auf dem betreffenden Grundstück eine lärmempfindliche oder eine andere Nutzung verwirklicht ist. Handelt es sich um nicht lärmempfindliche Nutzungen, z. B. Brach- und Grünflächen, Wald- und Landwirtschaftsflächen oder Verkehrsflächen, so würde von einer Unzulässigkeit der Klage auszugehen sein. Denn in einer solchen Konstellation wäre es offensichtlich, dass sich andere Belange gegen die Eigentümerinteressen des Landes in der Abwägung durchsetzen werden. – Intensität der Beeinträchtigung: Verfügt das Land als Eigentümer über ein Grundstück, auf dem eine lärmempfindliche Nutzung ausgeübt wird, so ist des Weiteren die Intensität der Lärmbeeinträchtigung von Bedeutung. Auf der Grundlage der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze ist es notwendig, Tatsachen vor73 Vgl. BVerwGE 82, 17, 18 ff.; BVerwG, Beschl. v. 7.1.1992 – 7 B 153.91 –, NuR 1992, 185 f.; BVerwGE 92, 258, 259 ff. Ebenso etwa Kopp/Schenke (Fußn. 4), § 42 Rdnr. 141; Peter Schütz, Rechtsschutz, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rdnr. 962.
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zutragen, z. B. in der Form der Vorlage eines Gutachtens, die auf das Grundstück des Landes einwirkende abwägungsrelevante Lärmbeeinträchtigen nicht als ausgeschlossen erscheinen lassen. Zwar erfolgt die Feststellung der tatsächlichen Intensität der Lärmbeeinträchtigungen erst in der Prüfung der Begründetheit der Klage. Jedoch muss sich aus der durch § 42 II VwGO aufgegebenen substantiierten Geltendmachung einer möglichen Verletzung der zivilrechtlichen Eigentümerposition des Landes zumindest entnehmen lassen, dass für eine solche eingehendere Prüfung überhaupt ein Bedürfnis bestehen könnte. Ergibt sich bereits aus dem Vortrag des klagenden Landes, dass die Lärmbeeinträchtigungen so marginal sind, dass das Verbleiben der Lärmbeeinträchtigung unterhalb der Schwelle der Abwägungsrelevanz nicht „ernsthaft streitig“ sein kann74, so ist die Möglichkeit einer Rechtsverletzung von vornherein ausgeschlossen. – Möglichkeit eines Abwägungsfehlers: Schließlich muss das Land im Rahmen der durch § 42 II VwGO gebotenen Geltendmachung der Möglichkeit einer Rechtsverletzung vortragen, dass das Vorliegen eines Abwägungsfehlers nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Einen solchen offensichtlichen Ausschluss eines Abwägungsfehlers wird man u. a. dann annehmen können, wenn es zu der angegriffenen Flugroutenführung unter Flugsicherheitsaspekten keine Alternative gibt. b) Klage eines Betriebes oder Unternehmens, an dem das Land beteiligt ist Verfügt das Land über keine eigenen Grundstücke, auf die die Klagebefugnis für eine Klage des Landes gegen die Flugverfahrensfestlegung gestützt werden könnte, so könnte erwogen werden, dass nicht das Land selbst, sondern ein Betrieb oder ein Unternehmen, an dem das Land beteiligt ist, Feststellungsklage erhebt. Insoweit ist zu unterscheiden, ob der Betrieb oder das Unternehmen privat- oder öffentlich-rechtlich verfasst ist. aa) Juristische Personen des öffentlichen Rechts Ist der Betrieb oder das Unternehmen in den Rechtsformen des öffentlichen Rechts verfasst, so scheidet eine Berufung des Betriebs oder Unternehmens auf die Grundrechte als Schutznormen von vornherein aus,75 sofern nicht einer der vom BVerfG für die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts angenommenen Ausnahmefälle76 vorliegt. Ein solcher Ausnahmefall kann z. B. vorliegen, wenn die Funktion eines universitätsmedizinischen Krankenhauses durch den Fluglärm beeinträchtigt wird. So kann sich die Universität auf das Grundrecht aus Art. 5 III GG 74
Vgl. die Formulierung in BVerwG NVwZ 2004, 1229, 1230. BVerfG NVwZ-RR 2009, 361; NVwZ 2009, 1282, 1283. 76 Zusammenfassend Michael Sachs, in: ders., Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 19 Rdnr. 93 ff. 75
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berufen.77 Insoweit ist zu beachten, dass sich der Schutz dieses Grundrechts zumindest teilweise auch auf die Patientenversorgung durch ein Universitätsklinikum erstreckt. Denn die Patientenversorgung durch Universitätskrankenhäuser ist auf das Engste mit der Freiheit von Forschung und Lehre verbunden.78 Zum einen erfolgt die Krankenversorgung forschungsbasiert und vermittelt umgekehrt Erfahrungen und Impulse für die weitere Forschung. Zum anderen ist die Arbeit am Patienten unverzichtbarer Bestandteil der universitätsmedizinischen Lehre. Wie andere Grundrechte gewährt auch Art. 5 III GG Schutz gegen mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen.79 Ob ein solcher Eingriff durch den von festgelegten Flugrouten ausgehenden Fluglärm eintritt oder nicht, ist eine Frage der Intensität der Beeinträchtigung im Einzelfall und damit der Begründetheitsprüfung. Allerdings wird es sich in der Regel um eine öffentlich-rechtlich verfasste Einheit handeln, der lediglich durch einen besonderen Rechtssatz, sei es auf Gesetzes-, Verordnungs- oder Satzungsebene, die Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe zugewiesen worden ist. Für diesen Fall findet sich in der Rechtsprechung vereinzelt die Annahme, bei einer Erschwerung der durch Rechtssatz zugewiesenen Aufgabe durch die angegriffene Fachplanungsmaßnahme könnte die Möglichkeit der Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts bestehen.80 Dieser Auffassung wird man kaum folgen können. Zum einen verwischt sie den grundlegenden Unterschied zwischen Aufgabenzuweisung und Statuierung subjektiver Rechte, zum anderen bedürfte es der von der Rechtsprechung vorgenommenen Ableitung eines Funktionsschutzes kommunaler Einrichtungen aus der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 II GG nicht, wenn sich ein entsprechendes subjektives Recht der Einrichtung bereits aus der unterverfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisung ableiten ließe. Allerdings ist es auch anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts als Gemeinden (zu ihnen oben III. 2) nicht verwehrt, sich auf ihr subjektives Recht auf gerechte Abwägung zu berufen und eine fehlerhafte Behandlung ihres zivilrechtlichen Eigentums an einem im Einwirkungsbereich der betreffenden Flugrouten gelegenen Grundstück als Belang in der Abwägung geltend zu machen. Insoweit kommt es auf die Lärmsensibilität der Nutzung an, die beispielsweise bei reinen Verwaltungstätigkeiten nicht für die Begründung der Klagebefugnis ausreicht. bb) Juristische Personen des Privatrechts Für juristische Personen des Privatrechts ist danach zu unterscheiden, ob die öffentliche Hand Allein-, Mehrheits- oder Minderheitsgesellschafter ist:
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Siehe die Nachweise bei Herbert Bethge, in: Sachs, Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 5 Rdnr. 210. 78 Zu diesem Zusammenhang Stefan Becker, Das Recht der Hochschulmedizin, 2005, S. 61. 79 Vgl. nur VGH München, Urt. v. 21.10.2005 – 15 B 01.2490 –; Klaus Ferdinand Gärditz, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 16.1.2007 – 2 BvR 1188/05 –, JZ 2007, 521, 523. 80 So etwa VG München, Urt. v. 23. 10. 2009 – M 24 K 08.4955 u.a.–.
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– Eine Einrichtung im Alleineigentum der öffentlichen Hand kann sich nicht auf den Schutz der Grundrechte berufen, wenn sie ihrer Bestimmung gemäß öffentliche Aufgaben wahrnimmt und in dieser Aufgabenwahrnehmung durch den beanstandeten Hoheitsakt betroffen wird.81 Für ihre Klagebefugnis gilt das zur Klagebefugnis juristischer Personen des öffentlichen Rechts Ausgeführte entsprechend. – Hat die öffentliche Hand die Mehrheit der Anteile an der juristischen Person des Privatrechts inne, so gilt grundsätzlich nichts anderes. Ein mehrheitlich in öffentlicher Hand befindliches Unternehmen kann sich auf die materielle Verbürgungen enthaltenden Grundrechte nicht berufen. Ob etwas anderes in atypischen Konstellationen gilt, in denen die Beherrschung durch die öffentliche Hand aufgrund besonderer Umstände in Frage zu stellen ist, hat das BVerfG offen gelassen.82 Liegt eine solche Sonderkonstellation nicht vor, so kann sich auch eine im Mehrheitseigentum der öffentlichen Hand befindliche juristische Person des Privatrechts – bei Vorliegen der dargestellten Voraussetzungen – nur auf ihr Recht auf gerechte Abwägung mit Blick auf eine zivilrechtliche Position als Grundeigentümerin berufen. – Lediglich dann, wenn die öffentliche Hand nur eine Anteilsminderheit hält, kommt eine Grundrechtsberechtigung der juristischen Person des Privatrechts in Betracht. Allerdings wird hier darauf zu achten sein, ob der öffentlichen Hand als Minderheitsgesellschafterin aus haushaltsrechtlichen Gründen besondere Beherrschungsinstrumente eingeräumt worden sind. Im letzteren Fall muss im Einzelfall geprüft werden, ob wegen der besonderen Beherrschungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand eine Grundrechtsberechtigung der juristischen Person zu verneinen ist. Sollte hiervon auszugehen sein, so kommt wiederum lediglich eine Berufung der juristischen Person auf eventuelle zivilrechtliche Positionen als Grundeigentümerin zur Begründung der Klagebefugnis in Betracht. Fehlt es an derartigen besonderen Beherrschungsmöglichkeiten, so ist die dann von privaten Anteilseignern beherrschte juristische Person grundrechtsberechtigt und kann sich insbesondere auf die Grundrechte aus Art. 12 I und Art. 14 GG berufen. Entsprechend den oben (III. 1. a) in Auswertung der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen reicht es für das Bestehen der Klagebefugnis im Sinne von § 42 II VwGO aus, dass das Unternehmen darlegen kann, dass die Flugroutenfestlegung zu nicht unerheblichen Kostenfolgen für den Betrieb führen kann. IV. Zusammenfassung Macht man die sich aus einer Analyse der Rechtsprechung der Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Zulässigkeit von Klagen natürlicher und juristischer Personen des Privatrechts sowie von Gemeinden gegen die Festlegung von Flugverfah81
Vgl. BVerfGE 68, 193, 205 ff.; BVerfG NJW 1990, 1783; NVwZ 2009, 1282, 1283. BVerfG NVwZ 2009, 1282, 1283. Für die Frage der Grundrechtsbindung, insoweit aber übertragbar, jetzt auch BVerfG, Urt. v. 22.2.2011 – 1 BvR 699/06 –. 82
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ren ableitbaren Grundsätze für die Klagebefugnis eines Bundeslandes fruchtbar, so kann sich das Land allein auf das Recht auf gerechte Abwägung seiner Belange bei der Festlegung der Flugverfahren stützen. Ein solcher Belang kann das Eigentum des Landes an im Einwirkungsbereich der festzulegenden Flugrouten liegenden Grundstücken sein. Dabei hat eine Klage umso größere Chancen, die Hürde der Zulässigkeitsprüfung zu überwinden, je lärmempfindlicher die auf dem Grundstück ausgeübte Nutzung ist. Entsprechendes gilt für eine Klage einer juristischen Person, an denen das Land beteiligt ist.
IV. Zu guter Letzt
Über Festschriften Von Egon Lorenz I. Meine schwierige Lage Die geringsten Schwierigkeiten hatte ich bei der Zusage eines Beitrags zu der Festschrift, die Wolf-Rüdiger Schenke zu seinem 70. Geburtstag erhalten wird. Die Festschrift sollte einen Freund ehren und der Abgabetermin lag weit weg, so weit, dass ich den Aufforderungsbrief der Herausgeber vor der Zusage kaum gelesen hatte. Als ich anfing, über meinen Beitrag nachzudenken, bereitete der Abgabetermin schon leichtes Unbehagen. Nur leichtes, weil ich aus eigenem Tun weiß ich, dass die Herausgeber von Sammelwerken bei der Terminplanung auch mit denen rechnen, die sich spießig vorkommen, wenn sie den Abgabetermin einhalten. Mein leichtes Unbehagen wuchs, als ich wieder las, dass die Herausgeber einen Beitrag zu einem Thema aus dem Arbeitsgebiet des Jubilars erbeten hatten: also aus dem öffentlichen Recht. Diese Abgrenzung ist weit; denn der Jubilar hat fast alle wichtigen Fragen des öffentlichen Rechts beantwortet. Ich sage schon hier: Meist sehr ausführlich und abweichend von den herrschenden Meinungen, die ihm immer verdächtig vorkommen. In seinem (nicht von ihm verfassten) Wikipedia-Portrait heißt es deshalb richtig: „Schenke neigt dazu, Mindermeinungen zu vertreten.“ Das soll heißen: Er folgt gern einer Mindermeinung, und wenn er keine ernst zu nehmende findet, erfindet er eine. Mein Arbeitgebiet ist das Privatrecht, genauer müsste ich sagen: Es sind einige Gebiete aus dem Privatrecht. Nähere Ausführungen zu diesen Gebieten können und müssen hier leider unterbleiben; weil auch so jedermann klar ist, dass mich meine spontane Zusage eines Beitrags für die Schenke-Festschrift in eine schwierige Lage gebracht hat. Wie immer in solchen Lagen fiel ich in eine erfolglose Hektik: Ich überlegte immer neue Auswege, verwarf sie alle und litt weiter unter dem „Teufel des Halbschlafs“, der mich Nacht für Nacht zum Grübeln über meinen Festschriftbeitrag brachte. II. Die Ablenkung: Ein Plädoyer gegen Festschriften Aus diesem Zustand, der langsam zu einer „mürrischen Trance“ wurde, konnte nur eine unabweisbare Ablenkung hinausführen. Sie deutete sich an, als ich im Internet diese Verlagsnachricht aus dem Jahre 2005 fand: „Festschrift für Dieter Simon, Rechtshistoriker und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften … Soeben erschienen – die etwas andere Festschrift. … Ein Buch, in dem sich allerhand berühmte Autoren versammeln: Juristen, Grammatiker, Byzantinisten, Wissenschaftsforscher, Kunsthistoriker, Hirnforscher, Psychoanalytiker, Linguisten,
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Philosophen, Funktionäre, Künstler, Biologen Stifter, Rechtshistoriker, Literaturforscher, Universalgelehrte.“ Als ich die Simon-Festschrift in der Hand hatte, stieß ich auf Excellenz, wo immer ich umblätterte. Und unter all den grandiosen Beiträgen der versammelten berühmten Autoren (siehe oben) war einer mit dem Titel: „Der Killervirus oder Ein Mittel gegen Festschriften“.1 Der Autor, der (wohl weil es sich um eine etwas andere Festschrift handelt) nicht schon unter der Überschrift, sondern (unüblich) erst am Ende des Beitrags genannt wird, ist kein geringerer als Wolf Lepenies. Es war mir sofort klar, dass ich nach diesem Fund nicht mehr über öffentliches Recht schreiben konnte, sondern (wagemutig) über LepeniesÏ Plädoyer gegen Festschriften; denn ich bin Empfänger und Mitherausgeber mehrerer Festschriften, überzeugter Beiträger zu noch mehr Festschriften und jetzt Zusager eines Beitrags zu der Festschrift von Wolf-Rüdiger Schenke. Bei der Verteidigung der Festschriften geht es für mich also um die Lebenseinstellungsfrage, ob ich mein Votum für Festschriften aufrechterhalten kann. Da ich sicher bin, dass ich das kann, erkläre ich die Prüfung (wie bei solchem Meinungsstand üblich) mit Nachdruck für „ergebnisoffen“. III. Die Würdigung des Plädoyers 1. Allgemeines Die Dramaturgie meines Berichts könnte den Eindruck erwecken, dass Lepenies in seinen Kampf gegen Festschriften allein stünde. Unter den Teilnehmern der großartigen Simon-Festschrift ist er allerdings der einzige. Es gibt aber seit langem zahlreiche Festschriftengegner – einige unserer Besten, möchte ich sagen – die sich in einer Anti-Festschriften-Liga (AFL) zusammengefunden haben. Diese Liga ist – wie Lepenies2 berichtet – wahrscheinlich von Wolfgang Raible und Harald Weinrich gegründet (Lepenies sagt „begründet“) worden. Sie hat ihren Sitz und ihre Verfassung (Satzung) in den Köpfen der Mitglieder, über deren Zahl die AFL keine Angaben macht. Eine europaweite Umfrage der Lepenies wohl noch nicht bekannten Gesellschaft für Angewandte Gemütsforschung (GAG) hat aber ergeben, dass etwa 0,00000001 % der Befragten (gefühlt 0,00000001123 %) Mitglieder der AFL sind oder zumindest mit ihr sympathisieren. Für eine junge Gesellschaft wenn auch mit auffälligen Mitgliedern ein stattliches Ergebnis. Lepenies traut ihr allerdings nicht sehr viel zu, weil „viele hoch angesehene Kollegen“ und Mitglieder der AFL „sich nicht beherrschen konnten und schließlich doch einen Festschriftbeitrag verfassten.“ Diese Nachricht hat mich (als Freund der Fest1
Vgl. Wolf Lepenies, Der Killervirus oder Ein Mittel gegen Festschriften, in: Rainer Maria Kiesow/Regina Ogorek/Spiros Simitis (Hg.), Festschrift für Dieter Simon zum 70. Geburtstag, 2005, S. 361 – 365. 2 Lepenies (Fußn. 1), S. 364.
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schriften) nicht überrascht, denn ich habe immer wieder erlebt, dass auch hoch angesehene Kollegen ihre wahren Einsichten auf Dauer nicht unterdrücken können. Überrascht hat mich aber, dass Lepenies das Verhalten dieser hoch angesehenen Kollegen dem Verhalten besonders ruppiger Fußballspieler („Hineingrätschen oder Nachtreten ohne Ball“) gleichstellt und konsequent verlangt, dass die unzuverlässigen Mitglieder der AFL mit „roten oder gelb-roten Karten aus der Liga verwiesen werden“ müssten.3 Das wäre – ins Akademische übersetzt – ein Ausschluss cum infamia. Da bleibt was hängen. Als objektiver Beurteiler gebe ich deshalb zu bedenken, ob die Auszuschließenden aus ihrer Sicht nicht schon schwer genug getroffen werden, wenn man sie (zur Vermeidung langwieriger juristischer Auseinandersetzungen) einfach wegen Verstoßes gegen den alleinigen Zweck der AFL-Satzung ausschließt. Sie gehören dann weiterhin zur makellosen Elite, wenn auch nicht mehr zu der Elite der Elite (Eliten-Elite), die von den Mitgliedern der AFL gebildet wird. Nebenbei sollte ich vielleicht noch mitteilen, dass die Mitglieder der AFL nach der erwähnten Umfrage der GAG überdurchschnittlich oft „sozusagen“ sagen, wenn sie (sozusagen) noch nicht genau sagen können, was sie sagen wollen. „Wenn Sie so wollen“. Die AFL hat in den letzten Jahren aber nicht nur Mitglieder verloren, sondern von mindestens einem hoch angesehenen Mitglied einen Bericht über „tätige Treue“ erhalten. Der Bericht ist erst in diesem Jahr erschienen, also brandneu. Berichterstatter ist Hein Kötz. Er kommt in seinem wunderschönen Rückblick auf „Ein Leben als undogmatischer Jurist“4 auch auf seinen 70. Geburtstag im Jahre 2005 zu sprechen. Zunächst mit dem Hinweis auf das Schmeichelhafte, das damals über ihn gesagt worden sei. Er lehnt es nicht klar ab, rechnet aber einigermaßen sicher erst „auf seiner eigenen Beerdigung“ mit erneuter Schmeichelei. Sein Nachdenken über die Lobreden bei Feierlichkeiten kann man verstehen. Man fragt sich eben immer, ob das Lob Schmeichelei ist, oder ob die Laudatoren (was man lieber hätte) die Verdienste nur ein ganz klein wenig überbeleuchtet haben. Jedenfalls muss sich Hein Kötz ernsthaft fragen lassen, ob er weiterhin behaupten will, dass an seinem 70. Geburtstag Schmeichler aufgetreten seien; denn ihm schmeichelt man selbst dann nicht, wenn man ihm schmeichelt. Ich bin damit unversehens auf das Forschungsfeld der schon mehrfach erwähnten Gesellschaft für Angewandte Gemütsforschung (GAG) geraten Die GAG befasst sich selbstverständlich auch mit dem Lob der Jubilare und Jubilarinnen und deren schweren inneren Konflikt bei Übertreibungen. An der Untersuchung, die modern als „Projekt“ bezeichnet wird, arbeitet eine Gruppe (team) von Forschern der ersten Reihe. Das Projekt heißt „Lobreden“ (wird vielleicht noch in „Laudationes“ geändert) und hat den Untertitel „Wie sind Übertreibungen in Lobreden festzustellen und 3 4
Lepenies (Fußn. 1), S. 364. Vgl. Hein Kötz, ZEuP 1/2011, 94 – 108.
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wie muss sich der Jubilar (die Jubilarin) bei übertriebenem Lob, also bei Schmeichelei, verhalten?“ Die streng geheimen Beratungen der GAG sind noch nicht abgeschlossen. „Streng geheim“ meint aber auch hier wie sonst „urbi et orbi“. Deshalb ist schon manches nach Außen gedrungen. So ist ziemlich sicher, dass die GAG die Errichtung einer weiteren Ethik-Kommission nicht vorschlagen wird. Ebenso sicher ist, dass die allgemein bekannte Häwelmann-Theorie in den GAG-Beratungen breite Zustimmung gefunden hat. Da bei Laudationes zwar Übertreibungen, aber keine Untertreibungen vorkommen, wird den Jubilaren (Jubilarinnen) also wahrscheinlich empfohlen werden, bei der Erwiderung auf eine Laudatio jegliche (sowohl falsche als auch treuherzige) Bescheidenheit zu unterlassen und einfach das zu sagen, was der „kleine Häwelmann“ gesagt hat, als er die ganze Nacht in seinem Rollenbett gefahren werden wollte: „mehr, mehr!“5 Nach den Bemerkungen zu schmeichelnden Lobreden kommt Hein Kötz zu den für meine Zeilen besonders wichtigen Sätzen über Festschriften. Wörtlich schreibt er: „Eine Festschrift (zu seinem 70. Geburtstag) ließ sich abwenden, weil jeder wusste, dass ich seit Jahren bekennendes Mitglied der ,Anti-Festschriften-LigaÐ bin. Stattdessen machten mir die Direktoren des Instituts eine große Freude dadurch, dass sie einen Sammelband mit 20 Aufsätzen6 herausgaben, von denen ich die meisten vor langer Zeit in Festschriften zur letztem Ruhe gebettet zu haben glaubte, ohne zu wissen, dass sie auf diese wundersame Weise noch einmal exhumiert werden würden“. In einem Atemzug also ein großes Bekenntnis zur langjährigen Mitgliedschaft in der festschriftenfeindlichen AFL und große Freude über einen Sammelband? Da stimmt was nicht. Kann man als Jubilar gegen Festschriften sein und gegen einen Sammelband nicht? Nein. Eine Festschrift ist ein Sammelband mit Beiträgen mehrerer dem Jubilar mehr oder weniger verbundener Autoren. Und ein Sammelband ist eine Festschrift mit Beiträgen, die der Jubilar selbst geschrieben und längst veröffentlicht hat. Es kann allerdings sein, dass Hein Kötz die Sammelband-Festschrift deshalb so bejubelt, weil er (eigentlich) nur schätzt, was er selbst geschrieben hat. Angebracht ist vielleicht noch ein Wort zu dem bei Festschriftgegnern beliebten und von Hein Kötz bekräftigten Vorurteil, dass Beiträge in Festschriften beerdigt und durch Aufnahme in eine Sammelband-Festschrift exhumiert werden. Hier hängen mehrere Bilder schief. Im Bild müsste man sagen: Die vielen Beiträge, die Hein Kötz für Festschriften geliefert hat, werden durch die Aufnahme in eine Sammelband-Festschrift nicht nur exhumiert, sondern in ein Sammelgrab umgebettet. Aber auch nach dieser Korrektur taugt das verstaubte Friedhofsbild nichts. Dazu eine Auswahl von Gründen: Festschriften werden von den Bibliotheken angeschafft 5
Vgl. Theodor Storm, Der kleine Häwelmann, Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar, 1967, S. 339 – 342. 6 Vgl. Hein Kötz, Jürgen Basedow/Klaus Hopt/Reinhard Zimmermann (Hg.), Undogmatisches. Rechtsvergleichende und rechtsökonomische Studien aus 30 Jahren, 2005, 285 Seiten.
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und genauso gelesen oder nicht gelesen wie Abhandlungen, die anderswo veröffentlicht werden. Ich kenne jedenfalls keine Veröffentlichung mit der auffälligen Sternfußnote: Beiträge in Festschriften, selbst wenn sie von Hein Kötz sind, wurden nicht berücksichtigt; denn „Jede Festschrift wird nur von einem Leser gelesen“ (so Wolf Lepenies, Festschrift für Dieter Simon zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main, 2005, S. 361 (365). Zu diesem Thema nur noch zwei klarstellende Bemerkungen: Erstens: der letzte Satz klingt wie eine Ermunterung zu fast risikolosem Plagiieren (was keiner liest, kann jeder gefahrlos stehlen), ist aber ganz und gar nicht so gemeint. Zweitens: Festschriften findet man in Regel in den Bibliotheken und sie haben Gebrauchsspuren. Das gilt nicht für Sammelband-Festschriften. 2. Zu einigen Einzelheiten des Plädoyers Nach den allgemeinen Bemerkungen zu Wolf Lepenies’ Plädoyer gegen Festschriften nun noch ein paar Andeutungen zu seiner Argumentationskunst und Rhetorik. a) Die Überschrift Der „Killervirus“ in der Überschrift ist erschreckend, obwohl er bisher nur auf Festschriften angesetzt wird und nicht auf deren Freunde. Die sollten aber wachsam sein; denn ein „Killer“ ist eine Unterweltwaffe und „Virus“ hat etwas von der Heimtücke, die einen Totschlag zu einem Mord macht. Und dann auch noch der Schlusssatz, „Es macht Spaß, einen unfassbaren Killervirus in die Welt gesetzt zu haben.“7 b) Vom Entsorgen und Verhindern von Büchern Nach seiner gefährlichen Überschrift wird Lepenies Kampf gegen Festschriften ökologisch, also mit dem derzeit erfolgversprechendsten, breiten Ansatz. Geringfügig übertreibend (wie Ökologen es gern tun) meint er, mit dem ständigen „Anschwellen des Bücherbergs“ nehme die „größte Umweltkatastrophe … ihren Gang.“ Sie hat nach seiner Ansicht ihren Hauptgrund in der „Perversion“, dass die Menschen Bücher zwar verbrennen, aber nicht wegwerfen können8. Man ahnt, wie er sich gefühlt hat, als es ihm nicht gelang, ein halbes Dutzend Plastiksäcke mit Büchern und Sonderdrucken auf der Müllkippe abzulegen, weil die schon übervoll von Büchern war. Ein tröstlicher Hinweis: Falls in den Plastiksäcken auch Festschriften sind, sollte er sich über das gescheiterte Wegwerfen freuen; denn Festschriften gehören zu den wenigen Fachbüchern, die Antiquare gern kaufen.
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Lepenies (Fußn. 1), S. 365. Lepenies (Fußn. 1), S. 361.
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Von den weiteren Geschichten über das Wegwerfen von Büchern will ich nur die schlimmste noch erwähnen. Lepenies erzählt sie so:9 Einer seiner Kollegen aus Frankfurt hatte „Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie handschriftlich mit Beispielen aus dem eigenen Privatleben illustriert“ und später weggeworfen, ohne vorher die handschriftlichen Notizen zu entfernen. Diese Unterlassung hatte er zu bereuen; denn ein paar Monate später stieß er auf den Aufsatz eines anderen Kollegen, in dem er seine handschriftliche Notizen in dem weggeworfenen Freud (wie Lepenies berichtet) „mit präziser Autor- und Quellenangabe, wie es sich gehört, wiederfand.“ Fälle, in denen ein Kollege auf dem Müll ein Buch mit handschriftlichen Notizen von besonderer Privatheit eines anderen findet, diese Notizen ohne Einwilligung des anderen veröffentlicht und dabei scheinheilig auch den Namen des anderen nennt, geben für die Auseinandersetzung um Festschriften wenig her. Es ist nämlich bisher nicht einmal von Mitgliedern der AFL bekannt geworden, dass sie Festschriften auf den Müll werfen. Nach diesen teilweise etwas unappetitlichen Wegwerfgeschichten bringt Lepenies den Gedanken, dass die Last der Entsorgung von Büchern erleichtert wird, wenn es gelingt, möglichst viele Schreibbereite vom Schreiben abzuhalten oder wenigstens dazu zu bringen, sich nur eine ganz kleine Bibliothek anzulegen.10 In eleganter Entfaltung seiner (jedermann bekannten) Gelehrsamkeit lässt er zu diesen Themen ganz und gar unangestrengt (so selbstverständlich, wie man atmet) Berühmtheiten aus dem 18., dem 19. und dem 20. Jahrhundert auftreten. Ich nenne sie in der Reihenfolge ihres Auftritts. Da ist zunächst George Steiner, der Erfinder der „Suhrkamp-Kultur“, die zum Wachstum der Buchproduktion geführt hat, weswegen Lepenies „das Haus Suhrkamp“ verflucht.11 Die nächste Berühmtheit ist der französische Forschungsreisende Pierre Poivre, der auf die Frage, weshalb er nicht seine Autobiographie oder wenigstens einen Reisebericht oder ein kleines Lexikon schreibe, geantwortet haben soll: „Il y a d¦ja assez de livres“. Dazu Lepenies bewegt: „Was würde Pierre Poivre, der sich als einziger selbst beim Wort nahm, zu der uns heute umwallenden Bücherflut sagen?“ Als wahrheitsliebender Forscher höchsten Ranges würde er wohl sagen: Ich war eigentlich nie der Auffassung, dass es genug Bücher gibt. Das Gegenteil habe ich behauptet, um bücherfeindlichen Gelehrten in späteren Jahrhunderten eine schönes Zitat zu liefern. In Wahrheit veröffentlichte ich schon im Jahre 1768 mein Buch „Voyages dÏun philosophe“, das im Laufe der Jahrhunderte in mehrere Sprachen übersetzt wurde und im Jahre 1997 unter dem Titel „Reisen eines Philosophen“ in
9
Lepenies (Fußn. 1), S. 362. Lepenies (Fußn. 1), S. 363 ff. 11 Lepenies (Fußn. 1), S. 362.
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der Übersetzung von Jürgen Osterhammel12 erschienen ist. Gestehen muss ich außerdem noch, dass die „Voyages“ nicht mein einziges Buch sind. Keine Unterstützung findet Lepenies auch durch den nächsten der von ihm zitierten Berühmten. Es ist Sainte-Beuve. Wie Lepenius berichtet13, hat er zwar (wohl als erster) von „Stampomanie“ gesprochen. Als Autor von geschätzten 38 000 Buchseiten ist er der Manie aber selbst hoffungslos verfallen. Über den großen Dr. Johnson erfährt man dann, dass es nach dessen Ansicht die Pflicht eines jeden Schreibenden sei, „die Welt ein wenig besser zu machen“.14 Hat diese Pflicht jemals einen vom Schreiben abgehalten? Es folgen die Berühmtheiten, von denen die meisten verlangen, dass man seine Bibliothek so klein wie möglich hält. Zu Wort kommen hier der deutsche Baron Grimm, dann Thomas Hardy, der vorgeschlagen haben soll, keine Bücher zu schreiben, sondern nur die Vorworte dazu, ferner Disraeli, Jean Paul, Balzac, Stefan George und ein Hausmeister der DFG. Diesen unbedingt nachzulesenden, gelehrten Bericht über die berühmten Persönlichkeiten schließt Lepenies nicht aus Rankinggründen mit einem Hausmeister. Der steht vielmehr da, wo er steht, weil sein Vorschlag die größte Nähe zu dem Festschriftenproblem hat. Mit LepeniesÏ Worten gesagt, schlägt der erwähnte Hausmeister vor: „jeden deutschen Wissenschaftler, der bis zu seinem 40. Lebensjahr nichts publiziert habe, automatisch zu habilitieren und jeden, der bis zu seinem 60. Lebensjahr vollkommen bücherlos geblieben sei, den Ehrentitel eines Dr. h.c. minime zu verleihen.“15 Der Vorschlag besticht auch einen Festschriftenfreund, weil er die neuerdings viel Aufsehen erregenden Plagiatsfälle stark einschränken würde. Er ist aber – was auch Lepenies etwas verwundert eingesteht – ohne die geringste Wirkung geblieben. Ein Vorleuchter (Begriff von Goethe) ist sein Urheber also nicht. c) Eine glücklicherweise (für sich) gefundene Lösung Ziemlich am Ende seines Plädoyers gegen Festschriften unterbreitet Wolf Lepenies die Lösung, die er „glücklicherweise“ für sich selbst gefunden hat. Auch wenn er sie ausdrücklich nur für sich selbst gefunden hat, ist sie doch nicht zu vernachlässigen, weil bei ihm mit Nachahmern zu rechnen ist. Also: Er hat vor vielen Jahren in einer Zeitungskolumne feierlich erklärt, dass er nicht mehr an Festschriften mitwirken wolle. Gleichwohl ist er (was niemanden wundert) immer wieder um einen Festschriftbeitrag angegangen worden, und zwei Mal hat er (aus Gründen, die öffentlich nicht erörtert werden können) auch nachgegeben. 12 Pierre Poivre, Reisen eines Philosophen (1768), eingeleitet, übersetzt und erläutert von Jürgen Osterhammel, Sigmaringen, 1997, 254 Seiten. 13 Lepenies (Fußn. 1), S. 363. 14 Lepenies (Fußn. 1), S. 363. 15 Lepenies (Fußn. 1), S. 364.
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Für die beiden Festschriften lieferte er den völlig identischen Text eines Beitrags, mit dem er sich vor acht Jahren (als er noch nicht AFL-Mitglied war) an einer anderen Festschrift beteiligt hatte. Zu dieser „Lösung“ ist wenig zu sagen. Ihre Darstellung bestätigt die Festschriftenfreunde, weil sie das verzweifelte Elend der Festschriftengegner offenbart. Sie passt zu dem allerdings liebenswürdigeren Verhalten eines namentlich nicht zu benennenden AFL-Mitglieds. Es bedankte sich für die Glückwünsche zu einer Ordensverleihung (in deren Begründung die AFL-Mitgliedschaft nicht erwähnt wurde) mit einer gedruckten Karte, auf der stand: „Ihr Glückwunsch ist mir von allen der liebste.“ 3. Ergebnis Wolf LepeniesÏ gelehrten Beitrag zur Festschrift für Dieter Simon zu studieren, ist ein erbauliches Vergnügen. Seine Argumentation ist breit, tief und immer elegant, aber eines ist sie nicht: überzeugend. Das liegt nicht an ihm; denn gegen Festschriften lässt sich nicht überzeugend argumentieren. Tolle, legge! schreibt er zum Schluss. Ich schreibe (mit Augustinus) tolle lege.
Schriftenverzeichnis I. Monographien 1.
Die Einwilligung des Verletzten im Zivilrecht unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen, Diss. Erlangen-Nürnberg 1965, 223 S.
2.
Die Verfassungsorgantreue, Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 325, Berlin 1977, 161 S.
3.
Rechtsschutz bei normativem Unrecht (Habilitationsschrift Mainz), Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 357, Berlin 1979, 390 S.
4.
Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG (zugleich Kommentierung des Art. 19 IV GG im Bonner Kommentar zum GG), Hamburg 1982, 277 S.
5.
Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Tätigkeit des Vermittlungsausschusses, Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 466, Berlin 1984, 94 S.
6.
Fälle zum Beamtenrecht, JuS-Schriftenreihe Band 95, München 1986, 192 S., 2. erw. Aufl., 1990, 230 S.
7.
Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe Bd. 175, Heidelberg 1987, 83 S.
8.
Verwaltungsprozeßrecht, Schwerpunkte-Reihe, Bd. 18, Heidelberg 1993, 283 S.; 2. erw. Aufl., 1994, 305 S.; 3. erw. Aufl., 1995, 330 S.; 4. erw. Aufl., 1996, 338 S.; 5. erw. Aufl., 1997, 358 S; 6. neubearb. Aufl., 1998, 371 S.; 7. neubearb. Aufl., 2000, 373 S.; 8. neubearb. Aufl., 2002, 385 S.; 9. neubearb. Aufl., 2004, 403 S.; 10. neubearb. Aufl., 2005, 408 S.; 11. neubearb. Aufl. 2007, 396 S.; 12. neubearb. Aufl. 2009, 396 S.
9.
Bergbau contra Oberflächeneigentum und kommunale Selbstverwaltung? Zur Bedeutung der verfassungsrechtlichen Garantie des Eigentums und der kommunalen Selbstverwaltung bei der bergrechtlichen Betriebsplanzulassung, Schriften zum öffentlichen Recht Bd. 653, Berlin 1994, 139 S.
10. Veränderungssperre und Zurückstellung des Baugesuchs als Mittel zur Sicherung der Bauleitplanung, Alfeld 1995, 114 S. 11. Kopp/Schenke, VwGO, 11. neubearb. Aufl., München 1998, 2327 S.; 12. neubearb. Aufl., München 2000, 1772 S.; 13. neubearb. Aufl., München 2003, 1877 S.; 14. neubearb. Aufl., München 2005, 2015 S.; 15. neubearb. Aufl., München 2007, 1981 S.; 16. neubearb. Aufl., München 2009, 1938 S.; 17. neubearb. Aufl. München 2011, 1948 S. 12. Polizei- und Ordnungsrecht, Seoul 1999, 334 S. (Übersetzung von II Nr. 16 ins Koreanische) 13. Verwaltungsprozeßrecht, Hanoi 2000 (Übersetzung der 6. Aufl. von Nr. 8 ins Vietnamesische), 549 S. 14. Polizei- und Ordnungsrecht, Schwerpunkte-Reihe, Bd. 17/4, Heidelberg 2002, 376 S.; Bd. 19, 2. neubearb. Aufl. 2003, 408 S.; 3. neubearb. Aufl. 2004, 416 S.; 4. neubearb. Aufl. 2005, 435 S.; 5. neubearb. Aufl. 2007, 428 S.; 6. neubearb. Aufl. 2009, 428 S.; 7. neubearb. Aufl. 2011, 434 S. 15. Verfassungsrechtliche Probleme des Privatversicherungsrechts, VersR-Schriftenreihe, Heft 21, Karlsruhe 2003, 83 S.
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Schriftenverzeichnis
16. Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht (1996 – 2009) – Bericht und Analysen, Tübingen 2009, 264 S.
II. Beiträge in Sammelwerken 1.
Besteuerung und Eigentumsgarantie in: Rechtsfragen im Spektrum des öffentlichen Rechts, Mainzer Festschrift für Hubert Armbruster, Berlin 1976, S. 177 – 210
2.
Kommentierung des Art. 63 GG im Bonner Kommentar zum GG, Hamburg 1977, 63 S.
3.
Kommentierung des Art. 58 GG im Bonner Kommentar zum GG, Hamburg 1978, 74 S.
4.
Kommentierung des Art. 64 GG im Bonner Kommentar zum GG, Hamburg 1980, 68 S.
5.
Verfassungsrechtliche Grenzen gesetzlicher Verweisungen, in: Verwaltung im Dienste von Wirtschaft und Gesellschaft, Festschrift für Ludwig Fröhler zum 60. Geburtstag, Berlin 1980, S. 87 – 126
6.
Neues zum Schweinemästerfall, Neuabdruck von JuS 1977, S. 789 – 796, in: Schmitt Glaeser, Immissionsschutzrecht, Frankfurt 1981, S. 539 – 553
7.
Die Konkurrentenklage im Beamtenrecht, in: Festschrift für Otto Mühl, Stuttgart 1981, S. 571 – 594
8.
Kommentierung des Art. 19 IV im Bonner Kommentar zum GG, Hamburg 1982 (inhaltsgleich mit I, 4)
9.
Diskussionsbeitrag in: Scheuing/Hoffmann-Riem/Raschauer, Selbstbindungen der Verwaltung, VVDStRL Bd. 40, S. 313 – 314
10. Diskussionsbeitrag in: Wahl/Pietzcker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL Bd. 41, S. 274 – 277 11. Rechtsschutz gegen Verwaltungsvorschriften, in: Brohm, Drittes deutsch-polnisches Verwaltungssymposion, Das Innenrecht der Verwaltung, Hochschulverfassung und Hochschulverwaltung, Baden-Baden 1983, S. 91 – 93 12. Rechtsprechung zum Landesstaatsorganisationsrecht, in: Bachof/Geck/Schmidt/Starck /Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit Bd. III, Baden-Baden 1983, S. 1 – 90 13. Erstattung der Kosten von Polizeieinsätzen (Thesen, Referat, Bericht), in: Dokumentation zum 7. Deutschen Verwaltungsrichtertag, 1983, S. 68 – 92 14. Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter, in: Festschrift für Hans-Joachim Faller, München 1984, S. 130 – 144 15. Polizeirechtliche Artikel (Erlaubnis und Dispens; Ermessen der Polizei; Generalklausel, polizeiliche; Melderecht; Nichtstörer; Polizei, Polizeirecht; Polizeiaufgaben: Polizeiverordnung: Polizeiverwaltungsakt; Standardmaßnahmen, polizeiliche; Störer; Verwaltungspolizei; Vollzugshilfe, polizeiliche; Vollzugspolizei) in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Neuwied 1984, 73 S. 16. Polizei- und Ordnungsrecht, in: Arndt/Köpp/Oldiges/Schenke/Seewald/Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht, 1. Aufl., Heidelberg 1984, S. 109 – 257, 2. Aufl. 1986, S.143 – 316, 3. erw. Aufl. 1988, S. 169 – 340, 4. erw. Aufl. 1992, S. 161 – 350; 5. erw. Aufl., 1995, S. 175 – 371; 6. erw. Aufl. 1999, S. 173 – 380; 7. erw. Aufl. 2003, S. 185 – 405; 8. neubearb. Aufl. (zusammen mit R. P. Schenke) 2006, S. 171 – 362 17. Antragsschrift und Plädoyer im Prozeß betreffend Bundestagsauflösung, in: Heyde/Wöhrmann, Auflösung und Neuwahl des Bundestags 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, Dokumentation des Verfahrens, Heidelberg 1984, S. 51 – 86; 162 – 169 u. 206 – 213
Schriftenverzeichnis
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18. Rechtsschutz im besonderen Gewaltverhältnis, in: Merten, Das besondere Gewaltverhältnis, Vorträge des 25. Sonderseminars 1984 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1985, S. 83 – 99 19. Die Fortsetzungsfeststellungsklage, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, Festschrift für Christian-Friedrich Menger, 1985, S. 461 – 485 20. Diskussionsbeitrag, in: Lange/Breuer, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL Bd. 44, S. 296 – 297 21. Die Bekämpfung von AIDS als verfassungsrechtliches und polizeirechtliches Problem in: Schünemann/Pfeiffer, Die Rechtsprobleme von AIDS, Baden-Baden: Nomos 1988, S.103 – 152 u. S. 517 – 520 22. Rechtliche Probleme der Ansiedlung von großflächigen Betrieben des Einzelhandels in: Dichtl/Schenke (Hrsg.), Einzelhandel und Baunutzungsverordnung, Verl. Recht und Wirtschaft, Heidelberg 1988, S. 13 – 64 23. Prüfungsschritte bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Errichtung großflächiger Betriebe des Einzelhandels in:Dichtl/Schenke (Hrsg.), Einzelhandel und Baunutzungsverordnung, Verl. Recht und Wirtschaft, Heidelberg 1988, S. 65 – 74 24. Artikel „Verwaltungsgerichtsbarkeit“, in: Chmielewicz/Eichhorn, Handwörterbuch der öffentlichen Betriebswirtschaft, Stuttgart 1989, S. 1723 – 1730 25. Straßen- und Wegerecht in: Maurer/Hendler, Staats- und Verwaltungsrecht in BadenWürttemberg, Frankfurt 1989, S. 374 – 398 26. Die Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus, in: Hans Peter Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989, S. 1485 – 1521 27. Kommentierung des Art. 68 GG (Zweitbearbeitung) im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 1989, 126 S. 28. Bauordnungsrecht in: Achterberg/Püttner, Besonderes Verwaltungsrecht, Heidelberg 1990, S. 433 – 518; 2. neubarb. Aufl., 2000, S. 748 – 839 29. Diskussionsbeitrag, in: Schröder/Jarass, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL Bd. 50, S. 327 – 329 30. AIDS aus verwaltungsrechtlicher Perspektive, in: Gallwas/Riedel/Schenke (Hrsg.), Aids und Recht, München 1992, S. 35 – 62 31. Gerecke/Schenke, Polizeirecht, Textsammlung Baden-Württemberg mit einer Einführung, 3. Aufl., Heidelberg 1994, 160 S. 32. Schadensersatzansprüche des Versicherungsnehmers bei der Verletzung staatlicher Versicherungsaufsichtspflichten – Zur Frage der Drittgerichtetheit von Versicherungsaufsichtspflichten, in: Festschrift für Egon Lorenz zum 60. Geburtstag, Karlsruhe 1994, S. 473 – 514 33. Gefahrenverdacht und polizeirechtliche Verantwortlichkeit, in: Staat, Wirtschaft, Steuern, Festschrift für Karl Heinz Friauf zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1996, S. 455 505 34. Eine unendliche Geschichte: Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen, in: Recht und Recht, Festschrift für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 281 – 299 35. Kommentierung des Art. 67 GG im Bonner Kommentar zum GG, Heidelberg 1999, 80 S. 36. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, Mannheimer Fakultätstagung über 50 Jahre Grundgesetz, 1999, S. 153 – 185
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Schriftenverzeichnis
37. Rechtswegabgrenzung, in: Festschrift zum 50jährigen Bestehen des BGH, 2000, Bd. III, S. 45 – 88 38. Der Anspruch des Verletzten auf Rücknahme des Verwaltungsakts vor Ablauf der Anfechtungsfristen, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 723 – 757 39. Die verfassungsrechtliche Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland, in: Kim, Hae-Ryoung (Hrsg.), Die Fortschritte und Perspektiven des Kommunalrechts, Seoul 2001, S. 1 – 12 40. Grundrechtliche Probleme der Telekommunikation, in: Korean Public Law Association (Hrsg.), Öffentlich-rechtliche Probleme in der Telekommunikation, Seoul 2001, S. 1 – 20 41. Wolter/Schenke (Hrsg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, vorgelegt vom Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht (ASP), Berlin 2002, 577 S. 42. Die verfassungswidrige Bundesratsabstimmung, in: Meyer (Hrsg.), Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre, Baden-Baden 2003, S. 18 – 30 (Neuabdruck von III. Nr. 143) 43. Probleme der Unterhaltungs- und Verkehrssicherungspflicht auf öffentlichen Wasserstraßen, in: Eibe Riedel (Hrsg.), Binnenschiffahrtspolizeirecht, Schriftenreihe des Instituts für Binnenschiffahrtsrecht, Bd. 4, Baden-Baden 2003, S. 13 – 28 44. Kommentierung des Art. 65 GG im Bonner Kommentar zum GG, Heidelberg 2003, 144 S. 45. Probleme der Übermittlung und Verwendung strafprozessual erhobener Daten für präventivpolizeiliche Zwecke, in: Wolter/Schenke/Rieß/Zöller (Hrsg.), Datenübermittlungen und Vorermittlungen, Festgabe für Hans Hilger, Heidelberg 2003, S. 225 – 245 46. Entwicklung und heutiger Stand der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland, in: Rechtsfragen der modernen öffentlich-rechtlichen Theorie, Festschrift für Prof. Dr. Dr. Jong Hyun Seok zum 60. Geburtstag, Seoul 2003, S. 110 – 144 47. Sozialversicherungsrechtliche Ansprüche und das Eigentumsgrundrecht, in: Kontinuität und Wandel des Versicherungsrechts, Festschrift für Egon Lorenz, Karlsruhe 2004, S. 715 – 766 48. Mediation und verwaltungsgerichtliches Verfahren, in: Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 130 – 150 49. Das Verwaltungsprozessrecht Deutschlands, in: Legislative Affairs Commission of the Standing Committee of the National PeopleÏs Congress (Hrsg.), Chinesisches Verwaltungsprozessrecht: Materialien des Gesetzgebungsprozesses des Jahres 2003, 2005, S. 39 – 59 und S. 271 – 308 50. Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit und die Staats-/Amtshaftung in Deutschland, in: Legislative Affairs Commission of the Standing Committee of the National PeopleÏs Congress (Hrsg.), Chinesisches Verwaltungsprozessrecht: Materialien des Gesetzgebungsprozesses des Jahres 2003, 2005, S. 97 – 121 und S. 363 – 399 51. Das neue baden-württembergische Hochschulgesetz auf dem Prüfstand des Verfassungsrechts, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), Recht – Kultur – Finanzen, Festschrift für Reinhard Mußgnug zum 70. Geburtstag, 2005, S. 439 – 456 52. Geschäftsführung ohne Auftrag zum Zwecke der Gefahrenabwehr, in: Planung – Steuerung – Kontrolle, Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, 2006, S. 529 – 572
Schriftenverzeichnis
1359
53. Das Luftsicherheitsgesetz und das Recht der Gefahrenabwehr, in: Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat, Festgabe für Dr. Burkhard Hirsch, 2006, S. 75 – 88 54. Rechtliche Zulässigkeit und Grenzen der allgemeinen und konkreten Übertragung von Sicherheits- und Ordnungsaufgaben auf private Sicherheitsdienste, in: Peilert/Stober (Hrsg.), Die Regelung der Zusammenarbeit zwischen Polizei und privaten Sicherheitsdiensten als neue Herausforderung der Sicherheitsrechtsordnung, Ergebnisse des 6. Hamburger Professorengesprächs, 2006, S. 1 – 13 55. Die verfassungsrechtliche Garantie des Rechtsschutzes gegenüber staatlichen Hoheitsakten in Deutschland, in: Schenke/Seok (Hrsg.), Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea, Deutsch-Koreanisches Symposium, 2006,S. 31 – 51 56. Kommentierung des Art. 68 GG (Drittbearbeitung), in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2006, 225 S. 57. Anscheinsgefahr und Gefahrenverdacht im Recht der öffentlichen Sicherheit (Polizeirecht), in: Korea Public Land Law Association/Korea Legislation Research Institute (Hrsg.), Die öffentlich-rechtlichen Fragen in der Risikogesellschaft, Seoul 2006, S. 19 – 35 58. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20. Jahrhundert. Mit Beiträgen zur Entwicklung des Verlages C.H.Beck, München 2007, S. 1027 – 1035 59. Der Rechtsschutz von Nachbargemeinden in Verbindung mit Bauleitplänen, in: Gornig/ Kramer/Volkmann (Hrsg.), Staat – Wirtschaft – Gemeinde, Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag, 2007, S. 765 – 792 60. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Norm als Streitgegenstand der oberverwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle gemäß § 47 VwGO, in: Heckmann (Hrsg.), Modernisierung von Justiz und Verwaltung, Gedenkschrift für Ferdinand O. Kopp, 2007, S. 114 – 140 61. Wolter/Schenke/Hilger/Ruthig/Zöller (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und Europäischer Datenschutz, 2008, 436 S. 62. Die Auswahlentscheidung bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst, in: Festschrift für Rolf Stober, 2008, S. 221 – 242 63. Staatliche Haftung für Fehlverhalten von Privaten, die in die Erfüllung staatlicher Aufgaben einbezogen sind, in: Seok/Ziekow, Die Einbeziehung Privater in die Erfüllung staatlicher Aufgaben, 2008, S. 199 – 212 64. Neues und Altes zur beamtenrechtlichen Konkurrentenklage, in: Butzer/Kaltenborn/ Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 655 – 694 65. Probleme des verwaltungsgerichtlichen „in-camera“-Verfahrens, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht. Klagebefugnis, In-camera-Verfahren, Rechtsmittelrecht, 2008, S. 115 – 145 66. Kommentierung des Art. 19 IV GG (Drittbearbeitung), in: Bonner Kommentar zum GG, Heidelberg 2009, I. Teil, S. 1 – 211; II. Teil, S. 212 – 450; III. Teil, S. 451 – 580. 67. Die gerichtliche Kontrolldichte (Rechtsfolgeermessen, Planungsermessen, normatives Ermessen, Beurteilungsspielraum), in: Festschrift für Prof. Dr. Dr. Jong Hyun Seok zum 65. Geburtstag, Public Land Law Review (Korea Public Land Law Association), Vol. 43 No. 1 (2009), S. 49 – 72
1360
Schriftenverzeichnis
68. Zulässigkeitsprobleme der Rechtssatzverfassungsbeschwerde – Unmittelbare Betroffenheit, Subsidiarität, Rechtswegerschöpfung, Verfassungsbeschwerdefrist, in: Festschrift für Steiner, 2009, S. 682 – 732 69. Justizgewähr und Grundrechtsschutz, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, S. 923 – 976 70. Die öffentlich-rechtliche Kostenhaftung des Binnenschifffahrtsunternehmers, in: Kuhlen/ Lorenz/Riedel/Schäfer/Schmidt/Wiese (Hrsg.), Probleme des Binnenschiffahrtsrechts XII, Vorträge der XII. Mannheimer Tagung für Binnenschiffahrtsrecht, Duisburg 2010, S. 1 – 20 71. Probleme des gerichtlichen Rechtsschutzes bei hessischen Landtagswahlen, in: Böhm/ Schmehl (Hrsg.), Verfassung – Verwaltung – Umwelt, Beiträge zum rechtswissenschaftlichen Symposium anlässlich des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Klaus Lange, Baden-Baden 2010, S. 19 – 33 72. Kommentierung des Art. 69 GG (Zweitbearbeitung), in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2010, 85 S. 73. Mediation und verwaltungsgerichtliches Verfahren, in: Seok/Ziekow (Hrsg.), Mediation als Methode und Instrument der Konfliktmittlung im öffentlichen Recht, Berlin 2010, S. 155 – 170 74. Kommentierung des Art. 66 GG (Zweitbearbeitung), in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2010, 72 S. 75. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Versicherungsaufsichtsrechts, in: Bähr (Hrsg.), Handbuch des Versicherungsaufsichtsrechts, München 2011, S. 1 – 24 76. Unbegrenzte „unechte Vertrauensfrage“?, in: Festschrift für Rainer Wahl, 2011, S. 365 – 384 77. Kommentierung des Art. 65a GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2011, 80 S.
III. Aufsätze 1.
Bauliche Ausführung und Inbetriebnahme einer gewerblichen Anlage nach § 16 GewO vor Rechtskraft des Genehmigungsbescheides, GewArch. 1968, S. 221 – 226
2.
Zur Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten im Steuerrecht, BB 1969, S. 218 – 224
3.
Gerichtliche Durchsetzbarkeit der sofortigen Vollziehung von Verwaltungsakten mit Drittwirkung, DÖV 1969, S. 332 – 341
4.
Klage gegen erledigte Verwaltungsakte ohne Widerspruchsverfahren, BayVBl. 1969, S. 304 – 307
5.
Rechtsschutz gegen Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei, VerwArch. Bd. 60 (1969), S. 332 – 355
6.
Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Aussetzung der Vollziehung eines Verwaltungsakts, MDR 1969, S. 813 – 816
7.
Vollstreckungsrechtsschutz im Steuerrecht bei materiellrechtlichen Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Anspruch, Steuer und Wirtschaft 1969, S. 694 – 723
8.
Rechtsschutz des Bauherrn gegenüber der aufschiebenden Wirkung einer Nachbarklage. Bemerkungen zu BVerwG NJW 1969, S. 202, NJW 1970, S. 270 – 271
Schriftenverzeichnis
1361
9.
Kompetenz des Landesgesetzgebers zur Regelung polizeilicher Befugnisse auf dem Gebiet der Strafverfolgung?, JR 1970, S. 48 – 52
10.
Vorbeugende Unterlassungsklage und Feststellungsklage im Verwaltungsprozeß, AöR Bd. 95 (1970), S. 223 – 259
11.
Vollstreckungsrechtsschutz gegen Verwaltungsakte bei nach Bestandskraft entstandenen Einwendungen gegen den zu vollstreckenden Anspruch, VerwArch. Bd. 61 (1970), S. 260 – 273; S. 342 – 374
12.
Strafbarkeit der Zuwiderhandlung gegen einen sofort vollziehbaren, nachträglich aufgehobenen strafbewehrten Verwaltungsakt, JR 1970, S. 449 – 454
13.
Nochmals: Rechtsschutz gegen Strafverfolgungsmaßnahmen der Polizei, VerwArch. Bd. 62 (1971), S. 176 – 180
14.
Die Haftung des Staates bei normativem Unrecht, DVBl. 1975, S. 121 – 130
15.
Urteilsanmerkung zu BVerwG NJW 1975, S. 893, NJW 1975, S. 1529 – 1530
16.
Rechtsnachfolge in polizeiliche Pflichten?, GewArch. 1976, S. 1 – 8
17.
Rechtsschutz bei strafprozessualen Eingriffen von Staatsanwaltschaft und Polizei, NJW 1976, S. 1816 – 1823
18.
Verfassungsrechtliche Probleme eines Einschreitens gegen Immissionen verursachende Anlagen nach dem BImSchG, DVBl. 1976, S. 740 – 752
19.
Gewährleistung bei Änderung staatlicher Wirtschaftsplanung, AöR Bd. 101 (1976), S. 337 – 374
20.
Rechtsschutz gegen die Vollstreckung aus Verwaltungsakten, BayVBl. 1976, S. 680 – 682
21.
Gesetzesvorbehalt und Pressesubventionen, Der Staat 1976, S. 553 – 570
22.
Gesetzgebung durch Verwaltungsvorschriften? Bemerkungen zu BVerfGE 40, 237 = DÖV 1976, S. 50, DÖV 1977, S. 27 – 33
23.
Vertrauensschutz bei staatlicher Planung, Wirtschaft und Verwaltung 1977, S. 18 – 35
24.
Der rechtswidrige Verwaltungsvertrag nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz, JuS 1977, S. 281 – 292
25.
Delegation und Mandat im Öffentlichen Recht, VerwArch. Bd. 68 (1977), S. 118 – 168
26.
Subventionen und Gesetzesvorbehalt, GewArch. 1977, S. 313 – 321
27.
Neues zum Schweinemästerfall, JuS 1977, S. 789 – 796
28.
Verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, NJW 1978, S. 671 – 679
29.
Anmerkung zum Beschluß des BGH v. 16. 12. 1977, BJs 93/77, DÖV 1978, S. 731 – 733
30.
Der Grundrechtsschutz der Gewerbetreibenden bei staatlicher Wirtschaftsplanung, Wirtschaft und Verwaltung 1978, S. 226 – 245
31.
Verfassung und Zeit – von der „entzeiteten“ zur zeitgeprägten Verfassung, AöR Bd. 103 (1978), S. 566 – 602
32.
Die einstweilige Anordnung in Verbindung mit der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle (§ 47 VII VwGO), DVBl. 1979, S. 169 – 178
33.
Der Umfang der bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung, NJW 1979, S. 1321 – 1329
34.
Der Rechtsschutz des Bürgers gegen Verwaltungsvorschriften, DÖV 1979, S. 622 – 632
1362
Schriftenverzeichnis
35.
Öffentliches Recht: Der eilige Polizeikommissar, JuS 1979, S. 886 – 893
36.
Rechtsschutz gegen erledigtes Verwaltungshandeln, Jura 1980, S. 133 – 144
37.
Die verfassungsrechtliche Problematik dynamischer Verweisungen, NJW 1980, S. 743 – 749
38.
Rechtsschutz gegen Normen, JuS 1981, S. 81 – 88
39.
Rechtschutz bei Divergenz von Form und Inhalt staatlichen Verwaltungshandelns, VerwArch. Bd. 72 (1981), S. 185 – 218
40.
Rechtsschutz gegen Gnadenakte, JA 1981, S. 588 – 593
41.
Der gerichtliche Rechtsschutz im Wahlrecht, NJW 1981, S. 2240 – 2244
42.
Die Bildung der Bundesregierung, Jura 1982, S. 57 – 66
43.
Die Aufgabenverteilung innerhalb der Bundesregierung, Jura 1982, S. 337 – 348
44.
Der Rechtsschutz im besonderen Gewaltverhältnis, JuS 1982, S. 906 – 910
45.
Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen bei Wirtschaftsverwaltungsakten, WiVerw 1982, S. 142 – 168
46.
Mehr Rechtsschutz durch eine einheitliche Verwaltungsprozeßordnung ?, DÖV 1982, S. 709 – 725
47.
Das Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VBlBW 1982, S. 313 – 326
48.
Die verfassungswidrige Bundestagsauflösung, NJW 1982, S. 2521 – 2528
49.
Nochmals: Zur verfassungsrechtlichen Problematik der Bundestagsauflösung, NJW 1983, S. 150 – 152
50.
Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen – BVerwGE 60, 269 = NJW 1980, S. 2773, JuS 1983, S. 182 – 189
51.
Probleme der Bestandskraft von Verwaltungsakten, DÖV 1983, S. 320 – 332
52.
Baurechtlicher Nachbarschutz, in: Natur und Recht 1983, S. 81 – 92
53.
Erstattung der Kosten von Polizeieinsätzen (Vortrag auf dem 7. Deutschen Verwaltungsrichtertag, Berlin 1983), NJW 1983, S. 1882 – 1890
54.
Anmerkung zum Beschluß des BDiszG v. 24. 1. 1985, IX BK 12/84 (organisationsrechtliches Mandat), DÖV 1985, S. 452 – 454
55.
Zum Verhältnis von Bauvoranfrageverfahren und Baugenehmigungsverfahren, VBlBW 1985, S. 442 – 445
56.
Anmerkung zum Beschluß des BVerfG v. 14. 5. 1985, 2 BvR 397/82 (Hamburger Bebauungsplangesetz), DVBl. 1985, S. 1367 – 1370
57.
Probleme des vorläufigen Rechtsschutzes gem. § 80 Abs. 5 VwGO, DVBl. 1986, S. 9 – 17
58.
Anmerkung zum Urteil des BVerfG v. 14. 5. 1985, 1 BvR 233/81 (Brokdorf- Entscheidung), JZ 1986, S. 35 – 37
59.
Fallbesprechung (Ein Konflikt zwischen Bundespräsident und Bundeskanzler), JuS 1986, S. L 20 – 23
60.
Organisatorische Regelungen mit Außenwirkung durch Verwaltungsvorschriften, DÖV 1986, S. 190 – 194
61.
Der verfahrensfehlerhafte Verwaltungsakt gem. § 46 VwVfG, DÖV 1986, S. 305 – 321
Schriftenverzeichnis 62.
1363
Anmerkung zum Urteil des BVerwG v. 4. 10. 1985, 4 C 76/82 (Flughafensicherung), DVBl. 1986, S. 362 – 364
63.
Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze, NJW 1986, S. 1451 – 1461
64.
Die Bedeutung einer nach Abschluß des Verwaltungsverfahrens eintretenden Veränderung der Rechts- oder Sachlage für die Anfechtung eines Verwaltungsakts, NVwZ 1986, S. 522 – 533
65.
Die planungsrechtliche Problematik der Ansiedlung von größeren Einzelhandelsgeschäften und Einkaufszentren, UPR 1986, S. 281 – 294
66.
Besprechung des Urteils des BGH v. 11. 7. 1985, III R 62/84 (Verjährung des Amtshaftungsanspruchs), JuS 1986, S. 694 – 697
67.
Der Aufwendungsersatz beim Ausschluß einer gem. §§ 34 f. BBauG bestehenden baulichen Nutzungsmöglichkeit durch einen Bebauungsplan, DÖV 1987, S. 45 – 49
68.
Verfassungsrechtliche Probleme der Milch-Garantiemengen-Verordnung, dargestellt am Beispiel des § 6 Abs. 6, AgrarR 1987, S. 89 – 98
69.
Die Umdeutung von Verwaltungsakten, DVBl. 1987, S. 641 – 654
70.
Das Grundrecht des Art. 2 I GG, JuS 1987, S. L 65 – 68
71.
Verfassungskonformität der Volkszählung, NJW 1987, S. 2777 – 2786
72.
Die Auflösung des Landtags durch eine geschäftsführende Landesregierung nach schleswig-holsteinischem Landesverfassungsrecht, NJW 1987, S. 3235 – 3239
73.
Das Nachschieben von Gründen im Rahmen der Anfechtungsklage, NVwZ 1988, S. 1 – 13
74.
Rechtsfragen der Bekämpfung von AIDS, DVBl. 1988, S. 165 – 175
75.
Rechtliche Fragen der Errichtung von großflächigen Betrieben des Einzelhandels, DÖV 1988, S. 233 – 243
76.
Die Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie (Vortrag, gehalten in Breslau), JZ 1988, S. 317 – 326
77.
Entschädigungsansprüche bei legislativem Unrecht unter dem Aspekt des enteignungsgleichen Eingriffs, NJW 1988, S. 857 – 864
78.
Klausurfall mit Musterlösung (Begründung eines kommunalen Wohnungsvermittlungsmonopols), JuS 1988, L 74 – 77
79.
Der vermeintliche Terrorist (Examensklausur ÖR), Jura 1988, S. 257 – 263
80.
Klausurfall mit Musterlösung – Der Todesschuß, VBlBW 1988, S. 194 – 198
81.
Empfiehlt sich eine gesetzliche Neuordnung der Rechte und Pflichten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse?, JZ 1988, S. 805 – 820
82.
Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit – Gedanken zu einem der Grundthemen des Wirtschaftsverwaltungsrechts, WiVerw 1988, S. 145 – 198
83.
Anmerkung zum Urteil des BVerwG v. 19. 5. 1988, 7 C 37.87 (Umfang der Rechte von Untersuchungsausschüssen der Länder), JZ 1988, S. 1125 – 1126
84.
Zur Problematik des Bestandsschutzes im Baurecht und Immissionsschutzrecht, Natur und Recht 1989, S. 8 – 18
85.
Nochmals: Seuchenbekämpfung durch Blutuntersuchung und Zwangsinformation, NJW 1989, S. 755 – 757
86.
Probleme der modernen Leistungsverwaltung, DÖV 1989, S. 365 – 374
1364
Schriftenverzeichnis
87.
Die verwaltungsbehördliche Aufhebung nachträglich rechtswidrig gewordener Verwaltungsakte, DVBl. 1989, S. 433 – 441
88.
Klausurfall mit Musterlösung – Der „verseuchte“ Spargel, JuS 1989, S. 557 – 563
89.
Der Begriff des Einkaufszentrums, NVwZ 1989, S. 632 – 634
90.
40 Jahre Grundgesetz, JZ 1989, S. 653 – 663
91.
Föderalismus als Form der Gewaltenteilung, JuS 1989, S. 698 – 703
92.
Widerruf oder Rücknahme rechtswidrig gewordener Verwaltungsakte?, BayVBl. 1990, S. 107 – 110
93.
Verfassungsrechtliche Grenzen der Rückwirkung von Gesetzen – Die Verfassungswidrigkeit der Novellierung des § 6 Abs. 6 MGVO, AgrarR 1990, S. 33 – 41
94.
Der Folgenbeseitigungsanspruch bei Verwaltungsakten mit Drittwirkung, DVBl. 1990, S.328 – 338
95.
Die Verfassungswidrigkeit der baden-württembergischen „Mittagspausenregelung“, PersV 1990, S. 155 – 162
96.
Folgenbeseitigungsanspruch und mitwirkendes Verschulden – BVerwG, NJW 1989, 2489, JuS 1990, S. 370 – 377
97.
Rechtsprobleme gestufter Verwaltungsverfahren am Beispiel von Bauvorbescheid und Baugenehmigung – Kritische Bemerkungen zu BVerwG, DVBl. 1989, S. 673 ff. -, DÖV 1990, S. 489 – 500
98.
Haftung für Verordnungsunrecht am Beispiel des § 6 Abs. 6 a. F. der Milchgarantiemengenverordnung, AgrarR 1990, S. 184 – 193
99.
Rechtmäßigkeit der Mittagspausenregelung der Landesregierung? VBlBW 1990, S. 326 – 331
100. Möglichkeiten und Grenzen der Epidemiegesetzgebung in bezug auf die Bekämpfung von AIDS, Der Internist 1990, S. 582 – 586 101. Rechtsfragen bei Einzelhandelsgroßprojekten, WUR 1990, S. 61 – 70 102. Der Rechtsschutz der Gemeinden gegen Braunkohlenpläne, in: Jahrbuch des Umwelt und Technikrechts 1990, S. 69 – 99 103. Die Vertretungsbefugnis von Rechtslehrern an einer deutschen Hochschule im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, DVBl. 1990, S. 1151 – 1160 104. Formeller oder materieller Verwaltungsaktsbegriff ?, NVwZ 1990, S. 1009 – 1018 105. Gewerbliche Wirtschaft und Bauplanungsrecht (verfassungsrechtliche Schranken, Plangewährleistung), WiVerw. 1990, S. 226 – 268 106. Staatshaftung und Aufopferung – Der Anwendungsbereich des Aufopferungsanspruchs, NJW 1991, S. 1777 – 1789 107. Personalvertretungsrecht und Verfassung, JZ 1991, S. 581 – 593 108. Der rechtswidrig gewordene Verwaltungsakt – BVerwGE 84, 111 (zusammen mit Baumeister), JuS 1991, S. 547 – 553 109. Rechtsschutz gegen das Unterlassen von Rechtsnormen, VerwArch. Bd. 82 (1991), S. 307 – 356 110. Darlehen der öffentlichen Hand (Klausurfall), JuS-Lernbogen 1991 L 61 – 64
Schriftenverzeichnis
1365
111. Rechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnisse von Ärztekammern, NJW 1991, S. 2313 – 2321 112. Examensklausur im Öffentlichen Recht, VBlBW 1991, S. 394 – 398 113. Entschädigungsberechtigung des Grundstückserwerbers nach § 39 BauGB? (zusammen mit Melchior), NVwZ 1991, 1052 – 1057 114. Rechtsprobleme einer Haftung bei normativem Unrecht (zusammen mit Guttenberg), DÖV 1991, S. 945 – 955 115. Die Verfassungswidrigkeit der §§ 2 Abs. 1 und 4, 51 Abs. 1 S. 1, 56 Abs. 1 S. 1 und 59 Abs. 1 des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes über die Mitbestimmung der Personalräte (Mitbestimmungsgesetz Schleswig-Holstein – MBG Schl.H.) vom 11. Dezember 1990 (Rechtsgutachten, erstattet im Auftrag der Bundesregierung), PersV 1992, S. 289 – 309 116. Die Aufrechnung mit rechtswegfremden Forderungen im Prozeß -Zur Rechtslage nach der Neufassung des § 17 Abs. 2 GVG – (zusammen mit Ruthig), NJW 1992, S. 2505 – 2514 117. Probleme des Rechtsschutzes bei der Vollstreckung von Verwaltungsakten (zusammen mit Baumeister), NVwZ 1993, S. 1 – 10 118. Die Rechtsnatur der Vorlage eines Musters durch das Bundesgesundheitsamt gem. Art. 3 § 7 Abs. 3 a S. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts sowie die Zulässigkeit seines Zurückziehens, PharmaR 1993, S. 4 – 15 119. Zur Aufrechnung mit rechtswegfremden Forderungen im Prozeß (zusammen mit Ruthig), NJW 1993, S. 1374 – 1376 120. Die Zulässigkeit verkehrsbeschränkender Maßnahmen in Verbindung mit dem von der baden-württembergischen Landesregierung geplanten Modellversuch zur Senkung von Ozonspitzenkonzentrationen durch lokal begrenzte und zeitlich befristete Emissionsminderungsmaßnahmen im Raum Heilbronn/Neckarsulm, Rechtsgutachten erstattet im Auftrag der baden-württembergischen Landesregierung, WiVerw. 1993, S. 145 – 205 121. Rechtsprobleme des Konkurrentenrechtsschutzes im Wirtschaftsverwaltungsrecht, NVwZ 1993, S. 718 – 729 122. Amtshaftungsansprüche von Bankkunden bei der Verletzung staatlicher Bankenaufsichtspflichten (zusammen mit Ruthig), NJW 1994, S. 2324 – 2329 123. Die Verfassungswidrigkeit des rheinland-pfälzischen Personalvertretungsgesetzes, JZ 1994, S. 1025 – 1035 124. Veränderungssperre und Zurückstellung des Baugesuchs als Mittel zur Sicherung der Bauleitplanung, WiVerw. 1994, S. 253 – 366 125. Der Rechtsweg für die Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums, NJW 1995, S. 3145 – 3152 126. Verfassungsrechtliche Probleme einer öffentlichrechtlichen Monopolisierung der ethischen Beratung bei klinischen Versuchen am Menschen, NJW 1996, S. 745 – 755 127. Die Konkurrentenklage im Güterfernverkehrsrecht – Anmerkung zum Urteil des OVG Magdeburg vom 22. 2. 1995, DVBl. 1996, S. 387 – 390 128. Der Anspruch des Widerspruchsführers auf Erlaß eines Widerspruchsbescheids und seine gerichtliche Durchsetzbarkeit, DÖV 1996, S. 529 – 541 129. Rechtsscheinhaftung im Polizeirecht – Zur Problematik des sog. Anscheinsstörers (zus. mit Ruthig), VerwArch 1996, S. 329 – 361
1366
Schriftenverzeichnis
130. Rechtsprechungsübersicht zum Verwaltungsprozeß, JZ 1996, S. 998 – 1012; 1055 – 1070; 1103 – 1119; 1155 – 1170 131. Verfassungsrechtliche Grenzen des polizeilichen Gewahrsams und polizeilicher Informationseingriffe, DVBl. 1996, 1393 – 1400 132. „Reform“ ohne Ende – Das 6. VwGOÄndG, NJW 1997, 81 – 93 133. Anmerkung zur Entscheidung des OVG Münster v. 23. 1. 1997, 7 aD 70/93 NE (DVBl. 1997, 675 ff.), DVBl. 1997, S. 853 – 855 134. Anmerkung zum Beschluß des BayVGH v. 25. 1. 1997, 25 AS 97.319 (DVBl. 1997, S. 663 ff.), DVBl. 1997, S. 1330 – 1332 135. Die verwaltungsgerichtliche Feststellung strafbewehrter verwaltungsrechtlicher Pflichten (zusammen mit Roth), WiVerw 1997, S. 81 – 182 136. Die verwaltungsgerichtliche Antragsbefugnis gem. § 47 Abs. 2 S. 1 VwGO, VerwArch. Bd. 90 (1999), S. 301 – 327 137. Der maßgebliche Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung von Verwaltungsakten, JA 1999, S. 583 – 585 138. Der vorläufige Rechtsschutz zwischen Rechtswahrung und Flexibilitätsanforderungen, VBlBW 2000, S. 56 – 65 139. Der Widerruf einer waffenrechtlichen Erlaubnis gegenüber dem Inhaber eines Jagdscheins, GewArch. 2000, S. 136 – 142 140. Probleme der Vollziehungsanordnung gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, § 80 a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 VwGO, VerwArch. Bd. 91 (2000), S. 587 – 609 141. Probleme der Unterhaltungs- und Verkehrssicherungspflicht auf öffentlichen Wasserstraßen, VersR 2001, S. 533 – 539 142. Die Verwendung der durch strafprozessuale Überwachung der Telekommunikation gewonnenen personenbezogenen Daten zur Gefahrenabwehr, JZ 2001, S. 997 – 1004 143. Die verfassungswidrige Bundesratsabstimmung, NJW 2002, S. 1318 – 1324 144. Die Unwirksamkeit eines Verwaltungsakts als Folge der Feststellung seiner Rechtswidrigkeit, JZ 2003, S. 31 – 36 145. Verfassungsrechtliche Garantie eines Rechtsschutzes gegen Rechtsprechungsakte ?, JZ 2005, S. 116 – 126 146. Außerordentliche Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozessrecht nach Erlass des Anhörungsrügengesetzes, NVwZ 2005, S. 729 – 739 147. Vorgezogene Bundestagswahlen: Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch? (zusammen mit Baumeister), NJW 2005, S. 1844 – 1846 148. Anmerkung zum Urteil des BGH v. 9. 12. 2004, III ZR 200/04 (Reichweite des Spruchrichterprivilegs), JZ 2005, S. 680 – 685 149. Neue Fragen an die Wissenschaftsfreiheit – Neue Hochschulgesetze im Lichte des Art. 5 III GG, NVwZ 2005, S. 1000 – 1009 150. Das „gefühlte“ Misstrauen – Zur Verfassungsrechtslage nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 8. 2005 zur Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, ZfP 2006, S. 26 – 49 151. Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, S. 736 – 739
Schriftenverzeichnis
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152. Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art im Sinne des § 40 VwGO, AöR Bd. 131 (2006), S. 117 – 141 153. Die Anforderungen des BVerfG an die Berücksichtigung von Bewertungsreserven bei der Ermittlung der Überschussbeteiligung bei kapitalbildenden Lebensversicherungen, VersR 2006, S. 725 – 730 154. Versicherungsrecht im Fokus des Verfassungsrechts – die Urteile des BVerfG vom 26. Juli 2005, VersR 2006, S. 871 – 878 155. Die Rechtsnatur einer erkennungsdienstlichen Maßnahme gem. § 81b Alt. 2 StPO, JZ 2006, S. 707 – 712 156. Die Heilung von Verfahrensfehlern gem. § 45 VwVfG, VerwArch. Bd. 97 (2006), S. 592 – 610 157. Rechtsschutz gegen normatives Unrecht, JZ 2006, S. 1004 – 1013 158. Rechtsschutz gegen Flächennutzungspläne, NVwZ 2007, S. 134 – 144 159. Der Rechtsschutz von Nachbargemeinden im Bauplanungsrecht – Teil I –, VerwArch. 2007, S. 448 – 471; – Teil II –, VerwArch. 2007, S. 561 – 586 160. Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit nach deutschem Recht, in: Waseda Proceedings of Comparative Law (Institute of Comparative Law, Waseda University, Tokyo, Japan), Vol. 10 (2007), S. 335 – 348 161. Änderung der Sach- und Rechtslage nach Erlass des Widerspruchsbescheids, Anmerkung zur Entscheidung des BVerwG v. 13.12.2007 – 4 C 9.07, JZ 2008, S. 732 – 734 162. Das Recht der Europäischen Union und das Grundgesetz, Comparative Law Review (The Institute of Comparative Law in Japan, Chuo University), Vol. XLII No. 1 (145), 2008, S. 45 – 70 163. Vorläufiger Rechtsschutz im deutschen Verwaltungsprozess, in: The Hokkaido Law Review (Hokkaido-University, Sapporo, Japan), Vol. 59 (2008), S. 113 – 147 164. Der Geheimnisschutz Privater in verwaltungsgerichtlichen Verfahren, NVwZ 2008, S. 938 – 944 165. Sozialer Rechtsstaat und Grundgesetz, in: Public Law (Korean Public Law Association), Vol. 37-1-1 (2009), S. 1 – 23 166. Probleme des Vertretungszwangs nach dem novellierten § 67 VwGO, NVwZ 2009, S. 801 – 806 167. Mediation und verwaltungsgerichtliches Verfahren, in: Public Land Law Review (Korea Public Land Law Association), Vol 47 (2009) , S. 177 – 192 168. Neuere Rechtsprechung zum Verwaltungsprozessrecht – Teil I -, JZ 2010, S. 992 – 1002; – Teil II –, JZ 2010, S. 1046 – 1058 169. Neuestes zur Konkurrentenklage, NVwZ 2011, 321 – 327
IV. Buchbesprechungen 1.
Arndt, Gottfried, Der Verwaltungsakt als Grundlage der Verwaltungsvollstreckung, Köln 1967, DÖV 1969, S. 366 f.
2.
Schmidt-Salzer, Der Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörden, Berlin 1968, Die Verwaltung 1970, S. 278 f.
1368 3.
Schriftenverzeichnis
Scholler/Broß, Grundzüge des Kommunalrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1976, NJW 1976, S. 2337
4.
Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Stuttgart 1976, AöR Bd. 103 (1978), S. 116 f.
5.
Ziegler, Die Verkündung von Satzungen und Rechtsverordnungen der Gemeinden, Berlin 1976, Die Verwaltung 1978, S. 110 f.
6.
Holzer, Präventive Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, Baden-Baden 1978, NJW 1980, S. 381
7.
Schmidt-Aßmann, Die kommunale Rechtsetzung im Gefüge der administrativen Handlungsformen und Rechtsquellen, München 1981, NVwZ 1981, S. 26 f.
8.
Martens, Suspensiveffekt, Sofortvollzug und vorläufiger Gerichtsschutz bei atomrechtlichen Genehmigungen, Köln 1983, AöR Bd. 110 (1985), S. 160 f.
9.
Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, München 1984, Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer Bd. 4, NVwZ 1985, S. 330 f.
10. Schimpf, Der verwaltungsrechtliche Vertrag unter besonderer Berücksichtigung seiner Rechtswidrigkeit, Berlin 1982, Schriften zum Öffentlichen Recht Bd. 434, NVwZ 1985, S. 890 f. 11. Barbey, Bundesverfassungsgericht und einfaches Gesetz, Berlin 1985, DÖV 1986, S. 443 f. 12. Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl., Göttingen 1985, NVwZ 1986, S. 820 13. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl. 1986, NVwZ 1987, S. 210 14. Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982, VBlBW 1986, S. 360 15. Fürst/Günther, Grundgesetz, 3. Aufl., Stuttgart 1982, VBlBW 1986, S. 360 16. Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG, Schriften der Universität Passau, Der Staat 1986, S. 628 – 629 17. Badura, Staatsrecht, Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, München 1986, JZ 1987, S. 506 – 507 18. König, Bayerisches Polizeirecht, NVwZ 1987, S. 878 19. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, DÖV 1987, S. 1075 – 1076 20. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 8. Aufl., 1985, sowie Tschira/Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, 7. Aufl., 1986, NJW 1987, S. 1687 f. 21. Stern, Klaus, Verwaltungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, München 1987, NVwZ 1991, S. 253 22. Seibert, Die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, Baden-Baden 1989, DÖV 1991, S. 566 23. Schimmelpfennig, Vorläufige Verwaltungsakte, München 1989, DÖV 1991, S. 343 – 344 24. Hatje, Der Rechtsschutz der Stellenbewerber im Europäischen Beamtenrecht. Eine Untersuchung zur Rechtsprechung des EuGH in Beamtensachen, Baden-Baden 1988, DVBl. 1991, S. 1111 – 1112 25. Jahn, Ralf, Ansiedlung von Einzelhandelsgroßprojekten, Frankfurt a. M. 1988, NVwZ 1991, S. 1070 26. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., 1989, NVwZ 1991, S. 577
Schriftenverzeichnis
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27. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, 1988, NVwZ 1992, S. 868 28. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München, Stand: Dezember 1995, AöR 1998, S. 324 – 325 29. Spannowsky, Willy, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, Berlin 1994, DÖV 1997, S. 650 – 651 30. Sodan/Ziekow, Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, Baden-Baden, Stand: November 1999, NJ 2000, S. 417 31. Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, München, Stand: Februar 1999, AöR 2002, S. 341 – 342 32. Dörr, Oliver, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, Tübingen 2003, Die Verwaltung 2004, S. 574 – 578 33. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 7. Aufl. 2004, NVwZ 2004, S. 1462 – 1463 34. Sodan/Ziekow, Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, Baden-Baden 2006, NJW 2006, S. 3046 – 3047 35. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, NVwZ 2006, S. 1266 36. Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, NJW 2008, S. 2833 – 2834 37. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 9. Aufl. 2007, NVwZ 2008, S. 395 38. Kloepfer, Michael, Katastrophenrecht: Grundlagen und Perspektiven, Baden-Baden 2008, DVBl. 2009, S. 368 – 369 39. Geis, Max-Emanuel, Kommunalrecht, München 2008, NVwZ 2009, S. 290 . Ferner zahlreiche Buchanzeigen in JuS und NJW
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Matthias Bäcker, LL.M. Juniorprofessor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Richard Bartlsperger em. o. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Peter Baumeister Professor an der SRH Hochschule Heidelberg, apl. Professor an der Universität Mannheim, Rechtsanwalt, Schlatter Rechtsanwälte, Heidelberg Dr. Dr. h.c. Winfried Benz Generalsekretär des Wissenschaftsrates a.D., Kanzler der Universität Mannheim a.D. Prof. Dr. Wilfried Berg em. o. Professor an der Universität Bayreuth Prof. Dr. Herbert Bethge em. o. Professor an der Universität Passau Prof. Dr. Martin Burgi o. Professor an der Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Hans-Joachim Cremer o. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Christoph Degenhart o. Professor an der Universität Leipzig, Richter am Sächsischen Verfassungsgerichtshof Prof. Dr. Otto Depenheuer o. Professor an der Universität zu Köln Dr. Markus Deutsch Rechtsanwalt, Rechtsanwälte Gleiss Lutz, Frankfurt
1372
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Thomas Fetzer, LL.M. o. Professor an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Kristian Fischer Rechtsanwalt, Rechtsanwälte SZA Schilling, Zutt & Anschütz, Mannheim, apl. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Werner Frotscher em. o. Professor an der Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Klaus F. Gärditz o. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Max-Emanuel Geis o. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Torsten Gerhard Rechtsanwalt, Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart Dr. Kurt Graulich Richter am Bundesverwaltungsgericht, Leipzig Prof. Dr. Klaus Grupp em. o. Professor an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. o. Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Annette Guckelberger o. Professorin an der Universität des Saarlandes Prof. Dr. Christoph Gusy o. Professor an der Universität Bielefeld Priv.-Doz. Dr. Dirk Hanschel, M.C.L. Privatdozent an der Universität Mannheim Prof. Dr. Friedhelm Hufen o. Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Autorenverzeichnis
1373
Dr. Christian Hug Richter am Sozialgericht/Justizministerium Baden-Württemberg Prof. Dr. Martin Ibler o. Professor an der Universität Konstanz Prof. Dr. Hans D. Jarass, LL.M. o. Professor an der Universität Münster, Of Counsel, Rechtsanwälte Redeker Sellner Dahs, Bonn Prof. Dr. Karl-Hermann Kästner o. Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Prof. Dr. Wolfgang Kahl, M.A. o. Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Nobuhiko Kawamata o. Professor an der Universität Saitama, Japan Prof. Dr. Hae Ryoung Kim o. Professor an der Hankook-Universität, Seoul, Korea Prof. Dr. Eckart Klein em. o. Professor an der Universität Potsdam, Richter des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen Prof. Dr. Winfried Kluth o. Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt Prof. Dr. Franz Ludwig Knemeyer em. o. Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Jürgen Kohl Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Karlsruhe a.D. Prof. Dipl.-Volkswirt Dr. jur. Klaus Lange em. o. Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Präsident a.D. und Mitglied des Staatsgerichtshofes des Landes Hessen
1374
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Hans-Werner Laubinger, M.C.L. em. o. Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Dieter Lorenz em. o. Professor an der Universität Konstanz Prof. Dr. Egon Lorenz em. o. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Hartmut Maurer em. o. Professor an der Universität Konstanz Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch em. o. Professor an der Universität München, Rektor der Hochschule für Politik München a.D. Prof. Hiroaki Murakami o. Professor an der Kyushu Universität Fukuoka, Japan Prof. Dr. Reinhard Mußgnug em. o. Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Hans-Ullrich Paeffgen o. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier o. Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. Franz-Joseph Peine o. Professor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder Prof. Dr. Bodo Pieroth o. Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Jost Pietzcker em. o. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Dr. h.c. Rainer Pitschas o. Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Autorenverzeichnis
1375
Prof. Dr. Thomas Puhl o. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Ulrich Ramsauer o. Professor an der Universität Hamburg, Vorsitzender Richter am Hamburgischen Oberverwaltungsgericht Prof. Dr. Gerd Roellecke em. o. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Wolfgang Roth, LL.M. Rechtsanwalt, Rechtsanwälte Redeker Sellner Dahs, Bonn, apl. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Josef Ruthig o. Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Michael Sachs o. Professor an der Universität zu Köln Prof. Dr. Ralf P. Schenke o. Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Bernd Schieferdecker Rechtsanwalt, Dolde Mayen & Partner, Stuttgart Prof. Dr. Dres. h.c. Eberhard Schmidt-Aßmann em. o. Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Matthias Schmidt-Preuß o. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Friedrich E. Schnapp em. o. Professor an der Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Friedrich Schoch o. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Christoph Sennekamp Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Freiburg
1376
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Jong Hyun Seok o. Professor an der Dankook-Universität, Seoul, Korea Prof. Dr. Helge Sodan o. Professor an der Freien Universität Berlin, Präsident des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin a.D. Prof. Dr. Jae-Young Son o. Professor an der Keimyung Universität Daegu, Korea Prof. Dr. Udo Steiner em. o. Professor an der Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Rolf Stober em. o. Professor an der Universität Hamburg, Wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstituts für Compliance, Sicherheitswirtschaft und Unternehmenssicherheit an der Deutschen Universität für Weiterbildung Berlin Prof. Dr. Rainer Wahl em. o. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Jürgen Wolter em. o. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Thomas Würtenberger em. o. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Jan Ziekow o. Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Mark A. Zöller o. Professor an der Universität Trier