182 3 85MB
German Pages 370 [372] Year 1988
Kurt Krolop
Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Kurt Krolop
Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus Neun Studien
AKADEMIE-VERLAG BERLIN 1987
ISBN 3-05-000426-6 ISSN 0232-315X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, D D R -1086 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1987 Lizenznummer: 202 • 100/124/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6665 Lektor: Alfred Gessler LSV: 8023 Bestellnummer: 754655 3 (2150/90) 01250
Inhalt
Nach fünfzig Jahren
7
Dichtung und Satire bei Karl Kraus
14
Genesis und Geltung eines Warnstücks
65
„Ahnenwerthes Ahner" — Zur Genesis und Funktion der Traditionswahl bei Karl Kraus
155
Klopstock und Karl Kraus
177
Ebenbild und Gegenbild — Goethe und „Goethes Volk" bei Karl Kraus 192 Präformation als Konfrontation — „Drittes Reich" und Dritte Walpurgisnacht 210 „Die Berufung auf Schiller wird zur Gänze abgewiesen" — Schiller-Bezüge der Dritten Walpurgisnacht im Lichte der Fackel
231
Bertolt Brecht und Karl Kraus
252
„Solche Erfolche erreichen nur deutsche Molche" — Karel Capek, Karl Kraus und die Molchhymnt
304
Anmerkungen
308
Personenregister
362
Nach fünfzig Jahren
Am 12. Juni 1936, eine Woche vor dem Tod Maxim Gorkis, war in Wien Karl Kraus gestorben. Zwei Monate später schrieb Walter Benjamin aus Svendborg, wo er sich als Gast Bertolt Brechts aufhielt, an Werner Kraft nach Jerusalem: „ Gestern traf das zweite Heft des .Wort' — der neuen in Moskau deutsch erscheinenden Literaturzeitschrift — hier ein. Brecht war, wie Sie sich denken können, sehr unwillig, in dem ungezeichneten und daher die Verantwortlichkeit der Redaktion, der er angehört, angehenden .Vorwort' einige sehr törichte und respektlose Worte über Kraus zu lesen. Sie unterscheiden sich allzu wenig von dem schamlosen Text, den Benkard aus Anlaß des Todes in der Frankfurter Zeitung hat drucken lassen." 1 Der in Brechts Nachlaß aufbewahrte Nachruf des Kunstkritikers Ernst Benkard (1883—1946) in derselben Frankfurter Zeitung, die fünf Jahre zuvor Benjamins großen Kraus-Essay gebracht hatte, verdiente schon deshalb ein „schamloser Text" genannt zu werden, weil hier der Mitarbeiter eines Blattes, das die letzten Reste seines alten liberalen Rufes einsetzte, um dem Dritten Reich ein publizistisches Alibi gegenüber dem Ausland zu verschaffen, dem toten Satiriker und Todfeind der „Journaille" die Leviten las, und zwar ausgerechnet über die geflügelten Worte des 1. Korintherbriefes: „Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle." Benkards Fazit, wiederum mit evangelischer Salbung angereichert: „Man wird seine blendende Erscheinung zu den kritischen Verführern gesellen, die, ohne es zu ahnen, ihren Adepten doch schließlich Steine als Brot gereicht haben." Daß die „sehr törichten und respektlosen Worte über Karl Kraus", die im Wort geschrieben standen, sich wie eine erste Erfüllung der von Benkard gestellten Prognose ausnahmen, mußte den Unwillen Brechts erregen. Nichtsdestoweniger manifestierte sich in dieser peinlichen Konvergenz, mit der man ganz 7
links wie ganz rechts von Karl Kraus redete „wie von einem toten Hunde"2, eine Rezeptionsproblematik, die mindestens ein Jahrzehnt lang für das Nachleben dieses Autors bestimmend blieb und in ihren Konsequenzen trotz, ja vielfach gerade auch wegen der seit den fünfziger Jahren anschwellenden Karl-Kraus-Renaissance noch immer nicht aufgearbeitet ist. Von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, die es seit Walter Benjamins und Werner Krafts wegweisenden Darstellungen immer wieder gegeben hat,3 waren die publizistischen undliteraturwissenschaftlichen Arbeiten, die jene Karl-Kraus-Renaissance begleiteten und weithin auch repräsentierten, zumeist einer der beiden Extremgefahren ausgesetzt, welche die Sekundärliteratur der Nachkriegszeit von den Auseinandersetzungen um den Satiriker zu dessen Lebzeiten gleichsam als Erbübel übernommen hat: einmal der Gefahr des unkritisch-apologetischen Nachvollzugs Krausscher Argumentationsgedankengänge und -Wendungen (der stets undifferenzierter ausfallen muß als sein Gegenstand); zum anderen der Gefahr eines pseudokritischen Reduktionismus, der seinen Gegenstand schon deshalb verfehlen muß, weil er unterhalb des von Karl Kraus selbst gesetzten Argumentationsniveaus bleibt, indem er Einwände, mit denen die 'Fackel sich geradezu leitmotivisch auseinandergesetzt hat, ebenso leitmotivisch wiederholt (Stichworte: Agnostizismus, Geschichtsfeindlichkeit, Sprachfetischismus, Verkennung ökonomischer bzw. soziologischer Determinanten und infolgedessen Unfähigkeit, von Oberflächensymptomen zu den Wesensursachen vorzudringen, etc.). Die Unfruchtbarkeit von Verfahren bloß apologetischen Nachvollzugs ist evident; das zweite, pseudokritische und reduktionistische Verfahren hingegen kann gerade durch einen oft autoritären Entschiedenheitsgestus für Leser, die sich auf Texte von Karl Kraus nicht eingelassen haben, eine Rezeptionshemmschwelle schaffen, die ja oft dem wirkungsstrategisch beabsichtigten Effekt dergestalt verwerfender Abschreckung entspricht. Was auf Walter Benjamins 1928 errichtetem imaginärem „Kriegerdenkmal" für Karl Kraus als erster Satz mit angemessener taciteischer Lapidarität eingegraben steht, hat seine Dauerhaftigkeit bewahrt und bewährt: „Nichts trosdoser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner."4 Eine auf produktivierende Erhellung bedachte marxistische KarlKraus-Darstellung hat sich nicht sowohl vor der für sie leichter vermeidbaren trostlos hagiographischen Adeptenschaft zu hüten als vielmehr darauf zu achten, daß sie die oben exemplifizierten, oft geradezu 8
zwanghaft sich forterbenden Einwendungs- und Einschränkungsklischees nie unbesehen übernimmt und reproduziert, sie stets kritisch auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, in diese Überprüfung grundsätzlich auch Karl Kraus' eigene Auseinandersetzungen mit einschlägigen Gegenpositionen einbezieht und so zu einer jeweils differenzierten, sachlich fundierten, weil am Textmaterial verifizierbaren Wertung gelangt. Freilich führt auch eine solche Methode nur dann zum Ziel, wenn sie konsequent historisch verfährt, das heißt bei der Untersuchung jedes Einzelphänomens stets das der Geschichtswelt „einverleibte" 5 Entwicklungskontinuum des Gesamtwerks und seines Autors vor Augen behält, die jeweils phasenspezifischen Akzentverschiebungen und Schwerpunktverlagerungen in den Gesamtkontext einordnet. Wenn etwa — um ein Beispiel höchsten Ranges zu wählen — Walter Benjamin aus der Sicht von 1931 schreibt, dem polemischen Satiriker Karl Kraus werde im Angriff auf die Presse „der soziologische Bereich nie transparent" 6 , so wirkt das zwar auf den ersten Blick, nämlich in Hinblick auf die entwicklungsgeschichtlich g e w o r d e n e Dominanz ideologie-, kultur- und sprachkritischer Motive plausibel, klammert aber den Sachverhalt aus, daß solcher Dominanz eine gründliche Durchleuchtung des „soziologischen Bereichs" bereits in den Anfängen der Fackel vorausgegangen war; daß die Analyse dieses Bereichs der „ökonomischen Zusammenhänge" (5,11) die V o r a u s s e t z u n g aller weiteren Medienkritik und -satire bildete, auf die im Bedarfsfall — wie etwa dem des späten Briefwechsels mit der „Literarischen Welt" (838,13—19) — jederzeit Bezug genommen werden konnte. Hier wäre also nicht ein Ausfall Symptom zu diagnostizieren, sondern ein kumulativer Erweiterungsvorgang zu beschreiben, der in der Fackel selbst schon satirisch reflektiert ist. Solche Überlegungen, die sich noch weiter ausführen und dokumentieren ließen, legen es nahe, für eine noch ausstehende marxistische Gesamtdarstellung von Wirken und Werk des „großen österreichischen Satirikers Karl Kraus" (Hanns Eisler) 7 eine Methode auszubilden, die im Fortschreiten auf jeder Stufe eine optimale Simultaneität von lebens-, zeit-, werk- und gattungsgeschichtlichen Aspekten anstrebt und deren wünschbarer Ertrag es wäre, ihren Gegenstand mit den Mitteln einer materialistischen Dialektik von genetischen und hermeneutischen Interpretationsverfahren zu erfassen: wodurch ein Prozeß sinnfällig werden könnte, in dem Geschichte der „literarischen Evolution" und Wertung eines „literarischen Fak9
tums" 8 einander entspringen und sich wechselseitig erhellen. Als Bausteine zu einer solchen anzustrebenden Gesamtdarstellung verstehen sich die hier gesammelt vorgelegten Aufsätze und Studien über Karl Kraus und Aspekte seines Werks, entstanden in einem Zeitraum von insgesamt fünfundzwanzig Jahren zwischen 1960 und 1985. Abgesehen von ihrem registrierten Stellenwert in der KarlKraus-Forschung möchten sie dazu beitragen, einen Teil der Probleme und eine Teilstrecke des Weges sichtbar zu machen, der noch weiterzugehen wäre, bevor er ausgeschritten ist: dem Herausgeber der Fackel und Autor der 'Letzten Tage der Menschheit im Bewußtsein der Literatur- und Literaturgeschichtskundigen nicht nur, aber gerade auch unseres Landes jenen Rang zu erdeuten, den Brecht mit dem Prädikat „der erste Schriftsteller unserer Zeit" 9 angedeutet hat. Im Vorwort zu seinem Buch Karl Kraus liest Offenbach, dem als Darstellung und Dokument gleichermaßen unschätzbaren Werk eines Zeitgenossen und Mitarbeiters des „Theaters der Dichtung" und seines Protagonisten, bemerkt Georg Knepler aus der Sicht von 1984: „In erfreulichem Maße haben junge Menschen von heute begonnen, Karl Kraus für sich zu entdecken." 10 Dreißig Jahre zuvor, als der Verfasser dieser Studien als einer der jungen Menschen von damals mit dieser Entdeckung ebenfalls erst begonnen hatte, war das unter ganz anderen Voraussetzungen, genauer: so gut wie gänzlich voraussetzungslos und auf eigene Faust geschehen. Die von Heinrich Fischer besorgte Erstausgabe des Bandes Die dritte Walpurgisnacht von 1952 und die Neuausgabe der postumen Sammlung Die Sprache von 1954, die ihm als erste Texte von Karl Kraus unter den Neueingängen einer Universitätsbibliothek zu Gesicht kamen, konfrontierten ihn mit einem Autor, den er nicht nur „für sich", sondern nach den Verheerungen, die schon die ersten zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reiches" im literarischen Traditions- und Kontinuitätsbewußtsein anzurichten vermocht hatten, auch überhaupt erst „als solchen" entdecken mußte. Im Alphabet der Publikationsprioritäten antifaschistischen Literaturnachholbedarfs der ersten Stunde von Alexander Abusch bis Arnold Zweig war der Buchstabe K noch unterrepräsentiert; die Spuren der Traditionslinien, die von der Fackel und dem „Theater der Dichtung" zu Wirken und Werk für das erste Jahrzehnt antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Kulturlebens so prägender Persönlichkeiten wie Paul Rilla, Bertolt Brecht, Hanns Eisler führen, waren, wo nicht verwischt, so 10
doch verweht; sie zurückverfolgend freizulegen galt offensichtlich niemandem als wissenschaftlich oder kulturpolitisch besonders vordringliches Bedürfnis. Der Eindruck, welchen die späten Texte von Karl Kraus vermittelten, die der Verfasser als erste kennenlernte, schien ihm mit Einordnungs- und Wertungsangeboten wie denen von F. C. Weiskopf (1955),11 Franz Leschnitzer (1956)« oder Hans Mayer (1957),13 die er als wichtige Zeugnisse politisch wie literarisch engagierter „Zeitgenossen der Fackel" (389,20) zu respektieren allen Anlaß hatte, gleichwohl keineswegs zureichend erklärt zu sein: Die zeitgeschichtlich schon abgelegten Akten zum „Fall Karl Kraus" wurden da billigermaßen einer unkundigen „Nachwelt" noch einmal zur Einsicht unterbreitet, in letzter Instanz aber nur, um abermals mehr oder minder urteilsfreudig mit einem „Fazit" zugeklappt werden zu können, das zwar nicht mehr „respektlos" genannt zu werden verdiente, aber mit unterschiedlicher Nuancierung doch auf die Diagnose der Folgenlosigkeit eines „ehrlich", aber auch reichlich querköpfigen Schriftstellers hinauslief, der lediglich als „Zuchtmeister", als Vorreiter einer „Hohen Schule der Sprache" noch unbestrittenen Gebrauchswert behalte. So etwa wäre mit gebotener Verknappung der nur wenige Striche über dem Nullpunkt der Karl-Kraus-Rezeption in der DDR gelegene Ansatzpunkt zu markieren, der die älteste der hier aufgenommenen Studien, Bertolt Brecht und Karl Kraus (1961), thematisch, methodisch und axiomatisch motiviert hat. Ihre wirkungsund wissenschaftsgeschichtliche Priorität kann darin gesehen werden, daß mit ihr zu diesem Thema — vor allem zu dessen KarlKraus-Komponente — im Bereich marxistischer Literaturwissenschaft der erste Beitrag aus der Mitte der Generation jener „Nachgeborenen" veröffentlicht wurde, die Karl Kraus ganz von neuem „für sich zu entdecken" hatten. (Daß er auf Grund des Erscheinungsortes Prag bis in die jüngste Vergangenheit fast regelmäßig für das Werk eines „tschechischen Germanisten" 14 gehalten wurde, war seinem Verfasser stets eine ungetrübte Quelle internationalistischer Genugtuung.) Zu Auswahl und Anordnung der Beiträge nur das Allernötigste: Die ersten beiden Texte der Sammlung sind ergänzte, erweiterte und überarbeitete Fassungen von größeren Einführungsstudien, die für die Bände 1—3 sowie 5,1—2 der seit 1971 im Verlag Volk und Welt Berlin erscheinenden Ausgewählten Werke von Karl Kraus ver11
faßt worden sind. Dem Verlag, seinem ehemaligen Mitarbeiter Roland Links, vor allem aber Dietrich Simon, dem verdienstvollen Hauptbetreuer dieser Ausgabe, gilt mein besonderer Dank. Wegen thematischer Überschneidungen nicht aufgenommen wurde das aus verwandtem Anlaß entstandene Nachwort zu der 1969 im Berliner Verlag Rütten & Loening herausgegebenen Aphorismen-Auswahl Anderthalb Wahrheiten-, erwähnenswert als Begleittext zu einem Band, mit dem, wie Stephan Hermlin würdigend hervorgehoben hat, zum erstenmal in der DDR ein Buch von Karl Kraus erschien.15 Alle übrigen Texte dieses Bandes lassen sich dem übergreifenden Themenkomplex „Karl Kraus und die Tradition" zuordnen: so zwar, daß der Autor nicht nur als Subjekt, sondern auch als Objekt literarischer — oder umfassender: kultureller — Traditionswahl erscheint, nicht nur als Traditionserbe, sondern auch als Traditionsstifter. Sie mögen für sich sprechen; nur zu dem entstehungsgeschichtlich ältesten dieser Texte, der bereits erwähnten, 1960 begonnenen Studie Bertolt Brecht und Karl Kraus ist einiges Erläuternde zu bemerken. Er konnte im wesentlichen unverändert übernommen werden, weil das dort Entwickelte seither vielfache Bestätigung gefunden hat. Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, daß das Titelthema mit dieser Arbeit erschöpft wäre; aber eine auf den „letzten Stand" gebrachte umfassende Darstellung hätte — allein schon angesichts der Fülle des inzwischen entdeckten oder zugänglich gemachten neuen Quellenmaterials — den Rahmen der Sammlung gesprengt und mußte deshalb aus- und aufgespart bleiben. Einen wesentlichen Teil dieser großen Bewältigungsaufgabe hat inzwischen mit seiner umfassenden Untersuchung über „Furcht und Elend des Dritten Reiches" als Satire auf mustergültige Weise Günter Härtung geleistet,16 dem der Verfasser nicht nur für ein beständiges kritisches Interesse an diesen Arbeiten zu Dank verpflichtet ist, sondern auch dafür, daß ihm manche davon „aus gegebenem Anlaß" abverlangt wurden. Zu danken ist ferner nicht wenigen, von denen über das als „Sekundärliteratur" Faßbare hinaus in Umgang und Gespräch vieles thematisch und methodisch Einschlägige zu erfahren und zu besserem Verständnis des