Sprache und sprachliches Handeln: Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Band 2: Prozeduren des sprachlichen Handelns. Band 3: Diskurs – Narration – Text – Schrift 9783110922721, 9783110193183

The three collected volumes of this study of language and linguistic action present the first compendium of the foundati

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German Pages 1707 [1712] Year 2007

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Table of contents :
Einleitung
A Funktionale Pragmatik
A 1 Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse: Ziele und Verfahren
A 2 Funktionale Pragmatik - Terme, Themen und Methoden
A 3 Pragmatik (Eintrag aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft)
B Sprachtheorie und Pragmatik
B 1 Sprachmittel und Sprachzwecke
B 2 Thesen zur Sprechakttheorie
B 3 Funktionale Etymologie
B 4 Sprache als System versus Sprache als Handlung
B 5 Kooperation und sprachliches Handeln
B 6 Sprachliches Handeln - Interaktion und sprachliche Strukturen
B 7 Medium Sprache
B 8 Die Entwicklung von Kommunikationstypologien und die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns
B 9 Zu den Bereichen Interaktion, Kommunikation, Sprechhandlung
(Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
B 10 Einige Sprechhandlungen (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
B 11 Kommunikationsanalysen: Bedingungen und Folgen
C Kritische Rekonstruktionen
C 1 „Sprach"-Entstehung - sieben Thesen
C 2 Analytische Sedimente
C 3 Aristoteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik
C4 „Stil“-Übung
C 5 Rhetorik und Dialektik der Aufklärung. Erfahrungswiederholung und Wiederholungserfahrung
C 6 Native Speaker's Heritage
C 7 Die Lust des Linguisten am Spiel - Saussure
C 8 Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache
C 9 Karl Bühler - zwischen Zeichen und Handlung oder: von den Mühen des Entdeckens und seinen Folgen
C 10 Sechs Stichworte zu Bühler (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
C 11 Zu den Bereichen Dialog, Konversation, Implikatur, Konversationsmaximen, Rolle, kommunikative Kompetenz (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
C 12 Sprachliche Felder
C 13 „Kommunikation" - Aspekte einer Konzeptkarriere
C 14 Vom Nutzen der Funktionalen Pragmatik für die angewandte Linguistik
C 15 Thesen zum Verhältnis der Sprachwissenschaft zu Literatur und Literaturwissenschaft
Prozedur (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
D Deiktische Prozeduren
D 1 Deixis und Anapher
D 2 Anadeixis und Anapher
D 3 Deictic expressions and the connexity of text
D 4 Verweisungen und Kohärenz in Bedienungsanleitungen Einige Aspekte der Verständlichkeit von Texten
D 5 Scientific texts and deictic structures
D 6 Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen
D 7 so - Überlegungen zum Verhältnis sprachlicher Formen und sprachlichen Handelns, allgemein und an einem widerspenstigen Beispiel
D 8 Deixis (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
E Operative Prozeduren
E 1 Denkweise und Schreibstil Schwierigkeiten in Hegeischen Texten: Phorik
E 2 Endophorisch (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
E 3 Determination. Eine funktional-pragmatische Analyse am Beispiel hebräischer Strukturen
E4 Eichendorffs „aber"
F Expeditive Prozeduren
F 1 Formen und Funktionen von ,HM‘ — Eine phonologisch-pragmatische Analyse
F 2 Hörersteuerung (Eintrag aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
F 3 Zum pragmatischen Ort von Exklamationen
G Prozedurale Analysen literarischer Texte
G 1 Literarische Landschaft und deiktische Prozedur: Eichendorff
G 2 Sehen und Zeigen. Zu einigen sprachlichen Verfahren bei Goethe und Eichendorff
G 3 Linguistisches Feld und poetischer Fall - Eichendorffs „Lockung"
H Diskurs
H 1 Diskurs, Face-to-Face-Kommunikation, Adressat und Diskursanalyse (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
H 2 Methodische Anforderungen an die Erforschung der gesprochenen Sprache — drei metamethodische Überlegungen
H 3 Einige Fragen zur Terminologiebildung und -Verwendung in der Diskursanalyse
H 4 Text and Discourse - A Plea for Clarity in Terminology and Analysis
H 5 Language in the Professions: Text and Discourse
H 6 Sprechhandlungsanalyse
H 7 So kam ich in die IBM. Eine diskursanalytische Studie
H 8 turn, homileïsche Kommunikation, Kommentierung und Argumentation (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache)
H 9 Die Diskurse und ihre Analysen
I Institutionelle Kommunikation
I 1 Schulischer Diskurs als Dialog?
I 2 Handelingspatronen in de communicatie in de klas
I 3 Dokumente und ihre Rolle in der institutionellen Kommunikation — eine linguistische Perspektive
14 La communication économique et l'analyse du discours
I 5 Zur Struktur der psychoanalytischen „Deutung"
I 6 The Language of Pain
I 7 Sprachliche Prozeduren in der Arzt-Patienten-Kommunikation
I 8 Religion als kommunikative Praxis
I 9 Der Katechismus - eine Textart an der Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
I 10 Rom - Reformation - Restauration. Transformationen des religiösen Diskurses im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit
J Narration
J 1 Der Alltag des Erzählens
J 2 Alltägliches Erzählen
J 3 Alltagserzählung (Eintrag aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft)
J 4 Radio-Baby - oder von kindlicher Erzählfähigkeit
J 5 Erzählraum Schule - Ein kleines Plädoyer für eine alltägliche Kunst
J 6 Handlungsstruktur und Erzählstruktur - Zu einigen Kennzeichen des Weiterentwickelns von Erzählanfängen
K Text
K 1 Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung
K 2 Die Wissenschaft vom Text. Konturen einer neuen Disziplin
K3 Zum Textbegriff
K 4 Writing Ancillary to Telling
K 5 Textualität und Schriftlichkeit
K 6 ,Text' - Konzeptualisierungen und Analysekonsequenzen
K 7 ,Textsorten' — Überlegungen zur Praxis der Kategorienbildung in der Textlinguistik
K8 Sind Bilder Texte?
L Schrift
L 1 Schriftentwicklung als gesellschaftliches Problemlösen
L 2 Wie alles anfing - Überlegungen zu Systematik und Kontingenz der Schriftentwicklung
L 3 Graphemics / [Transindividual] Graphology
L 4 Schrift, Schriftträger, Schriftform: Materialität und semiotische Struktur
L 5 Schriftform als Erwerbsaufgabe — Ein Aspekt des Schriftspracherwerbs aus linguistischer Sicht
L 6 Funktion und Struktur schriftlicher Kommunikation
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Recommend Papers

Sprache und sprachliches Handeln: Band 1: Pragmatik und Sprachtheorie. Band 2: Prozeduren des sprachlichen Handelns. Band 3: Diskurs – Narration – Text – Schrift
 9783110922721, 9783110193183

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Konrad Ehlich Sprache und sprachliches Handeln Band 1

w DE

G

Konrad Ehlich

Sprache und sprachliches Handeln Band 1 Pragmatik und Sprachtheorie

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über H a l t b a r k e i t erfüllt.

ISBN 9 7 8 - 3 - 1 1 - 0 1 9 3 1 8 - 3 Bibliografische

Information

der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche N a t i o n a l b i b l i o t h e k verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

©

Copyright 2 0 0 7 by Walter de G r u y t e r G m b H & C o . K G , 1 0 7 8 5 Berlin

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung a u ß e r h a l b der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist o h n e Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Satz und L a y o u t : D i a n a Kühnel, W e n c k e B o r d e Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Inhalt Einleitung A

Funktionale Pragmatik

A 1 Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse: Ziele und Verfahren A 2 Funktionale Pragmatik - Terme, Themen und Methoden A 3 Pragmatik (Eintrag aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft) Β Β Β Β Β Β Β Β Β

1

9 29 47

Sprachtheorie und Pragmatik 1 2 3 4 5 6 7 8

Sprachmittel und Sprachzwecke Thesen zur Sprechakttheorie Funktionale Etymologie Sprache als System versus Sprache als Handlung Kooperation und sprachliches Handeln Sprachliches Handeln — Interaktion und sprachliche Strukturen Medium Sprache Die Entwicklung von Kommunikationstypologien und die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns Β 9 Zu den Bereichen Interaktion, Kommunikation, Sprechhandlung (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) BIO Einige Sprechhandlungen (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) Β 11 Kommunikationsanalysen: Bedingungen und Folgen

55 81 87 101 125 ..139 151 167 193 223 229

VI C

Inhalt

Kritische Rekonstruktionen

C l „Sprach"-Entstehung — sieben Thesen C 2 Analytische Sedimente C 3 Aristoteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik

251 263 279

C 4 „StiT-Übung C 5 Rhetorik und Dialektik der Aufklärung. Erfahrungswiederholung und Wiederholungserfahrung C 6 Native Speaker's Heritage

299

C 7 Die Lust des Linguisten am Spiel — Saussure C 8 Die Vertreibung der Kultur aus der Sprache C 9 Karl Biihler — zwischen Zeichen und Handlung oder: von den Mühen des Entdeckens und seinen Folgen CIO Sechs Stichworte zu Bühler (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) C l l Zu den Bereichen Dialog, Konversadon, Implikatur, Konversationsmaximen, Rolle, kommunikative Kompetenz (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) C 12 Sprachliche Felder C 13 „Kommunikation" — Aspekte einer Konzeptkarriere C 14 Vom Nutzen der Funktionalen Pragmatik für die angewandte Linguistik C 15 Thesen zum Verhältnis der Sprachwissenschaft zu Literatur und Literaturwissenschaft

319 339 353 379 393 415 421 433 449 475 489

Einleitung

Der Verlag Walter de Gruyter hat es unternommen, in drei Bänden eine Reihe von Artikeln einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, in denen ich im Verlauf meiner wissenschaftlichen Arbeit Beiträge zur Entwicklung einer „Funktionalen Pragmatik" zu leisten versucht habe. Die „Funktionale Pragmatik" ist eine Konzeption von Sprache, die sich aus den Neuanfangen der Linguistik in Deutschland zu Beginn der 70er Jahre entwickelt hat. Sie ist das gemeinsame Werk einer Reihe von Linguisten und Linguistinnen, die ähnliche Zielsetzungen verfolgen. Sie eint die Überzeugung, daß das alte Thema „Sprache" durch die Entwicklung neuer Grundkategorien auf eine interessante und weiterführende Weise behandelt werden kann — und behandelt werden sollte. Mittlerweile ist — beginnend mit den frühen Untersuchungen von Jochen Rehbein und mir — ein breites Feld analytischer, kategorialer und die Grundlagen der Arbeit betreffender theoretischer Analysen entstanden, so vor allem im Werk von Angelika Redder, Ludger Hoffmann, Wilhelm Grießhaber, Kristin Bührig, aber auch dem der folgenden Wissenschaftlerinnen-Generation, die ihre theoretischen und empirisch-analytischen Interessen in diesem Arbeitszusammenhang umgesetzt und in ihm realisiert haben. In den zweijährlichen Tagungen zur „Funktionalen Pragmatik" und ähnlichen Arbeitstreffen findet regelmäßig ein lebendiger Austausch neuer Forschungsergebnisse und eine intensive Diskussion theoretischer Grundlagenfragen statt. Die Überlegungen, die zur Entwicklung einer „Funktionalen Pragmatik" führten, wurden wesentlich angeregt von der Rezeption der damals für die deutsche linguistische Situation relativ neuen Erkenntnisse der britischen „ordinary language philosophy", insbesondere den Analysen John L. Austins und deren US-amerikanischer Zusammenfassung durch John R. Searle. Dieter Wunderlich hatte wesentlichen Anteil daran, daß diese Arbeiten in der deutschen Linguistik nicht nur bekannt, sondern auch Anlaß zu einer intensiven kritischen Rezeption und zu fruchtbarem Weiterdenken wurden. Dieter Wunderlich trug auch dazu bei, daß der in der Linguistik fast vergessene Karl Bühler bei Gelegenheit der Wiederpublikation

2

Einleitung

seiner „Sprachtheorie" Beachtung fand (vgl. seine Rezension aus dem Jahr 1969 in Muttersprache 79, S. 52-62). Zunächst war wenig deutlich, daß mit dem Ausdruck „Pragmatik" eine nicht nur terminologische, sondern eine kategoriale Bestimmung eines ganzen Bündels neuer Fragestellungen und Erkenntnisinteressen erfaßt werden konnte. Gerade die „speech act theory", wie sie Searle zusammenfassend, aber auch theoretisch z.T. unzureichend vereinfachend, bezeichnete, wurde zunächst keineswegs als „Pragmatik" verstanden. So wehrte sich Searle noch Mitte der 70er Jahre bei einem Aufenthalt am „Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft" an der Universität Düsseldorf massiv gegen eine solche Zuordnung. Angesichts der neopositivistischen Nutzung des Ausdrucks „Pragmatik", wie sie von Charles Morris in seinen „Foundations of the Theory of Signs" (1938; dt. 1979 „Grundlagen der Zeichentheorie", übers, ν. Jochen Rehbein und Roland Posner) entwickelt wurde, erstaunt dies nicht. Nahm man das Konzept der Pragmatik aber als das, was es von seiner Bezeichnungsqualität her enthält, so zeigte sich schnell, daß die theoretisch-analytische Zusammenfassung, die in der jungen bundesrepublikanischen Linguistik damit vorgenommen wurde, ausgesprochen sinnvoll und erkenntnisfördernd ist. Für eine kurze Zeit geriet die Pragmatik in das Scheinwerferlicht einer Wissenschaftsöffentlichkeit, die immer auf der Suche nach neuen, „aufregenden" Theoriebildungen ist. Dies hat ihr bis zur Mitte der 70er Jahre eine gewisse Aufmerksamkeit verschafft, die, in geringerem Maß, auch in die allgemeine Öffentlichkeit ausstrahlte. Doch die Journale der theoretischen Moden veralten so schnell wie alle Journale, das breitere Interesse verlor sich — besonders, als deutlich wurde, daß die Entwicklung der Pragmatik intensive kategorial-kritische wie empirische Arbeit erfordert. Der erhebliche Druck etwa aus dem schulisch-didaktischen Bereich nach „neuen", verkaufsfördernden Curricula und Lehrwerken knüpfte viel eher an vagen Ergebnishoffnungen und angeblich schnell zu realisierenden Ergebnisversprechungen an, als daß dieser Bereich sich auf die Geduld einzulassen bereit gewesen wäre, die auch für seine Zusammenhänge zu substantiellen Erkenntnissen zu führen in der Lage ist. Die Schnellebigkeit dieses modischen Verschleißes modischer Konzepte war der Weiterentwicklung pragmatischer Fragestellungen nicht gerade förderlich. Die institutionelle Umsetzung der aussichtsreichen Innovationen gelang trotz des starken Ausbauschubs der deutschen Universitäten, in dessen Spätphase das erwachende pragmatische Interesse fällt, nicht. Die Innovationsträgheit forschungsfördernder Institutionen wirkte hemmend.

Einleitung

3

Viel von der folgenden Arbeit mußte unter schwierigen, wenn nicht hinderlichen äußeren Bedingungen geleistet und durchgehalten werden. Nicht zuletzt dies ist der Hintergrund dafür, daß eine systematische Darstellung der an den unterschiedlichen Orten und von den verschiedenen Forschern und Forscherinnen geleisteten Arbeit bisher nicht erfolgen konnte. Ähnliches gilt für meine eigenen Untersuchungen. Die weitere Entwicklung der Theorie und deren Prüfung und Erprobung in der konkreten, empirischen linguistischen Arbeit konnte — jenseits des frühen Systemversuchs von Rehbeins „Komplexem Handeln" (1977) und der empirischtheoretischen Analysen in meinen „Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln" (1976/1979) und „Interjektionen" (1986) - oft nur in Gestalt von einzelnen Aufsätzen vorangetrieben werden, die unterschiedliche Facetten jener Systematik ausarbeiteten. Die Umstände ihrer Entstehung bedeuteten häufig, daß sie an vergleichsweise entlegenen Publikationsorten und in jeweils anderen Publikationskontexten erschienen sind. Die Form des Aufsatzes mit seinen begrenzten Umfangen, gleichzeitig die Notwendigkeit, grundlegende Bestimmungen nicht durch einen einfachen Verweis auf ein systematisches Werk für die Rezeption der Leser leicht zugänglich zu machen, sondern sie in oft knapper, manchmal vielleicht auch zu knapper Form eigens mit einzuführen, boten wenig Gelegenheit, den inneren Zusammenhang der verschiedenen Arbeiten deutlich werden zu lassen. Dieser bestand aber für mein eigenes Arbeiten durchaus. Ich habe die Hoffnung, daß die vorliegende Publikation denen, die sowohl an der jeweils einzelnen Thematik wie an diesem größeren systematischen Zusammenhang interessiert sind, eine Möglichkeit für eine diesem Interesse entsprechende Lektüre bietet. Die Artikel, die diese drei Bände enthalten, wurden — bis auf geringfügige Adaptionen — in der Form ihrer Erstpublikation aufgenommen. Dadurch sind gelegentliche Überschneidungen bei der kontinuierlichen Lektüre nicht ganz zu vermeiden. Ich bitte die Leser und Leserinnen hier um ihre freundliche Nachsicht. Gleichfalls bitte ich diejenigen Leserinnen und Leser, die sich ganz auf die neue und die neueste Orthographie umgestellt haben, die sie mitentwickelt und propagiert haben, um Nachsicht: Die Texte, deren überwiegende Zahl in der alten Orthographie erstpubliziert wurden, habe ich — bis auf eine Ausnahme — in dieser Form belassen bzw. die wenigen anderen um der Einheitlichkeit willen in diese Form gebracht. Die drei Bände bilden zentrale Aspekte dessen ab, was für mich die Thematik von „Sprache und sprachlichem Handeln" ausmacht. Der Band 1 zu „Pragmatik und Sprachtheorie" enthält grundlegende Arbeiten zur

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Einleitung

„Funktionalen Pragmatik", ihrer Systematik und ihren Forschungsdesideraten. Zugleich enthält er kritische Analysen zu verschiedenen Aspekten der linguistischen Theoriezusammenhänge, die — teils sogar in „sedimentierter" Form - große Teile des westlichen Denkens über Sprache bestimmen. Diese kritische Durcharbeitung wichtiger Konzeptualisierungen von Sprache ist für die „Funktionale Pragmatik" von großer Bedeutung. Die unselige Abspaltung der Geschichte von der Gegenwart, die leichthändige Verdrängung von Geschichte in die vermeintliche Irrelevanz des theoretischen Geschäftes, wie sie gegenwärtig für viele Disziplinen und nicht zuletzt für die Linguistik herrschende Meinung und herrschende Praxis ist, verkennt die Realität der Wissensstrukturen jener Objekte, um deren analytisches Erfassen es den Wissenschaften geht. Band 2 behandelt „Prozeduren des sprachlichen Handelns". Hier finden sich Arbeiten insbesondere zu deiktischen und operativen Prozeduren, verbunden mit solchen zu den expeditiven Prozeduren. Auch verschiedene prozedurale Analysen zu literarischen Texten sind hier mit aufgenommen. Band 3 behandelt „Diskurs — Narration — Text — Schrift". Das Verhältnis dieser vier Bereiche zueinander wie das der Kategorien, die sich in ihnen ausdrücken, ergibt sich für die funktional-pragmatische Analyse aus den Strukturkennzeichen, die Diskurs und Text ausmachen. Durch die Möglichkeit zur zusammenhängenden Lektüre wird, so hoffe ich, etwas von jener Systematik deutlich, die sich bei meinen Arbeiten zur „Funktionalen Pragmatik" für mich zunehmend herausgebildet hat. Sie ist nicht „ante analysin" konstruiert worden, sie hat sich vielmehr aus der analytischen Arbeit im einzelnen entwickelt — und dies vor allem durch die immer neue Konfrontation mit konkreten empirischen sprachlichen Daten. Die „Funktionale Pragmatik" praktiziert eine reflektierte Empirie, und sie ist historisch-kritisch. Beides ist im heutigen Wissenschaftsbetrieb vergleichsweise selten der Fall. Opportun erscheint es diesem Wissenschaftsbetrieb ohnehin nicht — und sei es auch bloß mit Blick auf die dadurch erforderte intensive kategoriale Reflektion von sprachlichen Phänomenen, historischen Determinationen und kritischer Aufarbeitung der eigenen Voraussetzungen. Ein Lohn solcher Mühe ist das, was etwas altertümlich „Erkenntnis" heißen kann. Deren Gewinnung bereitet eine Freude, die nicht zuletzt über mancherlei Hürden und Beschwernisse gerade auch des universitären Forschungsbetriebes glücklicherweise immer wieder hinweghilft. Vielleicht ist sie für den einen oder anderen Leser, die eine oder andere Leserin ein wenig ansteckend.

Einleitung

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Die hier vorgelegten Bände enthalten Beiträge, die aus meiner Feder, meiner Schreibmaschine, meinem Computer stammen. Dies steht in der Gefahr, darüber hinweg zu täuschen, daß die Entwicklung der „Funktionalen Pragmatik" das Ergebnis einer intensiven wissenschaftlichen Kooperation ist. Sie betrifft nicht zuletzt jene Zusammenarbeit, die durch glückliche Umstände an der Freien Universität Berlin und an der Universität Düsseldorf in den gemeinsamen Unternehmungen von Jochen Rehbein und mir möglich war, lange freundlich unterstützt von Dieter Wunderlich, der freilich den gemeinsamen Weg dann verließ, um sich anderen theoretischen Interessen zuzuwenden. Die Realität der deutschen Universität hat eine Fortsetzung jener Zusammenarbeit am gleichen Ort und unter gleichen Arbeitsbedingungen leider nicht möglich gemacht, obwohl die Chancen dazu durchaus bestanden hätten, wären sie nur auf entsprechendes Wohlwollen der damaligen „Entscheidungs-(und vor allem Bedenkenund Befürchtungs-)Träger" gestoßen. Andere Schwerpunkte wurden wichtig und verlangten ihr Recht an Aufmerksamkeit und Arbeitsaufwand. Zugleich freilich ergaben sich die eingangs genannten vielfältigen neuen Arbeitszusammenhänge — auch für die Weiterentwicklung der „Funktionalen Pragmatik": noch in Düsseldorf im Rahmen des Projekts „Kommunikation in der Schule (KidS)" und den daraus hervorgegangen Arbeiten von Angelika Redder und Iris Füssenich; Kooperationen mit Gisela Brünner, die in Dortmund fortgesetzt werden konnten; Möglichkeiten, die „Funktionale Pragmatik" jenseits der bundesdeutschen Grenzen in den Niederlanden an der sich ausbildenden geisteswissenschaftlichen Fakultät der jetzigen Katholieke Universiteit Brabant bekannt zu machen und in den Arbeiten von Jan ten Thije und Christoph Sauer eigenständige Beiträge dazu zu erleben; vor allem dann aber am Institut für Deutsch als Fremdsprache / Transnationale Germanistik der Universität München intensive Weiterentwicklungen und Umsetzungen in der engen Kooperation mit Angelika Redder und zugleich in der gemeinsamen Arbeit in Dortmund und München mit vielen jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, ihrem wachen Interesse, ihren kritischen Nachfragen und ihren selbständigen Wegen in ein Feld, auf das gerade erst die ersten Schritte unternommen worden sind. Exemplarisch seien hier Gabriele Graefen, Martina Liedke, Stephan Schückau und Winfried Thielmann genannt. Aus den aktuellen Arbeitszusammenhängen am Institut für Deutsch als Fremdsprache / Transnationale Germanistik an der Ludwig-MaximiliansUniversität München ist das Projekt dieser drei Bände hervorgegangen. Dafür, daß es realisiert werden konnte, habe ich vielfältig zu danken: Diana Kühndel M.A., die mit großer Geduld die Texte erfaßt und elektronisch bearbeitet hat, Nadine Hamburger und Elmar Renner M.A., die Teile

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Einleitung

des ersten Korrekturganges bearbeitet haben, Wencke Borde M.A. und Rebekka Mertin M.A., die weitere Korrekturgänge mit großer Ausdauer und starkem Einsatz bewältigt haben. Zudem möchte ich Frau Borde und Frau Kühndel für die Erstellung des Reproskriptes danken. Es ist dies auch der Ort, in diesen Dank all jene Studierenden und Promovierenden einzuschließen, mit denen als „Hilfskräften" zusammenzuarbeiten ich das Glück hatte. Ihre Arbeit war und ist für meine weit mehr als das, was der ominöse Ausdruck „Hilfskraft" nahelegt. Es war die beständige Möglichkeit zum diskursiven Bearbeiten von Fragen und zum Entwickeln neuer Fragen, die Möglichkeit des Lernens aus ihrer Kritik und eine solidarische Kooperation — die hoffentlich nicht nur ich, sondern auch sie so empfunden haben. Einen entsprechenden Dank möchte ich auch an dieser Stelle an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an den Universitäten Düsseldorf, Dortmund und München richten. Oft erscheint die geisteswissenschaftliche Arbeit als eine solitäre Arbeit, sozusagen der Ort der „Singles" in der Wissenschafder-„Gemeinschaft". Ich habe sie immer anders gesehen, anders erlebt und anders erfahren — eben als ein gemeinsames Unternehmen. Die äußeren Voraussetzungen dafür waren in den letzten vier Dezennien sehr unterschiedlich. Ich hoffe für die deutsche Universität, daß sie in und trotz ihren gegenwärtigen Umstrukturierungen sich die Möglichkeit des wissenschaftlichen Diskurses und die Kooperation einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden erhält. Jedes Buch erfordert im Lauf seiner Herstellung viele textkritische Lektüren. Die Schlußkorrektur hat Gudrun Liedtke übernommen, der ich für diesen ganz besonderen Einsatz ihrer neu gewonnenen freien Zeit auch hier herzlich danke. Ein besonderes Wort des Dankes gilt schließlich dem Walter de Gruyter Verlag, insbesondere seinem Lektor Dr. Heiko Hartmann. Er hat meine Frage, ob heutzutage ein Vorhaben wie das vorliegende unternehmerisch überhaupt gewagt werden könne, spontan positiv beantwortet, und er hat das Projekt in der Folgezeit beständig mit großer Freundlichkeit und einem stetigen, ermunternden und förderlichen Interesse begleitet, darin durch seine Mitarbeiterin, Frau Susanne Rade, unterstützt, der ich für ihre vielfaltige Hilfe gleichfalls herzlich danke. München/Berlin

Juli 2007

A Funktionale Pragmatik

Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse: Ziele und Verfahren Vorbemerkung Die folgende kurze Darstellung der von Jochen Rehbein und mir entwikkelten Weise, sprachliches Handeln und Sprache zu untersuchen, ist der Versuch, thesenartig wichtige Kennzeichen dieser Sprachanalyse zusammenzufassen und auf den Zusammenhang von Analyseschritten und Resultaten hinzuweisen, der in den einzelnen Texten zum Teil nur im Ergebnis präsent ist. Diese Verfahrensweise bringt es notgedrungen mit sich, daß ein impliziter Verweis auf eine Reihe von Arbeiten erforderlich ist, die an anderer Stelle publiziert sind. Ich habe diese Arbeiten hier nicht im einzelnen aufgeführt. Ebenso erlaubt es der Charakter dieses Artikels nicht, die explizite Diskussion mit Auffassungen von Sprache zu führen, zu denen sich die funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse kritisch verhält. Ich bitte die Leser um Verständnis dafür, daß dies, was wohl am sinnvollsten einmal in der Form einer Monographie erfolgen würde, hier nicht geschehen kann, und um die Geduld des Ergänzens, wo wegen der erforderlichen Kürze nur Andeutungen möglich sind. Auch die Parallelen und Gemeinsamkeiten in Methode und Resultaten mit Analyseweisen, die von zum Teil ähnlichen oder gleichen, zum Teil aber auch von anderen Voraussetzungen und Fragestellungen aus in der neueren pragmatischen und kommunikationstheoretischen Literatur für uns sichtbar geworden sind, von denen wir gelernt haben und die wir in die weitere Entwicklung unserer Analyse einbezogen haben, bleiben hier notgedrungen unbezeichnet — dies bitte ich, nicht als eine Nicht-Anerkennung oder gar Mißachtung anderer Arbeiten mißzuverstehen. Ich denke, daß diese Gefahr im übrigen auch innerhalb der Gruppe von Pragmatikern nicht allzu groß ist, da die Herkunften der unterschiedlichen Arbeitsergebnisse in vielen Fällen eindeutig und gut bekannt sind.

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Funktionale Pragmatik

Α. Kommunikation, Sprache, Sprachanalyse 1. Der Terminus .Kommunikation' — vielfaltiger Herkunft (vgl. Ehlich 1996) und in seiner Verwendung inzwischen auf verschiedene Disziplinen, aber auch weit in die alltägliche Sprache hinein übertragen — ist theoretisch nicht eindeutig und bedarf der Erläuterung. In der neueren Diskussion ist er vor allem als Vehikel einer speziellen Gesellschaftstheorie prominent geworden, die eine philosophische Grundlegung des menschlichen Handelns gerade aus der Kommunikation heraus zu entwickeln intendiert (Habermas). Hier wird das Verhältnis von Kommunikation, Interaktion und Arbeit thematisiert, und durch eine Auflösung des Zusammenhangs von Arbeit und Interaktion wird die Basis für jenen Fundierungszusammenhang zu legen versucht. Demgegenüber sieht die funktionale Pragmatik eine ihrer wichtigen Aufgaben gerade darin, den engen Zusammenhang von Arbeit, Interaktion und Kommunikation und das systematische Hervorheben der Kommunikation aus den Prozessen von Produktion und Reproduktion zu rekonstruieren. Kommunikation ist eine spezifische Form der Interaktion. Interaktion ist eine wesentliche Erscheinungsweise menschlicher Handlungen. Die kommunikative Qualität menschlicher Aktion widerspricht dem Schein von Solipsismus und Individualismus, der in der theoretischen Bestimmung von Aktion und oft auch von Interaktion auf der Grundlage von gesellschaftlichen Abstraktionsprozessen, die im Resultat getilgt erscheinen, häufig in den Sozialwissenschaften unterstellt wird. 2. Kommunikation ist weiter als Sprache. Kommunikation umfaßt biologisch-anthropologische Aspekte in der Gattungs- und in der individuellen Reproduktion. Sprache tritt in diesen Zusammenhang ein und wird zum sicher wichtigsten Kommunikationsmittel. Alle komplexeren Kommunikationen, insbesondere die, die die gesellschaftliche Organisation des Lebens betreffen, beziehen Sprache ein. Das System der Sprache ist eine qualitativ veränderte Form der Kommunikation gegenüber dem System der Schreie, das anthropologisch weitgehend determiniert und dessen Anwendung auf bestimmte Teilbereiche der Kommunikation eingeschränkt ist. Neben dem System der Schreie steht die nonverbale Kommunikation, die freilich schon der Sprache zugehört und ein auf die vokale Sprache teils subsidiär, teils komplementär bezogenes System ist. Aus dem System der Sprache leitet sich eine spezielle mentale Operationalität ab. Dieser Zusammenhang ist noch immer sehr unzureichend erforscht. Eine Sprachanalyse, die sich von ihm jedoch prinzipiell zu distan-

Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse

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zieren versucht, verliert einen zentralen Untersuchungsbereich aus dem Bück. Alle unterschiedlichen Systeme der Kommunikation sind gesellschaftliche Systeme. Dies hat allgemeine und besondere Konsequenzen für die Sprachanalyse, Konsequenzen, von denen die Sprachwissenschaft jedoch weitgehend zu abstrahieren versucht. 3. Die neuere linguistische Forschungsgeschichte stellt sich als ein Prozeß dauernder Einengung dar. „Sprache" gerät zu einer immer spezielleren Auswahl aus dem Phänomenbereich. Dies determiniert bis heute die meisten Beschäftigungen mit Sprache — und zwar oft auch noch dort, wo eine Überwindung der zuvor gezogenen Grenzen angestrebt wird. Exemplarisch ist die Reduktion bei Saussure vorgenommen worden, der - offenbar ohne sich der Ironie bewußt zu sein, die seiner Operation eignet, — sich ein Objekt „konstituiert" hat — eine Figur, die sich großer Popularität innerhalb der Linguistik bis heute erfreut. Die Entfernung von der Widerständigkeit des tatsächlichen Objekts ist der Lohn für die Substitution eines Artefakts, die mit dieser Figur erreicht wird. 4. Das vom Linguisten konstituierte Objekt, die „langue", in der Weise, wie es von der Linguistik aufgenommen wurde (also nicht als psychische Engramme), koinzidiert auf glückliche Weise mit grundlegenden Aspekten der Form, in der die tatsächliche Sprache dem Linguisten entgegentritt. Die linguistische Methode hat nämlich — trotz entgegenlautender Postulate und Deklarationen — bis in die jüngste Zeit hinein literarische Formen von Sprache und nur diese behandelt. Die Linguistik ist in ihrer Verfahrensweise literaturorientiert. Eine methodologische Bestimmung ist so zum Objekt geworden. Die Forschung hat die Idealisierung des Objekts reifiziert und in dieser Reifizierung zugleich ein glückliches Entgegenkommen des Materials erleben können, indem das Material genau als ein derart reifiziertes, als Literatur immer schon vorgelegen hat. Der zunehmenden Entfremdung vom tatsächlichen Objekt, der Sprache, steht eine zunehmende Präzisierung von Teil- und Detail-Einsichten zu den Teilen und Aspekten von Sprache gegenüber, die im Mittelpunkt der reduktionistischen Sprachauffassungen stehen. Dies ist zunächst das sprachliche Zeichen, dann der Satz gewesen. Beide, Zeichen und Satz, kennzeichnen zwei Etappen in der Forschungsgeschichte dieses Jahrhunderts. So unterschiedlich sie sind: die Verfahren der Etablierung und die Kennzeichen der Begrenztheit sind beiden gemeinsam. Der Übergang vom Zeichen zum Satz ist die nicht eigens reflektierte Ersetzung eines reifizierten Objekts durch ein anderes. Auch die Versuche, über die Begrenzungen hinauszukommen, die für beide Grundkategorien der neueren

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Funktionale Pragmatik

Sprachwissenschaft charakteristisch sind, bleiben im allgemeinen ihnen noch immer verhaftet, die sie doch zu kritisieren sich vorgenommen haben. Dies gilt auch für die meisten Konzeptionen zur „linguistischen Pragmatik".

B. Die Vermittlung sprachlicher und gesellschaftlicher Handlungszwecke 5. Die häufigste Form, in der die Kritik an den Begrenzungen der überkommenen Linguistik geschieht, ist die einer additiven Kompensation für den Verlust des Objekts, der durch die Begrenzungen auf Teilaspekte von Sprache erlitten wird. Ein derartiges additives Programm findet seinen deutlichen Ausdruck in der Wortprägung „Pragmalinguistik", die ähnlichen Bildungen wie „Sozio-" oder „Psycholinguistik" entspricht. In diesen Disziplinen wird auf die Objektreduktionen der Linguistik so reagiert, daß das Fehlende durch eine Hinzufügung von speziellen linguistischen Disziplinen aufgefangen wird, die zu der dann im allgemeinen als „Kern" verstandenen Disziplin „Linguistik" hinzutreten. Damit wird die Reduktion prinzipiell akzeptiert; die Addition von nicht zum eigentlichen „Kern" gehörigen Aspekten wird insbesondere in interdisziplinären Verfahrensweisen angestrebt. Mag dies für Psycho- und Soziolinguistik noch den Schein der Praktikabilität haben, so zeigt sich für die „Pragmalinguistik" bereits am Fehlen einer entsprechenden allgemeinen „Praxeologie", deren Umfang der Sozio- oder Psychologie verglichen werden könnte, daß dieses Verfahren nicht umstandslos praktikabel ist. 6. Doch liegen die Schwierigkeiten prinzipieller (im übrigen auch für die Psycho- und Soziolinguistik). Der Reduktionismus der überkommenen Sprachwissenschaft selbst erweist sich bei näherem Zusehen als problematisch. Ein grundsätzlicheres Herangehen ist daher geboten. Ein solches Verfahren thematisiert den Handlungscharakter von Sprache selbst in einer prinzipiellen Weise. Dies bedeutet eine Umkehrung der Fragerichtung. Derartige Schritte sind vor allem von jenseits der Grenzen gemacht worden, die die Sprachwissenschaft sich selbst gesetzt hat. Dies gilt sowohl für anthropologische (Malinowski) wie für philosophische (Wittgenstein), für soziologische (Garfinkel) wie für allgemein handlungstheoretische (Austin) Zugänge. Gleichwohl bleiben, wie gesagt, auch die meisten dieser neuen Analysen von Sprache tiefgreifend und unterschwellig dem von ihnen Kritisierten verhaftet. Dies zeigt sich in der Aporetik der Wittgensteinschen Schriften vielleicht in der deutlichsten und dramatischsten Form.

Funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse

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7. Auch diejenige Konzeption, die zu den wichtigsten Anstößen für eine neue Erfassung der sprachlichen Wirklichkeit gehört, die „speech act theory", insbesondere in der Gestalt, die J.R. Searle ihr gegeben hat, ist in diesen Zusammenhang eingebunden. In ihr wird die Handlungscharakteristik des sprachlichen Handelns zurückprojiziert auf den Satz. Dieser wird als eine Einheit angesehen, die — im Idealfall — alle Kennzeichen des sprachlichen Handelns unmittelbar an sich selbst trägt. Dies wird besonders deutlich am Konzept der performativen Formel, die als Realisierung des Handlungscharakters in der Satzform selbst erscheint. Doch bereits die Notwendigkeit, bei der Behandlung der für das Gelingen der Handlung zu erfüllenden „Bedingungen" auf eine Reihe von nicht-sententiellen Aspekten einzugehen, verweist darauf, daß diese Projektion des nicht Bekannten in das der Linguistik vermeintlich Bekannte problematisch bleibt. Doch werden daraus keine reflektierenden Konsequenzen für die Grundvoraussetzungen der Analyse gezogen, sondern in spezifischen Reduktionsschritten wird versucht, über die Projektion der Bestimmungen auf den Satz die Ankopplung an die überkommene Grammatik und an die Logik zu ermöglichen. Die bleibende Begrenzung auf den Satz ist m.E. auch dafür verantwortlich, in welcher reduzierten Weise der Hörer oder Adressat der sprachlichen Handlung des Sprechers in die Analyse eingeht, nämlich nur dort, wo er für die satzzentrierte Analyse des Glückens von „speech acts" unumgänglich ist. Die unglückliche der „speech act theory"-Kategorien, der „perlokutive Akt", ist Opfer und Ausdruck dieser Problematik. 8. Pragmatik als Handlungslehre ist a limine auf Kommunikation als einen zentralen Zweckbereich sprachlichen Handelns bezogen. Sprachliches Handeln ist Sprecher-Hörer-Interaktion. Die Bedeutung des Hörers ist zunächst zentral für eine sehr elementare Form der Kooperation, nämlich diejenige, die realisiert werden muß, damit überhaupt eine Kommunikation zustande kommt. Diese Kooperation ist als elementare in der Praxis des alltäglichen Handelns unscheinbar. Es ist besonders die „conversation analysis", die eine Reihe derartiger Kooperationsformen untersucht hat. Diese elementare Kooperation ist operativ; das bedeutet: sie ist auf die Abwicklung des sprachlichen Handelns in einem technischen Sinn bezogen. Sie konkretisiert sich in einer Anzahl „sprachlicher Apparate". Dazu zählen als wichtigste der „turn-Apparat", durch den die Verteilung von Sprecher- und Hörerschaft in der Kommunikation geregelt wird, und der „Reparatur-Apparat", mit dessen Hilfe Störungen in der Abwicklung der Kommunikation bearbeitet werden. Wahrscheinlich gibt es weitere solche Apparate. Die sprachlichen Apparate haben im übrigen zum Teil sehr spezifische sprachliche Ausdrucksformen gefunden.

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9. Die Interaktion zwischen Sprecher und Hörer als eine tatsächliche gemeinsame Handlung und Handlungsfolge zwischen zwei oder mehr Interaktanten kulminiert in der Kategorie des Zweckes der sprachlichen Handlung (bzw. des Zweckes der sprachlichen Handlungsfolge). Die Kategorie des Zweckes ist eine Kategorie, die — nach einer sehr wechselvollen Geschichte — gegenwärtig weithin als philosophisch und insbesondere als soziologisch diskreditiert erscheint. Finale Kategorien, teleologische Kategorien und insbesondere eben die Kategorie „Zweck" unterliegen einem permanenten Verdikt, das, noch mehr als es ausgesprochen, stillschweigend praktiziert wird. In einer Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Dauer gewiß, die ihres eigenen Ursprungs nicht eingedenk und die darauf verpflichtet ist, die Naturwüchsigkeit ihrer hinter dem Rücken ihrer Aktanten „sich ereignenden" Reproduktion als Grundgegebenheit selbstverständlich zu unterstellen, sind auch diejenigen Kategorien, deren historische Herausbildung für die Herstellung eben dieser Gesellschaft unumgänglich und mit ihr aufs engste verbunden war, obsolet. Man meint, über die Zwecke hinaus zu sein, und man meint, Wissenschaftlichkeit sei gerade dann erreicht, wenn etwas als „zweck-los" erklärt ist. Wenn man für die Sprachanalyse so verfährt, verfehlt man aber gerade die zentralen Kategorien für das, was sprachliches Handeln ist. „Handeln" wird reduziert auf „Verhalten". Allenfalls sekundär wird derartigem „Verhalten" dann mit der „Intention" soviel aus dem, was mit der Kategorie „Zweck" analytisch erfaßt wird, attribuiert, daß das Auseinanderklaffen zwischen sprachlicher Wirklichkeit und bereits im alltäglichen Bewußtsein niedergelegter Erkenntnis über sie einerseits, dem „wissenschaftlich" Zulässigen andererseits nicht allzu manifest und damit bearbeitungsbedürftig wird. 10. Die zentrale Bedeutung des Zweckes für die sprachliche Handlung erfordert, seinen Stellenwert analytisch angemessen aufzunehmen. Der Zweck einer Handlung ist nicht etwas, was als theoretisches addendum lediglich post analysin, im nachhinein supplementiert werden kann. Vielmehr ist die Aufgabe gerade, den Zweck in seiner das sprachliche Handeln leitenden Bedeutung derart analytisch aufzunehmen, daß ihm ein zentraler Stellenwert bei der Rekonstruktion des sprachlichen Handelns eingeräumt wird. Dies geschieht in der Kategorie des .Musters'. Muster sind Organisationsformen des sprachlichen Handelns. Als solche sind sie gesellschaftliche Strukturen, die der Bearbeitung von gesellschaftlich rekurrenten Konstellationen dienen. Insofern sind Muster Abbildungen gesellschaftlicher Verhältnisse in sprachlichen Formen. Das einzelne menschliche Handeln realisiert allgemeine Handlungsstrukturen. Die sprachlichen Handlungs-

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formen sind ein wesentlicher Teilbereich dieser allgemeinen Handlungsstrukturen. Viele Muster des sprachlichen Handelns übergreifen einzelne gesellschaftliche Formationen. Daraus ergibt sich der Schein ihrer Universalität. Muster sind Tiefenkategorien. Die konkreten sprachlichen Oberflächen werden erzeugt, indem Musterstrukturen realisiert werden. Zwischen Tiefe und Oberfläche bestehen komplexe Vermittlungsverhältnisse, was die linguistische Analyse überhaupt erst erforderlich macht. Wären die Oberflächen in sich bereits der vollständige Bedingungsbereich für ihre Erkenntnis, reichte für das Verständnis von Sprache das bloße Hinsehen bzw. Hinhören aus. Der Ausdruck ,Muster' wird in der Alltagssprache sehr unterschiedlich verwendet. Es ist die inhaltliche Bestimmung, auf die es uns bei seinem wissenschaftlichen Gebrauch ankommt. Auch der Ausdruck ,Schema' könnte verwendet werden. Hier — wie oft in wissenschaftlichen Terminologien — sind die einzelnen Ausdrücke sehr mannigfaltig besetzt, was gerade bei einer recht naturwüchsigen Terminologiebildung zu teilweise erheblichen Mißverständnissen Anlaß gibt. Offenbar wird der Ausdruck ,Muster' häufig in eine direkte Beziehung zu ,Regeln' gesetzt. Es bestehen zwar Beziehungen zwischen Mustern und Regeln, aber diese Beziehungen sind sehr komplex. Die Kategorie ,Regel' ist nach meinem Verständnis eine abgeleitete, die häufig als „minimale Metapher" in der alltäglichen Wissenschaftssprache verwendet wird. Eine Basiskategorie für die linguistische Analyse ist, soweit ich es gegenwärtig sehe, ,Regel' nicht. Vielmehr fallen in ihr auf eine komplexe Weise deskriptive und analytische Aspekte unterschiedlichsten Stellenwerts zusammen. Häufig fungiert der Ausdruck zugleich als Zusammenfassung von Regularität und Regel im engeren Sinn. Eine eigene Untersuchung der Rolle, die der Terminus ,Regel' in der neueren Linguistik-Organisation spielt, könnte über diese Zusammenhänge möglicherweise genaueren Aufschluß geben. Eine Analyse, die sich die Rekonstruktion sprachlicher Handlungsmuster zur Aufgabe setzt, sieht sich häufiger dem — versteckt oder offen gemachten — Vorwurf gegenüber, die Anerkennung von Mustern für die Realität des sprachlichen Handelns bedeute, daß dieses Handeln einem Zwang unterstellt werde, wo doch die Freiheit des „Konstituierens" oder des „Aushandelns" walte. Dieser Vorwurf ist in einer doppelten Weise eigenartig: einerseits vertauscht er die Sache und ihre Analyse (und dies interessanterweise so, daß er eben die Willkürlichkeit für die Analyse als dezisionistische Option unterstellt, die er in der Sache postuliert); andererseits mißversteht er entscheidend den Charakter dessen, was in langer gattungsgeschichtlicher Arbeit herausgearbeitet und damit der jeweils

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lebenden Generation zur Verfügung gestellt ist. Gesellschaftliche Handlungsmuster sind gerade anthropologische Ermöglichungen menschlichen Handelns und damit von Freiheit. Ein derartiges Mißverständnis, dessen Eklatanz deutlich ist, aber nicht zur Kenntnis genommen wird, fordert in sich selbst dazu auf, nach den gesellschaftlichen Gründen zu fragen, die es bedingen. Uber die Menge der in einer konkreten Sprache zu einer bestimmten Zeit bestehenden sprachlichen Handlungsmuster ist vor deren konkreter Analyse schwer etwas auszumachen. Die Rekonstruktion einzelner Muster erfordert reflektiert-empirische Detailarbeit, die in einem Wechselprozeß von Materialanalyse und kategorialer Reflexion erfolgt. (Für Beispiele solcher Analysen möchte ich hier auf Ehüch/Rehbein 1986 verweisen.) Eine mögliche Darstellungsform für Muster sind Ablaufdiagramme. In ihnen hat auch der mentale Bereich der beteiligten Interaktanten seinen systematischen Stellenwert zu finden. Die spezifische Relation zwischen mentalen und aktionalen bzw. interaktionalen Aspekten des Handelns ist von großer Bedeutung. Für die Muster gibt es ein Musterwissen. Dieses Wissen erarbeitet sich das Kind im Prozeß des Spracherwerbs. Der Aneignungsprozeß ist kompliziert, und seinem Resultat, der tatsächlichen Beherrschung des Musters in der konkreten Interaktion, gehen viele Aneignungsschritte voraus, in denen einzelne Elemente des Musters probeweise und spielerisch realisiert werden. So kann das Kind etwa das Handlungsmuster Versprechen zunächst so aneignen, daß es lediglich eine Assertion über eine eigene zukünftige Handlung macht, die für die Bezugsperson angenehm ist, um die unmittelbare positive Reaktion der Bezugsperson zu erfahren — ohne doch zu wissen, daß diese positive Reaktion antizipativ auf die später zu realisierende Handlung bezogen war und ohne sich des Verpflichtungscharakters der eigenen Assertion für die Zukunft schon bewußt zu sein. Die zukünftige Handlung kann leicht unterbleiben. Es bedarf dann recht komplexer Interaktionsprozesse — und auf Seiten der Bezugsperson jener erstaunlichen didaktischen Geduld, die Mütter und Väter aufbringen —, bis das Kind konkret in seiner eigenen Erfahrung realisiert hat, daß dieses Handlungsmuster seinen Zweck lediglich in der Realisierung der zukünftigen Handlung trägt und daß alle Schritte, die ihr vorausliegen, sozusagen „Kredit" auf das Halten des Versprechens sind. Das Musterwissen ist bisher kaum erforscht worden — nicht zuletzt, weil die Disziplin der Psychologie sich in ihrer behavioristischen Variante von derartigen analytischen Aufgaben geradezu prinzipiell entbunden hatte.

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11. Für eine Reihe von Mustern ist charakteristisch, daß sprachliche und nicht-sprachliche Formen der Interaktion in einer jeweils spezifischen Weise verbunden sind. Dies gilt z.B. für die Bitte, deren Zweck sich in der Realisierung häufig nicht-sprachlicher Handlungen konkretisiert. Nur wenige sprachliche Handlungen sind rein sprachlich, d.h. nur wenige Muster haben ihren Zweck allein im sprachlichen Bereich. Diese sind jedoch in offenbar vielen Sprachsystemen durch elementare sprachliche Ausdrucksmittel besonders herausgehoben. Das gilt vor allem für die Assertion und die Frage. Aus der Salienz dieser Muster, die sich aufgrund ihrer besonderen sprachlichen Formbestimmtheit ergibt, resultiert der Schein, daß sie den Kernbereich von Sprache ausmachten, ein Schein, dem die Linguistik in ihrer Geschichte derart entsprochen hat, daß die Assertion zur eigentlichen Grundkategorie gemacht wurde und die Frage zu ihrer wichtigsten Transformation. 12. Für die Analyse des sprachlichen Handelns ist die Kategorie der ,Sprechsituation' wichtig geworden. Hinsichtlich dieser Kategorie ist nun freilich zwischen ihrem Verständnis als abstrakter und als konkreter Elementarform zu unterscheiden. Als konkrete Elementarform wird sie zur Basiskategorie in einer Reihe von psychologischen, insbesondere von vulgärpsychologischen Konzeptionen, die als Hier-, Jetzt- und vor allen Dingen als Ich-Theorien dem sprechenden Individuum eine Mittelpunktposition zuweisen, die von ihm um so lieber gehört wird, als sie ihm in der gesellschaftlichen Realität nur allzu offensichtlich abgeht. Auch in der Linguistik findet sich ein derartiges Verfahren, indem ,Sprechsituation' zu der Kategorie wird, mittels derer die oben (§ 5) beschriebene additive Supplementierung der überkommenen Analyse betrieben wird. Demgegenüber ist ,Sprechsituation' als abstrakte Elementarform vor allem von Bühler theoretisch ermittelt worden. Hier wird Sprechsituation als eine analytische Kategorie im strengen Sinn gefaßt, deren Bestimmung aus den elementaren raumzeitlichen Bestimmtheiten des sprachlichen Handelns selbst entwickelt wird. In diesem Sinn ist auch diese Kategorie nicht einfach an der Oberfläche sprachlichen Handelns ablesbar. Gerade das soll aber offenbar häufig das sein, was die Kategorie in der Analyse zu leisten hat. Eine derartige Verwechslung ist die Grundlage zahlreicher Applikationsversuche, zahlreicher „Sprechakttypologien", auf reale oder auch nur theatralische Sprache. Derartige Unternehmungen scheitern dann häufig — mit der Folge, daß man anschließend die Fragestellung als ganze für gescheitert erklärt.

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13. Sprachliche Handlungen realisieren sich in der kommunikativen Wirklichkeit in einer jeweils spezifischen Kombinatorik von Sprechsituationen. Die Unterscheidung von Oberfläche und systematischer Beziehung bedarf einer eigenen terminologischen Differenzierung. Die Oberfläche stellt sich dar als bloße Abfolge von in der Zeit distinkten Handlungen. In der Tiefe hingegen sind unterschiedliche Muster und unterschiedliche Musterfolgen auszumachen. Es ist also auch hier zu unterscheiden zwischen der oberflächigen Abfolgebeziehung, die mit der zeitlichen Erstreckung des sprachlichen Handelns fundamental verknüpft ist, und dem inneren Zusammenhang sprachlicher Handlungen, bezogen auf jeweils spezifische Zwecke. Indem die Oberflächenabfolgen durch die Musterstrukturen nicht vollständig determiniert sind, ergeben sich — systematisch gesehen — z.B. Möglichkeiten der Repetition bestimmter Musterpositionen. Andererseits ergeben sich Möglichkeiten der Musterkombination und der Musterintegration, d.h. der Einbeziehung einzelner Muster in komplexere. Solche Kombinationen und Interaktionen sind über die Relationsbestimmung zwischen den den einzelnen Mustern eignenden Zwecken zu rekonstruieren. Hinsichtlich der Kombinatorik von Sprechsituationen sind zwei grundlegende Formen zu unterscheiden, die über die Anwesenheit oder Abwesenheit eines systematisch bedingten turn-Wechsels bestimmt sind. Wenn der turn in einer systematischen, von der Musterstruktur bedingten Weise wechselt, liegt eine Sprechhandlungssequenz vor. (Dieser Ausdruck wird hier also in einem strengen terminologischen Sinn gebraucht, nicht, wie das in der Literatur häufiger geschieht, als Bezeichnung dafür, daß überhaupt eine Abfolge sprachlicher Handlungen vorliegt.) Findet sich ein solcher turn-Wechsel nicht, so handelt es sich um eine Sprechhandlungsverkettung. Soweit ich gegenwärtig sehe, ist diese Unterscheidung grundlegend für eine systematisch entwickelte Diskurs- und Texttypologie, Sprechhandlungssequenzen sind z.B. das komplexe Muster Frage — Antwort, das Rätselraten, das Instruieren, sofern es sprachlich ist. Sprechhandlungsverkettungen sind etwa Vorträge, viele Proklamationen, und vor allen Dingen gehören zu Verkettungen viele Formen dessen, was wir unter „Literatur" verstehen. 14. Eine wesentliche Weise, in der sich sprachliche Handlungen spezifisch verbinden, ist der Diskurs. Diskurse verstehe ich als über den Zusammenhang von Zwecken konstituierte Musterfolgen, die sich an der sprachlichen Oberfläche als Abfolge sprachlicher Handlungen darstellen. Uber die jeweiligen Zweckzusammenhänge ist bisher sehr wenig bekannt. Dies hat mit der Satzzentriertheit der Linguistik zu tun. (Terminologisch unterscheidet sich meine Verwendung des Ausdrucks ,Diskurs' sowohl von der französischen des ,discours' wie von der Haber-

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masschen. Die englische „discourse-analysis" berührt sich in einer Reihe von konkreten Analysen mit dem hier vorgetragenen Diskursverständnis, ohne daß freilich die theoretischen Ableitungszusammenhänge bisher in ihren konkreten Nähen und Abständen beschrieben worden wären. Die amerikanische Gebrauchsweise des Ausdrucks ,discourse' im Sinne des in § 15 zu charakterisierenden pauschalen Verständnisses von ,Text' bleibt den Phänomenen völlig äußerlich und ist schon in den anderen genannten drei Verwendungsweisen faktisch kritisiert.) 15. Außer in Diskursen realisiert und konkretisiert sich sprachliches Handeln als Text. Auch dieser Ausdruck wird hier in einem spezifischen Sinn verwendet. Die Kategorie ,Text' ist ja in einer sehr eigenen Weise zu einem Vehikel geworden, um die Defizienzen der überkommenen Objekteingrenzungen in der Sprachwissenschaft zu überwinden. Meist versteht man dann unter Text die Kombination von mindestens zwei Sätzen. Diese sehr einfache Bestimmung, deren Verdienst doch der gewesen ist, auf die Limitation der Satzlinguistik aufmerksam zu machen, bleibt aber unbefriedigend, wenn es darum geht, auch den Text im Zusammenhang des sprachlichen Handelns zu verstehen. Der Text bietet dafür besondere Schwierigkeiten. Während nämlich der Diskurs über die Kombinatorik von Sprechsituationen verstanden werden kann, sperrt sich der Text gegenüber dieser Elementarkategorie. Dieses Problem wird insbesondere dann manifest, wenn auch historische Fragestellungen in die Systematik mit einbezogen werden, indem man etwa eine Sozialgeschichte der Texte anstrebt. Das ist für eine Theorie sprachlichen Handelns nach meinem Verständnis unumgänglich, soll sie nicht zu einem lokal und zeitlich ethnozentrischen Unternehmen werden. Aus der heutigen Sicht sind wir es gewohnt, Texte mit Schriftlichkeit in Verbindung zu setzen. Dies ist jedoch nicht notwendig. Es gibt vorliterale Kulturen, die über Texte verfügen, ohne daß — das sie kennzeichnende Adjektiv sagt es — ihnen ein Schriftsystem zur Verfügung stünde. Betrachtet man den Text als spezifisches Phänomen sprachlichen Handelns, so ist der Text gekennzeichnet dadurch, daß die Sprechhandlung, der er zugehört, zerdehnt ist. Diese Sprechhandlungszerdehnung bedeutet, daß die Elementarkategorie .Sprechsituation' in ihr selbst transzendiert wird. Die Sprechhandlungszerdehnung ergibt sich aus einem spezifischen Zweckbereich, nämlich dem der Überlieferung. .Überlieferung' ist dabei wiederum als theoretischer Terminus verstanden. Sie realisiert sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungsformen, die sich aus der unterschiedlichen Charakteristik der Distanzen und ihrer Überwindung ergeben. Dies setzt sich um in eine ganze Typologie von sehr unterschiedlichen Formen sprachlichen Handelns. Dazu gehören sowohl

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intramentale Verarbeitungen und Speicherungen, wie das Institut des Boten, die Fülle von Textarten in einer Gesellschaft, wie schließlich das, was im alltäglichen Verständnis die „Überlieferung" heißt. 16. Die unterschiedlichen sprachlichen Formen, von denen gesprochen wurde, sind ihrerseits konkrete Vermittlungen von Sprache und Gesellschaft. Wenn ich hier den Ausdruck .Vermittlung' verwende, so meine ich dies in einem präzisen Sinn, nicht in dem pauschalisierenden, daß „alles irgendwie zusammenhängt". Die Präzision setzt sich um als methodische Anforderung und analytische Aufgabe, daß man nämlich die einzelnen Vermittlungsschritte tatsächlich konkret zu analysieren hat. Für diese Rekonstruktionsaufgabe wird die Kategorie der Institution' von erheblicher Bedeutung, denn sie bezieht sich auf Vermittlungen der Zweckbereiche von Sprache und Gesellschaft. Institutionen charakterisieren einen großen Teil dessen, wie wir und wo wir sprachlich handeln. Institutionen sind — mit einem Wort Althussers — „gesellschaftliche Apparate" zur Prozessierung der gesellschaftlichen Zwecke. Indem sie das sind, bilden sie selbst Vermittlungsglieder der allgemeinen Bestimmung einer Gesellschaft hin in die Konkretheit des gesellschaftlichen Handelns, d.h. des Handelns der gesellschaftlichen Interaktanten. Verschiedene Institutionen erscheinen formationsübergreifend. Diese Aussage gilt selbstverständlich nicht für die Konkretisierungen, in denen sich die formationeilen Veränderungen zum Teil recht direkt abbilden, sondern in der abstrakten Bestimmung. Der formationsübergreifende Charakter von Institutionen liegt den verschiedenen Versuchen zugrunde, Institutionen als gesellschaftliche Grundkategorien zu bestimmen. Die analytischen Aufgaben, die sich der Gesellschaftstheorie hier stellen, sind bisher sehr wenig angegangen worden. Die Geschichte der Institutionen ist schwieriger zu schreiben als die Analyse einzelner Gesellschaftsformationen. Sie setzt deren Analyse, systematisch gesehen, immer schon voraus. Die Adaptierung der Institutionen an die jeweiligen gesellschaftlichen Zwecke bedarf daher intensiver Forschung, um rekonstruiert zu werden. Der gleichfalls formationsübergreifende Charakter vieler sprachlicher Handlungen ist in diesem Zusammenhang eigens zu sehen und analytisch ernst zu nehmen. (Dieser Aspekt ist in Stalins Sprachschrift implizit diskutiert.) Die Analyse sprachlichen Handelns in der Gesellschaft, die die Vermittlung von Sprache und Gesellschaft zu rekonstruieren trachtet, konkretisiert sich also weiterhin als Analyse von Kommunikation in Institutionen. Dies bedeutet einerseits, die Herausbildung sprachlicher Handlungsmuster in spezifischen gesellschaftlichen Formationen zu untersuchen, wie

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andererseits ihre Adaptierung im Zusammenhang mit der Umwandlung gesellschaftlicher Prozesse an neue Zwecke. Eine ähnliche Aufgabe stellt sich für die Untersuchung des institutionellen Handelns einzelner Aktanten, indem auch hier jeweils spezifische Adaptierungsprozesse geschehen, in denen die einzelnen Mitglieder der jeweils neuen Generation sich institutionsadäquates Handeln erarbeiten. Ein Beispiel ist etwa die Frage, wie ein Kind lernt, in der Institution Schule adäquat zu kommunizieren. Dies geschieht, außer so, daß das Kind neue sprachliche Handlungsmuster erwirbt, auch so, daß es bereits früher erworbene Muster in einer neuen Weise zu gebrauchen lernt — ja, lernen muß, denn die institutionelle Inanspruchnahme dieser Muster bedeutet oft, daß sie „gegen den Zweck" verwendet, ja, daß sie zerbrochen werden. Diese eigenartige Subsumption sprachlicher Handlungsmuster unter Institutionen ergibt sich häufig aus den Widersprüchlichkeiten und der widersprüchlichen Zusammennähme von nicht kompatiblen Zwecken, wie sie für die Realität gesellschaftlichen Handelns nur allzu oft kennzeichnend ist.

C. Die Vermittlung von sprachlicher Form und sprachlicher Aktivität 17. Ist die Analyse der Vermittlung von sprachlichen und gesellschaftlichen Handlungszwecken bisher kaum geleistet, ja, auch als Aufgabe in der linguistischen Pragmatik noch kaum gesehen, so gelten ähnliche Einschränkungen auch für die Vermittlung sprachlichen Handelns und sprachlicher Formen. Das Verhältnis linguistisch-pragmatischer Kategorien und konkreter realer sprachlicher Formen ist trotz der intensiven linguistischen Bemühungen und der reichen Traditionsbestände wenig bekannt. Ein Grund dafür liegt nach meinem Verständnis in einer zu einfachen Erwartung im Blick auf dieses Verhältnis. Man erwartet nämlich nur allzu oft eine Direktheit, in der die pragmatischen Kategorien sich innerhalb sprachlicher Erscheinungen niederschlagen sollen. Die Geschichte der linguistischen Pragmatik zeigt, daß diese Disziplin immer dort erfolgreich gewesen ist, wo derartige Unmittelbarkeiten an der sprachlichen Oberfläche vermeintlich identifiziert wurden: in der performativen Formel, im Negationsverhalten für Präsuppositionen und in Verwendungseigenheiten des deiktischen Systems. Uberall dort jedoch, wo solche Unmittelbarkeiten nicht auffielen, hat man auf eine pragmatische Analyse verzichtet - so daß mittlerweile offenbar bei einer Reihe von früher in der Pragmatik führenden Vertretern dieser Disziplin der Eindruck einer Satu-

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riertheit des theoretischen Bemühens und damit wohl verbunden, eine Abkehr zu anderen Fragestellungen zu beobachten ist. Was dabei nicht gesehen wird, ist einerseits, daß auch hier systematische Vermitdungskategorien zu vermuten und analytisch anzustreben sind, ist andererseits, daß die Verhältnisse von Form und Funktion sich nur um den Preis der analytischen Blindheit gegenüber dem je anderen in Richtung auf die Verabsolutierung einer Seite simplifizieren lassen. Besonders die Verabsolutierung der formalen Aspekte von Sprache beherrschte die Linguistik des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts. Das Auffinden systematischer Vermittlungskategorien ist nun nicht in abstrakter Deduktion zu leisten, sondern nur in beständiger Wechselwirkung von analytischer Konkretion und theoretisch reflektierter Bestimmung. 18. Ein wesentlicher Aspekt dieser Vermitdung bezieht sich auf das Verhältnis von Sprechhandlung einerseits und Einheiten, die kleiner sind als Sprechhandlungen, andererseits. Dabei ist der Ausdruck .kleiner' eine unzureichende alltagssprachliche Bestimmung. Diese Einheiten gehen vielmehr in jeweils spezifischer Weise in Sprechhandlungen ein, die es im einzelnen zu bestimmen gilt. In der Bestimmung von illokutivem Akt, propositionalem Akt und Äußerungsakt hat Searle meines Erachtens eine glückliche Einteilung vorgenommen, die analytisch relativ weit trägt. Allerdings verschenkt er einen wesentlichen Teil der Einsicht wieder, indem er den Ausdruck ,act' gleichförmig auf alle von ihm beschriebenen Arten sprachlicher Tätigkeit überträgt. Meines Erachtens kommt es gerade darauf an, die jeweilige Spezifik unterschiedlicher Typen von Tätigkeiten herauszuarbeiten. Akte unterscheiden sich von Handlungen. Sprechhandlungen kommen z.B. als solche isoliert vor, Akte nicht. Sie sind von vornherein im allgemeinen abstrakte Größen, und erst das raumzeitlich zusammenfallende Realisieren des illokutiven, des propositionalen und des Äußerungsaktes ist die Realisierung dessen, was eine Sprechhandlung ausmacht und was sie als solche in der Kommunikation erkennbar werden läßt. (Selbstverständlich gibt es auch hier, wie häufig, „Ausnahmen", etwa das Rentieren ohne Sinn und Verstand, in dem lediglich noch der Äußerungsakt präsent — und dann auch als isolierter an der Oberfläche des sprachlichen Handelns sichtbar ist. Im übrigen sind solche „Ausnahmen" mit diesem Ausdruck nicht wirklich analytisch gekennzeichnet: vielmehr handelt es sich hierbei um abgeleitete Fälle, deren Ableitungszusammenhang im einzelnen angegeben werden kann.)

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19. Während über die eben genannten Akte relativ viel bekannt ist, ist kaum etwas bekannt über Einheiten, die - systematisch gesehen — darunter liegen. Ich nenne solche Einheiten ,Prozeduren'. In diesen Einheiten wird, so meine ich, die Verbindung zu traditionell analysierten sprachlichen Formen deutlicher. Exemplarisch für die pragmatische Analyse einer solchen Prozedur sind die Bestimmungen der deiktischen Prozedur. Ich knüpfe hier an den Bühlerschen Bestimmungen zur Feldcharakteristik sprachlicher Ausdrücke an. Bühler hat bekanntlich vom „Symbolfeld" ein „Zeigfeld" systematisch unterschieden. Diese Unterscheidung ist sicher eines der größten Verdienste seiner „Sprachtheorie". Bühlers Analyse ist jedoch mit einer schwerwiegenden Unentschiedenheit belastet: während er faktisch eine handlungszentrierte Analyse initiiert — und für die Entfaltung seines Gedankens benötigt - , bleibt er weithin zeichenzentriert. Erst wenn man die von Bühler thematisierten Bereiche konsequent und in systematischer Weise auf das sprachliche Handeln bezieht, wird deutlich, daß diesen Feldcharakteristiken ganz unterschiedliche Typen von Prozeduren entsprechen, die deiktische Prozedur einerseits, die bezeichnende Prozedur andererseits. (Aus Raumgründen kann eine inhaltliche Kennzeichnung der Prozeduren hier leider nicht erfolgen. Ich verweise dafür auf Ehlich (1979) sowie auf Ehlich (2007, Bd. 2).) Neben diesen beiden Feldern, so hat sich herausgestellt, gibt es mindestens ein weiteres Feld, das Lenkfeld. Es ist bezogen auf die expeditive Prozedur. Diesem Feld gehören vor allem eine Gruppe von im wörtlichen Sinn „kleinen", wenn auch keineswegs unwichtigen Ausdrücken an, die traditionelle Randbereiche der grammatischen Analyse darstellen, nämlich die sogenannten Interjektionen. Eine genauere Untersuchung erweist zudem, daß weitere Randbereiche, die jeder traditionellen Grammatik große Einordnungsmühen gemacht und ihnen gegenüber sich letztlich resistent erwiesen haben, ihren systematischen Ort im Lenkfeld haben, nämlich der Imperativ und der Vokativ. Die sprachlichen Realisierungen der Ausdrucksmittel, die den verschiedenen Feldern zugehören und in den jeweiligen Prozeduren zur Erreichung spezifischer Zwecke eingesetzt werden, sind in jeder Einzelsprache spezifisch und können in eigenen Einheiten, in Morphemen, in Positionsvariationen (z.B. Satzformen unterschiedlichen Typs) und auf andere Weise realisiert sein. Tabelle 1 zeigt solche Verteilungen für das Deutsche. Zu den anderen Formen gehören solche, die traditionell der „Intonation im weiteren Sinn" und der nonverbalen Kommunikation zugerechnet werden. Beim Lenkfeld gibt es zudem aktionale Alternativen.

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Tabelle 1 Prozedur

Feld

Realisierungs formen Ein-

Mor-

Into-

Satz-

heiten/

pheme

nation

form

Einzel-

NVK

Aktion

i.w.S.

wörter X

expressiv

Malfeld

expedi tiv

Lenkfeld

X

X

deiktisch

Zeigfeld

X

X

nennend

Symbolfeld

X

operativ

Operationsfeld

X

X

X X X

Die genannte Zahl von bisher drei Feldern ist nicht vollständig. Zwei weitere Felder sind mindestens zu unterscheiden, das Operationsfeld und das Malfeld. Für das Malfeld verwendet das Deutsche fast nur intonatorische Ausdrucksmittel, aber z.B. afrikanische Sprachen zeigen hier durchaus auch einzelne Wörter eines Lexikons, für das es im Deutschen keinerlei Entsprechung gibt. Die Prozeduren, für die das Malfeld die Ausdrucksmittel zur Verfügung stellt, sind expressive Prozeduren. Das Operationsfeld unterscheidet sich von den anderen in charakteristischer Weise, indem es hier um die Verarbeitung, die Prozessierung des sprachlichen Geschehens selbst geht, und zwar nicht im Sinne der interaktionalen Minimalerfordernisse, die oben (§ 8) mit einfacher Kooperation bezeichnet wurden, sondern stärker im Blick auf die propositionale Dimension. Die Prozedur, deren Ausdrucksmittel im Operationsfeld bereitgestellt wird, trägt deshalb auch denselben Namen wie das Feld: es ist die operative Prozedur. Operative Prozeduren sind z.B. die Determination und die phorischen Prozeduren. (Eine exemplarische Untersuchung zur operativen Qualität von Konjunktionen bietet Redder 1990.) 20. Die verschiedenen Prozeduren bedeuten für die verschiedenen Sprecher-Hörer-Interaktionen jeweils spezifische mentale Tätigkeiten der involvierten Interaktanten. So leistet der Sprecher mittels der deiktischen Prozedur die Steuerung des Aufmerksamkeitsapparates seines Hörers: mit Hilfe von Interjektionen interferiert der Sprecher unmittelbar in den Handlungsabläufen des Hörers, mit operativen Prozeduren hingegen trägt er dazu bei, daß der Hörer etwa die angebotene Information adäquat verarbeiten und ihm bereits verfügbare Informationen mit in die Interaktion einbeziehen kann. Diese mentalen Tätigkeiten in ihren unterschiedlichen Ausprägungen bedürfen einer eigenen Analyse. In ihrer Entfaltung dürfte es möglich werden, auch den Fragmenten mentaler Erscheinungen, die

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sich psychologischer oder linguistischer Beliebtheit erfreuen, wie etwa der „Intention", Rechnung zu tragen, d.h., ihren jeweils spezifischen (in der Linguistik und Psychologie hingegen zum Teil weit überzogenen) Stellenwert zu bestimmen. Eine solche Untersuchung reicht in den Bereich einer Theorie des Wissens hinein, die unter anderem das Sprachwissen zu verstehen hätte. Durch die Detailuntersuchung einzelner operativer Prozeduren und ihres Wechselspiels z.B. mit komplexeren Formen der deiktischen Prozedur, aber auch durch eine neue Analyse der Funktionen von Symbolfeldausdrücken wird es zugleich möglich, etwas über die Wissensorganisation und den Wissenseinsatz herauszufinden und, so vermute ich, für eine sprachbezogenere Form der Logik, als es die gegenwärtige darstellt, sowie für einen neuen Typ von Lexikologie Grundlagen zu erarbeiten, die sich nicht in den obsoleten und willkürlichen Scheidungen von „enzyklopädischem" und Regelwissen verliert. (Zu diesen Phänomenen finden sich wichtige Bestimmungen insbesondere in Rehbein 1977.) 21. Ein weiterer wichtiger Vermittlungsschritt zur Realität der konkreten sprachlichen Oberflächen bezieht sich auf Realisierungsmodalitäten des sprachlichen Handelns, zu denen etwa die Arsenale der Höflichkeit ebenso gehören wie die Stilkennzeichen eines Autors, einer Textart oder einer Epoche.

D. Zur allgemeinen und speziellen Methodologie 22. Die allgemeine Methodologie findet ihre hauptsächliche Bestimmung in der Erfassung der zentralen Aufgabe von Wissenschaft. Diese ist die Rekonstruktion des Konkreten im Begriff. Alle drei Ausdrücke, Rekonstruktion', ,Konkretes' und ,Begriff, sind hierbei im strengen, terminologischen und das heißt im theoretisch entwickelten Sinn zu verstehen. Eine solche Rekonstruktion ist nur möglich, wenn die Vermittlungen im einzelnen aufgewiesen werden. Rekonstruktion des Konkreten im Begriff meint also weder die Repetition, die Verdopplung des Konkreten in einer Begrifflichkeit, noch bedeutet es eine unmittelbare Abbildung des Konkreten in der Weise von Labeling-Systemen, „Kategorisierungsverfahren" usw. Die Sprechhandlung erweist sich in der rekonstruktiven Mühe des Begriffs selbst als eine Vermittlungskategorie, in der sich individuelles als gesellschaftliches Handeln konkretisiert.

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Die einzelne sprachliche Handlung ist nicht in ihrer Isolation zu erfassen, und zwar weder gegenüber den sie begleitenden Handlungen noch gegenüber den komplexen mentalen Tätigkeiten, die ihr vorausliegen, in sie eingehen und ihr folgen, und zwar bei Sprecher und Hörer. Selbstverständlich ist ein solches Verständnis der linguistischen Aufgabe nicht gerade dazu angetan, die analytische Tätigkeit als eine einfache zu kennzeichnen oder auch nur erscheinen zu lassen. Ich meine aber, daß es kaum eine angemessene Antwort auf Schwierigkeiten ist, durch Deklarationen zur Methode und Manipulationen am Objekt so zu tun, als lägen die Dinge wesentlich einfacher, als sie sind. Die funktionale Pragmatik kommt also nicht umhin, sich sowohl als Sprachsoziologie und Sprachpsychologie wie als Sprachanalyse zu verstehen. Sie ist auf Interdisziplinarität angewiesen. 23. Eine Reihe allgemeiner methodologischer Gesichtspunkte wurde bereits oben erwähnt, insbesondere die Unterscheidung von Tiefenstruktur und Oberfläche. Zu ihnen gehört auch die systematische Scheidung der verschiedenen Determinanten einzelner Handlungen als Konkretisierung der allgemeinen Kategorien sowie die Unterscheidung zwischen Basisfallen und abgeleiteten Fällen. Insbesondere die Mißachtung dieses Unterschiedes hat in der Linguistik der letzten drei Jahrzehnte zu merkwürdigen Argumentationsstrukturen geführt, die, am Paradigma der Mathematik orientiert und es auf einen völlig andersartigen Phänomenbereich übertragend, unterstellten, daß auch in der Linguistik über beliebige Beispiele die Falsifikation von Theorien geleistet werden kann. Ein solches Verfahren verkennt weithin, daß die besonderen, ja einzelnen Beispiele gerade nicht als Falsifikationsmittel, sondern als Rekonstruktionsaufgabe interessant wären, nämlich in dem Sinne, daß es zu verstehen gilt, warum das Beispiel möglich ist. Dieses Verständnis bedeutet, sofern es theoretisch entwickelt wird, die Angabe der Ableitungsschritte aus den allgemeineren Fällen. 24. Aufgrund des praktizierten Solipsismus, der vieler linguistischer Methodologie zugrunde liegt, ist das Grundmodell linguistischer Analyse insbesondere in der Pragmatik noch immer die Robinsonade. Obwohl dieses Modell theoretisch längst obsolet ist, entspricht es offenbar vielfaltigen Bedürfnissen, die wahrscheinlich nur zu Teilen solche wissenschaftlicher Traditionen sind. Durch die vorausgesetzte Einzelheit des individuellen Handelns ist es kaum möglich, auch nur die Aufgabe für dessen analytische Thematisierung, soweit diese sinnvoll ist, zu erfassen, geschweige denn sie anzugehen.

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25. Zur speziellen Methodologie muß ich mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Eine funktional-pragmatische Kommunikationsanalyse ist notwendig empirisch, d.h. sie läßt sich in einer systematischen Weise auf die Konkretionen, die an der Oberfläche des sprachlichen Handelns erscheinen, wirklich ein. Zugleich ist sie reflektiert, d.h. sie gibt sich nicht dem Anschein hin, die Empirie rede sozusagen allein und für sich selbst, sondern sie analysiert die Kategorien, die sie immer schon — als alltägliche dem Analytiker mit den anderen Sprechern einer Sprache gemeinsame; als alltagswissenschaftliche und als wissenschaftliche — ins Spiel bringt, bewußt und prüft sie auf ihre analytische Leistungsfähigkeit. In bezug auf die gängigen Dichotomien bedeutet dies, daß unterschiedliche Methoden in eine kritische Interaktion gebracht werden können. Insbesondere ist das Verhältnis von Introspektion und Empirie als Verhältnis einer konkreten „Hermeneutik" zu bestimmen. Die Aufnahme realer Kommunikationen ebenso wie spezifische Formen von Experimenten werden über Prozesse der Transkription und daran sich anschließender systematischer Analysen in diesen Prozeß einbezogen. 26. In diesem Wechselprozeß konkretisiert sich die Weiterentwicklung der Kategorien selbst. Ein wesentliches Medium dafür ist die Kritik, die als ein produktives Mittel verstanden wird, die Grenzen der Kategorien, die überkommen sind, im einzelnen herauszufinden und damit zugleich deren Leistungsfähigkeit im analytischen Prozeß zu bestimmen. Gegenüber dem Umschlag der Arbeitsteilung in der Wissenschaft in einen Agnostizismus hinsichtlich der Objekte und gegenüber der jeweiligen modischen Etablierung arbiträrer Kategorialentscheidungen zu „Theoriemodellen" oder „Theorien" ist die kritische Einbeziehung der geschichtlichen Kategorien so möglich. Ihre Historizität wird darin als forschungsrelevant angesehen und ernstgenommen, und zwar nicht im Sinne eines historischen Archivarismus, sondern mit beständigem Blick auf das, was präsuppositiv in aller wissenschaftlichen Praxis immer schon enthalten ist.

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Funktionale Pragmatik — Terme, Themen und Methoden* Jochen Rekbein sexagenario

1. Pragmatische Wende/pragmatische Addition Das Stichwort „Pragmatik" ist heute in der Linguistik, so darf man ohne Übertreibung sagen, weltweit bekannt. Allerdings verbergen sich unter und hinter diesem Stichwort sehr unterschiedliche Einzelheiten, sehr unterschiedliche Herangehensweisen und eine ganze Reihe von Konzepten (vgl. Art. „Pragmatik" in Glück 1993). Manches von dem, was heute unter dem Stichwort „Pragmatik" behandelt wird, hatte von seiner Entstehung her diesen Bezug zur Pragmatik zunächst überhaupt nicht. „Pragmatik" ist zu einem diffusen Sammelausdruck geworden. Dies kann man besonders deutlich an der englischen bzw. angloamerikanischen „speech act theory" sehen, die die Beziehung zur Pragmatik sehr lange nicht hergestellt hatte. Inzwischen hat sich dies auch für die Vertreter dieser Theorie einigermaßen verändert. Gleichwohl, gerade an dieser bedeutenden Facette dessen, was heute Pragmatik heißt, läßt sich erkennen: „Pragmatik" wurde zu einer Art Schirm über sehr unterschiedlichen Herangehensweisen an sprachliche Phänomene. Diese Phänomene haben freilich eines gemeinsam: Sie wurden von der traditionellen Sprachwissenschaft weitgehend außer acht gelassen. Sie wurden zum Teil sozusagen geradezu methodologisch weggeschnitten — eine Bewegung, die wir in der Geschichte der Linguistik des 20. Jahrhunderts sehr deutlich mehrfach beobachten können. Eine erste solche und sehr zentrale Ruptur war das Verfahren von de Saussure, der das Objekt der Sprachwissenschaft ganz entschlossen von der Breite des „langage" (der Sprache und des Sprachvermögens im umfassenden Sinn) auf ein letztendlich intramentales Geschehen reduzierte, nämlich ein System von Zeichen und Werten, jene bekannte „langue", die für ihn die einzige Möglichkeit zu ergeben schien, wissenschaftsmethodologisch sauber eine Sprachwissenschaft überhaupt betreiben zu können.

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Diese Reduktionsprozesse haben eine Reihe von Gegenbewegungen ausgelöst. Es kamen andere Entwicklungen, etwa der Philosophie - so mit Charles Sanders Peirce in den USA —, dazu, die versuchten, Zeichen in ihren Verwendungszusammenhängen zu thematisieren. Allerdings ist für diese Art, Pragmatik zu betreiben, die mit den Namen Peirce und Morris verbunden ist, wiederum eines charakteristisch: Es bleibt eigentlich eine vorgängige Etablierung des Zeichenkonzeptes als der eigentlichen Basiskategorie vorausgesetzt. Diese Art der Beschäftigung mit Zeichenverwendungen und nur mit ihnen hat zur Folge gehabt, daß in der Linguistik seit den sechziger und siebziger Jahren eine Entwicklung eintrat, die am besten mit dem Stichwort der pragmatischen Addition beschrieben werden kann: Neben dem sogenannten Kernbereich der Linguistik — Grammatik, Syntax und einer Reduzierung des lexikalischen Bereiches auf eine Zeichenlehre — kamen „Verwendungsbezüge" von Sprache hinzu. Für diese bildeten sich unterschiedliche Termini aus: der „Kontext", die „Situation" und gar — im Englischen — die Kombination des „context of situation". So versuchte man, die Eingrenzungen, die vorgängig, bewußt (z.B. bei de Saussure) oder unbewußt (durch die Tradition), vorgenommen worden waren, allmählich wieder ein wenig rückgängig zu machen. Relativ selten wurde in diesem Prozeß darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeuten würde, wenn man das Stichwort „Pragmatik" (das sich ja von der griechischen Wurzel „prag"/„handeln" herleitet) ernst nähme, wenn man also tatsächlich eine Handlungstheorie von Sprache, genauer: wenn man eine Theorie des sprachlichen Handelns entwickelte. Die „pragmatische Wende" ist von ihren Anfängen her also durch eine eigenartige Ambivalenz gekennzeichnet. Die „additive Pragmatik", die sich sozusagen als eine Art verlängerte Semantik versteht, sieht sich permanent mit der Tendenz konfrontiert, daß, je weiter die semantischen Strukturen ausgearbeitet werden, sozusagen der „Kompensationsbereich Pragmatik" immer kleiner wird; daß immer mehr aus der Pragmatik in die Semantik gleichsam „zurückgeholt" wird. Das läßt sich an einer Reihe von Arbeiten in den siebziger und achtziger Jahren sehr deutlich beobachten. Dieser „additiven Pragmatik" stehen Versuche gegenüber, eine „pragmatische Wende" tatsächlich ernsthaft zustande zu bringen. Dies bedeutet dann, —

daß man eine neue Herangehensweise an Sprache und sprachliches Handeln insgesamt versucht;

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daß man die Handlung in den Mittelpunkt stellt und diese Handlung in das kommunikative Handeln insgesamt einzuordnen versucht; daß man zugleich versucht, von einer solchen Herangehensweise aus zu bestimmen, was eigentlich Sprache sei.

Eine Pragmatik in diesem ihr eigenen und eigentlichen Sinn betrifft also gerade auch das sprachliche System selbst und die vielfaltigen Weisen, in denen Menschen sich seiner bedienen, indem sie miteinander kommunizieren.

2. Pragmatik als funktionale Sprachanalyse Auf eine solche handlungstheoretische Weise analysiert, wird Sprache konsequent als etwas Funktionales behandelt. Dies bedeutet: Sprache wird behandelt als etwas, in dessen Mittelpunkt Zwecke entstehen. Die Kategorie Zweck hat in den letzten hundert Jahren eine schwierige Geschichte gehabt, in der sie philosophisch zunehmend diskreditiert wurde, etwa (und nicht zuletzt) bei Nietzsche, aber auch bei anderen Denkern (so etwaLuhmann). Die „Dekonstruktion" dieser Kritikgeschichte steht an. Wenn man es mit sprachlichem Handeln zu tun hat, erreicht man gerade — und erst — in der Kategorie des Zweckes die spezifische Differenz zu tierischem Verhalten (obwohl es auch in der Sprachanalyse an Bemühungen nicht gefehlt hat oder fehlt, sozusagen gerade die Handlungsspezifik des menschlichen Handelns zu eliminieren und es im wesentlichen und nur als „linguistic behavior", als bloßes sprachliches Verhalten zu analysieren). Funktionale Sprachanalyse versteht sich — bei aller Ambivalenz des Ausdrucks „Funktion" — also als eine Sprachanalyse, in der die Zwecke der Handelnden die zentrale Kategorie bilden, und zwar nicht die Zwecke der vereinzelten Handelnden, sondern die Zwecke der Handelnden in ihrer kommunikativen Gemeinschaft, d.h. also in einem Ensemble von Interaktanten. Diese Interpretation des Zweckes als einer gesellschaftlichen Größe führt dazu, daß die individuellen Ziele von diesen Zwecken differenziert werden können. In vielen Analysen werden die beiden Kategorien „Zweck" und „Ziel" sehr stark übereinander geblendet, so daß dann Zweckanalyse nur als Zielanalyse geschieht. Damit wird aber die Gesellschaftlichkeit und zugleich der Ressourcencharakter des sprachlichen Handelns verfehlt. Die sprachlichen Zwecke realisieren sich als gesellschaftliche Größen, als das Ergebnis von konkreter und zugleich massenhafter Interaktion (vgl. Rehbein 1977). Sie resultieren in unterschiedlichen Mustern und Arten, auf die die gesellschaftlichen Aktanten zurückgreifen können, die sie fort-

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schreiben und fortentwickeln: in den Handlungsmustern, den Diskursarten und den Textarten. Am meisten wurde zu den Handlungsmustern gearbeitet (vgl. z.B. Ehlich/Rehbein 1979,1986; Rehbein 1972; Bührig 1996). Weniger wurde hingegen zu Diskurs und Text gearbeitet (eine Aussage, die möglicherweise etwas erstaunt; schließlich gibt es ja seit kurzem Textgrammatiken wie die von Weinrich. Es stellt sich hier aber jeweils die Frage, in welchem Sinne in diesen Zusammenhängen der Ausdruck „Text" verstanden wird, vgl. gleich § 3).

3. Grundkategorien Fragen wir uns etwas genauer nach der Struktur der beteiligten Kategorien (vgl. hierzu und weiter die Einträge des Verfassers in Glück 1993). Die Sprechhandlung in der klassischen Analyse zeigt eine ziemlich deutlich strukturierte Differenzierung dreier Typen von Akten unterschiedlicher Art, aus denen sie sich zusammensetzt: die illokutiven Akte, die propositionalen Akte und die Außerungsakte. Es scheint mir wichtig zu sein, von dieser Kategorie der Sprechhandlung einen systematischen Schritt weiter zu gehen zu einer eigens entwickelten Kategorie, der des Diskurses, und von dort wiederum zu einer gleichfalls systematisch entwickelten Kategorie Text. In der Literatur findet sich hinsichtlich der Verwendung dieser beiden Ausdrücke „Text" und „Diskurs" eine, gelinde gesagt, ziemliche Verwirrung. Häufig zeigt sich z.B., daß „Text" unisono für alle Äußerungen schlechthin steht — oder, umgekehrt, daß „Diskurs" für alles sprachliche Handeln und seine Ergebnisse gebraucht wird. (Bei einem der ersten Propagandisten der Textlinguistik, dem Niederländer Teun van Dijk, findet sich gar einmal, im Niederländischen, „tekst", im Amerikanischen „discourse".) Zusammenfassend ließe sich vielleicht sagen, daß hier eine Art expansiver Verwendung des Ausdrucks „Text" vorliegt, so etwa in der Textgrammatik Harald Weinrichs (1993), in der unter Text auf eine Weise jede Äußerung verstanden wird. Dieselbe Verwendungsweise zeigt sich auch in bezug auf den Ausdruck „Diskurs", besonders in der französischen Tradition, deren Konzept von „discours" mit dem eigentlich linguistischen nur schwer vermittelbar ist. Mir scheint es demgegenüber sinnvoll zu sein, deutlich zu differenzieren (vgl. Ehlich 1983, 1984, 1994; Graefen 1997; Redder 2000 zu „Text") und klare Bestimmungen von dem, was Diskurse und was Texte sind, zu geben. Hier kann dies selbstverständlich nicht entwickelt werden, aber die Richtung für eine solche Analyse läßt sich andeuten.

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Diskurse sind an die Mündlichkeit und an die konkrete Kopräsenz von Interaktanten in einem gemeinsamen Wahrnehmungsraum gebunden. Dies macht sich u.U. auch unmittelbar bemerkbar in bezug auf Teilbereiche des sprachlichen Systems, besonders für die Deixis und ihre kommunikative Verwendung (vgl. weiter § 6). Texte sind demgegenüber Ergebnisse ganz spezifischer Handlungserfordernisse, nämlich solcher der Überlieferung. Texte können mündlich, sie können auch schriftlich sein. Sie haben nach meiner Auffassung eines gemeinsam. Sie dienen dazu, das in sich flüchtige sprachliche Handeln dauerhaft zu machen, es zu verdauern, d.h., über die Flüchtigkeit der konkreten Sprechhandlung, gebunden an den Äußerungsakt, hinauszukommen. Wir finden dafür eine Reihe von gesellschaftlichen Lösungen wie z.B. die Schrift. Die Schrift ist sicherlich die bedeutendste unter ihnen, die in der Geschichte der Menschheit entwickelt worden ist, offenbar unabhängig voneinander in drei verschiedenen Kulturkreisen. Aber wir tun — glaube ich - gut daran, Texte auch als mündliche ernstzunehmen, z.B. in vorschriftlichen Gesellschaften (wie sie die Ethnologie analysiert), wo sich unter dem Aspekt der Verdauerung sprachlichen Handelns durchaus angemessene Lösungsformen für die Zwecke der Überlieferung finden (vgl. weiter § 7).

4. Handlungsmuster Der Zweck des sprachlichen Handlungsmusters ist in der Kategorie des illokutiven Aktes erfaßt. Darin wird die Handlungsqualität spezifisch benannt, also etwa die Handlungsqualität des Versprechens oder der Warnung oder der Inaussichtstellung, der Verheißung, — oder auch, als eine unter diesen konkreten illokutiven Strukturen, die Handlungsqualität der Assertion·, ein für unsere Aufmerksamkeit sicherlich besonders prominentes Beispiel eines solchen spezifischen sprachlichen Handlungsmusters. Was bedeutet es nun konkret, wenn wir fragen: Was ist der Zweck eines solchen Handlungsmusters? Der zentrale analytische Punkt ist dabei der Versuch zu rekonstruieren, was für eine spezifische Ressource für die Interaktion zwischen einem Sprecher und einem Hörer oder mehreren Sprechern und mehreren Hörern darin vorliegt. Dies stellt sich für die verschiedenen illokutiven Typen sehr unterschiedlich dar. Insgesamt haben wir es in den Sprachen, mit denen wir uns üblicherweise befassen, mit einer Vielzahl, wahrscheinlich mit mehreren Tausend solcher sprachlichen Handlungsmuster zu tun. Versucht man, dies in bezug auf das Deutsche etwas genauer zu spezifizieren, indem man die bekannte Liste der deut-

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sehen Verben von Mater (1966) zugrunde legt, so stößt man unschwer auf ungefähr 8000 Verben, die auf die eine oder andere Weise mit der Bezeichnung von sprachlichem Handeln zu tun haben, die Hälfte dabei im engeren Sinne auch illokutiv. Dabei muß man sich freilich vor der Illusion hüten, es liege, wenn man einen sprachlichen Ausdruck hat, auch schon ein Handlungsmuster vor. Umgekehrt muß das „Fehlen" eines Ausdrucks nicht bedeuten, daß auch das sprachliche Handlungsmuster nicht besteht. Vielmehr zeigt sich hier ein sehr differenziertes Verhältnis. Offenbar gibt es auch in relativ nahe verwandten Kulturen sehr unterschiedliche derartige sprachliche Handlungsmuster bzw. Handlungsressourcen — und Bezeichnungen dafür. Ein Beispiel dafür ist etwa, daß es im Deutschen das Handlungsmuster begründen gibt. Es wird durch den Ausdruck .Begründen' bezeichnet (vgl. Ehlich/Rehbein 1986). Für diesen Ausdruck fehlen Entsprechungen in einer ganzen Reihe von benachbarten Sprachen. Bedeutet dies, daß dort auch die Handlungsressource nicht in gleicher Weise besteht? Solcher Differenzierungen bedarf es umso mehr, wenn man versucht, die Fragestellung historisch auszuweiten, also eine historische Pragmatik, zu betreiben. Sie hätte eine Reihe interessanter Aufgaben wie — um nur ein Beispiel zu nennen — die, die Transformation des sprachlichen Handlungsmusters Versprechen in das heute so außerordentlich prominente des Vertrages zu analysieren.

5. Prozeduren Wendet man den Blick von den größeren sprachlichen Einheiten, den sprachlichen Handlungen und den sie konstituierenden Akten, weg auf feinere sprachliche Strukturen, so findet sich in einem systematischen Sinne „unterhalb" der Akte eine weitere Kategorie, die Prozeduren (vgl. Ehlich 1979, 1982, 1992; Graefen 1997; Liedke 1994; Rasoloson 1994; Redder 1990; 2000; Rehbein 1979,1995a). Die Analyse der Prozeduren geht auf eine systematische Unterscheidung zurück, die von Bühler (1934) eingeführt wurde, nämlich die zwischen einem Symbolfeld und einem Zeigfeld der Sprache. Auch bei der Analyse der Prozeduren kommt es nach meinen Verständnis entscheidend darauf an, herauszufinden, was der jeweilige spezifische Zweck dieser sprachlichen Handlungsmittel ist, die Bühler zunächst einmal als Symbolfeld-Ausdrücke und Zeigfeld-Ausdrücke zusammengefaßt hat. Am Beispiel der

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Deixis und der deiktischen Ausdrücke wurde eine solche Analyse besonders intensiv vorangetrieben (vgl. Ehlich 1979, 1982, 1992; Redder 2000; Rehbein 1995b). Es läßt sich rekonstruieren, was die Leistung der Verwendung derartiger Ausdrücke in der Interaktion ist: die gemeinsame, synchrone Organisation der Aufmerksamkeit von Sprechern und Hörern innerhalb eines für beide gemeinsamen Wahmehmungsraumes. In der Nutzung einer deiktischen Prozedur wird also für die konkrete Interaktion etwa sehr Wichtiges geleistet, ohne das Verständigung und Verstehen kaum möglich wären. Verfolgt man die Bühlersche Trennung zwischen Zeigfeld und Symbolfeld weiter, um herauszufinden, ob damit die Gesamtheit der sprachlichen Mittel erfaßt werden kann, so ergibt sich, wenn man die Funktionalität der sprachlichen Ausdrucksklassen für das sprachliche Handeln im Blick hat, die Notwendigkeit, weitere solche Felder und dazugehörige Prozeduren zu unterscheiden. Zunächst findet sich ein Bereich, der am besten als operatives Feld bezeichnet werden kann, ein Feld, für das die interaktionale Bearbeitung von Sprache selbst zentral steht (vgl. Eissenhauer 1999; Grießhaber 1999; Melián 1997; Redder 1990; Rehbein 1979). Hierzu gehört z.B. das System der Artikel in solchen Sprachen, die einen Artikel haben, im Deutschen etwa, dem Englischen, dem Spanischen. Andere Sprachen weisen ganz andere Verteilungen auf, indem sie zum Teil gar nichts Entsprechendes haben, zum Teil schon, aber in ganz anderen sprachlichen Strukturen (so wird eine Parallelität zwischen slawischen Aspekten am Verb und dem Artikel vermutet). Interessanterweise scheint dies sprachfamilienunabhängig zu sein. So verfügen das Russische oder das Lateinische nicht über ein Artikelsystem; trotzdem „funktionieren" sie kommunikativ offenbar in ähnlicher Weise wie die Sprachen Deutsch oder Griechisch, die ein Artikelsystem haben. Es ist ganz offensichtlich sehr spannend, herauszufinden, wie sich das zueinander verhält, und diese Frage hat zugleich eine zentrale Bedeutung für die Vermittlung der entsprechenden Sprachen. Für die Lernenden, die aus einem Nicht-Artikelsystem zu einem Artikelsystem wechseln, ist es eine sehr wichtige Aufgabe, sich ein Bewußtsein davon zu schaffen, wann interaktiv die Markierung als „bekannt" oder „nicht bekannt" erforderlich ist und wann nicht. Das operative Feld ist in sich sehr differenziert. Ein sehr viel spezifischeres Feld ist das ~Lenkfeld (vgl. Ehlich 1986; Liedke 1994; Rasoloson 1994; Redder 1994). Es wird so genannt, weil der Sprecher durch Vermitt-

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lung der dort lokalisierten Ausdrucksmittel direkt lenkend in die Aktivitäten seines Kommunikationspartners eingreift. Es ist dies der Ort der vielgeschmähten, ja in vielen Grammatiken überhaupt nicht einmal behandelten Interjektionen·, es ist aber auch der Ort der Imperative und der Vokative — alle, wie aus den grammatischen Behandlungen bekannt, Randsiedler in der grammatischen Analyse. Zum Teil, bei den Interjektionen, wurde derartigen sprachlichen Einheiten sogar ihre Sprachlichkeit insgesamt aberkannt, und sie wurden aus dem System der Sprache eliminiert. (Schon die Entstehung der Kategorie der Interjektion hat ja ihre besondere Pikanterie. Böse Zungen vermuteten bereits bei den Lateinern - die Griechen hatten die Kategorie der Interjektionen nicht —, daß diese Wortart eigentlich erfunden worden sei, weil man etwas zu kompensieren hatte. Man wußte zwar einerseits: „partes orationis sunt octo", „acht Redeteile gibt es", beim Zählen der im Lateinischen vorhandenen aber kam man leider nur auf sieben: Es fehlte der Artikel. Die Lösung sei gewesen, eine Unterklasse der Adverbien zur eigenen Wortart zu erheben; als Namen fand man den Ausdruck „interiectio" — „das Dazwischengeworfene".) Gleichfalls eine recht spezifische Klasse bilden die Ausdrücke des Malfeldes (der Ausdruck des Malens für diesen Zusammenhang stammt von Wilhelm von Humboldt) (vgl. Redder 1994). Hier handelt es sich um etwas, was in europäischen Sprachen wenig realisiert, aber nach Auskunft von Afrikanisten in den afrikanischen Sprachen stark lexikalisiert ist. Ausdrucksweisen, die sich für das Malfeld im Deutschen finden, nutzen vor allen Dingen den paralinguistischen Bereich, die Intonation im weiteren Sinn. Malende Prozeduren dienen dazu, eine Gleichgestimmtheit zwischen Sprecher und Hörer zu erreichen. Zwischen diesen verschiedenen Prozeduren und den dazugehörigen Feldern ergeben sich charakteristische Beziehungen (vgl. die Tabelle 1 in Ehlich 1991). Die traditionellen Wortarten verteilen sich charakteristisch auf die Felder — kaum je in der Form einer Eins-zu-eins-Beziehung, aber doch mit deutlichen Schwerpunkten. Vor allem aber ergeben sich neue, präzisere Zuordnungen und dadurch genauere Einsichten in die funktionale Struktur der einzelnen sprachlichen Einheiten und ihrer Kombinationen. So wird etwa deutlich, daß die Wortart „Pronomen" gerade charakteristische Unterschiede zwischen den einzelnen Subklassen zudeckt, sie analytisch sozusagen zum Verschwinden bringt: Die „ich"-Deixis und die „er"/„sie"/„es"-Anapher leisten etwas je anderes für die Interaktion von Sprecher und Hörer. Erst die prozedurale Analyse macht diese Unterschiede erkennbar - und trägt so dazu bei, das sprachliche Handeln nicht nur nach seinen allgemeinen Zwecken, sondern auch im Detail der

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sprachlichen Formen und ihrer Verwendung zu verstehen. Eine handlungstheoretische Rekonstruktion wirkt sich mithin auch auf die Kategorisierung aus — und auf das nähere Verständnis der Kategorien, die aus der Antike auf uns gekommen sind und die wir ja zum Teil mit viel Nutzen weiter verwenden. Es gibt offensichtlich einzelsprachlich-charakteristische Verteilungen der sprachlichen Ausdrucksmittel auf die verschiedenen Felder. Das Ergebnis sind unterschiedliche Sprachstrukturtypen, etwa in der Nutzung von isolierten Monemen, von Morphemen und ihrer Kombinatorik oder im Einsatz von intonatorischen Mitteln für die verschiedenen Bereiche, für die es der eigenen Ausdrucksmittel bedarf.

6. Diskursmuster Diskurse realisieren sich meistens in der charakteristischen Kombination unterschiedlicher Sprechhandlungen. Auch sie erfüllen spezifische Zwekke. Sie lassen sich analytisch angehen, wenn man sozusagen die Kompatibilität und Kombinationsmöglichkeit der Zwecke der einzelnen sprachlichen Handlungsmuster untersucht. Die Diskursmuster sind genau wie die sprachlichen Handlungsmuster eine Ressource für die Interaktion. Dies ist ein m.E. sehr wichtiger Punkt. Der Erwerb einer Sprache bedeutet, daß diese Potentiale, daß diese Ressourcen konkret angeeignet werden. Der kindliche Spracherwerb ist also nicht zuletzt der Erwerb von Potentialen für die Interaktion. Es ist ein langwieriger Prozeß, bis sozusagen die ganze interaktionale Erstreckung dessen, was in einem solchen Muster, bezogen auf die zugrundeliegenden Zwecke, enthalten ist, von den Kindern auch konkret realisiert wird. Bei den Diskursmustern ist systematisch zwischen zwei Grundtypen zu differenzieren, nämlich einmal der Sprechhandlungssequen^ und zum anderen der Sprechhandlungsverkettung. Beide unterscheiden sich dadurch, daß in der Sprechhandlungssequenz der Sprecherwechsel systematisch mit dazugehört, also etwa im Diskursmuster Frage-Antwort, während in der Sprechhandlungsverkettung die Aneinanderschaltung von einzelnen sprachlichen Handlungsmustern ohne systematischen Sprecherwechsel charakteristisch ist, also z.B. beim Vortrag, einer Kette von Assertionen. Die Analyse von Diskursmustern geschieht im wesentlichen und sinnvollerweise empirisch — wie übrigens in all den Bereichen, die zuvor (§ 4ff.) zusammengefaßt wurden. Es liegt eine ganze Reihe von solchen Analysen

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vor (vgl. z.B. Becker-Mrotzek 1999; Brünner 1987, 1994; Brünner/ Becker-Mrotzek 1996; Ehlich 1981, 1997; Ehlich/Rehbein 1986; Grießhaber 1987; Hartog 1996; Koole/ten Thije 1994; Kügelgen 1994; Liedke 1997; Löning/Rehbein 1993; Menz 1991; Redder 1983, 1984; Rehbein 1995a, 1996b, 1997; Sauer 1994, 1998; Schlickau 1996). Gleichwohl: es ist dies ein verschwindender Teil in bezug auf die Faktizität dessen, was Diskurse und sprachliche Handlungsmuster insgesamt ausmachen. Viele dieser Diskurse sind eingebunden, sind spezifisch bezogen auf Institutionen als auf den Ort, an dem sie charakteristisch geschehen, an dem sie eingesetzt werden. Deswegen ist die institutionelle Kommunikation ein integraler Bestandteil der Gegenstände einer derartigen Analyse. Wir haben versucht, etwa in bezug auf die Kommunikation in der Schule und vergleichbaren Institutionen solche Untersuchungen vorzunehmen (Ehlich 1981; Ehlich/Rehbein 1986; Kügelgen 1994; Redder 1984; vgl. Brünner 1987 für eine andere Ausbildungsinstitution), indem Aufnahmen im Unterricht gemacht und dann diese Aufnahmen detailliert analysiert wurden. Dies geschah unter anderem mit dem etwas verblüffenden Ergebnis, daß diese Institution „Schule" offenbar in extremer Weise dadurch gekennzeichnet ist, daß die Zwecke der Institution die Zwecke der zugrundeliegenden und eingesetzten sprachlichen Handlungsmuster zum Teil geradezu zerbrechen, was für die daran Beteiligten eine ziemliche Kommunikationsproblematik mit sich bringt, insbesondere für die Schüler und Schülerinnen. Dies zeichnet sich dann auch sehr genau in den Einzelstrukturen der konkreten empirischen Daten ab. Der Unterschied zwischen dem Unterrichtsdiskurs und dem Lehr-Lern-Diskurs (vgl. Ehlich 1981) ist, so zeigt sich, ein wirklich systematischer — und ein problematischer zugleich. Andere Bereiche, die inzwischen recht gut analysiert worden sind, sind z.B. die Verwaltungsinteraktion (Becker-Mrotzek 1999; Rehbein 1997) bzw. das Rechtswesen (Hoffmann 1983; Koerfer 1994; Sauer 1994) oder betreffen die Interaktionen zwischen Ärzten, Patienten, Pflegepersonal etc. im ganzen medizinischen Bereich (Löning/Rehbein 1993; Menz 1991; Rehbein 1996b; Sauer 1994). Noch relativ wenig untersucht worden ist z.B. die Kommunikation in Institutionen der Produktion und der Distribution (dabei in bezug auf den Handel noch etwas intensiver als in bezug auf die unmittelbare Produktion; vgl. Brünner 1994; Grießhaber 1987; Rehbein 1995a); aber es liegen doch mittlerweile einige Erkenntnisse vor, die übrigens gerade für die Vergleichungen interkultureller Art eine gute Grundlage abgeben können (vgl. Ehlich 1996; Liedke/Redder/Scheiter 1999; Redder/Rehbein 1987a, 1987b; Rehbein 1985; s. auch Koerfer 1994).

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7. Text und Literatur Von einer pragmatischen Herangehensweise her ergeben sich, denke ich, auch Brücken zur Analyse von Literatur (vgl. Ehlich 1982). Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, das, was das genuine Geschäft der Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschafderinnen ist, etwa linguistisch zu „ersetzen". Vielmehr liegt die analytische Möglichkeit gerade darin, aus linguistischer Sicht die spezifischen sprachlichen Aktivitäten, die in der Interaktion zwischen dem Autor oder der Autorin und seinen oder ihren Lesern oder Leserinnen geschehen, zu rekonstruieren. Daraus ergeben sich zum Teil recht verblüffende Erkenntnisse, wenn man z.B. vergleicht, auf welche Weise Autoren wie Eichendorff und Goethe bestimmte sprachliche Strukturen in ihren Texten bei der Versprachlichung von Landschaft herstellen (vgl. Ehlich 1998b). Die Unterschiede machen sich in der Verwendung der sprachlichen Felder deutlich bemerkbar. Andererseits erweist sich eine Kategorie wie „Romantik" als recht brüchig, wenn man sie, literaturwissenschaftlich pauschal als Kategorisierung für ein europäisches Phänomen unterstellt, sprachlich im Textbereich dingfest zu machen sucht. Wäre man etwa geneigt, unter dem Stichwort „romantisch" Wordsworth mit Eichendorff sprachlich in Verbindung zu bringen, so zeigen die sprachlichen Verfahren, daß das „typisch Romantische" bei Wordsworth keine rechte sprachliche Entsprechung findet, daß vielmehr eine große Nähe seiner Prozedurenverwendungen zu denen Goethes zu beobachten ist. — Auch die Analyse einzelner literarisch eingesetzter Prozeduren verdient Beachtung (vgl. van Peer 1984; Riedner 1996; Ehlich 1998a, 1998b).

8. Zur Methode: Empirie und Reflexion Die Analyse der Funktionalen Pragmatik hat sich von Anfang an sehr stark darum bemüht, mit realen, mit tatsächlichen, „authentischen" Daten zu arbeiten. Sie läßt also Kommunikation sozusagen nicht in der Gestalt von ausgedachten und ausgewählten Beispielen präsent werden; sie geschieht auch nicht in der Einschränkung auf literarische Texte, wie das ja lange Zeit der Fall war. Vielmehr macht sie eben „im Feld", „vor Ort" entsprechende Aufnahmen. Es wurde vor einiger Zeit schon ein spezifisches Transkriptionsverfahren dafür entwickelt, HL4T (vgl. Ehlich/Rehbein 1976; Ehlich 1993b), eine Partiturschreibweise, die inzwischen eine relativ weite Verbreitung gefunden hat, auch in anderen Ansätzen.

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Diese Empirie ist äußerst heilsam. Sie fuhrt — ohne natürlich ein Allheilmittel zu sein — dazu, daß man die Fülle der sprachlichen Strukturen wirklich auch an sich heranläßt und sie nicht methodologisch wegoperiert. Allerdings kann die Empirie leicht blind werden. Man unterliegt dann der Gefahr, zu versuchen, die Wirklichkeit sozusagen in der Aufnahme zu verdoppeln. Damit wäre freilich gar nichts erreicht; was zurückbleibt, sind günstigstenfalls ein paar „Datenfriedhöfe" in den Archiven, mit denen niemand weiter etwas anfangen kann. Erfreulicherweise ist man inzwischen (gerade auch durch die Arbeit des Instituts für Deutsche Sprache oder des Bayerischen Spracharchivs) soweit, daß in der Dokumentation authentischer sprachlicher Daten der Weg zu nützlichem Handwerkszeug beschritten wird — was sich nicht zuletzt für die Lernenden wie für die Lehrenden im Zusammenhang der Vermittlung des Deutschen als fremder Sprache auswirken wird, dann nämlich, wenn authentisches Material sich wirklich einfach heranziehen läßt. Wesentlich für die Methode ist zugleich die Reflexion als ein spezifisches Verfahren, die die Empirie gegenüber dem blinden Datensammeln sensibilisiert. So hat man — und dies ist ein Charakteristikum dieser Analyseweise — eine konkrete, letztendlich hermeneutische Interaktion zwischen Hypothesenbildung, Vorwissen-Analyse der am Kommunikationsprozeß immer potentiell oder real beteiligten Forscherinnen und den konkreten Aufnahmen der kommunikativen Wirklichkeit. Dies ist ein mehrfacher Prozeß, der seine Fruchtbarkeit und seinen Nutzen gerade im Durcharbeiten entfaltet. Es hilft methodologisch wenig, wenn man sozusagen abstrakt oder in nur historischen Kategorien vorab lediglich das eigene Sprachwissen analysiert, ohne das Ergebnis dann mit der Faktizität der Kommunikation zu konfrontieren. Man nehme etwa ein so triviales Beispiel wie die Verwendung der angeblichen performativen Formel „Ich verspreche dir das", auf deren Analyse Searle seine „speech act theory" gründete — und versuche, mit dem eigenen Sprachwissen zu bestimmen, wann man diese Formel sagt und wann damit in der kommunikativen Praxis tatsächlich ein Versprechen verbunden ist. Die Probleme multiplizieren sich übrigens, sobald man Bereiche wie die nonverbale Kommunikation ernsthaft angeht, die ja gerade im Fremdsprachenkontext häufig als eine Art kommunikativer Passepartout und als letztes Refugium angesehen wird. Die nonverbale Kommunikation ist keineswegs, wie es Laien und Linguisten und Linguistinnen immer wieder unterstellen, international, und die konkrete Analyse dessen, was sich in der nonverbalen Kommunikation abspielt, erfordert, wenn es denn empirisch angegangen wird, einen nicht unerheblichen Datenaufwand.

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(Die Transkriptionserfahrung bei verbalen Daten mit mehreren Sprechern geht von einem Zeitaufwand von 60 Minuten pro Minute Datum, also einer Stunde Transkriptionszeit aus. Bei nonverbaler Kommunikation vervierfacht sich diese Zeit; pro Minute Datum sind also ca. 240 Minuten Transkriptionszeit erforderlich. Dies mag zur Illustration des zu erbringenden Aufwandes dienen. Leider ist es nicht immer leicht, den forschungsförderdenen Institutionen zu verdeutlichen, daß das so ist, warum es so ist und daß Qualität ohne solchen Aufwand nicht zu erreichen ist.) Der in der PHONAI-Reihe bei Niemeyer herausgegebene Band „Gesprochene Sprache" enthält solche Transkripte und bietet einen Teil der transkribierten Daten auf einer kleinen CD auch in hörbarer Form (Ehlich/Redder 1994).

9. Pragmatik und Fremdsprache In welcher Weise kann eine funktional-pragmatische Herangehensweise auch für die fremdsprachliche Vermittlung von Nutzen sein? Stichwortartig seien verschiedene Aspekte zusammengefaßt: Ich denke, die Frage der Authentizität stellt sich neu, sobald man auf empirische Daten zurückgreift. Ich hoffe darauf, daß in Zukunft sehr viel mehr Menschen sehr viel mehr von der Arbeit, die bereits andernorts gemacht worden ist, konkret profitieren können. Für eine kontrastive, interkulturell interessierte Diskurs- und Textanalyse können die funktional-pragmatischen Kategorien außerordentlich nützlich sein, weil man mit ihrer Hilfe sehr konkret angeben kann, wo in Sprachen Differenzen liegen, etwa im Blick auf die Muster und ihre kulturspezifischen Verteilungen. Ich denke weiter, eine Prozedurenanalyse kann dazu verhelfen, notorische Problemfelder der fremdsprachlichen Interaktion spezifischer zu benennen, zu erfassen und dann vielleicht auch dafür Kategorien zu entwikkeln, die einen frühzeitigen helfenden Eingriff gestatten (vgl. oben das Beispiel des Artikelsystems des Deutschen und die Vermittlungsproblematik für Lernende aus dem Bereich des Russischen). In der Beziehung zwischen sprachlichen Prozeduren und den sprachlichen Handlungsmustern, die in den einzelnen Sprachen zur Verfügung stehen, bietet sich eine Möglichkeit, sich konkret und realistisch auf das einzulassen, was die Lernenden von ihrer Fremdsprache letztendlich haben wollen, nämlich den Zugang zu einer neuen Handlungsressource für neue Handlungen, seien sie nun restringierter als in ihrer Primärsprache oder seien sie expansiv; seien sie z.B. konzentriert auf das Lesen oder Verste-

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Funktionale Pragmatik

hen oder seien sie so, daß man versuchen möchte, in der anderen Kommunikationsgesellschaft vollgültig interaktional mit tätig zu sein. Schließlich ergeben sich vielfältige neue Einsichten in die grammatischen Strukturen (vgl. außer den schon genannten Werken, bes. zu § 5, die Grammatik des Instituts für deutsche Sprache (bes. Hoffmann 1997); Hoffmann 1996, 1998; Matras 1996; Redder 1998; Redder/Rehbein 1998; Rehbein 1996a).

Danksagung und editorischer Bericht * Dank gilt den Veranstaltern und Teilnehmern des 26. Linguisten-Seminars der Japanischen Gesellschaft für Germanistik in Kyoto sowie Minoru Shigeto, Akio Ogawa und Shinji Watanabe für viele interessierte und interessante Gespräche und Anregungen.

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Funktionale Pragmatik

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Pragmatik (Eintrag aus dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft)

Theoretischer Ansatz, der den Handlungscharakter von Sprechen, Sprache und Sprachsystemen behandelt. Explikation: Arbeitsfeld und -methode der Linguistik, entwickelt aus der Analyse von Erscheinungen wie sprachlichen Zeigeprozeduren (,Deixis >>> > > > jiki\.n t m p Wir haben am Beispiel einer entwickelten Tonsprache, des Vietnamesischen, gesehen, wie Sprachen bestimmte Wahlen treffen aus dem Mittelbereich, um die Sprachzwecke zu realisieren (These 1); wir haben gesehen, wie die einmal getroffenen Wahlen sich als Tendenz auswirken für die Ausbildung der Sprachstruktur als ganzer, indem sie die Sprachorganisation bestimmen (These 3). Weiter hat sich gezeigt, wie verschiedene derartiger Tendenzen komplex zusammenwirken (These 4). Ich wende mich nun einem weiteren Zweckbereich zu, dem der syntaktischen Differenzierung.

4. Zweckbereich „syntaktische Differenzierung" Zwischen verschiedenen Gedanken bestehen im allgemeinen komplexe Beziehungen, die in der Verbalisierung ausgedrückt werden. So kann etwa zwischen einem Gedanken ,a' und einem Gedanken ,b' die Beziehung der Gleichzeitigkeit, der Nachzeitigkeit oder der Vorzeitigkeit bestehen. Meine Ausdrucksweise ist mißverständlich. Deshalb will ich den Hauptpunkt versuchen zu präzisieren. „Gleichzeitigkeit" usw. betrifft selbstverständlich den Inhalt des Gedankens, nicht, wann der Gedanke im Denken entsteht. Das bedeutet, daß in den meisten Fällen sich das Verhältnis des Inhalts der Gedanken auf zeitliche Relationen der Sachverhalte in der Wirklichkeit bezieht, die in dem Gedanken gefaßt sind. Auf diese Problematik kann ich hier jedoch nicht weiter eingehen. Sofern das Bedürfnis besteht, die Beziehungen, die Relationen zwischen den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, können wir von einem Zweckbereich im Sinn meiner Bestimmung sprechen. Welcher Mittelbereich steht dafür zur Verfügung? Das Mittel, das in den uns bekannten europäischen Sprachen dafür meist gewählt wird, ist die Verknüpfung von Sätzen, die die jeweiligen Gedanken ,a' und ,b' ausdrücken, mit Hilfe einer bestimmten Wortklasse, der sogenannten „Konjunktionen". Die meisten Konjunktionen, die vor einen Satz gestellt werden, machen aus diesem Satz einen „Nebensatz" oder „untergeordneten Satz". Zum Beispiel: (7)

,,Α/s Karl König war, führte er mit den Sachsen Krieg"

Durch „als" wird aus dem Satz „Karl war König" ein Satz, der dem Satz „Er führte mit den Sachsen Krieg" „untergeordnet" wird. So gewinnt er

Sprachmittel und Sprachzwecke

69

die Funktion, eine Relationsangabe vorzunehmen, und zwar zwischen zwei Sätzen, (8a) und (8b). (8a)

Karl war König.

(8b)

Karl führte mit den Sachsen Krieg.

Diese sind die Verbalisierung von zwei Gedanken — und diese sind die mentale (Auf-)fassung von zwei Ereignissen. Die Konjunktion ,als' enthält eine doppelte Anweisung an den Hörer bzw. Leser: — der folgende Satz gibt dir keine eigenständige, in sich selbst bestehende Information, sondern eine Information, die ihren Sinn erst im Zusammenhang eines anderen Satzes erhält; — der im folgenden Satz ausgedrückte Gedanke/das Ereignis, das dem im folgenden Satz ausgedrückten Gedanken zugrunde liegt — steht im Verhältnis der Gleichzeitigkeit zu dem im übergeordneten Satz ausgedrückten Gedanken bzw. zu dem Ereignis, das dem im übergeordneten Satz ausgedrückten Gedanken zugrunde liegt. In Sprachen mit einem entwickelten System von Konjunktionen ist es also eine Wortart, die dem Ausdruck dieses Zweckbereichs dient. Wenn Sprachen über eine Wortart für die syntaktische Differenzierung verfügen, können wir von einer isolierenden Darstellungsmise der syntaktischen Differencerung sprechen. Es gibt nun Sprachen, die ganz anders verfahren. Sie haben eine andere Wahl getroffen aus dem Bereich der insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel. Allerdings ist uns bei diesem Zweckbereich der Bereich der prinzipiell zur Verfügung stehenden Mittel nicht in gleicher Weise deutlich wie bei den Lauten oder den Monemen, also den ersten Beispielen. Ein viel erörterter Fall sind Sprachen, die „Nebensätze" bzw. „untergeordnete Sätze" insgesamt als Satzteile behandeln. Ein Beispiel dafür ist das Türkische, das hier seine agglutinierende Struktur bewahrt. Ich will jedoch auf diesen Typ nicht näher eingehen, sondern noch einen ganz anderen Weg zeigen, den eine Sprache für den Ausdruck des Zweckbereichs „syntaktische Differenzierung" wählen kann. Ich nehme als Beispiel eine semitische Sprache, das Althebräische. Hier finden wir Sätze wie Beispiel (9): (9)

mälak däwid

David herrschte (als König).

Beispiel (9) kann als Satz mit einer VS-(Verb-Subjekt)-Folge bestimmt werden. Daneben stehen Sätze wie Beispiel (10): (10)

däwid mäläk

70

Sprachtheorie und Pragmatik

Wörtlich übersetzt ergibt das (10'): (10')

David König

also etwas, was im Deutschen gar kein Satz wäre. Deshalb setzen wir im Deutschen die sogenannte „Kopula" ein, das Wörtchen ,ist' bzw. ,war', und erhalten (10"): (10")

David (war) König.

Für den Satztyp, zu dem Beispiel (10) gehört, ist charakteristisch, daß er nur aus nominalen Teilen besteht. Die Einfügung der Kopula geschieht also nur um des Deutschen willen, um einen in dieser Sprache verständlichen Satz zu erzielen, und hat mit dem Hebräischen nichts zu tun. Denn das hebräische Wort für ,sein'/,werden' (haya) fehlt völlig, und zwar ganz regelmäßig. Man nennt einen solchen Satztyp wie (10) „Nominalsatz". Seine syntaktische Analyse ergibt das Baumdiagramm (11), das ich für diejenigen unter Ihnen, die sich mit derlei technischen linguistischen Darstellungsmitteln auskennen, aufgenommen habe. (11)

NP

"NP

S NP Ν EN

= = = =

Satz Nominalphrase Nomen Eigenname

EN däwid

ΐ1 mäläk

Vor einem derartigen Satztyp stehen wir einigermaßen rados, denn in unserer eigenen Sprache kommt er nur selten vor — und dann offensichtlich als Verkürzung aus einem „vollständigen Satz". Beispiele sind Sprichwörter wie (12), Reklamesätze wie (13) und Schlagzeilen wie (14): (12)

Viel Feind, viel Ehr.

(13)

Bei allen Temperaturen kein Grauschleier.

(14)

Bonn in engem Kontakt mit Washington.

Nichts spricht für die Annahme, auch im Hebräischen liege eine Verkürzung vor. Vielmehr ist der Nominalsatz ein Satztyp eigener Art. Während die europäischen Grammatiker sich lange geweigert haben, den Nominalsatz zur Kenntnis zu nehmen, (weil nicht sein kann, was in den europäischen Kategorien nicht sein darf), fanden die arabischen Grammatiker des

71

Sprachmittel und Sprachzwecke

Mittelalters früh heraus, daß der „Nominalsat2" im Semitischen ein eigenes Gewicht hat. Sie betrachten ihn als syntaktischen Typ eigener Art, den sie mit anderen Kategorien beschreiben als den Verbalsatz. Die beiden konstituierenden Bestandteile des Nominalsatzes sind „das Beginnende" oder mubtada und „das Neue" (habar). Der Verbalsatz hingegen besteht ihrer — zutreffenden — Analyse zufolge aus „dem Agens" ifäF-ii) und „der Tätigkeit" ( f f t ) . Der Nominalsatz erfüllt nun ganz spezifische Verbalisierungsaufgaben. Er gibt nämlich nicht ein Ereignis in seinem Verlauf, eingebettet in eine Reihe anderer Ereignisse, wieder. Vielmehr schildert er Zustände oder besser Zuständlichkeiten. Man könnte fast sagen: der Nominalsatz dient dem Ausdruck ontologischer Aussagen. In dieser Funktion tritt er innerhalb makrosyntaktischer Gefüge auf. So dient er z.B. der Angabe eines (ontologisch-deskriptiv erfaßten) Zustandes, der andauert, während eine Ereigniskette sich abspielt, also etwa: (15) Κ

NomS

Κ

VS

VP / \ A

V

PräpP Präp

\ NP /\

Ν däwid

mäläk,

way-yillahäm

im

David

König

und er kämpfte mit

b.ne

Ν

mo ab

wa .

(den) Söhnen Moabs, und

(NomS = Nominalsatz; VS = Verbalsatz; Κ = Konjunktor; m = mubtada; h = habar; VP = Verbalphrase; V = Verb; Präp = Präposition; PräP = Präpositionalphrase; NP = Nominalphrase; Ν = Nomen; A = Anapher)

Die makrosyntaktische Einheit wird deutlich in zwei unterschiedliche Satztypen differenziert. Um dies im Deutschen mit seinen Konjunktionalsätzen wiederzugeben, müßten wir etwa sagen: (16) Als Während • David König war, [da] führte er mit den Moabitern Indem Krieg, und ....

72

Sprachtheorie und Pragmatik

Es ist nun nicht weiter erstaunlich, daß der Typus des Nominalsatzes sich nicht auf die eine Form beschränkt, die ich bisher behandelt habe. Vielmehr gibt es eine ganze Typologie, die dasselbe Mittel verwendet. Abbildung (17) zeigt einige dieser Formen, wobei die Abkürzungen „m" und „h" für mubtada und habar stehen. (17) (a) einfacher Nominalsatz

/

NomS

(b) verkürzter Nominalsatz

\

m I

/

NomS

m 1

h τ

?

ΐ mäläk däwid David (ist) König

(d) z}*sammengesetKíer

/

m I A

däwid David:

Nominalsatz II

NomS

NomS m I EN

h Τ

ΐι mäläk König

0 (er ist)

(c) zusammengesetzter Nominalsatz I

\

h Τ NomS

/ Präp I bhu er (ist) in

m

\

h I PräpP

\ EN I -irusalem Jerusalem

(e) doppelt determinierter Nominalsatz däwid hammäläk David (ist) der König.

/

h Τ ,VS

\

V I I däwid mälak 0 (? David - (als König) herrscht (er))

Sprachmittel und Sprachzwecke

73

Wir sehen, daß die beiden verglichenen Sprachen ganz verschiedene Wege gehen, um den Sprachzweck „syntaktische Differenzierung" zu erreichen. Das Deutsche nimmt eine Unterscheidung in Haupt- und konjunktionale Nebensätze vor; es markiert die Differenzierung isolierend/analytisch. Das Hebräische differenziert durch die Satzform als Ganze; es differenziert die beiden Satztypen innerformal. Das semitische Verfahren erlaubt eine sehr deutliche Unterscheidung von Satztypen und ihrer Charakterisierung der außersprachlichen Wirklichkeit: ontologisch/essentielle Sätze vs. partiell/ereignisbezogene Sätze, mit Relationsangaben, die sich aus dem jeweiligen Verhältnis von Zustand vs. Ereignis usw. ergeben. (Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß es zum Verständnis wenig beiträgt, wenn man hier einfach von Parataxe im Unterschied zur Hypotaxe spricht. Denn die charakteristische formale Differenz zwischen einer einfachen Nebeneinanderstellung, die für den Ausdruck des Verhältnisses nichts ergibt, und dieser in sich sehr komplexen Form würde dadurch verwischt.) Gleichwohl hat in der Dauer der historischen Sprachentwicklung dieses Verfahren, trotz deutlicher Vorteile — und seiner Einfachheit und Eleganz — weniger Entwicklungsmöglichkeiten gehabt. „Anfangs" stand den komplexen Nominal-Verbalsatz-Unterschieden nur eine ganz kleine Zahl von Konjunktionen zur Seite (ki, 'im, pän). Alle zusätzlichen Differenzierungen wurden über spezifizierte Relativsätze ausgedrückt. Im Laufe der Entwicklung setzten sich diese konjunktionalähnlichen Ausdrücke im Hebräischen mehr und mehr durch. Zugleich wurden die Nominalsätze tendenziell aufgegeben. Im heutigen Ivrit haben wir den Nominalsatz nicht mehr als eigenen Typ. Vielmehr ist er in das normale Verbalparadigma eingebettet worden, um eine (im Althebräischen fehlende) Präsensform auszudrücken. Wir können hier also innerhalb der dokumentierten Sprachgeschichte den Übergang von einem Mittel zum anderen verfolgen. Das Mittel der Satzform-Differenzierung scheint sich als weniger leistungsfähig erwiesen zu haben; es ist durch das andere der subordinierenden Konjunktionen ersetzt worden. Es ist deutlich, daß eine Sprache mit starker Satzform-Differenzierung relativ weniger der Konjunktionen bedarf — solange dieses Mittel ausgebaut werden kann. Sobald es an seine Grenzen stößt, wird es ersetzt durch ein anderes. Ich fasse diesen Teil zusammen: Der Mittelbereich für den Zweckbereich der syntaktischen Differenzierung umfaßt mindestens drei Gruppen von Mitteln: —

spezifische Typen der Serialisierung, der Nacheinanderordnung von Satzteilen (Beispiel: Türkisch);

74 —



Sprachtheorie und Pragmatik

die Herausbildung von spezifischen Funktionsausdrücken oder Funktionsmonemen, die eine spezielle Wortart ergeben, die subordinierenden Konjunktionen (Beispiel: Deutsch); die Ausbildung von strukturierten syntakdschen Formen, die systematische Unterscheidung des Typs „Nominalsatz" vom Typ „Verbalsatz" (Beispiel: Althebräisch).

Die einzelnen Sprachen nehmen auch hier Wahlen aus den zur Verfügung stehenden Mitteln vor (These (1)). Ist einmal eine Entscheidung in der einen oder anderen Richtung gefallen, so ergibt sich die Tendenz (These (3)), das Mittel systematisch zu entfalten. Die Tendenz resultiert (These (4)) im Strukturbild der Sprachen. Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß die systematische Entfaltung des einmal eingeschlagenen Problemlösungsweges zu Systemen unterschiedlicher Komplexität und unterschiedlicher Erweiterungsfahigkeit führt — bis dahin, daß ein einmal eingeschlagener Weg schließlich zugunsten eines anderen aufgegeben werden muß, so daß sich eine Sprachstruktur als ganze verändert. Ich kann hier auf die Interdependenz dieser Zusammenhänge mit weiteren Zweckbereichen, mit weiteren Strukturentscheidungen und so mit weiteren Einschränkungen (These (2)) nicht weiter eingehen. Bevor ich ein Beispiel für These (2) bringe, will ich kurz jedoch noch einen weiteren Zweckbereich streifen, den Zweckbereich der Innersatz-Relationen.

5. Zweckbereich „Innersatz-Relationen" Ich spreche hier vom Verhältnis der beiden Ausdrucksmittel „Kasus" und „Prä-" bzw. „Postposition" zueinander. Auch hier ist unschwer die wechselseitige Beeinflussung bei der Verteilung der jeweiligen Mittel zu sehen: wenn Mittel A reichlich verwendet wird (und zwar insbesondere in der konkreten Sprachrealisierung, beim Sprechen, verwendet wird), wird Mittel Β nur schwach genutzt, und umgekehrt. Den Zweckbereich selbst habe ich mit dem Ausdruck „InnersatzRelation" nur unzureichend beschrieben. Es ist hier nicht die Gelegenheit, um auszuführen, was darunter zu verstehen ist. Es handelt sich um Kategorien, die traditionell in Ausdrücken wie „Lokativ" oder „Dativ", in neuerer Zeit dann auch in Ausdrücken wie „Agens" oder „Ergativ" gefaßt wurden und die Anlaß z.B. zu Filimores Konzept der „Tiefenkasus" gegeben haben. Jedenfalls gehört dieser Zweckbereich zur „Kennzeichnung von mentalen und extra-mentalen Beziehungen zwischen einzelnen gedanklichen Einheiten bzw. zwischen verschiedenen Objekten und Sachverhalten der außergedanklichen Wirklichkeit." — Da es mir hier nicht um

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Sprachmittel und Sprachzwecke

eine inhaltliche Charakterisierung der Innersatz-Relationen geht, beschränke ich mich auf rein formale Bezeichnungen wie „InnersatzRelation 1", „Innersatz-Relation 2" usw. Wie schon deutlich geworden ist, stehen mindestens zwei Typen von Mitteln beim Sprachaufbau für diesen Zweckbereich zur Verfügung (von anderen, wie der Wortstellung, sehe ich hier ab): eben die Kasus-Form und die Proposition (bzw. Postposition). Werfen wir einen Blick auf die allgemeine Charakterisierung der Sprachmittel, so ist deutlich, daß die Kasus zu den strukturierten Formen gehören, die Präpositionen hingegen zu den Funktionsmonemen. Vergleichen wir nun zwei Sprachen wie das Englische und das Baskische. In der englischen Schulgrammatik ist wie selbstverständlich vom „Nominativ", „Genitiv", „Dativ" und „Akkusativ" des Englischen die Rede. Diese Bezeichnungen sind jedoch, wie deutlich ist, den sprachlichen Verhältnissen nicht angemessen. Vielmehr sind allenfalls Nominativ und Genitiv formal voneinander unterschieden. Da die sogenannte angelsächsische Genitivform „man's" zudem nur noch eine Randexistenz führt, können wir sagen: das Englische hat nur einen Kasus. Hingegen werden für die Angabe der anderen Innersatz-Relationen Präpositionen gebraucht, mit „to" und „ o f an der Spitze. Im Baskischen dagegen finden wir 14 verschiedene Kasus.

-0

-k -i

-z -en -ekin -(en)tzat -ik -ko

-η -tik -ra(t) -rantz -raino Brettschneider (1978, S. 69)

Für diesen Bereich spielen die Postpositionen eine entsprechend geringe Rolle. Andere Sprachen ließen sich ähnlich einordnen, etwa das Finnische mit 15 Kasus. Das Arabische hat drei, das Hebräische zwei, das Deutsche

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Sprachtheorie und Pragmatik

vier, das Lateinische fünf. Versucht man, diese Verhältnisse schematisch darzustellen, ergibt sich Abbildung (19). (19) *

15

Der Zweckbereich der Innersatz-Relationen sollte für mein heutiges Thema keinen systematisch neuen Aspekt erbringen, sondern an einem anderen Phänomen die allgemeine Struktur von Sprachzwecken und Sprachmitteln verdeutlichen. Als letztes Beispiel möchte ich nun aber noch kurz einen Beleg für die These (2) geben, die These, daß die einmal getroffenen Wahlen den Fundus an Sprachmitteln für die weitere Sprachorganisation einschränken. Dazu behandle ich den Zweckbereich „Illokutionsausdruck". 6. Zweckbereich „Illokutionsausdruck" Illokution ist, kurz gesagt, die jeweilige Handlungsbedeutung/ die eine Äußerung hat, also z.B., ob es sich bei der Äußerung um eine Frage handelt: (20a) „Finden Sie auch, daß hier allmählich genug geredet worden ist?", oder um eine Bitte (20b) „Haben Sie noch einen Moment Geduld", oder um eine Aufforderung (20c) „Kommen Sie doch mit in Raum 488", oder

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Sprachmittel und Sprachzwecke

um eine einfache Aussage (20d) „Dort gibt's was zu trinken", oder um eine Begründung (20e) „Schließlich gehört das zu einer Antrittsvorlesung", oder einfach um linguistische Beispiele, wie bei all den Äußerungen, die ich eben zitiert habe. Austin und Searle haben zum ersten Mal theoretisch klar und systematisch herausgestellt, daß die illokutive Qualität bezeichnet werden muß. In ihrer Theorie herrscht jedoch die Auffassung vor, dies geschehe vor allem durch Zusatzäußerungen wie „Hiermit bitte ich Sie", die etwa vor die Äußerung „Haben Sie noch einen Moment Geduld" gesetzt werden. Sie nannten diese „ich tue hiermit ..."-Äußerungen „performative Formeln". Faktisch ergreifen die Sprachen üblicherweise jedoch andere Wahlen als die des Mittels „performative Formel". Viele Sprachen haben eine elementare Menge von illokutiven Kennzeichen, die zu einer Grobangabe der illokutiven Kraft ausreichen. Im Deutschen verwenden wir dafür Mittel aus dem eingangs aufgezählten Mittelbereich der Intonation. Wir unterscheiden zwischen drei Intonationstypen: (20) fallende Endintonation steigende Endintonation stark fallende Endintonation (mit zusätzlicher = Markierung aus dem Bereich Modulation)

Assertion Frage („Satzfrage") Aufforderung

Wie ich beim eingänglichen Beispiel gezeigt habe, nutzt das Deutsche im allgemeinen das Mittel der Intonation kaum für die Wortbildung. Die Intonation steht also im Inventar der Sprachmittel noch zur Verfugung und kann für den Ausdruck der illokutiven Kraft eingesetzt werden. Vergleichen wir damit nun Sprachen, die die Mittel der Intonation bereits für das Lexikon eingesetzt hatten. Wie drücken sie die elementaren Illokutionen aus? Die Antwort ist nicht überraschend, wenn wir die ZweckMittel-Relation beim Sprachaufbau systematisch reflektieren. Es ist nämlich zu erwarten, daß auf andere Mittel zurückgegriffen wird — etwa Funktionsausdrücke, also eigene Moneme oder „Wörter". In der Tat finden wir solche Funktionsausdrücke in Tonsprachen wie dem Thailändischen oder dem Chinesischen. Die Funktion der Ausdrücke, die im Thailändischen für die Illokutionswiedergabe verwendet werden, ist sehr komplex: neben der Illokution bezeichnen sie die sozialen Beziehungen zwischen den Sprechern und die sogenannten „propositionalen Einstellungen" wie „ich meine", „ich ver-

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Sprachtheorie und Pragmatik

mute" usw. Verschiedene Zweckbereiche sind hier also durch dasselbe Mittel realisiert worden. Das Chinesische hingegen entläßt uns mit einem klaren und einfachen Beispiel für Funktionsmoneme zum Ausdruck der illokutiven Kraft: (21)

Die Partikel ,le' dient „zur Bezeichnung der Sachverhaltsaussage eines vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Ereignisses" (Chinese for Beginners 1976, S. 19). Die Partikel ,ma' steht zur Kennzeichnung der Frage. Die Partikel ,ma' steht am Ende des Ausrufsatzes zur Kennzeichnung der Illokution des Ausrufs (ebd. S. 74). Damit ist an wenigstens einem Beispiel These (2) erläutert worden.

7. Einige Folgerungen Ich habe an wenigen Beispielen das Verhältnis von sprachinternen Zwekken und Sprachmitteln behandelt, um anhand der herangezogenen Zweckbereiche zu zeigen: (a) Verschiedene Sprachen bedienen sich unterschiedlicher Mittel, um die sprachlichen Zwecke zu erfüllen. (b) Sind Mittel für einen Zweckbereich eingesetzt worden, wird es schwieriger, sie für andere Zweckbereiche zu verwenden. (c) Entscheidungen zugunsten eines Mittels in einem Zweckbereich legen Tendenzen und Folgewahlen in anderen Zweckbereichen fest. (d) Die verschiedenen Tendenzen bedingen sich wechselseitig und bestimmen die konkrete, einzelne Sprachstruktur. Nur am Rande konnte ich darauf eingehen, daß (e) die Wissenschaftler die Strukturentscheidungen der eigenen Sprache oder Sprachgruppe leicht als Verständnis folie für andere Sprachstrukturen gebrauchen — oder genauer mißbrauchen, indem sie ethnozentrisch die ihnen bekannte Struktur verallgemeinern. Selbstverständlich sind die behandelten Beispiele immer auch, wie Hegel sagte, beiherspielend. Die Sprachorganisation ist ein außerordentlich komplexes Phänomen. Noch fehlt uns ein Überblick der sprachinternen Zwecke. Bei den Sprachmitteln sind zwar — verstreut und nach Anleitung der Linguistikgeschichte — eine Vielzahl von Kenntnissen vorhanden, aber ihre Systematisierung fehlt. In dem Maß, in dem wir unsere Kenntnisse über die Sprachzwecke erweitern, werden wir m.E. imstande sein, den

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jeweiligen Stellenwert der Sprachmittel zu bestimmen und so unsere Kenntnisse über Sprache insgesamt auszubreiten. Dabei ist die Entwicklung neuer Kategorien wesentlich, die den Sprachaufbau im Sinn einer spezifischen Leistung des menschlichen Handelns zu erfassen in der Lage sind. Der neue Gesichtspunkt, den ich einbringen wollte, betrifft das Verhältnis zwischen Sprachzwecken und Sprachmitteln. Das Ergebnis einer Analyse, wie ich sie mir vorstelle, wird freilich kaum eine einfache Typologie mit drei oder vier elementaren Typen sein, wie dies in der traditionellen Behandlung der Sprachvielfalt der Fall war. Vielmehr scheint es mir sinnvoll, ein typologisches Strukturgitter zu entwickeln. Das typologische Strukturgitter sollte: 1. 2. 3. 4.

zeigen, welche sprachinternen Zwecke in einer Sprache als solche wahrgenommen und ausgedrückt werden — und welche unausgedrückt bleiben; darstellen, welche Mittel für den Ausdruck der sprachinternen Zwekke benutzt werden; ablesbar machen, welche Ausdrucksschwierigkeiten sich aufgrund der einmal gefällten Entscheidungen für weitere Zwecke ergeben; Tendenzen zusammenfassen und diese Tendenzen als Merkmalsbündel des Problemlösens bestimmen.

Das typologische Strukturgitter erlaubt für die Einzelsprache eine deren Komplexität angemessene komplexe Beschreibung. Es erleichtert die Erfassung diachroner Veränderungen und der Konsequenzen, die sie für andere Formen des Gesamtsystems nach sich ziehen. Es erlaubt, der Frage nach dem Verhältnis von Sprachmitteln, sprachinternen Zwecken und sprachexternen Zwecken nachzugehen. — Dieser Zusammenhang soll nun wieder in sein Recht eingesetzt werden, indem ich Ihre pragmatisch gerichtete Erwartung erfülle und Schritt für Schritt den Sätzen (20b) bis (20e) ihre illokutive Kraft zuweise: Haben Sie noch einen kleinen Moment Geduld, bis die Zeremonie ihr Ende gefunden hat. Kommen Sie dann doch mit in Raum 488. Dort gibt's was zu trinken. Schließlich gehört das zu einer Antrittsvorlesung - und ich freue mich, wenn wir dort gemeinsam reden können. Denn hier habe ich genug geredet.

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Literatur Im Artikel Brettschneider (1980) ist eine ausführliche Bibliographie zu Problemen der Sprachtypologie und Universalienforschung enthalten, auf die ich verweise. Die folgenden Angaben verzeichnen lediglich die im Text direkt erwähnten Arbeiten. Brettschneider, Gunther (1978): Baskisch. In: Studium Linguistik 5, S. 61-65. Brettschneider, Gunther (1980): Sprachtypologie und linguistische Universalienforschung. In: Studium Linguistik. 8/9. S. 1—31. Chinese for Beginners. (1976). Peking: Foreign Languages Press. Greenberg, Joseph H. (1974): Language Typology. A historical and analytic overview. The Hague, Paris: Mouton. Greenberg, Joseph H. (ed.) (1978): Universals of Human language. 4 Vols. Stanford, CA: Stanford University Press. Humboldt, Wilhelm von (1827-29): Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues. In: Flitner, A. / Giel, K. (Hgg.) (1963): Werke in fünf Bänden. Bd. III, Schriften zur Sprachphilosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 144-368. Pasierbsky, Fritz / Singendonk-Heublein, Ingeborg (1979): Vietnamesisch. In: Studium Linguistik 7. S. 46—67. Ruhlen, Merritt (1976): Λ Guide to the Languages of the World. Stanford, CA: Stanford University Press. Seller, Hansjakob (Hg.) (1973): Linguistic Workshop I. München: Fink. Seller, Hansjakob (Hg.) (1974): Linguistic Workshop III. München: Fink. Seller, Hansjakob (Hg.) (1978): Language Universals. Papers from the Conference held at Gummersbach/ Cologne, October 3—8, 1976. Tübingen: Narr. Skalicka, Vladimir (1979): Typologische Studien. Mit einem Beitrag von Petr Sgall. Braunschweig: Vieweg.

Thesen zur Sprechakttheorie 1. Die Searlesche Sprechaktanalyse geht aus von dem Sprecher S und dem Hörer H. Beide sind Sprecher beziehungsweise Hörer an sich, das heißt abgezogen von irgendwelchen konkreten, gesellschaftlich-geschichtlich vermittelten Kontexten beziehungsweise Situationen, in denen sie kommunizieren. Das bedeutet zugleich, daß sie abstrahiert werden von den Zwecken ihrer Kommunikation. So ergibt sich die Möglichkeit, einen an sich bestehenden, für den Menschen, anthropologisch, festzumachenden Apparat zu untersuchen. Dieser Apparat wird bei Habermas extrapoliert zu einem Universalienkonstrukt, das — als Universales, das heißt jeder konkreten Kommunikation schon Vorausliegendes, als Bedingungen, die die menschliche Kommunikation erst möglich machen — eine normative Qualität im Sinn einer Gesellschaftstheorie gewinnt, die postulatorisch an die faktische Kommunikation herangetragen werden kann und ihr als Utopie gegenübertritt. Es ist fraglich, ob diese Art der Abstraktion nicht wesentliche Bestandteile von Kommunikation verliert, indem sie Sprache, sprachliche Mechanismen nur als solche analysiert.

2. Diese Frage stellt sich in einer doppelten Weise, hinsichtlich der Ausbildung von Sprechmustern und hinsichtlich der Möglichkeiten der Anwendung von bestimmten Sprechakttypen. Die Analyse von konkreten Kommunikationstypen zeigt, daß situationssçezifisch Anwendungsmöglichkeiten von illokutiven Typen festgelegt sind. Hieran wird deutlich, daß es vorgängige Festlegungen der möglichen Kommunikation gibt, die jenseits der subjektiven Auswahl liegen. Das bedeutet sowohl: sie liegen jenseits der subjektiven Willkür, wie auch: 1

Eine erste Analyse solcher Festlegungen wurde exemplarisch in der Untersuchung über die „Konstitution pragmatischer Einheiten in einer Institution" am Beispiel des Speiserestaurants vorgenommen (in: Wunderlich 1972).

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sie sind Begrenzungen einer abstrakten Freiheit zur beliebigen Kommunikation, über deren Modalitäten man sich jeweils in reflexivem Diskurs verständigen könnte. Solche Festlegungen erfolgen vielmehr funktional2. Sie sind bezogen auf jeweilige Haupt- und Nebeninteressen der Kommunikationspartner, die ihrerseits auch diese Interessen nicht freilegen, sondern sich dabei bewegen in den in der gesellschaftlichen Praxis entwickelten Formen. Diese Formen gehen als spezifische Bedingungen in die Kommunikationsbedingungen ein, die Searle beschreibt.

3. Dagegen ist m.E. nicht einzuwenden, daß es sich hier um Randbedingungen handelt, die lediglich zufällig zu den anderen hinzutreten und ihre Anwendung bestimmen. Mit diesem Argument würden sie dann entweder einer „empirischen Pragmatik" oder der empirischen, beschreibenden Soziologie zugewiesen. Die genannten Elemente sind aber von anderer Art als die lediglich kontingenten, wie sie eine Performanztheorie zu untersuchen hätte. Die Reaktionen auf abweichende Verwendungsweisen zeigen vielmehr deutlich, daß solche Bedingungen und gerade sie erfüllt sein müssen, damit entsprechende Sprechhandlungen gelingen. Wer nicht in einer Position der Autorität steht, kann nicht befehlen; dem der nicht Richter ist, sind die Möglichkeiten genommen, andere strafrechtlich wirksam zu verurteilen.

4. Bei einer Reihe von illokutiven Akten ist auf den ersten Blick deutlich, daß sie lediglich in bestimmten Kontexten überhaupt sinnvoll sind. Dazu gehören sowohl Akte wie ,Ernennen', freisprechen',,Taufen', ,Trauen', wie andererseits auch Handlungen wie ,Befehlen' usw. Es sind dies einerseits Handlungen, die lediglich im Rahmen bestimmter spezifischer Institutionen als einzelner Ausprägungen des Überbaus geschaffen wurden (etwa der Kirche) und nur in ihrem Rahmen sinnvoll sind, andererseits solche, die auf bestimmte institutionelle Sphären des Überbaus insgesamt bezogen sind. Die Grenzen hierzwischen sind fließend, oder, anders gesagt: sie

2

Dieser Begriff wird hier nicht in irgendeiner Weise terminologisch verwendet, sondern er hat die Aufgabe, auf die Zwecke, die Kommunikation und Sprechen jeweils leiten, hinzuweisen.

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werden greifbar erst, wenn man die entsprechenden Überbausphären genauer analysiert.

5. Bei einer, wahrscheinlich sehr kleinen, Gruppe von Sprechhandlungen ist eine solche allgemeine Festlegung jedoch nicht gegeben. Dazu gehören zunächst wahrscheinlich solche, die auch die traditionelle Schulgrammatik schon gesehen hat, ohne daß sie ihnen einen einigermaßen klaren Status in ihrer Theorie zuweisen konnte. Sie notierte aber die sprachlichen Realisationen dieser Sprechhandlungen, also Frage, Aussage, Aufforderung. An diesen Sprechhandlungen setzte die Sprechakttheorie zunächst an. Von ihnen her gewinnt sie den Anspruch der Universalität, auf Absehung von gesellschaftlicher Praxis, und damit zugleich die Berechtigung für die Behandlung als Kategorien an sich, als Apparat, der unbenommen seiner jeweiligen Verwendung analysiert werden kann. Es ist zu vermuten, daß auch diese Kategorien in einem funktionalen Zusammenhang mit den Erfordernissen der menschlichen Praxis stehen. Die Tätigkeit der Menschen ist die Auseinandersetzung mit der Natur zur individuellen und gattungsmäßigen Reproduktion ihrer selbst. In diesen Prozeß treten sie nicht individuell ein, wie es die Robinsonaden der Sozialwissenschaft immer wieder unterstellen, sondern in diesem Prozeß sind sie von vornherein gemeinsam engagiert. Der Auseinandersetzungsprozeß mit der Natur in der Form der Arbeit trug „notwendig dazu bei, die Gesellschaftsglieder näher aneinanderzuschließen, indem sie [die Ausbildung der Arbeit] die Fälle gegenseitiger Unterstützung, gemeinsamen Zusammenwirkens [...] für jeden einzelnen klärte. Kurz, die werdenden Menschen kamen dahin, daß sie einander etwas sagen hatten." (Engels, Dialektik der Natur, M E W 20, S. 446). Die grundlegenden Kategorien illokutiver Akte sind in diesem Kontext festzumachen. In den Formen des Verkehrs werden Verfahren entwickelt, die also gesellschaftlich vermittelt sind und die kollektiven Erfahrungen vorheriger Interaktionsprozesse enthalten.3 Sieht man die Fundierung in den Zusammenhängen gesellschaftlicher Praxis, so ergibt sich die Möglichkeit, Sprechhandlungstypen in ihrem jeweiligen Radius, als universell oder insti3

A u f diesen Zusammenhang hat Maas (in: Maas/Wunderlich 1972) hingewiesen. E s scheint mir allerdings weiterer Überlegungen zu bedürfen, ob hier von „geronnener Arbeit" (S. 191 f.) zu sprechen ist, das heißt, ob die Entwicklung von sprachlichen Kategorien ihrerseits als „Arbeit" zu betrachten ist. E s ist hier zumindest eine Spezifizierung dieses Begriffs nötig. Sonst legen sich allzu leicht Mißverständnisse nahe, wie sie sich in Rossi-Landis Arbeit (1972, S. 36ff.) etwa zeigen, vgl. Kästle (1972).

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tutionel] festgemachte Typen, aus ihrer spezifischen Funktion heraus zu interpretieren und zu verstehen. Als gesellschaftlich entwickelte und gesellschaftlich verbindliche Formen des Verkehrs zwischen den Menschen haben die Sprechhandlungstypen selbst den Charakter zumindest von Konventionen.4 Sie fassen bestimmte Verkürzungen und Mechanismen, die gesellschaftlich für die verschiedenen Formen der Kommunikation, die im Arbeitsprozeß wie auch in den darauf nicht unmittelbar bezogenen Formen von Interaktion ausgearbeitet werden. Es werden damit gerade Prozesse verfugbar gemacht, die die Handlungsmöglichkeiten einzelner übersteigen. Auf dieser Grundlage wäre zu bestimmen, wie die Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung, bis hin zur Teilung in Klassen und in jeweils historisch spezifische Klassen, sich in den Typen von Sprechhandlungen, die gesellschaftlich entwickelt werden, wie auch in den Verwendungsbedingungen und -restriktionen der ausgearbeiteten Typen niederschlagen. Auf diese Weise ist der zuerst genannte Komplex in einen systematischen Zusammenhang mit einer Konzeption von der gesellschaftlichen Funktionalität der Sprechhandlungen zu bringen.

6. Der Zusammenhang der Sprechhandlungen mit der menschlichen Praxis zeigt zugleich, daß die Sprechhandlungen auch im einzelnen nicht unter Absehung von diesen Zusammenhängen analysiert werden können. Das bedeutet, daß es unmöglich ist, gegeneinander und gegen andere Handlungen isolierte Elementartypen von Sprechhandlungen herauszuarbeiten, die dann unabhängig von ihrem funktionalen Zusammenhang ausreichend analysiert werden könnten. Darauf wurde oben schon hingewiesen. Das hat aber nicht nur Konsequenzen für die einzelne Sprechhandlung, sondern auch die Konsequenz, daß eine Sprechhandlungstheorie die Bezogenheit der Sprechhandlungen aufeinander, ihre mögliche Verkettung bzw. den Ausschluß solcher Möglichkeiten mit zu analysieren hat. Das heißt: die Sprechhandlungstheorie muß versuchen, größere kommunikative Schemata herauszuarbeiten.5

4 5

S. dazu Wunderlich: Zur Konventionalität von Sprechhandlungen. (in: ders. (Hg.) (1972), S. 11-58.) Das geschieht institutionsspezifisch in der Analyse der Kommunikationsformen im Restaurant, nicht-institutionsspezifisch bei Rehbein (1972).

Thesen zur Sprechakttheorie

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7. Zusammenfassend läßt sich sagen: Illokutive Akte sind standardisierte Verfahren des Verkehrs und so standardisierte Formen gesellschaftlicher Praxis. Sie sind weitgehend konventionalisiert. Unterschiede im Konventionalisierungsgrad gelten für die Situation, nicht jedoch für die illokutiven Akte. Beispiele für stark konventionalisierte Situationen sind etwa der Gruß oder die Trauung. Die Situation selbst ist extrem standardisiert, die Auswahlmöglichkeit an entsprechenden medialen Schemata, an illokutiven Akten dagegen minimalisiert. Die Konventionalität von illokutiven Akten wird deutlich an der Möglichkeit der Reklamation für den Fall, daß entgegen dem Verstehen des Hörers dieser die Konsequenzen eines illokutiven Aktes nicht übernommen hat. Diese Übernahme ist ein Bestandteil dessen, was man die „Nachgeschichte" illokutiver Akte nennen könnte. Dabei soll dieser Begriff gerade etwas notwendig zum illokutiven Akt Dazugehöriges herausheben. Er bezieht sich auf die Funktion, die der illokutive Akt als Teil einer Sprechhandlung hat. Diese Nachgeschichte ist Bestandteil des gesellschaftlich vermittelten Verhaltensschemas. Die Konsequenzdimension ist unterschiedlich groß. Beim Gruß etwa ist mit der wechselseitigen Aktualisierung des Schemas der gesamte Verhaltensmechanismus zum Abschluß gekommen. Anders etwa beim Versprechen, wo der Abschluß des Verhaltensmechanismus erst bei der Erfüllung des Versprechens (so der Normalfall) oder einer deren Stellen einnehmenden Hrsat^handlung (Satisfaktion, Genugtuung, Rechtfertigung, Entschuldigung) erreicht ist. Die Verweigerung der gesellschaftlich verbindlichen Kommunikationshandlungen führt dagegen zu Konsequenzen wie einer Rechenschaftsforderung usw., bzw. der Diskreditierung desjenigen, der verweigert hat.

Literatur Kästle, Oswald (1972): Sprache und Herrschaft. In: Wunderlich, D. (Hg.), S. 127-143. Maas, Utz / Wunderlich, Dieter (1972): Pragmatik und sprachliches Handeln. Frankfurt am Main: Athenäum. Rehbein, Jochen (1972): Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Zur Sequenzierung von kommunikativen Handlungen. In: Wunderlich, D. (Hg.), S. 288—317. Rossi-Landi, Ferruccio (1972): Ästhetik und Kommunikation. Beiträge %urpolitischen Erhebung. Frankfurt am Main: Rowohlt. Wunderlich, Dieter (Hg.) (1972): Linguistische Pragmatik. Frankfurt am Main: Athenäum.

Funktionale Etymologie 1. Sprachzwecke und linguistische Präsuppositionen Sprachen stellen ausgearbeitete Mittel für unterschiedliche Zwecke zur Verfügung. Unter diesen sind zwei große Gruppen voneinander zu scheiden: (a) sprachexterne Zwecke und (b) sprachinterne Zwecke (vgl. Ehlich 1982). Die sprachexternen Zwecke (a) sind vor allem durch die illokutive Analyse, wie sie die Sprechakt- und die Sprechhandlungstheorie im Anschluß an Austin entfaltet hat, systematisch untersucht worden. In ihnen kristallisiert sich der Zweckcharakter von Sprache als zentralem Kommunikationsmittel. Darüber gerät die Gruppe der sprachinternen Zwecke (b) leicht aus dem Blick, so daß sich eine Dichotomisierung „Zweckbezug von Sprache" = „Illokution" = „sprachliches Handeln" = „Pragmatik" vs. „sprachliche Struktur" = „Sprachsystem" = „Grammatik" zu empfehlen scheint, wie sie einem Großteil der additiven Pragmatik zugrundeliegt. Die Sprachstruktur erscheint so als zweckfreies Gebilde, das — modular isoliert — eigenen und, wenn irgend möglich, verstehensfreien und handlungslosen Gesetzen unterläge. Diese Dichotomisierung hat jedenfalls dies für sich, daß sie der Rekonstruktion sprachinterner Zwecke und damit der Rekonstruktion der Konstitutionsbedingungen von Sprache als eines spezifischen Ensembles von Formgebilden enthebt; mit anderen Worten, daß sie das Nachdenken über jene Konstitutionsbedingungen und über die Funktionalität der vorfindlichen Formen überflüssig zu machen verspricht. Dieses Nachdenken ist nicht zuletzt deswegen schwierig, weil es unumgänglich ein Offenlegen von linguistischen Präsuppositionssystemen erfordert, die gerade in ihrer Unhinterfragtheit Garanten für das Ablaufen des linguistischen Betriebes sind. Zu ihnen gehören die überkommenen Kategorien der griechisch-lateinischen Grammatikterminologie, die weit mehr sind als bloße Nomenklaturen, als die sie immer dann ausgegeben werden, wenn die kritische Nachfrage an den Nerv ihrer Präsuppositionalität rührt. Der weitgehende

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Kompromißcharakter dieser Terminologie, insbesondere der der „partes orationis", mit Blick auf bereits in der Antike nicht ausdiskutierte, geschweige denn klärend reflektierte linguistische Kontroversen verdankt sich offensichtlich nicht 2uletzt der allmählichen Ermüdung jener Diskussionen im Verlaufe der Spätantike. Nicht der Diskussionsstand erwies sich als überlieferungs- oder gar präsuppositionsfahig, sondern die unreflektierte, reduktionistische Didaktisierung eines Donatus (vgl. insbesondere Donatus' „ars minor") und deren rigorose Durchsetzung in einem von „Komplexitätsreduktion", um nicht zu sagen „Zusammenbruch" gekennzeichneten Endzustand. Zu diesem selbstverständlichen Grundbestand linguistischen Wissens gehört die Zentrierung grammatischer Kategorien um das Nomen und das Verb, bei immer abnehmender Kenntnis über Pronomen, Artikel, Adverb, Präposition, Konjunkdon oder gar Interjektion. Verbunden mit dem zentralen formalen Klassifikationskriterium, nämlich der jeweiligen Flexivität in den zugrundegelegten, also als selbstverständliche Basissprachen behandelten Sprachen Griechisch und Latein, ergab sich so ein spätes, nur noch geringfügig modifiziertes Grundgerüst von Sprach-Wissenschaft, das gerade aufgrund seiner Selbstverständlichkeit für alles mit ihm Inkompatible linguistisch fatale Konsequenzen zeitigte — gleichsam nach dem Motto „tant pis pour les faits". Was sich in den kategorialen Kompromissen „Substantiv" und „Verb", „Adjektiv" oder „Pronomen" nicht verrechnen ließ, hatte analytisch „Pech gehabt". Selbstverständlich gab es unübersehbare Problemfälle, nämlich überall dort, wo etwa am Verb Deklinationskennsgichen vorhanden waren („participium") oder Konjugationskennzeichen fehlten bzw. drastisch reduziert waren („infinitivus") oder gar beides („gerundium"). Auch in anderen Fällen wandern offensichtlich Wörter durch die Kategorien, indem sie deren Grenzen mißachten — und dies bis hin zur kategorialen Unerkennbarkeit, wie etwa die zugleich adverbialen, präpositionalen und präfixiven Elemente der griechischen Grammatik (z.B. ,epf). Im Konzept der „transposition" (Bally 1922) bzw. der „translation" (Tesnières 1959) wird versucht, dieser Kategorienwanderung theoretisch Herr zu werden, indem das zugrundeliegende sprachliche Phänomen als solches überhaupt seine Anerkennung findet — dies freilich immer innerhalb des präsuppositionellen Kategorienrahmens. Brinkmann (1971) kritisiert das Unzureichende derartiger Versuche (s. Redder 1990, S. 46). Immerhin aber ist die Anerkennung des Phänomens selbst ein Hinweis auf die Brüchigkeit eben jenes kategorialen Rahmens, der doch so selbstverständlich praktikabel zu sein scheint. Sobald man sich auf die Rekonstruktion innerer Sprachzwecke einläßt, erweist sich ein Wechsel von einer Wortart zur anderen als Spezialfall

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einer umfassenderen Bewegung sprachlicher Formeinheiten, der lediglich aufgrund der Unverträglichkeiten mit dem linguistischen Standardinstrumentarium besonders auffällig ist und so theoretische Beachtung gefunden hat. Die Herausbildung einer Sprache als gesellschaftlicher Problemlösungsprozeß, in dem hinreichende Mittel für die Kommunikation der gesellschaftlichen Interaktanten herausgearbeitet werden, so daß diese ihre kommunikativen Handlungszwecke (a) realisieren können, unterscheidet sich offensichtlich von den Rationalitätsanforderungen, wie sie sich aus neuzeitlichen Wissenschaftskonzepten ableiten lassen. Ihm mangelt es an der Durchgängigkeit, die eine Wohlgeordnetheit und eine maximal einfache Beschreibung ermöglichen würde. Die Problemlösungen sind vielmehr partiell, ihre Geltung wird bestimmt von einer maximalen Effizienz, die sich hin zu den selteneren und komplexeren Fällen verliert. Die Inanspruchnahme alternativer Lösungen — wiederum mit einer selben Charakteristik — führt zu mannigfachen Überlappungen, Doppelungen, Parallelitäten, die sich einer einfachen analytischen Systematisierung gegenüber sperren. Purifizierungstendenzen jeder Art — nicht zuletzt die einer ein- bis eineindeutigen Begriffssprache, wie sie zum Projekt der Neuzeit in immer neuen Varianten gehörte und gehört — verfehlen die Struktur sprachlicher Systeme. Der Mangel an Konsequenz wird für die Zwecke der Benutzer aufgefangen, kompensiert, ja zu einem Gesichtspunkt untergeordneter Bedeutung gemacht durch den Gewinn an Flexibilität, durch sozusagen „Überlast-Absicherungen", wie sie sich im Phänomen der Redundanz manifestieren, und durch eine Zweckangemessenheit, die sich nicht zuletzt einer konkreten Ökonomie effizienter Kommunikation, nicht aber der eines abstrakten Systems verdankt. Die Dialektik eines der Kernprobleme der Linguistik am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, das nie ganz aufgeklärte Verhältnis von junggrammatischem Lautwandelgesetz und Analogiebildung, ist das wahrscheinlich linguistisch am besten durchleuchtete Phänomen dieser Art. Die Unverrechenbarkeit der Analogie, die mnemotechnische Willkür, die ihre perturbierende Wirkung bestimmt, ist die zwar benannte, dadurch aber für das Gesetzesdesiderat nicht gebannte Manifestation solcher partieller Systematizität, die gerade in ihren Beschränkungen die Bedingungen der Möglichkeit für Kommunikationseffizienz bietet. Die bereits erarbeiteten Strukturen bilden für jeweils lange diachronische Epochen zugleich offensichtlich das Reservoir, aus dem für sich neu herausbildende sprachinterne Zwecke (b) die Mittel genommen werden. Dadurch gewinnen einmal vorhandene Einzelstrukturen eine doppelte, ja, gegebenenfalls eine mehrfache Funktionalität. Diese läßt die Ober-

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fläche der sprachlichen Aktivitäten und ihrer Ergebnisse nur allzu leicht als diffus erscheinen. Aber auch die elementaren Strukturen einer Sprache sind bereits gekennzeichnet von jener partiellen Rationalität, die die Rekonstruktion der ihr jeweils zugrundeliegenden Zwecke theoretisch und analysepraktisch erheblich erschwert — eine Schwierigkeit, die zur Obsoletheitserklärung der ganzen Fragestellung nicht unwesentlich beigetragen haben dürfte. Die Option für die akustische Dimension der Wirklichkeit zur Konstruktion von Sprachen, wie sie für die Gattung nicht nur im weitaus überwiegenden Fall realisiert wurde, sondern für dieses Kommunikationsmittel wesentlich ist, bedeutete, daß grundlegende Ressourcen lautlicher Produktion bestimmend in die Sprachstruktur eingegangen sind (vgl. Ehlich 1982). Nur in äußerst langzeitlichen Entwicklungen, insbesondere durch die Figur des Umschlages sich aufhäufender Quantitäten in neue strukturelle Qualitäten, verändern sich solche einmal etablierten grundsätzlichen Strukturkennzeichen, die von Grundentscheidungen für die Bearbeitung einzelner innerer Zweckbereiche determiniert sind. Um dafür nur ein besonders deutliches Beispiel zu benennen: Die Einbeziehung tonaler Strukturen zur Herstellung sprachlicher Grundeinheiten („Wörter") in einer Reihe von Sprachen wie etwa der chinesischen hat nicht nur für deren Einzelstrukturen sowie hinsichtlich der Wortbildungskombinatorik (vgl. Pasierbsky 1989) konstitutive Konsequenzen, sondern auch hinsichtlich der Disponibilität der intonativen Ressourcen für die Erfordernisse z.B. der Illokutionsmarkierung. Die Grundressourcen für die Herstellung sprachlicher Form sowie die sekundäre Exploitation bereits bestehender Formen für weitere Zwecke determinieren die Gesamtstruktur einer jeweiligen Sprache und die Möglichkeiten ihrer Veränderungen. Die wenigen sprachtypologischen Elementartypen innerhalb der Vielzahl menschlicher Sprachen und die unterschiedlichen Grade der Zugehörigkeit zu solchen Elementartypen, vor allem aber die Vielfältigkeit der einzelsprachlichen Strukturwirklichkeit illustrieren sowohl den vergleichsweise geringen Umfang des Ressourcenpotentials wie die Vielfältigkeit und — in den meisten Fällen in Bezug auf reine Strukturtypen — die Inkommensurabilität der Problemlösungen, die entwickelt wurden. Besonders die Reapplikation bereits entwickelter Strukturen für — systematisch gesehen — neue Problemstellungen im Bereich der sprachinternen Zwecke (b), ihre Adaptierung bzw. Akkommodierung an andere Kommunikationsaufgaben als die, für die sie ursprünglich entwickelt wurden, bietet der linguistischen Analyse eine komplexe Aufgabe, die zu bearbeiten alles andere als einfach ist, die aber zugleich zu einer Spezifizierung und Präzisierung des linguistisch-analytischen Verfahrens zwingt.

Funktionale Etymologie

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Die linguistischen Präsuppositionen lassen die Sprachwissenschaft nicht gerade gut ausgestattet für diese Aufgabe erscheinen. Im Gegenteil: Die Faszination der schillernden sprachlichen Oberflächen und die undurchschaute Scheinverläßlichkeit der überkommenen Kategorien läßt sie immer wieder — und verstärkt, nachdem jede hermeneutische Annäherung an die kommunikativen Phänomene aus ihr ausgeschlossen wurde - nach Modellierungen suchen, die den methodologischen Vorgaben von Wissenschaften für ganz anders geartete Objekte folgen und denen hinsichtlich der sprachlichen Phänomene selbst in nur allzu vielen Fällen lediglich durch deren entschlossene Manipulation (sei sie empiristischer oder intuitionistischer Art) entsprochen werden kann.

2. Feldtranspositionen als herausgehobener Fall der Erzeugung kategorialer Opazität Zu den Grundaufgaben sprachlicher Systeme gehört die Bereitstellung von Formen für die Realisierungen unterschiedlicher Typen sprachlicher Tätigkeit, die im theoretischen Kontext der „Funktionalen Pragmatik" als „Prozeduren" gekennzeichnet werden. Prozeduren sind einzelne Tätigkeiten der kommunikativen Interaktanten, durch die die Sprecher Verständigung mit den Hörern erzielen. Sie gehen zu einem großen Teil in die Konstituierung systematisch komplexerer sprachlicher Handlungsformen, insbesondere des propositionalen und des illokutiven Aktes, und darüber in die Konstitutierung von Sprechhandlungen ein. Sie können z.T. aber ihre Handlungszwecke auch vollständig in sich erfüllen und sind dann selbstsuffizient, bedürfen also zu ihrer Realisierung einer derartigen zusätzlichen Integration nicht, um kommunikativ effizient zu sein. Mindestens die folgenden Typen sprachlicher Prozeduren sind zu unterscheiden: (a) (b) (c) (d) (e)

expeditiv deiktisch symbolisch malend operativ.

Die Unterscheidung der prozeduralen Typen ergibt sich aus den unterschiedlichen Handlungszwecken, die bei der Kommunikation zwischen S und H zu realisieren sind: (1) S greift direkt in die Handlung bzw. in die Einstellungsstruktur von H ein;

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(2) S orientiert die Aufmerksamkeit von H auf ein Objekt X im für S und H gemeinsamen Verweisraum; (3) S bezeichnet ein Objekt X , einen Sachverhalt Y , . . . für H; (4) S kommuniziert H die Einstellungen von S in bezug auf Χ , Υ ,..1; (5) S ermöglicht H die Prozessierung der sprachlichen Handlungselemente von S. Einige dieser Zwecke unterliegen weiterer erheblicher Differenzierung, z.B. hinsichtlich der betroffenen Sachbereiche (vgl. (3)) oder hinsichtlich der Einzelqualität der kooperativen Bearbeitungsaufgabe im Fall der operativen Prozeduren (5), bei denen etwa die Indizierung von verbalisierten Wissenselementen nach der Distinktion „bekannt"/„neu" eine ganz andere Aufgabe darstellt als die ökonomisierende Fokuskontinuierung von H in bezug auf ein bereits verbalisiertes Wissenselement, die durch Anaphern erreicht wird. Die einzelnen Sprachen bieten für die meisten oder für alle dieser Prozeduren spezifische Ressourcen an. Diese können unterschiedliche Grade von Explizitheit haben. Dabei spielt die jeweilige sprachtypologische Grundstruktur eine nicht unerhebliche Rolle. Flektierende Sprachen etwa, die komplex-integrativen Grundeinheiten eine zentrale Stellung im Aufbau ihrer Gesamtstruktur einräumen (flektierte Verb-, Nominal-, Pronominal- bzw. Artikelformen), gehen hier anders vor als isolierende oder agglutinierende. Die Strukturkennzeichen, deren analytische Auffälligkeit weitgehend durch die Verhältnisse in den Bereichen bestimmt war, die in den indoeuropäischen Sprachen durch Nomen und Verb realisiert sind, erstrecken sich freilich keineswegs auf die Gesamtheit der Grundeinheiten, wie die zur „Partikel" zusammengefaßten damit nicht kommensurablen Monemklassen zeigen. Für die konkrete einzelne Sprachstruktur in ihrer synchronen Potentialität wie in ihrer diachronen Veränderungsgeschichte ist ein solcher sprachtypologischer Filter (der selbstverständlich seinerseits diachroner Veränderung unterliegen kann) von großer Bedeutung. Einen Grenzfall der Ressourcenstruktur betrifft die Grundentscheidung von Ausgedrücktheit überhaupt vs. Nicht-Ausgedrücktheit, und selbstverständlich fällt an der Oberfläche der sprachlichen Realisierung die Nicht-Ausgedrücktheit mit dem Nicht-Vorhandensein eines spezifischen internen Zweck(teil)bereichs zusammen. Zu unterscheiden wäre beides lediglich hinsichtlich der psychologischen Realität von Sprache für die beteiligten Interaktanten, einer Realität, deren analytische Zugänglichkeit bekanntlich äußerst erschwert ist, so daß größere Teile der neueren Linguistikgeschichte vor der Aufgabe ihrer Analyse sozusagen prinzipiell resigniert haben. Geradezu paradoxe Qualität erreicht diese Aufgabe hin1

Vgl. zur Spezifizierung Redder (1994).

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sichtlich der historischen Sprachstufen, und eine Lösung für sie kann allenfalls durch Indizienbeweise überhaupt ins Auge gefaßt werden. Das Verhältnis von Ausgedrücktheit vs. Nicht-Ausgedrücktheit ändert sich dabei keineswegs bloß in einer Richtung. (Nach)klassische Belege für das Verschwinden vorhandener Ausgedrücktheit bieten nicht zuletzt die beiden klassischen Sprachen, also das Griechische und das Lateinische, in ihrem Übergang zur späten koiné und zum Byzantinismus einerseits, zu den Sprachen der Romania andererseits. Den fünf Prozedurentypen entsprechen hinsichtlich der Ausdrucksmittel zur handelnden Realisierung fünf Felder (im Sinne der Bühlerschen (1934) Unterscheidung von Symbolfeld und Zeigfeld): (1) (2) (3) (4) (5)

das Lenkfeld (LF) das Zeigfeld (ZF) das Symbolfeld (SF) das Malfeld (MF) das operative Feld (OF).

Auch für die einzelne Sprache - erst recht für Sprache allgemein — verteilen sich die konkreten Formen auf diese Felder in unterschiedlicher Weise. Gleichwohl sind, je nach der typologischen Grundstruktur, deutliche Schwerpunkte zu erkennen. Dies gilt besonders hinsichtlich des Symbolfeldes (3), dem große Teile der Nomina und Verben zugehören. (Bei einer einfachen Umsetzung der traditionellen Bestimmungen in das Feldkonzept, wie wir sie auch bei Bühler selbst noch weitgehend finden, würden diese Wortarten wahrscheinlich in toto dem Symbolfeld zugeschlagen. Doch damit würden z.B. Verben mit deiktischen Komponenten wie „kommen", insbesondere aber die Auxiliar- und Modalverben in ihrer Spezifik kaum erfaßbar sein.) Die „Pronomina" sind einerseits beim Zeigfeld (2) konzentriert („dieser", „jener"), andererseits beim operativen Feld (5) („Fragepronomina", „Relativpronomina"). Das Artikelsystem gehört dem operativen Feld zu, ebenso, wenn auch mit anderer Funktion, die Klasse der Konjunktionen. Das Adverb als Sammelklasse verteilt sich auf ganz unterschiedliche Felder (teils das Symbolfeld („schnell"), teils das Zeigfeld („hier"), teils das operative Feld („möglicherweise")). Die Interjektion hingegen gehört nahezu durchgehend dem Lenkfeld (1) zu. Das Malfeld (4) hingegen weist im Deutschen oder Englischen kaum Elemente mit Monemcharakter auf — ganz im Unterschied zu einigen afrikanischen Sprachen. Auch hinsichtlich anderer Einheiten- bzw. Subeinheitentypen, also etwa der Flexionsmorphologien bei flektierenden Sprachen, finden sich ähnliche Feldkonzentrationen. Das konkrete, in der einzelnen Äußerung aktualisierte Wort bietet — und dies ist ein Grundkennzeichen des flektierenden Sprachtyps —

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meistens eine komplexe Kombination unterschiedlicher prozeduraler Zwecksetzungen. Die einzelne flektierte Wortform stellt also keine elementare Kategorie dar, anders, als es das landläufige Verständnis von „Wort" nahelegt. Wie oben ausgeführt, sind derartige Zuordnungen für die einzelnen Gruppen von Ausdrücken und ihre Elemente nun freilich keineswegs ein für allemal geregelt. Vielmehr finden sich durchaus — und zwar vielfältig und in einer systematisch relevanten Weise — Übergänge eines Ausdrucks von einer Klasse zur anderen. Die im Gedanken der „translation" erfaßten Phänomene reflektieren diesen Übergang, sofern er die Wortartzugehörigkeit betrifft. Ein solcher Übergang kann auch die Veränderung einer Feldzugehörigkeit bedeuten. So ist die Interjektion „ACH", wenn sie substantiviert wird (das „Ach und Weh"), selbstverständlich nicht nur zum an der Determinationsfähigkeit erkennbaren Substantiv geworden, sondern sie hat auch ihre unmittelbare Verwendbarkeit für eine expeditive Prozedur eingebüßt. Statt dessen ist sie zur Bezeichnung eines Objektes bzw. einer Tätigkeit, nämlich der jammernden Äußerung der Interjektion „ach" geworden, die ihrerseits (das Mittel für) eine expeditive Prozedur darstellt. Die Inanspruchnahme des deiktischen Ausdruckes „ich" in der psychoanalytischen Theorie als „das Ich" bzw. in der Komposition „das Über-Ich" nimmt dem Ausdruck „ich" seine Fähigkeit zur Realisierung der deiktischen Prozedur des Verweises auf den Sprecher der jeweiligen sprachlichen Handlung. Statt dessen wird der Ausdruck zum symbolischen Ausdrucksmittel gemacht. Auch hier gehen Wortarten-„translation" und Veränderung der Feldzugehörigkeit Hand in Hand. Dies ist aber keineswegs notwendig der Fall. Der Ausdruck „so", dessen Wortartenkategorisierung freilich ohnehin schwierig ist, wird in den meisten Fällen dem Adverb zugeschlagen. Seine verschiedenen Verwendungen erbringen keine drastischen Wortartenverschiebungen, wie sie an den eben dargestellten beiden Beispielen für ein „Pronomen" und eine Interjektion zu beobachten waren. Dennoch finden sich hier Gebrauchsweisen, die unterschiedlichen Feldern zugehören. Die systematisch primäre Verwendungsweise ergibt sich aufgrund der Zughörigkeit von „so" zum System der deiktischen Ausdrücke, also zum Zeigfeld. Aber die Verwendung an Handlungsablaufs-Scharnierstellen gehört nicht diesem Feld zu, sondern dem expeditiven, erfüllt also einen anderen Handlungszweck (vgl. im einzelnen Ehlich 1987). Der Übergang eines Ausdrucks (oder einer anderen sprachlichen Form) von einem Feld zu einem anderen Feld ist der offensichtlich allgemeinere Fall, der im einzelnen vom Übergang von einer Wortart zu einer anderen Wortart begleitet sein kann. Für den Übergang von einem Feld zum anderen wird der Ausdruck „ F e l d t r a n s p o s i t i o n " vorgeschlagen. Feld-

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transpositionen sind durch ein Ausgangs- und ein Zielfeld gekennzeichnet. Die Übertragung ergibt sich in der Weise der oben beschriebenen Nutzung bereits bestehender Ausdrucksmittel für neue, ihnen ursprünglich fremde Handlungszwecke. Die Feldtransposition reflektiert also eine Zweckverschiebung in bezug auf den einzelnen sprachlichen Ausdruck bzw., allgemeiner gesagt, in bezug auf die einzelne sprachliche Form. Die pragmatisch relevante Bestimmung für den Ausdruck ergibt sich aus dem neuen, gegenüber dem primären veränderten Handlungszweck. Dieser sollte in der Beschreibungssprache seinen Ausdruck finden. Zugleich sollte aber die Differenz zu primär für diesen Handlungszweck entwickelten Ausdrücken erkennbar bleiben. Um diesen terminologischen Anforderungen zu genügen, wird vorgeschlagen, den Ziel-Handlungszweck mit dem dafür charakteristischen Terminus aus der Liste (A) zu verwenden und die Differenz zugleich durch Vorfügung des Präfixes „para" zu kennzeichnen. Im Falle des oben bezeichneten deiktischen Ausdrucks „so", mit dessen Verwendung man eine expeditive Prozedur ausführt, wird also von einem „para-expeditiven" Ausdruck gesprochen. Entsprechend sind die ersten beiden Beispiele („das Ach", „das Ich") para-symbolische Ausdrücke. Die Bezeichnung „para-..." läßt also die tatsächliche Funktionalität erkennen. Nicht ausgedrückt wird hingegen die ursprüngliche Feldzugehörigkeit. Auf deren Existenz wird aber durch das Präfix hingewiesen. Sie ist im einzelnen sprachanalytisch-linguistisch zu beschreiben, eine Aufgabe, die nur in wenigen, synchron offen zutage liegenden Fällen einfach zu lösen ist. In sehr vielen anderen Fällen ist dieser Ubertragungsprozeß hingegen synchron kaum noch oder allenfalls in Verwendungsspuren erkennbar, so daß die Feldtransposition in ihrer systematischen Struktur am ehesten über den Rekurs in die Diachronie aufweisbar ist. Jedoch ist damit nicht eine prinzipielle Ersetzung der systematischen Verhältnisse durch den sozusagen historischen Rekurs gemeint. Die Feldtransposition verlangt linguistisch eine eigene systematische Anerkennung. Sie geschieht im Prozeß der Zwecküberführungen und der Bedingungen ihrer Möglichkeit. Die Adaptierung sprachlicher Ausdrucksmittel in anderen als den ihnen eigenen Feldern ist keineswegs beliebig, sondern ergibt sich aus der Spezifik des jeweiligen Ausgangs- und Zielfeldes, ihrer je spezifischen Zwecke und der neu zu erbringenden Leistung, für die ein Ausdrucksmittel gesucht wird. Historische Sprachdaten können diese Zusammenhänge aufklären helfen. Sie sind Text gewordene Dokumentationen der mentalen Subsumptionsprozesse, die die Feldtransposition ermöglichten. Solche Prozesse müssen, um sprachstrukturelle Auswirkungen zu zeitigen und sich nicht auf bloß singuläre sprachliche Ereignisse zu beschränken, massenhaften Charakter annehmen. Dies können sie insbesondere dann,

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wenn neue Handlungszwecke aufgrund der Veränderung von Kommunikationsanforderungen in zahlreichen Fällen auftreten und wenn die Feldtransposition zu einer im Strukturzusammenhang der kommunikativ verwendeten Sprache „überzeugenden" Problemlösung führt, so daß dies verallgemeinert werden kann. Die Rekonstruktion von Feldtranspositionen stellt eine linguistisch sehr interessante Aufgabe dar, eine Aufgabe, deren Lösung auch Beiträge zur Geschichte der Entwicklung sprachinterner Zwecke und ihres Verhältnisses zu sprachexternen Zwecken zu leisten vermag. Vor allem aber kann diese Rekonstruktion dazu beitragen, die scheinbare Undurchsichtigkeit von sprachlichen Oberflächenphänomenen, das Zusammenfallen unterschiedlichster Funktionsbereiche im selben Ausdruck, aufzuklären. Sie bietet also einen anderen Analyseweg dar, als ihn einerseits die bloß listende, aber begriffslose Zusammenstellung von „Bedeutungen" bietet; zugleich läßt sie sich auch nicht auf den Ausweg der durch Indices gekennzeichneten Vermehrfachung des sprachlichen Objektes ein, für den die sprachliche Form letztendlich gleichgültig ist. In welcher Weise ein solches rekonstruktives Verfahren klärend diffuse Problemstände der Disziplin aufhellen kann, zeigt die Arbeit von Redder (1990): In ihr wird für zwei notorische Problem-Ausdrücke hinsichtlich ihrer kategorialen Zugehörigkeit der minutiöse Nachweis geführt, wie jenseits solcher Phänomenmultiplikation bzw. deskriptiver Diffusität durch den historischen und systematischen Einzelaufweis der Feldtranspositionen die unterschiedlichen funktionellen Subsumptionen, die die Interaktanten hinsichtlich der von ihnen verwendeten Ausdrücke vornehmen, durchschaubar werden können. Was für die Feldtransposition allgemein gilt, läßt sich ähnlich für Funktionsveränderungen einzelner Ausdrücke innerhalb differenzierter Einzelfelder bestimmen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der einzelnen Funktionsbereiche des operativen Feldes und der Inanspruchnahme der dafür charakteristischen Ausdrucksmittel mit Blick auf andere operativ-prozedurale Erfordernisse. Durch deren Detailrekonstruktion dürfte sich z.B. eine linguistisch-pragmatische Durchsichtigkeit der unterschiedlichen Verwendungen des Artikelsystems erreichen lassen. Die kategoriale Opazität, deren einfachster, aber keineswegs systematisch exemplarischster Fall die „translation" der Wortartenzugehörigkeit darstellt, bildet einen wichtigen Hinderungsgrund für die Gewinnung sprachrealistischer Analyseklarheit. Dies wird nicht zuletzt im desolaten Zustand der Wörterbuchpraxis deutlich, die die Opazität als semantische Undurchschaubarkeit an den Wörterbuchbenutzer weitergibt. Durch die systematische Rekonstruktion der Feldtranspositionen kann es gelingen, semantische Strukturen funktional zu rekonstruieren und ihre Komplexi-

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tat nicht nur linguistisch-analytisch, sondern auch für die Handlungszwekke komplexerer Sprachverwendungen - etwa in der Erweiterung der sprachlichen Fähigkeiten durch den Erwerb einer zweiten Sprache — zugänglich zu machen.

3. Die Rekonstruktion von Feldtranspositionen — Funktionale Etymologie Die Aufgabe, Feldtranspositionen zu rekonstruieren, bildet, methodologisch gesehen, einen wesentlichen Teilbereich des linguistischen Arbeitens. Denn gerade hier vermag die linguistische Analyse den Interaktanten eine durchaus auch handlungspraktisch nützliche Sprachreflexion zur Verfügung zu stellen. Weil es sich um einen solchen wichtigen Teilbereich handelt, ist es m.E. sinnvoll, der Rekonstruktion der Feldtransposition einen eigenen Terminus zuzuweisen. Dafür wird der Ausdruck „Funktionale Etymologie" vorgeschlagen. Im folgenden soll dieser Terminologievorschlag motiviert werden, um ihn nicht einfach im Status einer minimalen Metapher zu belassen. Die Etymologie im nach-junggrammatischen Sinn ist als ausgesprochen historische Disziplin im allgemeinen Bewußtsein präsent (vgl. Pisani 1967, 1975; Seebold 1981). Etymologie ist Wortgeschichte. Der Terminus Etymologie hat diese historisierende Interpretation auf eine systematische Weise erst in der linguistischen Tradition des 19. Jahrhunderts und durch sie erfahren (vgl. Sanders 1967). Die datenreiche und methodologisch sorgfaltig basierte Rekonstruktion insbesondere der Formseite von Ausdrücken wurde zur herrschenden, ja alleinigen etymologischen Verfahrensweise. Der Prozeß der historischen Entwicklung, den es retrograd rekonstruktiv aufzudecken galt, wurde als einer der Verdunkelung ursprünglich klarer Zusammenhänge angesehen. Die im Ausdruck „Etymologie" genutzte Vokabel des Griechischen eignete sich zwar für diese Interpretation, ist selbst aber einem anderen semantischen Zusammenhang verpflichtet: „etymon" ist zunächst nichts anderes als ein Ausdruck für „wahr". Die „Etymologie" ist also diesem terminologischen Sachverhalt zufolge die Lehre von der Wahrheit der Wörter. Als solche hat sie sich in den Kontroversen, ob die Wörter „der Natur nach" (physei) oder „dem menschlichen Setzen" (thesei) bzw. — zuvor — „dem menschlichen Bestimmen nach" (nomo) ihre Bezeichnungsaufgabe wahrnehmen, entfaltet. Diese Wahrheit der Wörter sollte durch den Rückgang zu den Ursprüngen, zur „origo", aufgeklärt werden. Etymologie transformierte also semantische Unklarheit durch einen Rückgang auf semantisch Ursprüngliches zu Klarheit. Dies geschah durch viel-

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faltige Schlußfolgerungen aus mehr oder minder zusammengerafften Ähnlichkeiten, durch Ikonizitätshypothesen, durch Assoziationen unterschiedlichster Art, die, je phantastischer sie waren, oft dann auch als um so tiefer galten. Ähnlichkeit im Laut und Ähnlichkeit in der Sache war ein Grundprinzip des etymologisierenden Verfahrens. Dies freilich sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Etymologie, insbesondere in ihrer frühmittelalterlichen (Isidor) Form, zugleich Vehikel einer enzyklopädischen Wissenstradition war. Die Subsumption der Etymologie unter die strenge formbezogene historische Analyse im 19. Jahrhundert war gegenüber diesem bis zu dessen Anfang verbreiteten Assoziationsverfahren ein vor allem aufgrund seiner methodischen Strenge ausgezeichneter linguistischer Schritt. Zugleich bedeutete er jedoch auch eine Einengung, indem aus dem semantischen Potential des Terminus Etymologie dessen ursprungsbezogene Interpretation nochmals verschärft wurde. Der systematisierende Anspruch, wie er für gerade die Anfangsphase seiner Entwicklung im sokratisch-platonischen Kontext charakteristisch war, verlor sich demgegenüber vollends. An ihm soll im Terminus „Funktionale Etymologie" insofern angeknüpft werden, als mit der Untersuchung des Wechselverhältnisses von Form und Funktion beide im systematischen Zusammenhang einer Theorie des sprachlichen Handelns konzeptualisiert werden. Funktionale Etymologie bedeutet die systematische Rekonstruktion der über Feldtranspositionen hergestellten Zuordnung einzelner sprachlicher Formen zu unterschiedlichen funktionalen Teilaufgaben des sprachlichen Handelns, zu denen vor allem die sprachlichen Prozeduren zählen. Die historische Interpretation von Etymologie wird dabei in einem mit aktualisiert, aber nicht in Isolation, sondern unter beständigem Bezug auf die systematischen Handlungserfordernisse. Zugleich bedeutet die Kombination mit „funktional", daß die Rekonstruktion ihre Anleitung nicht von der formalen Veränderung her (wie in der historischen Etymologie) erfährt, sondern von den Handlungsstrukturen für die einzelnen Ausdrücke.

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Paris, S. 117ff. Brinkmann, Henning (1971/1972): Die deutsche Sprache — Gestalt und Leistung. 2. Aufl. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion Stuttgart: Fischer.

der Sprache.

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Ehlich, Konrad (1982): Sprachmittel und Sprachzwecke. In: TTLL 1. Tilburg: Katholieke Hogeschool. [= Tilburg papers in language and literature]. In diesem Band: S. 55-80. Ehlich, Konrad (1987): so — Überlegungen zum Verhältnis sprachlicher Formen und sprachlichen Handelns, allgemein und an einem widerspenstigen Beispiel. In: Rosengren, I. (Hg.): Sprache und Pragmatik, launder Symposium 1986. Stockholm: Almqvist & Wiksell, S. 279-298. (2007) in: Ehlich, K.: Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 2, S. 141-167. Pasierbsky, Fritz (1989): Adaptation processes in Chinese: word formation. In: Coulmas, F. (ed.): Language adaptation. Cambridge: Cambridge University Press, S. 90-103. Pisani, Vittore (1967; dt. 1975): Die Etymologie. München: Fink. Redder, Angelika (1990): Grammatiktheorie und sprachliches Handeln: ,denn' und ,da'. Tübingen: Niemeyer. Redder, Angelika (1994): „Bergungsunternehmen" — Prozeduren des Malfeldes beim Erzählen. In: Brünner, G. / Graefen, G. (Hgg.): Texte und Diskurse. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 238-264. Sanders, Willy (1967): Grundzüge und Wandlungen der Etymologie. In: Wirkendes Wort 17, S. 361-384. Seebold, Elmar (1981): Etymologie. Eine Einführung am Beispiel der deutschen Sprache. München: Beck. Tesnières, Lucien (1959): Eléments de syntaxe structurale. Paris: Klincksieck. Deutsch: Grundlage derstrukturalen Syntax. Hg. v. U. Engel (1980). Stuttgart: Klett-Cotta.

Sprache als System versus Sprache als Handlung 1. Vorbegriff und Verfahren Die Uberschrift stellt notwendig eine Abbreviatur dar. In ihr wird prägnant eine theoretisch-analytische Kontroverse zusammengefaßt, die sich in den letzten Dezennien voll entfaltet hat. Von den beiden in der Überschrift benannten Aspekten von Sprache kann dabei nur der erste auf eine verallgemeinerte Akzeptanz rechnen, wenn auch der Ausdruck „System" in sich sicher nicht einfach selbstverständlich ist (vgl. 3.3). Das Reden von Sprache als System aber hat sich im 20. Jahrhundert zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt, die auch wissenschaftsinstitutionell ihren Niederschlag gefunden hat. Die Sprachwissenschaft versteht sich weithin als ,Systemlinguistik' und erhebt darin Anspruch auf den Systemcharakter ihres Objektes. — Ganz anders der Aspekt, der Sprache mit Handlung in Verbindung setzt. Er ist selbst erst in einer kritischen Gegenbewegung gegen landläufige Selbstverständlichkeiten des verallgemeinerten Sprachkonzepts thematisiert worden. Es kann gegenwärtig nicht die Rede davon sein, daß diese Bewegung schon zu ihrem Abschluß gekommen wäre. Vielmehr läuft die Kontroverse weiter, wobei die wissenschaftsinstitutionellen Verfestigungen der Interpretation von Sprache als System eine offene Diskussion eher erschweren. - Die Kontroverse „Sprache als System vs. Sprache als Handlung" ist also nicht einfach eine beliebige Kontroverse um die genaue Qualifizierung der sprachlichen Objekte und/oder um die füir deren Erfassung erforderliche Methodik. Sie betrifft vielmehr in grundsätzlicher Weise das Sprachverständnis selbst — und zwar nicht nur in seinen jeweiligen wissenschaftlichen Oberflächenmanifestationen, sondern vielmehr auch und vor allem in den präsuppositionellen Wissensbeständen der europäischen Grundkonzeptualisierungen von Sprache, die stillschweigend und nachhaltig die verschiedenen, zum Teil durchaus kontroversen Sprachkonzeptionen der neueren Linguistik bestimmen und zugleich die Sprache, mit der über Sprache geredet wird, determinieren. Die Behandlung dieser Kontroverse verlangt also eine Erörterung auch ihrer expliziten und vor allem ihrer impliziten Voraussetzungen, der wissenschaftsinstitutionellen Implikationen sowie der Wissenschaftssprache, in der diese Kontroverse geführt, aber auch jede alltägliche Wissenschaft-

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liehe Detailarbeit geleistet wird. Die Darstellungsweise wird im folgenden also historisch-systematisch zu sein haben, weil die Kontroverse selbst nur als geschichtliche verstehbar und im Aufweis ihrer Geschichtlichkeit zugänglich ist. Zugleich erfolgt die Darstellung sprachkritisch, indem die Vorentscheidungen, die die herrschende Sprache über das Objekt Sprache immer schon enthält, wenigstens ansatzweise thematisiert werden. Beides zusammennehmend, ist die Darstellung selbst in doppelter Weise „anfänglicher", indem sie sich nicht einfach auf die Vorgängigkeit des über Sprache vermeintlich immer schon Bekannten einläßt, sondern dieses in seiner systematischen Konstituierung zu verstehen sucht. — Dabei sind die im folgenden vorgetragenen Überlegungen lediglich ein Versuch, in bezug auf ein wenig bearbeitetes Forschungsgebiet einige Aspekte zu thematisieren, deren zukünftige Bearbeitung — insbesondere in der Gestalt einer systematischen Geschichte der Linguistik — vielleicht in der Lage wäre, jenes schwer durchschaubare Geflecht wechselseitiger Bedingtheit analytisch schärfer zu erfassen.

2. Sprache und Reflexion Die Beschäftigung mit Sprache beschäftigt notgedrungen Sprache. Die Beschäftigungen der Philosophie sind — jedenfalls in ihrer okzidentalen Form — immer zugleich Beschäftigungen mit Sprache. Erstaunlich gering ist demgegenüber die Aufmerksamkeit, die dieser elementare Zusammenhang in der Philosophie selbst gefunden hat. In aller Radikalität hat erst die „ordinary language philosophy" (s. Savigny/Scholz 1996) die unumgängliche Sprachlichkeit von Philosophie als eine transzendentale Bestimmung dieser selbst thematisiert — zu wesentlichen Teilen freilich so, daß, was als transzendentale Bestimmung zu erörtern wäre, in eine materielle philosophische Position umgesetzt wurde. Dieser Umschlag aktualisiert ein Grunddilemma, das sich aus der Sprachlichkeit ergibt und das im Aufweis der Umgangssprache als letzter Metasprache von Apel (1973) in seiner hermeneutischen Rekonstruktion der „ordinary language philosophy" am schärfsten herausgearbeitet wurde. Die Bearbeitung dieses Dilemmas geschah weithin — zu den partiellen Ausnahmen gehören die Stoa und selbstverständlich Kant — durch Reflexionsentzug, also durch die Sprachvergessenheit der philosophischen Praxis. Wenn Sprachlichkeit transzendentale Bestimmung von Philosophie ist, so ist andererseits die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache perspektivisch ohne deren Reflexion schwerlich möglich. Die tatsächliche Beschäftigung freilich ist weithin gerade durch eine ebensolche Philosophie-Vergessenheit der Linguistik gekennzeichnet. In ihr wird alles das,

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was an direkt oder indirekt philosophisch gewonnenen Grundbestimmungen für Sprache überkommen ist, auf diffuse Weise und unter Tilgung der Herkunft selbstverständlich in Anspruch genommen. Wie also die theoretische Befassung mit Sprache der Sprachlichkeit nicht entbehren kann, so ist die Linguistik auf Theorie substantiell angewiesen. Dies gilt selbst noch für die positivistisch ins Detail versessene Philologie, die sich von ihrer Begründung soweit entfernt glaubt, daß sie sich in der Reproduktion ihrer bloßen Praxis genügen zu können scheint. — Gerade in der Grundbestimmung dessen, was Sprache sei, macht sich diese doppelte Problematik bemerkbar. Sie zu bearbeiten verlangt eine Analysepraxis, die die Aufdeckung der insgeheim in Anspruch genommenen, aber in ihrer Herstellung undurchschaubar gemachten theoretischen, insbesondere konzeptionellen Voraussetzungen zum notwendigen Gegenstand hat. Die Analyse ist also immer zugleich Analyse der Formen und Kennzeichen wissenschaftlicher Kommunikation, in der jene Konzepte gebildet, unterhalten und verändert werden. Wissenschaftliche Kommunikation und ihre Ergebnisse sind aber linguistisch erst seit kurzem zum Analysegegenstand gemacht worden (vgl. den Überblick zum Forschungsstand in Kretzenbacher 1992).

3. System und Struktur 3.1 Zum Stellenwert der Ausdrücke „System" und „Struktur" Es scheint zu den Selbstverständlichkeiten gegenwärtiger wissenschaftlicher Beschäftigung mit Sprache zugehören, daß es sich beim Objekt dieser Beschäftigung um eine — günstigenfalls abgegrenzte - Struktur oder Kombination von Strukturen handelt. Für diese ist der Ausdruck „System" zu einer allgemeinen Bezeichnung geworden. Die Intention dieser Bezeichnung ist im allgemeinen eher vage, so daß der Ausdruck „System" sich in seiner Verwendung häufig kaum vom Ausdruck „Struktur" unterscheidet. ,Systemlinguistik' ist insofern .strukturelle Linguistik' oder ,strukturalistische Linguistik', und ,strukturalistische Linguistik' wird als ,Systemlinguistik' charakterisiert. — Mit der Verwendung beider Ausdrücke wird im allgemeinen implizit ein theoretischer Anspruch erhoben. Deshalb ist es sinnvoll, dem Stellenwert der Ausdrücke weiter nachzugehen. Der Ausdruck „Struktur" ist dabei weniger durch vorgängige theoretische Konfigurationen spezifiziert als der Ausdruck „System", der insbesondere durch die klassische idealistische Tradition zu einer philosophischen Grundkategorie erhoben wurde.

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3.2 Wissenschaftliche Alltagssprache Betrachten wir diese Zusammenhänge genauer. Der Ausdruck „Struktur", aber auch der Ausdruck „System" in seiner heutigen Verwendung gehören offensichtlich zu jener Gruppe von Ausdrücken, mittels derer wissenschaftliche Verständigung jenseits oder vor aller fachwissenschaftlichen Spezifizierung erfolgt, ähnlich wie „Form", „Konsequenz", „Kategorie" usw. Diese Ausdrücke bilden eine spezifische Varietät der Wissenschaftssprache, die — unter Verwendung des Terminus „Alltag" der „ordinary language philosophy" — vielleicht am besten als „alltägliche Wissenschaftssprache" oder als „wissenschaftliche Alltagssprache" bezeichnet werden kann. Um zu verstehen, was die Qualifizierung eines Objektbereichs mit einem Ausdruck aus dieser spezifischen Sprachvarietät bedeutet, ist es sinnvoll, nach ihrer sprachlichen Leistungsfähigkeit zu fragen. — Die Formulierung „wissenschaftliche Alltagssprache" scheint paradox zu sein: Die Qualifizierung einer Varietät von Wissenschaftssprache als Alltagssprache scheint gerade der Opposition zu widersprechen, die dem Reden von Wissenschaftssprache zugrundeliegt. Insofern mag sie als unangemessen erscheinen. Wissenschaftssprache unterscheidet sich ja gerade dadurch von der alltäglichen Sprache, daß sie — insbesondere in ihren lexikalischen Elementen — grundlegende Bestimmungen aufgegeben hat, die die alltägliche Sprache kennzeichnen: deren Vagheit einerseits, andererseits aber auch ihre Flexibilität und schließlich eine weitgehende Undurchsichtigkeit der kommunikativen Strukturen im Prozeß ihrer Aktualisierung. Bezogen auf die lexikalischen Elemente bedeutet letztere, daß deren semantische Potentiale viel von ihrer Geschichte enthalten, daß diese jedoch im allgemeinen im Modus bloßer Potentialität verbleibt. Im semantischen Potential des Ausdrucks „Terminus" ist insbesondere die Reduktion semantischer Flexibilität eingeschrieben. Der Ausdruck empfahl sich für die Bezeichnung des heute mit ihm Gemeinten gerade durch den Bezug auf Verfahren des Begrenzens und Einschränkens — semantische Aspekte, die in anderen Elementen aus dem Umfeld von „Terminus" auch im gegenwärtigen Sprachgebrauch noch präsent sind, z.B. „terminieren". Termini sind „Grenzzeichen", „Schranken" (Georges 1992, Sp. 3075). Auch der zweite Aspekt des lateinischen semantischen Ausgangspotentials, das „Ende", ist in der wissenschaftlichen Inanspruchnahme aufgehoben. Die fixierte „Bedeutung" der Termini ist das Ergebnis eines jeweiligen Prozesses des Ab- und Ausgrenzens, dessen — im Prinzip reversibles, aber für den erreichten Stand abschließendes — Resultat der Terminus faßt und für die weitere wissenschaftliche Kommunikation gegenwärtig hält. - Dies tut er im Modus der Perspikuität. Die Terminologiebildung bindet die aktuell verwendeten Grundelemente der

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wissenschaftlichen Kommunikation in den Prozeß der systematisierten Wissensgewinnung ein, als der sich die neuzeitliche Wissenschaft versteht. Eben diese Perspikuität ist die Voraussetzung möglicher Revisionen. Die Termini haben insoweit geradezu den Charakter von Katalysatoren für die Veränderung der institutionalisierten Wissensgewinnung. Insofern fallen im Terminus der wissenschaftliche Prozeß und sein Resultat zusammen. Im Gedanken der alltäglichen Wissenschaftssprache wird demgegenüber die wissenschaftliche Kommunikation als eine spezifische sprachliche Veranstaltung ernstgenommen. Sie hat teil an jenen in der Terminologiebildung eliminierten Kennzeichen alltäglicher Kommunikation, die für deren Gelingen offenbar unabdingbar sind. Für die Wissenschaftssprache bedeutet dies, daß in ihr drei Aspekte ungeschieden ineinander liegen, die auch sprachanalytisch schwer zu unterscheiden sind: Elemente der alltäglichen Sprache, Elemente der alltäglichen Wissenschaftssprache und terminologische Elemente. Der spezifische Stellenwert der Elemente alltäglicher Wissenschaftssprache besteht dabei darin, daß sie ihrer historischen Genese und ihrer systematischen Verankerung nach der eigentlichen Wissenschaftssprache zugehören, daß ihre Verwendung beim sprachlichen Handeln hingegen den Gesetzen alltäglicher Sprache folgt. Hinsichtlich der oben beschriebenen Kennzeichen von Terminologien bedeutet dies insbesondere einen Verlust der Perspikuität. Gegenüber den Termini vergrößert sich ihre Vagheit; komplementär dazu gewinnen die Elemente alltäglicher Wissenschaftssprache an Flexibilität. — Der Verlust an Perspikuität erreicht seinen Höhepunkt dann, wenn das in den sprachlichen Elementen eingebundene Wissen zum allgemeinen Präsuppositionsbestand derer gehört, die Wissenschaft betreiben und dadurch eo ipso (vgl. Weinrich 1989; 1993) als deren Teilnehmer in die Wissenschaftskommunikation hineingestellt sind, um so die der neuzeitlichen Wissenschaft inhärente Offentlichkeitsforderung zu erfüllen. Dem allgemeinen Präsuppositionsbestand zugehörige sprachliche Elemente sind in einem erheblichen Umfang gegen Revisionen geschützt. Diese Bestimmung widerspricht substantiell dem, was Wissenschaftssprache der Anforderung nach kennzeichnet. Mangel an Durchschaubarkeit ist aber zugleich die notwendige Voraussetzung wie der konkrete Ausdruck für die präsuppositive Inanspruchnahme. Der paradoxe Charakter der Bezeichnung „wissenschaftliche Alltagssprache" markiert also eine Widersprüchlichkeit im Bereich von Wissenschaftskommunikation selbst, die irritierend die Praxis der Wissenschaftskommunikation unumgänglich begleitet. Alltagssprache ist daher nicht nur letzte Metasprache. Sie setzt sich vielmehr auch pragmatisch in wesentlichen Bestimmungen für die Wissenschaftskommunikation durch. — Der Doppelcharakter alltäglicher Wissenschaftssprache erlaubt es, in Zweifelsfallen immer wieder auf ihre wis-

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senschaftliche Dignität zu rekurrieren. Ob freilich das, was wissenschaftliche Dignität ausmacht und sprachlich am Beispiel des Terminus näher verdeutlicht wurde, in bezug auf die einzelnen Elemente wissenschaftlicher Alltags spräche tatsächlich vorliegt, bedürfte der einzelnen Überprüfung — und damit genau jener Reflexion, die die präsuppositionellen Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, ja sie tendenziell auflöst. Diese Kennzeichen wissenschaftlicher Alltagskommunikation machen sie zu einer problematischen Struktur, die sich als linguistische „Zwickmühle" im wissenschaftlichen Betrieb selbst Geltung verschafft. Zwickmühlen für das menschliche Handeln werden kommunikativ und wissensmäßig nicht zuletzt dadurch bearbeitet, daß sie „vergessen" werden.

3.3 System Worauf zielt die Qualifizierung von Sprache als „System" oder als „Struktur"? Wie in 3.1 dargestellt, fallen im Ausdruck „System" Sach- und Theoriestruktur auch für das heutige alltags-wissenschaftssprachliche Bewußtsein ineinander. Dieser Zusammenhang ist freilich lediglich im objektiven Idealismus auch tatsächlich entwickelt worden (vgl. Hegel 1830, § 15ff.). Ohne diese Entwicklung bringt lediglich der sprachliche Ausdruck zusammen, was in seinen spezifischen Verhältnissen allererst bestimmt werden müßte. Es ist also nicht die strenge Definition Kants (KrV Β 860ff.), die explizit in Anspruch genommen würde: Ich verstehe [...] unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.

Gleichwohl sind es Nachklänge der Hoffnung auf derartige Erkenntnis, die auch im alltäglich-wissenschaftlichen Reden von „System" eine Rolle spielen. Dort wird primär mit „System" „das in sich geschlossene Ganze, wie es in der Natur selbst gegeben ist" (Hoffmeister 1955, S. 598), bezeichnet. Der zweite Aspekt, nämlich System als „das Ganze von zusammengehörigen Lehrsätzen, das Ganze einer Wissenschaft", wird hingegen gleichsam nur per associationem mit aufgerufen. Im Versuch der Gleichsetzung von Sache und ihrer Erkenntnis, wie sie die mangelnde Unterscheidung von „sprachlich" und „sprachwissenschaftlich" im englischen Ausdruck „linguistic" nahelegt, wird freilich in der generativen Grammatik just dieser Zusammenhang emphatisch in Anspruch genommen — wenngleich auch hier keineswegs wirklich entwickelt. Vielmehr wird durch die Biologisierung des ,Language Acquisition Device' die fehlende Ableitungsstruktur durch Hypostasierung ontologisch gesetzt und so dogma-

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tisch verbindlich gemacht. — Ähnlich wie „System" bezieht sich auch „Struktur" (zur linguistischen Nutzung vgl. Wunderlich 1972) auf ein, einer inneren Architektonik verpflichtetes Ganzes. Beide Qualifizierungen heben also einerseits auf die innere Form, andererseits auf das „Ganze", also auf eine — jedenfalls in sich — abgeschlossene Wirklichkeitsstruktur ab.

3.4 Form und Regel „Struktur" und „System" ersetzen zwei ältere Redeweisen über Sprache, die von der Sprache als „Form" einerseits, die von der „Regel" andererseits. Beide Redeweisen gehören zu ältesten Konzeptualisierungen von Sprache im europäischen Kontext, und beide haben ihre spezifischen Ansatzpunkte an der Sprache selbst. — Die Geformtheit von Sprache gehört zu den charakteristischen Merkmalen jener Sprachen, die der primäre Gegenstand der europäischen Linguistik gewesen sind, nämlich der griechischen und der lateinischen. Beide sind hoch flektierende Sprachen, Sprachen also, die — etwa im Unterschied zu einer „isolierenden" Sprache wie der chinesischen — durch eine extreme morphologische Differenzierung gekennzeichnet sind. Diese ins Auge springenden Strukturen bilden den Ausgangspunkt für die professionelle Beschäftigung mit Sprache in der Antike; ihre Beschreibungen sind es auch, die im wesentlichen das Ergebnis jener Art von Linguistik ausmachen. Fast die ganze Deskription der älteren Grammatiken wie auch ihre Zusammenfassung zur Einteilung in Redeteile (μέρη λόγου, partes orationis) beziehen sich auf diese formalen Merkmale der untersuchten Sprache. — Auch das Reden von den „Regeln" verdankt sich diesem Zusammenhang. In der Beobachtung der Verteilungen einzelner formaler Elemente und in der Beobachtung ihres Wiederauftretens wurde Regelmäßigkeit sichtbar, die als Regel zunächst deskriptiv, dann aber auch präskriptiv gefaßt wurde. Beide Verfahren blieben jedoch im wesentlichen aufzählend. Sie ordneten das Vorfindüche nicht „unter einer Idee" oder auch nur unter einem leitenden Gesichtspunkt. Vielmehr beschränkten sie sich auf das Konstatieren und Reproduzieren des als faktisch bereits Bekannten oder gegebenenfalls neu Erkannten.

3.5 Wissenschaftssystematische Hintergründe des Übergangs von „Form" und „Regel" in „System" und „Struktur" Demgegenüber insistiert die Qualifizierung von Sprache als „System" (a) auf einer inneren Geordnetheit des bloß Vorfindlichen und (b) auf der Gesamtheit und damit Abgeschlossenheit des Phänomenbereichs. — Die

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Forderung, beidem analytisch nachzugehen, ergibt sich — sieht man von dem bei den Modisten erreichten Reflexionsstand ab (s. Jacobi 1996) — als eine Folge des verschärften Theorieanspruchs der sich entfaltenden Linguistik, wie sie seit dem beginnenden 19. Jahrhundert, besonders aber im 20. Jahrhundert betrieben wurde. Bei immer neuen, im wesentlichen positivistisch orientierten Gegenbewegungen, z.B. der der Junggrammatiker, läßt sich die Entfaltung der Linguistik in diesem Sinn auch als eine Bewegung zur Verwissenschaftlichung bestimmen. Diese gewann — nach und in Abkehr von den breit reflektierenden Anfangen bei Wilhelm von Humboldt (s. Kledzik 1996) — im 20. Jahrhundert ihre Dynamik vor allem aus der Erwartung der Rekonstruktion von Sprache als eines formalen Systems. Dabei sind es drei andere wissenschaftliche Disziplinen, die das Leitmodell abgeben, die Biologie, die Physik und die Mathematik. Die Biologisierung, in August Schleichers Darwinismus zunächst ad absurdum geführt, im Behaviorismus jedoch neu und anders methodologisch entfaltet und vom Generativismus kritisiert, erfahrt in der jüngsten Phase der generativen Linguistik ihre Wiedereinsetzung. Dabei werden unterschiedliche Analogisierungen des Objekts vorgenommen. — Das Leitmodell der Physik, insbesondere der Mechanik, wirkt hingegen vor allem methodologisch. Die Reduktion einer vielfältigen Gegenstandswelt auf einige wenige Grundelemente (res extensa) und die Rekonstruktion ihrer Veränderungen als Gesetzmäßigkeiten wirkten in der ganzen neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte erkenntnisstiftend oder doch jedenfalls Erkenntnis stimulierend. Als Sprache, in der diese Gesetzmäßigkeiten zu erfassen sind, gilt die der Mathematik. Dieser kommt für Sprache darüber hinaus ein weiterer Stellenwert über eine vermutete und zum Erkenntnisziel gemachte Ähnlichkeit in der Sache zu. So wurden Mathematik und Sprache theoretisch miteinander verzahnt: „Jede erweist sich als die geeignetste Metasprache für die Strukturale Analyse der anderen" (Jakobson 1988, S. 437) — wenngleich die Ausarbeitung des Programms die „irgendwie ähnliche(n) Ergebnisse", die nach Jakobson bereits Baudouin de Courtenay für die Sprachwissenschaft durch den Bezug auf die Mathematik erwartete, weithin noch immer nur als Zukunftshoffnung enthält.

3.6 Objektmanipulation und Systemkonstruktion Besonders die Mathematisierung wird auch methodologisch in die Pflicht genommen, um die wissenschaftliche Analyse von Sprache zu betreiben. Damit ist eine der wichtigsten Antriebskräfte für die Entwicklung der Sprache als Systemwissenschaft benannt. Seit dem Cours de linguistique

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générale (1916) Ferdinand de Saussures (s. Stetter 1996) sind es vor allem methodologisch motivierte Manipulationen am Objekt Sprache selbst, die den Systemcharakter von Sprache zu erfassen gestatten, aber vor allem auch zu erfassen erforderlich machen sollen. Diese methodologisch motivierten Bestimmungen dessen, was als legitimes Objekt der Sprachwissenschaft zu gelten habe, setzen zentral auf das sprachliche System als eigentlichen linguistischen Gegenstand. Sie modernisieren darin das naturwüchsige Sprachverständnis, das in der wissenschaftlichen Alltags spräche als Ergebnis der antiken Sprachkonzeptualisierungen immer schon präsent ist. Sprache wird als ein in sich abgeschlossenes Objekt proklamiert. Dieses erfahrt seine konkrete Fassung je nach den herangezogenen Bezugswissenschaften und vor allem je nach den damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Anforderungen. Im Ergebnis ist das Objekt dermaßen zerlegt, daß sich die einzelnen Konzepte kaum noch überlappen. Der Prozeß als ganzer aber kann beschrieben werden als ein Prozeß der Exklusion: Aus dem Bereich der Sprache (langage) wird zunächst das System der ,langue' herausgelöst und zum eigentlichen Objekt der Linguistik erklärt. Damit fallen große Teile nicht nur der bis dahin betriebenen Linguistik weg, sondern auch große Teile des Objekts verlieren ihr theoretisches Interesse. Aus anderen, nämlich sensualistisch motivierten methodologischen Gründen (vgl. Watson 1913; Bloomfield 1935) wird dann im behavioristisch-linguistischen Modell der Bloomfield-Nachfolger die „Bedeutung" aus der Sprache eliminiert. Schließlich erfolgt die Restriktion der Syntax auf einen Algorithmenkomplex. — Dieser methodologische Rigorismus erst gestattet die — je andere — Rekonstruktion der inneren Struktur oder eben des Systems. Mit dem Systemcharakter steht und fällt daher auch der Wissenschaftsanspruch der Disziplin — sicherlich eines der stärksten, weil für die Wissenschaftler existentiellen Argumente für die Absicherung des jeweiligen Paradigmas von Sprache als System. 3.7 Aristoteles' Konzentration auf die Assertion und ihre Folgen Mit den verschiedenen Objektreduktionen der Linguistik dieses Jahrhunderts wird ein Programm zum Abschluß gebracht, das sich sehr frühen Festlegungen des Sprachkonzeptes am Anfang der griechisch-lateinischen Tradition verdankt. Die Beschäftigung mit Sprache, die vor allem aus philologischen Bedürfnissen hervorgegangen ist, wurde frühzeitig dadurch bestimmt, daß ein nicht-philologisches Interesse interferierend wirksam wurde, nämlich ein philosophisches. Aristoteles (s. Ax 1996) praktizierte bereits das Verfahren der Objektreduktion. In seiner grundlegenden

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Schrift De Interpretatione geht es ihm lediglich um einen Teilbereich dessen, was in der Rede (λόγος) geschieht, nämlich um den λόγος άποφαντικός, die Aussage. Alles andere läßt er auf sich beruhen. Diese bei Aristoteles von seiner Fragestellung her sehr gut motivierte Reduktion hat sich verselbständigt. Es ging ihm darum, die Kennzeichen von Bejahung und Verneinung zu erarbeiten; was er entwickeln wollte, war eine Theorie der Assertion. Die Delegierung anderer Redefunktionen an andere Disziplinen (Rhetorik, Poetik) wirkte sich praktisch als eine Aufsplitterung des linguistischen Objektes aus. Erst mit John L. Austins Arbeiten (vgl. Austin 1962, § 4.4) erfolgte eine systematische Wiederzusammenführung des seit damals Getrennten. Die Abspaltung von Teilbereichen des Objekts Sprache koppelte diese mit der Disziplinentwicklung und -geschichte anderer Wissenschaftsbereiche zusammen. Insbesondere die mehrfachen Umbrüche in der Geschichte der Rhetorik wirkten sich fatal aus (s. Astroh 1996). Der Funktionsverlust der Rhetorik bereits seit der hellenistischen Zeit, ihre zunehmende Literarisierung und damit ihre vollständige Funktionalisierung für die Produktion „schöner Literatur", schließlich ihr weitgehender Untergang nach dem Ende der Barockzeit verhinderten einerseits, daß diejenigen sprachlichen Bereiche, die die aristotelische Arbeitsteilung der Rhetorik zugewiesen hatte, umfassend behandelt worden wären. Andererseits bedeutete der Verlust an wissenschaftlicher Dignität und gesellschaftlicher Relevanz, daß das wissenschaftliche Schicksal der der Rhetorik zugewiesenen Aspekte von Sprache für mehrere Jahrhunderte besiegelt schien. Das Ausgegrenzte verlor auch noch den ihm zugewiesenen Ort „extra muros" der Sprachwissenschaft und damit jegliche wissenschaftliche Aufmerksamkeit. - So stabilisierte sich ein Konzept von Sprache, das lediglich noch der Assertion bzw. dem — wie es dann hieß — „Satz" und seinen Elementen verpflichtet war. Diese Bewegung gerann zu einem unhinterfragbaren Präsuppositionsgefüge dadurch, daß sie sich mit der in ihrer Bedeutung wachsenden Schriftlichkeit verband. Aufgrund der Umsetzung der textuellen Überlieferungsbestände in das Tradierungsmittel Schrift wurde einer Verdinglichung von Sprache sichtbar Vorschub geleistet. In mehreren Schritten einer Radikalisierung — die bedeutendsten unter ihnen waren der reformatorisch-humanistische („sola scriptura") im 15. und 16. Jahrhundert und der neophilologische seit dem 17. Jahrhundert — wurde dieser Prozeß soweit vorangetrieben, daß sich eine faktische Gleichsetzung von Sprache, Schrift und Satz (im Sinne von Assertion oder Urteil) stabilisierte. Diese bildet die stillschweigende Grundlage auch der Linguistikgeschichte im engeren Sinne während des 20. Jahrhunderts, und zwar auch noch dort, wo theoretisch die Voreingenommenheit der Linguistik zugunsten der Schrift bereits kritisiert wurde (vgl. Linell 1982). Die in 3.6 beschriebene Entwicklung bediente sich selbstredend des so

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herausgebildeten Sprachkonzepts und reproduzierte es, indem es die reduktionistische Grundbewegung erneut verschärfte und so die verschiedenen linguistischen Sprachsystem-Konzepte entfaltete.

3.8 Gegenbewegungen Im Ergebnis dieser Entwicklung zeigt sich eine Theorieerwartung, die vor allem verspricht, den - je anderen — wissenschaftstheoretischen Anforderungen unterschiedlicher Bezugsdisziplinen zu entsprechen. Zugleich schränkt sie das Objekt immer mehr ein. Anders als etwa in der Mechanik steht dadurch die eigentliche analytische Arbeit in der Gefahr, sich zu verflüchtigen. Das stillschweigend methodologisch Abgespaltene wird zunächst zum Objekt anderer Disziplinen (z.B. Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Jurisprudenz), deren Beschäftigung damit jedoch sofort in den Verdacht des Dilettantismus gerät. Im Versuch der Bearbeitung des von der Linguistik Vernachlässigten verfestigt sich so gerade jene Arbeitsteilung, deren Überwindung sie dienen sollte. Eine systematische Infragestellung der — in ihren Grundbestimmungen kaum durchschauten — Reduktionen findet nicht statt. Auf diese Weise aktualisiert sich ein Immunisierungszusammenhang des Konzeptes ,Sprache als System', der sich bis heute bewährt.

4. Sprache als Handlung Außer bei den Thematisierungen von Sprache in den unterschiedlichen Disziplinen, die für ihre eigene Arbeit auf eine umfassende Sprachkonzeption und -theorie angewiesen sind (z.B. in der Völkerkunde bzw. der Ethnologie und Sozialanthropologie, vgl. Malinowski 1923; Hymes 1977), zeigen sich auch in linguistischen und linguistiknahen Zusammenhängen immer neue und theoretisch ebenso unterschiedlich verankerte Ansätze, wie sie sich für die reduktionistischen Sprachkonzepte beobachten lassen, die seit dem Ausgang des letzten Jahrhunderts Gegenbewegungen hervorbringen, in denen Sprache in ihren Handlungszusammenhängen zunehmend zum Gegenstand wird. Insbesondere in engem Zusammenhang mit der sich sprunghaft entfaltenden Psychologie entwickelte sich eine linguistische Beschäftigung mit Sprache, in der das Thema .Sprache als Handlung' einen zentralen Stellenwert einnahm.

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4.1 Wegener: Handlung und Verstehen Die Untersuchung Philipp Wegeners (1885) über Die Grundfragen des Sprachlebens hat in ihrem zweiten Teil, einem ursprünglich selbständigen Vortrag „Zur Frage: Wie verstehen wir Sprache?", ein mehr als die Hälfte des gesamten Textes ausmachendes Kapitel über „Die Handlung". In den vergleichsweise wenigen grundsätzlich und theoretisch vorgehenden Arbeiten der Junggrammatiker, insbesondere in den Vorbemerkungen der großen philologisch-positivistischen Grammatiken — so besonders bei Karl Brugmann (1904) — wird die Bedeutung dieses Werkes hervorgehoben (s. Cloeren 1996). - Dennoch stellte sich keine Kontinuität in der Entfaltung der Fragestellung ein. Vielmehr verlief die Hauptentwicklung mit Saussures nachgelassenem Cours und seiner Rezeption in der in 3.6 angegebenen anderen Richtung. Gleichwohl wurden die bei Wegener entfalteten Gedanken an verschiedenen Stellen aufgenommen, nicht zuletzt im Werk eines bedeutenden britischen Ägyptologen, Allen Henderson Gardiner, dessen Buch The Theory of Speech and Language (1932) zu einem der einflußreichsten Werke wurde, in denen der Handlungscharakter von Sprache thematisiert ist. Auch John Rupert Firth, der den Grund jener englischen Linguistenschule legte, die sich bis zur heutigen HallidayLinguistik fortsetzt, war, wie er selbst verschiedentlich bezeugte, von Wegener beeinflußt (vgl. Koerner 1991, VI).

4.2 Bühler: Deixis, Handlung, Zeichen Vor allem aber war es einer der bedeutendsten Psychologen in der nach-Wundtschen Psychologie, nämlich Karl Bühler (s. Innis 1996), der in einer Reihe von Arbeiten den Handlungscharakter von Sprache wiederentdeckte. Bühler bemühte sich darum, im Rückgriff auf Wegener und Brugmann und in kritischer Auseinandersetzung unter anderem mit Saussure das Verhältnis von Sprache und Handlung als grundlegend für jede Sprachtheorie zu entfalten. Dies blieb bei ihm nicht nur — eine Axiomatik prätendierendes - Programm (1933), sondern wurde in seinem linguistisch-sprachpsychologischen Hauptwerk, der Sprachtheorie (1934), analytisch-kritisch produktiv gemacht. Insbesondere die erste systematische Behandlung der deiktischen sprachlichen Phänomene war das Ergebnis der neuen Grundorientierung. Der zweite Teil der Sprachtheorie ist gänzlich diesem Themenbereich gewidmet. Bühler gelingt es hier, vorgängige, eher zerstreute Bemerkungen durch den Handlungsbezug derart zu systematisieren, daß eine bis dahin weitgehend verkannte Sprachstruktur ersichtlich wurde. Hatte bereits Hegel unter dem Titel „Die sinnliche Ge-

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wißheit; oder das Diese und das Meinen" in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) auf die philosophische Vertracktheit deiktischer Ausdrücke aufmerksam gemacht, so gelang es Bühler nunmehr, solche Beobachtungen in eine konsistente Darstellung umzusetzen. Die semantische Bestimmung wird erst möglich, wenn man den inneren Aufbau der sprachlichen Handlung begreift und sich bewußt hält, daß die Sprechsituation selbst für das Fungieren der deiktischen Ausdrücke wesentlich ist (s. Künne/Sosa 1996). Seine neuen Erkenntnisse wurden von Bühler in ihrer grundlegenden Konsequenz auch tatsächlich ernst genommen, was bei ihm dazu führte, daß er gegenüber der überkommenen Wortarteneinteilung zu einer grundsätzlichen Dichotomisierung der sprachlichen Ausdrucksmittel kam, die er mittels seines Konzeptes der sprachlichen ,Felder' begründete. Gegenüber der traditionellen Klassifikation in Redeteile, die nichts weiter als die Aufzählung prinzipiell gleichartiger Objekte darstellt, ergibt sich nunmehr eine in ihrer inneren Systematik durchschaubare Strukturbeschreibung für einen bis dahin weitgehend theorieresistenten Teil des sprachlichen Gesamtzusammenhangs. Während Bühler für die deiktischen Ausdrücke die Radikalität seiner neuen handlungstheoretischen Bestimmungen bis in die explikativen Einzelheiten seiner Analyse verfolgte und umsetzte, gilt Vergleichbares nicht für alle Teile seines Werkes. Vielmehr ist dieses weithin von einem theoretischen Schwanken zwischen der beginnenden Handlungsorientierung einerseits und einer noch weitgehenden Zeichenorientierung andererseits gekennzeichnet, in der er das Präsuppositionssystem der überkommenen Sprachwissenschaft und -philosophie einfach fortschreibt. So ist sein Werk von einer doppelten Ausrichtung geprägt, die nicht miteinander vermittelt ist. - Die tragischen Ereignisse der wissenschaftlichen Biographie Bühlers, seine Vertreibung aus Wien und die Emigration in die USA, wo er keine geeignete Wirkungsstätte mehr fand, hinderten ihn an der weiteren Entfaltung seiner Überlegungen. Eine Rezeption der Sprachtheorie fand zunächst nicht statt. Erst die zweite Auflage des Werkes (1965) stieß auf günstigere Umstände. Gleichwohl war auch diese Rezeption geprägt von der Doppelstruktur, die dem Werk eignet: Zunächst wurde der erste Teil und daraus das Zeichenmodell breit zur Kenntnis genommen; erst danach setzte eine mähliche Rezeption der Deixis-Untersuchungen Bühlers ein. Der innere Widerspruch blieb verdeckt, und eine systematische Einbeziehung der etwa im Zeichenmodell enthaltenen pragmatischen Bestimmungen unterblieb ebenso wie eine Weiterentwicklung des im Konzept des ,Zeigfeldes' enthaltenen kritischen Potentials. Eine englische Übersetzung des Bühlerschen Werks erschien erst Ende der achtziger Jahre. Sie leidet zudem unter einer großen Zahl kategorial-terminologischer Probleme, die es weiterhin unwahrscheinlich erscheinen lassen,

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daß eine englischsprachige Rezeption in Gang kommt. - Während Gardiner und Bühler in einem gewissen Kontakt zueinander standen, hat die Wissenschaftsentwicklung Bühlers Beitrag in doppelter Weise um seine Bedeutung gebracht. Für die Entwicklung einer Handlungstheorie von Sprache bedeutete dies eine erhebliche Unterbrechung.

4.3 Wittgensteins ,Sprachspiel' Aus einer ganz anderen Perspektive legt das Werk Ludwig Wittgensteins (s. Bouveresse 1996) von der Erfahrung der Notwendigkeit Zeugnis ab, die überkommenen Kategorien der Sprachanalyse zu überwinden. Die Bewegung von der radikal auf die Assertion zentrierten Behandlung, deren Möglichkeiten im Tractatus (1921) bis an die Grenze des Sagbaren getestet werden, hin zu den Philosophischen Untersuchungen (1953) dokumentiert die Erfahrung eines wachsenden Zweifels an der Verläßlichkeit und der präsuppositiven Sicherheit des bei Aristoteles und der ihm folgenden Tradition eingeschlagenen Weges von Sprachanalyse. In einer Metapher, nämlich der des ,Sprachspiels' (s. Dascal/Hintikka/Lorenz 1996), versuchte Wittgenstein, der von ihm gesehenen anderen Qualität von Sprache analytisch habhaft zu werden. Diese Bemühungen blieben fragmentarisch. In immer neuen Ansätzen näherte sich Wittgenstein der Infragestellung jener Selbstverständlichkeiten an, auf deren Grundlage die europäische Beschäftigung mit Sprache ruht. Die Metapher des Spiels hat den Handlungscharakter zum zentralen Vergleichsgegenstand. Zugleich aber transportiert sie das, was es zu kritisieren gälte, unberührt weiter. In ihrer Anwendung verhindert sie so, daß die erforderliche Kritik sich konsequent entfalten kann. Denn die Metapher des Spiels ist genau jenem Zusammenhang verpflichtet, der die Isolierung auch des sprachlichen Handelns gegen seine gesellschaftliche Einbindung perpetuiert. So konnte sie bereits bei Saussure zur Grundkategorie eben jenes Sprachkonzeptes werden, in dem Sprache als handlungsentbundenes System charakterisiert wurde. Daß dabei die Metapher selbst in einem Prozeß der Verdinglichung an die Stelle der zu untersuchenden Sache tritt (vgl. Ehlich 1984), erstaunt in diesem Zusammenhang nicht. Wittgensteins Inanspruchnahme des Bildes, dazu dienend, den Handlungscharakter von Sprache herauszuheben, erwies sich in der Vereitelung von dessen angemessener Konzeptualisierung als konsequenter Ausdruck der Aporetik, in der sein Versuch, die Handlungsqualität von Sprache zu erfassen, sich entfaltete. Gerade der Umstand, daß Wittgensteins Versuch einer Handlungsorientierung der sprachlichen Analyse in immer neuen Ansätzen zwar das Desiderat deutlich machte, die Entwicklung der erforderlichen Konzepte

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jedoch schuldig blieb, wirkte im Umkreis seiner Schüler motivierend, die Fragestellung neu aufzugreifen. Georg Henrik von Wright gehört zu denen, die in der Kontinuität des Wittgensteinschen Denkens wesentliche Beiträge zu einem Handlungskonzept von Sprache entwickelt haben. Dabei hat von Wright logische Formate für die Entwicklungen seiner Handlungstheorie gewählt und so eine Diskussion mit den logisch und wissenschaftstheoretisch orientierten Disziplinen ermöglicht (von Wright 1967; 1974; 1977). Die Einbringung post-neukantianischer sowie ansatzweise hermeneutischer Fragestellungen beförderte zudem deren Selbstreflexion. 4.4 Austin: Theorie der Sprechakte Nur sehr indirekt verbunden mit den ansatzweise handlungstheoretischen Konzeptualisierungen von Sprache im Wittgenstein-Kreis entwickelte sich in Großbritannien ein weiterer, für die Folgezeit entscheidender Beitrag zu einer handlungsbezogenen Sprachtheorie. Die Konzentration britischer Philosophie auf die Alltags spräche als eine alles Philosophieren immer schon bestimmende Struktur führte zu einem wachsenden Interesse für deren analytische Aufarbeitung. Dabei gelangte John L. Austin in Verfolgung seiner Explorationen auf dem Gebiet der gewöhnlichen (Alltags-)Sprache zu einer Bewußtmachung und kritischen Reflexion eben jener stillschweigenden Voraussetzungen, die die europäische Sprachwissenschaft seit dem aristotelischen Abweg bestimmten. Die provozierende Formulierung, die die Uberschrift zu seinem nachgelassenen Hauptwerk wurde — How to Do Things with Words —, markiert sowohl das Erstaunen darüber, daß man mit Sprache handelt, wie auch die Programmatik, eben diesen Aspekt analytisch in den Mittelpunkt zu stellen. Interessant ist in der Ausführung dieses Programms, wie Austin mit den überkommenen Sprachkonzepten umgeht. Er faßt sie als einen eigenständigen Bereich, den ,lokutiven', zusammen und erweitert ihn um die Analyse jenes ,NichtLokutiven', des ,Illokutiven', in dem er die eigentliche Handlungsqualität von Sprache lokalisiert sah (s. Vanderveken 1996). Austins Argumentation ist vorläufig und vorsichtig. Der Umstand, daß es sich um die Wiedergabe von Vorlesungen handelt, scheint mir hier ebensowenig zufällig wie die Zettelstruktur der Philosophischen Untersuchungen Wittgensteins. Das sich von Beispiel zu Beispiel sozusagen ,vortastende' Verfahren der Austinschen Überlegungen führt die Leser dazu, sich aus den vertrauten Präsuppositionen immer mehr zu lösen. Was bei Aristoteles abgespalten und der rhetorischen Analyse zugeordnet wurde, wird jetzt in seiner inneren Charakteristik thematisiert. Die unterschiedlichen Formen sprachlichen Handelns, die, um dieses Handeln insgesamt gelingen oder glücken zu lassen,

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realisiert werden müssen, ermöglichen es dem Sprecher, seine Absichten in der Kommunikation zu verwirklichen. — Austin war zu seinen Überlegungen angestoßen worden durch die Erfahrung der Unmöglichkeit, bestimmte sprachliche Formen mit den traditionellen analytischen sprachlichen Methoden zu behandeln. Die von ihm sogenannte performative Formel', insgesamt die Unterscheidung zwischen dem ,performativen' und dem ,konstativen' Gebrauch sprechhandlungsbezeichnender Verben, wurde zum Ausgangspunkt der Revision einer nur auf das ,Konstative', die Assertion, beschränkten Linguistik. 4.5 Searle: Theorie der Sprechakte Auch Austins Ansatz zu einer handlungstheoretischen Grundlegung der Sprachanalyse blieb partiell und dem verpflichtet, was er kritisierte. Dies wurde besonders deutlich in der Zusammenfassung John R. Searles, der die Untersuchungen Austins in den USA verbreitete. In seinem Werk mit dem anspruchsvollen Titel Speech Acts (1969) machte er deutlich, wie stark er dem überkommenen Satzbegriff verpflichtet blieb. Die Reduktion des Sprechakts auf den Äußerungs-, den propositionalen und den illokutiven Akt stellt zwar eine Systematisierung und Konsolidierung des bei Austin Erreichten dar. Doch die Expansion des ,act'-Konzeptes bis hin zu einer Umwandlung in Akte auch von Referenz (s. Salmon 1996) und Prädikation (s. Lorenz 1996) bedeutet eine eher mechanistische und sich auf die sprachlichen Verfahren wenig einlassende Änderung der Nomenklatur in bezug auf ein ansonsten unverändert übernommenes, von der Logik vorgegebenes Thema. Die Wirklichkeit der gesprochenen Sprache erhielt für das analytische Bemühen allenfalls durch den Filter des traditionellen Beispielsatzes, der — wie eh und je — aus dem Sprachwissen des Analytikers .erzeugt' wurde, Zutritt. Ohne empirische Fundierung wurde in der Folgezeit (vgl. Searle/Vanderveken 1985) der Versuch einer logifizierten Sprechakttypologie entwickelt. Erst in jüngster Zeit findet auch die Wirklichkeit institutioneller Kommunikation Eingang in diese Ausprägung einer handlungstheoretischen Sprachanalyse. 4.6 Linguistische Pragmatik Jeder der bisher genannten Versuche einer Theorie des sprachlichen Handelns war eigenen theoretischen Voraussetzungen geschuldet, entwickelte sich in anderen disziplinären Kontexten, thematisierte andere Aspekte der Handlungsqualität von Sprache und isolierte sich so zugleich gegen die

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anderen Ansätze. Zu einer Zusammenführung und kritischen Konfrontation dieser Denktraditionen kam es seit den siebziger Jahren insbesondere in der zunächst stark rezeptiven deutschen linguistischen Theoriebildung, die sich sowohl auf die Biihlerschen Ergebnisse wie auf die angelsächsische Sprechakttheorie (vgl. Wunderlich 1976) bezog. Unter Aufnahme eines aus der Semiotik und der Tradition der .Unified Theory of Science' (Morris 1938) entnommenen Ausdrucks wurde für die Handlungstheorie ein eigener Terminus, „Pragmatik", entwickelt und für das Konzept „Sprache als Handlung" in der Bezeichnung „Linguistische Pragmatik" genutzt. Diese zunächst nur terminologische Festiegung wurde zunehmend als Forderung nach einer integrativen theoretischen Entwicklung erkannt. Das sprachliche Handeln als eine Ausprägung komplexen Handelns (vgl. Rehbein 1977) erfordert nicht einfach eine partielle Ergänzung anderweitig verfügbarer linguistischer Theoriebestände, wie sie aus der ,Systemlinguistik' bekannt sind, sondern verlangt nach einer rekonstruktiv-hermeneutischen Theorie, zu deren Aufgaben auch eine kritische Rekonstruktion der überkommenen sprachbezogenen Theoriebestände und die Stellenwertbestimmung der in ihr gewonnenen Erkenntnisse wie der durch sie bedingten Objektverkürzungen gehört (vgl. zu diesem Theorienkonzept Rehbein 1994). Im Unterschied zu einer lediglich additiv ergänzenden Form linguistischer Pragmatik (,Pragmalinguistik', in der - ähnlich, wie in der Sozioünguistik soziale Parameter dem systemkonzeptuell festgelegten Objekt hinzugefügt werden — die Addition von Handlungsfaktoren als Grundverfahren schon im Terminus niedergelegt ist) verweigert sich Linguistische Pragmatik als Grundlagenreflexion von Objekt und Methode den wissenschaftsdisziplinär probaten ,Modularisierungen'. Vielmehr insistiert sie darauf, die Handlungsqualität von Sprache umfassend zu rekonstruieren und auch in die sprachlichen Formen hinein zu verfolgen, indem sie deren pragmatische Vermittlungen im einzelnen aufweist. — Wichtige Teildesiderate einer Handlungstheorie von Sprache sind neben der Entfaltung des Handlungskonzeptes (vgl. Lumer 1990a; 1990b) das Empirischwerden der Analyse durch den Bezug auf authentische sprachliche Daten sowie auf den reflektierenden Umgang mit einer kritischen Methodologie von deren Aufzeichnung und Analyse; die Vermittlung von sprachlichem und institutionellem Handeln (vgl. Ehlich/Rehbein 1986; Koerfer 1993) und insbesondere die Entwicklung von Kategorien, die den Zusammenhang von sprachlichen Formen und Funktionen erfassen (vgl. Redder 1990). Anders als es die unterschiedlichen theoretischen Ansätze nahelegen und anders als es deren Ergebnisse und ihre bloße Kombinatorik überall dort praktizieren, wo die grundsätzliche Infragestellung überkommener — häufig nicht einmal mehr bewußter — Kategorienbildungen nicht ernstge-

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nommen und nicht aufgenommen wird, bedeutet dies, daß die Frage nach den ,Zellformen' des sprachlichen Handelns und ihrer konkreten gesellschaftlichen wie individuellen Entfaltung als zentrale Aufgabe erkannt wird. — Analytisch-kategorial wichtige Teilaspekte dieser Forschungsaufgabe betreffen die präzise Bestimmung des Verhältnisses von Handlung und Akt; die Herausarbeitung von Tätigkeitseinheiten, die determinierend in die Akte eingehen, also Prozeduren (vgl. Ehlich 1991), und deren Vermittlung mit den unterschiedlichen Typen des menschlichen ,Sprachbaus'; die Entfaltung von Kategorien, die die innere Struktur einzelner sprachlicher Handlungen und ihrer charakteristischen Kombinatorik, der sprachlichen Handlungsmuster, betreffen; die Entwicklung eines Diskurskonzeptes, das sowohl handlungstheoretisch wohlbegründet wie für die linguistische Empirie nutzbar ist; die systematische Entwicklung des Textbegriffs und die Bestimmung des Ortes der Schrift in der Gesamtheit des sprachlichen Handelns. - Eine Theorie sprachlichen Handelns ist dabei keineswegs inkompatibel mit formalisierten Formaten, wie es sich aus der Sicht der ,Systemlinguistik' oft darzustellen scheint. Die Ausarbeitung formaler Handlungstheorien, bei von Wright programmatisch begonnen und besonders in der angelsächsischen Theorie einerseits, bestimmten deutschen Arbeiten (insbesondere Meggle 1977; 1987; 1993) andererseits entfaltet, leistet hierzu wichtige Beiträge, die freilich auch deutlich machen, daß die formalen Formate selbst der Erweiterung bedürfen, um der Komplexität sprachlichen Handelns gerecht zu werden. Insofern ist das Wittgensteinsche Bemühen, auch die ,Sprachspiele' der Mathematik und einzelner ihrer Subdiszipünen als spezifische Erscheinungsformen sprachlichen Handelns zu rekonstruieren, als reflexives Erfordernis in diese Formalisierungen immer mit involviert. Der explizite Versuch, die Einführungssituation von Sprache zur konstruktiven Leitlinie für eine derartig immer auch reflexive Verfahrensweise der Entwicklung einer Handlungstheorie von Sprache zu nutzen (Lorenz 1971), stellt einen der interessantesten Lösungsversuche für diesen Problemkomplex dar.

4.7 Handlung und Zweck Eine Kernfrage für die Entwicklung einer Handlungstheorie von Sprache ist die nach kategorialen Bestimmungen, die geeignet sind, Handlung selbst — distinktiv etwa zu Verhalten und Ereignis — zu erfassen. Als hierfür zentral erweist sich die Kategorie des Zwecks. Der Zweck — gesellschaftlicher, nicht in seiner individuell als Ziel übernommenen Form (Intention) (s. Searle 1996) - bestimmt die Strukturen der sprachlichen Handlungsmuster. Diese sind gesellschaftlich ausgearbeitete Bearbeitungs-

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formen für repetitive gesellschaftliche Konstellationen. Der Zweck organisiert die Handlungsstrukturen der einzelnen Handlungen und ihrer Kombinationen. Uber die Rekonstruktion der Zwecke wird die Analyse der sprachlichen Handlungen möglich. In bezug auf die Sprache ist zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Zwecktypen zu unterscheiden, den sprachexternen (Illokutionen) und den sprachinternen Zwecken, die es mit der Bearbeitung von sprachlicher Kommunikation selbst zu tun haben. Diese sprachinternen Zwecke, wie die Serialisierung von kopräsenten Gedanken, die Bearbeitung von Wissensstrukturen des Hörers, die Umsetzung gedanklicher Formen in akustische Strukturen usw., sind bisher in der neueren linguistischen Literatur — trotz interessanter Vorarbeiten im ersten Drittel dieses Jahrhunderts — kaum im Rahmen einer Handlungstheorie von Sprache thematisiert worden. Während noch in der philosophischen Reflexion des frühen 19. Jahrhunderts der Zweckbegriff in seiner zentralen Bedeutung erkannt und aus der naiven Teleologie des 18. Jahrhunderts herausgelöst war (vgl. Hegel 1830, § 57ff.; § 360), ist durch die Psychologisierung und Individualisierung der Zwecke und schließlich durch die fulminanten Verdikte über die Kategorie selbst, die sich insbesondere bei Nietzsche finden, eine Ausarbeitung der Handlungstheorie von Sprache durch Festlegungen im allgemeinen Vorurteil erheblich behindert. Nietzsches Reduktion „Alle ,Zwekke', ,Ziele', ,Sinne' sind nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhärirt: des Willens zur Macht" (1926, § 675) steht im Zusammenhang mit dem Versuch, den Zweckbegriff zu diskreditieren und analytisch zu eliminieren — einem Versuch, der angesichts der propagierten angeblichen Zwecksetzungen einer mit sich selbst zerfallenden bürgerlichen Welt verständlich ist, deren Bedingungen und Folgen jedoch nicht zu identifizieren vermag. - Die gegenwärtigen Bearbeitungschancen einer Handlungstheorie von Sprache angesichts dieser von Nietzsche artikulierten und im Denken des 20. Jahrhunderts häufig praktizierten Zweckvergessenheit abzuschätzen fällt schwer. Gleichwohl wären erst die Wiederaufnahme der Kategorie des Zweckes, ihre theoretische Restituierung und ihre analytische Entfaltung geeignet, die Dichotomie „Sprache als System versus Sprache als Handlung" aufzuheben — denn: wie eine Handlungstheorie von Sprache in der Kategorie des Zwecks ihr organisierendes Zentrum hat, so auch das System. Dies macht Kant deutlich. Er leitete die bereits in 3.3 zitierte Systemcharakterisierung mit den Worten ein: „Unter der Regierung der Vernunft dürfen unsere Erkenntnisse überhaupt keine Rhapsodie, sondern sie müssen ein System ausmachen, in welchem sie allein die wesentlichen Zwecke derselben unterstützen und befördern können". Nach der in 3.3 zitierten Bestimmung fährt er fort:

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Sprachtheorie und Pragmatik Der szientifische Vernunftbegriff erhält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufallige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmten Grenzen habe, stattfindet. (Kant, KrV Β 860f.)

Die Rekonstruktion von Sprache als Handlung ließe sich so zugleich als Rekonstruktion von Sprache als System vorstellen, indem deren Gliederung' erfaßt würde. Denn „das Ganze ist [...] gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatiò)" (Kant, KrVB 861); nicht die Theorien-Addition oder Theorien-Konglomeration, sondern erst der Aufweis jener inneren Gliederung würde die Aufgabe, Sprache und Sprechen zu verstehen, erfüllen.

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Kooperation und sprachliches Handeln 1. Metaphorisierungen in der Wissenschaft ,Kooperation' ist ein Ausdruck, der — wie so viele — in sehr unterschiedlichen Weisen verwendet wird. Der Ausdruck hat seinen Ort zunächst in der alltäglichen Sprache, er ist kein wissenschaftlich-terminologisches Kunstwort. Gleichwohl ist er ein Stichwort, das sich in der Sprachanalyse wie in der Handlungsanalyse eines gewissen Interesses, ja einer gewissen Konjunktur erfreut. Gerade junge Disziplinen und Forschungsrichtungen sind verstärkt angewiesen darauf, für ihr Nachdenken auf die alltägliche Sprache zurückzugreifen und ihre Ausdrücke in Anspruch zu nehmen, um ihre analytische Tätigkeit auszuüben und um die Ergebnisse dieser Tätigkeit niederzulegen. Die Inanspruchnahme alltäglicher Ausdrücke hat dabei ein eigenartiges Doppelgesicht: der Rückgriff auf das Bekannte ist eine Hilfe für die analytische Verständigung; er ist zugleich aber auch eine Gefahr für sie. Der Umschlag von der Hilfe zur Gefährdung des analytischen Bemühens ist oft nur schwer zu bemerken. Die Hilfe besteht darin, daß der Rückbezug auf das alltagssprachlich Bekannte Verständigung über die neuen Sachverhalte erleichtert, ja zum Teil erst ermöglicht. Die Gefahr ist doppelt: (a) die alltäglich bekannten Ausdrücke können die Verstehensbemühung um die Sache von dieser wegführen auf etwas, was im alltäglichen Ausdruck an Bedeutung niedergelegt ist, aber nicht zur Sache gehört; (b) sie können Verständigung als Einsicht dort suggerieren, wo die Analyse noch gar nicht geleistet ist. Die Inanspruchnahme der alltäglichen Ausdrücke ist nur schwer zu rekonstruieren. Dies scheint umso mehr dann der Fall zu sein, wenn auch das Objekt der Analyse mit Sprache zu tun hat, also etwa bei der Theorie der Literatur, und nochmals verstärkt bei der Sprachtheorie und der Theorie des sprachlichen Handelns.

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Rückbezug auf das Bekannte und handlungspräsuppositive Inanspruchnahme von Bekanntem als Erkenntnisgewinn durch das Auffinden eines glücklichen Ausdrucks in der alltäglichen Sprache gehen hier schnell ein nur noch schwer auflösbares Amalgam mit dem Vorantreiben der Sachanalyse ein. Die Konkretion dieser Prozesse ist sicher komplex. Eine spezifische Verfahrensweise, die dabei eine Rolle spielt, ist der Prozeß der Metaphorisierung. Dieser ist bisher mit viel Scharfsinn für die Literatur und die rhetorische Praxis untersucht worden. Viel weniger Aufmerksamkeit hingegen haben Metaphembildung und MetaphernEinsatz in der wissenschaftlichen Sprache gefunden. Vielleicht am ehesten ist dies geschehen in der Tradition einer bestimmten Sprachkritik, die von Bacon über die englische Tradition und die Aufklärung hin zu bestimmten positivistischen Konzeptionen reicht. Diese Tradition beschränkt sich allerdings meist auf ein mit dem Pathos des Endarvens auftretendes „ideologie"-kritisches Interesse, das der Komplexität des Problems nicht gerecht wird, das in den Metaphorisierungen resultiert. Sicher gibt es zahlreiche Fälle, in denen Metaphern in trügerischer, ja betrügerischer Absicht, sozusagen als Falschgeld der wissenschaftlichen Kommunikation, eingesetzt worden sind. Aber das eigentliche Problem liegt ja gerade darin, daß auch die Metaphern häufig unaufgebbares Verständigungsmittel sind, das eben auch in glücklicher Weise Aspekte der Sache treffen kann, wie etwa das besonders frappante und bekannte Beispiel des Benzolrings zeigt. Wie in einem Brennglas werden die Probleme, von denen ich eben gesprochen habe, gebündelt in einem Phänomen, das ich „minimale Metaphern" nennen möchte. Damit meine ich semantische Übertragungen innerhalb semantisch unmittelbar benachbarter Bereiche. Das Problem verdichtet sich hier nun dadurch, daß die Prozesse der Metaphorisierung bis zur Unerkennbarkeit undeutlich werden, so daß die Doppelgesichtigkeit der Inanspruchnahme von alltäglichen Ausdrücken sich erheblich verschärft. Solche minimalen Metaphorisierungen liegen etwa bei einer Reihe überkommener grammatischer Kategorien vor, die vom Gebiet der Philosophie auf die der Sprachanalyse übertragen worden sind — etwa der Ausdruck ,Subjekt': das ,ύποκείμενον', das ,subjectum', suggeriert in der Übertragung einer philosophisch-ontologischen Interpretation ein Verständnis der sprachlichen Erscheinungen, das zunächst sehr leicht einsehbar scheint, wenn die entsprechende philosophische Analyse geteilt wird (der Aspekt der „Hilfe"), das aber je länger je mehr die linguistische Untersuchung behinderte (der Aspekt der Gefährdung), weil die Übertragung begrifflicher Gehalte als semantischer Kennzeichen dermaßen vor die Sachverhalte selbst getreten war, daß es den Analytikern kaum

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möglich wurde, sich aus dieser Umklammerung noch zu lösen bzw. dies nur mit Gewaltstreichen wie dem „psychologischen Subjekt" zu tun. Die minimale Metapher überformt dann die Vorstellungen von der Sache derart, daß sie als sie selbst gar nicht mehr in den Blick gerät. Beispiele für diese Prozesse bietet nun gerade die jüngere Sprach- und Handlungstheorie in recht reichlichem Maß. Eins ist etwa das ,aushandeln', das Dieckmann und Paul (1983) einer genaueren Untersuchung unterzogen haben. Ihre Darstellung, wie dieser Ausdruck in die Linguistik Eingang gefunden hat, verstehe ich als einen konkreten Beitrag zur Rekonstruktion der minimalen Metaphorisierung. Gerade dann, wenn ein für die Analyse noch relativ neues Gebiet untersucht wird, ist der Bedarf an Metaphern offenbar relativ groß, und die kritische Bilanzierung und Reinigung einer wissenschaftlichen Sprache, d.h. ihre Überprüfung nach Kriterien, die auf die jeweilige Sache bezogen und ihrerseits an ihr entwickelt sind, gehört anscheinend mit zur Konsolidierung der Erkenntnisse. Der erhöhte Bedarf an Metaphern entspricht dabei einem sehr wichtigen Bedürfnis der jeweiligen Analytikergemeinschaft, nämlich dem nach Plausibilisierung. Im Extremfall werden die Metaphern zu Erkennungszeichen einer Schule und damit zu Marken der Vergewisserung für die Gruppe als Kommunikationsgemeinschaft. Die Plausibilität von Metaphern ermöglicht — im sachlich glücklichen Fall - einen sprunghaften Zugewinn an Erkenntnis, der die mühsamen Einzelschritte der Ableitung und die Erarbeitung der inneren Verbindungsglieder von Erkenntnissen über die jeweilige Sache erspart. Im unglücklichen Fall hingegen tritt jene stillschweigende Ersetzung ein, die oben bereits benannt war. Indem man sich über die Metapher einigt, verabschiedet man sich dann geradezu eo ipso von der Sache. Die Bemühung der Metapher geschieht dann oft, um sich einer Gemeinsamkeit im Verdikt über die Sache zu vergewissern, d.h. die Metapher dient der Immunisierung. Indem man sich auf die Metapher beruft, ruft man die gemeinsame Gewißheit auf, die dann als eine Art Mauer gegen die Infragestellungen dient, die von der Sache her ausgehen. Hier wird nun die Plausibilität leicht zu einem Konsensus gegen die Wahrheit. Die Prozesse, von denen ich eben gesprochen habe, lassen sich an relativ glücklosen Wissenschaften wie der Literaturwissenschaft vergleichsweise deutlich ausmachen. Doch betreffen sie offenbar alle Wissenschaften, und die sichere Distanz, aus der heraus man sie in anderen betrachten mag, weicht sehr schnell der Betroffenheit (und den Getroffenheiten), sobald wir uns kritisch auf die eigene Disziplin einlassen.

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2. Arbeit, Kooperation und Sprache Nun, mir scheint, daß der Ausdruck ,Kooperation' in den oben beschriebenen Zusammenhang gehört. Er ist eine solch glanzlose, aber doch offenbar sehr lohnende Metapher, deren Gebrauch Nutzen verspricht. Sie gehört in das Wortfeld von ,Arbeit'. Der Ausdruck Kooperation hat es etymologisch und systematisch zunächst mit Arbeit zu tun. Auch „Arbeit" wird gegenwärtig in Anspruch genommen etwa von der Psychoanalyse und der Psychotherapie: „Trauerarbeit", „Imagearbeit", „Seelenarbeit". Der Weg geht von der Hand über den Kopf zu den Gefühlen; es ist in dieser Expansionsgeschichte nicht erstaunlich, daß auch das Sprechen als Arbeit verstanden wird. Dabei hat dieser Gebrauch seinen tatsächlichen Ansatz in einer Reihe von Gemeinsamkeiten, die alltägliche Arbeit mit Sprachlichem verbinden. Sie bieten oft Anlaß, statt die Analyse von Sprache und Sprechen konkret zu betreiben, analoghaft die Erkenntnisse über die Arbeit auf Sprache zu übertragen. Eine erste Verwendung von „Kooperation" bezieht sich auf die reale Kooperation im Zusammenhang von Arbeitsprozessen. Diese ist in der politischen Ökonomie und ihrer Kritik ausführlich behandelt worden. Kooperation spielt bei der Entfaltung der materiellen Produktion eine erhebliche Rolle. Sie ist in bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung zur Voraussetzung für qualitativ neue Formen des Arbeitsprozesses geworden, insbesondere in der Manufaktur und deren Überwindung durch die große Industrie (s. Marx, Kapital I, Kapitel 11 und öfter). Aufgrund der Teilung von Hand- und Kopfarbeit ist selbstverständlich auch für die Kopfarbeit Kooperation in einer spezifischen Form zu erwarten. Anders als bei der Handarbeit ist bei der geistigen Arbeit die Kooperation in unmittelbarer Weise eine Integration von synchronen und diachronen Aspekten. „... alle wissenschaftliche Arbeit..." ist „allgemeine Arbeit". „Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer." Demgegenüber „unterstellt" die „gemeinschaftliche Arbeit" „die unmittelbare Kooperation der Individuen" (Marx, Kapital III, S. 113f.). Innerhalb der Kooperation im Produktionsprozeß und für ihre Realisierung spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Dazu sind in den vergangenen Jahren verschiedene Analysen entstanden, besonders Rehbein (1977, Kapitel 3), Brünner (1978), Fiehler (1980). Insofern Sprache diese eigene Rolle spielt, kann von sprachlich vermittelter oder von sprachlicher Kooperation sinnvoll gesprochen werden, wie es in diesen Arbeiten getan wird.

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3. Alltagssprachliche Übertragungen und das „cooperative principle" Der Ausdruck ,Kooperation' wird in der alltäglichen Sprache aber auch jenseits von Arbeitszusammenhängen übertragen gebraucht. Er bezieht sich dann auf eine Gemeinsamkeit des Handelns verschiedener Aktanten (vgl. Keller 1986). Diese übertragene Verwendungsweise von Cooperation' im Sinne der „Ko-aktion" ist auch von Linguisten in Anspruch genommen worden, so von Rehbein (1977) in einer zweiten Verwendung, die er von dem Ausdruck macht. Er unterscheidet zwischen der Unterstelltheit der Aktanten unter denselben gesellschaftlichen Zweck und der Unterstelltheit unter gegensätzliche Zwecke. Für beide Fälle gibt es jeweils spezifische Handlungsmuster; in der Untersuchung des „Komplexen Handelns" beschränkt Rehbein sich auf die Untersuchung der „kooperativ e ^ ) Handlungsmuster" (S. 103). Als Oberbegriff verwendet er den Ausdruck des „gesellschaftlichen Zusammenwirkens von Aktanten". Der Kampf als Form dieses Zusammenwirkens bleibt hingegen explizit unberücksichtigt. Dieser Sinn von „Kooperation" liegt auch der Verwendung des Ausdrucks bei H.P. Grice (1975) zugrunde. Grice spricht bekanntlich von einem „cooperative principle" (S. 45). Mit dieser Formulierung hat er der Kooperation einen grundsätzlichen Stellenwert zugewiesen. Fraglich ist aber, wofür diese Zuweisung gilt. Hier ist der Beitrag zu „Logic and Conversation" ausgesprochen vage und unpräzise. Die folgenden Ausdrücke werden — mehr oder minder als quid pro quo — von Grice in seinem Artikel gebraucht: (a) (a') (b) (b') (c) (c') (d) (e)

conversation casual conversation discourse realm of discourse talk talk exchange type of exchange transaction.

Neben der casual conversation wird weiterhin quarreling und letter writing angeführt. Der Geltungsbereich des Kooperationsprinzips bleibt insofern undeutlich. Daß hier ein zentrales Problem seiner Auffassung vorliegt, macht Grice nicht zuletzt in den zahlreichen relativierenden Bemerkungen deutlich, mit denen er seine Aussagen modalisiert. Was er am Beispiel der „conversation" oder — etwas weiter — des „talk" erarbeitet, sei, so meint er, auf andere Formen der Kommunikation durch

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eine einfache Generalisierung zu übertragen: Er hat sein Konzept der Maximen (und damit des — ihnen zugrundeliegenden - Prinzips der Kooperation) zunächst an die spezifischen Zwecke des „talk" gebunden (vgl. zu dieser Problematik auch Rolf 1986). I have stated my maxims as if this purpose were a maximally effective exchange of information; this specification is, of course, too narrow, and the scheme needs to be generalized to allow for such general purposes as influencing or directing the actions of others. (S. 47)

Diese durch „of course" leichthin heruntergespielte Formulierung verbirgt m.E. in Wahrheit eine zentrale Problematik der Griceschen Kooperationsauffassung: durch die Fassung des Kooperationskonzepts bei Grice wird einerseits aufgrund der weiten Terminologie ein genereller Anspruch wenn nicht erhoben, so doch zumindest suggeriert: „Prinzipien" und „Maximen" sind eben mehr als spezielle Fälle; andererseits wird die empirische Problematik, die gesehen wird, über eine bekannte Figur (Generalisierung des Speziellen) scheinbar mit schneller Hand bewältigt — nicht jedoch in der analytischen Wirklichkeit, sondern eben bloß in der Versicherung, dies lasse sich einfach erreichen. Versucht man die Inanspruchnahme eines „Kantischen Echos" (S. 45) durch Grice ernst zu nehmen, so wird man durch die Gricesche Parallelisierung der vier Typen von Maximen auf die Urteils- und die Kategorientafel bei Kant verwiesen. Geht man dem Verweis nach, zeigt sich schnell, daß hier kaum von mehr als einer bloßen Analogisierung die Rede sein kann. Die Struktur beider Tafeln bei Kant verdankt sich gerade dem Anspruch, daß sie ihrerseits nicht über irgendwelche Analogisierungen entwickelt worden sind: Diese Einteilung ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen, (welches ebensoviel ist, als das Vermögen zu denken,) erzeugt, und nicht rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe entstanden, von deren Vollzähligkeit man niemals gewiß sein kann, da sie nur durch Induktion geschlossen wird, ohne zu gedenken, daß man noch auf die letztere Art niemals einsieht, warum denn gerade diese und nicht andere Begriffe dem reinen Verstände beiwohnen. (K.d.r.V., Elementarlehre, II. Teil, I. Abt. I. Buch I. Hauptstück, III. Abschnitt, § 10, A 80f./Β.107, Meiner, S. 119)

Ob dieser Anspruch von Kant tatsächlich eingelöst wird, kann hier nicht erörtert werden. Angesichts der sprachlichen Korruptheit der entscheidenden Passage scheinen Zweifel m.E. durchaus am Platz. Dieselbe Funkdon, welche den verschiedenen Vorstellungen in e i n e m U r t e i l e Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedene Vorstellungen i n e i n e r A n s c h a u u n g Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt. (A 79/B 104f.)

Ob nicht möglicherweise auch bei Kant kaum mehr geschieht als die Versicherung dessen, was zu beweisen wäre, ist schwer zu sehen. Aber im-

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merhin wird auf den systematischen Stellenwert hingewiesen, der diesem Aufweis zukommt. Gegenüber der von Kant vorausgesetzten und verlangten strengen Ableitung beläßt Grice es an der für seinen Zusammenhang zentralen Stelle im Blick auf die universelle Geltung seiner Maximen und seines Prinzips jedoch bei der bloßen Nebeneinanderstellung der entscheidenden beiden Bereiche: ... that anyone who cares about the goals that are central to conversation/communication (e.g. giving and receiving information, influencing and being influenced by others) must be expected to have an interest, given suitable circumstances, in participation in talk exchanges that will be profitable only on the assumption that they are conducted in general accordance with the CP and the maxims. (S. 49)

Wenn er diese Formulierung durch eine relativierende Modalisierung einleitet und abschließt, so drückt sich darin m.E. also mehr als ein sympathischer, aber letztlich belangloser Sprachgestus der Bescheidenheit aus: es ist ein realistischer Ausdruck des tatsächlichen theoretischen Stellenwerts — der freilich von der Rezeption ebenso geflissentlich überlesen wird, wie diese sich bisher weigert, die Gründe beizubringen, deren Fehlen eben jene Modalisierung beklagt: So I would like to be able to show that observance of the CP and maxims is reasonable (rational) along the following lines... Whether any such conclusion can be reached, I am uncertain. (S. 49)

Das Kooperationsprinzip, das Grice aufstellte, ist also bisher allenfalls gültig für den Bereich eines Ausschnitts sprachlicher Handlungen, der im einzelnen näher zu spezifizieren ist. Gerade die von Grice fairerweise selbst angeführten Beispiele von Typen sprachlicher Handlungen, die sich nicht umstandslos unter Maximen und CP subsumieren lassen, Streiten und das Briefeschreiben, haben eine — systematisch gesehen — nicht unerhebliche Bedeutung. Konkrete Analysen anderer kommunikativer Formen haben gezeigt, daß hier z.T. anderen Prinzipien gefolgt wird (Brünner 1978, § 6.6). Darüber hinaus hat Maas (1976) die Formulierung der Prinzipien als Ausdruck eines bürgerlichen Kontrakt- und Tauschdenkens bezeichnet — wobei freilich die Relativierungen bei Grice selbst nicht hinreichend beachtet worden sind. Gleichwohl dürfte in dieser Kennzeichnung ein zentrales Motiv der Kooperationsauffassung benannt sein, das der Griceschen Reflexion zugrundeliegt und das ihn in einem Denk- und Metaphorisierungszusammenhang zeigt, der als grundlegend für die Behandlung von Sprache in Europa seit der Neuzeit angesehen werden kann. Das Problem, vor das Grice sich gestellt sieht, erfordert den Aufweis der das sprachliche Handeln und seine Muster bestimmenden Zwecke und deren

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Sprachtheorie und Pragmatik

Umsetzung in diese. Während Grice die Kategorie des Zwecks („purpose")durchaus in seiner zentralen Stellung erkennt und einsetzt, bleibt er dort, wo dessen Systematisierung sachlich erfordert ist, stehen und verflüchtigt seine Reflexion in allgemeine Überlegungen zur Rationalität (S. 47), die Maas wiederum abstrakt kritisiert. Die Rolle, die dem Kooperationsprinzip bei Grice zukommt, ist von einer Fragestellung bestimmt, die sich nicht primär der Analyse des sprachlichen Handelns als sprachlichen Handelns verdankt, sondern einem bestimmten semantischen — bei Grice auf tatsächliche Kommunikation hin ausgeweiteten — Problem, dem, was Ausdrücke „bedeuten". Das Kooperationsprinzip und die Konversationsmaximen dienen Grice als Systemhintergrund für die Beantwortung der Frage nach sozusagen von den Standardbedeutungen und ihren Standardimplikationen (die als konventionell geregelt gelten) abweichenden Bedeutungen, die kommunikativ gleichwohl rekonstruierbar sind (S. 50). Diese Fragestellung bestimmt, was als Kooperation gefaßt wird. Damit verläßt sich Grice auf einen Kontext, der von der traditionellen Linguistik vorgegeben ist. Dies macht sich nicht nur direkt, in der genannten Fragestellung, sondern auch in der Lösung bemerkbar, die Grice entwickelt. Die kommunikativen Handlungen, für die er das Kooperationsprinzip formuliert, sind die, die bereits Aristoteles seiner Sprachanalyse zugrundelegte, nämlich die Assertionen·. im Zentrum seiner Analyse steht der reine Informationsaustausch. Dieses Zentrum ist, wie oben bereits gesagt wurde, eben nicht umstandslos auf andere sprachliche Handlungen zu erweitern. Daß die Weitergabe von Informationen ein kooperatives Verfahren kat exochen ist, steht dabei außer Frage. Genauer: es ist eigentlich eine sprachliche Handlung, die eo ipso eine der Kooperation ist. Insofern formuliert das Prinzip nichts, was „synthetisch" im Kantischen Sinn zu seiner Charakterisierung angeführt werden könnte, sondern es formuliert „analytisch" etwas, was der Handlung als sprachlicher Handlung eigentlich bereits inhärent ist. Die Assertion ist eines jener Muster, von denen Rehbein im „Komplexen Handeln" als von einer kooperativen Form des gesellschaftlichen Zusammenwirkens von Aktanten spricht.

4. ,Materielle',,materiale' und ,formale Kooperation' Die zwei bisher erörterten Gebrauchsweisen des Ausdrucks „Kooperation" machen es sinnvoll, sie eigens zu bezeichnen. Die Kooperation im Produktionsprozeß nenne ich die materielle Kooperation.

Kooperation und sprachliches Handeln

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Die Kooperation, die bei der Sprache festgestellt wurde, bezieht sich zwar möglicherweise durchaus auf diese materielle Produktion. Doch ist dies nicht notwendig so. Vielmehr kommt bei ihr ein anderes Verständnis von .Kooperation' ins Spiel, das den Ausdruck allgemeiner faßt und alle möglichen Formen des Zusammenwirkens menschlicher Aktanten bezeichnet, die einem gemeinsamen Ziel sich unterordnen, einen gemeinsamen Zweck realisieren, welche freilich nicht unbedingt durch Arbeit im ökonomischen Sinn zu realisieren sind. Gleichwohl ist auch hier die Orientierung auf ein außerhalb der Kooperation selbst liegendes Veränderungsziel gegeben. Ich spreche hier deshalb von einer materiellen Kooperation. Sprache kann einerseits als Bestandteil und Mittel materieller Kooperation dienen. Sie kann andererseits — als spezifische Form komplexen Handelns — Realisierung materialer Kooperation sein. Dies ist der Fall, den Grice in seinem Kooperationsprinzip thematisiert. Doch damit ist noch nicht der gesamte Bereich der Kooperation im Blick auf Sprache erfaßt. Neben den genannten Formen der Kooperation ist vielmehr das sprachliche Handeln sozusagen in sich kooperativ. Diese Charakterisierung ist nicht identisch mit dem, was Grice im Kooperationsprinzip benannte. Vielmehr ist alles sprachliche Handeln als Handeln, das im Normalfall mehr als einen Aktanten betrifft, ein Handeln, für das von elementaren Kennzeichen der Kooperativität gesprochen werden kann. Diesen dritten Aspekt von Kooperation im Blick auf Sprache möchte ich formale Kooperation nennen. Diese Kennzeichnung verwendet den Ausdruck ,formal' nicht in einem allgemeinen Sinn wie ,auf die eine oder andere Form bezogen' oder als adjektivisches Bestimmungswort mit einer Funktion, die dem Nominalkompositionselement ,Form' entspricht. Vielmehr verstehe ich den Ausdruck ,formal' hier als Opposition zu ,material'. Diese Opposition hat ihre deutlichste theoriegeschichtliche Ausprägung in der Unterscheidung zwischen einer materialen und einer formalen Ethik gefunden. Eine materiale Ethik ist eine solche Ethik, die ethische Güter, also Inhalte der Handlungslehre, Handlungsziel und ihre Bewertungen aufstellt; eine formale Ethik hingegen nennt ethische Verfahrensweisen ohne direkten Bezug auf solche Inhalte. In der Unterscheidung zwischen „materiell" und „material", die oben gemacht wurde, habe ich den Ausdruck ,material' bereits im Sinne einer derartigen Distinktion verwendet. Die materiale Kooperation hat kooperative Tätigkeiten selbst zum Inhalt. Mit der „formalen Kooperation" hingegen soll die Kooperation bezeichnet werden, die das Zusammenwirken der Aktanten beim sprachlichen Handeln als solches kennzeichnet. Anders als bei der ethischen Distinktion ist die

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Sprachtheorie und Pragmatik

Unterscheidung innerhalb der Kooperation zwischen „formal" und „material" eine Unterscheidung unterschiedlicher Aspekte am sprachlichen Handeln. Die materiale Kooperation hat nämlich zugleich Teil an der formalen Kooperation. Aber nicht alle formale Kooperation ist auch materiale Kooperation. Die formale Kooperation beim sprachlichen Handeln ist eine Elementarform der Kooperation. Ich möchte dies an einem nicht-sprachlichen Beispiel illustrieren. Reinhard Lettau beginnt einen kleinen Text mit dem Titel „Feinde" in folgender Weise: „Draußen regnet es. Der General kommt zurück. „Haben Sie gewonnen?" wird er gefragt. „Ich habe den Feind nicht gefunden", antwortet der General. Neben ihm stehen die Herren, die mit ihm hereingekommen sind, in triefenden Paletots. Pfützen auf der Diele. „Der Gegner wurde nicht sichtbar. Wir fanden ihn nirgends", sagte der General." Reinhard Lettau (1968, S. 7)

Dies ist ein Ende von Strategie und Taktik. Selbst bei einem auf die Eliminierung des anderen Interaktanten abzielenden Handeln wie dem Krieg ist der von Lettau fingierte Fall etwas Unerhörtes, eigentlich etwas, das jeder Beschreibung spottet. Auch für diesen Extremfall der Interaktion sind bestimmte minimale Anforderungen gestellt, die erfüllt sein müssen, damit die Interaktion stattfinden kann, die das Ende der Interaktion zum Ziel hat. In einem materialen Sinn wäre es kaum sinnvoll, solche Interaktion als .Kooperation' zu bezeichnen: Die Handlungsziele, denen sich beide Seiten unterordnen, sind diametral entgegengesetzt und auf die Eliminierung der Ziele des Gegners, ja deren selbst, orientiert. Doch auch diese material so charakterisierten Ziele erfordern ein minimales Zusammenwirken, ohne das keine der beiden Seiten eine Chance erhält, sie zu erreichen. Weniger martialische Beispiele, in denen es doch um Auseinandersetzungen zwischen Interaktanten geht, sind in gleicher Weise daran gebunden, daß elementare Formen des Zusammenwirkens realisiert sind, ohne die es zu keiner Interaktion kommen kann. Dies sind Beispiele für das, was ich ,formale Kooperation' genannt habe. Die formale Kooperation umfaßt ein weites Feld sprachlicher Phänomene, die ebenso unumgänglich wie unscheinbar sind. Deshalb, weil sie elementar sind, entziehen sie sich weithin unserer analytischen Aufmerksamkeit. Sie haben einen Charakter, der nicht unmittelbar sichtbar ist, weil sie in jeder Kommunikation immer schon in Anspruch genommen werden. Insofern kommt ihnen ein Meta-Status zu. Doch ist dieser Meta-

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Status kein eigentlich transzendentaler, wenn der Ausdruck ,transzendental' nicht in einer zu metaphorischen Weise eingesetzt werden soll. Der Meta-Status betrifft allerdings die Möglichkeit von Kommunikation und hat Bedingungen für sie zum Inhalt.

5. Methodologische Konsequenzen formaler Kooperation beim sprachlichen Handeln 1.

2.

3.

4.

Die formale Kooperation war eben bereits als eine elementare Kooperation gekennzeichnet worden. Sie ist auch eine unmittelbare und zwar in dem Sinn, daß sie aufruht auf der gemeinschaftlichen raumzeitlichen Präsenz der beteiligten Interaktanten. Insofern ist die sogenannte face-to-face-Kommunikation elementare Kommunikation. Diese Bestimmung hat hier ihren systematischen Ort. Unmittelbar ist die face-to-face-Kommunikation nur als formale Kommunikation. Deshalb ist m.E. jede emphatische Verwendung dieser Unmittelbarkeit eine Verwechslung zweier Typen von Kooperation, die gerade nicht füreinander eintreten können. Das Erfordernis der raumzeitlichen Kopräsenz ist zugleich die systematische Grundlage für die Kategorien der Sprechsituation im strengen Sinn. Nur in diesem strengen Sinn genommen, hat diese Kategorie eine analytische Funktion. Die wandernden origines reflektieren im sprachlichen Handeln selbst die formale Kooperation als Zeitort für dieses Handeln. Da die formale Kooperation alles andere Zusammenwirken von Aktanten immer schon begleitet, kann sie als Basis für ein darauf bezogenes spezifisches Sprachsystem, das deiktische, in Anspruch genommen werden. In der Unumgänglichkeit der formalen Kooperation liegt der Grund für die Effizienz des deiktischen Systems beim sprachlichen Handeln. Die formale Kooperation bedeutet, daß — sozusagen prinzipiell — S und H involviert sind. Die Abstraktion von einem von beiden, meist von H, steht also in der Gefahr, elementare Bestimmungen des sprachlichen Handels zu verfehlen. Sprecher und Hörer sind von vornherein gemeinsam involviert. Die Umkehrbarkeit der Zuschreibungen und damit die Grundlage der Reziprozität ist Ausdruck der formalen Kooperation. Die formale Kooperation setzt sich um in ein System von Zwecken zweiter oder genauer nullter Stufe. Diese liegen unterhalb der illokutiven Zwecke. Sie sind aber ebenso wie diese Ablagerungen gesellschaftliche Erfahrungen. Sie setzen sich in die materiale Kooperation und in den Kampf in jeweils spezifischer Weise um.

136 5.

Sprachtheorie und Pragmatik

Die formale Kooperation bildet sich systematisch gesellschaftlich aus zum Sprachsystem als solchem. Das Sprachsystem ist die Form der formalen Kooperation. Als diese Form ist Sprache abgelagerte gesellschaftliche Erfahrung und liegt dem sprachlichen Handeln immer schon voraus. Sie wird zu einer zweiten Natur des Menschen — systematisch gesehen — und erweist sich als schwer veränderbar. Dies ist der Grund dafür, daß sie verschiedene Gesellschaftsformationen übergreift. In ihren Strukturen bietet sie als praktisches Bewußtsein Möglichkeiten für die Erkenntnisse der Formationen, legt jedoch zugleich deren und ihr eigenes Miß-Konzept nahe. 6. Zu den Miß-Konzeptionen ihrer selbst gehört die Ontologisierung des sprachlichen Handels in das Zeichen und seine Eigenschaften und die anschließende Addition eines Willens zum Zeichengebrauch. Dabei wird die grundlegende formale Kooperativität, die die Basis für die Möglichkeiten zu dieser Abstraktion ist, eliminiert. Die Folge ist eine scheinbare Autonomität des sprachlichen Zeichens. 7. Die formale Kooperation wirkt sich aus: — im Wissen der Interaktanten; — als System der Erwartungen in bezug auf die Realisierung der formalen Kooperation; — für die Prozessierung der Interaktion; — in den unterschiedlichen Umsetzungen in materiale Kooperation und Kampf. Zur Prozessierung der formalen Kooperation gehören die kommunikativen Apparate, die bisher vor allem von conversation analysis und Ethnomethodologie untersucht worden sind. Dabei kommt es freilich oft zu einer doppelten Verwechslung: Die Ethnomethodologen nehmen die materiale Kommunikation als formale, indem sie den externen Zweck eliminieren und das inhaltliche Zusammenwirken lediglich als technisches betrachten, das zudem jeweils neu im „hic-et-nunc" „konstituiert" wird. Zugleich behandeln sie die formale Kooperation als materiale, indem sie die Herstellung von Formalität im „Hier und Jetzt" als einzigen Gegenstand der Kommunikation thematisieren. Demgegenüber käme es darauf an, die formale Kooperation beim sprachlichen Handeln als solche und in ihrem Stellenwert für dieses Handeln zu rekonstruieren und der Unmöglichkeit, sie zu planieren, wie der, sie aufzublasen, systematisch Rechnung zu tragen.

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Literatur Brünner, Gisela (1978): Kommunikation in betrieblichen Kooperationspro^essen. Universität Osnabrück (Diss.). Dieckmann, Walther / Paul, Ingwer (1983): „Aushandeln" als Konzept der Konversationsanalyse. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2, S. 169-196. Fiehler, Reinhard (1980): Kommunikation und Kooperation. Theoretische und empirische Untersuchungen tpr kommunikativen Organisation kooperativer Prozesse. Berlin: Einhorn. Grice, Herbert Paul (1975): Logic and conversation. In: Syntax and Semantic Vol. 3. Ed. by P. Cole / J.L. Morgan. New York: Academic Press, S. 43-58. Kant, Immanuel (1781, 1787): Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. R. Schmidt (1930) 2. Aufl. (1956) Hamburg: Meiner. Keller, Rudi (1986): Kooperativität und Eigennutz Vortrag auf der 8. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) an der Universität Heidelberg, 26.-28. Februar 1986. Lettau, Reinhard (1968): Feinde. München: Hanser. Maas, Utz (1976): Kann man Sprache lehren? Für einen anderen Sprachunterricht. Frankfurt am Main: Syndikat. Marx, Karl (1867/1894): Kapital 1/III. MEW 23¡25. Berlin: Dietz. 1. Aufl. 1972. Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln. Elemente %ur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart: Metzler. Rolf, Eckard (1986): Eine handlungstheoretische Verallgemeinerung der Griceschen Konversationstheorie. Vortrag auf der „Dialog"-Tagung Münster, März 1986. Erschienen in: Hundsnurscher, F. / Weigand, E. (Hgg.) (1986): Dialoganalyse. Tübingen: Niemeyer, S. 335-348.

Sprachliches Handeln — Interaktion und sprachliche Strukturen 1. „Grammatik der gesprochenen Sprache" — oder: Von den Paradoxien der Linguistik Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet der Versuch, über etwas scheinbar Selbstverständliches nachzudenken. Dieser Versuch wird uns mit einer ersten Paradoxie der Disziplin Linguistik konfrontieren. Diese Paradoxie ist als eine Spur in dem verborgen, was wir linguistisch als ganz alltägliche Terminologie benutzen: Eine Grammatik — oder, wie es in der Vollform hieß, eine grammatische Technik, eine téchnë grammatiké — bildet die Grundlage für unser analytisches Umgehen mit Sprache. Dieses unterscheidet sich deutlich vom Umgehen mit Sprache, wie es für die Sprachteilhaber und -teilhaberinnen unmittelbar charakteristisch ist. Es gibt sehr viele Kommunikationsgemeinschaften, in denen über Sprache kaum nachgedacht wird, in denen Sprache vielmehr einfach als Sprache praktiziert wird; in ihnen ist Sprache selbstverständlich in die Interaktion eingebettet, ist selbstverständlicher Teil des sprachlichen Handelns. Das Reden über Sprache ist ein sehr spezifisches Phänomen. Zugleich ist es etwas, das mit den Anfängen von Wissenschaft insgesamt zu tun hat. Die Linguistik ist eine sehr alte Disziplin, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Zu den Nachteilen gehört, daß der kategoriale Apparat der Linguistik tief in das allgemeine Wissen eingedrungen ist, in die allgemeine Sprache, in die alltägliche Sprache. Ohne Zweifel wird man viele Menschen auf der Straße treffen, die, sollte man sie nach dem Ersten Thermodynamischen Gesetz befragen, keinerlei Auskunft geben können. Fragt man dieselben Menschen, was „Grammatik" sei, so wird man von den meisten jedenfalls irgendeine Antwort erhalten. Diese Präsenz linguistischer Kategorien in unserem alltäglichen Reden ist über die Schule tief verankert worden. Solche Verankerung schützt vor dem Nachdenken. In dem Wort „Grammatik", bezogen auf gesprochene Sprache, steckt nun jenes oben benannte grundlegende Paradox, denn „grámma" ist „das ein-

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zelne Geschriebene". Die grammatische Technik ist eine zutiefst und von Anfang an auf das Geschriebene bezogene Herangehensweise an das Phänomen Sprache. Dies machen wir uns häufig nicht klar; aber es wirkt sich z.B. massiv in den Schwierigkeiten aus, überhaupt zu einer „Grammatik der gesprochenen Sprache" zu kommen: Eine auf das Geschriebene zugeschnittene Technik soll auf das Gesprochene — was nun? — angewendet werden? In unserem täglichen linguistischen Geschäft sind wir bei dem Versuch, eine Grammatik der gesprochenen Sprache zu schreiben, auf Schritt und Tritt mit dieser Paradoxie konfrontiert.

2. Schrift-Fixierungen Neben dieser Paradoxie steht eine zweite, die es mit dem Ort des Gesprochenen innerhalb der Grundlagenbestimmungen unseres Umgehens mit Sprache zu tun hat. Auch dieser Ort ist eine eigene Disziplin, die gleichfalls eine „Technik" ist, nämlich die „téchnë rhetoriké", die „redebezogene Technik". Eigentlich scheint danach alles klar zu sein: Die Grammatik behandelt die Schrift, die Rhetorik behandelt die Rede — eine geradezu perfekte disziplinäre Arbeitsteilung. Aber so paradox, wie sich die Situation für die Grammatik darstellt, eine Schriftlehre der gesprochenen Sprache, so paradox bietet sie sich hinsichtlich der Rhetorik dar, einer geradezu tragischen Disziplin. Nachdem sie, und dies schon verhältnismäßig kurze Zeit nach ihrem Aufkommen, ihren „Sitz im Leben", nämlich in der polis und für sie, verloren hatte, wurde sie mehr und mehr zu einer „literarischen" Rhetorik (vgl. exemplarisch die großen Zusammenfassungswerke von Lausberg 1973; 1990), zu einer Redelehre der geschriebenen Sprache, zu einer schriftbezogenen Redelehre. Wir stoßen also auf einen parallelen Entwicklungsgang in bezug auf beide Bereiche dessen, was zu den Grundlagen des analytischen Umgangs mit Sprache gehört, auf zwei Paradoxien, die Paradoxie, daß wir eine Grammatik der gesprochenen Sprache intendieren und intendieren müssen, also eine schriftbezogene Analyse des Gesprochenen; und daß wir eine literarische, eine auf den Buchstaben bezogene Lehre von der Rede haben. Letztere Disziplin ist im deutschen Sprachraum während der letzten 200 Jahre so stark in die Krise geraten, daß nach 1950 geradezu „Wiederbelebungsversuche" gemacht werden mußten, ein Umstand, über den ein so anspruchsvolles Unternehmen wie das „Handbuch der Rhetorik" leicht hinwegsehen läßt.

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Die Einzelheiten dessen, was wir bei der Befassung mit Sprache als Voraussetzungen aus diesen beiden Paradoxien mitbringen, betreffen unsere kategorialen Apparate unmittelbar. Dies gilt es im folgenden etwas näher zu erläutern. Diese Einzelheiten gehen bis in die kleinsten überkommenen und immer noch selbstverständlich praktizierten Kategorien hinein. Wie läßt sich diese Entwicklung insgesamt näher verstehen? Wie ist insbesondere diese Schriftfixierung der Grammatik näher zu verstehen? Sie hat es damit zu tun, daß im Bereich der frühen systematischen Beschäftigungen mit Sprache eine Sprache zugrunde lag, die in ein sehr geeignetes, spezifisches Schriftsystem übertragen wurde (vgl. Ong 1987; Ehlich 2002a). Dieses System war in der Lage, und zwar gerade in der durch die Griechen vorangetriebenen Weiterentwicklung einer zwischen Silben- und Lautschrift schwankenden phönizischen Konsonantenschrift, innerhalb der großen Entwicklungsgeschichte von Schrift die spezifisch phonischgraphemische Linie zu einer gewissen Vollständigkeit zu bringen. Darin unterschied sich das Verfahren systematisch und grundlegend von der anderen großen Entwicklungslinie, der chinesischen, in der eine sprachliche Einheit in einem je eigenen sprachlichen Zeichen erfaßt und graphemisch wiedergegeben wurde (Yan 2000). Durch eine ziemlich komplexe und nicht zuletzt von verschiedenen Zufällen bestimmte Entwicklung ist das, was die Griechen als Schrift nutzen konnten, etwas anderes: Es gibt Laute, und zwar ziemlich vollständig, wieder. Grundsätzliche Weiterentwicklungen im segmentalen Bereich waren nach dem Erreichen dieses Standes nicht mehr nötig. Die Griechen hatten also, als sie begannen, sich intensiver mit der Analyse von Sprache zu beschäftigen, eine Umsetzung von Sprache in Schrift als Vorgabe. Schrift war die sinnenfalligste Form von Sprache, nicht das Gesprochene. Dieses hatte seine alltägliche ebenso wie seine religiöse und seine theatralische Praxis. Das hingegen, wo reflexionsgeeignete Distanz entstand, war die schriftliche Form, die Verdinglichung von Sprache zu diesen Schriftzeichen. Von den Anfangen des linguistischen Geschäfts an also, jedenfalls im vorderorientalischeuropäischen Raum (VER), wird von dieser Ausgangslage aus gearbeitet. Sprache wird substantiell sozusagen durch diesen Filter wahrgenommen. Wenn wir also heute nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten haben, das Thema „gesprochene Sprache" zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Analyse zu machen, so kommen diese Schwierigkeiten nicht von ungefähr. Auch sind sie nur schwer zu bearbeiten - genau deswegen, weil die analytische Beschäftigung mit Sprache von Anfang an durch die Fixierung auf die Schrift determiniert ist.

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Es gilt also zumindest, ein Nachdenken über Sprache zu entwickeln, das sich darauf einläßt, diese Fixierung systematisch mit in Rechnung zu stellen. Grammatiken als Versuche der Beschreibung von Sprache sind grundlegend schriftbasiert. Sie haben bei der Schrift ihren systematischen Ort in einer Art Arbeitsteilung, genauer, einer Dreiteilung, und diese Dreiteilung bestimmt weiterhin unterschwellig bis heute jede Beschäftigung mit Sprache: Die eine hat es mit der Technik der Grammatik zu tun, die zweite mit der Technik der Rhetorik; die dritte schließlich ist nur sehr viel diffuser durch die Zeit gekommen, die dialektische Technik, die Kunst des Miteinander-argumentierend-Umgehens. Unschwer kann man nun eine ganze Reihe von theoretischen Konzepten nehmen und sie im Licht dieser Bestimmungen näher betrachten. Ich wähle ein Beispiel, die Kategorie „Stil". „Stil" ist ein sehr spezifisches Teilelement aus der rhetorischen Beschäftigung mit Sprache, also aus der Beschäftigung mit Sprache als Mündlichkeit, das in der Literarisierung der Rhetorik sich dann zu einer Stilistik wiederum des schriftlichen Textes entwickelte — um schließlich immer wieder neu einen Teil der Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache theoretisch abdecken zu müssen. Trotz der Präsenz dieser Kategorie bleibt weitgehend unerkannt und unbeachtet, was es mit dieser verwickelten Geschichte auf sich und welche Konsequenzen sie gezeitigt hat und bis heute entwickelt (vgl. Ehlich 2002b).

3. „Grammatik der gesprochenen Sprache" — Lösungsmöglichkeiten für das Paradox Durch die intensive Befassung mit gesprochener Sprache in den letzten dreißig Jahren hat sich die Sprachbeschreibungssituation für eine Sprache wie das heutige Deutsch grundlegend geändert (vgl. die Reihe „Heutiges Deutsch" des IDS; Schank/Schoenthal 1983; Schwitalla 2003; Fiehler 2005). Implizit enthalten diese und eine ganze Reihe weiterer Arbeiten Lösungsversuche für die doppelte Paradoxie, vor der wir stehen. Zwei grundsätzliche Bearbeitungsmodelle sind vorstellbar und wurden zum Teil auch ausgearbeitet. Das eine Modell (und dies ist dasjenige, dem man in der Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts weitgehend folgte) versucht, eine Beschreibung der gesprochenen Sprache nach den Vorgaben der Grammatik zu machen, die eine Beschreibung der geschriebenen Sprache ist. Die Grammatik der geschriebenen Sprache wird also sozusagen als Folie verwendet, und, soweit möglich, werden deren einzelne Teile und Unterteile in der

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gesprochenen Sprache aufgefunden und — am ehesten im Modus der Differenz — gleichsam abgehakt. An der gesprochenen Sprache wird ausgemacht, was sich an Entsprechendem vorfindet und was irgendwie anders ist. Letzteres kann dann herausgezogen und als ein eigener Teil „Gesprochene Sprache" erfaßt und umgesetzt werden. Die andere Möglichkeit wäre zu versuchen, sich ganz von dem zu lösen, was in der grammatischen Beschreibung von geschriebener Sprache immer schon vorliegt. Dies ist eigentlich ein Programm, das von den Junggrammatikern als solches aufgestellt, das freilich nie richtig durchgeführt wurde. Erst die Entwicklung der jüngsten Zeit ist in seiner Realisierung vorangekommen — freilich immer belastet, auch behindert, durch die Problematik, in einem rundum etablierten Linguistik-Betrieb der gesprochenen Sprache sozusagen „ein eigenes Plätzchen" zu erobern, sie mit einiger Anstrengung überhaupt erst einmal als würdiges Objekt für eine entsprechende Analyse zu etablieren. Eine dritte Möglichkeit würde noch einen Schritt weitergehen. Sie würde nämlich versuchen, Sprache so zu konzeptualisieren, daß man den SchriftBias nicht als selbstverständlich unterstellt (vgl. Linell 2005), auch nicht in der Negation. Hier würde man versuchen „zurückzugehen", die Grundbestimmungen von Anfang an neu und noch einmal zu überdenken, die Bestimmungen, bei denen diese Fesdegungen angefangen haben, und zwar nicht in einem historischen Sinn, sondern in einem systematischen. Martin Heidegger nennt ein solches Verfahren ein „anfanglicheres". Es ginge also darum, sich zu fragen, was eigentlich das ist, was wir in unserer Alltagssprache und, unbestimmt, in unserer wissenschaftlichen Sprache eine Sprache nennen. Wenn wir dies tun, so kommen wir schnell auf die andere Frage: Wo ist diese Sprache?

4. Wo ist Sprache? Die Grammatikschreibung und -theorie des 20. Jahrhunderts hat solche Bewegungen in ganz unterschiedlicher Weise vollzogen. Sie hat dabei grundlegende Unterscheidungen vorgenommen, z.B. in der Chomskyschen Idee, daß Sprache etwas sei, das, wie sich in der Entwicklung dieses Konzeptes immer deutlicher zeigte, sozusagen substantialisiert werden kann, ein Mechanismus, eine Maschine, deren Sitz im Kopf ist. Mit dem, was Sprecher des Deutschen oder einer anderen heutigen Sprache unter Sprache verstehen, hat dies ziemlich wenig zu tun. Alles das, was alltagssprachlich mit Sprache bezeichnet wird, wird in einem solchen Konzept

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zunächst einmal kräftig weggearbeitet. Es erhält das Label „bloße Performanz" und ist schon deshalb uninteressant. Vom Gedanken her (wenn auch offensichtlich kaum von der gegenwärtigen einschlägigen Forschung) wird diese Substanz neurobiologisch lokalisiert. Auch die de Saussuresche Lösung, jedenfalls in der Form des „rezipierten" Saussure (vgl. Jäger 1975), macht einen ähnlichen Schnitt. Sie nimmt das, was unser alltägliches Verständnis von Sprache umfaßt, heraus aus der linguistischen Arbeit, benennt es als Jangage " und fixiert es so terminologisch als ein menschliches Sprachvermögen, vielleicht auch die Vielheit der konkreten Sprachen. Davon wird die langue unterschieden als der eigentliche Ort, als der eigentliche Gegenstand der linguistischen Arbeit. Für deren Ort wiederum hatte auch Saussure eine Lösung: Diese langue ist für ihn eine mentale Entität, etwas, was in unserer Psyche vorhanden ist, und im Hintergrund dieser Konzeption steht wohl die damals führende Psychologie, die französische. Wo aber ist das Deutsche, wo das Kisuaheli, wo das Inuktitut? Eine naheliegende Antwort lautet: Im Wörterbuch und der Grammatik des Deutschen, des Kisuaheli, des Inuktitut. Aber was ist mit den 5500 Sprachen, die auf der „roten Liste" stehen und demnächst aussterben, die nie geschrieben wurden? Wo sind diese Sprachen? Offenbar stoßen wir hier auf Strukturen, die eine genaue ontologische Bestimmung verlangen. Sie vermag, so ist zu hoffen, Antworten auf Fragen nach dem Status solcher Strukturen zu erbringen. Von ihnen aus wird es vielleicht einfacher, sich der grundlegenden Frage „Was ist Sprache?" anzunähern. Jedenfalls stoßen wir für letztere immer schon auf den Zwiespalt zwischen der je einzelnen Sprache (und damit den 6000 insgesamt) und dem, was ihnen allen gemeinsam ist. Die Versuche, allgemeine Bestimmungen vorzunehmen, scheitern immer wieder an einzelnen Erscheinungen. Wenn wir z.B. sagen, Sprache sei immer Lautsprache, so stoßen wir auf die — visuelle — Gebärdensprache. Wenn wir sagen, Sprache habe immer „Sätze", so stoßen wir auf die Schwierigkeit, zu bestimmen, was ein Satz sei (vgl. Ehlich 1998). Wenn wir sagen, Sprache enthalte Verben und Nomina, so stoßen wir auf isolierende Sprachen, für die diese primär an morphologischen Kriterien entwickelte Unterscheidung keinen Sinn macht. Alles was überschießt, anders ist, nicht verrechnet werden kann, stellt eine neue Herausforderung für die allgemeine Bestimmung von Sprache dar.

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Sobald wir uns nicht einfach und stillschweigend darauf verständigen, uns nicht darauf verlassen können, daß Sprache als Schrift verdinglicht uns immer schon auf eine sehr praktische Weise vorliegt, wird Sprache unendlich schwer faßbar — und damit das linguistische Unternehmen in eine Grundlagenkrise gestürzt, vor der die überkommenen Kategorien zu bewahren schienen.

5. Sprachliches Handeln als Interaktion Die Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre haben in einer Art Bündelung verschiedener Herangehensweisen aus ganz unterschiedlichen Ausgangsfragestellungen insgesamt eine deutliche Veränderung in bezug auf das Geschäft der Bestimmung dessen gebracht, was Sprache ist. Es wurde unabweisbar deutlich, daß die schriftfixierte Isolierung, die wir als Ausgangspunkt immer schon benutzt haben und weiter benutzen, den Tatsächlichkeiten des Vorkommens von Sprache nicht entspricht. Wir haben gelernt: Sprache ist in Interaktion präsent; sie bestimmt diese Interaktion, und die Interaktion bestimmt sie. Die Möglichkeiten, gesprochene Sprache in einer anderen Weise als über die Schrift festzuhalten, technische Möglichkeiten, die prinzipiell neu waren, haben unser Verständnis dafür, daß Sprache interaktional präsent ist, wesentlich erweitert und wesentlich neu geformt. Dabei sind Interaktion und Handeln nicht gegeneinander zu isolieren; sprachliches Handeln ist immer schon ein interaktionales, und scheinbar dazu im Wiederspruch stehende sprachliche Formen wie der Monolog, die diese Bestimmungen zu falsifizieren scheinen, sind in Wahrheit nur die komplexeren Fälle, um deren konkrete analytische Ableitung es in einem systematischen Sinn geht. Als Interaktion und bezogen auf Interaktion ist Sprache zutiefst eingebettet in das menschliche Handeln insgesamt. Dies alles ist in der Bestimmung der frühen Herangehensweise an Sprache, die sich bis heute auswirkt, von vornherein arbeitsteilig ausgeblendet, und zwar deswegen, weil die Befassung mit Sprache sich nie auf diese allgemeine Handlungseinbettung und -Verknüpfung mit Sprache eingelassen hat. Dies taten weder die Philologen im engeren Sinn, die die großen überlieferten Texte des Griechentums zum Gegenstand hatten; dies taten auch die Philosophen nicht, die, wie Aristoteles, die Sprache von einem ganz bestimmten, isolierten Gesichtspunkt aus betrachteten (vgl. Ehlich 2000). Am ehesten noch hatte sich darauf, und zwar in der Anfangsphase dieser Disziplin, die Rhetorik eingelassen, die ja eine Anleitung zum effizienten Reden geben wollte. Sobald sie ihren „Sitz im Leben" freilich verlor, verlor sich auch hier der

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Zusammenhang. In die systematischen Bestimmungen von Sprache ist deren Interaktionalität immer nur in Fragmenten und Restbeständen eingegangen. Dies gehört mit zu den Grundvoraussetzungen, von denen aus wir unsere Arbeiten vorantreiben.

6. Der Ressourcencharakter der Sprache und das sprachliche Handeln Offensichtlich haben Sprachen, hat Sprache Struktur. Oder, anders gesagt, sie ist eine Menge von Strukturen. Was hat es damit auf sich? Hier kann es nützlich sein, sich rückzuerinnern an eine der intensivsten Phasen des Nachdenkens über einen Teilaspekt von Sprache im sogenannten „Mittelalter". Bei der Behandlung der Frage, wie sich die Begriffe (die als sprachliche gefaßt wurden) zu den „Dingen" verhalten, anders gesagt, wie sich die „universalia" (im Unterschied zu dem ein je einzelnes „Ding" bezeichnenden Namen) zu dem durch sie Bezeichneten verhalten, kam dieses Nachdenken auf drei verschiedene Lösungen. Einerseits, so argumentierte man, sind die Universalbegriffe vor den Dingen, „ante rem"; andererseits seien sie lediglich etwas, was wir denkend zu den Dingen hinzufügen, seien die Universalbegriffe also „post rem"; schließlich wurde die Auffassung entwickelt, die Universalbegriffe seien in den Dingen, „in re". Die Auffassung „ante rem" sieht die Universalbegriffe als ideelle Einheiten - die idealistische Lösung des Universalienproblems. Die „post rem"-Auffassung sieht sie als bloße, vom Menschen den Dingen nachträglich angeheftete Ausdrücke, bloße Namen: die nominalistische Auffassung. Das dritte Konzept schließlich, „in re", galt als Realismus (die heutige Verwendung der Ausdrücke „idealistisch" und „realistisch" ist damit z.T. kaum noch vermittelbar.) Diese Unterscheidungen können wir für eine nähere Bestimmung von Sprache als Struktur nutzen. Hier haben wir — „vor den Dingen" — eine idealistische Konzeption, die Begriffe und die Sprache als etwas Abstraktes vor aller Konkretisierung. Die nominalistische sieht Begriffe wie Sprache als eine bloße menschliche Kategorisierungsleistung, und die realistische sieht Universalbegriffe und Dinge in einer dichten Weise ineinander und miteinander vermittelt. Unter Nutzung dieser immerhin 600 Jahre intensiv erörterten und in der Sprach- und Begriffsphilosophie bis heute sehr präsenten Konzeptualisierung scheint es mir sinnvoll zu sein, für ein realistisches Verständnis des Verhältnisses von Interaktion und Sprache zu plädieren, Sprachen also

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nicht als etwas „ante rem" bzw. „ante interactionem", wie ein vorgegebenes ideales System zu sehen, wie dies etwa Hjelmslev (1928; 1974) versuchte, abstrakt vor allen konkreten sprachlichen Ereignungen; Sprache aber auch nicht nach der Sache durch das Schreiben einer Grammatik erst Herzustellendes - sondern eben etwas, was „in re "ist. Statt der „res" freilich sollten wir die Interaktion, genauer die sprachliche Interaktion setzen, also den Diskurs. So gesehen, wäre also nicht zu sprechen von einer Sprachauffassung „ante discursum", vor jedem Diskurs, als einem abstrakten System — z.B. von in sich bestehenden, losgelösten Zeichen oder von in sich bestehenden grammatischen Strukturen. Sprache wäre also auch nicht einfach etwas, was „post discursum" ist, also hinter bzw. jenseits unserer sprachlichen Interaktion. Vielmehr ist Sprache etwas, was „in discursu" ist, in unserem sprachlich Miteinander-Umgehen. Wir könnten eine solche „realistische" auch eine „diskursistische" Position nennen. — Was bedeutet sie im einzelnen?

7. Sprachliches Handeln und seine Erfordernisse Sprache „in discursu", Sprache als Ressource für das sprachliche Handeln besagt, daß Sprache eine Menge von Strukturen ist, die in unserer Kommunikation, für unsere Kommunikation und durch unsere Kommunikation entstehen, erhalten und genutzt werden. Diese Ressourcen sind gesellschaftlich langfristig ausgearbeitete Mengen von Handlungsmöglichkeiten, die für unser individuelles sprachliches Handeln je neu zur Verfügung stehen. Natürlich oder, genauer gesagt, gesellschaftlich verändern sie sich auch, freilich als Prozesse langer Dauer innerhalb dieses kommunikativen Handelns und durch es, und zwar durchaus auch systematisch. Der Ressourcencharakter von Sprache weist uns darauf, daß wir mit einem Tabu brechen sollten, das freilich allmählich im wissenschaftlichen Diskurs ohnehin blasser wird, nämlich mit dem Tabu, daß über mentale Strukturen nicht geredet werden dürfe. Dies war das große Verbot des Behaviorismus, das mit sehr viel methodologisch klugen Argumenten letztlich sich doch als eine Art Denkverbot auswirkte. Dieses hatte für die Psychologie eine starke Behinderung in ihrer Entfaltung bedeutet. Wenn wir dieses Tabu nicht beachten, bedürfen wir freilich eines anderen Konzepts von Mentalität, als es das Chomskysche ist, eines Konzepts von Mentalität, bei dem wir in bezug auf die Frage „Wo ist Sprache?" spezifische Antworten erhalten.

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Vor allem aber bedeutet der Ressourcen-Charakter von Sprache, daß wir aufweisbare Wechselbeziehungen zwischen der Interaktion und der Menge der sprachlichen Strukturen identifizieren. Das ergibt sich konkret aus den kommunikativen Erfordernissen dieser Interaktion. Dies gälte es nun durchaus im Detail genauer zu bestimmen und zu charakterisieren. Auch wenn der hiesige Ort dafür nicht die Gelegenheit bietet, so zeigen die Arbeitsergebnisse der jüngsten Zeit doch deutlich, daß durchaus die Möglichkeit besteht, bis in die einzelnen sprachlichen Strukturen hinein, wie sie die traditionelle Grammatik für das Schriftliche erfaßt, die wechselseitigen Beziehungen zwischen Interaktion und sprachlicher Form zu erfassen und dies so zu tun, daß in bezug auf das Mündliche die systematischen Ableitungszusammenhänge im einzelnen aufgehellt werden. Hierfür spielt nach meinem Verständnis eine erhebliche Rolle, sich nicht auf eine neue Arbeitsteilung einzulassen, wie sie insbesondere bei Searle (1969), anders übrigens als bei Austin (1962), vorgenommen wurde, indem sozusagen ein „pragmatisches" Addendum zu dem hinzutritt, was wir immer schon schriftbezogen über den Satz in seiner propositionalen Struktur gewußt haben, also etwa die illokutive Formel. Damit wird dem sprachlichen Handeln nicht Rechnung getragen. Es ist vielmehr ein grundsätzlicheres Herangehen erforderlich, und das bedeutet, die Anforderungen der verschiedenen Ressourcen für die Interaktion bis hin zu den sprachlichen Detailstrukturen voranzutreiben. So kommt in der Funktionalen Pragmatik der Kategorie der „Prozedur" eine zentrale Rolle dafür zu (Ehlich 1996), weil eben in Prozeduren, und nicht in den Akten und nicht in den Handlungen als ganzen, genau dieses Zusammenkommen von Struktur und Funktion und damit der Ressourcencharakter im einzelnen deutlich wird.

8. Sprachstruktur und Sprachveränderung Die synchronistische Wende am Eingang des 20. Jahrhunderts hat neben der faktischen Schriftbasiertheit des linguistischen Geschäftes eine zweite, in der Praxis leicht umsetzbare Grundvoraussetzung zur Verfügung gestellt, die nämlich, Sprache als eine quasi ahistorische oder posthistorische, als eine letztlich ungeschichtliche Einheit zu nehmen. In Teilen des Strukturalismus wurde dies dann auch gesellschaftswissenschaftliches Programm. Auch diese Verengung hat ihre Voraussetzung in der Faktizität: Strukturveränderungen von Sprachen sind langfristige Prozesse; genau deshalb sind sie schwer zu fassen. Das, was wir linguistisch zur Verfügung haben, sind Extrapolationen aus schriftlichen Dokumenten. Die Schriftfi-

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xierung wirkt sich hier ein zweites Mal aus. Es wurde versucht, aus der Not der Beschreibung solcher nur über „Schlüsse über Schlüsse" rekonstruierbarer Veränderungsprozesse eine Tugend zu machen, indem wiederum auf das gesellschaftliche Medium, nämlich die „unsichtbare Hand", zurückgegriffen wurde (Keller 1994). Ich denke, es dürfte sich lohnen, diejenigen tatsächlich beobachtbaren mündlichen Veränderungsprozesse, wie sie die Varietäten- und Teile der Soziolinguistik zu erfassen suchen, in ihrer Konstruktion der Veränderungsgeschichten sprachlicher Strukturen als Ausdruck ihrer Interaktionsgeschichte einzubeziehen. Diese Aufgabe ist im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sicherlich eine der schwereren.

9. Ein zweiter Blick auf die Schrift Wenn an den hier vorgetragenen Überlegungen etwas dran ist, dann, so denke ich, sind wir auch aufgefordert, Schrift und die schriftbezogene Grammatik neu zu betrachten und uns danach zu fragen, was eigentlich das Spezifische der Schrift in bezug auf das sprachliche Handeln innerhalb der menschlichen Interaktion ist. Anders gesagt: Was ist der gesellschaftliche Stellenwert von Schrift? Diese Frage wird sehr virulent dort, wo man sich nicht einfach auf die Selbstverständlichkeit schriftlicher Traditionen beziehen kann, z.B. für die Ethnologen und Sozialanthropologen, die mit noch nicht verschrifteten Völkern zu tun haben. Sie gewinnt von dort aus zugleich eine spezifische Brisanz für alles, was im Prämissenspiel für Schriftlichkeit schon immer für ausgemacht gilt. Ein solcher zweiter Blick auf Schrift fordert uns in der Konsequenz auf zu fragen, was eigentlich unsere schriftbezogene Grammatik und was ihre Kategorien als Beschreibungsverfahren für eine sehr spezifische, wenn auch bei uns fast omnipräsente Form der sprachlich vermittelten Interaktion sind.

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Medium Sprache Abstract Sprache ist in diesem Jahrhundert lange nur und soweit interessant gewesen, als sie eine gegen jegliches ,Andere' isolierte Größe, als sie .Struktur' oder ,System' ist. Diese - forschungsgeschichtlich verschieden motivierte, im Ergebnis aber auf das gleiche hinauslaufende — Restriktion hat das Nachdenken über Sprache und das Bild, das sich insbesondere die Fachwelt der Linguistik von ihr macht, nachdrücklich geprägt. Wesentliche Aspekte von Sprache — und zwar auch in ihrer systematischen Struktur — sind dadurch der Erkenntnis, ja auch schon der Erkenntnisbemühung entzogen worden. Dazu gehört zentral ihr medialer Charakter. Wird Sprache als Medium ernstgenommen, ist ihre primäre Funktionalität thematisiert. Sprache als etwas Vermittelndes geht weder in der isolationistischen Struktur-Bestimmung noch in einem trivialisierten Werkzeug-Konzept auf. Im vorliegenden Beitrag wird versucht, den medialen Charakter von Sprache in verschiedenen Dimensionen „auszuleuchten". Dies wird über die Bestimmung unterschiedlicher Funktionsbereiche versucht, in denen und für die Sprache Medium ist. Dazu gehört die Erkenntnisstiftung im Medium Sprache (gnoseologische Funktion), die Praxis Stiftung vermittels Sprache (teleologische Funktion) und die Gesellschaftsstiftung durch das Medium Sprache (kommunitäre Funktion). Aus diesen Bestimmungen werden Konsequenzen für eine nicht-restringierte Linguistik gezogen.

1. Eine kleine ,Medien'-Semantik ,Medien' sind in aller Augen und Ohren. Sie gehören zu den wenigen Wachstumsbranchen einer sich transformierenden Produktionsstruktur. Geradezu in den Rang einer vierten Verfassungsgewalt hochstilisiert, sozusagen nach dem Motto „divide et impera", treten sie in alle möglichen traditionellen, zur Leerstelle gewordenen Bereiche ein, entscheiden durch die Macht des verallgemeinerten Gerüchts über Tod und Leben, sind Protagonisten der Verwischung von ,Virtualität' und Realität. Ihre inneren Transformationen - Print-, Bild-, elektronische Medien - treiben die

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Marktadäquatheit voran. Medien sind ,in', von der Physik ihrer ,Hardware' über das Raffinement der Software bis hin zur Banalität der high-techgehandelten Kommunikationsware. Medien tendieren dazu, sich zu mystifizieren. Auf geheimnisvolle Weise spielen sie Schicksal, verbinden mit undurchschauten und undurchschaubaren Mächten des Jenseits von Handlung, Handlungsraum, Handlungsverantwortung. Der deutsche und der italienische Faschismus waren die ersten exemplarischen Medienereignisse im neuen Stil (vgl. Otten 1989; Reichel 1991; Brockhaus 1997). Diese Medien sind Massenmedien, sie sind Massenkommunikationsmedien. Die Tilgung der bestimmenden Nominalbildungselemente im Ubergang von ,Massenkommunikationsmedien' zu den ,Medien' schlechthin kommt nicht von ungefähr. Sie drückt in der Wortform jenen Verlust von Semantik, weil Verlust von Sachstruktur, aus, der die Entwicklung in diesem Jahrhundert kennzeichnet. Es ist die übliche Verkehrung von Mittel und Zweck. Eine ähnliche Faszination, wie sie von der Irrationalität der Medien heute massenhaft ausgeht, produzierten offenbar jene Medien vor einem Jahrhundert, die ihre Hochkonjunktur hatten, als das Tischerücken so recht in Mode kam. Wie wir aus bestimmten Medienereignissen wissen, erzielt der Zusammenschluß beider nach wie vor erhebliches Interesse (der Uri-Geller-Effekt). Weit weg von diesen heutigen, verdinglichten Verwendungen, aber doch durchaus als semantische Spur noch erhalten, ist der Ursprung für die Verwendung des Ausdrucks. Das Medium ist zunächst eine ganz unschuldige Kategorie: Medium heißt ,in der Mitte befindlich', heißt .Mittleres'. Das Medium ist Mittleres, nichts weiter. Als ,Mittleres' ist es ein relationaler Ausdruck, also nicht die Mitte an sich, nicht der Mittelpunkt, nicht das Zentrum, sondern das Mittlere gerade bezogen auf etwas, was nicht die Mitte ist, und zwar zu beiden Seiten. Das Mittlere hatte zweifach bereits einen theoretischen Stellenwert gehabt: in der Ethik und in der Logik. In der Ethik hatte Aristoteles versucht, das Mittlere gegen die Extreme auszuspielen und daraus seine ethischen Zielvorstellungen abzuleiten. In der Logik war im Schluß, im Syllogismus, der „terminus médius" als entscheidender Motor des Ubergangs von einem vorhandenen Wissen zum neuen Wissen bestimmt worden, besonders vom immer schon bekannten Allgemeinen hin zum unbekannten Konkreten. Diese letzte Linie wurde für die Übertragung von ,Medium' ins Deutsche bedeutend. So hat der Ausdruck seinen Eingang aus einer lateinisch-philosophisch-juristischen Bestimmung ins Deutsche gefunden — erst spät übrigens (Kluge/Seebold 1989, S. 469), nämlich im 17. Jahrhundert, und erst im 18. Jahrhundert ist dieses Medium auf den

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Zweck bezogen worden (Zimmer 1990, S. 997), der schon zuvor als Terminus stabilisiert war (durch eine Linie von Jakob Böhme über Leibniz zu Thomasius (Zimmer ebd.)). Diese Relation hat sich als dauerhaft erwiesen. Dies gilt auch noch für das destruktive Trommelfeuer, dem insbesondere die Kategorie ,Zweck' seit Nietzsche unterliegt. Wenn wir von Sprache als einem Medium zu reden haben, finden wir hier einen Ausgangspunkt zur näheren Bestimmung dessen, was für uns von Interesse ist.

2. Sprachisolierungen (1): die Linguistik Sprache als Medium bedeutet also (a), daß Sprache nicht in sich selbst ist; es bedeutet (b), daß da etwas anderes, etwas mit Sprache nicht Identisches ist, das jenseits ihrer existiert und im Bezug worauf Sprache als Sprache nur bestimmt werden kann; es bedeutet (c), daß Sprache wesentlich von der Aufgabe her und für sie zu bestimmen ist, der sie sich verdankt. Sprache ist nicht nur nicht für sich, sondern sie ist auch nicht aus sich heraus und nicht für sich allein bestimmbar. Damit wird Sprache herabgesetzt. Sie ist keine Größe in sich selbst, sie dient anderen Zwecken als ihren eigenen, sie ist - gerade anders als der Mensch — nicht Zweck für sich, nicht Selbstzweck. Das ist ein Ärgernis — besonders für diejenigen, die sich professionell mit Sprache beschäftigen, es ist ein Skandal für die Linguistik. In der Ausarbeitung der Linguistik zur Theorie wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um diesen Skandal zu beseitigen. Zugleich wurde versucht, die theoretische Beschäftigung mit Sprache als etwas Mittlerem, Funktionalem zu diskreditieren. Dafür bot sich die Unterscheidung zwischen theoretischen und angewandten Disziplinen an, wie ich an anderer Stelle versucht habe auszuführen (s. Ehlich 1999). Die Trennung von Theorie und Anwendung ist ein besonderer Fall der Zerreißung des Bandes zwischen Theorie und Praxis. In jeweils unterschiedlicher Weise mußte das Objekt Sprache selbst aus seiner mittleren Position gelöst werden, um den konstruktioneilen Anforderungen eines theoriewürdigen Gegenstandes gerecht werden zu können. Die Manipulationen am Objekt Sprache wurden zumeist wissenschaftstheoretisch begründet. Daß die wissenschaftstheoretischen Erfordernisse Umsetzungen der Skandalbearbeitung durch den Wissenschaftsbetrieb waren — und sind —, blieb weithin verborgen. In der Kategorie des Systems oder der Kategorie der Struktur (s. Wunderlich 1972) wurde der eben beschriebene Prozeß insbesondere vorangetrieben und umgesetzt. Die Geschichte der Saussureschen Schule ist ein herausragendes Beispiel für die Herauslösung von Sprache aus ihrer medialen Si-

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tuation. Bei Saussure selbst war die wissenschaftsmethodologisch bedingte Konzentration auf das langue-System durchaus noch sich des Umstandes bewußt, daß dieses einer Theoriebildung würdige und fähige Objekt eingebunden war in eine soziale Praxis. In der Forderung einer sozialen Semiotik schlug sich dieser Zusammenhang auch theoretisch nieder. Bereits die unmittelbare Schülerschaft, der Saussure seine Wirkung verdankt, ergriff die Möglichkeit der Hypostasierung, der Verselbständigung, der Verdinglichung des methodologisch bestimmten Objekts entschlossen. In der Kopenhagener Variante des Strukturalismus schließlich werden in der völligen Idealisierung der langue die Verbindungen zu jener gesellschaftlichen Praxis vollends gelöst. Parallel dazu verändert sich die Tätigkeit des Wissenschaftlers: Sie entwickelt sich von einer — und sei es auch nur philologischen — Praxis über die arbeitsteilige Spezialisierung am besonderen Objekt, die ihren eigenen, vom Wissenschaftsbetrieb nur noch abstrakt legitimierten Tätigkeiten nachgeht, hin zum geradezu kontemplativen Umgang mit der Struktur, zur in sich selbst kreisenden Anschauung des idealen Objekts. Damit ist der Umschlag von der zunächst wissenschaftspraktisch bestimmten Spezialisierung hin zur abstrakt-theoretischen Tätigkeit vollständig geworden. Die akademische Disziplin Linguistik zieht entsprechend solches Personal an, das einer eher kontemplativen Beschäftigung mit geistigen Gegenständen zuneigt. Demgegenüber ist eine Befassung mit dem Objekt Sprache als Medium etwas, das wissenschaftlich beständig gegen seine eigene Diskreditierung zu kämpfen hat. Solche Diskreditierung bleibt meist nicht folgenlos: Sie tendiert dazu, die wissenschaftliche Praxis zu einer Tätigkeit mit schlechtem theoretischen Gewissen zu machen. Ein schlechtes Gewissen kann unterschiedlich bearbeitet werden, in der Form des Selbstzweifels oder auch in der Form „'s ist eh egal". Die Geschichte der verschiedenen Versuche, sich trotz dieser ziemlich komplexen und ziemlich fatalen Situation auf Sprache als Medium einzulassen, sind nicht sehr zahlreich; häufig zeigen sie Verinnerlichungen jener Vorwürfe aus theoretischer' Sicht, die ein entsprechendes Unterfangen als theoretisch folgenlos, unergiebig und damit letztlich sinnlos verurteilen.

3. Sprachisolierungen (2): die Schrift Nun ist selbstverständlich Sprache kein beliebiges Objekt, dem diese Restriktionen widerfahren wären. Vielmehr eignet ihr nicht nur Struktur, sondern sie ist eben auch Struktur. Von dort, von diesem Merkmal der Sprache her hat der Prozeß ihrer Verselbständigung in der wissenschaftli-

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chen Befassung mit ihr ihren Ausgangspunkt genommen. Damit Sprache in ihrer strukturellen Charakteristik erfaßt werden konnte, bedurfte es der Verschriftlichung. Grammatische Theorien und Konzepte in einer entwickelten Form sind in vorschriftlichen Kommunikationsgemeinschaften nicht entwickelt worden. Linguistik versteht sich von ihren Anfängen her als grammatische Technik, das heißt als eine Kunsdehre, als eine Fertigkeitslehre in bezug auf Buchstaben, auf grammata — oder auf eine andere Form von Schrift. Die Verschriftlichung der Kommunikation ist selbst ein solcher Herauslösungsprozeß der Sprache aus kommunikativen Verwendungszusammenhängen. Genauer: Ein spezifisches Bündel von Verwendungszusammenhängen der Sprache wird in der Schriftlichkeit von den anderen abgetrennt, gegen sie isoliert und dadurch zugleich in einen besonderen Status erhoben, den Status der Sichtbarkeit. Das Hörbare war damit sichtbar, war greifbar geworden. Diesen besonderen Status von Schrift und von verschriftlichter Sprache hat Sprache nicht mehr verloren. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr war er — wenn auch noch kein hinreichender, so doch — ein notwendiger Voraussetzungsschritt. Die Besonderheit der Verwendungszusammenhänge schriftlicher Sprache bedeutet also den ersten, entscheidenden Schritt der Loslösung von Sprache aus einem jeden Verwendungszusammenhang. Die Mittlerstellung von Sprache verliert sich. Gerade in der offensichtlichsten Vermittlungsfunktion, der Funktion, das lebendige Wort dauerhaft zu machen, liegt die Grundlage dafür, daß das Medium Sprache als Medium nicht mehr erkennbar ist. Versuchen wir zum Zwecke der Kürze diesen Prozeß der Herauslösung von Sprache aus ihren funktionalen Zusammenhängen mit einem eigenen Ausdruck zu bezeichnen, so können wir vielleicht am einfachsten das im Deutschen vielfältig genutzte Wortfeld ,Mitte, mittein' verwenden und neben dem .Mitteln' und dem ,Vermitteln' eben diesen Loslösungsprozeß mit dem Ausdruck ,Entmitteln' bezeichnen. Unser Sprachverständnis also ist entmittelt. Diese Entmittlung von Sprache ist kein zufalliges, kein sporadisches, kein nebenherspielendes Ereignis in der Geschichte der Befassung mit Sprache, sondern sie folgt einer kräftigen, mehrfach kulminierenden Entwicklungslinie. Entsprechend beständig ist die auf diese Weise verallgemeinerte Vorstellung von Sprache. Die Thematisierung von Sprache als Medium legt sich also notgedrungen mit einer wohlabgesicherten Sprachauffassung an. Uber den Protest derer, die diese Sprachauffassung unterhalten, wird sie sich also kaum wundern.

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4. Funktion Die Bestimmung von Sprache als Medium sieht sie bezogen auf die Kategorie Zweck. Es wäre nun sicherlich naiv und unzureichend, diese Kategorie mit einer einfachen, ja einer simplen Bestimmung ausfüllen zu wollen. Solche Versuche finden sich gleichwohl immer wieder, z.B. in der Konzeptkarriere von ,Kommunikation' (vgl. Ehlich 1996). Die Reduktion von Sprache auf Information oder auf Nachrichten und die entsprechende Reduktion von Kommunikation auf durch Kanäle hindurchfließende Nachrichten, also das technizistische Verständnis von Kommunikation als Nachrichtenübermittlung ist ein prominentes und folgenreiches Beispiel hierfür. Auch die Entwicklung der wahrscheinlich umfangreichsten und vielleicht theoretisch belangvollsten Versuche, die Entmittlung des Sprachkonzeptes rückgängig zu machen, die verschiedenen Varianten von linguistischer Pragmatik, sind von solchen Zügen nicht frei. Die Benennung von Handlung allein vermag noch nicht analytisch aufzuschließen, was Zweck denn heißen solle. Eine solche simple Benennung führt denn auch häufig nur zu einer bloßen Addition von Zweckbestimmungen. Die überkommene isolationistische Sprachkonzeption erfährt dann ihre additive .Ergänzung', ihre nachträgliche Erweiterung um sogenannte pragmatische Komponenten. Im Stichwort einer ,Pragmalinguistik' findet diese theoretische Figur ihren wohl angemessen Ausdruck. Wenn von der Kategorie Zweck in bezug auf die Sprache die Rede ist, geht es also darum, diese Kategorie gerade in der Vielfältigkeit von Zwekken konkret werden zu lassen, für die Sprache als menschliche Hervorbringung ganz eigener Art entstanden ist. Sprache als Medium, das Medium Sprache erfordert also eine Erkenntnisbemühung, in die die Bestimmung der Spezifik menschlicher Praxis fundierend eingeht. Dies zu konstatieren, bedeutet zugleich freilich wohl fast notwendig, vor der Größe der Aufgabe zurückzuschrecken. Dafür gibt es eine interessante linguistikgeschichtliche Illustration: Der amerikanische Behaviorismus, der seine Stärke — und sein schließliches Scheitern — der Unterstellung eines einfachen Relationenschemas verdankt, mittels dessen die Gesamtheit des Lebendigen und darin auch des Menschen erfaßt werden sollte, war sich in der Gestalt seines wichtigsten linguistischen Vertreters, Leonard Bloomfield, durchaus des Erfordernisses bewußt, daß es nach den eigenen Grundannahmen der Einbeziehung der Gesamtheit der Ereignisse für das Verständnis des Phänomens Sprache bedürfe. In der Eliminierung des Bedeutungskonzeptes reagierte die Bloomfield-Schule auf dieses als nicht mehr praktikabel erfahrene Desiderat.

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Es geht also darum, einerseits die Kategorie Zweck so konkret zu erfassen, daß unterschiedliche Zwecke in ihrer jeweiligen Andersartigkeit zur Kenntnis genommen werden. Es geht andererseits darum, dieses Erfordernis nicht in einer Beliebigkeit einzelner Zwecke untergehen zu lassen oder den Strukturgesichtspunkt ganz aus dem Auge zu verlieren, wie dies in nominalistisch-positivistischen Theorien leichthin geschieht. Die Konkretisierung dieser Erfordernisse läßt sich nun nicht so erzielen, daß die Sprachanalyse, die Sprache als Medium zu erkennen trachtet, einfach auf eine vorgängige Anthropologie wartet, aus der sie ihre Kategorien entnehmen könnte. Sie wird vielmehr gar nicht anders können, als immer wieder Vorgriffe auf eine solche Anthropologie zu machen. Diese sind, eben weil sie Vorgriffe sind, immer auch nur vorläufig. Gleichwohl sind sie unverzichtbar. Die Bestimmung von Sprache als Medium, als Mittlerem, konkretisiert sich also in bezug auf ein System von Zwecken. Diese sind Zwecke der Gattung Mensch in ihrer Vergesellschaftung und in den Individuationen ihrer Mitglieder. Die Bestimmung von Sprache als Medium, als Mitderem, gewinnt die Kategorien der Sprachanalyse aus der Vielfalt der Vermitdungserfordernisse, die sich in dem System der Zwecke abbildet und die von diesem System bestimmt wird. Die Integration verschiedener Zwecke und ihre Umsetzung in ein differenziertes Bild von den Mediendimensionen der Sprache findet sich in der neueren Sprachwissenschaft kaum. Meist sind es Isolierungen einzelner solcher Zweck-Mittel-Relationen, die thematisiert werden — sofern Sprache überhaupt als Medium angesehen wird. Dies ist nicht zuletzt Ausdruck einer Resignation der Disziplin Linguistik als ganzer gegenüber der Komplexität ihrer analytischen Aufgabe. Vertrackterweise ist Sprache in die Komplexität des menschlichen Handelns als ganzen unlösbar eingebunden. Ihre Herauslösung erschafft ein analytisches Artefakt. Demgegenüber gilt es jedenfalls, den medialen Zusammenhang und damit den unauflöslichen Bezug von Sprache auf Praxis in der Theoriekonstruktion wie in der analytischen Einzelarbeit festzuhalten. Das Verhältnis von Zweck und Mittel wird im Ausdruck .Funktion' in einer seiner sehr unterschiedlichen Bedeutungen sinnvoll erfaßt. Dieser Ausdruck ist deshalb geeignet, als Terminus für eine Beschreibung und Erfassung des Mediums Sprache zu dienen. Zusammenfassend geht es also darum, unterschiedliche Funktionsbereiche von Sprache in ihrem Zusammenhang für die menschliche Praxis zu erkennen.

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5. Drei Funktionsbereiche des Mediums Sprache 5.1 Vorbemerkung Selbstverständlich kann nun — schon aus den eben dargelegten Gründen der Komplexität des Gegenstandes — hier nicht versucht werden, das Medium Sprache umfassend beschreiben zu wollen. Es soll aber immerhin versucht werden, drei unterschiedliche Funktionsbereiche zu thematisieren, in denen und für die Sprache Medium ist. Diese drei Bereiche sind: • • •

die Erkenntnisstiftung im Medium Sprache; die Praxisstiftung vermittels Sprache und die Gesellschaftsstiftung durch das Medium Sprache.

Ihnen ordne ich jeweils eine spezifische Funktionsbeschreibung zu; ich bezeichne die Erkenntnisstiftung im Medium Sprache als gnoseologische Funktion, die Praxisstiftung vermittels Sprache als teleologische Funktion und die Gesellschaftsstiftung vermittels Sprache als kommunitäre Funktion. 5.2 Die gnoseologische Funktion von Sprache Die Wahrnehmung, Verarbeitung und die Entwicklung von Wissen über die Welt und über sich selbst ist bei der Gattung Mensch unlösbar mit Sprache verbunden. Die Herausbildung von Sprache stellt in mehrfacher Weise den qualitativen Sprung dar, der für die Gattung ihren spezifischen evolutionären Vorsprung ausmacht. Kommunikation ist zwar für unterschiedliche Gruppen und Typen von Lebewesen charakteristisch. Die sprachlich vermittelte Kommunikation eignet — jedenfalls in ihrer voll entwickelten Form — nur der Gattung Mensch. Sprache — gleich welcher Struktur im einzelnen — ist Medium der Speicherung von Wissen; sie ist Medium der Abstraktion von einzelnen Wissenspartikeln und ihrer Integration in größere Einheiten, und sie ist Medium des Transfers von Wissen. Dies erschöpft sich in keiner Weise darin, daß Information' diese Funktion hinreichend beschreiben könnte. Wissen transzendiert immer die Unmittelbarkeit des sinnlich irgendwie Zugänglichen. Das nicht mehr Präsente ist in den Erinnerungsspuren mental in die Gegenwart hereingeholt — dies offenbar auch beim Tier. Die Verallgemeinerung solchen Wissens setzt sich dort um in die Materialität der relevanten Gattungsinformationen selbst. Das Wissen der Individualität hingegen ist relativ beschränkt. Durch die Versprachlichung des Wissens wird die Übersteigung der Unmittelbarkeit für den Menschen auch individuell möglich.

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Zugleich ist die Herauslösung des Wissens aus der Einbindung in die unmittelbare Erfahrung die Voraussetzung dafür, daß - zum Teil weitreichende — Antizipationen möglich werden. Nur indem Wissen in der verobjektivierten Form von Sprache vorgehalten wird, ist die Ressource Antizipation nutzbar. Das komplexe Ineinander von Speicherung, Planung und Phantasie bedeutet die Herauslösung aus den Begrenzungen der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung. Dies ist eine Befreiung für das Lebewesen Mensch als Individuum wie als Gattung, die ihm eine akzelerierte Veränderung und damit Geschichte ermöglicht — und selbstverständlich auch den Versuch der Flucht daraus. Die Konkretisierungen der gnoseologischen Funktion zeigen die Gattung in der Vielfalt eines menschheitübergreifenden Experiments. Das Medium Sprache im Reichtum seiner Ausgestaltung hat sich in unterschiedlichsten Sprachtypen konkretisiert. Die Typologie der menschlichen Sprachen kann verstanden werden als Menge der stabilisierten Problemlösungen in bezug auf die Erkenntnisstiftung im Medium Sprache. Ihre Rekonstruktion in einer derartigen Perspektive war in der kurzen Blüte idealistischer Sprachwissenschaft bei von Humboldt thematisiert; eine Aufnahme oder gar Umsetzung des dort formulierten Programms findet sich bis heute nicht.

5.3 Die teleologische Funktion von Sprache „Telos" ist ein anderer Ausdruck für ,Zweck'. Wenn Sprache als zweckbezogen gesehen wird oder, anders, wenn sie als Medium gesehen wird, warum wird dieser Terminus ein zweites Mal herangezogen, um Sprache zu kennzeichnen? Was ist über den allgemeinen Zweckbezug hinaus damit gesagt? Offensichtlich reicht die einfache Herausarbeitung des Zweckbezuges von Sprache nicht aus, um zu einer hinreichend plastischen Bestimmung von Sprache zu kommen. Dies war gerade der Ausgangspunkt für das, was in diesem Abschnitt erörtert werden soll. Die Zwecke, um die es hier geht, sind spezifischere Zwecke. Nennen wir sie Zwecke im engeren Sinn. Es handelt sich bei ihnen um diejenigen Zwecke, die die direkte Verbindung zwischen Sprache und dem menschlichen Handeln herstellen; anders gesagt: Hierbei geht es um die Zwecke, in denen sprachliche Handlungen selbst abgebildet und so als Handlungsressource vorgehalten sind. Noch anders gesagt: Es ist primär die Dimension der Illokution, von der hier zu sprechen ist. Die Illokution, der illokutive Akt, macht das Zentrum der Handlungsstruktur aus, soweit sie sprachlich ist, und in ihr realisiert sich die Zweck-

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haftigkeit des sprachlichen Handelns unmittelbar. Sind die Illokutionen einer Handlung analytisch bestimmt und erfaßt, so ist die Handlung als ganze in ihrem Stellenwert für die Gesamttätigkeit der Aktanten bestimmt. Die Illokutionen bilden eine — wenn auch in ihrer Systematik bisher nicht wirklich erschlossene, sondern nur exemplarisch illustrierte — Gesamtstruktur, die das Handeln als solches analytisch aufzuschließen in der Lage ist. Sprechhandlungstypologien hätten hier ihren systematischen Ort. Insofern in der Illokution die Handlungsstruktur des sprachlichen Handelns sich am direktesten erkennen läßt, kommt ihnen ein systemaufschüeßender und systemerkennender Stellenwert zu, der freilich weder in den deduktiven Klassifikationen noch in den additiven als solcher erkannt ist. Dies macht die Schwierigkeiten des Forschungsstandes aus, dessen shortcomings' an dieser Stelle besonders schmerzlich sind. Der herausgehobene Stellenwert, der der Illokution für die teleologische Funktion von Sprache zukommt, hat freilich eine Gefahr eigener Art für das analytische Vorgehen mit sich gebracht: Leicht nämlich wird diese Bestimmung als ausschließliche genommen. Dadurch sind theoriegeschichtlich Analyseenergien gebunden oder eigentlich daran gehindert worden, sich zu entfalten, die durch die Bestimmung der Illokution selbst als einzigen Bereichs von Handlungsanalyse unzureichend verkürzt wurden. Zwei Aspekte vor allem sind es nach unserem heutigen Wissen, die von diesen Verkürzungen betroffen sind: •



Es gibt Handlungseinheiten, die zweckhaft im engeren Sinn sind und nicht den Umfang und die Charakteristik einer Illokution erreichen. Dies sind die sprachlichen Prozeduren, die jeweils ihren eigenen Feldbezug aufweisen. Besonders an den selbstsuffizienten Prozeduren wird deren Zweckcharakter ablesbar, also etwa an einer (sprachlich) isolierten Zeige-Prozedur in der Realisierung der Deixis ,da!' oder in der Artikulation einer Interjektion. Das Verhältnis der Zwecke von Prozeduren und der Zwecke von Illokutionen ist kaum analysiert. Teleologien sind kombinierbar und integrierbar. Die teleologische Qualität des sprachlichen Handelns setzt sich um in den und geht hervor aus dem Zweckcharakter anderer menschlicher Handlungseinheiten und Handlungsaggregate, also der Institutionen. Die theoretische Rekonstruktion der Linguistik geht im allgemeinen von einem institutionenfreien Universalismus aus. Dieser ist einerseits unrealistisch; andererseits verkennt er gerade die zentrale analytische Aufgabe, die Zweckintegrationen im einzelnen analytisch aufzulösen, um so das sprachliche Handeln als zweckbezogenes rekonstruieren zu können.

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Als teleologisches Handeln stiftet das Medium Sprache Praxis. Dies ist selbstverständlich nicht als Hypostasierung zu verstehen, sondern nur als abkürzende Redeweise. Es sind die Menschen, die Praxis stiften und exekutieren. Indem sie dies mittels Sprache tun, haben sie in Sprache ein zentrales Medium zur Organisation, Konzentration und zur permanenten Veränderung der Praxis; aber auch zu deren Herstellung ist allererst Sprache unumgänglich, weil sie die Vergesellschaftung gesellschaftlicher Praxis erst möglich macht. 5.4 Die kommunitäre Funktion Dies fuhrt zur dritten hier behandelten Funktion von Sprache, der kommunitären. Damit ist die Möglichkeit dessen gemeint, daß offensichtlich menschliche Gemeinschaft — wie die Gemeinschaften von hochentwickelten Lebewesen auch sonst — ohne ein Verständigungssystem nicht möglich ist. Nur die menschliche Gattung hat sich dafür des Mediums Sprache bedient, ja, es dafür entwickelt. Jede Verwendung von Sprache im konkreten sprachlichen Handeln (teleologische Funktion) wie in der Wissensspeicherung und -weitergäbe (gnoseologische Funktion) macht Gebrauch von dieser kommunitären Funktion von Sprache. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, daß die Nutzung des Mediums Sprache sozusagen als Nebenprodukt eines jeden sprachlichen Handelns immer zugleich auch deren kommunitäre Funktion aktualisiert. Die kommunitäre Funktion von Sprache hat sich besonders für politische sekundäre Nutzungen als ausgesprochen günstig erwiesen. Über derartige eher oberflächliche Nutzungen hinaus hat die kommunitäre Funktion aber ein herausragendes Kennzeichen, ein paradoxes zumal: Sie bindet und organisiert die Kleinräumigkeit des Mediums, die freilich zugleich dessen besondere Leistungsfähigkeit ausmacht. Damit konstituiert sie ein prinzipielles Paradox von Sprache: das Paradox nämlich, daß die Vergesellschaftungsfunktion des Mediums immer zugleich auch die Grenze mit aufrichtet, die einzelne menschliche Gruppen voneinander sondert. Dieses Paradox zu bearbeiten ist der Gattung bisher nur im Traum von einer ,Zeit zuvor' gelungen. Die verschiedenen Projekte, um die kommunitäre Funktion des Mediums verallgemeinernd und vereinheitlichend zum Zuge kommen zu lassen, sind von einer außergewöhnlichen Mühe und einer wiederum nur sehr begrenzten Reichweite bestimmt. Die individuelle und die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit gehören dazu, aber auch das Übersetzen, das erstere immer schon voraussetzt.

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Diese Mühe gibt aber der kommunitären Funktion des Mediums Sprache nicht nur Bodenhaftung — manchmal durchaus lästige, ja gefährliche Bodenhaftung. Sie macht zugleich auch unabweisbar deutlich, daß die Vielfalt der Gattungsrealisierungen als konkrete erhalten bleibt. Indem sie individuell angeeignet wird, wird die andere Sprache zur Anstrengung. Die andere Sprache setzt der Aneignung ihren je eigenen Widerstand entgegen. Dadurch macht sie deutlich, ja erfahrbar überdeutlich, daß die andere Sprache durch Differenz bestimmt ist (vgl. Weinrich 1997). Auch die anderen Merkmale des Mediums Sprache werden davon mit bestimmt und mit erfaßt: die gnoseologische, sofern sie Erkenntnis durch die Sprachbindung jeweils spezifisch macht. Universalismus ist nur durch Aufwendung der entsprechenden Mühen möglich. Auch die teleologische Funktion ist durch die kommunitäre Funktion mit bestimmt. Es sind die spezifischen historischen Ausarbeitungen des Systems der gesellschaftlichen Zwecke, die diese als Organisations form der je spezifischen Gruppe ausmachen, die im System der Illokutionen ihren Niederschlag gefunden hat und so als eine Handlungsressource primär und zunächst für diese Gruppe zur Verfügung gehalten ist. Die Chancen eines unbedachten Universalismus stehen schlecht. Nur und erst, wenn und soweit einer oder eine sich auf die Konkretionen eingelassen hat, hat er oder sie eine Chance, die über ein kontemplatives Glasperlenspiel hinausgeht. 5.5 Die Wirklichkeit des Mediums Sprache in der Kombination ihrer Funktionen Bereits bei der Behandlung der kommunitären Funktion von Sprache wurde deutlich, daß die verschiedenen Funktionen spezifische Kombinationen miteinander eingehen. Dies läßt sich auch für die anderen beiden zeigen: Die wissensbezogenen Funktionen von Sprache lassen sich unschwer der propositionalen Dimension des sprachlichen Handelns zuordnen, die teleologischen der Illokution, wie ausgeführt wurde. Propositionaler und illokutiver Akt aber vollziehen sich im allgemeinen gemeinsam und lassen sich nur so wirklich als Mittel nutzen und gestalten. So erweisen sich die Scheidungen der Funktionsbereiche als analytisch-abstraktive Bestimmungen, die die tatsächliche Integration in der Komplexität des sprachlichen Handelns hinter sich lassen — und doch auch wieder, sollen sie denn zur Analyse des Mediums wirklich beitragen, unumgänglich sind - schon um dem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, was in Proposition und Illokution allein sich nicht fassen läßt, etwa den Prozeduren.

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6. UnmittelbarkeitsVerweigerung Sprache als Medium verdankt sich Vermittlungserfordernissen der menschlichen Praxis. Sie wird Wirklichkeit als eine solche vermittlungsbezogene Struktur. Ja, als Struktur ist sie von der Vermitdungsaufgabe her bestimmt. Dies macht ihre Leistungsfähigkeit aus. Dies bedeutet aber zugleich auch, daß das Medium Sprache den es nutzenden Menschen an keiner Stelle in Unmittelbarkeit entläßt. Weder ist das Denken ohne das Medium Sprache wirklich in einem systematischen Sinn möglich; noch auch ist menschliche Praxis in der Vielfalt ihrer einzelnen Zwecksetzungen ohne die Arbeit des Handelns — des nichtsprachlichen und des sprachlichen - möglich. Das Medium Sprache widersetzt sich allen Anforderungen von Unmittelbarkeit. Es ist ein vermittelndes Medium. Zugleich aber ist es auch selbst ein vermitteltes. Die Gattungsgeschichte des Wissens, fraktioniert in den menschlichen Gruppen und der Geschichte dieser Gruppen, erfordert die Aneignung des wissensgenetischen Prozesses. Die Konkretisierungen der Illokution sind in Sprache als das Produkt menschlicher Arbeit präsent und von ihr nicht ablösbar. Die menschlichen Gruppen bedürfen der dauernden Selbstvergegenwärtigung. Die kommunitäre Funktion von Sprache verweist die Interaktanten auf die Wirklichkeit der ausgearbeiteten Sprachgeschichte als Geschichte der Konstituierung von Gruppen. Mit all diesen prinzipiellen Vermittlungen ist deutlich, daß die Realisierung der Hoffnungen auf Unmittelbarkeit im Medium Sprache nicht zu haben ist. Das bedeutet zugleich, daß Geschichte und Reflexion in und für Sprache unumgänglich sind. Das Medium Sprache ist selbst ein vermitteltes Medium: Dies nicht zur Kenntnis zu nehmen bedeutet, aus der Konkretion von Sprache ,auszusteigen'. Die Mystiker verschiedener Zeitalter verlassen daher die Sprache als Medium — scheinbar konsequent, aber wahrscheinlich auch sie nicht wirklich. Das Bestehen auf Differenzen und Differenzerfahrung macht Sprache zu einem Medium eigener Art, das in Widerspruch zur Geschichtsvergessenheit steht.

7. Medium Sprache und die Medien In einer kurzen Darlegung soll der Blick nun noch einmal auf die ,Massenkommunikationsmedien' zurückgelenkt werden. Die neueste Mediengeschichte lebt von ihren eigenen technischen Umwälzungen. Die Prognosen sind sehr weitgehend. ,Surfen' als neue

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Kommunikations-, ja gerade2u als eigene Lebensform scheint völlig neue Umgehensweisen mit gesellschaftlichem Wissen zu ermöglichen (Scheffer 1997). Ob dies freilich auf die Dauer zutrifft, muß sich noch zeigen. Gleichwohl sind auch diese neuen Medien unaufgebbar sprachgebunden. Ohne das Medium Sprache wäre ihre Software nicht zu nutzen. Auch bei einer noch so reichen Bilderüberflutung bleibt Sprache in ihrem eigenen Recht. Sprache tritt gegenüber den anderen Medien in einen besonderen Stellenwert ein. Sie ist das Metamedium für die anderen Medien. Dieser Gedanke ließe sich auch anders formulieren: Sprache ist das Archimedium menschlicher Kommunikation.

8. Eine nicht-restringierte Linguistik Was für Folgerungen ergeben sich angesichts des Ist-Standes für das Geschäft der Linguistik? Dies soll — den Beitrag abschließend, unser Geschäft aber, dieses Geschäft der Linguistik, nach dem Innehalten wieder eröffnend — hier nur noch angedeutet werden: •







Der erste und zentrale Punkt ist, so scheint mir, daß die Sache selbst eine nicht-restriktive und darin eine nicht-restringierte Linguistik erfordert, die in einem kritischen Prozeß die Rezeptionsgeschichte des Gegenstandes mit zu ihrem Gegenstand und zu einem zentralen Objekt der eigenen Kritik macht. Für eine entfaltete Pragmatik als Sprachwissenschaft stellt sich die Aufgabe, auf empirischer Basis den Vermittlungsprozessen der einzelnen medialen Aspekte nachzugehen und ihre teilweisen Vernetzungen zu durchleuchten. Der gnoseologische, der teleologische und der kommunitäre Aspekt erfordern viel Arbeit und jeweils eigene Anstrengungen. Für sie wäre auch die Linguistikgeschichte aus ihrem gegenwärtigen Status einer bloßen Fragmentensammlung herauszunehmen, so daß sie sich als eine wirkliche, durch die komplexe Kontinuität der eigenen Kritikgeschichte verbundene Geschichte konkretisieren könnte. Gerade die nicht-restringierten Teildisziplinen der Linguistik, jene, die sich mehr schlecht als recht angewandte' nennen, haben genug Offenheit, um Sprache und sprachliches Handeln unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit zu untersuchen und ihre Ergebnisse wiederum in die Praxis zurückzuwenden.

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Literatur Brockhaus, Gudrun (1997): Schauder und Idylle. Faschismus als Erlebnisangebot. München: Antje Kunstmann. Ehlich, Konrad (1996): „Kommunikation" - Aspekte einer Konzeptkarriere. In: Binder G. / Ehlich K. (Hgg.): Kommunikation in politischen und kultischen Gemeinschaften. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 257—283. In diesem Band: S. 449-473. Ehlich, Konrad (1999): Vom Nutzen der „Funktionalen Pragmatik" für die angewandte Linguistik. In: Becker-Mrotzek, M. / Doppler, Ch. (Hgg.): Medium Sprache im Beruf. Tübingen: Narr Verlag, S. 23-36. In diesem Band: S. 475—488. Kluge, Friedrich (1883): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. 1989. Hg. v. E. Seebold. Berlin, New York: de Gruyter. Otten, Karl (1989): Geplante Illusionen. Eine Analyse des Faschismus. Frankfurt am Main: Luchterhand Literaturverlag. Reichel, Peter (1991): Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus. München: Hanser. Scheffer, Bernd (1997): Surfen als Form der Mediennutzung und als Lebensform. Zur kulturellen Praxis Jugendlicher. In: Didaktik Deutsch 3, S. 4—15. Weinrich, Harald (1997): Von der schönen fremden Freiheit der Sprachen. In: Süddeutsche Zeitung, 4. Okt. 1997. Wunderlich, Dieter (1972): Terminologie des Strukturbegriffs. In: Ihwe, J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt am Main: Athenäum, S. 91-140. Zimmer, Jörg (1990): „Zweck / Mittel". In: Sandkühler, J. (Hg.): Europäische Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaften. Bd. 4. Hamburg: Meiner, S. 997-1006.

Die Entwicklung von Kommunikationstypologien und die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns 0. Vorbemerkung Seit dem Beginn der Sprechakttheorie versuchen die Theoretiker sich an der Erstellung von Sprechaktklassifikationen und -typologien. Dieses Bemühen kann als ein geradezu zentrales der Analyserichtung angesehen werden, nachdem einmal die elementaren Kategorien bei Austin und Searle erarbeitet waren. Schon Austin stellte ans Ende seiner Vorlesungsreihe1 einen Katalog von Typen. Was sich anschloß, bewegt sich weithin in den Bahnen, die die Zusammenstellung bei Austin bestimmte. Das Arrangement hingegen veränderte sich vielfaltig. Zugleich trat die Bescheidenheit, mit der Austin das Tentative seiner Liste umgab, zunehmend zurück. Auch die Argumentationshintergründe änderten sich, die für den Nutzen und die Begründung der Typologien herangezogen wurden. Sobald sich ein veritabler Philosoph des Bereichs angenommen hatte, wurden sie prinzipiell, ja kommunikations-transzendental. Wenn sie der alltägliche Betrieb der Linguisten hervorbrachte, blieben diese hingegen oft kaum ausgeführt.2 Neben den Theoretikern sind es vor allem auch Praktiker, „Anwender", die sich um solche Kategoriensysteme bemühen. Ihr Interesse ist deutlich ein anderes als das jener: unschwer läßt sich beobachten, wie Bereich um Bereich mit Hilfe von Kategoriensystemen „bearbeitet" werden soll, Kommunikation in der Schule, im Gericht, in der medizinischen Versorgung usw.3 Trotz dieser umfänglichen Bemühungen kann von einer theoretisch und/oder praktisch befriedigenden Situation nicht die Rede sein. So unumstritten groß und aus vielen Mündern geäußert das Bedürfnis nach 1

Austin (1962, 12. Vorlesung).

2

Zu den wenigen wirklich ausgeführten Kategorisierungen zählt K.R. Wagner (1978).

3

Viel von der in Redder (1983) dargestellten Literatur entwickelt solche Klassifikationsversuche.

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Typologien des sprachlichen Handelns ist — so wenig wird ihm anscheinend entsprochen. Dieser Umstand ist eigenartig. Lassen sich Gründe dafür erkennen, daß Kategorisierungswünsche und analytische Wirklichkeit so weit auseinanderfallen? Wie ist es zu verstehen, daß trotz der erheblichen Aufwendungen an Arbeit und Erfindungsgabe, an Anwendungsmühen und Klassifikationsversuchen das Ergebnis bisher so wenig zufriedenstellt? Ich meine, diese Frage verdient, daß man ihr nachgeht. Ich möchte im folgenden einige Überlegungen vortragen, die — so meine Hoffnung — ein wenig dazu beitragen können, Licht in das Dunkel des kommunikationstypologischen Gestrüpps zu werfen. Was ich vortragen will, ist fragmentarisch — und dies nicht nur wegen des wenigen Raums, der zur Verfügung steht, sondern aus allgemeineren Gründen. Ich denke, die Aufgabe, die das Entwickeln von Kommunikationstypologien darstellt, ist komplexer, als wir es uns in der Praxis dieser wissenschaftlichen Beschäftigung gemeinhin eingestehen. ,komplex' — diesen Ausdruck verwende ich nicht leichthin. Komplexität einer Sache erweist sich im allgemeinen als Kompliziertheit der wissenschaftlichen Analyse. Das ist ermüdend, oft geradezu frustrierend. Resignation legt sich nahe — ja, oft läßt sie sich gar nicht von der Hand weisen. Allerdings: Komplexität ist auch spannend. Sie fasziniert, und sie fordert heraus.4 Zwei Aspekte möchte ich unterscheiden: einen eher konstruktiv-kritischen und einen eher systematisierenden. Selbstverständlich sind beide eng aufeinander bezogen. Im Titel ist der systematisierende mit dem Ausdruck „die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns" benannt. Nur im letzten Abschnitt (§ 9) werde ich darauf eingehen können — und dies auch nur in der Form von Thesen. Der Hauptteil der folgenden Überlegungen gilt hingegen der Tätigkeit des Klassifizierens und Typologisierens selbst.

1. Der „state of the art" und die Praxis der klassifizierenden Technik Das Entwickeln von Typologien erscheint in der gegenwärtigen Praxis der Linguistik beinahe als ein Wert in sich. Dies hat sicher verschiedene Ursachen. Ein Teil von ihnen ist theoretischer, ein Teil praktischer Art. Zu den 4

In meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich beides erfahren. Was ich vortragen will, sind auch Fragmente eines Erfahrungsberichts im Umgang mit dieser Komplexität.

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ersteren gehört das verständliche Interesse, über einen so wichtigen Ausschnitt des menschlichen Handelns wie das Sprechen theoretisch fundierte Kenntnisse zu erhalten. Zu den praktischen Bedürfnissen gehören z.B. solche der Korpusgewinnung (nicht umsonst ist etwa die Klassifikationssystematik von Steger5 auf die Gewinnung des „Freiburger Korpus" bezogen oder die Typologie von Zimmermann 6 auf die Erstellung eines Korpus geschriebener Sprache). Doch diese Gründe selbst werden erstaunlicherweise wenig diskutiert. Offenbar ist — obwohl es mehrere Monographien zu Kommunikationstypologien gibt 7 — der „state of the art" nicht so, daß einer oder vielleicht auch zweien oder dreien dieser Kategorisierungen eine gewisse Verbindlichkeit zukäme. Vielmehr geht das Erstellen neuer Typologien unverändert fort. Manchmal läßt sich kaum der Eindruck von der Hand weisen, als käme dem ganzen Geschäft ein Grad von Beliebigkeit zu, der mit wissenschaftlicher Verfahrensweise wenig gemein hat. Dies betrifft im übrigen ebenso die deduzierten wie die additiven Klassifikationen. Der „state of the art" also kann — wie gesagt — kaum als sehr befriedigend eingeschätzt werden. Es herrscht nicht nur ein Mißverhältnis zwischen klassifikatorischem Bedürfnis und dem Angebot an Klassifikationen; vielmehr besteht offenbar ein ähnliches Mißverhältnis zwischen klassifikatorischem Anspruch und den Resultaten, die ihm gefolgt sind. Eine grundsätzlichere Betrachtung der klassifizierenden Tätigkeit in den kommunikations-analytischen Wissenschaften scheint mir angesichts dieser Situation nützlich. Eine solche Betrachtung bedeutet eine Reflexion der wissenschaftlichen Praxis. Die hätte vor allem die Aufgabe, den leitenden Gesichtspunkten nachzugehen, die diese Praxis bestimmen. Wie meist, Hegen sie nicht offen zutage. Oder, genauer: es gibt einerseits leitende Gesichtspunkte, die als solche benannt werden; andererseits aber gibt es auch solche, die einfach als allgemein akzeptierte Voraussetzungen der wissenschaftlichen Tätigkeit praktiziert werden, ohne daß auch nur der Anschein entstünde, daß hier Wahlen getroffen sind. Eine Situation, in der man mit einer wissenschaftlichen Aufgabe nicht recht vom Fleck kommt, läßt solche Reflexion als dringlicher erscheinen als eine, in der schnelle Fortschritte gebucht werden können.

5 6 7

S. Steger (1976); s. aber auch Steger (1983). S. Zimmermann (1978). S. etwa Zimmermann (1978); Dimter (1981); Verschueren (1980).

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2. Austins Entdeckung, revisited Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was eigentlich Austins Entdeckung vom „sprachlichen Handeln" innerhalb der Linguistik-Geschichte bedeutet - und zwar über das hinaus, was ihre Beschreibung selbst8 enthält. Austins Entdeckung ist dankbar aufgenommen und inzwischen geradezu zu einer Disziplin entfaltet worden. Diese schnelle Rezeption hat wenig Gelegenheit gelassen, über den Stellenwert seiner Entdeckung für die Linguistikgeschichte nachzudenken. Auch unter diesem Aspekt ist sie jedoch interessant. Sie bezieht sich nämlich auf eine Reduktion des Objektbereichs, die, folgenschwer und absichtslos für eine mögliche folgende Sprachtheorie, Aristoteles aufgrund eines philosophisch-theoretischen Interesses für das Analyseobjekt „Sprache" vornahm: die Reduktion auf den S a f y genauer auf den Aussagesatz ihn interessierten die sprachlichen Verhältnisse innerhalb dieser sprachlichen Einheit.9 Absichtslos im Blick auf die möglichen Gegenstände der Linguistik geschah das, weil Aristoteles sich mit dem Aussagesatz eben nicht als Linguist, sondern als logisch interessierter Philosoph befaßte; folgenschwer, weil die Linguistik sich dieser Reduktion in der Folgezeit nie recht bewußt wurde. Die Kategorie des Aussagesatzes hatte ein unübersehbares Kennzeichen, das sie weiterhin empfahl: sie bezieht sich auf in Sprachen wie der griechischen oder der deutschen unmittelbar zutage Liegendes. Die Satzform Aussagesatz ist akustisch deutlich markiert. Sie ist in der Schrift besonders klar hervorgehoben. Neben den formalen Vorzügen steht der inhaltliche, daß die Funktion des Aussagesatzes, Welt wiederzugeben, sehr weit reicht. Die Beschäftigung mit dem Aussagesatz befriedigte also ein praktisch nicht begrenztes Interesse, und zwar besonders eines für diejenigen, die sich auf theoretische Weise mit Wissen befaßten. An der so elementaren Form des Aussagesatzes ließ sich elementar behandeln, was Sprache kennzeichnet: dieser Eindruck formuliert das Ergebnis der aristotelischen Reduktion. So geriet aus dem Blick, daß es sich hier um eine Reduktion handelt. Das Objekt Sprache, das — nach dem Entstehen einer professionell-arbeitsteiligen Linguistik, d.h. Grammatik — der Analyse unterzogen wurde, war nur noch der Aussagesatz — darüber hinaus allenfalls noch die darauf bezogene Form des Fragesatzes. — (Dieser Zusammenhang ist noch im Interessenbereich der „generativen Transformationsgrammatik" deutlich ablesbar.) Die Begrenzung des Horizontes auf den Aussagesatz war nicht in allen linguistischen Einzelbeschäftigungen gleich folgenreich 8

Austin (1962).

9

Aristoteles, peri hermeneias.

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und gleich deutlich zu greifen, wie etwa bei der segmentalen Phonologie oder der Lexikologie und Etymologie zu erkennen ist. Wenn aber größere Formen behandelt wurden, so wurden sie hier aufgesucht — und fanden an den Grenzen des Aussagesatzes auch ihre Grenzen. Diese Restriktion hatte für die weitere Linguistikentwicklung zumindest zwei Folgen, die in der aristotelischen Restriktion eine gemeinsame Grundlage haben: die erste ist die Ausgrenzung nahezu aller nicht-assertiven sprachlichen Bereiche aus der Analyse; die zweite ist die Verwechslung von Aussagesatzform und A s s e r t i o n , genauer: ist die Behandlung der A s s e r t i o n als Aussagesat%. Austins Entdeckung war es, zu erkennen, welche enorme Reduktion das sprachliche Objekt in der Eingrenzung auf die A s s e r t i o n zu erleiden hatte und welche Dimensionen von Sprache, von sprachlicher Praxis damit der wissenschaftlichen Analyse unzugänglich gemacht, wenn nicht ihr gänzlich entzogen wurden. Seine Entdeckung hatte damit zwei Richtungen: einerseits läßt sie erkennen, daß das traditionelle Objekt der Sprachwissenschaft nur eines von vielen möglichen Objekten ist; zum anderen, daß auch dieses Objekt nur in einer artifiziell manipulierten, in einer reduzierten Form als sprachwissenschaftliches Objekt anerkannt war. Austins These vom „sprachlichen Handeln" macht faktisch dies als zentrale Kritik an den überkommenen Verfahren aus, Sprachwissenschaft zu betreiben. Doch ist eine 2300-jährige Praxis nicht mit der Entdeckung solcher artifizieller Reduktionen auch schon überwunden. Vielmehr hat sie ja das Nachdenken über Sprache und die ganze analytische Praxis bestimmt. Neben den offenen Restriktionen — und wirksamer als sie — stehen die verborgenen. Das sind diejenigen, die in die allgemeinen Grundannahmen eingegangen sind. Es sind die stillschweigenden Voraussetzungen der wissenschaftlichen Praxis selbst, die von der Restriktion des Objekts bestimmt werden. Insofern ist es konsequent, wenn die Pragmatik in der Linguistik weithin als eine Ergänzung zu dem „gesicherten Bestand" linguistischer Erkenntnisse erscheint — bei ihren Befürwortern wie bei ihren Gegnern. Die „gesicherten Erkenntnisse" sind aber nichts anderes als jene - immer weiter entwickelten und raffinierter, detaillierter gewordenen — Reduktionen und die analytischen Folgerungen, die sich aus ihnen ziehen lassen. Zunächst ist aber deutlich, daß die Erkenntnis von der — analytisch gesprochen — Beschränktheit der sprachlichen Handlung „Assertion", die in einem so auffallenden Gegensatz zu ihrer nahezu universalen Verwendbarkeit für die Wiedergabe von Wissen (kommunikativ: die Uber-

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mittlung von Information) steht, selbstverständlich die Frage aufwirft, welche anderen sprachlichen Handlungen es gibt und in welchem Verhältnis zueinander sie stehen. Austins Typologie ist die extensivste Antwort auf diese Frage, und die Klassifizierungsversuche derer, die die bei Austin bereits versammelten „Sprechakte" neu arrangierten, sind in ihren Bemühungen auf dieselbe Frage bezogen. Austin erarbeitete seine Entdeckung an einigen „glücklichen Beispielen", die Searle10 mit der zentralen Behandlung des V e r s p r e c h e n s fortsetzte. „Glücklich" an den Beispielen ist, daß auch sie etwas mit der Eigenschaft von Standardrealisierungen von A s s e r t i o n e n gemein haben, die für Aristoteles und die seine Verfahren weiterverwendenden Linguisten die A s s e r t i o n als linguistisches Objekt empfahl: sie zeigen sichtbar, hörbar, an der Oberfläche des Sprechresultats, worum es bei ihnen geht. Dies ist am — von Austin ebenso glücklich gefundenen wie zunächst unglücklich überschätzten — performativen Gebrauch11 sprechhandlungsbezeichnender Verben sozusagen unter methodologischem Gesichtspunkt besonders deutlich abzulesen. Ist über die A s s e r t i o n relativ viel bekannt, so gilt das in gleicher Weise kaum von anderen sprachlichen Handlungen. Das Wissen über die A s s e r t i o n speist sich aus mindestens drei Quellen: a) b) c)

dem, was linguistisch über die Aussageform bekannt ist; was philosophisch über die Wissensstrukturen, die Wissensrepräsentation und über die Versprachlichung von Wissen bekannt ist; was aus der alltäglichen Praxis, an der auch die Wissenschaftler als Sprecher ihrer Sprache teilhaben, über die sprachliche Handlung des A s s e r t i e r e n s immer schon handlungspraktisch bekannt ist.

Je mehr man sich von den rein wissensbezogenen sprachlichen Formen entfernt, um so geringer wird die vorgängige Kenntnis der sprachlichen Erscheinungen — und um so mehr wird der Bereich (c), wird die Bedeutung des alltäglich und handlungspraktisch Bekannten wichtig. Dieses wird zwar von den Sprechern einer Sprache praktisch beherrscht. Aber solche Beherrschung stellt einen Wissenstyp dar, der anders ist als der des wissenschaftlichen Wissens. Ihn in wissenschaftliches Wissen zu überführen, ist nicht leicht. Um so größer ist die Gefahr, zu meinen, mit einigen mehr oder minder zusammengerafften Umsetzungen von Aspekten des alltäglichen handlungspraktischen Wissens Strukturen und Funktionsweisen assertionsferner sprachlicher Handlungen bereits erfaßt zu haben.

10 11

Searle (1969). Austin (1962).

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Ich meine, der unbefriedigende Zustand, in dem sich die Analyse des sprachlichen Handelns befindet, ist eine direkte Folge dieses Umstandes. Die Probleme mit dem Klassifizieren von sprachlichen Handlungen, von Diskursen, von Texten erfordern das Auffinden von Kategorien und Verfahren, die der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung zugrunde liegen können.

3. „Gebrauchstexte" und mündliche Kommunikation Die Kategorie des sprachlichen Handelns stellt eine der fundamentalen Restriktionen in Frage, die Grundpräsuppositionen der überkommenen linguistischen Analyse bestimmen. Doch diese Infragestellung ist nicht die einzige, die durch die Linguistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschieht. Vielmehr wird auch — in einem langdauernden, mitderweile hundertjährigen Prozeß — eine zweite Restriktion, die von sprachlichen Objekten auf literarische, in Frage gestellt. Die traditionelle Sprachanalyse war im wesentlichen auf zwei unterschiedliche Disziplinen verteilt: die Grammatik und die Rhetorik. Beide unterlagen dieser gemeinsamen Restriktion; die Rhetorik nicht von Anfang an. Für die Grammatik hingegen war der Bezug zur philologischen Fragestellung bald nach ihren Anfängen grundlegend. Je mehr die Rhetorik zu einer Kunstlehre für die Schreibweise wurde, stellte sich diese Restriktion jedoch auch hier ein. Als Literatur gilt zudem im großen und ganzen nur Schriftliches (wenn denn von einer „oralen Literatur" überhaupt sinnvoll gesprochen werden kann). Die Infragestellung der Reduktion betrifft zwei Aspekte, die beide für die Kommunikationsklassifizierung von erheblicher Auswirkung sind: (a) Neben die Texte der belies lettres treten andere Formen von Texten — zunächst die trivialen Varianten der Literatur, dann sogenannte „Gebrauchstexte", um einen der verschiedenen (sicher den Produzenten der belles lettres nicht gerade sympathischen) Ausdrücke zu nehmen, die in der Linguistik dafür verwendet werden. Die Grenzen sind dabei fließend. Auch in der traditionellen linguistischen Analyse, etwa in ihrer exegetischen und interpretatorischen Form, waren „Gebrauchstexte" linguistisches Objekt, z.B. in der juristischen Hermeneutik oder in der theologischen Exegese rechtlicher bzw. religiöser Texte. Doch auch diesen Texten kam Dignität zu. Nun aber wurde alles, was in schriftlicher Form vorlag,

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Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Untersuchung — nicht ohne das Entsetzen der Literaturwissenschaftler. (b) Diese Expansion erfuhr eine Fortsetzung, als Möglichkeiten entstanden, auch die mündliche Kommunikation (sekundär) aufzuzeichnen und so schriftlich und der detaillierten Analyse zugänglich zu machen. Zwar war die Forderung, die mündliche Sprache zu analysieren, schon lange — bei den Junggrammatikern — erhoben worden. Viel folgte daraus jedoch nicht. Die unumgänglich auf Mündliches bezogene Arbeit von linguistischen Randdisziplinen wie etwa der Ethnologie war ohne prinzipielle Auswirkungen für die linguistische Praxis geblieben. Mit der Aufzeichnung und Analyse gesprochener Sprache trat eine völlig neue Qualität von Sprache in das Bewußtsein von Linguistik — nicht ohne daß diese auf Skepsis und Abwehr stieß. Beide Erweiterungen des Objekts der Linguistik brachten spezifische klassifikatorische Notwendigkeiten mit sich; beide boten jedoch auch eine jeweilige Vorklassifikation — ein klassifikatorisches Erbe, das nicht ohne Auswirkungen blieb. Bei der mündlichen Kommunikation sind dies alltagssprachliche Bezeichnungen für einzelne Typen des sprachlichen Handelns. Bei der Gebrauchsliteratur gibt es entsprechende Kategorisierungen, die die sprachlich Handelnden z.B. benötigen, um sich über den spezifischen Charakter einer gebrauchsliterarischen Form zu verständigen, sie zu bezeichnen, über sie zu sprechen, usw.12 Die alltagssprachlichen Kategorien zur Bezeichnung von sprachlichen Phänomenen sind selbst Bestandteil dieser sprachlichen Praxis und auf ihre Erfordernisse bezogen — durch sie aber auch beschränkt. Was oben (§ 2) zu (c) gesagt wurde, gilt auch hier: das handlungspraktische Wissen ist noch kein theoretisches. Die Kategorien, die es enthält, sind „Ethnotheorien". Darüber hinaus haben an den Handlungszusammenhängen, für die die Gebrauchstexte existieren, interessierte Wissenssysteme eine eigene Bezeichnungs- und Analysepraxis entwickelt, deren Ergebnisse, teils popularisiert, teils nicht, sich als Erkenntnis über die sprachlichen Phänomene anbieten. Etwas Gleichartiges gilt schließlich für die literarischen Texte. Die Literaturwissenschaft und verwandte Disziplinen blicken zum Teil auf eine jahrhundertealte analytische Tradition zurück, die in der Gattungstheorie ihren klassifizierend-typologisierenden Ausdruck findet.13

12

S. Gülich (1986).

13

Vgl. Hempfer (1973); Raíble (1980).

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Elemente aus all diesen Klassifizierungen stehen den Linguisten zur Verfügung, sei es, weil sie selbst an der Ethnotheorie als Mitglied teilhaben, sei es, indem sie die Ergebnisse anderer Wissensysteme und Wissenschaften — in einem durchaus legitimen Sinn — entlehnen. Die Linguisten stehen also einerseits vor erheblichen klassifikatorischen Notwendigkeiten. Diese verlangen von ihnen, mit jahrhundertealten, oft bereits in den Präsuppositionsbestand ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit überführten Restriktionen zu brechen. Sie verlangen zugleich, sich auf neue Objektbereiche einzulassen. Die Linguisten stehen andererseits vor unterschiedlichen Klassifikationsangeboten, die jedoch oft selbst keine wissenschaftliche Struktur haben. Insofern sie dem Linguisten als Teilhaber an alltagspraktischen Systemen zur Verfügung stehen, haben sie wiederum spezifische Kennzeichen, die sie für die wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung häufig keineswegs zu einer Erleichterung, ja, in vielen Fällen geradezu zu einer Behinderung werden lassen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn sie stillschweigend, wenn sie als Präsuppositionen der klassifizierenden Tätigkeit wirksam und so als letztes Beurteilungskriterium für die Einschätzung von Angemessenheit und damit analytischer Qualität von Klassifizierungen eingesetzt werden. Es dürfte einleuchtend sein, daß eine Situation wie die, die ich eben beschrieben habe, nicht gerade die günstigste Voraussetzung für eine erfolgreiche wissenschaftliche Praxis darstellt. Jedenfalls aber verlangen die unterschiedlichen Strukturen von Klassifizierungserfordernissen und vorgängigen Klassifizierungsangeboten ein umsichtiges oder, wissenschaftlich formuliert, ein reflektiertes Vorgehen. Wie sind die innerwissenschaftlichen Voraussetzungen dafür nun in der konkreten Geschichte der Disziplin, um die es geht, und wie beantwortet sie die Herausforderung, die diese Situation darstellt? Ich möchte diesen Fragen in den nächsten Abschnitten nachgehen. Dabei will ich zunächst einige allgemeine Wissenschaftlichkeitskonzepte kurz charakterisieren, die in der Linguistik offenbar gehandhabt werden. Auch dies geschieht öfter stillschweigend als offen, in methodologischer und wissenschaftstheoretischer Reflexion. Dann will ich den Niederschlag davon in der klassifizierenden Praxis verfolgen.

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4. Linguistikgeschichtliche Determinanten der Klassifikationsverfahren Die traditionelle Sprachwissenschaft ließ sich ihren wissenschaftstheoretischen Rahmen weitgehend von der Philologie vorgeben. Im 20. Jahrhundert ist dieser Zustand mehr und mehr in Frage gestellt worden. Die Philologie verlor ihre — auch gesellschaftlich — führende Rolle, die sie im 19. Jahrhundert eingenommen hatte. Zugleich wurde die Notwendigkeit gefühlt, die Linguistik eigenständig zu etablieren. Dies geschah entweder unter Bezug auf andere als die philologische Disziplin oder in dem Versuch, die Linguistik autonom zu machen (Saussure). Dieses Geschäft bestimmte die linguistische Tätigkeit des 20. Jahrhunderts nachhaltig. Es erreichte die verschiedenen Wissenschaftsnationen zwar keineswegs gleichzeitig, aber doch so, daß die Resultate gegenwärtig als verallgemeinert gelten können. Überall dort, wo Linguistik nicht sich auf die bloße Fortschreibung einer als obsolet erfahrenen wissenschaftlichen Praxis beschränkte, ging die Neubesinnung unter expliziten wissenschaftstheoretischen Revolutionen vonstatten. Diese Umwälzungen freilich erfaßten keineswegs immer den Gesamtbestand dessen, was linguistische Wissenschaftspraxis zuvor gewesen war. Vielmehr geschahen sie oft, indem neue Objektbereiche von Sprache zum zentralen sprachwissenschaftlichen Gegenstand erhoben wurden: das sprachliche Zeichen (Saussure), die sprachliche Form und ihre Distributionen (amerikanischer Strukturalismus), der Satz (Chomsky). Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, daß die Linguistik des 20. Jahrhunderts ein einigermaßen diffuses, ja zerrissenes Bild ergibt. Zugleich erweist sich die Gegenwärtigkeit dieser Geschichte darin, daß einerseits Sedimente der verschiedenen Neubestimmungen von Sprachwissenschaft in der gegenwärtigen Praxis unverbunden nebeneinanderstehen. Andererseits sind die jeweiligen methodologischen Grundannahmen in einer wenig durchschauten Weise in den Bestand der stillschweigenden Voraussetzungen für Wissenschaftspraxis übergegangen. Und schließlich haben die Unbewußtheit und Diskontinuität, der fragmentarische Charakter, die die Linguistikgeschichte des Jahrhunderts bestimmen, sich darin niedergeschlagen, daß die linguistische Theoriekonstruktion als Bereich von Beliebigkeit erscheint. Diese kurze Skizze zum Theorienhintergrund, vor dem auch die Klassifikation sprachlichen Handelns geschieht, hat für diese linguistische Teiltätigkeit unmittelbar Relevanz:

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— bestimmte Standards wissenschaftstheoretischer Art determinieren das, was von Klassifikationen erwartet wird; — die Beliebigkeit in der Objektbestimmung macht sich bemerkbar; — die Praxis des „Definierens" von Konzepten und Objekten im Sinne ihrer willkürlichen Bestimmung und, auf einer weiterentwickelten Stufe, die Behauptung, daß das Objekt Sprache ebenso willkürlich festgelegt werden könne wie das, was als eine Theorie zu gelten habe, bestimmen das Bild; — schließlich ist jeder Zusammenhang innerhalb des Objektbereichs wie innerhalb der theoretischen Diskussion darüber angesichts der gezeichneten Wissenschaftsgeschichte selbst immer schon diskreditiert. Alle diese Kennzeichen haben eine hauptsächliche gemeinsame Folge: Die Beziehung zwischen Theoriebildung und dem Objekt, über das die Theorie entwickelt werden soll, ist zufallig, ja, sie geht streckenweise fast völlig verloren. In dem Maße, in dem die Beziehungen zwischen Theorie und Phänomenbereich locker werden, verliert auch die Sache, um deren Erkenntnis es geht, ihre kritische Beurteilungsfunktion für die Angemessenheit der theoretischen Konzepte. Zugleich treten zwei Typen von Beurteilungsformen an deren Stelle: explizite wissenschaftstheoretische Desiderate, die aus anderen Disziplinen entlehnt werden, einerseits; andererseits vortheoretische Plausibilitäten, die ihrerseits wissenschaftlich-kritischer Uberprüfung weitgehend entzogen sind.

5. Zwei Strategien für die Typologieerstellung Betrachten wir nun einige Aspekte der eben skizzierten Situation etwas näher. Bei der Erstellung von Kategoriensystemen zur Klassifikation sprachlicher Handlungen sind zwei Bewegungsrichtungen zu unterscheiden: eine deduktionistische und eine empiristische. Die deduktionistische versucht, aus allgemeinen Prinzipien von Kommunikation eine Typologie sprachlicher Handlungen abzuleiten. Die empiristische stellt Merkmalsklassifikationen auf, die eine Typenlehre erzeugen sollen. Die deduktionistische ist am klarsten in ihrer transzendentalen — und damit konsequenten - Ausprägung, wie sie Habermas (1971) vertreten hat. Eine jede sprachliche Gattungslehre partizipiert implizit an einem solchen Verfahren. Die empiristische findet in der Metapher der ,Sorte' vielleicht ihren offensichtlichsten Ausdruck: ,Sorte' steht in Sprachen wie der englischen oder

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Sprachtheorie und Pragmatik

noch deutlicher der niederländischen im Terminologieaufbau an einer ähnlichen Stelle wie im Deutschen der Ausdruck ,Art'. Im Deutschen erhält der Ausdruck ,Sorte' hingegen den Charakter einer markierten Variante — ein Umstand, der bei der Einführung des Terminus ,Textsorte' 14 im Deutschen diesem einen anderen Stellenwert verlieh als seinem — scheinbaren — englischen bzw. niederländischen Äquivalent. Die ,Sorte' unterstellt eine Zerlegung nach verschiedenen mehr oder minder der Sache äußerlichen Kriterien. Diese werden als „Merkmale" erfaßt. Die Zusammenstellung der Merkmale ergibt ein Raster. Sofern dieses mindestens zweidimensional ist, lassen sich über Kreuzkombinationen Merkmalsklassen bilden, die die Fülle von Textsorten beschreiben. Beide Verfahrensweisen haben etwas ausgesprochen Bestechendes, und beiden eignet eine lange theoriegeschichtliche Dignität. Auch ist jede für sich Ausdruck einer von zwei Hauptlinien wissenschaftstheoretischer Praxis und wissenschaftstheoretischer Argumentation, die sich am schärfsten in der Kontroverse zwischen - im wissenschaftsgeschichtlichen Sinn exakt genommenem — „Idealismus" und „Nominalismus" artikulieren. Beiden eignet aber auch ein Aspekt, der zwar in der philosophischtheoretischen Diskussion um die ,universalia' seine Berechtigung hat, diese meines Erachtens aber um so mehr verliert, je mehr die im strengen Sinn transzendentale Argumentation verlassen wird und die realen Konkretionen von Phänomenbereichen theoretisch erfaßt werden sollen. Dieser Aspekt ist die Loslösung von eben jenen realen Phänomenen, zu deren Erkenntnis die Kategorien doch beitragen sollen. Anders ausgedrückt: Die Erstellung von Klassifikationen und Typologien ist weitgehend abgelöst von der sprachlichen Wirklichkeit. Ihnen fehlt häufig eine tatsächliche Grundlage in den Phänomenen. Damit fehlen ihnen aber auch die Bedingungen der Möglichkeit für eine sinnvolle Empirie. Die Empirie tritt in die Konstruktion derartiger Kategorisierungen und Klassifikationen im allgemeinen erst post festum ein. Sie erfolgt in der Form einer Konfrontation von theoretischem Konstrukt (Typologie) und sprachlicher Realität. Diese kann in zweierlei Weise geschehen: entweder durch den Bezug auf ein Korpus oder durch den Bezug auf ein Beispiel. Beim Bezug auf ein Beispiel·5 ist unmittelbar deutlich, daß die Empirie lediglich in einem derartigen Ausschnitt herangezogen wird, der dem Ver14 15

S. bes. GüHch/Raible (1977). Zum Beispiel van Dijk (1972); Güüch/Raible (1977).

Die Entwicklung von Kommunikationstypologien

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dacht des „Beiherspielenden" (Hegel) notwendig ausgesetzt bleibt. Gleichwohl hat dieses Verfahren in der Linguistik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erhebliche Bedeutung gewonnen. Gehen wir der — wiederum stillschweigenden — Absicherung für diese Dignität des Beispiels etwas nach, so zeigt sich: es handelt sich hier um eine Entlehnung einigermaßen komplexer Art. Es gibt eine Wissenschaft, in der der Einzelfall — und zwar jeder Einzelfall — von entscheidender Bedeutung für die Richtigkeit oder Falschheit theoretischer Konstrukte ist: es ist dies die Wissenschaft, die es nur mit solchen Konstrukten zu tun hat, die Mathematik. In ihr ist jeder sinnvoll konstruierte Einzelfall zugleich Prüfstein für die Theorie, innerhalb derer er formuliert wird. „Beispiele" entscheiden also über die Theorie — so erscheint es. In anderen Disziplinen, die auf außerdisziplinäre Wirklichkeit bezogen sind, kann dieses Verfahren nur analoghaft übertragen werden. Die theoretischen Konstrukte des „idealen Sprecher-Hörers" und die Kontroversen über „Grammatikalität" und „Akzeptabilität", die sich innerhalb der so aufgerichteten Grenzen als unumgänglich erweisen, zeigen der Linguistik, welcher absichernde Aufwand erforderlich ist, um diese Analogie etwa für das Gebiet der Sprache zu handhaben. Die Konfrontation der Typologie mit einem Korpus ist gut zu analysieren etwa an den Entwicklungen der Analyse von Kommunikation in spezifischen institutionellen Bereichen. Weil einer der am längsten so behandelten Bereiche, zeigt die Kommunikation in der Schule16 dies bisher am klarsten. Aber dieser Bereich ist kein Einzelfall; fast mit einer Art Regel — ja, Gesetzmäßigkeit scheinen sich parallele Prozesse bei jedem Gebiet zu ereignen, das empirischer Sprachanalyse neu unterzogen wird, so gegenwärtig dem der Kommunikation zwischen Arzt und Patient.17 In immer neuen Anläufen werden vorab Kategoriensysteme konstruiert, die dann dem Material appliziert werden sollen; und immer neu erweist sich das Material als überschießend und durch die Systeme nicht zähmbar. Das führt zur Verwerfung der Typologie und zu ihrer Ersetzung durch neue. Es ist deutlich, daß diese Figur sich vergleichsweise beliebig repetieren läßt. Ihren Abbruch erfährt sie im allgemeinen in der Form einer theoretischen Ermüdung: Nachdem mehrere solche Durchläufe erfolgt sind, wird entweder das Gebiet verlassen und das theoretische Interesse wendet sich, sei es einem neuen Gebiet zu, um dieselbe Figur dort wieder in Gang zu setzen, oder es verlagert sich prinzipiell. Wenn letzteres geschieht, geht damit häufig eine Art skeptischen, ja agnostischen Fazits einher: Die 16

Vgl. Ehlich/Rehbein (1983) ; Redder (1983).

17 Vgl. z.B. Löning (1985).

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Sprachtheorie und Pragmatik

sprachliche Wirklichkeit wird als „so" oder als prinzipiell nicht erkennbar bezeichnet. Die theoretischen Konzepte, derer man sich bei der Kategorienerstellung bediente, werden zugleich als unzureichend deklariert, weil sie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben. Weniger wird hingegen gefragt, ob diese Erwartungen realistisch waren, kaum je, ob die Konzepte sich für die Erwartungen überhaupt eigneten. Das heißt: das Scheitern der Kommunikationstypologien in der Konfrontation mit dem empirischen Material wird nicht reflektiert, sondern resigniert bearbeitet. Vielleicht wird das Bild, das ich eben gezeichnet habe, von manchem als zu dunkel angesehen. Ich fürchte aber, daß es — und zwar auch für zukünftige Entwicklungen auf dem Feld der Kommunikationstypologien einige Hauptlinien darstellt, die realistisch sind.

6. Klassifikationen in anderen Wissenschaften Beiden eben beschriebenen Konstruktionsverfahren für Kommunikationsklassifikationen ist gemeinsam, daß sie diese vor der Sache konstruieren. Das beinhaltet immer auch die Gefahr, der Sache die Kategorien vorzukonstruieren, nach denen sie sich zu richten habe. Bei relativ wenigen Gelegenheiten in der Wissenschaftsgeschichte insgesamt ist ein solches Verfahren geglückt. Wissenschaften mit erfolgreichen Klassifikationsbemühungen wie die Biologie und Chemie zeigen, daß dem Erfolg jahrhundertelange Beobachtungserfahrungen und Ethnosystematisierungen vorausgegangen sind. Uberhaupt ist das Erstellen von sachangemessenen Typologien im allgemeinen das Ergebnis, nicht jedoch die Anfangsphase einer analytischen Praxis. Diese allgemeine Kennzeichnung findet nun für Kommunikation im umfassenden Sinn eine, wie oben beschrieben wurde, ungünstige Situation vor. Durch die langjährige Eliminierung und Mißachtung des Objekts konnte sich eine gleichartige Analyseerfahrung kaum entwickeln. Genauer: Allenfalls im Randgebiet anderer Disziplinen wurden wissenschaftliche Beobachtungen gesammelt. Daneben stehen die genannten, auch aller wissenschaftlichen Beobachtung in Bezug auf Sprache vorausliegenden Terminologien zum Zwecke dieser Kommunikation selbst, also die alltagssprachlichen Bezeichnungen. Sie sind denn auch der praktische Garant für die Klassifikationsversuche, die in der eben beschriebenen Weise vorgehen.

Die Entwicklung von Kommunikationstypologien

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Sind für Chemie oder Physik die Objekte von den Bezeichnungen für sie auf eine einigermaßen manifeste Art unterschieden, so gilt das für Sprache just nicht. Dieser Umstand, der etwa Carnap und Reichenbach zu ihren langen Erörterungen über Objektsprache und Metasprache Anlaß gab 18 , macht sich bei den linguistischen Erkenntnisbemühungen immer wieder auf eine verwirrende Weise bemerkbar. Wenn nicht eine Übersetzung in die mathematische Formelsprache (bei der im übrigen die Problematik nur in veränderter Form wieder auftaucht) angestrebt wird, sind die Verwechslungen von Ausdrücken der verschiedenen Sprachen naheliegend und oft nicht im einzelnen nachverfolgbar. Dies erleichtert das quid pro quo, die permanente Vertauschung von wissenschaftlichen und alltäglichen Kategorien. Vor allem aber erlaubt es, die alltagssprachlichen Klassifikationen von Kommunikation als jenen letzten Garanten und als eigentliche, den deduktionistischen oder empiristischen Klassifikationsverfahren zugrunde liegende Kommunikationstypologie zu gebrauchen. Sowohl für die Wissenschaft der Biologie wie für die der Chemie hat sich das Erstellen von Klassifikationen als wissenschaftlich wertvolles Mittel der Erkenntnisgewinnung über ihre jeweilige Sache erwiesen. Das Linnésche und das „natürliche" System in der Biologie, das System der Elemente in der Chemie sind die Resultate phänographischer Systematisierung, die wesentliche Erkenntnisse über die biologischen wie über die chemischen Phänomenbereiche zusammenfaßten und in ihrer inneren Ordnung enthüllten. 19 Ihr Nutzen für die Entwicklung der jeweiligen Disziplin erwies sich einerseits darin, daß Kenntnisse auf ihre Vollständigkeit hin überprüfbar wurden. Andererseits zeigten sie ihre Sachangemessenheit darin, daß auf der Basis der Systematik weitere fruchtbare und komplexere Erkenntnisgewinnungen möglich wurden (die Dynamisierung der Systematik in der Aufdeckung einer Diachronie der Daten durch Darwin; die Entwicklung der ganzen neueren Chemie auf der Basis der Elemententafel). In beiden Fällen läßt die Klassifikation einige allgemeinere Kennzeichen deutlich werden: 1. 2.

18 19

Die Klassifikationen sind strikt sachbezogen. Die Klassifikationen lassen von der jeweiligen Sache her jeweils anders konkretisierte Systematisierungskriterien zur Wirkung kommen; die Kriterien sind nicht abstrakt von der Sache, sondern nur unter konkretem Bezug auf die Konkretionen der Sache zu entwickeln.

Carnap (1934, 2. Aufl. 1968), Reichenbach (1947). Zu letzterem vgl. zusammenfassend Ühlein (1974).

182 3.

4.

Sprachtheorie und Pragmatik

Die Klassifikationen systematisieren vorgängige Erkenntnisse über die Phänomenbereiche, die ein komplexes Aggregationsniveau erreicht hatten. Zugleich - dies ist besonders an der Klassifikation der Chemie deutlich — sind die Klassifikationen die Kritik vorausgegangener Klassifikationsversuche, deren Unstimmigkeiten und Artifizialität die innere Stimmigkeit und die Stimmigkeit mit den Phänomenen selbst gegenübergestellt werden können.

Aus diesen Kennzeichen kann für die Klassifikation von Kommunikation gelernt werden. Besonders der strikte Sachbezug ist zentral. Er ist zugleich, wie oben (§ 4) gezeigt wurde, das, was in der Linguistik am meisten zu vermissen ist. Sachbezug zeichnet auch die Entwicklung in der Physik aus — besonders in der Leitdisziplin der Mechanik. Diese ist es, die von den Wissenschaftstheoretikern heute anderen Wissenschaften als Muster und Regel vorgehalten wird. Gerade der Sachbezug erforderte hier freilich ein weithin anderes Vorgehen als in der Chemie oder Biologie. Während diese ein klassifizierendes Verfahren erfordern und möglich machen, ist die Verfahrensweise der Mechanik die der strikten — von Descartes in aller Konsequenz formulierten20 — Abstraktion und damit der De-Klassifikation der Phänomene. Diese sind nur noch als Körper, das heißt als Ausgedehntheit schlechthin, interessant. Erst nachdem eine solche De-Klassifikation der Erscheinung geleistet ist, sind die Gesetze der Mechanik formulierbar, die von daher auch einen anderen Charakter tragen als die Klassifikationssysteme in Biologie und Chemie. Die Attraktivität der Mechanik als eines wissenschaftstheoretischen Paradigmas wirkt nun in der gegenwärtigen Linguistik als sicher effizienteste methodologische Leitvorstellung. Ob sich das Objekt Sprache für eine solche Behandlung eignet, wird dabei, soweit ich sehe, wenig diskutiert. Die Ethnosysteme für kommunikative Erscheinungen suggerieren deren Klassifizierbarkeit. Demgegenüber hat die Praxis der linguistischen Wissenschaftsgeschichte dieses Jahrhunderts sich dem aus der Physik bekannten Reduktionismus verpflichtet, und zwar sowohl in der semiotischen Tradition (Saussure) wie in der syntaktischen (Chomsky). Beide Male ist es zwar ein anderes Objekt, das als Analogon des „Körpers" in der Physik dient, das „Zeichen" bzw. der „Satz"; doch die Figur ist eine ähnliche. Während Saussure über das Zeichen sehr sorgfaltig nachdenkt, beläßt Chomsky den Aufweis dessen, was ein Satz ist, offenbar durchgehend 20

Vgl. z.B. Descartes (1644) und passim; vgl. auch Franke (1970).

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dem allgemeinen Vorverständnis. Anders ausgedrückt: er läßt sich seine elementare Kategorie von der Trivial-Linguistik der Tradition vorgeben. Dieses herrschende Bild ist dem Versuch einer wissenschaftlichen Kommunikationstypologie nicht günstig: weder hinsichtlich der Methode noch hinsichtlich des Objekts noch hinsichtlich der Methodologie.

7. Die Eliminierung mentaler und gesellschaftlicher Kategorien Konfrontieren wir nun das, was in § 4 — 6 erarbeitet wurde, mit der Aufhebung von Objektrestriktionen, wie sie am Ende von § 2 — 3 beschrieben worden ist. Es dürfte deutlich sein, daß Austins Entdeckung nicht einfach eine Addition neuer Objekte zu den bekannten bedeutet hat. Vielmehr stellt Austin faktisch Selbstverständlichkeiten in Frage, die nicht nur die traditionelle Linguistik akzeptierte, sondern die in der Linguistik des 20. Jahrhunderts radikal verschärft worden sind. Die Entwicklung von Kommunikationstypologien, so selbstverständlich sie als wissenschaftliche Tätigkeit erscheint, erweist sich also als etwas, das in mehrerer Hinsicht mit der Praxis und der ihr zugrundeliegenden Grundkonzeption von Linguistik nicht übereinstimmt. Dies zeigt sich nicht zuletzt in den Schwierigkeiten, Kommunikation wissenschaftlich zu analysieren und das mehr oder minder beliebige ReArrangement nur der alltäglichen Kategorien zu überwinden. Die, im theoretischen Sinne, „Anfänglichkeit" der Austinschen Kritik an der herrschenden Praxis der Linguistik ist bisher wenig zur Kenntnis genommen und noch weniger in die Tat umgesetzt worden. Dies wird schon an dem Versuch Searles deutlich, die Austinsche Entdeckung mit der Chomskyschen Satzlinguistik zu kontaminieren 21 und andererseits die Erörterung des propositionalen Gehaltes unter Bezug auf den Reduktionismus des logischen Propositionsbegriffs vorzunehmen. Austin hat, wie in § 2 beschrieben, durch die Entdeckung des Handlungscharakters von Sprache den Phänomenen selbst in einer umfassenderen Weise Rechnung getragen, als es die traditionelle Linguistik aufgrund ihrer historisch bedingten Restriktionen vermochte. Doch ist dies ein Anfang und nicht bereits das Resultat, als das Austins Analyse weithin genommen wird. 21

S. Searle (1969).

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Durch Austins Konzeption ist also ein Zugang zum Phänomenbereich der Sprache, zur Sache selbst, wiedereröffnet worden, der für Jahrhunderte verschüttet war. Entgegen den Ausgrenzungsverfahren, die für die Linguistikgeschichte der jüngsten Zeit kennzeichnend sind, kommt die Sache selbst in ihrer Umfassendheit in den Blick, wird als wissenschaftliches Objekt restituiert. Restitutierung bedeutet aber mehr: Nicht nur die Restriktionen in Bezug auf die Sprache sind zu kritisieren und die Notwendigkeit ihrer Aufhebung zu thematisieren. Vielmehr sind zwei weitere Eliminierungen aus der Linguistikgeschichte dieses Jahrhunderts, so zeigt sich, problematisch: die Eliminierung der mentalen Sphäre und die Eliminierung der gesellschaftlichen Zwecke des sprachlichen Handelns. Beide stehen im Gefolge der Departementalisierung von Wissenschaft, wie sie in der Wissenschaftstheorie des ausgehenden vorigen Jahrhunderts betrieben wurde. Die Saussure-Rezeption verselbständigt das sprachliche Zeichen — im Widerspruch zu Saussures ausdrücklichen Absichten — gegen den sozialen Zusammenhang. Der echohafte Nachvollzug der psychologischen Entwicklung zum Behaviorismus in der Linguistik übernahm von der behavioristischen Psychologie deren Denkverbot über alles Mentale und damit die Verdrängung des Mentalen ins vorreflektierte Alltagsverständnis des Wissenschaftlers. Wie bereits das gespannte Verhältnis zwischen Saussures eigenen Forderungen einer „Sozialpsychologie" als Grundlagenwissenschaft für die Sprachwissenschaft22 und der Verabsolutierung der Semiotik sowie die offensichtliche Unbeeinflußbarkeit dieses Schrittes durch Saussures eigene Äußerung zeigt, entsprach er einem breiter fundierten wissenschaftlichen Bedürfnis. Es besteht hier nicht die Möglichkeit, um diesen Zusammenhängen weiter nachzugehen. Ähnliches gilt für die breite Übernahme der behavioristischen Konzepte gerade für die Sprache, obwohl bereits deren Initiator, Bloomfield, seine Aufnahme der Watsonschen Forderungen ausgesprochen kompliziert rechtfertigen mußte.23 Grundlage für den schnellen Eingang, den beide Prozesse bei der Linguistik dieses Jahrhunderts gefunden haben, sind nicht nur innerdisziplinär zu suchen. Vielmehr sind Leitvorstellungen von Wissenschaftlichkeit allgemein dafür verantwortlich. Deshalb werden derartige Paradigmenwechsel in der neueren Linguistikgeschichte meist auch nicht über 22 23

Saussure (1916). Bloomfield (1933).

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eine kritische Diskussion mit dem, was ihnen vorausliegt, geführt, sondern in der Form eines — solchen allgemeineren Ansprüchen genügenden — „Neuanfangs". Die „Einführung" — theoretisch wie vor allem wissenschaftsinstitutionell — des „Strukturalismus" in der deutschen Linguistik spricht hier eine deutliche Sprache. Diese allgemeineren Wissenschaftserwartungen sind umso wirkungsvoller, als sie nicht eigens thematisiert, sondern als „Selbstverständlichkeit dessen, was überhaupt eine Wissenschaft heißen möge", behandelt werden. Häufig machen sie sich in dieser Verkleidung auch dort geltend, wo ihre Kritik betrieben werden soll. Dies nun ist meines Erachtens bei den Versuchen der Fall, Kommunikationstypologien zu entwickeln.

8. Auswirkungen der überkommenen Wissenschaftspraxis 8.1 Auswirkungen der assertionszentrierten Analyseweise Die assertionszentrierte Analyseweise der traditionellen Grammatik hat ihre Grundlage in der Doppelheit einer spezifischen, universal einsetzbaren sprachlichen Handlung (Wissensrepräsentation) und einer in den zugrundegelegten Sprachen formal klar gekennzeichneten Satzform. Diese Doppelheit wirkt als Erwartungshaltung bei der Gewinnung von Typen des sprachlichen Handelns weiter. Am deutlichsten ist das in der Kategorie des „indirekten Sprechakts" greifbar. 24 Alles, was einer solchen Doppelheit entbehrt oder entbehren muß, wird als „indirekt" behandelt. Andererseits ist die Basis für Klassifikationen die Erwartung einer an der sprachlichen Oberfläche manifesten, klassen- bzw. typspezifischen Kennzeichnung einer sprachlichen Handlung. Das, was als illokutive Indikation gilt, muß solchen Ansprüchen genügen. Lassen sich derartige Eindeutigkeiten nicht erzielen, so gilt entweder die Klassifikation als nicht gelungen oder aber die Handlungsanalyse als nicht durchführbar. Am deutlichsten wird das am Irrweg der „performativen Analyse" — bis dahin, daß der Sprechakt am Vorhandensein performativer Formeln festgemacht wird; was darüber hinausgeht, erscheint als keine sprachliche Handlung. Das Arbeiten innerhalb des Rahmens, der durch die assertionszentrierte Linguistik vorgegeben ist, hat eine weitere Folge. Sie bestimmt gleichfalls 24

Soekeland (1980).

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das Analyseinstrumentarium der „speech act theory". Aufgrund der universalen Verwendbarkeit der A s s e r t i o n ermöglicht sie es leicht, von allen anderen Aspekten des sprachlichen Handelns abzusehen. Sie ist sozusagen die sprachnahste Form des sprachlichen Handelns. Jenseits des propositionalen Gehaltes, so scheint es, spielt für sie nichts eine Rolle. Wie die Kontamination von sprachlicher Form und sprachlicher Handlung die Suche nach illokutiver Indikation leitet, so schlägt sich diese scheinbare Beliebigkeit anderer Aspekte sprachlichen Handelns nieder in der Zusammenziehung von dessen „Geschichte" zur Äußerung eines Sprechers S. Sofern bei sprachlichen Handlungen, die analysiert wurden, unaufhebbar andere Aspekte sich zur Geltung brachten, wurden sie von Searle als präparatorische und propositional-content-Bedingungen aufgenommen, das heißt in die Deskription des speech act selbst projiziert.25 Entsprechend erscheint die illokutive Dimension weithin als Sammelbecken unterschiedlichster Strukturen — derjenigen nämlich, die über die Grenzen der Assertion hinausreichen.

8.2 Auswirkungen der theoretischen Eliminierung mentaler Tätigkeiten Wie oben gesagt, hat die mentale Sphäre sich gleichfalls nicht des Status eines wissenschaftlichen Objektes erfreuen können. Dies schlägt sich bei der Entwicklung der Analyse sprachlichen Handelns darin nieder, daß aus der breiten Fülle mentaler Tätigkeiten lediglich ein unumgängliches Minimum in die theoretischen Bestimmungen eingeht — ein Minimum, das zugleich als völlig hinreichend für die Repräsentanz dieser Sphäre gilt und dazu dienen muß, alle weitergehenden Forderungen nach Einbeziehung mentaler Kategorien bei der Unterscheidung verschiedener Typen sprachlicher Handlungen abzublocken. So hat dieses Minimum eine doppelte Funktion: E s erlaubt die Berücksichtigung desjenigen an mentalen Aktivitäten, was sich bei der Analyse nicht umgehen läßt; zugleich erlaubt es die Kontinuität jener mentalitätsfeindlichen Wissenschaftspraxis, die im behavioristischen Paradigma manifest ist und die das tiefe Mißtrauen gegen Intuition, die als Beliebigkeit verdächtigt wird, wissenschaftstheoretisch umsetzt. Als diejenige Kategorie, die dies beides zu leisten in der Lage ist, wird meist die Kategorie der „Intention" gebraucht. Diese Umsetzung des „Wollens" in die Psychologie war durch verschiedene psychologische und philoso25

Searle (1969, § 3).

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phische Theorien, von Schopenhauer bis zur „Lebensphilosophie", hinreichend verallgemeinert und hatte zudem in darauf aufbauenden literaturwissenschaftlichen Konzeptionen, also in einer Nachbardisziplin, eine nicht unwichtige Rolle gespielt; hier war in der Zeit der autorbezogenen Literaturwissenschaft die „Intention" des Autors bis dahin kategorial verfestigt worden, daß von der „Intention des Textes" gesprochen werden konnte. Die Übernahme eines komplexen mentalen Geschehens in der Intention, der die Ausbildung von Plänen ebenso vorausgeht wie komplexe Abwägungen, Bewertungen usw. 26 , tritt faktisch als pars pro toto, nämlich für das Ganze dieser psychischen Prozesse, ein. Sofern das Konzept der Intention so gehandhabt wird, wird die Komplexität des Mentalen also gleichfalls in einen Einzelausschnitt projiziert, der damit selbstverständlich in seiner Leistungsfähigkeit überlastet werden muß.

8.3 Auswirkung der theoretischen Eliminierung gesellschaftlicher Zwecke Der Terminus Intention erwies sich aber noch in einer anderen Weise als nützlich, nämlich, um als individuell-subjektive Übernahme gesellschaftlicher Zwecke die theoredsche Behandlung auch dieses Bereichs zu gewährleisten — und zwar mit derselben Figur im Hintergrund, wie sie eben für die mentale Sphäre beschrieben worden ist: Gesellschaftliche Zwecke erscheinen als individuelle Absichten. Weitergehende Reflexionen werden demgegenüber diskriminiert und bleiben eliminiert. Sind sie unabweisbar, so wird ihnen über die Kategorie der „Regel" oder der „Konvention" ein eigener Platz nur insofern eingeräumt, als Individuen in einem „contrat linguistique" „zusammenkommen" und ihre Intentionen zu einer gemeinsamen zusammenschließen, „aushandeln", die sich dann hindernd für diejenigen einzelner als deren Restriktion auswirkt. Die Typologien und Klassifikationen sprachlicher Handlungen versuchen weitgehend, mit solchen Kategorien auszukommen. Genauer: dies gilt für die eine Gruppe unter ihnen, die, die im Anschluß an Searles und Strawsons Kategorien arbeitet, sich also in der Kontinuität der amerikanischen Handlungslogik bewegt. In einer anderen Weise assertionsbezogen bleibt die eher an der französischen Theoriebildung orientierte Typologieerstellung, die unter dem Stichwort der ,Textlinguistik' Typologien kommunikativen Handelns oder von Resultaten kommunikativer Handlungen erstellt.27 Während die 26 27

Rehbein (1976; 1976a). Vgl. die Übersicht in Gülich/Raible (1977); van Dijk (1972).

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sprachliche Form der Austinschen Bestimmung des Lokutiven in der Transformation bei Searle stark zurücktritt, wird hier die sprachliche Form mehr beachtet. In unterschiedlicher Komplexität wird die Überschreitung der Assertionsgrenzen in dieser Tradition in der Weise realisiert, daß „Texte" als Einheiten jenseits der Satzgrenze angesehen werden. Eine solche „Definition" lautet etwa: „Ein Text ist eine syntaktisch, semantisch und pragmatisch kohärente, abgeschlossene Folge sprachlicher Zeichen."28 Diese repräsentative (und als repräsentativ gemeinte) Bestimmung ist sowohl der zeichenzentrierten wie der assertionsbezogenen linguistischen Tradition deutlich verpflichtet. Die Notwendigkeit, nach der spezifischen Handlungsqualität von Texten zu fragen, die sich für eine Theorie des sprachlichen Handelns meines Erachtens unumgänglich stellt29, wird kaum auch nur als Aufgabe gesehen. Eine Theorie der Texte erscheint als „Textgrammatik". Die Typologie, die sich darauf bezieht, orientiert sich vor allem an oberflächenbezogenen Formmerkmalen. Darin nimmt sie die Diskussion mit neueren Varianten der Gattungsforschung in der Literaturwissenschaft auf, die häufig auch ihre direkteste Bezugsdisziplin ist.

9. Folgerungen für die Entwicklung phänomenbezogener Typologien sprachlichen Handelns Ich hoffe, mit den bisher entwickelten Bestimmungen Aspekte der gegenwärtigen Situation von Klassifikations- und Typologieentwicklungen beschrieben zu haben, wie sie im eingangs geschilderten, weitgehend als unbefriedigend empfundenen „state of the art" greifbar ist. Viele dieser Klassifikationen und Typologisierungen enthalten wichtige Beobachtungen und für jede weitere Arbeit nützliche, ja unumgängliche Erkenntnisse. Gleichwohl bedarf, so scheint mir, das Feld einer grundsätzlicheren Zugangsweise, als sie sich aus dem weithin diffusen und kaum eigens reflektierten Zustand methodologischer, methodischer und theoretischer Art mehr oder minder naturwüchsig, das heißt in Fortschreibung unterschiedlichster Theoriestränge, ergibt.

28 29

Dimter (1981, S. 6). Vgl. Ehlich (1984).

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Thesenartig sollen abschließend einige Aspekte benannt werden, die dafür meines Erachtens wesentlich sind. Die erste und wichtigste dieser Thesen lautet: These 1: Die Entwicklung von Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns hat die Aufgabe, die Formbestimmtheit dieses Handelns selbst zu rekonstruieren. Daraus ergibt sich unmittelbar die These 2: Kategorien für die Analyse des sprachlichen Handelns sind diesem nicht sozusagen „vorzukonstruieren", sondern aus ihm selbst entmkkeln. Das betrifft sowohl jene Aspekte des sprachlichen Handelns, die jenseits der traditionellen Analyse liegen, wie auch — und das ist beinahe der schwierigere Teil — diejenigen, für die traditionelle Kategorien zur Verfügung stehen, ja zu Bestandteilen des allgemeinen Grundlagenwissens oder gar zu alltags sprachlichen Ausdrücken geworden sind. These 3: Für die Entwicklung von Klassifikationen des sprachlichen Handelns ist dessen Formbestimmtheit besonders in einer präzisen Differenzierung der Einzelaspekte sprachlichen Handelns Rechnung zu tragen. Dies betrifft vor allem die Kategorien „Handlung", und „Prozedur*'. These 4: Klassifikationen des sprachlichen Handelns haben den Unterschieden von mündlichen und schriftlichen Formen dieses Handelns Rechnung zu tragen sowie dem fundamentalen Unterschied zwischen Texten und Diskursen. Dieser ist nicht identisch mit dem Unterschied zwischen mündlichem und schriftlichem sprachlichen Handeln, ist aber darauf zu beziehen. Die Erarbeitung dieser Kategorien bedarf der historischen Perspektive. Diese erlaubt es, den Anschein der Identität von Text und schriftlichem, Diskurs und mündlichem sprachlichem Handeln, den unsere Kultur entstehen läßt, zu verstehen und zugleich ihn nicht mit der systematischen Struktur in eins fallen zu lassen. These 5: Das Verständnis des sprachlichen Handelns hat seinen systematischen Ausgangspunkt in der Kategorie des gesellschaftlichen Zweckes. Dieser steuert die Struktur der Formbestimmtheit sprachlichen Handelns. These 6: Die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns ist nicht plan in die sprachlichen Einzelformen abgebildet. Eine Theorie des sprachlichen Handelns hat ihre Aufgabe in der Rekonstruktion seiner Komplexität und

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nicht in der Reduktion nach der Analogie mathematischer und physikalischer Wissenschaft. These 7: Die Vielfalt des sprachlichen Handelns ergibt sich aus der Vielfalt gesellschaftlicher Zwecke. Die Formen, die dafür erarbeitet worden sind, erfordern theoretisch wie analysepraktisch, sich auf den Reichtum des gesellschaftlichen Handelns einzulassen. These 8: Das gesellschaftliche Handeln ist seinerseits nicht in Abstraktionen eines Handelns an sich, wie es die schottische Handlungstheorie faßte, sondern in seiner jeweiligen gesellschaftlichen Formbestimmtheit zu untersuchen. Dies bedeutet für die Erstellung von Kommunikationstypologien, sich auf den Reichtum des ethnologisch greifbaren Fundus von Beschreibungen des sprachlichen Handelns einzulassen und das Handlungswissen der Handelnden kritisch aufzunehmen. These 9: Gesellschaftliches Handeln ist weithin institutionell bestimmt. Die Kategorie der Institution ist eine wesentliche Vermittlungskategorie für gesellschaftliches und sprachliches Handeln. These 10: Die Rekonstruktion der Formbestimmtheit sprachlichen Handelns geschieht über die Rekonstruktion von dessen Funktionalität. Eine derartige Rekonstruktion steht im Widerspruch zur hyperspezialisierten Wissenschaftsstruktur, der der Reduktionismus eher entspricht. Angesichts der Schwierigkeiten interdisziplinärer Forschung ergibt sich hier ein Problem; es kann aber nicht durch Deklarationen eliminiert werden. Derartige Eliminationen rächen sich vielmehr als Inadäquatheiten in der Erforschung der Sache und als Beliebigkeit der Theoriebildung. These 11: Die Entwicklung von Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns ist nicht abstrakt, sondern nur in einem Wechselprozeß von Empirie mit linguistischer Theoriebildung möglich. Dabei sind zugleich wissenschaftsmethodologische Reflexionen, insbesondere zum Einsatz alltagssprachlicher und alltagswissenschaftssprachlicher Konzepte, unumgänglich. Ich erwarte die Entwicklung sachbezogener Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns, die eine Chance hätten, von der Wissenschaftlergemeinschaft als adäquat, als der Sache gemäß eingeschätzt und angenommen zu werden, also nicht im voraus zu empirischer Analyse, sondern nur, nachdem auch diese über eine umfängliche Praxis verfügt.

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Da eine solche Praxis jedoch ihrerseits immer schon kategorialer Vorgriffe bedarf, wie nicht zuletzt die hermeneutische Reflexion gezeigt hat, sind als erste Schritte die kritische Bearbeitung der bereits entwickelten Klassifikationskonzepte und die kridsche Aufarbeitung der alltäglichen Klassifikationen30 wichtige Schritte, die zum Gewinn v o n der Sprache angemessenen Klassifikationen beitragen können.

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30

Berliner Gruppe (s. die englische (Fehl-)Umsetzung in Ballmer/Brennenstuhl 1981; Dimter 1981).

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Sprachtheorie und Pragmatik

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Zu den Bereichen Interaktion, Kommunikation, Sprechhandlung (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) Interaktion (lat. inter-äctiö ,Miteinanderhandeln to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Searle, John R. (1969): Speech acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Fassung (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Phatischer Akt (griech. φημί (femi) ,reden'). Von Austin im Rahmen seiner Theorie der Lokution eingeführte Bezeichnung für die Äußerung von Elementen eines Vokabulars (Wort) in Übereinstimmung mit einer bestimmten Grammatik. Die Ausführung eines phatischen Akts wird als Äußerung eines „pheme" (vom selben griechischen Wortstamm abgeleitetes Kunstwort) bezeichnet. Mit dem phatischen Akt werden also bei Austin die Aspekte in seine Analyse sprachlichen Handelns aufgenommen, die zum traditionellsten Kenntnisbestand der Sprachanalyse gehören. Das „pheme" bzw. seine Teile haben „Sinn" („sense") und „Referenz" („reference") oder, zusammenfassend, „Bedeutung" („meaning").

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Äußerungsbedeutung (engl, utterance meaning). Im Rahmen einer reifizierenden (verdinglichenden) Sprachauffassung entwickelte Kategorie zur Beschreibung und Erklärung der Unterschiede zwischen „wörtlichen", eigentlich, „sprachinhärenten", den Ausdrücken, Sätzen usw. „an sich" zugehörigen „Bedeutungen" und den „Bedeutungen", die die Ausdrücke, Sätze usw. in der Realität des sprachlichen Handelns offensichtlich erhalten. Zugleich sollen durch das Konstrukt der Äußerungsbedeutung metaphorische Bedeutungen und ironische Redeweisen erfaßt werden. Für pragmatikfreie Sprachauffassungen ist die den jeweiligen sprachlichen Einheiten inhärente „Bedeutung" unaufgebbar. Diese Auffassungen stehen in diametralem Gegensatz zu einer radikalen Gebrauchsauffassung von „Bedeutung" (Wittgenstein). Die tatsächliche „Bedeutung" von „Äußerungen" oder Sprechakten (= „direkte Sprechakte") wird über eine Addition von Bedeutungs-Ansicht und „Kontext-Einflüssen" bestimmt, die unterschiedlich weit gefaßt sind und unterschiedlich soziale und Wissens-Aspekte einbeziehen (vgl. z.B. Bierwisch 1979). Implikaturen und Inferenzen (vgl. Levinson 1983) werden zur Erklärung herangezogen. Demgegenüber wird u.a. bei Searle (1982) auf die Unaufgebbarkeit der „Kontextabhängigkeit" auch der sogenannten wörtlichen Bedeutung hingewiesen, ohne daß freilich die Dichotomie von „Kontext" und „Text" grundsätzlich kritisiert würde.

Literatur Bierwisch, Manfred (1979): Wörtliche Bedeutung - eine pragmatische Gretchenfrage? In: Grewendorf, G. (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Gazdar, Gerald (1979): Pragmatics. Implicature, Presupposition, and Logical Form. New York: Academic Press. Grice, Herbert Paul (1968): Utterer's Meaning, Sentence Meaning, and Word Meaning. In: Foundations of language 4, pp. 1-18. Levinson, Stephen C. (1983): Pragmatics. Cambridge: University Press. Deutsch (1990): Pragmatik. Tübingen: Niemeyer. Rolf, Eckard (1994): Sagen und Meinen. Paul Grices Theorie der Konversations-lmplikaturen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Searle, John R. (1982): Ausdruck und Bedeutung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Strawson, Peter F. (1964): Intention and Convention. In: The Philosophical Kemew 73, pp. 439-460. Wittgenstein, Ludwig (1958): Philosophical Investigations. Oxford: Blackwell. Deutsch (1971): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Wunderlich, Dieter (1976): Skizze zu einer integrierten Theorie der grammatischen und pragmatischen Bedeutung. In: ders.: Studien %ur Sprechakttheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 51-118.

Proposition (lat. pröpositio ,Vorstellung, Thema'. Engl., frz. proposition). In einer im einzelnen nicht immer einfach zu beschreibenden Geschichte und abhängig von der jeweiligen ontologischen und logischen Grundauffassung der Verwender des Ausdrucks gebrauchte Bezeichnung für entweder den Satz (insbesondere unter inhaltlichen Gesichtspunkten) bzw. für den (in einem Satz ausdrückbaren/ausgedrückten) Gedanken. Von Searle bei dem Versuch, einen Anschluß der Sprechaktanalyse an die Logik herzustellen, aufgenommene Bezeichnung für den eigentlichen Satzinhalt, der mit einer jeweils unterschiedlich illokutiven Kraft versehen werden kann (vgl. Illokution), abgekürzt als „p" repräsentiert. Der Bezug auf den logischen Propositionsbegriff erweist sich z.T. aber als problematisch, insbesondere bei solchen sprachlichen Handlungen, bei denen lediglich Propositionsteile sprachlich realisiert werden (z.B. in der Frage, in der ein Teil der Proposition lediglich formal, nämlich durch ein Fragewort, repräsentiert ist). Deshalb wird vorsichtiger vom propositionalen Gehalt gesprochen. — Searle faßt in seiner akttheoretischen Rekonstruktion des Urteils den Referenzakt und den prädikativen Akt zum propositionalen Akt zusammen; (vgl. Lokution).

Propositionaler Gehalt Im Anschluß an den Ausdruck proposition' gewählte zusammenfassende Bezeichnung für den Inhalt einer Äußerung (eines Satzes). Innerhalb der Theorie der Sprechakte und der Sprechhandlungstheorie der von der Illokution unterschiedene Teil einer Sprechhandlung (häufig abgekürzt als ,p' wiedergegeben). Die Analyse des propositionalen Gehalts ist noch weitgehend an der logischen Form des Urteils festgemacht, das aber nur für bestimmte illokutive Akte (vgl. Assertion) sinnvoll zugrundegelegt werden kann, für andere (vgl. Frage) hingegen nicht.

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Propositionale Einstellung (engl, prepositional attitude. Aufgrund der anderen semantischen Belegung von ,Attitüde' (Einstellung) hat sich die Übernahme von „propositionaler Attitüde" nicht durchgesetzt. Auch: Sprechereinstellung). Einstellung des Sprechers zur Proposition. So kann z.B. die (hier als Deklarativsatz, also als Assertion, und nicht in einer logischen Notation wiedergegebene) Proposition Frit% kauft ein mit unterschiedlicher propositionaler Einstellung verbunden sein, die ihrerseits durch einen Vorsatz verbaüsiert werden können, z.B. Ich vermute, daß Frit^ einkauft oder Ich bin (mir) sicher, daß Frit% einkauft. Die propositionalen Einstellungen können auch durch andere sprachliche Mittel, z.B. bestimmte Adverbien (sogenannte Satzadverbien wie vermutlich, sicher usw.) ausgedrückt werden, z.B. Frit% kauft vermutlich ein. — Die propositionale Einstellung als intramentale (Einstellung) Eigenschaften oder Akte des Sprechers haben es mit dem Gewißheitsgrad einer Proposition zu tun. Sie modifizieren also den Wahrheitswert, der einer Proposition zukommt. Ihre logische Behandlung bereitet insofern Schwierigkeiten, als die einfache dichotomische Wahrheitswertbestimmung ,wahr' vs. ,falsch' offensichtlich nicht in der Lage ist, den Status von Propositionen, wie sie in der Kommunikation eingesetzt werden, hinreichend wiederzugeben. Hier ergibt sich eine Aufgabe der fu%%y logic, in der alternative Modellierungen erarbeitet werden. - Die Verbalisierung der propositionalen Einstellung in der Form von Vorsätzen (z.B. Ich vermute in Ich vermute, daßp) entspricht formal den expliziten performativen Sätzen, was die Vermutung nahegelegt hat, zwischen propositionaler Einstellung und der performativen Äußerung einen Zusammenhang herzustellen und die Theorie der propositionalen Einstellung mit der Theorie der Sprechakte in Verbindung zu bringen. Die genaue Verhältnisbestimmung zwischen beiden theoretischen Ansätzen bedarf weiterer Klärung. Das Konzept der propositionalen Einstellung ist in einem logischen Bezugsrahmen verortet. Insofern legt es analytisch den traditionell für die logische Analyse interessanten Typ sprachlicher Handlungen, nämlich den illokutiven Typ der Assertion, zugrunde und erforscht, von ihm ausgehend, bestimmte Modifikationen des Wahrheitswertes, ohne freilich eine umfassende handlungstheoretischer Analyse dieser Modifikationen und ihrer Bedeutung für die sprachliche Interaktion zwischen Sprecher und Hörer anzustreben. Sofern die unterschiedlichen propositionalen Einstellungen eigene alltagssprachliche Bezeichnungen gefunden haben, erscheinen diese z.T. auch als sprechhandlungsbezeichnende Verben; häufiger aber bezeichnen solche Verben mentale Akte oder Prozeduren (z.B. bezweifeln, vermuten, sich vergewissern).

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Literatur Crimmins, Mark (1992): Talks about Beliefs. Cambridge, Mass: MIT Press. Doherty, Monika (1985): Epistemische Bedeutung. Berlin: Akademie-Verlag. Lang, Ewald (1983): Einstellungsausdrücke und ausgedrückte Einstellungen. In: Ruzicka, R. / Mötsch, W. (Hgg.): Untersuchungen ψτ Semantik. Berlin: AkademieVerlag, S. 305-341.

Referenzakt Akttheoretische Rekonstruktion Searles für die Referenz, die Herstellung eines ,Welt'-Bezuges im logischen Urteil (bzw. in der Proposition). Durch den Referenzakt erfolgt die Beziehung des Sprechers auf Außersprachliches. Ob dieses und damit die Welt ontologisch (als Wirklichkeit) oder pychologisch (als Vorstellung) verstanden wird, bleibt ebenso ungeklärt wie die Frage, was ein solches mögliches Bezugsobjekt ist (Gegenstände, Personen, Ereignisse, Aspekte (wie Raum, Zeit usw.) an bzw. in bezug auf Gegenstände, Personen und/oder Ereignisse). Das Bezugsobjekt wird linguistisch häufig fälschlich als .Referent' (lat. Partizip Aktiv) bezeichnet; sinnvoller sollte vom ,Relat' (von lat. relatum, Partizip Passiv) gesprochen werden. Der Referenzakt bildet zusammen mit dem Prädikationsakt (Prädikation) den propositionalen Akt.

Illokution, illokutiver Akt, illokutionärer Akt (Kunstwort, lat. loqul ,reden', Privativpräfix ,in'. ,Illokutiv' und ,illokutionär' sind Ubersetzungsvarianten. Engl, illocution, illocutionary act). Von Austin eingeführter Terminus zur Bezeichnung des Handlungszwecks der Äußerung eines lokutiven Akts (Lokution). Äußerungen kommt neben ihrer (zur Lokution gehörigen) Bedeutung eine spezifische Kraft [engl, forcé) zu, z.B. als Warnung oder als Versprechen oder als Frage etc. zu gelten. Indem man einen lokutiven Akt ausfuhrt, führt man zugleich einen illokutiven Akt aus. Diese Handlungsqualität kann in der Äußerung selbst explizit gemacht werden, indem Sprecher ein Verb, das zur Bezeichnung der illokutiven Kraft oder kurz der Illokution einer Äußerung dient, performativ verwenden (performative Formel), z.B. Hiermit verspreche ich dir, daß...; Hiermit frage ich dich, Zur Anzeige der illokutiven Kraft einer Äußerung können aber auch andere sprachliche Mittel (z.B. Partikeln, Modus etc.) verwendet werden. — Searle systematisierte diese Bestimmung, indem er den Sprechakt analytisch als aus den drei Akten Äußerungsakt, proposi-

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tionaler Akt und illokutiver Akt bestehend darstellte. — In der Sprechhandlungstheorie wird der illokutive Akt als spezifischer Akttyp von der Sprechhandlung als ganzer einerseits, den Prozeduren andererseits unterschieden.

Literatur Austin, John L. (1962): How to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Searle, John R. (1969): Speech acts. An Essay in the Philosophy of Eanguage. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Fassung (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Performative Äußerung (engl, performative utterance; engl, to perform ,ausführen, durchführen, realisieren'). Von Austin eingeführte Beschreibung einer bestimmten Verwendungsweise von Verben, die sprachliche Handlungen bezeichnen (abkürzend werden in der Literatur solche Verben auch als Sprechaktverben oder illokutive Verben bezeichnet), in einer bestimmten Konstruktionsweise, nämlich in Verbindung mit einer oder mehreren Nähe-Deixeis (Deixis), z.B. ,Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau'. Dieser Gebrauch solcher Verben, so beobachtete Austin, unterscheidet sich fundamental von dem rein deskriptiven oder, wie Austin sagte, konstativen Gebrauch derselben Verben, z.B. Oer Standesbeamte erklärte sie Mann und Frau. Mit der performativen Äußerung vollzieht der Sprecher genau das, was das Verb beschreibt, und beschreibt es nicht nur (vgl. den Titel seines Buches von 1962: How to do Things with Words). Er verändert also Welt und gibt sie nicht nur wieder. — Diese Beobachtungen entwickelte Austin weiter zu seiner Theorie des Unterschieds von Lokution und Illokution, in deren Ausführung er die ursprüngliche Unterscheidung von performativ und konstativ als zu kurz greifend aufgab, weil das, was durch den performativen Gebrauch von Verben erreicht wird, nämlich sprachliche Handlungen ihre jeweils spezifische illokutive Charakteristik zu geben, auch durch andere sprachliche Mittel als diesen performativen Gebrauch der die sprachliche Handlung bezeichnenden Verben erreicht werden kann (z.B. durch Partikeln wie doch oder durch Adverbien wie bestimmt in der Äußerung Ich gebe dir das Buch bestimmt zurück, (vgl. Sprechakt, Sprechhandlung).

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Literatur Austin, John L. (1962): How to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Austin, John L. (1963): Performative - Constative. In: Charles E. Caton (ed.): Philosophy and Ordinary Language. Urbana: University of Illinois Press; abgedruckt (1971) i n j . R. Searle (ed.): The Philosophy of Language. London: Oxford University Press, pp. 13-22. (engl. Übersetzung von „Performatif - Constatif, Vortrag auf der Konferenz „La philosophie analytique" in Royaumont 1958; publiziert 1962 in: Cahiers de Royaumont, Philosophie No. IV. Paris: les Editions de Minuit, pp. 271-304). Deutsch (1968) in: Bubner, R. (Hg.): Sprache und Analysis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Performative Analyse Versuch, das frühe Austinsche Analysekonzept der Illokution (performative Äußerung) für die Syntaxtheorie generativ-transformationeller Art zu nutzen (Ross 1968). Am Beispiel deklarativer Sätze (Assertion) wird ein Konzept entwickelt, das oberhalb des Satz-Knotens tiefenstrukturell einen weiteren Satz ansetzt (Hypersatz; Sadock 1974), der die Nominalphrase (NP) ich und die Verbalphrase (VP) mit dem Verb V in der ,performativen' Form sowie der (Objekt- bzw. Adressaten-)NP du umfaßt. Wenn keine explizite performative Formel an der sprachlichen Oberfläche erscheint, hat eine Tilgung dieses Hypersatzes stattgefunden. Mit der völligen Auseinanderentwicklung des Interesses an generativer Syntaxtheorie einerseits und linguistische Pragmatik andererseits ist auch das Interesse an derartigen Kombinationen unterschiedlicher Theoriekonzepte geringer geworden.

Literatur Ross, John R. (1968): On Declarative Sentences. In: Jacobs, R.A. / Rosenbaum, P.S. (eds.): Readings in TLnglish Transformational Grammar. Waltham, Mass: Ginn, pp. 222-272. Sadock, Jerrold M. (1974): Toward a Linguistic Theory of Speech Acts. New York, N.Y.: Academic Press.

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Performativer Satz Satz, in dem ein sprechhandlungsbezeichnendes Verb in der performativen Form (z.B. im Deutschen 1. Pers. Praes. Akt., unter Umständen zusätzlich deiktisiert (Deixis) durch hiermit oder hierdurch) zur Kennzeichnung der illokutiven Qualität einer Äußerung im Vollzug dieser Äußerung selbst verwendet wird, z.B. ,Hiermit befehle ich Ihnen, den Platz zu räumen'. Dieser performative Satz erscheint, wenn er geäußert wird, als eine Art illokutiven Vorspanns (Hiermit befehle ich Ihnen), dem der eigentliche propositionale Gehalt folgt (Sie räumen den Plat%); (vgl. performative Äußerung, performative Analyse, Proposition).

Performatives Verb Verb, das zur Kennzeichnung der illokutiven Qualität einer Äußerung im Vollzug dieser Äußerung selbst verwendet werden kann, indem die performative Flexionsform (z.B. im Deutschen 1. Pers. Akt. Praes., unter Umständen zusätzlich deiktisiert (Deixis) durch hiermit, hierdurch) verwendet wird. Performative Verben sind Verben, die Sprechhandlungen, genauer deren Illokution, bezeichnen, z.B. warnen, versprechen, drohen, befehlen-, (vgl. performative Äußerung, Sprechaktklassifikation).

Perlokution, perlokutionärer Akt, perlokutiver Akt (lat. loqul ,reden', Präfix per- im Sinne von ,etwas durchführen, vollenden': ,perlokutionär' und ,perlokutiv' sind Übersetzungsvarianten. Engl, perlocution, perlocutionary act) Von Austin eingeführter (1962, lect. VIII) Terminus zur Bezeichnung der ,Folgewirkungen' ^consequential effects') einer Lokution und Illokution auf die „Gefühle, Gedanken oder Handlungen der Hörer, des Sprechers oder einer anderen Person". Typische Beispiele sind etwa jdn. überzeugen oder jdn. überreden. Dieser Teil der Austinschen Analyse, der die Unterscheidung von zur Illokution gehörenden „konventionellen Konsequenzen (conventional consequences)" und „der tatsächlichen Herstellung von tatsächlichen Wirkungen (the real production of real effects)" zum Ziel hat, blieb nach Austins eigenem Eingeständnis in ihrem Stellenwert unklar (cf. 1971, S. 103, η. 1) und beschränkte sich faktisch weithin auf solche Fälle, in denen es eigene Verben zur Bezeichnung der Wirkungen sprachlicher Handlungen gibt. Dabei wurde nicht gesehen, daß diese Verben lediglich die besondere Explizierung

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eines für alles sprachliche Handeln wesentlichen Aspekts leisten, nämlich die explizite Formulierung von dessen Zweckhaftigkeit, und zwar in der Weise, daß die Erreichung des Zwecks benannt wird. Durch die handlungsanalytische Bestimmung der Qualität von Sprache als eines Interaktionsmittels zwischen Sprecher S und Hörer H wird dieser Aspekt allgemein fur die Analyse von Sprechhandlungen anerkannt. Die Unterscheidung zwischen der sprachlichen Handlung und ihrer systematischen Nachgeschichte (ebenso wie ihrer systematischen Vorgeschichte) ermöglicht eine Analyse des im Konzept der Perlokution Gesehenen, indem die Einschränkung auf den Einzelsatz und seine Äußerung überwunden und die komplexe Interaktionsgeschichte zwischen S und H untersucht wird.

Literatur Austin, John L. (1962): How to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Ehlich, Konrad (1972): Thesen zur Sprechakttheorie. In: Wunderlich, D. (Hg.): Linguistische Pragmatik. Frankfurt am Main: Athenäum. In diesem Band: S. 81—85.

Sprechaktklassifikation (auch: Sprechhandlungstypologie). Bereits in Austins bahnbrechenden Vorlesungen von 1955 (Austin 1962) finden sich Versuche, die analytischen Bestimmungen zu den Illokutionen zu einer Typologie von Illokutionen weiterzuentwickeln. Dieser analytische Versuch, von Austin in vermutend-vorsichtigem Stil vorgetragen, der das ganze Werk kennzeichnet, ist durch Searles (1969) exemplarisch vorgehende Klassifikation kritisch bearbeitet worden. Searle hat zusammen mit Vanderveken (1985) die Klassifikation zu einer illokutiven Logik weiterentwickelt. Eine grundlegende Kritik bietet Ulkan (1992). — Die von Ballmer und Brennenstuhl auf der Grundlage der Klassifikation einer Berliner Arbeitsgruppe vorgelegte Klassifikation ist mit dem Problem behaftet, daß die ursprünglich durch eine empirische Analyse deutscher sprechhandlungsbezeichnender Verben erarbeitete Klassifikation mit englischen Ubersetzungs„äquivalenten" versehen wurde, wobei ein Grundproblem der Klassifikationsversuche insgesamt besonders virulent wurde: Die Klassifikationsversuche basieren im allgemeinen auf den sprechhandlungs- bzw. illokutionsbezeichnenden Ausdrücken (insbesondere Verben, und hier wieder besonders den performativen Verben) der Alltagssprache der Analytiker. Eine Metasprache,

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die davon unabhängig wäre, ist aus praktischen und theoretischen Gründen nicht vorab vorhanden, sondern allenfalls aus einer differenzierten einzelsprachlich-empirisch fundierten und historisch-rekonstruktiven Systematisierung zu gewinnen. Solche empirische Klassifikationsarbeit als Rekonstruktion des historisch veränderten sprachlichen Handlungspotentials der Gattung könnte einen wesentlichen Beitrag zu einer Theorie der menschlichen Sprache leisten. Sie wäre als empirisch-hermeneutische Aufgabe zu verstehen. — Die bisherigen Klassifikationen versuchen weithin, diese Aufgaben sozusagen zu überspringen, und bieten meist eine auf wenige, ins Auge springende Sprechhandlungsbezeichnungen beschränkte Typologie, deren innerer Zusammenhang — mangels detaillierter Analysen der zugrundeliegenden sprachlichen Handlungsmuster - teils der Plausibilisierung durch den Leser überlassen wird, teils auf wenige, in ihrem Stellenwert für die linguistische Pragmatik als übergreifende sprachliche Handlungstheorie nur ansatzweise bestimmte Kriterien (z.B. Anpassungsrichtung, Welt — Wort) bezogen wird. Die Klassen werden dann mit anderen (in der englischsprachigen Literatur meist dem lateinischen Substrat entlehnten) Ausdrücken zur Bezeichnung von Sprechhandlungen oder ihren Folgen charakterisiert („rebarbative names", wie Austin selbst (1962, lect. XII) sagt). So unterscheidet Austin (a) Verdiktiva (Urteile, insbesondere einer Jury oder anderen Instanz), z.B. freisprechen, einschätzen-, (b) Exer^tiva (Entscheidungsäußerungen, mit denen Macht, Rechte u.ä. ausgeübt werden), z.B. Veto einlegen, ernennen·, (c) Kommissiva (Verpflichtungsübernahmen), z.B. Versprechen-, (d) Behabiüva (von behave, behaviour, von v. Savigny als Konduktiva übersetzt; eine Sammelklasse, die es mit „sozialem Verhalten" zu tun hat), z.B. sich entschuldigen, beglückwünschen-, (e) Expositiva (mittels derer der Stellenwert von Äußerungen in ihrem Zusammenhang kenntlich gemacht wird; Metakommunikation, Kommentar), z.B. Verwendung von Ausdrücken wie ich fasse zusammen, ich nehme an (propositionale Einstellung). Weitere Klassen wie Direktiva (Befehl, Bitte), Konstativa (Assertion; trotz der kritischen Diskussion bei Austin), Permissiva (Erlaubniserteilungen) lassen sich hinzufügen oder spezifizierend aussondern bzw. zur eigenen Klasse erheben wie Promissiva (Versprechen); Regulativa-, Satisfaktiva (Entschuldigen). So kommt z.B. Searle (1975) zu den fünf Klassen (a) Assertiva (oder Repräsentativa), (b) Direktiva, (c) Kommissiva, (d) Expressiva (z.B. kondolieren, entschuldigen) und (e) Deklarationen (z.B. definieren, taufen). — Die noch immer unzureichende Bearbeitung der Klassifikation sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hierbei um eine zentrale Aufgabe der linguistischen Pragmatik handelt. Die bisher vorgeschlagenen Klassifikationen thematisieren in der einen oder anderen Weise jeweils relevante Gesichtspunkte; ein Kernproblem liegt in dem noch mangelnden Aufweis der inneren Ableitungsverhältnisse und vor allem in

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der — bereits bei Austin geforderten, aber noch immer nicht bearbeiteten — empirischen Fundierung.

Literatur Austin, John L. (1962): How to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Ballmer, Thomas / Brennenstuhl, Waltraud (1981): Speech Act Classification. Berlin: Springer. Harras, Gisela et al. (Hgg.) (2004): Handbuch der deutschen Kommunikationsverben. Berlin, N e w York: de Gruyter. Searle, John R. (1969): Speech acts. An Essay in the Philosophy of Language. Cambridge: Cambridge University Press. Deutsche Fassung (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Searle, John R. (1975): A Taxonomy o f Illocutionary Acts. In: Gunderson, K. (ed.): Language, Mind, and Knowledge. Minneapolis: University of Minnesota Press. Searle, John R. / Vanderveken, Daniel (1985): Foundations of Illocutionary Logic. Cambridge: Cambridge University Press. Ulkan, Maria (1992): Zur Klassifikation von Sprechakten. Tübingen: Niemeyer.

Sprechsituation (auch: Kommunikationssituation, Situation). In der Linguistik, besonders der linguistischen Pragmatik (Wunderlich; Rehbein; Bayer) aufgenommener Ausdruck der Allgemein-Sprache, der dazu dient, eine Wiederausweitung einer auf innere Systemeigenschaften reduzierten Sprachauffassung zu erreichen. Bereits in der Sprachtheorie Bühlers erhielt die Sprechsituation einen zentralen Stellenwert. In der englischen Linguistik der Mitte des 20. Jahrhunderts (Firth) wurde der „context of situation" für sprachliche Ereignisse hervorgehoben, eine Fragestellung, die in der Systemischen Linguistik (Halliday) breit entfaltet wurde (Londoner Schule). — Die theoretische Herkunft des Ausdrucks .Situation' ist schwer zu bestimmen, wahrscheinlich geht er auf lat. situs bzw. das κεισ&χι (keisthai) ,sich befinden' der aristotelischen Kategorien zurück, eine Kategorie, der kein klarer Status zukam. Die begriffliche Erstreckung des Ausdrucks ,Situation' ist sehr unterschiedlich. Zum Teil wird ,Situation' synonym mit ,Kontext' gebraucht, z.T. findet sich ein ringförmiges Modell, in dessen Mittelpunkt die sprachliche Äußerung, der Sprechakt oder der Text steht. Deren Umgebung ist dann der Kontext. Zum Teil wird ein sprachlicher Kontext vom nicht-sprachlichen Kontext differenziert (Bar-Hillel, Petöfi), z.T.

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entspricht .Kontext' in diesem Sinn dem Ausdruck Situation'. Sprecherund hörerseitige Voraussetzungen sprachlichen Handelns werden der Situation zugerechnet. Insbesondere aber werden größere soziale Konstellationen, in denen sprachlich gehandelt wird, als ,Situation' bezeichnet. Eine Stabilisierung der Terminologie ist bisher nicht erfolgt. — Gerade aus (fremdsprachen-)didaktischer Sicht werden Situationstypologien erwartet. In der Form eines „situativen Unterrichts" soll die Praxisferne des Sprachunterrichts überwunden werden. Der Gedanke einer „situativen Grammatik" entspricht dann dem einer „kommunikativen Grammatik". — Häufig verflüchtigt sich der Ausdruck .Situation' zu einem bloßen Stellvertreter-Ausdruck für die eigentlich analytisch zu bestimmenden komplexen gesellschaftlichen Bedingungen des sprachlichen Handelns. — Eine deutlichere Bestimmung bietet die Bühlersche Konzeption der Sprechsituation, wie sie insbesondere zum Verständnis von deiktischen Ausdrücken (Deixis) im sprachlichen Handeln selbst vorausgesetzt ist. Die Sprechsituation bezieht sich dann auf das Ergebnis der sprachlichen Handlung als solches, seine Lokalität und Temporalität sowie die an ihm beteiligten Aktanten. So verstanden, entspricht sie ungefähr dem zweiten Teil der aristotelischen Kategorientafel. Dimensionen der Deixis machen von diesen Merkmalen der sprachlichen Handlung Gebrauch.

Literatur Bayer, Klaus (1984): Sprechen und Situation. Aspekte einer Theorie der sprachlichen Interaktion. Tübingen: Niemeyer. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. Aufl. 1965. Stuttgart: Fischer. Erickson, Frederick / Shultz, Jeffrey (1981): When is a Context? Some issues and methods in the analysis of social competence. In: Green, J.L. / Wallat, C. (eds.): Ethnography and language in Educational Settings. Norwood, N.J.: Ablex, pp. 147-160. Firth, John R. (1957): Papers in Linguistics. 1934—1951. London: Oxford University Press. Halliday, Michael A.K. / Martin, James R. (eds.) (1981): Readings in Systemic Linguistics. London: Batsford. Petofi, János S. (1975): Vers une théorie partielle du texte. Hamburg: Buske. Rehbein, Jochen (1977): Komplexes Handeln. Elemente %ur Handlungstheorie der Sprache. Stuttgart: Metzler. Wunderlich, Dieter (1972): Pragmatik, Sprechsituation, Deixis. In: Zeitschrift fur Literaturwissenschaft und Linguistik 1, S. 153—190.

Einige Sprechhandlungen (Einträge aus dem Metzler-Lexikon Sprache) Frage Illokutiver Akt, der der Prozessierung des Wissens vom Hörer zum Sprecher dient. Die Ermöglichung von Wissenstransfer wird offenbar in vielen Sprachen als eine so elementare sprachliche Aufgabe angesehen, daß für die illokutive Indizierung dieser Sprechhandlung ein vergleichsweise umfängliches explizites Indikatorenarsenal vorgehalten wird wie die (allerdings in ihrer Einheitlichkeit oft überschätzte) Frageintonation, die Verwendung von expliziten Fragemonemen (hebr. ha-, chines, ma) oder -formein (frz. est-ce qué), syntaktische Strukturen (Inversion) sowie für einzelne Untergruppen von Fragen eine eigene Klasse von Pronomina (Fragepronomina). — Der Bezug zum in Assertionen verbalisierbaren Wissen sicherte dem illokutiven Typus Frage früh das Interesse von Linguisten, aber auch von Logikern. Die empirische Analyse von Fragen in der Interaktion steht hingegen erst am Anfang (vgl. Mazeland aus konversationsanalytischer Sicht). — Die linguistischen Behandlungen orientieren sich häufig an den in den zugrundegelegten Sprachen explizit sichtbaren Fragemarkierungen. So wird z.B. aufgrund der Einleitung vieler englischer Fragepronomina mit den Buchstaben wh von ró-Fragen gesprochen. Eine grundlegende Unterscheidung betrifft solche Fragen, die sich auf einzelne Aspekte von mentalen Sachverhaltsrepräsentationen (Wissenseinheiten) beziehen {wer, was, wann, wo etc.), von Fragen, in denen in bezug auf eine verbalisierte Sachverhaltswiedergabe nachgefragt wird, „ob" der verbalisierte Sachverhalt der Fall ist oder nicht (vgl. Entscheidungsfrage, ,ja/nein'-Frage); Alternativfrage, Echofrage, Ergänzungsfrage, Fragesatz, Mehrfachfrage). — Bei der Interaktion zwischen Sprecher und Hörer, in der der Sprecher den Hörer dazu zu bewegen versucht, mittels einer Frage Wissen, über das der Hörer verfügt, sich selbst durch die Antwort des Hörers der Frage zugänglich zu machen, ist immer bereits ein gemeinsames Wissen von Sprecher und Hörer vorausgesetzt. Die Tiefe dieses Wissens bedarf weiterer Erforschung. Systematisch zu unterscheiden sind jedenfalls dasjenige Wissen, das vom Sprecher mit Blick auf den Hörer als gemeinsam stillschweigend vorausgesetzt wird (Präsupposition) und als

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solches auch in der Verbaüsierung erkennbar ist, dasjenige Wissen, das der Sprecher als konkretes Wissensumfeld für das von ihm nicht Gewußte dem Hörer kenntlich macht, und dasjenige Wissen, das der Sprecher dem Hörer als das konkrete Nicht-Gewußte kennzeichnet (Frage-Pronomina). — Assertionen, in denen der Wissenstransfer als Antwort vom Hörer der Frage vorgenommen wird, lassen sich in ihrer Sprechhandlungscharakteristik von der Wissenszerlegung in der Frage her verstehen. Diese Assertionen bilden mit den Fragen zusammen jeweils eine elementare Sprechhandlungssequenz; (vgl. Antwort, Aufforderung).

Literatur Bäuerle, Rainer (1979): Questions and Answers. In: Bäuerle, R. / Egli, U / von Stechow, A (eds.): Semantics from Different Points of View. Berlin u.a. Springer, S. 61—74. Ehlich, Konrad (1990): Zur Struktur der psychoanalytischen „Deutung". In: Ehlich, K. et al. (Hgg.): Medizinische und therapeutische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 210-227. (2007) in Ehlich, K.: Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 3. S. 223-241. Goody, Esther N. (ed.) (1978): Questions and Politeness. Cambridge: Cambridge University Press. Hang, Heinz-Günter (1976): Die Fragesignale in der gesprochenen deutschen Standardsprache. Göppingen: Kümmerle. Hundsnurscher, Franz (1975): Semantik der Fragen. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik i , S. 1—14. Krallmann, Dieter / Stickel, Gerhard (Hgg.) (1981): Zur Theorie der Frage. Tübingen: Narr. Mazeland, Harrie (1991): Vraag-Antwoord-Sequenties. Amsterdam, Münster: Stichting Neerlandistiek VU. Meibauer, Jörg (1986): 'Rhetorische Fragen. Tübingen: Niemeyer. Rehbein, Jochen (1984): Remarks on the Empirical Analysis of Action and Speech. The Case of Question Sequences in Classroom Discourse. In: Journal of Pragmatics 8, pp. 49-63. Rehbock, Helmut (1982): Herausfordernde Fragen. Zur Dialogrhetorik von Entscheidungsfragen. In: Suchrowski, W. (Hg.): Gesprächsforschung im Vergleich. Tübingen: Niemeyer, S. 177-227. Rost-Roth, Martina (2001): Nachfragen. Formen und Funktionen äußerungsbespgenerinterrogationen. Berlin: de Gruyter. Wunderlich, Dieter (1976): Fragesätze und Fragen. In: ders.: Studien %ur Sprechakttheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 181—250. Zaefferer, Dietmar (1984): Frageausdrücke und Fragen im Deutschen. Zu ihrer Syntax, Semantik und Pragmatik. München: Fink.

Einige Sprechhandlungen

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Antwort Illokutiver Akt, der durch seine Zweitstellung in der elementaren Sprechhandlungssequenz Frage-Antwort gekennzeichnet ist. Dieses bereits in der etymologischen Bedeutung des Ausdrucks niedergelegte Merkmal wird in der ethnomethodologischen Analyse unter dem Stichwort des „benachbarten Paars" (Adjacency pair) zum zentralen analytischen Bestimmungspunkt gemacht. Häufig, wenn nicht meistens, sind Antworten Assertionen. Entgegen der Standard-Analyse der Sprechakttheorie, die sich auf den einzelnen und isolierten Sprechakt beschränkt, weist die Bindung der A n t w o r t an die Frage auf den interaktiven Charakter auch der scheinbar isoliertesten Sprechhandlung, der Assertion, hin. Aufgrund der funktionalen Beziehungen zwischen Frage und A n t w o r t mit Blick auf den Wissensaustausch zwischen Sprecher und Hörer ermöglicht diese Bindung eine Handlungsanalyse auch der Assertion.

Literatur Bäuerle, Rainer (1979): Questions and Answers. In: Bäuerle, R. / Egli, U / von Stechow, A (eds.): Semantics from Different Ρoints ofView. Berlin u.a. Springer, S. 61—74. Ehlich, Konrad (1990): Zur Struktur der psychoanalytischen „Deutung". In: Ehlich, K. et al. (Hgg.): Medizinische und therapeutische Kommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 210-227. (2007) in Ehlich, K.: Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 3. S. 223-241. Goody, Esther N. (ed.) (1978): Questions and Politeness. Cambridge: Cambridge University Press. Hang, Heinz-Günter (1976): Die Fragesignale in der gesprochenen deutschen Standardsprache.. Göppingen: Kümmerle. Hundsnurscher, Franz (1975): Semantik der Fragen. In: Zeitschrift fur germanistische Linguistik 3, S. 1—14. Krallmann, Dieter / Stickel, Gerhard (Hgg.) (1981): Zur Theorie der Frage. Tübingen: Narr. Mazeland, Harrie (1991): Vraag-Antwoord-Sequenties. Amsterdam, Münster: Stichting Neerlandistiek VU. Meibauer, Jörg (1986): Rhetorische Fragen. Tübingen: Niemeyer. Rehbein, Jochen (1984): Remarks on the Empirical Analysis of Action and Speech. The Case of Question Sequences in Classroom Discourse. In: journalofPragmatics 8, pp. 49-63. Rehbock, Helmut (1982): Herausfordernde Fragen. Zur Dialogrhetorik von Entscheidungsfragen. In: Suchrowski, W. (Hg.): Gesprächsforschung im Vergleich. Tübingen: Niemeyer, S. 177-227. Rost-Roth, Martina (2001): Nachfragen. Formen und Funktionen äußerungsbe^ogenerlnterrogationen. Berlin: de Gruyter.

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Assertion (lat. assertiö ,Behauptung'; engl., frz. assertion). Elementarer illokutiver Akt, der keine propositionale Restriktion aufweist, also der Versprachlichung von Wirklichkeit schlechthin dient. Aufgrund seiner fundamentalen Handlungsbedeutung in Sprachen mit elementaren Ausdrucksformen versehen. In der Form des (insbesondere wahrheitswertfáhigen) Aussagesatzes in der Geschichte der Sprachwissenschaft grundlegendes und oft einziges Objekt der Analyse, auf Kosten der erst von Austin theoretisch wieder ernst genommenen Fülle anderer sprachlicher Handlungsformen. Der Ausdruck ,Assertion' erscheint für den deutschen linguistischen Sprachraum als ein Neologismus, der wie andere (,Deklaration') zur terminologisch klaren Bestimmung des insbesondere im Rahmen der britischen ordinary language philosophy herausgearbeiteten Konzepts dient.

Literatur Ehlich, Konrad / Rehbein, Jochen (1979): Sprachliche Handlungsmuster. In: Soeffner, H.-G. (Hg.): Interpretative Verfahren in den Social- und Textmssenschaften. Stuttgart: Metzler, S. 243-274.

Aufforderung Typus von illokutiven Akten, denen gemeinsam ist, daß der Hörer durch die sprachliche Handlung des Sprechers zu einer Handlung (bzw. zur Vermeidung einer Handlung) veranlaßt werden soll. Durch Restriktionen z.B. des Charakters der Handlung (für den Sprecher günstig (Bitte) vs. neutral (Aufforderung allgemein); Wissenstransfer (Frage) oder z.B. den wechselseitigen Verpflichtungscharakter der Interaktanten (Befehl vs. Aufforderung allgemein vs. Bitte)) entstehen unterschiedliche Untergruppen. — Die sprechhandlungsbezeichnenden Ausdrücke und der darin sichtbar werdende alltagssprachliche Klassifizierungsgrad unterscheiden sich auch in nahe verwandten Sprache erheblich (vgl. z.B. dt. auffordern vs. bitten vs.fragen gegenüber ndl. veryoeken vs. vriendelijk verlocken vs. vragen und

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gegenüber engl, to request vs. to ask), was auch für die Analyse zu großen Schwierigkeiten führt. — Die sprachlichen Ausdrucksmittel für Aufforderungen variieren erheblich. Vor dem Hintergrund einer zu einfachen Erwartung des Explizitmachens von Illokution hat dieser Umstand nicht unwesentlich zur Entwicklung des Konzepts der „indirekten Sprechakte" gefuhrt. — Erst durch die prozedurale Analyse wird es möglich, den Stellenwert von Imperativen (als Prozeduren, nicht jedoch, wie es weithin geschieht, als Illokutionen) zu erfassen.

Literatur Hindelang, Götz (1978): Auffordern. Die Untertypen des Aufforderns und ihre sprachlichen Realisierungsformen. Göppingen: Kümmerle. König, Ekkehard / Siemund, Peter (2005): Speech Act Distinctions in Grammar. In: Shopen, Timothy (ed.): Language Tjpology and Syntactic Description. Cambridge: Cambridge University Press. Rescher, Nicolas (1966): The Logic of Commands. London: Roudedge. Schilling, Ulrike (1999): Kommunikative Basisstrategien des Auffordems. Tübingen: Niemeyer. Searle, John R. (1979): A Taxonomy of Illocutionary Acts. In: ders. (ed.): Expression and Meaning. Cambridg: Cambridge University Press, S. 1—29. Segeth, Wolfgang (1974): Aufforderung als Denkform. Berlin: Akademie-Verlag. Wunderlich, Dieter (1984): Was sind Aufforderungssätze? In: Stickel, G. (Hg.): Pragmatik in der Grammatik. Düsseldorf: Schwann, S. 92—117.

Entschuldigung (engl., frz. excuse). Sprachliche Handlung, die — im Zusammenhang mit und im Kontrast zu Rechtfertigung — in der linguistischen Pragmatik schon früh untersucht wurde. Bereits Austin (1956/57) behandelte sie als exemplarisch interessant. Rehbein (1972) illustriert an Rechtfertigungen und Entschuldigung die funktional-pragmatische Analyse sprachlicher Handlungsmuster als zweckhafter Ensembles von Handlungsmöglichkeiten für bestimmte gesellschaftliche Problemkonstellationen. Hundsnurscher/Fritz (1975) stellen im Rahmen des dialoganalytischen Verfahrens (Dialog, Gesprächsanalyse) charakteristische Abläufe der beteiligten Handlungen dar.

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Sprachtheorie und Pragmatik

Literatur Austin, John L. (1956/57): A Plea for Excuses. In: Proceedings of the Aristotelian Soàety, 1956/57. Rehbein, Jochen (1972): Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Zur Sequenzierung von kommunikativen Handlungen. In: Wunderlich, D. (Hg.): "Linguistische Pragmatik. Frankfurt am Main: Athenäum, S. 288-317. Hundsnurscher, Franz / Fritz, Gerd (1975): Sprechaktsequenzen. Überlegungen zur Vorwurf-Rechtfertigungs-Interaktion. In: Der Deutschunterricht 27, S. 81-103.

Kommunikationsanalysen: Bedingungen und Folgen 1. Neugier und ein Paradox Das plötzliche Interesse der Linguistik an professioneller Kommunikation ist vergleichsweise jungen Datums. Seit einer Reihe von Jahren findet sich eine wachsende Menge von Literatur, die Kommunikation in unterschiedlichen Institutionen zum Gegenstand ihrer Analyse macht (vgl. die zusammenfassenden Berichte des Sammelbandes „Diskursanalyse in Europa", Ehlich 1994). Konnten die ersten derartigen Untersuchungen noch als gelegentliche Exkursionen ins Unbekannte und Aparte erscheinen, als Grenzgänge an die Peripherie der Linguistik, so zeigt schon der Umfang der Forschungen, die erarbeitet wurden, daß eine solche Einschätzung das neue Interesse gründlich verkennen würde. 1 Dem Interesse an professioneller Kommunikation und an Kommunikation in Institutionen insgesamt liegt also wahrscheinlich mehr und anderes zugrunde als lediglich die Neugier, Sprache dort aufzusuchen, wo sie gesprochen wird, und Sprache dort zu untersuchen, wo die Stunde der Praxis für die abstrakten Systeme schlägt, denen gerade in den vergangenen hundert Jahren die linguistische Bemühung mit einer zunehmenden Ausschließlichkeit galt. Es lohnt sich, diesen Gründen nachzugehen. Doch soll darüber der Aspekt nicht verloren gehen, daß auch und gerade diese Neugier ein wichtiger Faktor für die Konstituierung des neuen Interesses gewesen ist und bleibt, ein Faktor, der die Linguistik mit der Ethnologie und mit bestimmten Disziplinen und Verfahren der Soziologie verbindet. Denn anders als die introvertierte Variante von Sprachwissenschaft, in der Objekt und Analyse, Forscher und Erforschtes immer schon dasselbe sind, in der also der Forscher sich selbst als den idealen Spre1

Daß sie das Rezeptionsverhalten der sich selbst als „Kernlinguistik" verstehenden traditionellen Linguistik, etwa des US-amerikanischen generativen Paradigmas und seiner weltweiten Ableger — (soweit in diesem Kontext anderes als die jeweilige eigene Auffassung überhaupt zur Kenntnis genommen wird) bestimmt, verdient eher eine wissenschaftssoziologische Interpretation, als daß es zum Verständnis dieses Interesses beitrüge. Es sagt vor allem etwas über die Zerfahrenheit der linguistischen Disziplin und ihre durch Geschichtsvergessenheit bestimmte Kommunikationslosigkeit zwischen sich schnell abwechselnden Paradigmen und Richtungen, die, je weniger sie die Disziplingeschichte kennen, umso eher zur Re-Inventivität des bereits Bekannten neigen - und gezwungen sind.

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eher/Hörer untersucht, indem er die Introspektion und nur sie bemüht, richtet sich diese Neugier auf eine sprachliche Welt außerhalb seiner selbst, auf Sprache als etwas anderes, als etwas, das gerade nicht mit der Sprache, die der Forscher kennt und spricht, vorab schon identisch ist. Die Andersartigkeit dieser anderen Sprachwelt ist es, die die Neugier erregt, die im Fremden etwas Wissenswertes erfahrt. Als Fremdes verweigert sich die andere Sprachwelt dem unmittelbaren Zugang. Der Zugang zu ihr ist das erste und bleibende Problem für den Forschungsprozeß. Methodologische Reflexion ist die unabweisbare Konsequenz dieser Konstellation. Bis hin zur Selbstnegierung bleibt dies für den Forscher problematisch: Unter dem Stichwort des „Beobachterparadoxes" wird sie methodologisch gegenwärtig gehalten - theoretisch freilich mehr schlecht als recht, denn die Begrenzung der Problematik auf Verfahren der „Beobachtung" ist ebenso verkürzend wie die Stillstellung des Problems in der Figur des Paradoxes. Unter diesem Stichwort wird in der linguistischen Literatur2 das Phänomen beschrieben, daß der „Beobachter", eben um das ihm Unbekannte sich zugänglich zu machen, sich selbst sozusagen als einen Außenposten des Forschungsprozesses in das zu beobachtende Feld hineinbringen muß und daß er eben dadurch das Fremde, dem sein Interesse gilt, zu etwas anderem als dem macht, was es ohne ihn wäre. Seine Tätigkeit der „Beobachtung" stört das, was sie beobachtet, und zwingt ihm eine Kommunikation, wenn man so will, einen Diskurs, auf, die nicht die Kommunikation derer ist, die alltäglich — und eo ipso unbeobachtet von außen — miteinander kommunizieren. Hinter dieser Figur ist unschwer die Folie der Diskussion des „Dings an sich" zu erkennen, deren schwacher Widerschein in den engen Grenzen der Methodologie das „Beobachterparadox" ist. Wie beim „Ding an sich" ist freilich ohne die apperzipierende Tätigkeit Erkenntnis nicht zu haben. Und dies gewinnt angesichts des Umstandes, daß die Forschungstätigkeit selbst Bestandteil einer sich verallgemeinernden Weltkultur ist, eine nicht nur in diesen Prozeß eingebettete, sondern auch eine durch ihn zusätzlich qualifizierte Dimension. Der ethnologische Feldarbeiter etwa, der sich einer fremden Kultur nähert, ist immer auch der Vorbote von deren substantieller Veränderung durch eine Entwicklung, in der die Abgeschiedenheit, die Isolation und die Selbstgenügsamkeit einzelner Gruppen von Menschen (Stämmen, Clans usw.) auch dann kaum mehr zu erhalten ist, wenn diese Gruppen darauf den größten Wert legen. Die paradoxale Qualität gewinnt der Prozeß der Erforschung von Kommunikation nicht so sehr aus dessen Eigenschaften selbst, sondern aus den positivistischen Erwartungen, die die Verdingüchung des Forschungsobjektes zur ersten und notwendigen

2

Vgl. zusammenfassend Koerfer (1984).

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Voraussetzung des Forschungsprozesses erklären. Im „Beobachterparadox" macht sich eben jene Involviertheit von kommunizierenden Subjekten und einem gleichfalls immer — und sei es durch Schweigen — kommunizierenden Forscher in eine gemeinsame, spezifisch menschliche Tätigkeit des Verstehens bemerkbar, die die Grundlagen der positivistischen Erwartungen substantiell in Frage stellt. Die paradoxale Erfahrung hat ihre Grundlage also stärker in der Inadäquatheit einer herrschenden Methodologie gegenüber nicht zuletzt der Erfahrungswelt derjenigen, die sich ihr in ihrem wissenschaftlichen Standardsozialisationsprozeß verpflichtet wissen, als im Phänomen des Analyseprozesses selbst. Erscheint das „Beobachterparadox" auf den ersten Blick als eine Art bewußtgewordener Rückzug des beobachteten Objekts in die eigentliche Unerkennbarkeit, so erweist der zweite Blick es als einen Rückzug einer etablierten Methodologie hinter die Erfordernisse eben jener kommunikativen Praxis, die sich im Forschungsprozeß selbst unverdrängbar bemerkbar macht, sobald und so lange er sich auf Kommunikation bezieht. Die Bearbeitung des scheinbaren Paradoxes kann also kaum durch die Entwicklung immer sophistischerer methodologischer Schritte erfolgen. Diese sind allenfalls geeignet, durch kurzfristige Erfolge zum Versuch seiner Verdrängung beizutragen — um dann, je länger der Forschungsprozeß andauert und je intensiver sich die kommunikative Erfahrung des Forschers wieder einstellt, ihn nur um so unabweisbarer mit dessen kommunikativer Qualität erneut und verschärft zu konfrontieren. Gerade das „Beobachterparadox" erweist sich also als eine Art Imperativ zur Reflexion, der den Forscher unüberhörbar auffordert, sich auf die hermeneutischen Dimensionen seiner Analyse von Kommunikation so explizit wie möglich einzulassen — und dies nicht zuletzt mit Blick auf die elementaren Qualitäten dessen, was er als ein ihm Fremdes analysieren möchte. Ebenso, wie im Prozeß der Forschung die Fremdheit sich auflöst - bis dahin, daß sie durch methodologische Vorkehrungen künstlich erhalten werden muß, um nicht vorschnell den Kategorien des Forschers adaptiert zu werden —, ist die kommunikative Qualität dieses Prozesses grundlegend und durch noch so viel methodologische Raffinesse nicht eliminierbar; ja, mehr, wäre solche Raffinesse dazu in der Lage, so hätte sie das Paradox auf einer höheren Stufe nur erneut hergestellt und verschärft.

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2. Kommunikationsbefähigung: eine Diskrepanz Die forschende Neugier und die methodologischen Abenteuer, in die sie gerät und die ihr die Erkenntnis bringen, daß Verständnis des anderen immer auch Selbst-Verständnis ist, bilden eine subjektive Vorausset2ung für die Expandierung des Forschungsprozesses über Kommunikation. Doch, so war gesagt worden, dieser selbst verdankt sich nicht nur solchem Interesse. Das Interesse ist vielmehr Ausdruck und Ergebnis von weitreichenden Umwälzungen kommunikativer Strukturen. Diese vollziehen sich in großer Langsamkeit, aber auch mit ebensolcher Stetigkeit. Sie reflektieren und sind Bestandteil von Entwicklungen, die etwa im Politischen sehr viel auffälliger sind, weil sie dort eruptiver, gelegentlich sogar revolutionär Zustandekommen. Während die Langsamkeit der Kommunikationsveränderungen sie dem schnellen analytischen Zugriff eher entziehen, kennzeichnet ihre Stetigkeit, wie unerbittlich und irreversibel sie sind. Die gesellschaftliche Verallgemeinerung der Druckkunst etwa (also eines Hilfsmittels und Mediums schriftlicher Kommunikation; vgl. hierzu u.a. die umfängliche Untersuchung von Giesecke (1991)), unter solchen Prozessen einer, der sich noch vergleichsweise schnell vollzog, hat einige Aufmerksamkeit seit langem und vor allem in jüngster Zeit gefunden. Aber auch sie und ihre Auswirkungen weit jenseits der bloß technischen Aspekte beginnen erst, in der wissenschaftlichen Analyse sichtbar gemacht zu werden. Was sich dadurch alles verändert hat — bis hin zu politischen, religiösen und ökonomischen Modifikationen —, ist noch keineswegs in einem umfassenden Gesamtbild dargestellt. Um wieviel schwieriger ist es, sich der Veränderungen bewußt zu werden, die im Bereich der mündlichen Kommunikation, also dem genuinen Areal der Diskurse, sich zugetragen haben. Eine derartige fundamentale kommunikative Strukturveränderung gilt es hier in ihren Grundzügen kurz darzustellen. „Die Sprache" gilt als Gemeingut. Diese Auffassung ist zumindest pauschal. Zudem unterstellt sie das Verallgemeinertsein vor allem des Systems. Daß solche Verallgemeinerung nicht zuletzt das Resultat komplexer Bildungsprozesse und, damit bisher verbunden, meist auch komplexer Diskriminierungsprozesse ist, wird am ehesten vielleicht in jenen Sprachregionen Europas greifbar, in denen sie bis heute zu keinem Abschluß gekommen sind, also etwa in Italien. Dennoch: Auch wenn man die oben angeführte allgemeine Annahme als gültig akzeptiert, ist durch sie gerade in ihrer abstrakten Formulierung, in der Weise, in der sie das Abstraktum

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„Sprache" faßt, völlig im Dunkeln gelassen, was der Gemeinbesitz von Sprache kommunikativ eigentlich bedeutet. In vagen Distinktionen einer Unterscheidung von aktivem und passivem Sprachvermögen scheinen Divergenzen in der Sprachdistribution auf, die für die kommunikative Praxis der Sprach„teilhaber" von grundlegender Bedeutung sind. Es ist eine nicht zuletzt romantisch (im geistesgeschichtlichen Sinn dieses Wortes) beeinflußte, ja von der Romantik entwickelte, popularisierte und propagierte Auffassung, daß Sprache sozusagen in der Tiefe des „Volkes" ihren Ort habe. So sehr dies für elementare Grundstrukturen einer Sprache gilt, schon beim Lexikon machen sich die Divergenzen fühlbarst bemerkbar. Nimmt man hinzu, daß kaum eine der entwickelten neuzeitlichen Sprachen es bei dem Vertrauen auf diese Elementarität belassen kann, sondern z.B. für die Expandierung des Wortschatzes" auf Ressourcen einer oder mehrerer anderer Sprachen fast notgedrungen zurückgreift3, daß diese Ressourcen im allgemeinen aber nur Ausschnitten der Sprechergruppe zugänglich sind, so wird deutlich, daß die Gemeinsamkeit der Sprachteilhabe so, wie die Dinge liegen, immer auch zu einem nicht unwesentlichen Teil eine regulative Idee ist. Die entwickelten Schulsysteme, soweit sie mit Sprache zu tun haben, sind der Umsetzung dieser regulativen Idee in gesellschaftliche Praxis verpflichtet und verdanken sich ihr. Der jeweils neuen Generation fallt „die Sprache" weder in den Schoß noch in den Kopf. Ihr Aneignungsprozeß macht einen wesentlichen Teil der Lernarbeit aus, der nicht nur die ersten Jahre der Kindheit, sondern zunehmende Teile des Jugendalters bis hin zu einer mehr und mehr verschobenenen Adoleszenz hin bestimmt. Sprachlernarbeit als Teil, Bedingung und Folge eines differenzierten Wissenserwerbs, der zudem immer abstrakter wird, weil nur so seine akzelerierte Ausführung noch gewährleistet scheint, ist für die Entwicklung gerade der neuzeitlichen Verhältnisse charakteristisch. Während für die Zeit der großen Buchreligionen, also von der mählichen Verfertigung des jüdischen Kanons über die Grunddokumente des Christentums und des Islam ein Buch (auch wenn es aus vielen „Büchern" bestand) das Denken und Handeln bestimmte bis in die letzten Winkel der alltäglichen religiösen, kognitiven, ökonomischen, aber auch homileïschen und sonstigen Praxis, so tritt mit dem Aufkommen bürgerlicher Lebensverhältnisse an die Stelle dieses einen Buches eine zunehmend aufgefächerte kommunikative Vielfalt, die die revolutionierende Umorientierung aufs Neue nicht nur für die Gesellschaften, sondern auch für den einzelnen 3

Vgl. Coulmas (1989).

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Sprachtheorie und Pragmatik

Aktanten verpflichtend macht. Dies bedeutet nicht 2uletzt, daß die kommunikativen schriftlichen, vor allem aber auch mündlichen Anforderungen an die einzelnen explosiv steigen. Aus der kommunikativen Behäbigkeit einer sich selbst reproduzierenden, weil ihrer selbst im immer Gleichen gewissen Kommunikationspraxis tritt die kommunikative Veränderung, die Bereitschaft und Befähigung, Kommunikation lebenslang zu modifizieren, heraus. Die Flucht ins Gewohnte bedeutet die Abschottung gegen die kommunikative Veränderung der Sprechergruppe. Die Innovation des Lexikons, aber auch die Veränderungen der grammatischen, der diskursiven und der textuellen Formen nehmen zu. Während etwa eine der bestdokumentierten antiken Sprechergruppen, die althebräische, über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren nach Auskunft der erhaltenen Dokumente mit einem appellativen Wortschatz von etwas über 5000 Wörtern auskam, sind die Lexika von Sprachen wie Deutsch oder Englisch inzwischen auf weit über 100000 Wörter angestiegen. Hier geben die Zahlen selbst einen Eindruck von der Brisanz der Veränderung. In bezug auf die Kommunikationspraxis sind die Veränderungen weniger leicht deutlich zu machen. Gleichwohl, so scheint mir, sind sie nicht weniger gravierend, ja vielleicht eher gravierender als diese Expansionen der Wörterzahl. Diese Transformationsprozesse betreffen unter anderem, aber in wesentlicher Weise, die je individuelle bzw. gruppenspezifische Kommunikationsbefahigung. Während Sprache nach dem oben genannten allgemeinen Verständnis ein elementarer Mechanismus der Mitgliedschaftszuweisung ist, erweist sich die konkrete Möglichkeit des Gebrauchs, also die Tatsächlichkeit der Befähigung zur Kommunikation, als ein subtiler Differenzierungsapparat, der innerhalb jener allgemeinen Mitgliedschaft Teilmitgliedschaften eröffnet bzw. verschließt. Gerade die Ausbildung sogenannter „moderner" Kommunikationsstrukturen ist hiervon zentral betroffen. Die enge Verbindung von Wissen und Sprache gibt in einer auf dem dauernden Zuerwerb neuen Wissens basierenden Gesellschaft denjenigen, die diesen Zusammenhang beherrschen, eine herausragende Stellung. Die Transformation der kommunikativen Strukturen bezog sich in der Herausbildung spezifisch nachkirchlicher, eigentlich bürgerlicher Kommunikationspraxis vor allem auf eine Schicht von Aktanten, die die gesellschaftliche Stelle der Priester einnahm und -nimmt —, wobei in den verschiedenen Bewegungen des Protestantismus die Pfarrerschaft mit zu den ersten Ergebnissen dieses Umwandlungsprozesses gehörte. Die Herausbildung dieser Schicht in ihren verschiedenen Ausprägungen — vom Pfarrer über den Lehrer zum Wissenschaftler, vom Juristen über den Verwaltungsspezialisten zum Manager, vom Manufakturisten und Händler zum

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Ingenieur und Techniker, um nur einige zu nennen — bedeutete einen wesentlichen Teil jener Umwandlungsprozesse, ihrer Vorbereitung, ihrer Aktualisierung und ihrer Konsolidierung, die in den großen politischen Umwälzungen schlaglichtartig für ganz Europa verdeutlicht wurden. In diesen Transformationsprozessen fielen die Herausbildung jeweils neuer „Diskurse" (im französischen Sinn dieses Wortes), die Entwicklung entsprechender Aktantengruppen und ihrer gesellschaftlichen Stellung und die Etablierung von immer mehr neuen Institutionen als Orten, an denen die jeweils neue kommunikative Praxis stattfinden konnte, weithin zusammen. Die Veränderungen der Sprache, besonders aber die Teilhabe an der Realität der neuen Diskurse waren mit diesen spezifischen Sprechergruppen charakteristisch verbunden. Innovation als ein für sie wesentlicher Inhalt und Teilhabe an ihr sowie ihre Konsolidierung in der Etablierung und Repetition neuer kommunikativer Strukturen hatten eine in sich klare Aktantengruppe zur Grundlage, die durch ihre Involviertheit in die Kommunikationsprozesse, die es zu entwickeln galt, jeweils sich selbst auf der Höhe des kommunikativen Geschehens hielt. Gerade jene Schichten also sind dessen Träger und Nutznießer in einem. Die Masse der Bevölkerung hingegen wurde von diesem diskursiven Geschehen kaum - und wenn, mit erheblichen Verzögerungen — berührt. Die neuen kommunikativen Formen betrafen sie nicht; ihre eigene gesellschaftliche Praxis konnte noch immer weitgehend darauf verzichten, weil die Orientierung auf Innovation sich nur in begrenztem Umfang umsetzte. Das Ergebnis dieser Konstellation ist eine große kommunikative Homogenität in bezug auf die Träger der Kommunikationsveränderungen. Für sie ist Veränderung relativ leicht zu bewerkstelligen, und die lebenslange Teilhabe an den jeweiligen kommunikativen Modernisierungsprozessen vollzieht sich auf der Basis einer kommunikativen Grundausstattung, die eine schnelle und effektive Anpassung an Innovationserfordernisse ermöglicht. In der vormodernen Zeit bedeutete die Teilhabe am bestehenden Wissen und an seiner Reproduktion immer auch, daß der Wissensnovize zuallererst eine Sprache zu lernen hatte, die niemandes Muttersprache war, in der andererseits alles Wissen aufgehoben war, das Lateinische. Demgegenüber sind die neuzeitlichen Bewegungen durchgehend dadurch gekennzeichnet, daß für die sich herausbildenden Nationalsprachen emphatisch in Anspruch genommen wurde, daß sie — und zunehmend mehr nur sie — die geeigneten Verständigungsmittel auch für alle das Wissen betreffenden Fragen seien. Obwohl sich dieser Ablösungsprozeß über mehr als vier-

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hundert Jahre erstreckte, war er im großen und ganzen erfolgreich. Kommunikationsbefähigung bezieht sich damit und seither auf einen nationalen Kommunikationsrahmen, der zwar durch eine rege Übersetzungstätigkeit überwunden werden konnte, sich aber in der Notwendigkeit dazu gerade auch erhält. Dieser nationale Rahmen erstreckte sich für viele der politischen Einheiten weit über den jeweiligen Ist-Stand politischer Verfaßtheit hinaus. Während etwa „Deutschland" oder, genauer, das Gebiet, in dem die eine oder andere Regionalvarietät des Deutschen gesprochen und geschrieben wurde, politisch in zahllosen Klein- und einigen wenigen Mittelstaaten organisiert war, erfaßte die gemeinsame Kommunikationsbefähigung der Wissensträger ein Personal aus all diesen Staaten, so daß der Gedanke der „Gelehrtenrepublik" keineswegs lediglich eine Fiktion oder eine gesellschaftliche Utopie war. Er beschrieb in politischen Termini die Realität eines Diskurses, der weit über die sonstige gesellschaftliche Wirklichkeit hinausgriff. Materielle Träger dieses Diskurses waren die sich stetig entwickelnden Buchproduktionen und -Zirkulationen bis hin zur Entfaltung eines florierenden Verlagswesens. Obwohl meines Wissens keine genauen wissenssoziologischen demographischen Daten über die Gesamtheit dieser Prozesse vorliegen, so ist doch, besonders in ihrer Konsolidierungsphase im 18. und 19. Jahrhundert, eine weitgehende Konstanz und Kontinuität im Übergang von einer Generation zur nächsten anzusetzen.4 Das Konzept der „Bildung" konnte dadurch auf einer kommunikativen Elementarbefähigung aufbauen, die die Familie als primäre Vergesellschaftungsagentur vermittelte. Die Sprachschulung im Gymnasium erfolgte nicht ohne erhebliche Verzögerung als Adaptierungsprozeß an den Gesamtbedarf nationalsprachlicher Kommunikation.5 Zugleich vermittelte sie dadurch, daß sie besonders mit den griechischen und lateinischen „Quellen" des Wissens vertraut machte, den Grundakzeß zu den Wissensreservoirs in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Verfaßtheit. Die sich stetig zugunsten der Nationalsprachen verschiebende Bedeutung des Lateinischen kann mit Blick auf diese Zusammenhänge als curriculare Widerspiegelung des gesellschaftlichen Gesamtbedarfs an Zugang zum Wissen gesehen werden. Im Ergebnis bildete sich eben jene in ihrer Kommunikationsbefahigung ziemlich homogene Trägergruppe heraus, deren Mitglieder man zusammenfassend vielleicht am besten als „Wissensfunktionäre" charakterisieren kann.

4 5

Vgl. z.B. Herrmann (1989) und Jeismann/Lundgreen (1987). Vgl. im einzelnen die detaillierte Rekonstruktion in Ludwig (1988).

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Wie immer die Anforderungen in der beruflichen Praxis im einzelnen lagen, ob ein solcher „Wissensfunktionär" als Richter, als Beamter, als Lehrer, als Universitätsprofessor, als Bergassessor, als Ingenieur, als Ökonom, als Pfarrer tätig war: sie alle griffen auf eine kommunikative Grundbefáhigung zurück, die nicht nur hinreichend für den beruflichen Sektor war, sondern die die Wissensfunktionäre auch in die Lage versetzte, am allgemeinen „Diskurs" teilzunehmen. 6 Die sozial vergleichsweise homogene Grundlage für die allgemeine Diskursbefähigung, mit ihrer Basis in der familialen Situation (mit gewissen kompensatorischen Maßnahmen für solche Kinder, die „dem Herrn Pfarrer frühzeitig als besonders befähigt" auffielen und in eine die Kommunikation schulende Ersatzfamilie vermittelt wurden — exemplarisch etwa Herder), erlaubte eine große kommunikative biographische Kontinuität für den einzelnen. Gegenüber dieser Homogenität (der Gruppe) und Kontinuität (für das Individuum) stellt sich die Situation seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts substantiell anders dar. Der gemeinsame Akzeß zur Gesamtheit des Wissens zerbrach, und diese Gesamtheit zerfiel bei einer gewaltigen quantitativen Expansion in eine zunehmend unüberschaubarere Vielfalt von Wissensfragmenten und -partikeln (vgl. unten, § 4). Vor allem aber machten Rupturen in der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung, die besonders an den Bruchlinien der beiden großen Kriege und der verschiedenen europäischen Faschismen 7 zu erkennen sind, politisch deutlich, daß die letztendlich kompromißartigen Gesamtstrukturen zwischen den Resten des Feudalabsolutismus und den genuin bürgerlichen Erfordernissen nicht haltbar waren. Zugleich brachte sich der Grundwiderspruch zwischen dem Proletariat und den anderen Gesellschaftsklassen massiv zur Geltung. Die europäischen (und US-amerikanischen) Ergebnisse, die diese komplexen gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen zeitigten, bedeuteten vor allem die verallgemeinerte Aufhebung der Einschränkungen des Zugangs zu — jeweils freilich disziplinär eingegrenzten — Ausschnitten des Gesamtwissens. Damit erst kommt die spezifisch den bürgerlichen Erfordernissen entsprechende Wissensdistribution zu ihrem Ziel, daß möglichst alle Ressourcen, die in die Gruppe der Wissensfunktionäre integrierbar sind, dafür auch gesellschaftlich zur Verfügung gestellt werden. Dies macht sich in einer Vielzahl von — meist freilich 6

In diesem Licht erstaunt es nicht, daß etwa die zukünftigen preußischen Landräte in den Berliner Vorlesungen des Georg Friedrich Wilhelm Hegel saßen. Dort wurde eben jene allgemeine Diskursbefáhigung vollendet, die dann bis zur Tätigkeit in einer der entferntesten Provinzen als gemeinsames Mitgliedschaftskennzeichen für eben diese Gruppe der Wissensträger zu funktionieren hatte und dies auch tatsächlich tat.

7

Vgl. Wippermann (1983).

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Sprachtheorie und Pragmatik

nicht über Kompromisse hinausreichenden — „Bildungsreformen" bemerkbar und setzt sich durch bis hin zu einer Vielfalt von sogenannten „kompensatorischen Programmen", durch die eben jener breite Wissensakzeß ermöglicht werden soll. Doch sind diese Programme und Reformen gerade aufgrund ihres weitgehenden ad-hoc-Charakters meist nicht mehr als nur partielle Adaptierungen an die jeweiligen Bedürfnisse der Wissensdistribution. Die Reformziele, die thematisiert und angestrebt werden, beziehen sich auf spezifische Defiziterfahrungen. Die grundlegenden Veränderungen bleiben demgegenüber lange unbemerkt. Eine solche grundlegende Veränderung ergibt sich hinsichtlich der Kommunikationsbefahigung. Hier zeigt sich eine geheime Komplizenschaft zwischen (partieller) Reform einerseits, einem stillschweigenden Erwartungs-Konservatismus andererseits. Das Resultat ist ein zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen speziellem Wissensakzeß für eine immer größere Gruppe und wachsenden Schwierigkeiten eben dieser Gruppe, die für den Wissensakzeß immer schon vorausgesetzte kommunikative Grundqualifikation konkret zu realisieren. Diesem Widerspruch liegt dabei offensichtlich eine Art kollektiver Analogie-Schluß zugrunde: (A) Wenn für diejenigen, die den Akzeß zum gesellschaftlichen Wissen hatten, früher die gemeinsame kommunikative Grundbefähigung galt, so ist entsprechend aus dem Umstand, daß heute Wissensakzeß besteht, auf das Vorhandensein einer ebensolchen kommunikativen Grundbefähigung zu schließen. Dieser Schluß (A) ist in doppelter Weise problematisch: (a) Er macht aus einer Aussage über ein gemeinsames Vorkommen zweier Erscheinungen (1) und (2) eine Aussage über die Folgenhaftigkeit der einen aus der anderen. So entspricht er zugleich dem Wunsch, daß die Erscheinung (2) der Fall sein möge. Mit anderen Worten: Der Analogie-Schluß (A) erfüllt, was gesellschaftlich für die Wissensfunktionäre erwartet wird, in der schließenden Vorstellung. Vor allem aber (b) verdeckt er die enorme gesellschaftliche Arbeit, die in die Kommunikationsbefahigung der früheren Wissensfunktionäre investiert wurde. Im Ergebnis ist er hervorragend geeignet, die immer wieder aufbrechenden Problemempfindungen und -erfahrungen zu beruhigen und so zu eliminieren. Dadurch wird auch auf der zweiten Stufe ein Kreislauf verfestigt, der bis heute die breite gesellschaftliche Thematisierung der erforderlichen Kommunikationsbefähigung verhindert. Doch dieses Schweigen über die Defizite von Kommunikationsbefähigung ist genauso wenig geeignet, die faktische Problematik zu bearbei-

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ten, wie die weithin praktizierte stillschweigende Grundüberzeugung, daß Kommunikationsbefahigung sozusagen eine selbstverständliche Folge einer üblichen sprachlichen Sozialisadon sei. Für eine solche Auffassung wird im allgemeinen der Spracherwerb reduziert auf den Erwerb der elementaren Sprachstrukturkenntnisse und ihre korrekte Umsetzung in den sprachlichen Alltag — ein Prozeß, der als in der vorschulischen Periode der kindlichen Entwicklung weitgehend abgeschlossen gilt. Warnungen vor derartigen simplifizierenden Konzepten, die von Sprachpsychologen wie Wygotski geäußert wurden, haben demgegenüber offensichtlich kaum eine Chance. Diese Forscher gehen von einer wesentlich längeren Phase des Spracherwerbs aus und verweisen für ihre Auffassung vor allem auf die Dauer der Begriffsbildung. 8 Gerade für die umfassende kommunikative Befähigung kann von einer ganz ähnlichen langen Dauer ausgegangen werden, in der diese ausgebildet wird. Dabei wird die Länge, die diese sprachlichen Bildungsprozesse in Anspruch nehmen, wesentlich von den Grundlagen bestimmt, die bereits früh gelegt werden müssen — und über die Sozialisationskontinuität früher auch gelegt waren. Dazu gehört vor allem auch der Stellenwert, der komplexem sprachlichen Handeln für die individuellen Biographien zukommt. Gerade in dieser Hinsicht aber macht sich der Bruch bemerkbar, der für die Situation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend ist. Bewußt geworden freilich sind diese Veränderungen nur dort, wo sie sich unmittelbar in der schulischen Situation niedergeschlagen haben, also in der Unterscheidung zwischen einem sogenannten „schichtenspezifischen elaborierten und restringierten Code". In diesen als Massenmünze gut einsetzbaren Distinktionen, wie sie vor allem in den Konzeptionen von Bernstein entwickelt wurden, hatte man die griffigen Ausdrücke gefunden, mittels derer man jene Kommunikationsprobleme glaubte beseitigen zu können, die allzu offensichtlich dem gerade erforderten Modernisierungsschub hinderlich und hindernd im Wege standen. Doch bereits an den Ausdrücken selbst läßt sich die technizistische Reduktion von Kommunikation ablesen, die nicht zuletzt der kompensierenden Praxis hochwillkommen war, für die diese Konzeption entwickelt wurde. Die eigentlichen Dimensionen des Problems, um das es bei dem Auseinanderklaffen in der Distribution von Wissensakzeß und Kommunikationsbefahigung geht, kommen hier gar nicht erst in den Blick. Vor allem ist es das Sprachkonzept, das unter dem technizistischen Verdikt, zum bloßen Code gemacht, den erforderten Reflexionsumfang vermissen läßt. Gerade die hermeneutischen Qualitäten des Verstehensprozesses bleiben hier nahezu völlig unbeachtet. Zu dieser Hermeneutik gehört aber 8

Vgl. Redder (2004).

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die Selbstaufklärung der Interaktanten über ihre kommunikative Praxis wesentlich hinzu. Die nachrichtentechnische Verkürzung von Sprache, wie sie sich in der Terminologie von Code und Kanal, von Sender und Empfänger, von Übermüdung und Rauschen ausdrückt und wie sie sich gerade für den Wissenstransfer zu empfehlen scheint, ist die technizistische Antwort auf die grundlegende Krise der Kommunikationsbefahigung, die nicht zuletzt jene Schichten der neuen Intelligenz betrifft, die sich primär „technischen" Teilbereichen des gesellschaftlichen Gesamtwissens widmen. Doch bleibt die Krise beileibe nicht auf diese Gruppen beschränkt. Bis weit hin in die genuin sprachlichen Disziplinen des akademischen Unterrichts zeigen sich ganz vergleichbare Erscheinungen nur daß sich aus dem eigenen Wissensgebiet keine ähnlich griffigen Metaphern ergeben, so daß sich im Rahmen der allgemeinen Innovationsschübe auch in den sprachbezogenen Disziplinen, vor allem in der Linguistik, dieselben Metaphern finden.9 Die immer nur sehr partielle und in Analyse und Bearbeitung zugleich technizistisch reduzierte Problemwahrnehmung hinsichtlich der Kommunikationsbefähigung ändert selbstverständlich kaum etwas an den Fakten selbst, an eben jenem Auseinanderklaffen zwischen Kommunikationsbefähigung und Wissensakzeß. Dieses wird manifest und insbesondere für die kommunikativen Interaktanten selbst überall dort greifbar, wo die Wissensfunktionäre in der alltäglichen professionellen Praxis kommunikativ gefordert sind, so daß die kleinen Fluchten etwa während des Studiums, das „Sich-nicht-Beteiligen" und ähnliches, nicht mehr praktiziert werden können. Somit konkretisiert sich die Krise der Kommunikationsbefähigung in zumindest dreifacher Weise: —



sie ist für die Wissensfunktionäre immer dort fatal — und so auch erfahrbar —, wo sie professionell aus dem kleinen Bereich einer sich selbst genügenden internen Wissensverwaltung und -tradierung heraustreten; sie ist für ihre Adressaten problematisch, welche die Orte und Instanzen, an bzw. in denen Kommunikation erfordert wäre, häufig, wenn nicht sogar vorwiegend als Maschinerien der Kommunikationsverweigerung erfahren;10

9

Man denke nur an deren Propagierung im ,Funkkolleg Sprache' und an die Bedeutung, die ihm in der Verallgemeinerung von Grundkenntnissen der Linguistik für ein ihr gegenüber zumeist sprödes Publikum zukam.

10

Ein besonders drastisches Beispiel zeigen die Ergebnisse von Lalouschek/Menz/Wodak (1990) zum „Alltag in der Ambulanz"; vgl. weiter § 4, unten.

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sie ist für die Gesellschaft problematisch, die im Umbruch von der kommunikativen Homogenität kleiner Gruppen von Wissensfunktionären hin zum expandierten Wissensakzeß bei gleichzeitigem „Fehlen" einer gleichlaufenden Kommunikationsbefähigung in ihrer eigenen kommunikativen Grundlage tangiert, wenn nicht bereits ganz konkret in den Bedingungen der Möglichkeit für das konkrete kommunikative Verständigungshandeln belastet ist.

Durch die Verunklärungen, die lange gerade mit der selbstverständlichen Unterstellung verbunden waren, kommunikative Praxis sei selbstredend und schon gar für akademisch geschulte Wissensfunktionäre problemlos und werde ohne weitere Mühen mit beherrscht (eine Unterstellung, der der oben bezeichnete Analogie-Schluß (A) zugrunde liegt), ist die analytische Problematik bisher wenig klar herausgearbeitet worden. Eine der wenigen Weisen, auf die man sich in der Linguistik der faktischen Problematik näherte und in der man sich über sie und über ihre Bearbeitung zu verständigen suchte, ist unter dem Stichwort der „Fachsprache" (einschließlich der Fachsprachen in den Wissenschaften) zusammengefaßt: Kommunikationsprobleme ergeben sich aus den Unterschieden in der passiven und gar der aktiven kommunikativen Verfügung über das gewaltig expandierte Lexikon, von der oben (S. 234) bereits die Rede war. So offensichtlich sich hier ein wichtiger Aspekt der grundlegenden Problematik bemerkbar macht, so sehr ist doch auch die sprachwissenschaftliche Eingrenzung, durch die diese Problematik hierauf reduziert wird, eine Verkürzung und Verkennung des Umfangs der gesellschaftlichen und individuellen Ursachen sowie ihrer Folgen und der gesellschaftlichen Tragweite des Mangels an elementarer Kommunikationsbefähigung. Zudem hat es die sogenannte Fachsprachen-Problematik (besonders in ihrer weiteren Verkürzung auf die Frage der Fachterminologie) viel mehr mit dem in § 4 näher zu behandelnden Aspekt der Vermittlung von Wissen und der Abwicklung von institutioneller Kommunikation als Interaktion zwischen zwei im allgemeinen ungleich ausgestatteten Gruppen der institutionellen Aktanten zu tun als mit den Schwierigkeiten der Wissensfünktionäre. Denn diese gewinnen ihren spezifischen Status ja gerade über einen langdauernden Sozialisationsprozeß, der zu nicht unwesentlichen Teilen dem Erwerb eben jener Fachterminologie und -spräche gilt, in denen das jeweilige Teilsegment des gesellschaftlichen Gesamtwissens, mit dem sie sich beschäftigen, niedergelegt ist. Die Probleme der grundsätzlichen komplexen Kommunikationsbefahigung betreffen also gerade nicht primär diesen Bereich, für dessen Vermittlung in den akademischen Ausbildungsgängen und in der schulischen Ausbildung, die dazu hinführt, Sorge getragen ist, sondern sie betreffen

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Sprachtheorie und Pragmatik

die Kommunikation als ganze, in die derartige spezielle sprachliche Befähigungen nur als einer ihrer Teile eingehen.

3. Kommunikative Praxis und gesellschaftliche Struktur Die Diskrepanz zwischen erweitertem Wissensakzeß und reduzierter Kommunikationsbefahigung erfordert eine gesellschaftliche Bearbeitung. Angesichts der Komplexität, die Kommunikationsprozesse - insbesondere in institutionellen Zusammenhängen — angenommen haben, kann diese Bearbeitung kaum durch die Reduktion auf eine neue, sekundäre QuasiNaturwüchsigkeit der kommunikativen Fertigkeiten zu ihrem Ziel kommen, durch die Reduktion auf die Vermittlung bloßer Verfahren also, die durch eine Art kommunikativer Erfolgsgarantie ausgezeichnet und in einem nunmehr nicht allein lexikalischen oder grammatischen, sondern in einem kommunikativen „pattern drill" antrainiert werden könnten. Eine derartige Interpretation, obwohl sie gerade aus der Perspektive von Trainings-Institutionen sicher als recht nützlich erscheinen mag — böte sie doch die Grundlage für eben die Praxis, die solche Institutionen immer schon aufweisen —, würde die Dimensionen der Problematik gründlich verkennen. Ein solches Mißverständnis verfehlt gerade die kommunikativen Aspekte, die in dem Erfordernis einer hinreichend komplexen Kommunikationsbefahigung als Chance (und nicht etwa nur als Mangel) liegen. Die Notwendigkeit, Kommunikation in immer neuer Interaktion mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu verändern, verlangt den Interaktanten einen aktiven Umgang mit ihrer eigenen Lebenswelt ab und bietet gerade darin die Möglichkeit, diese Lebenswelt als ein Stück eigener Praxis zu erfahren und verändernd in sie einzugreifen. Solche Aktivität betrifft, gerade weil und sofern es sich um Kommunikation handelt, eine spezifische Dimension dieser selbst. Zwar ist Sprache immer auch die Umsetzung elementarer Fertigkeiten und elementaren Strukturwissens in ihm gemäße Handlungen. Aber Sprache transzendiert eben diese bloße Aktualisierung zugleich. Sie ist als Medium der interaktiven Verständigung zugleich auch Medium der Selbstverständigung. Diese Möglichkeit aber ist es, die gerade dann genutzt wird, wenn die eigene kommunikative Praxis verstanden wird. Der Entwicklungsstand der kommunikativen gesellschaftlichen Gesamtpraxis ermöglicht — und erfordert — eine Verständigung der Aktanten über sich selbst im Medium des kommunikativen Handelns. Kommunikation birgt die Möglichkeit in sich, Selbstbewußtsein interaktional herzustellen, indem ihre Praxis reflexiv wird. Genau diese Möglichkeit gilt es zu nutzen. Sie ist der kommunikati-

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ven Entwicklung nicht äußerlich oder kontingent. Vielmehr liegt sie in der inneren „Logik" dieser Entwicklung. Weit davon entfernt, sozusagen ein abstraktes addendum zur kommunikativen Praxis zu sein, ist kommunikative Reflexivität Resultat und ein Ziel eben der Möglichkeiten, die in der Herausbildung von Sprache und der ihr zugrundeliegenden Loslösung von der bloßen Exekutierung von NaturProgrammen begründet und von Anfang an enthalten sind. Im reflexiven, auf Analyse und Verstehen aufbauenden Umgang mit Kommunikation geschieht mehr als die einfache Adaptierung an erforderliche kommunikative Innovation. In ihm realisieren sich „unerhörte" Möglichkeiten gesellschaftlicher Praxis. Dies freilich geschieht nicht in einigen wenigen analytischen Aktionen und ihrer Umsetzung und Anwendung, sondern es geschieht als Veränderung auch der gesellschaftlichen Praxis. Demokratie ist, wie auch immer gebrochen, ein Vorschein davon, und die gesellschaftlich uneingelösten Versprechungen, die in ihren emphatischen Programmen und den Einforderungen ihrer Verallgemeinerung sichtbar wurden, stehen in einem substantiellen Verhältnis zur reflektorischen Veränderung kommunikativer Praxis.

4. Institutionelles Handeln Wurden bisher vor allem die Diskrepanz zwischen Wissensakzeß und Kommunikationsbefahigung für die Wissensfunktionäre und das Erfordernis behandelt, Kommunikationsanalysen für die Bearbeitung dieser Diskrepanz zu entwickeln, so hatte sich bereits am Ende des letzten Abschnitts gezeigt, daß das Verstehen kommunikativer Strukturen als Voraussetzung für deren Veränderung weit über die bloß technizistischen Lösungsangebote für kommunikative Probleme und Schwierigkeiten hinausweist. Die Einsicht in kommunikative Strukturen, so wurde argumentiert, kann zur Einsicht in wichtige Teilbereiche der gesellschaftlichen Praxis werden, und dies wiederum ist für eine auf allgemeine Partizipation an den gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen hin orientierte gesellschaftliche Verfaßtheit von großer Bedeutung. Was für die Wissensfunktionäre gilt, gilt in mindestens ebensolchem Maß für alle Mitglieder der Gesellschaft — ist aber für sie umso schwerer konkret einzuholen. Während in bestimmten Epochen der jüngeren Geschichte für die Diskurse und Texte der Wissensfunktionäre immerhin die Kommunikationsmöglichkeit auf der Grundlage gemeinsamer Partizipation am Wissen und an einer Sprache realisiert war, in der man sich darüber

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verständigen konnte, so hat es Vergleichbares für die Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder nicht — oder allenfalls in Ansätzen, in Rudimenten einer verallgemeinerten gesellschaftlichen Praxis — gegeben. Der Rückgriff darauf als auf ein mögliches Modell und die Umsetzung vormals bereits erreichter Positionen in die Forderung an eine kommunikative Zukunft kann also kaum eine Rolle spielen. Dennoch ist die Veränderung kommunikativer Praxis hier umso wichtiger, weil sie über die schiere Zahl der in sie Eingebundenen weiter reicht, als dies bei den Wissens funktionären der Fall ist. Die gesellschaftliche Praxis geschieht weithin in den Formen der gesellschaftlichen Institutionen. Deren Herausbildung bestimmt Möglichkeiten und Grenzen dessen, was kommunikativ geschehen kann — wie ihre Veränderung sich als Ergebnis kommunikativer Prozesse ereignet. Institutionen haben unterschiedliche Anteile von sprachlichen, allgemein: von kommunikativen Aspekten. Von geradezu „versprachlichten" Institutionen wie etwa der Schule bis hin zu ausgesprochen spracharmen wie etwa Produktionsstätten oder auch, z.B., Gefangnissen gilt jedoch, daß Kommunikation für Institutionen wesentlich ist. Eine nicht-kommunikative Institution scheint schwer vorstellbar. Die Wirklichkeit der Institution ist im allgemeinen von einer elementaren Dichotomie gekennzeichnet. Auf der einen Seite, oder genauer: dauerhaft (also per Profession) innerhalb der Institution steht eine (zahlenmäßig meist vergleichsweise kleine) Gruppe von Aktanten. Ihnen stehen diejenigen gegenüber, die die Institution in Anspruch nehmen oder von ihr in Anspruch genommen werden. Die erste Gruppe handelt, systematisch gesehen, im Auftrag der Institution bzw. für sie. Die zweite Gruppe ist vom institutionellen Handeln in der einen oder anderen Weise betroffen. Beide Gruppen (die in sich vielfältig differenziert sein können) sind so systematisch über die unterschiedlichsten Institutionen verteilt, daß sich eine eigene Bezeichnung für sie empfiehlt. Die erste Gruppe ist die Gruppe der (professionell, jedenfalls aber systematisch) in ihr Handelnden. Sie heißen die „Agenten" der Institution (dieser Sprachgebrauch ist selbstverständlich von der Wortbedeutung des Ausdrucks ^Agent' in der Alltagssprache zu unterscheiden). Diejenigen, für die das institutionelle Handeln geschieht, werden hingegen als die „Klienten" der Institution bezeichnet. 11 11

Von den komplexeren Institutionen füir Institutionen (für Institutionen usw.) wird hier abgesehen, das heißt von den Einrichtungen, deren Agenten Agenten einer anderen Institution als Klienten haben (wie etwa die Lehrkräfte an einer Schule für Krankenhauspersonal), die Agenten sind in bezug auf (zukünftige) Agenten der Institution Krankenhaus, in der diese Agenten, also die Klienten der Schule für Krankenhauspersonal, (später) als

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Die Agenten der Institutionen sind im allgemeinen Menschen, die ein spezifisches institutioneneigenes Wissen haben. Sie gehören meist zur Gruppe der Wissensfunktionäre. Hier sind Erkenntnisveränderungen — wenn auch oft mit einer nicht unerheblichen Mühewaltung — vergleichsweise gut möglich. Anders sieht es für die Klientenseite aus. In bezug auf viele Institutionen sind die Klienten meist nur sporadisch mit der Institution in Kontakt. Das, aber vor allem die Differenz zwischen Professionalisierung einerseits, Laienstatus andererseits, führt zu erheblichen Ungleichgewichten der Bedingungen für erfolgreiches kommunikatives Handeln. Eben über die Professionalisierung auf selten der Agenten können zudem neue Erkenntnisse vergleichsweise einfach weitervermittelt werden. Die Handlungspotentiale der Klienten hingegen verschieben sich im allgemeinen nur verhältnismäßig langfristig. Traditionsbildung und Expertisenerwerb geschieht langsam und diffus. Die Weitergabe von Erfahrungswissen unterschiedlicher Art und seine Zusammenfassung zu verallgemeinerten Formen des Wissens wie Sentenzen oder Maximen wird hier allein schon durch die Intervalle bzw. durch die geringe Zahl der kommunikativen Tätigkeiten im jeweiligen institutionellen Zusammenhang erschwert. Die Laien befinden sich leicht in der Position der kommunikativ Minderqualifizierten, ja, der kommunikativen Inkompetenz. Ein verantwortungsvolles Handeln von der Seite der Institutionen hätte diese Schiefe in der Verteilung der Kommunikationsmöglichkeiten in Rechnung zu stellen — und zwar nicht zuungunsten der Betroffenen, sondern zu deren Gunsten. Wenn es auch immer wieder Ansätze zu praxisethischen Umsetzungen solcher Überlegungen in Institutionen gibt, so hätte es doch überhaupt keinen Sinn, über die weitverbreitete Faktizität des Gegenteils hinwegzusehen oder gar hinwegzugehen. War oben auf die besondere Bedeutung der Kommunikationsbefähigung gerade für demokratisch bestimmte Strukturen hingewiesen worden, so gilt das zuletzt Gesagte wiederum besonders für demokratische und demokratisch legitimierte Institutionen, denen ja die Idee der selbstbestimmten Entscheidung über die eigenen Belange zugrundeliegt. Wie weit die Praxis davon entfernt ist, braucht hier nicht eigens betont zu werden. Was freilich dringend erfordert ist, ist, dieser Frage im einzelnen, in der Analyse des kommunikativen Handelns in spezifischen InstitutioAgenten in bezug auf die Klienten der Institution Krankenhaus (dessen Patienten) tätig werden.

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nen, nachzugehen. Dabei ist nicht der unerheblichste Aspekt der, daß Institutionen z.T. in sich strukturell widersprüchlich sind. Ja, eine ganze Reihe von ihnen werden gerade dadurch und erst dadurch befähigt, ihre Funktion als Transmissionsinstanzen der gesellschaftlichen Widersprüche, als „gesellschaftliche Apparate" (Poulantzas), wahrzunehmen. Wie eine Kommunikationsbefahigung der Klienten zu einer gesellschaftlichen Kompetenz hin zu befördern wäre, dies ist nicht einmal als Aufgabe bisher in seiner Vielschichtigkeit erkannt und beschrieben worden — geschweige denn, daß Lösungsmöglichkeiten dafür ersichtlich wären. Eines aber scheint bereits jetzt deutlich: daß derartige Ziele nicht ohne die Aufbringung der gesellschaftlichen Kosten für die allgemeinen kommunikativen Bildungsprozesse erreichbar sind. Der Versuch dazu, der die Probleme institutioneller Kommunikation durch eine Reihe von kommunikativen Taktiken, ja Tricks zu bearbeiten meint, hat nicht nur wenig Chancen auf dauerhafte Erfolge — er ist vor allem in einem Grundwiderspruch zur demokratischen Struktur befangen, dessen gesellschaftliche Verfestigung und Prolongierung mit dem Ausschluß vieler Mitglieder von den sie betreffenden Sachverhalten diese Mitglieder strukturell zur kommunikativen Passivität verurteilt. Es sieht nicht so aus, als hätte ein derartiges Konzept die Möglichkeit, sich historisch durchzusetzen — und zwar nicht einfach und nur, weil dies nicht wünschenswert ist, sondern vor allem, weil jener Grundwiderspruch den kommunikativen Anforderungen entwickelter Gesellschaften und ihrer Mitglieder nicht genügen kann.

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Kommunikationsanalysen: Bedingungen und Folgen

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c Kritische Rekonstruktionen

„Sprach"-Entstehung - sieben Thesen 1. Sprache/Zunge Ganz selbstverständlich sprechen wir von Sprache. Der Ausdruck Sprache ist ein unproblematisches Wort der Alltagssprache, kein terminus technicus, kein Element einer wie immer gearteten Fachsprache, kein des Spezialistentums und seiner Hermetik verdächtiges Wort. Als Verbalabstraktum zu Sprechen gehört es, betrachtet man es linguistisch-archäologisch, zum Grundbestand des Deutschen. Die etymologische Spurensuche führt über das mittelhochdeutsche spräche zum althochdeutschen spraha. Auch das Altenglische, das Altsächsische, das Altfriesische bieten Belege; im Englischen wurde das r elidiert — so kam es dort zu speech (wie beim Verb zu speak gegenüber sprechen). Insgesamt geht die Ausdrucksgruppe kaum über das Westgermanische hinaus; weitergehende Assoziationen sind eher spekulativ, wie der entsprechende Eintrag in Kluge/Seebold (S. 690f.) zeigt.1 Sprache ist also ein für das Deutsche altes Konzept. Mit der Bildungsweise ist zudem ein früher abstraktiver Zugriff in der Wortgeschichte erkennbar: Sprache wird an das Sprechen gebunden. Dies ist keineswegs der „Normalfall" bei der Bildung von Bezeichnungen für „Sprache". In einer ganzen Reihe von Sprachen ist der Ausdruck für „Sprache" durch eine einfache Metonymie gewonnen worden, indem die Bezeichnung für das Organ, das beim Sprechen besonders beteiligt ist, die Zunge, zum Wort für Sprache transformiert wurde. Dies gilt für das Lateinische und seine Derivate (lingua); es gilt aber bereits auch für das Griechische (glossa); es gilt für slavische Sprachen (z.B. russisch jayyk {Sprache)). Zwar ist auch hier eine Bindung an das Sprechen ersichtlich, eben an die Artikulation bzw. ihr Organ. Aber die in der Metonymie erhaltene Konkretisierung verlegt jede Abstraktion rein auf innere Bedeutungsveränderung. Auch für das Deutsche kann bis heute die Metonymie Zunge für „Sprache" gebraucht werden. Sowohl die Abstraktbildung Sprache wie auch die Metonymie Zunge sind sprachgeschichtlich alte, also den Spre1

Möglicherweise ergibt sich bei diesem westgermanisch-isolierten Befund ein weiterer Kandidat im Rahmen der Vennemann-Konzeption für einen Kontakt zum Semitischen, nämlich zu spr D-Stamm erzählen.

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Kritische Rekonstruktionen

cherlnnen allseitig vertraute Wörter. Diese, die Wörter, organisieren Wissen. Die kaum gebrochene Kontinuität der Konzeptualisierungen, die in Ausdrücken wie glossa und Sprache zu erkennen ist, zeigt eine Kontinuität auch des Wissens über Sprache.

2. Drei Herkünfte des Sprachkonzepts Nun sollte man meinen, daß angesichts der ungebrochenen Präsenz dieser Konzepte mit ihnen auch schon Wesentliches über das allgemeine Verständnis der Sache gesagt sei, jedenfalls aber erschlossen werden könne. Dem aber ist ganz offensichtlich nicht so. Vielmehr finden sich in den verallgemeinerten Auffassungen zu Sprache einigermaßen andere Vorstellungen von dem, was „Sprache" ist, als die Etymologie deutlich macht. Diese Konzepte beschränken sich nämlich keineswegs etwa auf ein Abstraktum, das aus dem Verbum sprechen entwickelt ist. Vielmehr sind sie von jenem theoretischen Traditionsstrang her geprägt, der mit dem griechischen Nachdenken über Sprache begann; und diesem ging es nicht primär um glossa. Vielmehr ergab sich die Notwendigkeit des Nachdenkens über Sprache aus verschiedenen Herkünften. Jede von ihnen gehört einem anderen Areal des antiken Gesamtwissens zu. Jede von ihnen speist sich aus anderen Voraussetzungen. Gleichwohl sind diese unterschiedlichen Herkünfte zu einer der ältesten Wissenschaften im vorderorientalisch-europäischen Kontext überhaupt, eben der Sprachwissenschaft, zusammengefasst worden. In jeder dieser Ursprungstraditionen waren andere Aspekte von Sprache fokussiert. Die Herausbildung von Sprachwissenschaft akzentuierte die Aspekte wechselnd und unterschiedlich. Das Reden über Sprache gewann seine konkrete Form, seine Terminologie und seine zentralen Ergebnisse genau aus diesen Grundfragestellungen und aus den mit ihnen und durch sie aufgerufenen Konzeptualisierungen. In verschiedenen Epochen ergaben sich durch die je anderen Fokussierungen andere Akzente für die Sprachwissenschaft, indem jeweils andere Aspekte des großen Phänomens Sprache insgesamt interessant und fragwürdig wurden: (a) Die Professionaüsierung des Redens am herausgehobenen Ort für die Entscheidungsfindung der polis eröffnete Möglichkeiten zu einer Loslösung von der alltäglichen Sprachverwendung, die ungeahnt waren. Die schwächere Sache redend zur stärkeren zu machen — oder gar das Schwarze durch Reden weiß erscheinen zu lassen und beliebigerweise umgekehrt das Weiße schwarz, und auch dies durch Reden: Das faszinierte und wurde als eigene Nachdenkensmöglichkeit über Sprache zu sehr praktischen Zwecken von den Rhetoren genutzt. Damit begann eine Nachdenkensge-

,Sprach"-Entstehung - sieben Thesen

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schichte über Sprache, die ein spezifisches Sprachkonzept enthielt - und die dies zugleich und bald schon verlor, indem die polis- Voraussetzungen des ganzen Geschäfts politisch obsolet gemacht wurden. (b) In der Kritik der systematisierten Lüge als äußerstem Horizont der Rhetorik gestaltete sich das Nachdenken über „das Wahre". War Plato, seinem redenden Vorbild und Lehrer Sokrates folgend, noch ganz der diskursiven Zurückweisung des Anspruchs der Rhetorik verpflichtet, demontierte er deren Technologisierung des Wortes, indem er in Dialogen die Brüchigkeit der Partialisierung der Wahrheit für beliebige Interessen infrage stellte, so zeigte sein Schüler Aristoteles in einer ähnlich profilierten Professionalisierung — nun aber eben der Gegenseite —, was ein wahrer und was ein falscher Satz sei. Dies tat er vor allem in seiner Schrift „peri hermeneias". Damit stellte er die Weichen für eine jahrtausendelange Praxisvergessenheit der späteren Linguistik - und dies, ohne es zu wollen, indem er einfach sein Erkenntnisinteresse umsetzte und bearbeitete. (c) Schließlich bedurfte die Bearbeitung der Grundtexte des Griechentums, ihrer Gründungsmythen Ilias und Odyssee, des Nachdenkens über Sprache. Die „Wortliebhaber", die Philologen, nahmen sich dieser Aufgabe an — und brachten es gleichfalls zu einer beträchtlichen Professionalität. Je brüchiger die politischen und ökonomischen Grundlagen jener griechischen Identität wurden, desto wichtiger wurde der philologische Beruf. Weitere Herkünfte wurden relevant. Durch die Fremdkulturbegegnungen, die semitische native speakers mit dieser Nachdenkenswelt erfuhren, veränderte sich der Horizont, veränderten sich die Fragestellungen der Linguistik ein Stück weit: Einzelne Stoiker sahen Aspekte der Sprache, die im professionellen Geschäft kein Interesse gefunden hatten. Ihr Nachdenken über Sprache freilich blieb Episode, bis dahin, daß noch heute ihr Argumentieren nur indirekt aus Zitaten und Zurückweisungen ihrer Gegner erschlossen werden kann. Die verschiedenen Traditionen sedimentierten sich zu einem Konglomerat von „Sprache". Dies Konglomerat bildet die Basis für das europäische Bild von Sprache, und die Sprachwissenschaft als eine der ältesten Wissenschaften mit einer ungebrochenen Kontinuität hat dieses Bild nachhaltig geprägt. Das, was über Sprache gedacht wird, bestimmt sich von hier aus. Die „Sprach"-Entstehung als Entstehung der grundlegenden Sprachkonzepte verdankt sich den eben bezeichneten Zusammenhängen. Eingespannt blieb dieses Nachdenken in ein Grundverständnis, in dessen Mittelpunkt gerade nicht allgemein die „Sprache", sondern das helleni^ein, das Griechisch-Sprechen stand. Alles andere Sprechen war demgegenüber nur ein „brbr"-Machen, eben das, was die anderen Völkerschaften hervorbrachten, wenn sie ihre Zunge bewegten, die Barbaren.

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Kritische Rekonstruktionen

Das Nachdenken über Sprache, aus dem die Grundlagen der Linguistik hervorgegangen sind, ist also zunächst einmal strikt ethnozentrisch. Auch wenn Aristoteles den Menschen als das den Logos habende Wesen bestimmt, so tritt er aus diesem Zusammenhang nicht heraus, wie nicht zuletzt die Behandlung der Sklaven zeigt.

3. gramma-tikalisierung Gehen wir diesen gedanklichen Zusammenhängen, die unser „Sprach"Verständnis zentral bestimmen, ein wenig weiter nach. Im Mittelpunkt des Nachdenkens über Sprache stand die philologische Tätigkeit. Diese nun aber war keineswegs am Sprechen interessiert; vielmehr lag ihr etwas anderes zugrunde: der zur Schrift geronnene Text der Gründungsepen. Eine reiche Literatur hat auf eine vorgängige mündliche Textualität verwiesen; als aber die damals noch recht junge Sprachwissenschaft sich mit den Texten befaßte, hatten sie diese Oralität längst verloren. Dies bedeutet: Es ist in Wahrheit nicht Sprache, nicht das Sprechen, über die das Nachdenken der Linguisten in Gang gekommen wäre. Lediglich die Rhetorik macht da eine Ausnahme. Diese aber wurde im Geschäft der Befassung mit Sprache zunehmend marginalisiert. Ansonsten liegt dieser Befassung mit Sprache vor allem eines zugrunde, der Buchstabe, gramma. Die „Technik" der Beschäftigung mit Sprache wird zu einer „Wissenschaft", indem sie als ihr Objekt den Buchstaben bestimmt. Sie ist grammatìké téchnè. Dies ist das Bild von Sprache, das das Nachdenken über sie in den folgenden Jahrhunderten bleibend determinieren sollte. Besonders die Synthetisierungen und Popularisierungen, wie sie etwa im Werk des Donatus zusammenfassend vorgelegt und tradierbar gemacht wurden, formten das Bild von Sprache, das wir bis heute unterhalten. Das Konzept „Sprache" also ist in einem sehr spezifischen Thematisierungsund Konzeptualisierungsprozeß entstanden. Gerade die Umsetzung der Wissensbestände, die Donatus überliefert, bis hin ins „Triviale", in den Grundunterricht, das Trivium der Ausbildung an den Universitäten, wurde zu einem Grundkonzept von „Sprache" verfestigt, das in unseren heutigen Wissens- und Wissenschaftssystemen geradezu selbstverständlich gehandhabt wird. Das Sprachverständnis, das sich in der professionellen Beschäftigung mit Sprache seit deren Anfängen herausgebildet hat, verdankt sich also mehrfachen Abstraktions- und Konzentrationsprozessen: Philologischkonservatorische, philologisch-hermeneutische und in einem engen Umkreis philosophische Konzeptionen entfalten ein ethnozentrisches Sprachkonzept. Dieses seinerseits nimmt Sprache als geschriebene Sprache wahr,

,Sprach"-Entstehung - sieben Thesen

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wie nicht zuletzt der terminus technicus der „Grammatik" zeigt. Die auf das Mündliche bezogene Beschäftigung mit Sprache, die Rhetorik, hat diese Verschriftlichung im Zuge ihrer Entfunktionalisierung erreicht; spätestens in der mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Welt wird Rhetorik paradoxerweise zur „literarischen Rhetorik", zur Lehre vom „Buchstaben-Reden".

4. Unhinterfragbarkeit Es gehört zu den Sedimentierungsprozessen der alten gesellschaftlichen Wissensprozesse, daß sie widerspruchsresistent werden. Dies gilt in zweierlei Weise: (a) Sie werden immunisiert gegen Widersprüche von außen, und (b) die in ihnen konglomerierten Einzelkonzepte und Teilsysteme koexistieren im Wissen ohne weitere Probleme, die doch die Kategorie des Widerspruchs als zentrales Movens wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung normalerweise aufruft. (Post-Modernität in den Wissenschaften kann in diesem Licht als Versuch zur artifiziell beschleunigten Herstellung solcher Sedimentierung gesehen werden). Insgesamt verlaufen beide Prozesse als Prozesse der Präsuppositionenbildung: Das Unhinterfragte wird zum Unhinterfragbaren. Bis in die Beschreibungssprache hinein wird dies deutlich: Die in der grammatischen Terminologie eingefrorenen je anderen Herangehensweisen an Einzelaspekte von Sprache koexistieren in der Lehre von den partes orationis bis zu den „Wortarten". Die neuere Linguistikgeschichte besonders seit 1800 arbeitet sich in wesentlichen Repräsentanten der Disziplin an diesen Widersprüchen ab.

5. Institutionalisierung Damit das Präsuppositionssystem „funktioniert", bedarf es der Institutionen, die es unterhalten. Diese Institutionen sind seit dem Erlöschen der tatsächlichen sprachbezogenen Dispute am Ausgang der Antike solche der Didaktik. Ein Text wie die ars minor des Donatus zeigt in der Einzelstruktur seiner Darlegungen die lebendige Vermittlungspraxis, in der die kategorialen Widersprüche prozessiert werden. Dies nennt man dann auch „pragmatisch". Es bedarf heute keines Triviums mehr, um die Kontinuität dieser „Sprach"-Auffassung zu gewährleisten. Als eine der ältesten Wissenschaften überhaupt ist die Linguistik in ihren Grundlagen dermaßen verallgemeinertes Wissen geworden, daß das Verständnis von Sprache im Alltags-

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bewußtsein als eine Ansammlung von Fragmenten jenes frühen Wissenschaftsprozesses verstanden werden kann. Die hauptsächliche Agentur dafür ist die Schule, und zwar besonders im Elementarunterricht. Wie sich gleich zeigen wird, gilt dies zudem für ein weiteres Abstraktionsfundament, dem auf die Spur zu kommen noch schwieriger ist. Da die „Sprach"-Konzeption, die im Alltagswissen und durch es unterhalten wird, so stark „wissenschaftlich" geprägt ist, vermag die Institution Schule ihre Propagierungs- und Tradierungsfunktion offensichtlich selbst dann zu realisieren, wenn der explizite Grammatikunterricht in einer Weise zurücktritt, wie das in den letzten 30 Jahren geschehen ist. Auch dann, wenn das schulische Curriculum Grammatik in die Randzonen und Anhänge von Lehrwerken und Unterrichtsplanungen drängt, bleibt die Präsenz des in der „Sprach"-Entstehung herausgebildeten Konzepts von Sprache erhalten — nun freilich noch stärker als bloßes Sediment, noch stärker fragmentarisiert - zugleich freilich auch so, daß Widersprüchlichkeiten als Problematisierung eher zu Tage treten, als dies im curricular fest verankerten Status von Grammatik der Fall war.

6. Alphabetschrift/Buchstabe, littera, gramma: Anfange der Anfange von „Sprach"-Entstehung Die bisher beschriebenen Prozesse sind aus den Dokumenten — zwar unter Aufwendung einiger Mühe, aber immerhin — insgesamt rekonstruierbar. Ein hermeneutisch geschultes, historisch aufmerksames und pragmatisch sensibilisiertes Herangehen an die Geschichte der Disziplin als einen wesentlichen Aspekt ihrer Gegenwart vermag nicht nur die Prozesse der Präsuppositionalisierung und Sedimentierung gleichsam wissensarchäologisch aufzudecken. Es vermag zugleich auch, in diesem Aufdecken deren Widerspruchspotenzial bewußt zu machen, so zu aktualisieren und erkenntnisgewinnend zu nutzen. Sehr viel schwieriger ist es, sich auf einen zweiten Abstraktionszusammenhang und seine Ergebnisse einzulassen. Die Herstellung einer Beschreibung und einer Beschreibungssprache für Sprache als verschriftete Sprache setzt bereits einen Abstraktionsprozeß voraus, der seinerseits durch eine geradezu „wilde" Geschichte von kommunikativen Bedürfnissen, Lösungsentwicklungen und, verbunden damit, Kontingenzen mannigfacher Art charakterisiert ist. Die wissenshistorische Rückschau zieht diese Entwicklungen - wie in den klassischen Schrifttheorien — (z.B. Gelbs „Von der Keilschrift zum Alphabet") — zusammen zu einem geradezu aufklärerisch-kontinuierlichen Entwicklungsprozeß zum „höchsten

„Sprach"-Entstehung - sieben Thesen

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Ziel" der Alphabetschrift hin. Die neuere Schrifttheorie ist demgegenüber skeptisch — zunächst einmal zu Recht. Sie verliert dadurch freilich zugleich nur allzu leicht aus dem Auge, daß in dem vereinfachten aufklärerischen Bild ein Rekonstruktionspotential liegt, das, entsprechend differenziert, durchaus in der Lage ist, jene innere Rationalität theoretisch zu erfassen, die zumindest das Ensemble von Kontingenz und gesellschaftlicher Problemlösearbeit in seinem Erfolg und seinem Nutzen bestimmt. Zur Kontingenz gehört, daß Sprachen unterschiedlichen Typs in den Prozeß der Verschriftung geraten sind. Es gehört auch dazu, daß die Zeitpunkte für die Nutzung überschießender Problemlösungsresultate im Angesicht neuer Problemstellungen günstig waren. Hier ist nicht der Ort, dies im Einzelnen zu demonstrieren. Zwei Beispiele nur und ihre unmittelbare Voraussetzung sollen illustrieren, worum es geht: die Entwicklung der Konsonantenrepräsentation in entstehenden Konsonantenschriften und die Einführung der Repräsentanz des Vokalismus in der Entwicklung von Alphabetschriften. Die entwickelte Konsonantenschrift, die der semitische Kulturraum — besonders am Kontaktrand mit der westlichen nicht-semitischen Welt, im palästinensisch-syrischen Gebiet, — bereithielt, war das Ergebnis eines Verschriftungsverfahrens, das sich weitgehend lese- und mnemotechnisch auf den Konsonantismus als Grundlage beziehen konnte: Die semitischen Sprachen haben gerade hierin ihr Spezifikum, daß sie die semantischen Grundinformationen an — meist drei — Konsonanten festmachen. Diese Konsonanten sind sozusagen die semantischen Grundbausteine der Sprache, gleichgültig, ob sie in den Wörtern am Anfang oder Ende der Silben stehen. Die Aufmerksamkeit der Sprechenden muss sich so verstärkt auf sie richten. Gerade hierin hatte die besondere Leistung der Transformation des kombinierten ideographisch-syllabographisch orientierten Systems Mesopotamiens gelegen, daß diese sprachliche Struktur als solche zu einer fundamentalen Ressource für Schrift gemacht wurde. Die sprachsystematische Vorgabe eines den Konsonantismus spezifisch nutzenden Sprachsystems war ganz ohne Zweifel entscheidender Motor für den Transformationsprozeß des schriftlichen Zeicheninventars — sobald nur der innovationsfeindliche Traditionalismus der überkommenen Spezialisten für Schrift seine schriftsoziologische Grundlage verloren hatte und — durch neue Schreibbedürfnisse anderer Aktanten - neue Problemlösungen überhaupt als nötig und lohnend erschienen. Die Ergreifung der Möglichkeit, die sprachsystematische Hervorgehobenheit eines bestimmten lautlichen Phänomens schrifttypkonstituierend zu nutzen, bedeutete für die gesellschaftliche Bewußtwerdung von Sprachstruktur einen unschätzbaren Gewinn.

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Bereits die Syllabifizierung der Schrift, ihre Begründung auf einer nicht zuletzt diffus erkannten phonologischen Struktur, hatte Schrift aus der holistischen Wahrnehmung herausgeführt und sie so als ein abstrahierendes Medium gegenüber der Laut-Bedeutungs-Einheit im sprachlichen Handeln konstituiert. Betrachtet man die Silbenschreibung im Akkadischen, so wird freilich deutlich, daß diese Herausbildung keineswegs einem systematischen Erkenntnisschub verdankt war. Vielmehr machen viele Schreibungen deutlich, daß dieses Verfahren gegenüber dem vorausliegenden ideographischen nur zögernd und als Notlösung realisiert wurde. 2 Demgegenüber stellt die Konsonantenschrift einen recht radikalen Schnitt dar: Das Verschriftlichungsverfahren als solches, vielfältig genutzt und mit Virtuosität gehandhabt, wurde zu einer prinzipielleren Abstraktionsleistung weiterentwickelt. Die Aufmerksamkeit der Schreibenden und Lesenden richtete sich auf ein abstrakteres Potenzial von Sprache, auf die Bindung semantischer Grundstrukturen an den Konsonantismus. Zugleich wurde dabei freilich eine spezifische Leistung des ideographischen Systems — und dies auf abstrakterer Stufe — wieder aufgenommen. Es stellte sich eine neue Beziehung von Bedeutungsstruktur und Schriftzeichenstruktur her. Anders als die sumerische oder die chinesische Entwicklung bedurfte diese Beziehung aber einer elementaren Bewußtmachung von dem Sprachzeichen inhärenten Speicherungsverfahren. Die Sprachbewußtheit konzentrierte sich nicht allein auf die Bedeutungsstruktur als solche und deren wie immer verfremdete zeichenmäßige Abbildung, sondern auf die Verlautlichung jener Bedeutungsstruktur. So wurden Querverbindungen im mentalen Lexikon zur Sichtbarkeit verdeutlicht. Daß dieses Verfahren zur konsequenten Visualisierung der lautlichen Struktur des Einzelwortes unter Einschluss der Vokale weiterentwickelt werden könnte, machte sich aber allenfalls in rudimentären ersten Schritten bemerkbar. So gab es im Ugaritischen drei Aleph-Zeichen für unterschiedliche Vokale. Erst der wiederum kontingenten Begegnung des entwickelten Systems der Konsonantenschrift mit einer teilweise anderen Sprachstruktur im Griechischen blieb es vorbehalten, diese Möglichkeit zu realisieren. Als Problemlösungsüberschuß erwies sich ein Mehrbestand an Buchstaben in den semitischen Konsonantenschriften gegenüber dem Konsonantismus des Griechischen. Die semitischen Sprachen (mit Ausnahme der akkadischen und der späteren phönizischen) exploitieren den artikulatorischen Gesamtraum in einem erheblichen Umfang, wobei auch der laryngale Bereich stark genutzt wird. Hierfür war im Griechischen kein 2

Es ist übrigens nicht uninteressant zu sehen, auf welche parallele Weise beim Transfer des chinesischen Zeicheninventars in den. japanischen Sprachbereich solche Problemlösungen entwickelt - und verfestigt - wurden.

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Bedarf. So konnte das Zeichen für den Konsonanten Aleph zum Repräsentanten des Vokals „a" werden, das Zeichen für den Konsonanten He zu dem für „(kurzes) e", das Zeichen für den Konsonanten Het zu dem für „(langes) e", das Zeichen für den Konsonanten cayin zu dem für „(kurzes) o". Vier laryngale Konsonantenzeichen gewannen einen neuen Stellenwert; die Umsetzungsbewegung erfaßte weiter die beiden Zeichen für die Halbkonsonanten Yod und Waw. Erst durch diese Umsetzung entstand das, was heute „Alphabet" heißt. Erst damit war jene Abstraktionsstufe erreicht, auf der von einer Buchstaben-Laut-Beziehung auf systematische Weise gesprochen werden kann. Zugleich war die in der Konsonantenschrift noch präsente, wenn auch ihrerseits bereits abstrakte Schriftzeichen-Semantik-Beziehung systematisch gelöst und Schrift zur entfalteten Wiedergabe der iMUtseite von Sprache und nur von ihr entwickelt. Das Nachdenken über die Lautlichkeit von Sprache einerseits und die Konzentration der Sprachbewußtheit auf die grammata, die Buchstaben, legte sich nahe. Sprache wurde zu einem Gegenstand einer isolierenden und isolierten Herangehensweise der Wiss ensgewinnung. 3 Die Bewegung der Buchstabentheorie „Grammatik" schrieb also ein Sprachverständnis fort, explizierte es, trieb es weiter voran und konsolidierte es, das in den Vertextungsstrategien und -bedürfnissen der sprachlichen Aktanten bereits zuvor seine Grundlage erhalten hatte. Die entwickelten Zeichen tragen die Bezeichnung stoicheia. Dieses Wort wird zugleich zur allgemeinen Bezeichnung für die Anfangsgründe von Kenntnissen überhaupt, ja, für die Elemente selbst. Dieser Fundierungszusammenhang, eingeschrieben in die Bedeutungsfülle des Ausdrucks stoicheia, enthält unausgeführt den Hinweis auf die primäre Grundlage des ganzen sprachbezogenen Wissens. Die Übersetzung ins Lateinische fügte dem, soweit wir sehen, konzeptionell nichts Wesentliches zu. Aus den grammata wurden die litterae; die Grammatik blieb ars grammatica.

3

Daß dies nicht die einzig mögliche Form der Entwicklung von Sprachbewußtheit und von Linguistik ist, zeigt die indische Situation, in der die abstraktive Konzentration auf die Laute im Bereich der Mündlichkeit erlangt wurde; dies sei als Warnung vor Ethnozentrismus in der Wissenschaftsgeschichte ausdrücklich betont.

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7. Bewährungen und Versehrungen - eine Abstraktionsgeschichte und ihre Weiterungen So konsolidierte sich ein Bild, das seine Wirkungen und seine Mächtigkeit für das Wissen von Sprache und das Denken über sie gerade dort am intensivsten entfaltet, wo es am wenigsten bewußt ist. Die Institution Schule und die mit ihr verbundenen Institutionen der Wissensorganisation und -weitergäbe bewähren sich als Agentur dieses Bildes — gleichgültig, wie intensiv Grammatik explizit thematisiert wird. Gerade in der Vermittlung der Techniken von Schreiben und Lesen werden immer schon die Grundlagen mitvermittelt, die das Sprachkonzept des Westens entscheidend prägen. Die Geschichte des „Sprach"-Bildes läßt sich unschwer als eine fast nicht gebrochene Erfolgsgeschichte lesen. Dies geschieht in der simplen Inanspruchnahme der Tradition als Denkkontinuität innerhalb der Linguistik. Diese Geschichte ist aber immer unverkennbarer auch eine Geschichte der Versehrungen — und zwar insbesondere in bezug auf das Objekt „Sprache" selbst. Die Konfrontation der Linguistik mit Sprachen von einem Typ, von dem sich die implizit immer noch dem helleni^ein verpflichteten Sprachwissenschaftlerinnen nichts träumen ließen, rief und ruft verschiedene Reaktionen auf. Von solchen der kolonisierenden Überwältigung, gar Extinktion, bis hin zur mühsam kaschierten Anpassung der Fakten an die Kategorien bieten sie ein breites Spektrum, in dem eines gemeinsam ist: Die Fülle von Sprache und sprachlichem Handeln so zuzuschneiden, davon dermaßen zu abstrahieren, daß die Kontinuitätsund Erfolgsgeschichte ohne Läsionen fortgeschrieben werden kann. Die Linguistik des 20. Jahrhunderts sah freilich zunehmend auch Verunsicherungen und erschütterte Selbstgewißheiten, sah das Entstehen einer neuen Nachdenklichkeit und ein mähliches Öffnen der Augen — und Ohren — für diese Fülle. Weit davon entfernt, die Reflexion über die „Sprach"-Entstehung bereits systematisch entfaltet zu haben, findet sich die Sprachwissenschaft doch in der herausfordernden Situation, daß um ihrer Sache selbst und um ihres eigenen analytischen Geschäftes willen ein Nachdenken über die Anfange, die arché, unabweisbar wird — und zwar nicht als Rückgang in einen Anfang als Anfang, sondern in einer Aufklärung dessen, was präsupponiert immer schon vor-gedacht wurde. Dieses reflexiv-kritische Geschäft ist tentativ — es bedarf der vielfaltigen Versuche. Die Versehrungen des Objektes zu überwinden, der Sprache ihr Recht zu lassen - dies ist nicht nur Aufgabe der Disziplin; es verlangt auch eine neue Sprachbewußtheit für die Vermittlungsinstitutionen und in ihnen, also nicht zuletzt für die Schule. Eine Aufgabe zu erkennen,

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zu benennen und in Angriff zu nehmen wird dann möglich, wenn sich die Selbstverständlichkeit des Selbstverständlichen auflöst und das Unhinterfragbare zur Frage gemacht wird.

Literatur Kluge, Friedrich (1919): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. 1989. Hg. v. E. Seebold. Berlin, New York: de Gruyter. Gelb, Ignace J. (1958 [engl. 1952]): Von der Keilschrift ψ/η Alphabet. Grundlagen einer Schriftwissenschaft. Stuttgart: Kohlhammer.

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„partes orationis quot sunt?" Donati de partibus orationis ars minor (Keil 1864, S. 355)

1. Linguistische Geschichtsverluste Die Sprachwissenschaft ist eine der ältesten Wissenschaften. Dies freilich wissen ihre Vertreter oft nicht. Rasante Entwicklungen, besonders im 20. Jahrhundert, haben dazu geführt, daß den Linguisten das Wissen von ihrer Geschichte und damit zugleich das Wissen über ihre Geschichtlichkeit weitgehend verloren gegangen ist. Vergleichbares ist nun sicher auch in einer großen Zahl anderer moderner Wissenschaftsdisziplinen der Fall, die sich in einer ,ewigen Gegenwart' kurzer, ja kürzester Zeiterstreckungen eingerichtet haben und schon den bloßen Gedanken an Geschichte für irrelevanzverdächtig halten. Bei ihnen aber ist die faktische Entwicklung oft durch eine größere Kontinuität gekennzeichnet, durch längere Zyklen, in denen sich grundlegende sachliche und sprachliche (vgl. Thielmann 1999) Veränderungen abspielen. Was als Grundlagenerkenntnisse gilt, ist weniger durch Umbrüche gekennzeichnet, als dies in der Linguistik der Fall ist. Für die Linguistik frappiert die Unbedachtheit, mit der das, was gestern im Mittelpunkt des analytischen Interesses stand, heute aus ihm verschwunden ist, während anderes, das gestern kaum auch nur theoretische Beachtung fand, heute zum Kerngebiet der Theoriebildung gehört. Ein Blick auf den Stellenwert der Kernkategorie wichtiger heutiger Grammatikkonzeptionen, auf den des Satzes, innerhalb einer linguistischen Leittheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Sprachkonzeption de Saussures, illustriert dies ebenso wie der Blick auf deren Kernkonzept, das sprachliche Zeichen: Als Phänomen der parole ist der Satz von günstigstenfalls nachgeordnetem Interesse; das Zeichen in der Saussureschen Auffassung

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als einer psycho-mentalen und in der Tendenz sozialpsychologischen Einheit hingegen ist für das Chomsky-Paradigma irrelevant und ohne jedes theoretische Interesse. Weitere Beispiele sind leicht beizubringen, die erkennen lassen, daß Neglekte und Sprunghaftigkeiten in der Theorieentwicklung eines der wenigen kontinuierlichen Merkmale der Linguistik im 20. Jahrhundert sind. Doch dies erweist sich bei einem näheren Blick eher als lediglich ein Oberflächenmerkmal einer Disziplin, die, wie gesagt, eine der ältesten Wissenschaften überhaupt ist. Unterhalb dieser Oberfläche lagern Sedimente einer Wissenschaftsentwicklung, die sich über 24 Jahrhunderte erstreckt. Zudem sind wesentliche Ergebnisse dieser Entwicklung geradezu in das allgemeine Wissen der vorderorientalisch-europäischen Kulturen eingegangen, also der griechisch, lateinisch und arabisch bestimmten Kulturen. Diese Wissenselemente haben ihren Status eines Spezialwissens verloren und bestimmen zu einem nicht unwesentlichen Teil das, was in den genannten Kulturen überhaupt, was allgemein als Wissen über Sprache gilt. Diese Umsetzung ist ein interessanter Prozeß, seine Konsequenzen sind von fast noch größerem Interesse — gewinnt doch wissenschaftliches Wissen, das seinen Wissenschaftscharakter verliert, zugleich erheblich an Reichweite. Vor allem aber verändert es im Übergang zum alltäglichen Wissen seinen Wissensstatus. Zu diesem Wissensstatus gehören (a) die Verankerung im Gesamtwissenssystem, (b) die Erstreckung und Verflechtung der jeweiligen Wissenselemente und (c) ihre Veränderbarkeit. Ist ein Wissenselement erst einmal Bestandteil des alltäglichen Wissens geworden, so ist es in ein „System" eingebettet, das sich durch andere Merkmale kennzeichnet, als dies für wissenschaftliche Systeme gilt. Es geht ihm nämlich gerade die Systematizität ab, die wissenschaftlichen Systemen — jedenfalls tendenziell und/oder dem Anspruch nach — eignet. Trotz dieser mangelnden Systematizität ist das ,System' des alltäglichen Wissens fest und kompakt. Dies betrifft vor allem die Erstreckung seiner Elemente; sie kennzeichnet eine partielle Verläßlichkeit, die sich nicht durch widerständige Wissenselemente einschränken oder gar in Frage stellen läßt. Alles, was in der Wissenschaft mit den elementaren Gesetzmäßigkeiten von Identität, Nicht-Identität und dem nicht-gegebenen Dritten als scharfes Werkzeug zur Entwicklung und Konsolidierung von Wissen und Wissenssystemen herausgebildet wurde, greift hier allenfalls in Einzelfallen und partiell. Andere Mechanismen herrschen und werden angewandt, um die Tauglichkeit des alltäglichen Wissens zu prüfen und seine Anwendbarkeit zu garantieren. Dies hat unter anderem Konsequenzen für die Veränderbarkeit

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des Wissens. Diese ist weniger durch die Schocks plötzlicher Erkenntnisgewinne gesteuert, die revolutionierend und weitreichend Wissenselemente, die als sicher galten, tangieren, an eine andere Stelle im System oder vollends außer Kraft setzen. Es ist wenig bekannt über die Veränderungen des alltäglichen Wissens, über seine Strukturen und Wirksamkeiten. Dies steht im Gegensatz zur Allgegenwärtigkeit dieses Wissens und zu seiner enormen Handlungsrelevanz.

2. Wissenschaftliches und alltägliches Wissen Diejenigen Teile des linguistischen Wissens, die am stärksten in das allgemeine Wissen übergegangen sind, sind nun meist nicht solche rezenter Theoriebildung. Vielmehr sind es gerade Ergebnisse aus den älteren Perioden der Linguistik, für die diese Übertragung statthatte. Selbstverständlich sind es aber auch dort keineswegs alle Aspekte des jeweiligen sprachwissenschaftlichen Denkens. Wissenselemente müssen bestimmte Bedingungen erfüllen, um erfolgreich ins allgemeine Wissen umgelagert zu werden. Diese können, bevor detailliertere Forschungen vorliegen, nur schwer hinreichend genau und umfassend angegeben werden. Möglicherweise ist Strukturnähe zu den unter (a) bis (c) benannten Merkmalen dabei von großer Bedeutung. Eine wichtige Rolle spielen aber auch wissenssoziologische Faktoren, insbesondere solche meso- und makrosoziologischer Art. So ist etwa der Institutionalisierungsgrad und die Institutionalisierungsdauer der Vermittlungsagenturen wichtig. Um ein Beispiel zu nehmen, das nur zum Teil linguistischer Art ist: Die Rhetorik verfügte —gerade nach dem Verlust vieler ihrer genuinen Praxisbereiche, vor allem nach dem Wegbruch der Bedeutung der Polis für Recht und Politik und deren rednerische Erfordernisse — über eine inzwischen hinreichende Institutionalisiertheit, die es ihr ermöglichte, eine erhebliche Breitenwirkung in veränderten soziologischen Umfeldern zu erlangen und so den Transport vieler ihrer Kategorien in ein umfänglicheres gesellschaftliches Feld zu ermöglichen als das ihrer unmittelbaren Vermittlungszusammenhänge. Eine herausragende Rolle spielen dabei Initiierungsinsütutionen, also die ,Schulen' (und dies nicht nur im heutigen Sinn als Einrichtungen für Kinder, sondern gerade auch für ,Erwachsene', also Akademien und ähnliches). Ist vor allem eine Übernahme von Teilen des wissenschaftlichen Wissens in einer rudimentarisierten Form in die organisierte Form der Wissensvermittlung an die nächste Generation eingetreten, so ist der Übergang ins allgemeine Wissen möglich, ja wahrscheinlich. Nennen wir dies die Curricularisierung des entsprechenden Wissens. Die Curricularisierung von Wissenselementen verlangt zugleich Reduktion von Wissenskomple-

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xität und Progressionalisierung des Wissens, das heißt die Umsetzung in eine nachvollziehbare Abfolge von Lernschritten. Dies bedeutet eine — wie immer bescheidene — Systematisierung ohne weitergehende Ansprüche; das wiederum ist ein wichtiges Merkmal für alltägliches Wissen. Genau zu benennen, wann wissenschaftliches Wissen transportabel für die Übertragung ins alltägliche Wissen ist, ist schwierig. Empirische und kategoriale Forschung ist unabdingbar, um hier weiterzukommen. Wenn aber Wissenselemente aus der Wissenschaft in das alltägliche Wissen übergegangen sind, so kann man dieses Ergebnis zugleich als einen Ausgangspunkt für eine analytische Bewegung in zwei Richtungen nehmen: eine rekonstruktive und eine progressive, in der prospektiv absehbare Konsequenzen aus dem Alltäglichkeitscharakter und dem Umgang damit erwogen werden. Vor allem die rekonstruktive Annäherung an den Gegenstandsbereich vermag lehrreich zu sein. Sie soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen.

3. Intrinsische Bedeutungen Schon von ihrer Wortgestalt her fallt eine kleine Gruppe von linguistischen Termini auf, die in den schulischen Curricula weithin und weiterhin verankert waren und sind. Es sind die Ausdrücke, mit denen die sogenannten ,Wortarten' bezeichnet werden, also Wörter wir Substantiv und Nomen, wie Artikel und Interjektion — und so weiter. Auf exemplarische Weise sind sie Bestandteil jenes antiken Erbes, das sich bis heute als leistungsfähig bei der Befassung mit Sprache erwiesen hat. Diese Termini sind längst über den engen Kreis der Linguisten und Linguistinnen hinaus im Gebrauch, und sie werden — anders als etwa vergleichbare philosophische Termini — von sehr vielen Sprecherinnen als Mittel zur Verständigung beim Reden über Sprache eingesetzt. Die Menge dieser in das Alltagswissen übergegangenen Ausdrücke ist im einzelnen nicht ganz genau zu bestimmen. Doch ist etwa am Unterschied zwischen den Ausdrücken Genus verbi und Diathese deutlich, daß keineswegs umstandslos alle solchen Termini einfach in dieselbe Gruppe des Alltagswissens gelangt sind — obgleich ihr terminologischer Status in der antiken Sprachtheorie nicht unbedingt weit auseinanderliegt. Schon daran wird ersichtlich, daß die einzelnen Ausdrücke eine je spezifische Rezeptions- und Nutzungsgeschichte haben. (Für deren Rekonstruktion enthält die Monographie Matthaios 1999 über ihre unmittelbare Thematik hinaus eine Fülle wichtiger Materialien.)

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Bis in die gegenwärtige semantische Vernetzung hinein weisen viele dieser Ausdrücke eine je spezifische intrinsische Bedeutung auf. Sie läßt sich für jeden einzelnen derartigen Ausdruck rekonstruieren, und zu einer solchen Rekonstruktion sollen im folgenden an einigen Beispielen exemplarische Ansätze entwickelt werden. Diese intrinsische Bedeutung liegt nicht einfach auf der Hand, und sie ist auch nicht einfach mental mit präsent, wenn der Ausdruck heute verwendet wird. Es ergibt sich also für die Semantik dieser Ausdrücke eine eigenartige Doppelheit: Einerseits gewinnt ihre Bedeutung über die extensionale Faßbarkeit der durch sie bezeichneten sprachlichen Phänomene. So werden die entsprechenden Wörter von den heutigen Sprecherinnen gelernt, mit dem Ergebnis, daß nach einer entsprechenden — meist schulischen — Vermittlung etwa eine Zuweisung des Ausdrucks Substantiv zu Wörtern wie Tisch und Stuhl., aber auch zu Ausdruck oder Vermittlung möglich wird, während lernte oder aber dieser Gruppe nicht zugerechnet werden — und so weiter für andere Ausdrücke wie Pronomen oder Adverb und die anderen ,Wortarten'. Dabei ist die Zuweisungsgenauigkeit und -einfachheit für die Mitglieder der Sprach- und Wissensgemeinschaft nicht für alle Wortarten gleich einfach und unumstritten. Dies gilt im übrigen nicht nur für die nichtprofessionellen Nutzer der entsprechenden Ausdrücke. Auch die linguistischen Fachleute haben durchaus (weiterhin) Schwierigkeiten bei der Klassifikation einzelner Wortarten, etwa bei Wörtern wie mele oder manche oder auch bei Ausdrücken wie so oder vielleicht oder hm. Doch im Prinzip ist ein solcher extensionaler Gebrauch der entsprechenden alltagswissensmäßig verallgemeinerten Ausdrücke zur Bezeichnung von Wortarten durchaus möglich und weithin praktikabel. Andererseits eignet den Ausdrücken jene jeweilige intrinsische Bedeutung. Ich werde sie nicht im Carnapschen Sinn „intensional" nennen, weil zu dieser Intensionalität mehr gehören würde als jene semantischen Aspekte, um die es mir hier geht. Auch insgesamt ist sowohl semantisch wie sozusagen „bedeutungspsychologisch" Intensionalität bisher weder systematisch oder auch nur in einem einzelne Beispiele übersteigenden Sinn geklärt oder über Umrisse hinaus theoretisch verdeutlicht und präzisiert worden. Wenn ich vielmehr den Ausdruck „intrinsisch" verwende, so geht es mir um semantische Aspekte, die vor allem als eine Art verborgenes semantisches Potential zu beschreiben sind, das sich in der Verwendung der Ausdrücke vielfach, vor allem aber restriktiv, umsetzt. Die intrinsischen Bedeutungen der Wortarten-Termini gehören zur Faktizität dieser Wörter; sie erreichen aber für die Nutzer der Ausdrücke nicht jenen Grad von Deutlichkeit, der in der extensionalen Zuweisungspraxis erkennbar ist. Daß sie gleichwohl eine ähnliche handlungssemanti-

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sehe Präsenz haben, macht sich vor allem bei ihrer Wiedernutzung innerhalb der Linguistik exemplarisch deutlich.

4. Intrinsische Bedeutungen und Bedeutungsgruppen bei einigen Wortarten-Termini 4.1 Griechische und lateinische Bedeutungspotentiale Die grammatischen Termini verdanken sich im wesentlichen ihrer primären Entwicklungsphase, die die griechische Grammatikgeschichte ausmachte (vgl. z.B. Robins 1967). Diese setzt — nach vorauslaufenden Anfängen besonders bei den Sophisten - mit der klassischen Phase der griechischen Philosophie bei Piaton und seinem wichtigsten Schüler, Aristoteles, ein und zieht sich über die stoischen und die alexandrinischen Phasen bis in die römische Zeit hinein. Vor-byzantinisch ist sie zu einem inneren Abschluß gekommen. Durch die politische Unterwerfung der griechischen Welt unter die militärische Supermacht im 2. Jh. v. Chr., Rom, geriet mit den meisten intellektuellen Sphären der Griechen auch die Befassung mit der Sprache in einen unfreiwilligen intensiven Kontakt zur römischen Welt, bzw. dieser gewann eine hegemonial bestimmte neue Qualität. Deren militärische und administrative Suprematie ging bei den Eroberern mit einem durchgehenden Gefühl, ja Bewußtsein der kulturellen Unterlegenheit einher. Zunächst wurde das entwickelte griechische Wissen übersetzt. Nach einer ersten, allmählichen eigenen Entwicklung der römischen Linguistik, die zaghaft in Gang kam, geriet diese bald darauf bereits wieder ins Stocken und verlor sich in einem griechisch-römischen synkretistischen Theoriehorizont. Die Umsetzung der griechischen Terminologie in das Lateinische erfolgte unsystematisch. Sie geschah einerseits durch das Aufsuchen von .Äquivalenten', andererseits durch die Entwicklung einer intensiven Entlehnungspraxis. Diese beschränkte sich nicht auf das Verfahren der Lehnübersetzung (rhema —• verbum; onoma —> nomen; epirrhema —• adverbum). Sie behielt z.T. vielmehr die griechischen Ausdrücke bei und latinisierte sie nur in der Schreibung und in der Morphologie (téchnë grammatiké —» ars grammatica). Besonders beim Verfahren der Lehnübersetzung gerieten freilich durch den Übertragungsprozeß neue semantische Aspekte in das semantische Gesamtbild. Dies gilt es in Erinnerung zu behalten, wenn es um eine

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rekonstruktive Semantik der aus dem Griechischen entnommenen Ausdrücke geht.

4.2 Präposition Eine Wortarten-Kategorie wie Präposition mutet analytisch geradezu harmlos an: „Vor-Gestelltes", „Voran-Stellung". Die Wortart wird nach ihrer topologischen Struktur in der Rede charakterisiert. Dies ist eine im elementaren Sinn syntaktische' Bestimmung, eine Bestimmung, die die Anordnung, die Zusammenstellung' von einzelnen Wörtern im ,Satz' betrifft. Freilich: die Bestimmung geschieht bereits mit Blick auf eine vorgängige, als solche aber nicht ausgesprochene Unterstellung von Zusammengehörigkeit, die im bloßen Nacheinander der Äußerung zwar auch ausgedrückt ist, aber als solche nicht markiert wird. Es ist der Bezug zu einem Nomen (oder Pronomen), auf den hin die „Position" bestimmt wird. Wenn und nur wenn diese Zusammengehörigkeit funktional bekannt ist, läßt sich die Kategorisierung als „Voran-Stellung" gewinnen. Es sind also zwei Kategorisierungsparameter, die in der Kategorie Präposition wirksam sind: ein topologischer und ein funktionaler, der die Topologie bestimmt. Der Terminus bezieht sich auf den ersten Blick nur auf den ersten, hat den zweiten aber als notwendige Voraussetzung. Anders gesagt: Die Kategorie ist kryptofunktional. Problematisch wird die Kategorie dann, wenn die sprachlichen Tatsachen der Bestimmung nicht entsprechen — im einfachsten Fall dann, wenn sich die Topologie umkehrt, die Präposition also hinter dem Nomen steht. In Postposition, „Nach-Gestelltes", „Nach-Stellung", wird dem Rechnung getragen. Dabei haben die beiden Präfixe prae und post den Vorteil, daß sie nicht nur topologisch, sondern auch chronologisch interpretiert werden können, als vor- oder nachgängig. Dies ist freilich für die Grammatik lange kein Problem gewesen, weil es ihr um Chronologie, also um die zeitliche Abfolge von Äußerungselementen in der Rede, nicht ging; denn die Grammatik war ausschließlich, wie wiederum ihr Name erkennen läßt, auf Schriftlichkeit bezogen — und ist es bis heute: ars grammatica/téchnë grammatiké, die auf die Buchstaben, die auf das Geschriebene bezogene ,Technik'. Freilich bleibt die funktionale Bestimmung der Präposition, sobald deren bloße Zusammengehörigkeit mit dem Nomen, das ihr folgt, näher charakterisiert werden soll, weitere Auskünfte schuldig. Unverkennbar ist die Kasualität, die den Nomina im Griechischen wie im Lateinischen eig-

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net. Da die Präposition diesen Kasus .zuweist', wird eine Herrschaftsmetaphorik für dieses Verhältnis in Anwendung gebracht: Die Präposition χ .regiert' den Kasus y. Es versteht sich, daß diese Bestimmung nicht nur für Sprachen wie das Deutsche oder — partiell — das Baskische übertragen wird, in denen es Kasus in unterschiedlichem Umfang gibt. Auch für Sprachen wie das Englische und das Französische wird mit diesen Bestimmungen gearbeitet — bis dahin, daß die Präpositionalität bestimmter Konstruktionen, denen im Griechischen und Lateinischen Kasus entsprochen' hätten, als „Genitiv" oder „Dativ" interpretiert werden, um so den Paradigmenstandard im Gebrauch zu halten. Die Kategorie Präposition bezieht sich lediglich auf das ,regierte' flektierte Nomen. Dadurch wird ein anderer wichtiger Aspekt ausgeblendet. Die in der Präpositionalgruppe vorhandenen Elemente verlangen in vielen Füllen ein weiteres Nomen, das etwa im Nominativ im Satz vorkommt. Gerade die häufig elementare Relationalität im Raum ist nur als eine solche mehrstellige Relation beschreibbar. Das Reden von der „Prä-position" blendet diese Relation aus und verkürzt sie zur topologischen Kontiguität.

4.3 Interjektion Gleichfalls topo- bzw. chronologisch ist die Kategorie „Interjektion", die „Dazwischen-Werfung" das „Dazwischengeworfene". (Die niederländische Übersetzung lautet genau so: „tussenwerpsel".) Während aber bei der Präposition immerhin eines der topologischen Bezugselemente deutlich ist, bleibt hinsichtlich der Interjektion unklar, zwischen was die Interjektion geworfen wird. Die Bezeichnung orientiert sich also an etwas, das als solches unbezeichnet bleibt. Das „Zwischen" gewinnt dadurch einen eigenen Stellenwert: Es ist das kategorial ,Störende', die Unterbrechung eines erwarteten Normalablaufs, das im Ausdruck zur Geltung gebracht wird. Diese Störung oder Verstörung ist weniger eine der Kommunikationspartner; gestört wird die kategorisierende Tätigkeit der Linguisten. Diese sind auf die Wortart „Interjektion" ohnehin, wie man schon früh vermutete, durch eine Verlegenheit gestoßen, die nämlich, daß im Lateinischen mit dem Artikel eine der kanonisch gewordenen acht Wortarten fehlte. In der griechischen Grammatik-Schreibung waren sie umstandslos den „epirrhemata", den „Adverbien", zugeordnet worden (vgl. Dionysius Thrax 1883), dort freilich in einer insgesamt diffusen Klassifikation nicht weiter herausgehoben. Die lange Geschichte der Interpretation der „Inter-

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jektionen" (vgl. Ehlich 1986, § 6) ist eine einzige Fortsetzung der klassifikatorischen Verlegenheit.

4.4 Adverb Auch diese Bestimmung sieht wie eine topologische aus, doch ist sie das nicht; vielmehr handelt es sich um eine, wenn man so will, systematische Nähebeschreibung. Adverbien gelten als — undeklinierte — Ausdrücke, die in einer wie immer im einzelnen auch gearteten Beziehung zu den „rhemata", zu den Verben, stehen. Die Argumentation wird klassisch bei Apollonius Dyskolos („peri epirrhematon", 1878) greifbar: indem sich Apollonius auf die diathesis bezieht, gewinnt er wenigstens den Versuch einer systematischen Zuordnung. Diathesis ist einerseits ein Ausdruck für einen ,Gemütszustand', andererseits für die genera verbi. Beides wird in diesem Ausdruck und durch ihn miteinander verbunden, und so sagt Apollonius: ...pati pathos ginetai ek tinos diatheseos, idion de ton rhematon diathesis, hai en kata toyto ge palin epirrema to omoi, epei diathesin ten ek rhematos anapempomenen eiche. (Schneider 1878, S. 127, Z. 14ff.)

Übersetzung: Jede Leidenschaft entsteht aus einer diathesis, die diathesis ist eine Eigenschaft der Verben (rhemata); folglich ist ein Ausdruck wie omoi epirrema, ad-verbium...

Dies gelingt selbstverständlich nur für jene Ausdrücke, die sich auf einen Gemütszustand beziehen. Was sonst noch alles — und auf welchem Wege — mit dem Verb in Beziehung gesetzt wurde, ist äußerst vielfältig — und schon bei den Griechen eher Ausdruck einer Unklarheit als einer möglichen Klassifikation. Dionysios Thrax unterschied immerhin 26 verschiedene Adverbialklassen; die ohne Zweifel interessanteste ist die letzte mit dem Beispiel ,eyhey', die Adverbien „theiasmoy", Adverbien, die bei den orgastischen bacchantischen Festen ausgerufen wurden - mit anderen Worten: sprachliche Ausdrücke der Besoffenheit. Die mühselige Geschichte der Ausdifferenzierung einzelner Klassen von Adverbien, die als wichtiger Beitrag der jüngeren Linguistik im Bereich der Wortklassifikation angesehen werden können, zeigt, welchen Aufwand die präzisere Bestimmung dessen bereitet, was die systematisch dem Verb zugeschlagenen Ausdrücke alles funktional kennzeichnet. Schon die Unterscheidung von Satzadverbien versus Adverbien macht deutlich, daß man sich hier auf unterschiedlichsten analytischen Stufen bewegt — und dies bis heute.

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4.5 verbum, rhema, nomen, onoma - und substantivum Beim Adverb hat sich gezeigt, daß die Zuweisung keine positionale mehr ist, sondern eine Art funktionaler Subsumption darstellt. Darin wird Bezug genommen auf eine ,Wortart', deren Bezeichnung - besonders in ihrer lateinischen Fassung — geradezu frappant ist: ,verbum', das Wort. Das Wort schlechthin ist hier im Spiel. Damit erhält das Verb eine Bezeichnung, die ihm sozusagen den Stellenwert eines Proto-Wortes zuweist. Interessanterweise entsprechen dem lateinischem verbum gleich zwei griechische Ausdrücke, nämlich rhema und logos. Im grammatischen Zusammenhang ist es das rhema, das gemeint ist, nicht der logos, für den andererseits etwa am Anfang des Johannes-Evangeliums das (neutrale!) verbum eintritt. ,rhema' ist das ,konkrete Gesagte' {-ma-Bildung zum Stamm rhe, reden, sprechen, sagen). ,verbum' erhält das neutrale Element der -¿%z-Bildung, kann sie aber nicht lehnsbildnerisch abbilden, da ein vergleichbar genutztes Grundwort fehlt. Das konkrete Gesagte entpuppt sich als auf das engste verbunden mit der ^Aussage', mit der ,Prädikation', mit dem ,Prädikat'. Gleichwohl bleibt jenes kategorial geschieden. Die Ernennung des Verbs zum „rhema" verleiht ihm ein Gewicht, das keiner anderen Bezeichnung in vergleichbarer Weise zukommt. Hier wird auf sehr spezifische Art Sprache theoretisch gefaßt: Sie bildet den Fokus der kategorialen Bemühung, läßt sich selbst freilich im Unklaren über das, was in ihr geschieht. Durch die Übertragung ins Lateinische lösen sich diese Bezüge tendenziell auf; es bleibt das ,Wort' als eine Art erratischer Block in der Kategorisierungslandschaft stehen. Ähnliches liegt beim ,nomen' oder, griechisch, ,onoma' vor. Beides bezeichnet nichts weiter als den ,Namen'. In romanischen Sprachen ist diese Gleichheit bis heute erhalten (vgl. französisch .nom1). Der Name ist ohne Zweifel eine ähnliche sprachliche Kategorie wie verbum und rhema. Allerdings: Er bezieht sich zunächst und vor allem auf Individuen, denen er spezifisch zugehört. Die Namen von Städten, Bergen, Flüssen und so weiter partizipieren an diesem Grundmodell, was über die Mythologie dann in einem festen metonymisch-metaphorischen Gewebe noch verfestigt wurde. Vom Namen aus und der Beziehung, die er zu einem Individuum hat, ergibt sich hier ein Modell für eine ähnliche Beziehungsstiftung zwischen anderen Ausdrücken und ,Individuen'. Diese müssen nicht z.B. Mensch oder Stadt sein; sie teilen aber mit dem Menschen elementare Merkmale wie Einzelheit, klare Abgegrenztheit, eindeutige Identifizierbarkeit. Es ist das einzelne Exemplar, das sich der Analogisierung am günstigsten darbietet. Dies schlägt in eine theoretische Bestimmung um. Eine Namentheorie

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wird zur Grundlage der Interpretation von Nomina. Was sich diesem Interpretament entsprechend verhält, ist leicht klassifizierbar — was nicht, erweist sich als widerspenstig und schwierig. Mit dem Namensmodell für die Nomina ist also eine Referentialisierung der sprachlichen Sachverhalte zustande gebracht, die für die Folgezeit von erheblicher analytischer Bedeutung werden sollte. Es bedurfte einer nicht unerheblichen Strecke der griechischen Entwicklung, bis dieses analytische Konglomerat einer Kritik zugeführt wurde. Erst die mittlere Stoa (2. Jh. v. Chr.) wurde auf die problematische Klassifikation aufmerksam und führte das „onoma" wieder in sein eigenes Recht zurück, indem sie es lediglich zur Bezeichnung des Namens verwendete und davon die Klasse der „prosegoria" absonderte — eine Distinktion, die sich nicht lange hielt, allerdings in einer zusammengesetzten Form in einem der obskursten grammatischen Termini, als „nomen appellativum", als Ansprech-Nomen (im Sinn von Bezeichnungs-Nomen) später wieder auftauchte, „prosegoria" stand und steht für jene Nomina, bei denen zwischen einzelnen Exemplaren und der ,Gattung' zu unterscheiden ist, also etwa ,Baum'. Die referentiellen Konsequenzen freilich wurden dadurch nicht zentral berührt; es ist eher eine unabdingbare Adaptierung, die in den Bemühungen der mittleren Stoa zu erkennen ist, und dies im übrigen nicht nur hier: Gerade die Stoiker nahmen viele der Bezeichnungen kritisch beim Wort, dies nicht zuletzt wohl auch aufgrund einer durch Zweisprachigkeit bedingten erhöhten sprachlichen Sensibilität. Die Analogie-Bildung war also fest; ihr Kernstück ist eine sprachlichontologische Kopplung zwischen einem sprachlichen Zeichen und einem klar umrissenen Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Bei, trotz und z.T. gegen alle Differenzierung, die die lange Geschichte des griechischen Denkens über Sprache kennzeichnet, ist dieses Grundmodell als linguistisches Erkenntnisverfahren in einer überwältigenden Stringenz und Unerschütterbarkeit durch die vorderorientalisch-europäische Linguistik-Geschichte durchgehalten worden — und wird es bis heute. Dieses Modell gewinnt eine weitere Zuspitzung in dem dem nomen zunächst attribuierend zugefügten „substantivum". Hier erfolgt, insbesondere in der lateinischen Fassung, eine entschlossene Stärkung und Verfestigung der ontologischen Seite der Klassifizierung, „substantia", das „Darunter-Stehende", die „hypo-stasis", ist jener Grund des auf Unveränderlichkeit setzenden philosophischen Verfahrens, das den Mainstream griechischen Philosophierens ausmachte. Mit anderen Worten, hier liegt Ausgangspunkt und bleibende Präsenz jener Verdinglicbung, jener hypostasierenden Tendenz der Interpretation von dem, was ein ,Substantiv' zu

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sein habe, eben ein (wie es die deutsche Schulterminologie dann auszudrücken versuchte) ,Dingwort'.

4.6 Pronomen Damit das „pronomen" zur grammatischen Kategorie geraten kann, bedurfte es der vorgängigen Etablierung der eben bezeichneten „Nomen"Nomenklatur. Denn in dem Ausdruck wird der Ausdruck „nomen" als grammatisch vorhanden vorausgesetzt. Entsprechend ist im Griechischen die Benennungsqualität des onoma in der Bezeichnung ant-onymia gegenwärtig. Es ist die Technë des Dionysios Thrax, in der diese Kategorisierung kodifiziert wird. Bis heute wird die intrinsische Bedeutung des Ausdrucks „pro-nomen" intensiv genutzt, „anti" bzw. „pro" hat die Bedeutung des ,statt', ,an Stelle von'. Dies ist gemeint — und wird in der allgemeinen Bezeichnung ,für' nur unzureichend bzw. ambivalent wiedergegeben. Hier schlägt die Standardübersetzung von lateinischem „pro" stärker durch, als die eindeutige griechische Bedeutung von „anti" es erfordern würde. Die Stellvertretung, um die es sich hier handeln soll, ist nun gleich in mehrfacher Weise problematisch: Die Ausdrücke, die als Pronomen klassifiziert werden, unterstellen, daß hier ein Ausdruck für einen Ausdruck der Klasse ,Nomen' eintritt. Damit wird der Fokus klar auf bestimmte, in ihrer Verwendung beim sprachlichen Handeln sich charakteristisch heraushebende sprachliche Ausdrücke gelegt. Die Pronomina werden flektiert, sind andererseits ersichtlich den Nomina nicht gleich. Die Paradigmenbildung unterscheidet verschiedene Subklassen, deren Charakterisierung erfolgt nach einem ganzen Bündel von Kriterien. Einige der wichtigsten Klassen können diese Unterschiedlichkeit gut illustrieren: Das „pronomen possessivum" bezieht sich auf eine ontologiche Verhältnisbestimmung, eben die Relation des Besitzes, wie sie in der wirklichen Welt von urbs und orbis aufzufinden ist. Das „pronomen relativum" hat es hingegen mit einem sprachlichen Verhältnis zu tun, der sprachlichen Beziehung zwischen dem, was dem pronomen relativum (meist) folgt, und dem, was ihm vorausgeht. Das „pronomen interrogativum" bezieht sich auf einen spezifischen illokutiven Typ, die Frage, und bezeichnet dort das, was in der Äußerung als nicht-gewußt, aber wissenswert gekennzeichnet wird. Am schillerndsten ist das „pronomen personale". Die ,Personen'-Lehre, die, christologisch gewendet, über Jahrhunderte zu einem Kernproblem der frühen griechischen Christenheit werden sollte, entwickelt sich aus

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einem theatertechnischen Konzept. Dies wird im lateinischen Terminus „per-sona", das, durch das der Schauspieler „hindurchtönt", noch deutlicher als in der griechischen Vorlage, dem „pros-opon". Dies (vgl. Ehüch 1979, § 9.2.1.2) ist zunächst das Angesicht, dann aber eben gleichfalls theatralisch das auf dem Theater sichtbar gemachte Angesicht, die Maske. Von hier aus wird der Ausdruck zur Bezeichnung für die Rolle, dann die theatralische Person — und dies alles ist geradezu das Gegenteil von dem, was sich heute mit,Person' oder gar Persönlichkeit' verbindet. Die genaue Spezifizierung der grammatischen Übertragung ist (vgl. Ehlich 1979, S. 723f.) nicht ganz einfach. Jedenfalls wurde ,Person' zur Grundkategorisierung für die Paradigmenverteilung einer Gruppe von Ausdrücken, zu der sowohl „ich" und „du" wie „er", „sie", „es" gehören. In der noch offenen Diskussion der ersten Phasen einer theoretischen Begründung und Interpretation dieser Ausdrücke in der griechischen Tradition waren die „Rollen" recht klar verteilt: zeigende (deiktische) und anaphorische (rückbeziehende). Gerade diese Erkenntnis ging in der Homogenisierung des Paradigmas dann folgenreich und fatal verloren, um erst in der Linguistik des 20. Jahrhunderts allmählich substantiell wiederentdeckt zu werden. Das Resultat der begrifflichen Verwirrung, die im Konzept der ,Personalpronomina der 1., 2. und 3. Person' geronnen ist, ist eine in dreifacher Weise unzutreffende Kategorisierung: Die ,1. und 2. Person' weist keinerlei .pronominale' Funktion im Sinn jener Stellvertretung auf, die der Ausdruck von seiner intrinsischen Bedeutung her insinuiert. Die ,3. Person' hat in den allermeisten Fällen nichts mit ,Personen' zu tun. Schließlich ist das „anti-"Verhältnis falsch bestimmt: Es steht das Pronomen nicht für ein ,Nomen', sondern für eine Nominalphrase. Diese fällt im artikellosen Latein häufig umstandslos mit dem Nomen zusammen — freilich zum Schein, denn die Unterschiede zwischen Wortklassen („Wortarten") und „mere toy logoy", „partes orationis", „Redeteilen" gilt selbstverständlich auch für das Lateinische, auch wenn es dort weniger deutlich an der sprachlichen Oberfläche ablesbar ist als im Griechischen und im Deutschen.

5. partes orationis Die Unterscheidung zwischen ,Wortarten' und ,Satzteilen' verweist zugleich auf ein weiteres fundamentales Problem, das sich aus der antiken Tradition fortwirkend bis heute ergibt. Die genannte Unterscheidung ist eine, die in dieser Form erst in der deutschen Grammatikschreibung insbesondere des 18. Jahrhunderts vorgenommen wurde (vgl. Knobloch

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1990; Knobloch/Schaeder 2000; Kaitz 2000) - mit Sinn und zu Recht. Zuvor und weiterhin für andere nationalsprachliche linguistische Wissenschaftstraditionen erweist sich die partes-orationis-Lehre als ein kaum minder ,verfilztes' Präsuppositionengeflecht als der Bereich des Pronomens. Die Auswirkungen der intrinsischen Bedeutungen scheinen hier fast noch drastischer zu sein. Doch die Fragen und Probleme, die damit — wie mit den .Wortarten' insgesamt — verbunden sind, sind ein weiteres Kapitel jener präsuppositionellen Strukturen, die in und mit den intrinsischen Bedeutungen antiker Theoriebestände verbunden sind und die sich selbst in dem breiten Spektrum von Kritik an ihnen (vgl. die Artikel 70ff. des HSK-Bandes zur Morphologie (Booij et al. 2000), besonders Knobloch/Schaeder 2000) in unterschiedlicher „semantischer Dosis" präsent finden und das Denken über Sprache nachhaltig weiter bestimmen. Die Beispiele, die als „analytische Sedimente" in § 4 — exemplarisch, aber selbstverständlich nicht vollständig — einer genaueren Betrachtung unterzogen wurden, illustrieren, daß die Kategorienbildung, deren präsuppositionelle Präsenz wir in der analytischen Praxis bis heute bewähren, sich unterschiedlichen Kriterien verdankt. Diese Kriterien sind zu unterscheiden von denen, an denen sich die heutige Wortartendiskussion fast ausschließlich auszurichten scheint (s. dazu den informativen Überblick in Knobloch/Schaeder 2000), Kriterien wie syntaktisch oder semantisch oder morphologisch usw. In all diesem intensiven linguistischen Bemühen bleiben die analytischen Sedimente präsent. Exemplarisch zeigt dies eine Formulierung wie der Eingang des Artikels „Noun" im HSK-Band Morphologie (Lehmann/Moravcsik 2000): „[...] Dionysios Thrax [...] uses the term onoma ,narre' to designate the Ancient Greek noun" (S. 732) — oder auch der unterschiedliche Gebrauch, der von diesen Ausdrücken im vorliegenden Artikel gemacht wurde. Zu den Bestimmungsgrößen für die Kategoriengewinnung in der antiken Wortartentradition gehören nach dem oben Dargelegten zumindest: — topologische (Präposition, Interjektion); — sprachbezogene — verbum; zum Teil nomen; — illokutive: Interrogativpronomen; — paradigmenerzeugte: Personalpronomen; — kategorial-funktionale Nähebestimmungen (Adverb; Pronomen; kryptofunktional: Präposition);

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— ontologische — onoma, nomen; — Substantivum; — Possessivpronomen. Es wäre ein ebenso vergebliches wie fehlplaziertes Unterfangen, zu erwarten, daß diese Bestimmungsgrößen ihrerseits in irgendeiner Art von zugrundeliegender Systematik aufeinander bezogen wären. Sie sind Ausdruck differenter und divergenter Fragestellungen. Als Sedimente und wesentlich als solche haben sie Eingang in die linguistische Theoriebildung gefunden. Für die partes orationis stellt sich also nicht nur die eingangs von Donatus zitierte Frage, wie viele ihrer seien, es stellt sich vor allem die Frage, was diese partes sind. Nur die Rekonstruktion der Geschichte kann die Sedimentstrukturen und ihre bleibende Wirkung aufhellen. Es würde ohne Zweifel lohnen, eine Art ,Kategorien-Semantik' zu entwickeln, die diese Entstehungs-, Bestimmungs-, Durchflechtungs- und Durchsetzungsgeschichte der intrinsischen Bedeutungen jener griechischlateinischen Kategorisierungen und ihrer Nutzung in der mittelalterlichen und neuzeitlichen Linguistik rekonstruiert. So könnte in mehr Einzelheiten und mit dann vielleicht deutlicherem kritischen Potential herausgearbeitet werden, was die gegenwärtige Linguistik an ihren „analytischen Sedimenten" hat — und leidet, mehr, als es diese kleine Festgabe für Bernhard Engelen vermag, der von der frühen Arbeit (Engelen 1971) bis zu seinem späten zweibändigen Syntaxwerk (1984/1986) mit den Problemen der Wortarten und Redeteile auf das intensivste befaßt war — und über das Jahr 2002 hinaus ohne Zweifel damit befaßt bleiben wird.

Literatur 1 Apollonius Dyskolos: Apollonii Dyscoli quae supersunt. In: Grammatià Graeà II. 1. Hg. v. R. Schneider (1878). Leipzig: Teubner, ND Hildesheim: Olms. Apollonius Dyskolos: Apollonii Dyscoli quae supersunt. In: Grammatià Graeà II. 2/2. Hg. v. G. Uhlig (1910). Leipzig: Teubner, ND Hildesheim: Olms. Booij, Geert/Lehmann, Christian / Mugdan, Joachim (Hgg.) (2000): Morphologie. Ein internationales Handbuch %ur Flexion und Wortbildung. Berlin, New York: de Gruyter. [HSK 17.1], Dionysius Thrax: Dionysii Thracis Ars Grammatica. In: Grammatid Graeà I. 1/3. Hg. v. G. Uhlig (1883). Leipzig: Teubner, ND Hildesheim: Olms. Donatus: De partibus orationis ars maior. In: Probi Donati Servii qui feruntur de arte grammatica libri. In: Grammatià Latini IV. Hg ν. Η. Keil (1864), S. 367^-02. 1

Ich danke meinem Kollegen Konrad Vollmann für wertvolle Literaturhinweise.

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Donatus: Donati de partibus orationis ars minor. In: Probi Donati Servii qui feruntur de arte grammatica libri. In: Grammatià Latini IV. Hg. v. H. Keil (1864), S. 355—366. Ehlich, Konrad (1979): Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistischphilologische Untersuchungen %um hebräischen deiktischen System. 2 Bde. Frankfurt am Main, Bern, Las Vegas: Peter Lang. Ehlich, Konrad (1986): Interjektionen. Tübingen: Niemeyer. Engelen, Bernhard (1971): Referentielle und kontextuelle Determination des Wortinhaltes als Problem der Wortarten. In: Forschungsberichte des Instituts für Deutsche Sprache 6, S. 3-24. Engelen, Bernhard (1984): Einfuhrung in die Syntax der deutschen Sprache. Bd. 1: Vorfragen und Grundlagen. Baltmannsweiler: Pädagogischer Verlag Burgbücherei Schneider. Engelen, Bernhard (1986): Einführung in die Syntax der deutschen Sprache. Bd. 2: Satzglieder und Satzbaupläne. Baltmannsweiler: Pädagogischer Verlag Burgbücherei Schneider. Evans, Nicholas (2000): Word classes in the world's languages. In: Booij, G. / Lehmann, C./Mugdan, J. (Hgg.), S. 708-732. Georges, Karl Ernst (1913): Ausfuhrliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel ausgearbeitet. 2 Bde. 8., verb, und verm. Aufl. Hannover: Hahnsche Buchhandlung. (1992) Unveränderter Nachdruck. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Kaitz, Barbara (2000): Wortartensysteme in der Linguistik. In: Booij, G. / Lehmann, C. / Mugdan, J. (Hgg.), S. 693-707. Knobloch, Clemens (1990): Wortarten und Satzglieder. Theoretische Überlegungen zu einem alten Problem. In: Grubmüller, K. / Reis, M. / Wachinger, B. (Hgg.): Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 112, S. 173—199. Knobloch, Clemens / Schaeder, Burkhard (2000): Kriterien für die Definition von Wortarten. In: Booij, G. / Lehmann, C. / Mugdan, J. (Hgg.), S. 674-692. Lehmann, Christian /Moravcsik, Edith (2000): Noun. In: Booij, G./Lehmann, C / Mugdan, J. (Hgg.), S. 732-757. Loukine, Oleg (1999): Redeteil-Theorie: zwischen formaler Logik und Sprachtypologie. In: Indogermanische Forschungen. Zeitschrift fur Indogermanistik und allgemeine Sprachwissenschaft 104, S. 1-22. Matthaios, Stephanos (1999): Untersuchungen zur Grammatik Aristarchs. Texte und Interpretation zur Wortartenlehre. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Pape, Wilhelm (1871): Griechisch-Deutsches Handwörterbuch. 3 Bde. 2. Aufl. Braunschweig: Viehweg. Paul, Hermann (1920): Prinzipien der Sprachgeschichte. 5. Aufl. Halle an der Saale: Niemeyer. ND (1975) Tübingen: Niemeyer. Robins, Robert H. (1967): A Short History of Linguistics. London: Longman. Saussure, Ferdinand de (1916): Cours de linguistique générale. Hg. v. C. Bally / A. Sechehaye. Paris: Payot. Deutsch (1931): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. v. P. v. Polenz. Obersetzt von H. Lommel. 2. Aufl. 1967. Berlin: de Gruyter. Schneider, Richard: siehe Apollonius Dyskolos (1878). Thielmann, Winfried (1999): Die Fachsprache der Physik als begriffliches Instrumentarium. Frankfurt am Main: Peter Lang.



Ή

Aristoteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik Abstract

Wissenschaft geht meist von einer Menge als unumstößlich geltender Grundsätze aus. Diese sind durch die Geschichte der WissensEntwicklung bestimmt. In ihr werden einzelne Erkenntnisse faktisch ausgezeichnet und in den Bereich der unhinterfragbaren Voraussetzungen jeden zukünftigen Denkens erhoben. Dieser ihr Status macht es schwer, ihrer Genese und Berechtigung nachzugehen. Das gilt umso mehr, wenn Geschichte von der Gegenwart prinzipiell getrennt wird und alles Geschichtliche so für ohnehin irrelevant erklärt wird. Eine Grundkonzeption der Sprachwissenschaft ist der Satz. Ihr kommt innerhalb der Linguistik ein solcher Voraussetzungscharakter zu. Der Versuch, dessen Fundierung nachzugehen, führt auf eine Argumentation des makedonischen Denkers Aristoteles. In seiner Schrift „perì hermeneias" unternimmt Aristoteles für die Zwecke seiner sprachphilosophischen Untersuchung eine prinzipielle Trennung zwischen dem lògos apophantikós und anderen Typen des lògos wie der eychê. Letztere werden von ihm für seine weiteren Überlegungen ausgeschlossen. Dieser für den gesamten Argumentationsduktus der Schrift „perì hermeneías" sinnvolle Schritt hat die Aristoteles-Rezeption über dessen Anlaß hinaus zu eben jener Grundlagenbestimmung des „Satzes" verabsolutiert und damit für Jahrhunderte das Nachdenken über Sprache auf einen viel zu engen Bereich eingegrenzt. Mit den Überlegungen von John L. Austin wurde diese Restriktion in Frage gestellt. Die Theorie der linguistischen Pragmatik hat zum Ziel, das dadurch neu eröffnete Feld systematisch zu analysieren und so zu einer angemesseneren Konzeption von Sprache und sprachlichem Handeln beizutragen.

Vortrag an der Aristoteles-Universität Thessaloniki aus Anlaß der Verleihung des Grades eines Doktors der Philosophie ehrenhalber durch deren Philsosophische Fakultät am 21. März 2000.

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1. Thessaloniki Die Stadt, in der zu Ihnen zu sprechen ich heute die Ehre habe, ist ein Kristallisationspunkt für jene Kultur, die die westliche heißt. Sie ist eine Stadt, die von Beginn gleichsam durch ihre Modernität gekennzeichnet ist, nicht eine, deren Entstehung sich in den dunklen Grotten der Mythen verliert. Sie ist eine Stadt, deren Anfange bereits einem nach der Polis als politischer Grundeinheit verbundenen Konzept des Gemeinwesens verpflichtet sind. Sie ist eine Stadt des kulturellen Kontaktes, eine Stadt der Interkulturalität. Thessaloniki verdanken wir eines der ältesten Dokumente der Christenheit: jenen ersten Brief des Apostels, der hier, in der interethnischen Vielfalt und der ökonomischen Vitalität eines Handels-, Hafen-, eines Austauschzentrums der Alten Welt, dem Christentum in Europa eine der ersten Gemeinden gründete. Anders als im fernerliegenden Athen, wo man ihn lieber „ein anderes Mal" hören wollte — akoysómethá soy perì toytoy kaì pálin, Act. 17,32 — fand er hier, in Thessaloniki, Hörer und Hörerinnen (Act. 17, Iff.), denen er - in Dankbarkeit gegen Gott — schreibt: ,,tò eyangélion hëmôn 1 oyk egennêthê eis hymás en logö mónon, allá kaí en dynámei kaì en pneymati hagíó plërophoria pollê". (1. Thess. 1,5). Paulus spricht mit diesen Worten eine Erfahrung an, die sich auf sein Reden bezieht. Er unterscheidet „bloß das Wort", den Logos allein, und den Logos „im Heiligen Geist", in „großer Fülle" — und „in Kraft". Bezogen auf das Wort seiner Predigt, thematisiert Paulus eine merkwürdige Charakteristik dieses Wortes — die ihm spezifische Kraft, dynamis: In einem der ältesten Dokumente der Christenheit wird also so über das Wort gesprochen, über die Sprache gesprochen, wie es die Fachleute weniger taten und tun. Die paulinischen Sätze sind von den Linguisten nicht weiter beachtet worden, und sie sind ja auch vor allem theologische Sätze, keine linguistischen. Dennoch klingt in ihnen, am Beispiel des Wortes der Predigt, etwas an, was für Sprache von eminenter Bedeutung ist: ihre „Kraft". Es soll, jenseits jenes sicher besonderen, jenes theologischen Bezuges, uns im folgenden ein wenig beschäftigen, wenn wir nachdenken über Aristoteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik. Wie verhält sich die Linguistik zur Pragmatik, wie die Pragmatik zur Linguistik, und welche Rolle spielt hier Aristoteles, jener in so vielen Feldern maßstabsetzende, eher noch maßstabgebende Denker aus Makedo1

Aus technischen Gründen wird der accentus circumflexus gleichfalls durch das Zeichen für den accentus acutus wiedergegeben.

Aristoteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik

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nien, dem die westliche Welt über Jahrhunderte, Jahrtausende Grundlagen ihres Wissens verdankt?

2. Die Dihärese von Gegenwart und Geschichte Indem wir diesen Fragen nachgehen, verstoßen wir gegen einige Grundüberzeugungen der heutigen Disziplin der Sprachwissenschaft — und nicht nur von ihr. Wir kündigen eine Trennung auf, die sich seit circa hundert Jahren immer größerer Beliebtheit erfreut und zu einem Grundsatz „moderner" Wissenschaft, aber auch des modernen Alltages geworden ist: Es ist die Trennung der Gegenwart von der Geschichte; es ist die säuberliche Scheidung zwischen dem, was ist, und dem, was war. Diese Dichotomie erscheint uns weithin als Basis für all unser Nachdenken. Sie geschieht, um in zwei Richtungen wirksam zu werden und zu bleiben: gegen die Geschichte und für die Verabsolutierung der Gegenwart. Durchaus kann die Differenz freilich auch anders wahrgenommen und konzeptualisiert werden. Dann erscheint die Gegenwart als bloß Verschwindendes, wie Augustinus es unnachahmlich demonstrierte, als ein Nichts angesichts der Geschichte; und anders, die Geschichte, vor allem die frühe Geschichte erscheint als das Eigentliche, das Wesentliche, das Wahre, vor dem die Gegenwart depraviert dasteht, nackt, arm, dürftig und der Geschichte bedürftig, um als Gegenwart überhaupt bestehen zu können. Im mentalen Lexikon heute hingegen ist alles, was das Merkmal der Geschichte trägt, eben dadurch, genau durch dieses Merkmal, negativ markiert und ausgegrenzt. Eine Form dieser Diskreditierung ist Saussures tentativer Schnitt, mittels dessen er versucht hatte, der Gegenwart überhaupt einen Ort zu schaffen gegenüber einer als alles erdrückende Last empfundenen Geschichte und gegenüber den Prinzipien, aus denen sie zu begründen ist. Hermann Pauls „Prinzipien der Sprachgeschichte" hatten Platz zu machen für die Verabsolutierung der Synchronie. Ihre Bedeutung hat diese Diskreditierung der Geschichte freilich nicht einfach wegen der Theorie allein, sondern die Verabschiedung der Geschichte, die Verabschiedung von ihr und schließlich dann auch die Verabschiedung aus ihr entspricht einem Geschlecht, das des Alexandrinismus müde geworden ist, das gern ursprünglich wäre, das gern ein Anfang wäre, ein Geschlecht, das diesen Wunsch freilich nur durch die entschiedene Trennung von Geschichte realisieren zu können glaubt. Es ent-

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spricht einer Generation und ihrem Zeitgeist, die sich unabhängig von der Tradition erklärt und diese als obsolet deklariert.

3. Die doppelte Einheit von Geschichte und Gegenwart Dies freilich ist eine Illusion. Geschichte läßt sich nicht einfach verabschieden. Sie weist eine unterschwellige Präsenz auf, die dann umso wirksamer und mächtiger wird, je weniger im kritischen Diskurs über sie gesprochen wird. Die Abdrängung der Geschichte aus dem kollektiven Gedächtnis zwingt zu einer permanenten Komplizenschaft des Vergessens, ja des Verdrängens. Sie ist für die neuere Sprachwissenschaft kennzeichnend, eine Disziplin, die ihre Wissenschaftlichkeit um den Preis der Reduktion ihres Objektes zu erringen hoffte und hofft. In immer wieder neuen Eingrenzungen wird der Gegenstand der Sprachwissenschaft, die Sprache, bestimmt — ein mentales System von Zeichen; eine Menge von kookkurrenten Strukturen, von Distributionen bedeutungsloser Elemente; eine Mechanik der syntaktischen Formeln. So unverkennbar alles dies auch an Sprache partizipiert, so unverkennbar ist doch zugleich, daß die Reduktionen das Objekt Sprache bis zur Unerkennbarkeit verändern, ja verstümmeln. Die Schnitte und Trennungen, die Dihäresen von Geschichte und Gegenwart, betreffen eine Disziplin, die zu den ältesten der Wissenschaft gehört. Die Sprachwissenschaft hat eine sich zeitlich durch die Jahrhunderte erstreckende Kontinuität. Die Figur der Ablösung durch Berufung auf die Gegenwart, auf Synchronie (oder, nur eine andere Gestalt derselben Bewegung, auf die Zeitlosigkeit des Panchronismus, der vermuteten und mehr noch der proklamierten Universalität), diese Figur hat eine in Anspruch genommene Grundlage aus dieser Geschichte heraus: Die Erkenntnisse über Sprache, die in zweitausendvierhundert Jahren erarbeitet wurden. Die Trennung von Gegenwart und Geschichte, die Proklamierung der Gegenwart zur alleinigen Instanz wissenschaftlichen Wissens, läßt aber gerade diesen Zusammenhang unsichtbar werden. Die Dihärese verhindert Erkenntnis in zweierlei Weise. Sie leugnet die Geschichtlichkeit der Gegenwart. Die Gegenwart erscheint als unendliches Präsens, als eine immerwährende, der Zeit und damit der Veränderung nicht unterworfene Kontinuität, als sich nie verändernder (Zeit-) Raum, in dem sich das Denken, auf sich selbst eingegrenzt, aufhalten kann, ohne die Gefährdungen der Vergänglichkeit fürchten zu müssen.

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So wird verkannt, was Geschichtlichkeit ist — und es wird verkannt, was Gegenwart ist, nämlich etwas, das sich — wie alle Geschichte zuvor — verändert. Zugleich aber verbirgt sich in der Trennung, der Dihärese von Gegenwart und Geschichte, etwas zweites: Es wird nicht erkennbar, daß die Geschichte in der Gegenwart präsent ist. Die Gegenwart der Geschichte aber ist ein zentrales Merkmal eben jener Gegenwart, die gegen die Geschichte isoliert werden soll. Die Geschichtlichkeit der Gegenwart bedroht die Konstruktionen eines immerwährenden kognitiven „Jetzt", das als sicherer Ort vor der Vergänglichkeit zu gelten in Anspruch genommen wird. Die Gegenwart der Geschichte aber bestimmt das gegenwärtige Nachdenken über Sprache sowohl konzeptionell wie kategorial. Diese Bestimmung aber bedeutet nicht einfach auch schon, daß die überkommenen Kategorien und Konzepte in sich unantastbar, in sich legitim, in sich der Sache, dem Objekt „Sprache", angemessen wären. Die Bestimmung der Gegenwart durch die Präsenz der Geschichte gilt gerade auch dann und dort, wo durch Dihäresen und scharfe Schnitte, durch neue Terminologien und durch die Reduktionen des Objektes auf das wissenschaftstheoretisch Handhabbare die Innovationskraft linguistischer Theoriebildung unter Beweis gestellt werden soll — und zugleich deren Abstand gegenüber dem eigentlichen Analysandum eher wächst. Die Gegenwart ist der Umschlagsort von Geschichte in Geschichte. Der Geschichte ist nicht zu entkommen. Dies freilich ist keine Bedrohung, sondern schlicht die Voraussetzung für das Wissen, das uns zuhanden ist. Das Wissen selbst ist geschichtlich. Einer seiner zentralen „Parameter", eines seiner wichtigsten Merkmale ist die Bindung an das jeweilige hic et nunc in der Wissensgeschichte. Trifft dies nun zu, so wird der Umgang mit Wissen wie der Umgang mit Geschichte ein anderer: Es geht nicht darum, Geschichte zu verdrängen. Im Gegenteil: Es geht darum, sie als das zu erkennen, was sie ist, eben als Geschichte. Und es geht darum, in der Geschichte die Voraussetzungen für das heutige Wissen zu identifizieren, Wissen also als Problemgeschichte zu rekonstruieren. Dies bedeutet zugleich: Es geht darum, die theoretischen Defizite als Ausdruck nicht voll gelungener Problemlösungsversuche in der Wissens- und Problemgeschichte zu bestimmen und den Gründen für das Scheitern, für die Defizite und Desiderate, ebenso aber auch den Gründen für das Gelingen nachzugehen.

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4. Aristoteles-Wissen Es gibt Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens, die in ihrer Geschichtlichkeit noch einigermaßen bewußt sind. Dazu gehören die Beiträge des Makedoniers Aristoteles, dem zu Ehren diese Universität ihren Namen trägt. Geboren nicht weit von hier, wirksam im Zentrum der neu sich formierenden Macht, einer ökumenischen Macht, einer die bekannte Welt umgreifenden Macht, war Aristoteles ein Denker, der das ergriff, was für das Wissen an der Zeit war. Im Lehrzusammenhang mit der sich reflexiv formierenden Philosophie aufgewachsen und durch sie gebildet, übergriff er deren Themen und deren Methoden. Er überschritt in mehreren Weisen Grenzen — so wie es sein wichtigster nichtphilosophischer Schüler tat, Alexander. Eine Wissenstheorie sollte entwikkelt werden, die die bekannte Welt als ganze auszumessen gestattete, die einen enzyklopädischen Umfang anzielte. Dieses Wissen war nicht mehr am Umschlagspunkt von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zögernd und schwankend sistiert, unsicher, welches Medium dem Wissen besser bekomme, welches den Zwecken der Wissenserhaltung und Wissensentfaltung besser genüge. Beides wurde genutzt. Die Produktivkraft Wissenschaft wurde ihrer eigenen Möglichkeiten inne. Exoterikà èrga und pragmateia, die für die breitere Publikation bestimmten Werke und diejenigen, die für den mündlichen Schulbetrieb bestimmt waren, standen nebeneinander. Die Paradoxien der Überlieferungsgeschichte haben es mit sich gebracht, daß gerade jene, die nicht für die Publikation bestimmt waren, erhalten geblieben sind, die anderen hingegen nicht mehr bestehen (Weidemann 1994, S. 61 ff.). Die Rezeptionsgeschichte der Schriften des Aristoteles hat ihm trotz dieser Paradoxien (oder vielleicht auch ein Stück weit ihretwegen?) einen herausragenden Stellenwert zugeschrieben und bis heute erhalten. Dies ist ohne Zweifel auch eine Folge des Umstandes, daß Aristoteles in einer günstigen Zeit die Möglichkeiten einer entwickelten Wissenskultur ausschöpfte, einer Wissenskultur, deren politische und gesellschaftliche Voraussetzungen sich nicht allzu lange danach mehr und mehr auflösten — freilich nicht soweit, daß auch die Möglichkeiten der Tradition des erreichten Wissens insgesamt nicht mehr bestanden hätten. Vielmehr geriet der erreichte Wissensstand in den Rang des Kanonischen. Damit wurden spezifische Rezeptionsbedingungen in Kraft gesetzt: Einerseits erhielt das Werk einen Schutzraum, der es vor dem Vergessen auch dann zu bewahren imstande war, wenn kaum inhaltliche Voraussetzungen für seine Kontinuität bestanden. Andererseits aber aktualisierte sich genau die Gefahr, die Piaton als Gefahr der Schriftlichkeit beschworen hatte: eine Weiterga-

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be des Wissens, ohne daß dieses Wissen noch als aktives präsent wäre — die Reduktion des Wissens auf allein seine geäußerte und damit seine veräußerlichte, ja veräußerte Form, Wissen ohne Verstand, Wissen ohne Einsicht — eine dramatische Gefahr, die bis heute an Aktualität kaum etwas verloren hat. Damit aber nicht genug: Eine zweite Gefahr ist mit dem kanonisierten Wissen immer verbunden, und diese ist in ihren Auswirkungen fast größer als die Gefahr der Veräußerlichung. Sie läßt sich als Gefahr der Verinnerlichung beschreiben. Gerade diejenigen Teile des erfolgreichen, des kanonisierten Wissens unterliegen ihr, die am besten rezipiert werden. Solche Wissensteile werden zu etwas Selbstverständlichem. SelbstverständlichWerden von Wissen bedeutet, daß Wissenselemente innerhalb der vielfaltigen Strukturen des Gesamtwissens, in den unterschiedlichen Aspekten des Wissensorganismus, einen anderen Stellenwert erhalten. Sie werden aus dem immer neu durch den Bezug auf die Geschichtlichkeit relativierten Wissen herausgehoben. Sie werden Bestandteil des allgemeinen Präsuppositionssystems, des Systems der stillschweigenden Voraussetzungen, mit denen wir es zu tun haben, wenn immer wir denkend arbeiten und damit beschäftigt sind, neues Wissen zu gewinnen. Präsuppositionen sind gegen Infragestellungen relativ immun. Sie sind verstärkt abgesichert gegen die Modifikationen und Hinterfragungen, die für das Gesamtwissen ansonsten kennzeichnend sind, die dessen Flexibilität und damit seine Leistungsfähigkeit ausmachen. Im System der Präsuppositionen ist also Wissen in den innersten Bereich zurückgenommen, geschützt und immunisiert gegen die Modi des Zweifeins und der Frage. Präsuppositives Wissen ist also durch und durch verinnerlicht. Von dort, von innen aus steuert es die Verfahren des Wissensgewinns ebenso wie die Strukturierung des gewonnenen Wissens. Es ist derart, daß es nicht einmal mehr als Wissen bewußt sein braucht. Es arbeitet und setzt sich in der Wissenspraxis durch. Die Immunisierung ist zugleich eine antireflexive Absicherung. So mehrfach geschützt, entfaltet es seine Kraft. Es ist unumgänglich. De omnibus dubitandum, alles sei zu bezweifeln — diese Maxime der cartesianischen Kritik hat ihre spezifischen mentalen Reservationen. Die Maxime der Moderne betrifft eben nicht die Präsuppositionen, besonders dann nicht, solange sie im Schutz der Immunisierung agieren. Mehr als einmal ist der kanonisierte Aristoteles als Wissensproduzent von Präsuppositionen in Anspruch genommen worden. Dies betrifft — dem erkenntnisleitenden Handlungscharakter von Präsuppositionen gemäß —

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besonders den Teil seines Werkes, dessen operativer Charakter in seiner überlieferten Bezeichnung schon zum Ausdruck kommt: das Organon. Ihm verdanken wir ebenso den gesamten kategorialen Rahmen wie die Grundkenntnisse über die elementaren Strukturen des Denkens. Aus ihm aber sind noch weitere Präsuppositionen gewonnen worden, solche, die nicht in den Texten selbst offengelegt werden, wie dies in der Etablierung und Reflexion etwa der Kategorien geschieht. Hier eröffnet immerhin der Fortgang des aristotelischen Gedankens selbst die Möglichkeit eben jenes Nachdenkens, das ein differenziertes Verhältnis zu den Grundlagen des Wissens ermöglicht. Dies aber ist nicht immer der Fall — wie auch die Komposition der Bestandteile des „Organon" erst eine Systematik suggeriert, die den Texten zunächst wohl eher nicht zukam.

5. „Perì hermánelas" im „Organon" Zu den weniger deutlichen, aber — jedenfalls für die Linguistik — folgenreichsten Texten gehört derjenige, dem die Tradition den Titel „perl hermeneias" gegeben hat. Der Text ist gerade einmal 14 kleine Kapitel lang. Seine Authentizität ist (wenn auch nicht in allen Teilen) nur wenig umstritten. Schwieriger steht es mit dem, was eigentlich unter dem Stichwort „hermëneia" genau zu verstehen sei. Diese Frage stellt sich bereits Ammonios (im frühen 6. Jh. christlicher Zeitrechnung), und sie findet die verschiedensten Antworten: Von einer „Hermeneutik" (Gohlke 1951; Zekl 1998) bis zur „Rede" (Maier 1900), von „interpretado" (Boethius) bis zum „Satz" reichen die Interpretationen (vgl. Weidemann 1994, S. 41 ff.). Aristoteles selbst verwendet den Ausdruck an anderer Stelle einerseits in enger Verbindung mit diálektos (de an. II 8, 420b 17—20), an wiederum anderer in Verbindung mit und zur Erläuterung von „léxis" (poet. 6, 1450b 13f.). Der Ausdruck hat bei ihm offensichtlich nicht den Charakter terminologischer Festigkeit erreicht. Er ist eher noch ein Ausdruck der alltäglichen Wissenschaftssprache. In der Schrift „perì hermëneias" nun hat hermëneia deutlich etwas mit dem zu tun, was wir heute „Satz" nennen. Das Wort gehört zu den wenigen auf die Hörer-Tätigkeiten beim sprachlichen Handeln bezogenen Bezeichnungen für den Satz (Ehlich 1999). Es finden sich durchaus auch präzisere Bestimmungen als der tradierte Titel für das, worum es in der kleinen, in das „Organon" eingepaßten Schrift geht. Ammonios etwa sagt, die Schrift könne ebenso gut den Titel „perì toy apophantikoy lógoy" tragen, also über den Behauptungssatz. Noch deutlicher auf den Hauptinhalt bezogen wäre eine Uberschrift, wie

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sie sich in der Theophrastischen Parallelschrift zur Hermeneutik (Maier 1900, S. 51; Weidemann 1994, S. 43) findet: „perì katapháseós kaì apopháseós" - zwei Ausdrücke, die am Anfang von „peri hermëneias" selbst sich finden (16a2). Dies allerdings nur mit „Bejahung" und „Verneinung" zu übersetzen, verkennt wiederum die Reichweite der aristotelischen Ausführungen. Genauer ist die Interpretation Weidemanns, der von den „bejahenden und ... verneinenden einfachen Behauptungssätze(n)" spricht (1994, S. 44).

6. Weichenstellung für die Behandlung von Sprache: perì hermëneias 1—4 In diesem Text mit dem nicht ganz klaren Gegenstand entwickelt Aristoteles Unterscheidungen, die das weitere europäische und arabische Nachdenken über die Sprache entscheidend bestimmen sollten. Die meisten von ihnen gehören einer Befassung mit Sprache zu, die bereits durch die Verankerung von perì hermëneias im Organon klargemacht wird: Das Nachdenken über die hermëneia ist Teil jenes großen Nachdenkens, das von den Kategorien über die Systematik der Urteile zu den Schlüssen und damit zu den Verfahren des Gewinns neuen Wissens aus dem bekannten führt. Dies alles ist das, was den einen, sozusagen syntaktischen Teil der Disziplin der Sprachphilosophie ausmacht. Er erreicht bei Aristoteles eine neue Klarheit. (Für eine moderne Argumentationslehre ist daraus weiter zu lernen, wie Pavüdou (1978) gezeigt hat.) Doch die Einbindung hat etwas Künstliches. Eher apodiktisch beginnt der Text selbst: „proton dei thésthai" — „zuerst gilt es zu setzen" (16al). Was folgt, sind Etappen auf dem Weg zur Systematik der apóphasis und der katáphasis, sind die Entwicklung von Kontradiktorik und Kontrarität und schließlich der Übergang zu Modalaussagen. Damit ist der Kreis wesentlicher Teile der Logik bis heute umschrieben. Für diese Systematik entwickelt Aristoteles zu Beginn in den ersten fünf Kapiteln eine Systematik der Sprache, die bei der phone sëmantikê ihren Ausgang nimmt. Die Schritte scheint er zu Beginn von Kapitel 1 selbst anzugeben: Es gilt zu setzen, was ónoma, was rhêma ist, dann, was apóphasis und katáphasis ist und apóphansis und lògos. Doch zeigt sich bei der Lektüre schnell, daß die einzelnen Aufzählungsglieder nicht den je gleichen Stellenwert haben. Denn nach der Erörterung von ónoma (16al9ff., Kapitel 2) und rhêma (16b6ff., Kapitel 3) kommt Aristoteles in Kapitel 4 zum lògos (16b26ff.).

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Diese Behandlung verdient für unsere Fragestellung besondere Aufmerksamkeit. Der lògos — der ersichtlich nicht das Wort, schon gar nicht (mehr) die Tat ist — ist hier eine größere Einheit als die des Wortes. Sie als „Rede" zu bestimmen (Zekl, S. 101), umgreift aber zu viel. „Wortgefuge" schlägt Weidemann (S. 188) vor. Weidemann ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Die Übersetzung „Satz" bietet sich jedoch zumindest dort an, wo das Wort lògos mit dem Wort apophantikós („behauptend", „Behauptungs-"...) oder dem Wort alëthês („wahr"...) verbunden ist" (S. 188). Linguistisch gesehen, faßt lògos also sowohl die Phrase wie den Satz zusammen. Der lògos ist „phone sëmantikê" (16b25), lautliche Äußerung — die mère hat, Teile. Von diesen Teilen ist jeder für sich abgetrennt semantikón — und zwar als phásis, aber nicht als katáphasis. Phásis hier genau zu bestimmen ist wichtig. Es ist eine sprachliche Einheit, die in sich etwas bedeutet, genauer wohl: die etwas bezeichnet, ohne doch bis zur katáphasis, also zur Behauptung, entwickelt zu sein. Teile des lògos, die einzelne Phonemfolgen oder Phoneme ausmachen, sind hingegen nicht „sëmantiká", sind bloße phone. Jeder lògos nun ist konsequenterweise sëmantikôs, — aber er ist noch nicht apophantikós. Das Adjektiv gehört zum Substantiv apòphansis; dieses ist zwar oft „varia lectio" für apòphasis (Pape 1, S. 296) — aber in offensichtlicher Verkennung des fundamentalen Unterschiedes beider Substantive. Apòphasis ist die Verneinung. Apòphansis hingegen ist das, was mit einiger Mühe erst durch die Präzisierungswerkzeuge der neueren Sprachphilosophie als „Assertion" exakter erfaßt wurde. (Die Verwechslung ergibt sich unter anderem dadurch, daß apòphasis ein echter Koinzidenzfall ist: Es wird nicht nur von apôphëmi abgeleitet, sondern zugleich von apophainomai - und steht hier für die Wiedergabe der eigenen gnômë, der eigenen Meinung). Für die apòphansis nun gilt: „apophantikós dè oy pas (sc. lògos), all' en ho tò alétheyein è pseydesthai hypárchei" (17a2f.). Hier nimmt Aristoteles in der weiteren Verfolgung seiner Zielsetzung, eine genaue Bestimmung der apòphasis und der katáphasis und ihrer verwikkelten Relationen und Expansionen zu erreichen, eine entscheidende Trennung innerhalb der lògoi vor. Nur einige von ihnen, jedenfalls aber nicht alle, haben die Eigenschaft, daß sie apophantikoi sind — daß sie assertieren. Diese Differenzierung entspricht den Zwecken, die Aristoteles verfolgt, exakt — und sie ist doch jenseits dieser Zwecke von einer fatalen

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Folgenhaftigkeit für die Linguistik geworden. Auf sie die Aufmerksamkeit zu richten, kann in seiner Bedeutung nicht genug hervorgehoben werden 2 . Von den lógoi apophantikoí ist eine große, zweite Gruppe zu scheiden, die Aristoteles im folgenden anführt — und dies eigentlich fast nur beiläufig. Die Fortsetzung des Zitats lautet nämlich: oyk en hápasi dé hypárchei, hoiön hë eychë lògos mén, all' oyt' alethès oyte pseydés. — Nicht in allen (lógoi) aber ist es vorhanden (das alëtheyein und das pseydesthai nämlich); zum Beispiel ist die Eychê zwar ein lògos - aber weder wahr noch falsch.

Was aber ist die Eychê, von der Aristoteles hier spricht, und inwiefern ist sie „weder wahr noch falsch"? Zekl übersetzt mit „Gebet" - eine „Bedeutung", die „eychê" zweifellos hat — aber sicher nicht hier; was Aristoteles anspricht, ist nicht sozusagen „religiöse Rede", der ein Wahrheitswert abgesprochen, die gleichsam als nicht wahrheitswertfahig erklärt würde. Aristoteles befindet sich in der Erörterung des lògos. Der lògos, den er durch die eychê exemplifiziert, ist die einfache Bitte (so richtig Gohlke S. 89; vgl. Weidemann S. 191). Für diese Art von lógoi aber kommt Aristoteles zu einer folgenschweren Entscheidung: „hoi mèn oyn álloi apheísthosan" — sie sollen weggelassen werden. Ihre Behandlung nämlich gehört an eine andere Stelle: „rhëtorikês gàr ë poietikês oikeiotéra hë sképsis" (17a5,6f.). „Das Nachdenken über sie, ihre Untersuchung hat in der Rhetorik oder der Poetik einen geeigneteren Platz." Damit ist der nicht wahrheitswertfähige Logos aus den weiteren Überlegungen ausgeschlossen; lediglich „ho apophantikós" ist Gegenstand „tes nyn theörias" (17a6£). Die Kommentare nutzen die Stelle im Rahmen ihres vorwiegenden Interesses, Autorschaften und Autorzeiten zu bestimmen: Liegt hier ein Verweis auf die Rhetorik und die Poetik vor, lassen sich relative Chronologien gewinnen? Diese Fragestellungen, so wichtig sie für die Aristoteles2

Zwar nicht für die Linguistik, aber doch mit Blick auf die Logik kommt Gadamer (1970) zu einer ähnlichen Einschätzung, als er in einem Artikel über „Sprache und Verstehen" dem „Wort" die „Aussage" gegenüberstellt: „Wir reden von Aussage in der Verbindung Aussagelogik, Aussagekalkül, in der modernen mathematischen Formalisierung der Logik. Diese uns selbstverständliche Ausdrucksweise geht letzten Endes auf eine der folgenschwersten Entscheidungen unserer abendländischen Kultur zurück, und das ist der Aufbau der Logik auf der Aussage." (S. 80) Auch für die Logik kommt Gadamer zu dem Ergebnis, daß durch diese Restriktion möglicherweise die Gefahr einer erheblichen Verkürzung droht. Er stellt dem die Vermutung gegenüber: „Vielleicht gibt es eine Logik der Frage ... Vielleicht gibt es auch eine Logik der Bitte ..." (ebd.), ohne freilich diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Im Anschluß nimmt Gadamer dann unter dem Stichwort der „Okkasonalität" mit Bezug auf Lipps und Austin pragmatische Fragestellungen auf, ohne daß dieser Ausdruck bei ihm freilich bereits verwendet würde.

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Philologie auch sein mögen, verfehlen doch einen meines Erachtens entscheidenden Punkt in bezug auf das, was an dieser Stelle, am Ende des vierten Kapitels von peri hermëneias, geschieht: Aristoteles nimmt eine Scheidung vor zwischen unterschiedlichen Typen von lógoi, von größeren sprachlichen Einheiten, und läßt nur einen Ausschnitt von ihnen fur sein weiteres Nachdenken, für seine sképsis, für seine theöria noch zu. Konsequent erörtert er das so Eingegrenzte ab Kapitel 5 weiter. Am Ende von Kapitel 1—4 steht also die folgende Begriffszergliederung (vgl. Weidemanns Zusammenfassung (S. 192)): Die „stimmliche Äußerung, die katà synthêkën, nach Ubereinkunft, etwas bedeutet", zerfällt einerseits in Einheiten, von denen die einzelnen, für sich isolierten Teile nichts mehr bedeuten; hier sind zwei Subtypen zu unterscheiden, eben das ónoma und das rhêma. Diese Einheiten erhalten keinen zusammenfassenden Namen. Andererseits sind es die lógoi, die sich ergeben. Bei ihnen bedeuten die einzelnen Teile, für sich genommen, etwas. Sie sind zu scheiden in solche, denen das Wahrsein bzw. das Falschsein zukommt — die logoí apophantikoi, und in solche, denen es nicht zukommt — Beispiel „Bitte". Wie steht es nun mit der Behandlung des hier Ausgegrenzten? Poetik 19 thematisiert es als „thémata tés léxeôs" (1456b9ff.). Neben die auch dort aufgeführte „Bitte" treten „die Schilderung, die Drohung, die Frage und die Antwort" (Weidemann 191); Rhet. III, 16 und 18 behandeln tatsächlich „Schilderung", „Frage", und „Antwort" (ebd. unter Verweis auf Maier 1900, S. 38f.) — freilich „nicht als Satzformen und nicht vom grammatischen oder logischen Gesichtspunkte aus" (ebd.). Zu einer vergleichbar systematischen Analyse ist es also für diese lógoi bei Aristoteles nicht gekommen.

7. Eine analytische Entscheidung der Sprachphilosophie und ihre sprachpraktischen Voraussetzungen Die Argumentation, die Aristoteles entfaltete, ist bezogen auf ein fundamentales Problem, mit dem sich das Nachdenken über die Sprache im Verfolg der sophistischen Entdeckungen konfrontiert sah. Seit dem 6. und 5. Jahrhundert entwickelte sich im vorderorientalisch-griechischen Bereich eine zunehmende Reflexion über die Macht des Wortes. In der israelitischen Welt geschieht dies — jenseits der lebenspraktischen weisheitlichen Überlegungen über das, was das Wort, die Zunge, die Spra-

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che vermag, aber vielleicht doch nicht ganz unabhängig davon — im theologischen Diskurs. So finden sich Texte des Exilspropheten Deuterojesaja, in denen über die Kraft des göttlichen Wortes nachgedacht wird, das zu vollbringen, wozu es ausgeht (Jes. 55,1 Of: „Denn gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fallt und nicht wieder dahin zurückkehrt, sondern feuchtet die Erde und macht sie fruchtbar und läßt wachsen, daß sie gibt Samen, zu säen, und Brot, zu essen, so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende."). In der Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift wird dies entfaltet zum Gedanken, daß Himmel und Erde aus der Kraft des göttlichen Wortes ihr Entstehen und ihr Bestehen haben. In der griechischen Welt ist das Nachdenken über die Kraft des Wortes eingebunden in die sprachlichen Praxen der Städte und ihrer Bewohner, für die Rede im Gericht und in der Bürgerversammlung. Dieses Reden erfuhr eine zunehmend professionalisierte Untersuchung — und die Ergebnisse waren drastisch. Eben die Professionalisierung durch dafür eigens geschulte und sich schulende Spezialisten, die „Klugen", die Sophisten, zeigte, daß die Rede aus ihren Bezügen auf alêtheia und pseydos durchaus herauslösbar ist — daß sie andere überzeugen kann, ohne daß diese Rückbindung an die, die Uberzeugenden und die zu Überzeugenden in gleicher Weise bindende Grundlage der verläßlichen Wahrheit bestehen bleiben mußte. Die Sprache wurde zum Medium der Lüge — und dies durch konsequente Nutzung des analytischen Scharfsinns, von dem man sich ein besseres Reden versprochen hatte. Diese absurde Konsequenz hatte etwas tief Bedrückendes. In eine neue Naivität, in einen vortheoretischen Status zurückzutreten, war illusionär. Also galt es, das Nachdenken, die Betrachtung der Sache, die sképsis und theöria, weiter voranzutreiben. Dies ist der Zusammenhang, in dem Aristoteles' Argumentation steht. Für diese Erkenntniszwecke nahm er seine analytischen Scheidungen vor, an deren Ende der lògos apophantikós als Resultat und als analytisches Objekt steht. Eine erste Reduktionsbewegung zeigt sich hier — und sie hat ihren sehr konkreten Sinn, der sich aus ihrem ebenso konkreten Hintergrund ergibt.

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8. Eine rezeptive Entscheidung der Sprachwissenschaft und ihre analysepraktischen Folgen Die Präzision, mit der der lògos apophantikós im folgenden in perì hermeneias untersucht wird, verfehlte ihre Wirkung auf die Folgezeit nicht. Vielmehr wurde die sprachphilosophische Fragestellung und ihre Behandlung zu einem Muster für die Analysen der Folgezeit, das zur Bildung des Konzeptes des Satzes überhaupt entscheidend beitrug. Es ist diese Behandlung in perì hermeneías, die — auf im einzelnen schwer zu ergründenden, weil wenig durch Quellen belegten Wegen — Faszination ausüben sollte, und dies soweit, daß die aristotelische Bestimmung in den Präsuppositionsbestand des Nachdenkens über die Sprache einging: Das, was Aristoteles für einen bestimmten analytischen Zweck, nämlich für eine sprachphilosophische Fragestellung, verfolgte, wurde zu einem Grundbestand der Bestimmungen von Sprache überhaupt, erhielt sozusagen (im nicht-aristotelischen Sinn) kategorialen Status. So, wie Aristoteles hier über den lògos dachte, so wurde der Satz schlechthin konzeptualisiert. So ist diese Geschichte Gegenwart, bestimmendes Wissen im Präsuppositionsbestand der Linguistik. Dabei erfolgte ein interessanter Transferprozeß. Bei Aristoteles ist es eine genuin philosophische Frage, genauer: eine der philosophischen Logik, für deren Zwecke er seine Ableitung des lògos apophantikós vornehmen mußte. Für die Erkenntniszwecke der Linguistik wurde daraus etwas anderes: Es wurde aus der analytischen, aus der sozusagen operativen Bestimmung bei Aristoteles ein Stück linguistischer Ontologie. Diese ging in ein System von losgelösten Grundbestimmungen ein, die ihre eigenen Existenzweisen im sich konsolidierenden Wissenssystem über die Sprache finden sollten. Aristoteles' Bestimmungen wurden in den Präsuppositionsbestand der sich formierenden Linguistik übernommen — und sind dort bis heute wirksam. Dabei aber blieben eben jene argumentativen Zusammenhänge ausgeklammert, von denen her sich die innere Systematik der Bestimmungen ergab. Die Transformation seiner Argumentation zur verallgemeinerten linguistischen Objektbestimmung erfolgte also nicht durch Aristoteles selbst — sie erfolgte in seiner Rezeption, in einem kollektiven Prozeß, dessen Einzelheiten schwer zu durchschauen sind. Für ihn ist charakteristisch ein Amalgam aus Traditionsverehrung, eben aus Kanonbeachtung, und von dadurch gesteuertem Verlust von Problembewußtsein. Wesentlich dafür scheint eine charakteristische Veränderung in bezug auf die Widerspruchssensibilität zu sein. Die Einzelheiten solcher Wissensprozesse sind bisher

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wenig untersucht — verlangen aber umso dringlicher danach, untersucht zu werden. Am Ende dieser Rezeptionsprozesse aber steht ein Satzbegriff, der sich als Gegenstand nur noch eben jenen Satz vorstellen kann, dessen Verabsolutierung zum Satz schlechthin durch die Rezeption und nur durch sie zustande gebracht wurde. Indem dieser Satzbegriff zugleich präsuppositionalisiert wurde, war er gegen kritisches Nachfragen gefeit. Er konnte, erst einmal in das Feld der Sprachwissenschaft überführt, dazu beitragen, zu bestimmen, was überhaupt Gegenstand der Sprachwissenschaft werden sollte. Grammatik entfaltete sich faktisch als Theorie über die Assertion — und Schloß alles das aus, was sich jener Objektrestriktion nicht fügen wollte. Daß dies aber eine nicht unerhebliche Einschränkung dessen, was Sprache ist, bedeutet, war durch die Praktizierung eben dieser restriktiven Bestimmung unsichtbar geworden. Diese Prozesse wirken sich bis in die Gegenwart aus. Die Präsuppositionen sind weiterhin wirksam. Nahezu selbstverständlich werden sie praktiziert. Dazu trägt auch bei, daß der eigentliche Ort der von Aristoteles ausgegliederten Teile des Logos, also Poetik und vor allem Rhetorik, in einer eigenen Geschichte losgelöst von der Sprachwissenschaft sich verselbständigt haben — und in mehrfachen Volten den Bezug zur Sprache in ihrer nicht-poetischen Form weithin verloren. Doch dies ist eine andere Geschichte.

9. Austins Entdeckung Als der bekannte britische Sprachphilosoph John L. Austin 1958 bei einer Konferenz in Royaumont über einige Merkwürdigkeiten öffentlich nachdachte, die mit der unterschiedlichen Verwendung bestimmter Ausdrücke zu tun haben, eröffnete er eine Debatte, die sich als enorm folgenreich erweisen sollte. Austin hat seine Wirkung, wie von Savigny 1972 schreibt, nicht primär seinen Publikationen zu Lebzeiten zu verdanken. Auch die Überlegungen aus Royaumont sind redigierte Mitschriften mündlicher Präsentationen - pragmateia sozusagen aus einer neuen Reflexionskultur über Sprache. Dieses neue Nachdenken über Sprache ist unter der Bezeichnung „Philosophie der alltäglichen Sprache" bekannt geworden. Es wirkte provokativ für die Philosophie. Es wirkte sich vor allem aber aus für die Sprachwissenschaft. Der Rückgang ins scheinbar Einfache erwies sich als Nachfra-

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gen nach den stillschweigenden Voraussetzungen unserer Sprachkonzeptionen, unseres Begriffes von Sprache. Der Ausgangspunkt der Austinschen Beobachtungen ist, daß es etwas anderes ist, wenn ich sage: „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Freiheit', und wenn ich sage: „Er tauft dieses Schiff auf den Namen Freiheit'. Das zweite ist konstatierend; das erste hingegen ist etwas ganz anderes: durch die Ausführung der sprachlichen Handlung verändere ich die Welt. Nachdem ich die Äußerung getan habe, hat das Schiff einen Namen. Entsprechende Unterschiede zeigen sich bei Sätzen wie „Ich entschuldige mich" oder „Ich rate dir, es zu tun" und ihren jeweiligen Pendants. Austin versuchte, die Unterschiede mit dem Oppositionspaar „performativ" und „konstativ" zu erfassen. Gleich zu Beginn seiner Überlegungen sagt er — ich zitierte die englische Übersetzung der französischen Primärveröffentlichung von G.J. Warnock (1963; 1971) —: „The constative utterance, under the name, so dear to philosophers, of statement, has the property of being true or false. The performance utterance, by contrast, can never be either". Ich denke, im Licht unserer Überlegungen ist deutlich, was hier geschieht: Austin ruft die zur Präsupposition geronnene Bestimmung des Aristoteles, den lògos apophantikós, auf, wie sie die Philosophen und die Linguisten gleichermaßen — lieben, wie sie sie praktizieren als Ausgangsund Zielpunkt ihrer Analysen. In einer interessanten Anmerkung zum Ausdruck „statement" sagt der Übersetzer: „The French term is ,assertion'. I am sure that,statement' is the English term Austin would have used here ..." — ob diese Sicherheit so ganz zu Recht besteht, kann hier auf sich beruhen. Der Ausdruck „assertion" bzw. „Assertion" hat sich weithin verbreitet. Spannend ist nun, was darauf folgt. Denn Austin beläßt es nicht dabei, die Assertionsbestimmung aufzurufen. Er fahrt vielmehr fort: Die „performance utterance [...] has its own special job, it is used to perform an action" (S. 13). Die performative Äußerung hat also eine eigene Aufgabe; sie erfüllt einen besonderen Zweck. Diese Thematisierung — zögernd vorgetragen, später wieder verworfen, in den William James Lectures an der Harvard Universität 1955 in den Folgen breit ausgearbeitet und gleichfalls tentativ präsentiert - diese Thematisierung entdeckt das, was die Aristoteles-Rezeption präsuppositionell eliminiert hatte. Sie thematisiert all jene sprachlichen Formen, die mit dem Typus eyché abgedrängt, ausgeschlossen worden waren.

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Ausdns Entdeckung ist die Entdeckung, daß man mit Wörtern etwas machen kann. Man führt eine Handlung aus, wenn man spricht. Damit aber wird nicht nur ein weithin unbekanntes Feld von Sprache für den analytischen Blick wieder zugänglich. Damit wird zugleich eine Weichenstellung rückgängig gemacht, die die Aristoteles-Rezeption vorgenommen hatte. Austin eröffnete den Weg hin zu einer Analyse des sprachlichen Handelns selbst. Indem er dies tat, wurde faktisch zugleich das Präsuppositionssystem der nach-aristotelischen Sprachwissenschaft zum Gegenstand neuer Reflexion. Es begann, seine Selbstverständlichkeit zu verlieren. Es zeichnete sich ab, daß ein neues Nachdenken über das, was Sprache ist, erforderlich ist. Was an Poetik und Rhetorik zwar übergeben, dort aber nicht systematisch bearbeitet worden war, verlangte sein Recht, das Recht einer systematischen Analyse.

10. Die Pragmatik Die Entdeckung des Performativen zog einen Schleier von jenem Präsuppositionssystem, das sich im Gefolge der Rezeption von perì hermeneías ergeben hatte. Angesichts der Wirksamkeit, der schlechthinnigen Gültigkeit dieses Systems, angesichts der stillschweigenden Selbstverständlichkeit des dadurch konstituierten Sprachbegriffs ist diese Entdeckung ein Neubeginn; sie ist zugleich Einlösung eines Desiderates, das mit dem „Anderswo" bei Aristoteles indiziert worden war. Es ist aber noch nicht die tatsächliche Beantwortung dessen, was hier an Fragen, an Problembeständen wieder sichtbar wurde. Was Austin begonnen hat, verlangt nach einer systematisierten Konsequentχ. Diese hat zum zentralen Gegenstand eine Neubestimmung dessen, was der Gegenstand von Sprachwissenschaft ist; dessen, wie dieser Gegenstand zu bearbeiten ist; dessen, was als Präsupposition fungieren kann - und was nicht. Die Systematisierung dieses Nachfragens hat in der jüngeren Sprachwissenschaftsgeschichte dazu geführt, daß eine konsequente Theorie des sprachlichen Handelns angestrebt wird. Der Terminus, der dafür verwendet wird, bedient sich wiederum eines griechischen Wortes. Er heißt Pragmatik. Pragmatik nun hat unterschiedliche Bedeutungen; es gibt, selbst innerhalb des beeinflußbaren Bereichs der wissenschaftlichen Terminologie, keine sozusagen „unschuldigen Begriffe". Wird Pragmatik tatsächlich als Handlungstheorie von Sprache verstanden, ist sie nicht nur eine Kompensation und ein Addendum zu dem präsuppositionell verfestigten Bestand, sondern läßt sich auf die kritische Diskussion ihrer eigenen Voraussetzungen ebenso ein wie auf die der Sprachwis-

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senschaft, wie sie kategorial, methodisch und objektbestimmend überkommen ist; dann bearbeitet sie auf reflexive Weise die undurchschaute Gegenwart der Geschichte. Gelingt ihr Bemühen, so trägt sie zugleich dazu bei, die Geschichtlichkeit der Gegenwart ernstzunehmen und in ihrem Licht Beiträge zu leisten, die deren gewaltigen Vorarbeiten auf angemessene Weise antworten. Eine solche Pragmatik zu entwickeln und zu entfalten betrachte ich als eine herausragende Aufgabe der Sprachwissenschaft. In der Ehrung, die mir widerfahrt, sehe ich eine Ehrung auch dieses Bemühens, in dem ich mit einer Reihe von Kollegen und Kolleginnen vereint bin. Es könnte keine größere Anerkennung für unsere gemeinsame Arbeit, es könnte für mich keine größere Anerkennung geben, als daß diese Ehrung durch eine Universität geschieht, die den Namen des größten Sohnes ihres Landes trägt. Ich danke der Philosophischen Fakultät der Aristoteles-Universität, ich danke in Sonderheit ihrer Germanistischen Abteilung für die Verleihung des Titels eines Doktors der Philosophie ehrenhalber, und ich tue dies in großer, tief empfundener Freude.

Literatur Aristoteles: Kategorien. Hermeneutik oder vom sprachlichen Ausdruck (De interpretatione). Beigegeben sind Porphyrios: Einführung in die Kategorien des Aristoteles (Isagoge). Pseudo-Aristoteles: Einteilungen (Divisiones). Pseudo-Platon: Begriffsbestimmungen (Definitiones). Hg, übersetzt, mit Einleitungen u. Anmerkungen versehen v. H. G. Zekl (1998). Griechisch-deutsch. Hamburg: Meiner. Aristoteles: Kategorien und Hermeneutik. = Aristoteles. Die Lehrschriften. Hg, übertragen u. in ihrer Entstehung erläutert v. P. Gohlke (1951). Paderborn: Schöningh. Aristoteles: peri hermeneias. In: Aristoteles Opera. Volumen primum. Hg. v. Academia Regia Borussica / I. Bekker (1831). Berlin. ND 1960. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Aristoteles: Poetik und Rhetorik. Nach beliebigen Ausgaben. Austin, John L. (1962): How to do Things with Words. Hg. v. J.O. Urmson / M. Sbisa. London: Oxford University Press. Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Hg. v. E. v. Savigny (1972). Stuttgart: Reclam. Austin, John L. (1963): Performative - Constative. In: Charles E. Caton (ed.): Philosophy and Ordinary Language. Urbana: University of Illinois Press; abgedruckt (1971) i n j . R. Searle (ed.): The Philosophy of Language. London: Oxford University Press, pp. 13-22. (engl. Übersetzung von „Performatif - Constatif, Vortrag auf der Konferenz „La philosophie analytique" in Royaumont 1958; publiziert 1962 in: Cahiers de Royaumont, Philosophie No. IV. Paris: les Editions de Minuit, pp. 271-304).

Aristóteles, die Sprachphilosophie und die Pragmatik

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Es scheint alles gesagt. Der „Stil" ist in vielfältigen Dimensionen erforscht. Das Konzept gehört zu den unverkennbaren Favoriten der analytischen Bemühungen einer Reihe von Disziplinen, ja, die Erforschung seiner Geschichte ist integraler Bestandteil dessen, was literaturwissenschaftler und Linguisten, was Rhetoriker und Philosophen, was Lexikographen und Mentalitätshistoriker am „Stil" fasziniert. Wie bei nur wenigen anderen Konzepten gehört die Reflexion der je früheren Phasen der Begriffsgeschichte und Semantik zu den Elementen seiner heutigen Nutzung; und diese verdankt sich weithin der immer neuen und immer unterschiedlichen Aktualisierung eines durch und durch „schillernden" Begriffs. „Dem Stilbegriff eignet eine — vielleicht — untilgbare Vagheit." (Pfeiffer 1986, S. 693). Im Ergebnis zeigt sich eine Literaturkonfiguration, die nicht nur — etwa in den großen Wörterbüchern, z.B. Grimm/Grimm (1960), Mitzka et al. (1955), Paul (1992) — die unterschiedlichsten Verwendungen des Ausdrucks minutiös und zusammenfassend vorhält. Vielmehr sind etwa in detaillierten Monographien wie Müller (1981) einzelne Aspekte, einzelne „topoi" zu einer ganzen „Topik des Stilbegriffs" synthetisiert worden. Forschungsgeschichtliche Kompendien in systematisierender Absicht (z.B. Sowinski 1983) liegen ebenso vor wie eine Vielzahl von Einzelstudien, wie sie sich etwa in dem aus der Fülle der einschlägigen Literatur durch die Intensität des theoretischen Zugriffs herausragenden Sammelband Gumbrecht/Pfeiffer (1986) finden. Dieser Band bietet auch mit seinen beiden „Synthesen" (Gumbrecht 1986, S. 729) zwei Versuche einer Systematik des Stilbegriffs (Gumbrecht 1986; Pfeiffer 1986). Ein Wissenschaftler wie Hans-Martin Gauger, für dessen eigenes, linguistische und literaturwissenschaftliche Gegenstände zusammenfassendes Arbeiten „Stil" eine fundamentale Rolle zukommt, umspielt das Thema in einer Reihe brillanter Artikel (Gauger 1992; 1995a—f). Linguistische Untersuchungen — repräsentativ Stickel (1995) — nähern sich dem Gegenstand aus einer anderen RichDieser Artikel wurde Werner Kallmeyer bei Gelegenheit seines 60. Geburtstags gewidmet.

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tung, und die insbesondere von Sandig (vgl. zusammenfassend Sandig 1983, 1995; Spillner 1984; Sowinski 1991 und Sanders 1973) vorangetriebene neuere linguistische Stilistik thematisiert Aspekte von „Stil", die sich in den literaturwissenschaftlichen Herangehensweisen schon aufgrund der anderen sprachlichen Objektbereiche nicht zur Geltung bringen konnten (vgl. die Uberblicke insbesondere von Sanders 2000 und Asmuth 1990). Die Beziehungen zur Didaktik erfahren neue Beachtung (Neuland/Bleckwenn 1991). Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Arbeiten lediglich exemplarisch genannt werden können, um die Vielfalt und Differenziertheit des Feldes zu illustrieren — zahlreiche weitere verdienten es, erwähnt zu werden. Die Arbeiten Werner Kallmeyers bezeichnen in diesem Geflecht eine eigene, für ihn und seinen Arbeitszusammenhang charakteristische Substruktur. Zugleich, so scheint mir, ist das Konzept „Stil" gerade aufgrund seiner philologisch-linguistischen Ubiquität etwas, was von Kallmeyers Dissertation über Lorca (Kallmeyer 1971) über das große Vorhaben der Stadtsprachen-Erforschung (Kallmeyer 1994, 1995; Keim 1995, Schwitalla 1995) bis hin zum aktuellen Projekt einer Sozialstilistik (s. Keim/Schütte 2002 in ihrer Einleitung) jenen roten Faden abzugeben vermag, der den Weg durch seine vielfältige Autorschaft weisen kann. Freilich, der „rote Faden" ist in diesem Fall seinerseits eher ein aus unterschiedlichsten Fasern zusammengesetztes Phänomen, dessen Konsistenz und Bestandteile, vor allem aber dessen Einwebung in so außerordentlich voneinander unterschiedene „Texte" und dessen Präsenz in den heutigen Wissenssystemen weiteres Nachdenken lohnen. Ziel der folgenden Überlegungen ist es, einen Aspekt, nämlich den der Ubertragungsgeschichte von „Stil", etwas genauer zu betrachten. Dieses Unterfangen wird in der Hoffnung unternommen, dadurch vielleicht einen kleinen Beitrag zu einer zukünftigen „Kritik des Stilbegriffs" — noch nicht einmal eigentlich zu leisten, sondern vorzubereiten.

1. Um über Reden und Schreiben sprechen zu können, wird in den (westund nord-) europäischen Sprachen in erheblichem Umfang auf Ausdrücke wie auf Konzepte zurückgegriffen, die in der griechisch-römischen Welt entwickelt wurden. Reden und Schreiben sind nicht die einzigen Gebiete von Kultur, in denen das geschieht; doch hier geschieht es besonders

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intensiv — und dies ist alles andere als erstaunlich. Differenzierte kommunikative Anforderungen erbten die Völker der nachlateinischen Welt ebenso wie die Verfahren ihrer Bearbeitung von denen, bei denen diese sich bereits seit Jahrhunderten entwickelt hatten. In dem Amalgam, das unsere heutigen sprachlich-lexikalischen Mittel darstellen, sind diese Elemente weiter präsent. Sie sind zu einem geradezu selbstverständlichen Bestandteil der Lexika aller der Sprachen geworden, die die Rede- und Konzeptualisierungstraditionen fortsetzen, deren Ausbildung in der griechisch-römischen Welt begann. Dabei haben sie innerhalb der jeweiligen Lexika ganz unterschiedliche Stellenwerte. Sie sind einerseits Teil jenes allgemeinen Vokabulars und der in ihm aktualisierten konzeptionellen Wissensbestände, die als Ergebnisse früherer wissenschaftlicher Reflexion entstanden und allmählich in den gedanklichen Allgemeinbestand überführt wurden. Sie sind andererseits eine „stille Ressource", die je neu aktualisiert und als Potential neuen Nachdenkens, neuer Konzeptualisierungen genutzt werden kann. Das Ergebnis dieser komplexen Prozesse ist eine semantische Konglomeration, deren einzelne Elemente schwer zu sondern und noch schwerer zu durchschauen sind. Diese für den Ausdruck „Stil" kennzeichnende Kombination von resultatsichernden Fixierungen, aktualisierbarem Potential, das jeweils neu aufgerufen und in als gesichert geltende Erkenntnisse überführt werden kann, und einem Changieren zwischen beidem, bei dem die spezifischen Stellenwerte und damit die kognitiven Verlässlichkeiten nur schwer im Einzelnen bestimmbar sind, kennzeichnet die meisten Ausdrücke, die eine vergleichbare Geschichte und eine vergleichbare Geschichtlichkeit aufweisen. Es ist, denke ich, deutlich, daß es dabei nie einfach nur um die Ausdrücke allein geht, vielmehr genau um sie als Identifikatoren und Stellvertreter von Wissens-, Ableitungs- und Gedankenstrukturen, die ihr Gebrauch aufruft und zur Verfügung stellt. Für derartige Ausdrücke lohnt sich eine reflexiv-kritische Analyse, die die kognitive Qualität der Ressource näher zu bestimmen sucht, indem die in ihr niedergelegten Erkenntnisstrukturen und das Potential zu deren Weiterungen eruiert werden.

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2. Die Zusammenfassung zu einer vermeintlich einheitlichen Kultur, der griechisch-römischen eben, verbirgt dabei — ganz im Sinn der späten Sicht jenes Beerbungsvorganges —, daß für das differenzierte Reden und Schreiben und seine Mittel, seine Verfahren wie für deren Professionalisierung eine erste solche Beerbung vorausgegangen war, die der griechischen Welt durch die römische. Die Subsumption des Griechentums unter die Macht Roms war eine eigenartige Mischung von militärisch-politischer Hegemonisierung bei gleichzeitiger kultureller Unterwerfung. Es waren die Griechen, die — trotz einer weit entwickelten öffentlichen Redepraxis auch bei den Römern — als Muster, als Vorbild, als Experten des Wortes erschienen. Ihre Erkenntnisse über Wort und Schrift übernahm man — und tat es mit allen dafür transkulturell zur Verfügung stehenden sprachlichen Verfahren. Vier Aspekte sind hervorzuheben: (a) die Belehnung der Terminologie im fremden Wortlaut; (b) die Belehnung der Bezeichnungsweisen in der Gestalt von Neuschöpfungen oder von Wortbedeutungserweiterungen („Lehnübersetzungen'); (c) die Übernahme des Wissenssystems; (d) die Herstellung von Praxisfeldern und Vermittlungsinstitutionen. Die ersten beiden sind hier von besonderem Interesse. Am Beispiel der Ausdrücke für die Rhetorik wie für die Grammatik selbst sind (a) und (b) zu illustrieren: aus der téchnê rhetoriké und der téchnê grammatiké werden die ars rhetorica und die ars grammatica: Der Ausdruck técbné wird durch ars übersetzt; rhetorica hingegen übernimmt das griechische Wort und adaptiert es lediglich graphisch und in der Flexion. Der TerminologieStatus wird so unterstrichen. Entsprechend wird die auf die Schrift bezogene téchnê mit dem fremden Wort grammatìkós bezeichnet: das, was mit den grámmata, den Buchstaben als dem einzelnen Geschriebenen (Stamm graph-/gram- und die Neutrum-Bildung -ma), zu tun hat. Lateinisches oratorias (auf die Rede bezogen, zur Rede gehörig) und litteralis (auf die Schrift bezogen, zu den Buchstaben gehörig) gewinnen keine vergleichbare Nutzung. Es ist die sozusagen „technische" Seite, die besondere, durch eine eigene Ausbildung gewonnene Qualifizierung der Spezialisten, die sich in der Terminologie selbst kenntlich macht. Die Rhetorik als eine vermittlungsfähige „Kunst" also war spätestens in römischer Zeit eine durch und durch interkulturelle Angelegenheit — und es bedurfte der Herausbildung besonderer Umstände, um ihr in Rom

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einen vergleichbaren Platz zu vermitteln, wie sie ihn zur Zeit ihrer Höhepunkte im „Großen Griechenland" gehabt hatte. Sie waren am Ende der Republik gegeben, als sowohl die juristischen wie die „politischen" Umstände dem Reden einen je eigenen Platz gaben. Cicero und Quintilian antworteten auf die Herausforderungen und entwickelten jene lateinische Rhetorik, die zur Grundbildung des Mittelalters werden, die zugleich auch über dessen Ende hinaus und in seiner Ablösung durch die „Renaissance" eine neue Faszination ausüben sollte.

3. Die einschlägigen Erkenntnisse waren bereits in der griechischen Geschichte zu einer in sich recht stabilen Tradition geronnen, aufgeführt zu einem „Gebäude" (die Metapher taucht in der Gedächtnislehre der Rhetorik nicht umsonst auf) von Kenntnissen und Fertigkeiten, die lehrbar waren und so weitervermittelt werden konnten. Dieses Wissenssystem zielte auf Praxis ab und unterschied sich darin von der epistéme und noch mehr gar von der theoria. Es war eine téchné; darin lagen sein Nutzen und seine besondere Herausforderung. Freilich: zugleich waren erhebliche auch (im heutigen Sinn) theoretische Ansprüche damit verbunden. Die Rhetorik ging in der bloßen Fertigkeitensammlung nicht auf. Schnell war sie zu einer Weltsicht geworden, die sich mit Aggressivität und Polemik quasi als Systemangebot propagierte. (Die Philosophie nahm die Herausforderung an — und „modernisierte" sich so. Die Fragen nach den Urgründen des Wissens und der Welt traten zurück, die Fragen der Grundlegung von Gesellschaft und Zusammenleben in den Vordergrund. Stand nach sophistischer Art „der Mensch", das heißt der einzelne Bürger in seinen jeweiligen Interessen und seinen Versuchen, sich den anderen gegenüber durchzusetzen, im Mittelpunkt — oder sollte nicht die Wahrheit als etwas, was, über ihn hinausgreifend, eine verlässliche philosophische Grundlage für das Zusammenleben der Polis abgeben kann, diesen Mittelpunkt ausmachen?) Mit dem Ende der Polis-Welt durch die makedonische Eroberung und Einigung, die die Gestalt einer neuen gesellschaftlichen Gesamtorganisation annahm, durch die schließliche Subsumption unter die römische Herrschaft verlor die griechische Rhetorik große Teile ihrer Funktionszusammenhänge. Das Wissenssystem, nunmehr ohne seine eigentliche Basis, war aber derartig konsolidiert, daß seine Tradierung nicht mehr ernsthaft behindert war. Ja, vielleicht hat diese Loslösung gerade dazu beigetragen, daß es als konsolidiertes Wissen systematisiert (Quintilian) und geradezu schulisch vermittelt werden konnte.

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4. Nur an wenigen Stellen erfuhr das System Erweiterungen. Die Einführung von stilus gehört dazu. Dieser Ausdruck hat eine eigenartige Vorgeschichte (vgl. Georges 1992, Sp. 2800f.). stilus ist (a) zunächst „jeder aufrecht stehende spitze Körper" (ebd.). Dies betrifft die Landwirtschaft, in der (b) „ein spitzes, länglich rundes Werkzeug" genutzt wurde, „um die Gewächse auseinander zu machen"; (c) es betrifft das Militär, in dem „verdeckte spitze Pfahle, vorn mit eisernen Haken versehen", als Palisaden eingesetzt wurden; (d) es betrifft den Gartenbau, wo stilus Stängel, Stange (Spargel), Stiel oder Stamm (Walnuss-, Olivenbaum) bezeichnet. (e) Schließlich wird stilus verwendet für die Tätigkeiten des Schreibens. Hier ist es der „Griffel" (es ist diese wohl volksetymologisch aus graphium entlehnte Bezeichnung, die sich im Deutschen seit althochdeutscher Zeit durchsetzte (Paul 1992, S. 371)), mit dem geschrieben wurde, und zwar vor allem „in die wächsernen Tafeln". Er war „oben breit wie ein Falzbein, unten spitz" (Georges, ebd.). Diese zwei unterschiedlichen Enden des stilus waren beide wichtig: „Auf der einen Seite war der S[tilus] spitz, um die Schrift in Blei oder meist Wachs einzuritzen, während er auf der anderen Seite abgeplattet war, um das Wachs wieder glattstreichen und damit Fehler korrigieren zu können." (Oppermann 1975, Sp. 374; vgl. Gauger 1992 u.ö.). Die Verwendungsweisen (a) bis (d), besonders die Grund-„Bedeutung" (a) „jeder aufrecht stehende spitze Körper", verbinden das Wort mit dem griechischen stylos, das freilich eher für Säulen und vergleichbare Objekte verwendet wurde. Daß in der Zeit der klassischen „Bildung" im Französischen, Englischen (bis heute) und im Deutschen „Stil" lange, nämlich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, mit y geschrieben wurde, also „style", mag zwar als „irrige Ableitung des lat. Wortes aus dem Griechischen" bezeichnet werden (Mitzka et al. 1955, S. 593). Man ist fast versucht, hier neben die „Volksetymologie" sozusagen eine „Gelehrten-" bzw. eine „Fachetymologie" zu setzen - mit ähnlichen Qualitäten, sozusagen als frühe Form für fachsprachliche Bildungen vom Typ „Handy". Andererseits ist aufgrund der tatsächlichen etymologischen Beziehung die Kontamination von stilus und stylos so völlig ohne Stimmigkeit nicht. Die Beziehung des Schreibwerkzeugs stilus zur wächsernen Tafel rief einen besonderen Teilbereich des Schreibens auf: „Man bediente sich seiner besonders zur Übung im Schreiben ... u. zum Konzipieren." (Georges

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1992, Sp. 2800). stilum vertere, den Griffel von der spitzen zur flachen Seite umdrehen, bedeutete, daß, wenn das Wachs wieder glattgestrichen wurde, Platz für das Konzipieren eines anderen Gedankens statt des ersten entstand und dieser ins Wachs gebracht werden konnte. Daß der Griffel zugleich auch als handliche und gut zu verbergende Kleinwaffe dienen konnte, mußte nicht zuletzt der Autor Caesar an eigenem Leibe erfahren. Im „Stilett" hält sich dieser Aspekt von „Autorschaft" weiter präsent.

5. Das Schreibwerkzeug, genauer gesagt: die schreibbezogene Konzipierungshilfe, verwies auf eine weit entwickelte Praxis solchen Konzipierens. Die Rhetorik, die Aspekte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verbindet, bedurfte der schriftlichen Hilfe gerade dazu, um zu jener festen Form zu gelangen, die schließlich der memoria zugeführt werden konnte, um mündlich vorgetragen zu werden. Diese Praxis legte eine Nutzung des Ausdrucks stilus jenseits jener materiellen Konkretheit nahe, in der ein handliches Werkzeug des Schreibens erfaßt war. Es kommt zu einer ersten Übertragung, und diese ist metonymischer Art. Hierfür häufen sich die Belege bei Cicero (vgl. Georges 1992, Sp. 2800, IV), 2)a)). Zunächst wird dabei das Schreiben im Sinne der schriftlichen Abfassung, im Sinne der Komposition gemeint; stilus wird zum Ausdruck für die Bezeichnung bestimmter Darstellungsweisen, z.B. nach Art der Geographen. Ein stilus exerätatus ist sozusagen „eine geübte Feder".

6. Doch mit dieser Metonymie beginnt erst eine fulminante Übertragungsgeschichte. Diese betrifft vor allem die Rhetorik und die Wissenschaften, die mit ihr in der einen oder anderen Weise verwandt sind. Um diese Übertragungsgeschichte näher zu charakterisieren, bedarf es der analytischkategorialen Hilfsmittel — die wiederum eben die Rhetorik zur Verfügung stellt. Absehbar ergibt sich hier ein methodologisches Dilemma, das in der Definitionslehre aufgelöst wurde, indem die Nutzung des definiendum ins definiens strikt untersagt wurde. Doch solche Verbote, so sehr sie in Motivation und Begründung nachvollziehbar sind, verfangen nicht. So wird man nicht umhin können, sich dem Dilemma auszusetzen und vorsichtig mit ihm umzugehen.

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Bekanntlich ist das Bemühen um das genaue Verständnis dessen, was es an Übertragungsprozessen gibt, trotz intensivster theoretischer und praktischer Anstrengungen bis heute kaum zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Gerade der Umstand, daß mit den antiken Bestimmungen relativ früh eine Art Sättigungsgrad der Erkenntnisbewegung erreicht war, dürfte dazu beigetragen haben, daß die weiteren internen Arbeiten von Rhetorik und Literaturwissenschaft sich weithin als Explikationen des in der Antike bereits Bekannten darstellen. Die je neuen Entwicklungen anderer Disziplinen waren hingegen vielleicht am ehesten geeignet, neues Licht auf die Phänomene und ihr Verständnis zu werfen, wie gerade die im Anschluß an Lakoffs (1987; Lakoff/Johnson 1980) Untersuchungen entstandenen Analysen zeigen. Allerdings fehlt dann weithin eine Verortung der neuen Erkenntnisse mit Blick auf die älteren Konzeptionen.

7. In der weiteren Übertragungsgeschichte zeigen sich die unterschiedlichsten Formen der Metaphorese. Sie nimmt die Metonymie zum Ausgangspunkt. Es zeigt sich etwa eine Verwendung für „die Ausdrucksweise, Schreibart". Dies nähert sich bereits dem, was später „Stil" werden sollte (Georges 1992, Sp. 2800, IV), 2)b)). Doch diese Facette war keineswegs fest, wie weitere Übertragungen zeigen, stilus ist auch „das Schrifttum" allgemein; stilus ist sogar die „(schriftliche) Stimmenabgabe" und in diesem Sinne „die Stimme", die der Wählende einzubringen hat. Schließlich wird stilus — eine weitere Übertragung — zum Ausdruck für die beiden großen Sprachvarietäten des Römischen Reiches: Graecus, Romanus stilus (Georges 1992, Sp. 2801).

8. Indem die Übertragungsgeschichte soweit vorangeschritten ist, wird stilus für das wohlgeformte Gebilde der Rhetorik interessant. Dies ist am großen zusammenfassenden Werk des Quintilian ablesbar: Der Griffel wird in den „Grundlagen der Redekunst" bei den allerersten Anfängen erwähnt — und dies in der Beschreibung des Schrifterwerbs durch das Kind (I 1,27): Nach dem Erwerb der Lesefähigkeit „wird es nicht unnütz sein, diese [sc. die Schriftzüge] so gut wie möglich auf einem Täfelchen eingraben zu lassen, damit der Griffel durch sie wie durch Furchen gezogen werden kann". Diese frühen Bemühungen — so schließt Quintilian seine nächsten Gedanken an — dienen dem Erwerb einer „sauberen, schnellen

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Handschrift" (28). Gerade der Schnelligkeit steht die Hemmung des Denkens gegenüber, die von einem „allzu trägen Griffel" ausgeht — so wie „ein ungewandter, wirrer Griffel ... es an der Verständlichkeit fehlen" lässt (ebd.). Diese wahren Anfangsgründe des Schreibens — und der angewandten Übertragungsgeschichte für stilus — läßt der Verfasser bald zurück. Es ist „die schriftliche Darstellung" (Zundel 1989, S. 94), auf die sich die weitere Übertragung bezieht. In Gestalt von Aufsatzübungen schreitet die weitere Arbeit voran — „Stilübung" überschreibt der Übersetzer treffend das 3. Kapitel von Quintilians X. Buch (Rahn 1995, S. 497). Vor allem ist es das schriftlich ausgearbeitete „Redekonzept", um das es geht (Zundel 1989, S. 95). Noch randständig bleibt die Verwendung des Ausdrucks für „die Ausdrucksweise, Schreibart", — den „Stil". Er wird aufgerufen, wenn Quintilian sagt, daß er in einem bestimmten Zusammenhang „alle Stileffekte beiseite" läßt und sich „ganz dem an [bequemt], wie es dem Lernenden praktisch von Nutzen ist" (VII 1,54). Die entscheidende Übertragung freilich findet sich dann und dort, wo stilus in den Bereich der elocutio übernommen wird. Diese, „der sprachliche Ausdruck ... der in der inventio ... gefundenen Gedanken" (Lausberg 1990, § 91), läßt drei unterschiedliche stili erkennen (Lausberg 1990, § 465): den stilus humilis, den stilus mediocris und den stilus grams. Diese Differenzierung in unterschiedliche stili macht den zweiten zentralen Teil der elocutio aus. Die Einteilung in den einfachen, den mittleren und den schweren Stil bietet eine Grundlage für eine elementare Schreibweisenlehre. Ist diese nun, wie die Verwendung des genuin lateinischen Ausdrucks stilus nahe legen könnte, eine Entdeckung erst der lateinischen Rhetorik? Die Antwort auf diese Frage fällt negativ aus. Vielmehr wird der mittlerweile mehrfach übertragene Ausdruck stilus an einer Stelle eingesetzt, an der in der lateinischen Tradition bereits eine hinreichende Differenzierung ausgewiesen ist — aber unter einem anderen Terminus. Es ist das allgemeine und abstrakte Wort genus, das die Arten der elocutio bezeichnet. Dieser Terminus hat im Griechischen mit génos durchaus seine Entsprechung. Freilich wird génos in der griechischen Tradition auf die materia, die res, bezogen. Zurückgehend auf Aristoteles, finden sich drei Arten der Redegegenstände. Sie heißen gène ton logon, aber auch eide. Quintilian sagt (III 3, 14): partes (s. Lausberg 1973, S. 53 (§ 61), Anm. 2). Es ist ersichtlich, daß hier von einer terminologischen Präzisierung und Fixierung noch nicht die Rede sein kann.

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Die genera dicendi, bei Quintilian im 10. Kapitel des XII. Buches abgehandelt, enthalten vieles von dem, was heute unter einer Stilistik gefaßt wäre. Doch ist auffallend, daß die Nutzung des Ausdrucks „Stilgattung" ganz dem Bemühen des Übersetzers geschuldet ist, einen möglichst sprechenden Terminus für die Übertragung von genus im lateinischen Text zu gewinnen. Hier findet also sozusagen eine Rückübertragung einer späteren, konsolidierten Metaphorese in deren Ausgangsphase statt. Erst bei dem Grammatiker Servius aus dem 4. christlichen Jahrhundert erfolgt der Einsatz von stilus an der Stelle -von genus (Asmuth 1990, S. 403). Die mittelalterliche Tradition hingegen verwendet stylus ganz selbstverständlich anstelle von genus eiocutionis, (s. Lausberg 1973, S. 695). Die genus-Konzeption der elocutio ihrerseits ist auf subtile Weise mit der dudus-Lehte (Lausberg 1990, § 66) verbunden.

9. Neben der Übertragung in Bezug auf die genera eiocutionis sieht Lausberg (1990, § 97) eine zweite, die er als die erste darstellt. Lausbergs Argumentation verdient es, hier im Detail angeführt zu werden: „Die Beobachtung, daß die elocutio als sprachlicher Ausdruck nicht nur ein aptum zur ausgedrückten res ..., sondern auch zum Ausdrückenden (dem eine mehr oder minder bestimmbare Variante der Ausdrucksmittel eigen ist) hat, erlaubt es, das eigentlich den >Schreibgriffel< des Schreibenden bezeichnende Wort stilus als Terminus für die >elocutio-Variante< {genus eiocutionis ...) zu verwenden, und zwar: 1) zunächst (der Grundbedeutung von stilus entsprechend) für die >elocutio-Variante, die für einen Autor (oder darüber hinaus: für eine Autorengruppe, für ein Zeitalter) charakteristisch ist< (Macr. Sat. 5, 1, 16; 6, 9, 3); 2), sodann für eine >elocutio-Variante {genus eiocutionis) überhaupt< (Plin. epist. 7, 9, 7)." Die hier vorliegende Übertragungs-Interpretation ist aufschlußreich. Wieso die „elocutio-Variante, die für einen Autor ... charakteristisch ist", eine besondere Beziehung zur „Grundbedeutung von stilus" haben soll, wird jedenfalls nicht expliziert. Die Rekonstruktion überschlägt hier sowohl den oben herausgearbeiteten Schritt der anfänglichen Metonymie wie die darauf aufbauende Folge-Metaphorese, die dargestellt wurde. Der Gewährstext, auf den sich die Argumentation stützt, Macrobius, ca. 400 n. Chr., scheint gleichfalls wenig geeignet zu sein, ein solches „zunächst" rechtfertigen zu können.

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Vielmehr legt sich die Vermutung nahe, daß hier eine heute herrschende Stilauffassung aufgrund ihrer Präponderanz die Priorität setzt.

10. Das in sich fest gefugte Gebäude der Rhetorik in seiner mittelalterlichen Gestalt, also als Bestandteil des Triviums, bildet die Basis für die weitere Wirkungsgeschichte. Französisches, englisches und schließlich auch deutsches Vokabular greifen den Ausdruck auf. Sie tun dies, indem sie an der als stylus reinterpretierten genus-hthte anknüpfen. Boileaus „Art poétique" wird von Lausberg (1973, S. 948f.) als Beispiel angeführt. Hier erscheint etwa der style simple neben vielen anderen, und es kommt zu einer gewaltigen Vermehrung von „Stil"-Charakteristika. Diese freilich lassen die genusLehre hinter sich: Die Übertragungsgeschichte setzt sich fort. Das, was an den Grundgenera, an ihrem aptum, und an den Gefahrdungen, die es zu verfehlen drohen, ausgemacht worden war, wird zu einer allgemeinen Einschätzungslehre sprachlicher Produktion weiterentwickelt.

11. Die Übernahme ins Deutsche knüpft hier an (Erstbeleg 1425; Mitzka et al. 1955, S. 593; vgl. Paul 1992, S. 852). Freilich: „Stil bleibt bis in die Mitte des 18. Jahrhundert ein ziemlich seltenes Wort" (ebd.). Als Terminus für „Schreibart" übernommen, unterliegt es der Reinigungsarbeit der Puristen. Wenn es bei Mitzka heißt: „Der Begriff steht zunächst unter dem Einfluß der antiken Rhetorik, doch wirken literarische Einflüsse aus Italien, Frankreich, England usw. zeitweise stark auf ihn ein" (1955, S. 593f.), so wird hier knapp das zusammengefaßt, was an Übertragungsgeschichte bis hin zur nachmittelalterlichen Verwendung sich konglomeriert hatte. Die Adaptierung an die neuen poetischen Bedürfnisse findet erst seit der Mitte des 17. Jahrhundert statt, wenn man nunmehr „in engerem Sinne auch von gebundenem, poetischem und von ungebundenem, losem, prosaischem Stil" spricht (Mitzka et al. 1955, S. 594). Diese Übertragung transportiert das Wissenskonglomerat, das unter dem Ausdruck „Stil" abgebunden ist, in eine Debatte, die sich — durchaus unter Bezug auf das Wissenssystem der Rhetorik — doch neuer Bemühung um die Gestaltung literarischer Texte verpflichtet weiß.

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12. Eine ganz andere Richtung schlug die Übertragung von „Stil" innerhalb der fast anderthalb Jahrhunderte sich hinziehenden Debatte über das Normaljahr ein. Wenn hier vom „Kalender alten und neuen Stils" die Rede war, so geht es um nichts anderes als die jeweilige Kalender-Variante. Die Erläuterung „Brauch, Gewohnheit" (ebd.) knüpft zwar an einer mittellateinischen Bedeutung an, doch findet sie hier eine klare Zuspitzung durch die Spezifizierung für einen besonderen Verbalisierungsbereich. Stärker der inzwischen traditionellen Verwendung verpflichtet ist die Nutzung des Ausdrucks „Stil" für ganze Typen von schriftlichen Texten, die sich besonders in der Herausbildung der Schreibweisen einzelner Kanzleien seit der frühneuhochdeutschen Zeit finden. Der bedeutende Beitrag, den der in diesen Kanzleien entwickelte, gepflegte und vermittelte „Stil" für die Herausbildung und Konsolidierung raumübergreifender Varietäten des Deutschen geleistet hat, ist inzwischen vielfältig anerkannt. Daß er als Kanzleistil zunächst mustergültig war, schließlich aber immer stärker auf Kritik stieß (Mitzka et al. schreiben ganz in diesem Sinn, daß er „später als gekünstelt, schwerfällig und undeutsch [sie!] der Verachtung" „verfiel" (1955, S. 594)), erbrachte für die Semantik des Stilbegriffs eine neue, eigene Dimension (s. Schwitalla 2002). Der Umschlag vom Muster zum Verdikt markiert eine wichtige Phase in der Herausbildung jener Entwicklung, in der Rhetorik, inzwischen zur „literarischen" geworden, als „Stilistik" reinterpretiert und re-etabliert wurde (vgl. Asmuth 1990; 1991).

13. Auf anderem Wege gewann Stil eine weitere Nutzungsfacette: Im Italienischen war die musikalische Vortragsweise des Rezitativs mit stilo bezeichnet worden. Die europäische Verbreitung italienischer Musikpraxis und theorie im 17. Jahrhundert brachte auch diese Verwendung mit in die deutsche Sprache ein — mit der interessanten Variante, daß — ähnlich wie die drei genera elocutionis, die drei stili, in der Redekunst eine Grundkategorisierung der vorliegenden Verfahrensweisen ermöglicht hatten — nunmehr in den Bemühungen um allseitige Systematisierung gesagt werden konnte: „Die Music führet einen dreyfachen stylum ...", nämlich die Kirchen-, Theater- und Kammermusik (so in einem Lexikonartikel aus dem Jahr 1717, zitiert nach Mitzka et al. 1955, S. 594). Dieser Übertragungsprozeß ist insofern besonders interessant, als hier eine klassifikatorische Sachpar-

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alleütät über eine andere Metaphorese sozusagen hergestellt wurde - anders, als es die ursprüngliche im Bereich sprachlicher Sachverhalte war. Ein weiterer solcher Prozeß kam mit Winckelmann zustande, als dieser für seine kategorisierende kunsttheoretische Arbeit — wahrscheinlich im Anschluß an italienische, französische und englische Verfahren (Mitzka et al., ebd.) - neben der „Manier" auch den Stil zur Erfassung unterschiedlicher Phasen griechischer Kunst terminologisierend einsetzte. Was sich hier fast unbemerkt gegenüber den früheren Übertragungen zusätzlich gleichsam „einbringt", ist eine historische Dimension. Dies sollte für die weitere Entwicklung folgenreich werden - vor allen Dingen freilich über ein zuvor schon in Frankreich entwickeltes Übertragungsmodell, jenes nämlich, das Buffon (1753) bot (vgl. Gauger 1995c).

14. Dieses hat Müller (1981) in seiner großen Monographie über die „Topik des Stilbegriffs" in seinem Zusammenhang genauer untersucht (ein Werk, das, rhetorische Kategorien nutzend (vgl. die Einleitung), ein Stück Rhetorikgeschichte aufzuklären sich vorgenommen hat). Die genaue Funktionalität des ja auf einem anderen als dem eigentlich literarischen Gebiet tätigen Autors Buffon präzise zu bestimmen, ist nicht ganz einfach. Müller weist sowohl rückwärts wie für die sich weiter anschließende „Stil"Geschichte Kontinuitäten, Bezüge und — Fehlbezüge nach. Die spätere Inanspruchnahme sah in Buffons Diktum „Le style est l'homme même" die Möglichkeit, eine Individualisierung des Stilkonzeptes im Sinne einer Autorcharakterisierung vorzunehmen. Besonders die romantische Theoriebildung knüpfte hieran an (Müller 1981, V). Die bloße Einkleidungsmetaphorik des Stils erfahrt ihren Widerpart im Konzept des Stils als „Inkarnation" des Gedankens. Die Konzentration auf Individualität fand gerade in derart individualisierten Stilauffassungen jene Spezifizierung, die auf der Suche nach einer Theorie eine besondere „Physiognomie des Geistes" ausmachen wollte (Schopenhauer, Parerga II § 282). Nietzsche nimmt dies auf und transformiert es zu einem Kernkonzept seiner eigenen Autorschaft, das Klass (2002) detailliert und in seiner Vieldimensionalität rekonstruiert (vgl. schon Gauger 1986, 1995e). Daß Nietzsche dabei zugleich mit seinen Versuchen eines „großen Stils" geradezu einen Topos des wilhelminischen Deutschland sich adaptiert, gehört zur Dialektik von Distanz und Nähe, in der sich Nietzsche in- und außerhalb jenes „Zweiten Reiches" positioniert.

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15. Versuchen wir, die hier allenfalls angerissenen Aspekte der Übertragungsgeschichte von „Stil" seit dem 17. Jahrhundert zusammenfassend zu charakterisieren: Es sind drei solche Aspekte, die gleichsam wie Funken im Prozeß der Übertragungen aus dem Konglomerat von „Stil"-Verwendungen geschlagen werden: Historisierung, Individualisierung und Essentialisierung. Was ein gattungsbezogenes Merkmalsbild war, wird zum Kristallisationspunkt einer neuen Sichtweise von Autorschaft und Werkcharakteristik.

16. Es ist gerade die in der Metaphorese hergestellte Vieldimensionalität des semantischen Konglomerats, die „Stil" geeignet erscheinen läßt, zu einer Leitmetapher der theoretischen Auseinandersetzungen zu werden. Während die Rhetorik in ihrer Bedeutung zurücktritt, wird der sich aus ihr lösende „Stil" mit — im Einzelnen unterschiedlichen, in der Gesamtheit jedoch vielfaltigen — semantischen Leistungen ausgestattet (vgl. Asmuth 1991). „Stil" tritt dabei aus der Funktion eines relativ jungen Hilfskonstrukts der lateinischen Rhetorikgeschichte heraus und wird zum Träger solcher Theoriediskurse, denen das rhetorische Gesamtgebäude zu eng und zu abständig wird. Asmuth (1990) formuliert treffend in Bezug auf den Übergang, der im 18. Jahrhundert begann: „Die Rhetorik geriet ins Zwielicht. Die Elokutionslehre löste sich aus ihrem Rahmen, erhielt als nun primär schreiborientierte >Stilistik< eine neue, bis heute bestimmende Prägung u. verdrängte allmählich die Rhetorik ..." (S. 404). Der Transformationsprozeß, der mit dieser Verdrängung verbunden war, nahm im Deutschen sozusagen charakterologische Züge an. Natürlichkeit und Anschaulichkeit wurden leitende Maximen. Die überkommene und überlieferte Detaillierung, in der einst die einzelnen sprachlichen Mittel ihre elocuώ'ο-bezogene Bestimmung erfahren hatten, wurde durch neue Fragestellungen ersetzt. Diese thematisierten sprachliche Einzelstrukturen — und ebneten so die im Triwum verankerte Unterscheidung zwischen Rhetorik und Grammatik ein. Für diesen Prozeß erwies sich die sich neu formierende Stillehre gleichsam als Katalysator. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wird eine neue Ableitung von „Stil" gebildet, die „Stilistik". Schon Novalis sieht nicht mehr die Ableitungszusammenhänge, sondern ein Parallelwissenssystem, wenn er schreibt (zitiert nach Grimm/Grimm 1960, Sp. 2938): „die stilistik hat ungemein viel ähnlichkeit mit der deklamationslehre oder der redekunst im strengen sinne". Damit ist Stil zu

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einer umfassenden Charakterisierung alles dessen geraten, was aus der Rhetorik für „moderne" Autorschaft noch interessant ist.

17. Dieser Übertragungsprozeß verdient nähere Betrachtung: Er hat eine einigermaßen vertrackte Struktur. Ein Element einer Wissenschaft, eben „Stil", wird, dermaßen herausgelöst, zur Bezeichnung für eben jene Wissenschaft; semantisch eine Bedeutungserweiterung, genauer gesehen aber eigentlich eine neue Metonymie. Die Gemeinsamkeit der Partizipation in der Sache wird durch den Übertragungsprozeß ebenso sehr vorausgesetzt wie — mystifiziert. Man tritt sozusagen in eine „zweite Runde" des Übertragungsprozesses ein. Sie beschränkt sich nicht auf diese neue Metonymie, sondern sie betrifft gleichfalls die stärker metaphorisierenden Übertragungen, in denen die „Sachhälfte" der Metapher eine Wissenschaft ist und die Übertragung eine andere Wissenschaft betrifft. Die Wissenschaftssprache unterliegt im Prinzip einem „Metaphernverbot" (Weinrich 1989). Die Metaphorese steht im Widerspruch zu eben jenen auch sprachlichen, insbesondere terminologischen. Präzisionsanforderungen, in denen Wissenschaftsethik kulminiert. Gleichwohl kommt (und dies gilt wahrscheinlich sogar für die Sprache der Mathematik) die Wissenschaftssprache ohne die Nutzung von Metaphern offensichtlich nicht aus. Zugleich setzt sich die im Metaphernverbot artikulierte befürchtete Erkenntnisverfehlung im metaphorischen Sprachgebrauch durchaus sehr real um: Nur allzu leicht steht der bloße Ausdruck, metaphorisch gewendet, an der Stelle der durch ihn suggerierten Erkenntnis. Je kühner eine Metapher im literarischen Zusammenhang gestaltet wird, um so willkommener mag sie dort sein, stiftet sie doch „auf einen Schlag" jenen kognitiven und/oder ästhetischen Gewinn, den sich der Leser von seiner Lektüre verspricht. Wie dieser Gewinn erzeugt wird, liegt weithin im Dunkeln. Ein vergleichbarer Prozeß, im wissenschaftlichen Zusammenhang initiiert, steht hingegen vor der Problematik, daß er eo ipso jene Explikation schuldig bleiben wird, ja muß, auf die Wissenschaft nicht verzichten kann. Gleichwohl verzichtet sie de facto immer dann darauf, wenn sie sich auf die Metaphorese verlässt. Damit dieser Widerspruch nicht manifest wird, sind derartige Übertragungsprozesse in den Wissenschaften subtiler als im literarischen und im diskursiven Handeln. Es ist eine Metaphernnutzung „in disguise", eine Metaphernnutzung, deren Eigenart selbst verborgen bleiben muß. In ihr ist die Sachhälfte ebensosehr Wissenschaft wie der Ort, für den die Metapher gewonnen

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wird. Der argumentative Gewinn hingegen besteht darin, daß in unpräzisierter und unpräzisierbarer Weise die semantische und damit die kognitive „Aura" dessen, was in der Spenderdomäne mit dem zu metaphorisierenden Ausdruck verbunden ist, in den neuen Anwendungsbereich dieses Ausdrucks hinübergenommen wird. Der neue Ort des Ausdrucks partizipiert gleichsam an all jener wissenschaftlichen Dignität und kognitiven Erkenntnisverheißung, die im Spenderbereich am Ausdruck festgemacht ist. Das Ergebnis einer solchen Metaphernbildung nenne ich eine „minimale Metapher".

18. „Stil" ist, nachdem das Konzeptbündel im 18. und 19. Jahrhundert zur oben bezeichneten Grundlagenposition entwickelt wurde, einer der hauptsächlichen Kandidaten für die Bildung einer minimalen Metapher. Hier ist es insbesondere die Sprachwissenschaft, die im 20. Jahrhundert eine derartige Metaphorese vorgenommen hat, und dies nicht nur einmal, sondern in immer neuen Ansätzen. Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Konstruktion einer eigenen „Stilistik" vorgenommen wurde und diese, wie oben angedeutet, die Rhetorik zunehmend ersetzte, war deutlich, daß die Einzelbestimmung „stilistischer" Elemente solche sprachlichen Phänomene sich zum Gegenstand wählte, die traditionellerweise am Rande auch der Grammatik lokalisiert waren. Dieser Prozeß verlagerte den Stellenwert von „Stil". „Von der Rhetorik frei, wandte sich die Stilistik der Grammatik zu. Als deren Schwesterdisziplin wurde sie im 19. Jahrhundert der Sprachwissenschaft einverleibt." (Asmuth 1991, S. 405). Gleichwohl blieb das Verhältnis problematisch, so daß Trabant (1986) geradezu zu dem Ergebnis kommt, daß „die Sprachwissenschaft ... den Begriff ... mit Gründen gemieden" hat (Pfeiffer 1986, S. 688). Gerade die dem metaphorischen Prozeß eigene Unbestimmtheit macht sich hier bemerkbar. Dies gilt bereits für die erste emphatisch-theoretische Nutzung in der Prager Konzeption des „Funktionalstils". „Stil" wird als eine von mehreren kompensatorischen konzeptionellen Strategien eingesetzt, um der Sprachwissenschaft aus dem engen Korsett der bloßen Satzzentrierung zu helfen. Dies sollte prototypisch für die metaphorisierende „Stil"-Nutzung der Linguistik im 20. Jahrhundert bleiben. So wird „Stil" zu einer von mehreren minimalen Metaphern, durch die eher ein immer dringlicher bemerktes theoretisches Desiderat markiert wurde, als daß dieses bereits in solchen Ausdrücken und den dadurch metaphorisierend entlehnten Konzepten tatsächlich bearbeitet wäre. So findet sich „Stil" auf

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demselben Feld wieder wie insbesondere „Kontext", „Situation", „Register", ja, „Text". Es vermag angesichts der spezifischen metaphorischen Qualität der „Stil"Nutzung kaum zu verwundern, daß zwischen dem proklamativen Einsatz und der tatsächlichen Durchführung einer so charakterisierten linguistischen „Stil"-Auffassung, ihrer Umsetzung zu einer „Stiltheorie", erhebliche Lücken klaffen, ja klaffen müssen. Es ergibt sich so eher die Aufgabe, „Stil" selbst theoretisch im Zusammenhang mit systematischer entwickelten Konzeptionen des sprachlichen Handelns zu rekonstruieren (Rehbein 1983), eine Aufgabe freilich, die ebenso ihrer weiteren Bearbeitung und ihrer konkreten Explikation bedarf wie die kritische Systematisierung der in der äußerst umfangreichen Literatur zur „linguistischen Stilistik" im vergangenen Vierteljahrhundert erhobenen Detailbeobachtungen und -analysen.

19. Obgleich im selben allgemeinen linguistischen Diskurszusammenhang sich entwickelnd, scheinen mir die auf eine „Gruppenstilistik" abzielenden Versuche einer soziolinguistischen Übertragung des „Stil"-Konzepts einer anderen Nutzungslinie zuzugehören. Sie führt uns zurück zur „Stil"Konzeption, wie sie in der Subsumption der „genus"-Lehre unter stilus entwickelt wurde (vgl. oben § 8). In der Zeit des Mittelalters hatte diese Konzeption eine einigermaßen — aus heutiger Sicht — merkwürdige Ubertragung der besonderen Art erfahren. Die sich konsolidierende mittelalterliche Feudalwelt griff auf einen geradezu kanonisch gewordenen Illustrationskomplex zur Erläuterung der genera elocutionis, der drei stili, zurück. Der stilus humilis, mediocris und gravis wurde jeweils durch drei Hauptwerke Vergile exemplifiziert (Lausberg 1990, § 465^-69). In der rota Virgilii fand dies seine mnemotechnisch-didaktische triviumsfahige Gestalt. Waren bei Vergil Hirt, Bauer und Soldat (oder Herr) Repräsentanten für Humilität, Mediokrität bzw. Gravität, so „verteilte man [nun] Höflinge, Stadtbürger u. Bauern" (Asmuth 1990, S. 404) auf die stili. So gewann die „Stil"-Lehre einen Übertragungsbereich, der, so scheint mir, geradezu verblüffend ist. stilus wird Stabilisierungselement einer ständisch organisierten Gesellschaftsformation und gewinnt der Rhetorik so ein Stück jenes gesellschaftlichen Fundierungszusammenhangs zurück, der ihr in ihrer langen Geschichte in mehreren Phasen und Etappen abhanden gekommen war.

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In der Überfuhrung der „Stil"-Lehre in die frühe bürgerliche Zeit erwies sich diese Metaphorese selbstverständlich als obsolet: Die Metapher hatte ihre Schuldigkeit fürs Erste getan — freilich nicht, ohne daß sie nicht alsbald aufs Neue genutzt wurde, um nun antihöfisch eingesetzt zu werden. Dies geschah der Funktionalisierung der „Stil"-Konzepte „Natürlichkeit" und „Anschaulichkeit" (Asmuth 1991), die gegen die spätfeudale höfische „Stil"-Praxis ins Feld geführt wurden. Die Wiedereinsetzung des „Stils" in einen direkten gesellschaftlichen Bezug geschah individuell vielleicht am deutlichsten bei Nietzsche (s.o. § 14). Eine transindividuelle, sich auf Gesellschaft beziehende Metaphorese entwickelte sich hingegen bereits früher im 19. Jahrhundert: Es „rückten nun auch kollektive Stilsubjekte in den Blick (Epoche, Nation, Klasse)" (Asmuth 1990, S. 405). Dies konnte anknüpfen an der insbesondere musikbezogenen Verwendung von „Stil" (vgl. Grimm/Grimm 1960, Sp. 2921 ff., besonders Sp. 2923), auch an der kunsttheoretischen (vgl. oben § 13). Diese neue Nutzung, soweit sie sich auf ein „Kollektivsubjekt Nation" bezieht, steht ohne Zweifel im allgemeinen Zusammenhang der Entfaltung jenes „Projekts Nation", das die Diskurse des 19. und des 20. Jahrhunderts bestimmte. Der Versuch einer „Soziostilistik der Kommunikation in Deutschland" scheint mir eine Transposition solcher Übertragungen zu sein, eine sozialgruppenbezogene Spezifizierung. Man darf auf die Ausarbeitung dieses Programms gespannt sein.

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Rhetorik und Dialektik der Aufklärung. Erfahrungswiederholung und Wiederholungserfahrung 1. „Was ist Aufklärung?"! Als die Berlinische Monatsschrift 1783 in einer Fußnote eines eherechtlichtheologischen Traktates aus der Feder eines Berliner Pfarrers einer — wohl vor allem polemischen — Formulierung der Frage „Was ist Aufklärung?" zu einer einigermaßen unerwarteten Öffentlichkeit verhalf, ging das Jahrhundert, das unter dem Titel „Aufklärung" sein unverkennbares Signet erhalten sollte, seinem Ende entgegen. Die linguistische Variadon des Themas gibt Anlaß, auf einige all33et'Í irtifcf)e gemeine Kennzeichen der Aufklärung zurückzukommen, sie in Erinnerung zu rufen — und so viel- 9 î o n « t ê f c ( > r i f t leicht zugleich zu versuchen, ein wenig Licht aus dem Ergehen einer der großen europäischen Bewegungen für deren Wiederholungen £aoti*3eSétft und Wiederholungsbegrenzungen zu gewinnen. Dies möchte ich in zwei Teilen 5 . @tfcifeun»3.?, Sifffor, tun. Der erste (A) verfolgt das Ziel, Aspekte der komplexen Geschichte ein Stück weit zu rekonstruieren, die unter dem Leitwort „Aufklä(Erfht rung" im allgemeinen europäischen Sanuar 6U Suniul Bewußtsein bis heute präsent ist. Im zweiten (B) will ich einige wenige Blicke auf das Verhältnis von ® t t ü n , «783· Aufklärung und Linguistik werfen. Qt< ·«» 6p«n«r. Im ersten Abschnitt — und daAbb. 1 für bitte ich vorab um Verständnis, Nachsicht und Geduld — werde ich,

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wie die Dinge liegen, Leser und Leserinnen mit der einen oder anderen Zumutung konfrontieren müssen — Zumutungen, die sich aus der Komplexität der Sache leider ergeben. Die, wie sich zeigen wird, diffuse Geschichte der linguistischen Aufklärung in ihrer historischen Gestalt und ihren historischen Gestalten ist möglicherweise ebenso etwas, aus dem — ganz im Sinne des aufklärerischen Programms — einige Lehren gezogen werden können — und dies im Licht der im ersten Teil umrissenen Erfahrungen; oder, wenn doch nicht Lehren, so wenigstens Warnungen; oder, wenn nicht Warnungen, so doch Aufmerksamkeitsanforderungen für etwas, was jenseits der Rhetorik der Aufklärung in ihrer Dialektik sichtbar wird.

2. „Rhetorik" und „Dialektik" Ich habe zwei alte, zwei „triviale" Stichwörter für den Titel dieses Papiers gewählt, „Rhetorik" und „Dialektik". Nimmt man sie zusammen mit der Grammatik, so wird durch diese Trias doch ein Teil jenes voraufklärerischen Fundamentes aufgerufen, dem sich unser Nachdenken über Sprache ebenso wie das der Aufklärung weithin verdankt, ohne daß wir uns dieser Zusammenhänge in einer substantiellen Weise noch bewußt wären. Beide Ausdrücke, Rhetorik und Dialektik, haben in ihrer Rezeptionsgeschichte eine je andere Bedeutung erhalten: Von Rhetorik sprechen wir unter anderem auch dort, wo wir einen propagandistischen Gesamtzusammenhang meinen. Nicht zuletzt seit der Aufklärung ist dies ein Kennzeichen moderner Geschichte. Die gesellschaftlichen Veränderungen werden durch die Entwicklung entsprechender Rhetoriken präludiert, sie werden mit ihrer Hilfe umgesetzt; sie werden in ihren Verfestigungen, Auskristallisierungen, Sedimentierungen zu einer kaum zu erschütternden Hülle und Basis — und zum Gegenstand der destruktiven Intentionen der folgenden Propagandismen. Gerade die Aufklärung hat dies exemplarisch realisiert und vorgeführt. In einer Reihe von Gebieten ist just dieser Impetus von einer ungebrochenen Dynamik. Die gegenwärtigen „clash"-Szenarien, der vergebliche Menschenrechtsdiskurs, die Konfrontationen zweier engst miteinander verbundener Religionen bzw. Post-Religionen bieten Beispiele von einer beklemmenden Dringlichkeit. Die Dialektik hingegen hat die Unschuld ihres glasperlenspielhaften „sie et non" (so der Titel von Abaelards dialektischem Hauptwerk) verloren. Sie wurde zur hauptsächlichen Methodologie dafür, Veränderung und Widerspruch zusammenzudenken. Widersprüchlichkeit hört so auf, die Stillstellung der Zeit zu feiern. Die wechselseitige Denkblockade des Para-

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doxes wird in seiner Entwicklung verflüssigt, das Paradox liquidiert. Es gelingt, mit solcher Methodologie, den Komplexitäten der faktischen Widersprüche im Begriff zu genügen und so dem Begriff selbst zu Komplexität zu verhelfen, zu jener Komplexität, die allein eine Transformation, einen Übergang aus der Diathese der Passivität in ein aktives geschichtliches Handeln erlaubt. Die Rhetorik der Aufklärung scheint allgegenwärtig. Dies gilt vor allem für einige ihrer mots clef. Gerade sie, von der Lichtmetaphorik angefangen bis hin zu Stichwörtern wie „Mensch", „Menschheit", „Menschenrecht" entfalten aufklärerische Konzepte, Attraktivität und Wirksamkeit. Die „Dialektik der Aufklärung" hingegen, im Titel von Horkheimers und Adornos wohl einflußreichstem Werk (1947) exemplarisch und programmatisch formuliert, hingegen ist weniger ins allgemeine Bewußtsein geraten — trotz aller Feier der Autoren, trotz aller behaupteten Wirkungsgeschichte. Das Werk scheint mir eher in der Bibliothek des Elfenbeinturms seinen Platz zu haben als in den Arbeitszimmern derer, deren gesellschaftliches Geschäft das — in die Krise geratene — gesellschaftliche Nachdenken ist. Trifft dies zu, so ist es im übrigen Ausdruck eben jener Dialektik, die Horkheimer und Adorno aufzuklären sich vorgenommen hatten.

A

3. „Was ist Aufklärung?" II Zöllners harmlos polemische Frage lautet in ihrem vollen Wordaut: Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch sowohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge! Und doch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden! (Bahr 2000, S. 3)

Der Umstand, daß sich die — so würde man heute wohl, dem aktuellen Zeitgeist konform, am ehesten sagen — Elite der damaligen norddeutschen, insbesondere der preußischen Intellektualität aufgerufen fühlte, Johann Friedrich Zöllner seine gar nicht als Frage gemeinte Frage zu beantworten, ist zunächst und vor allem einmal Ausdruck deutscher Retardierung. Seit mindestens mehr als hundert Jahren erfreute sich in den westeuropäischen Ländern und in Italien die Lichtmetaphorik einer enormen Popularität und Verbreitung. Leibniz, zwar Deutscher, aber in einem eher europäischen Zusammenhang arbeitend, gebrauchte éclairer. Milton nutzte das englische Wort to enlighten bereits 1667 in „Paradise lost" (Schalk 1971, Sp. 620£). Es dauert Jahrzehnte, bis das Substantiv „Aufklä-

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rung" im Deutschen in Gebrauch gerät. Es mag sein, daß Gottsched es eingeführt hat; jedenfalls hat er seine Verbreitung gefördert. Als deutsche Philosophen den Begriff „Aufklärung", und dies ist das zweite, einer näheren Erörterung zuführen, ist die Geschichte der Aufklärung in ihren bedeutendsten Ausprägungen bereits durchlaufen. Vor allem steht mit dem Jahre 1789 der Umschlag des Aufklärungsdiskurses in politische Aktion unmittelbar bevor — und zwar in Frankreich.

4. Programmatik/Aspekte 4.1 Begriffe Der Ausdruck „Aufklärung" ist ziemlich von Anfang der Geschichte seiner Nutzung ein Kampfbegriff. Dieser beginnt seine Karriere auf den Feldern der Philosophie; die Samen, die dort heranwachsen, zerstreuen sich in die Politik, in die Rechtswissenschaft, in die Ökonomie, die Poetik, die Ästhetik. Vor allem aber entwickeln sich aufklärerische Gedanken als Kritik. Kritik und Aufklärung sind „Losungsworte" des 18. Jahrhunderts (Schalk 1971, Sp. 622). Diese Kritik richtete sich auf die Einheit religiöser und philosophischer Grundlagen, die die Aufklärer vorfanden, genauer, die sie als Begrenzungen zunächst einmal des Denkens erfuhren: sie richtete sich auf und gegen Theologie und Metaphysik. Sie bereitete die konzeptionellen Voraussetzungen für den tatsächlichen Umsturz, für die Revolution. Nur Johann Benjamin Erhard wird diesen Aspekt im Deutschen in seinem Traktat „Über das Recht des Volkes zu einer Revolution" (1795) aufnehmen. Aufklärung sieht sich einer Gegenwelt gegenüber. Sie ist die Welt des Dunkels. Zugleich trägt sie das Potential in sich, ihren desolaten Zustand durch Erleuchtung zu verändern. Die Welt ist nicht sozusagen ontologisch mit Finsternis geschlagen, sondern akzidentiell. Das Licht kann sich verbreiten, sofern es die hindernden Kräfte überwindet. Diese, als Agenten, die die Menschen, ja die Menschheit verdunkeln, sie in Finsternis binden, sind die Priester. Die hindernden Kräfte als Gedanken sind die Vorurteile, die das vornehmste Objekt der Kritik werden. Aufklärung ist praktizierte Transformation, ist Pro^eß. Dessen Träger sind die Aufklärer. Sie handeln aus eigener Macht. Die Metaphorik bietet einen willkommenen, für sich selbst sprechenden Grund für Erfolg und Nicht-Aufhaltbarkeit des aufklärerischen Prozesses. Das Licht scheint und erleuchtet alles, das in seinen Kegel gebracht wird. Niemand ermächtigt die Träger der Aufklärung. Ihre Legitimität und Legitimation erfahren sie

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aus den durch sie realisierten Prozessen der Vernunft, von raison und reason, von ratio. In der Zeit vor der Aufklärung war die Verdunklungsgefahr allgegenwärtige Wirklichkeit geworden; sie hatte sich überall umgesetzt, in allen Bereichen des Wissens, in allen Bereichen der Gesellschaft. Entsprechend gilt es, gnoseologisch alles Wissen dem kritischen Prozeß der Aufhellung auszusetzen. Beginnend mit einzelnen Gebieten — besonders denen der biblischen Wahrheitsansprüche und der theologisch-metaphysischen Grundlegungen des gesamten Wissenssystems — werden immer weitere Teile des Wissens durchgearbeitet, um „den orthodoxen metaphysischen Voraussetzungen der Vergangenheit entgegentreten" (Schalk 1971, Sp. 623) zu können. Aufklärung zielt auf das Wissen als ganzes. Enzyklopädie heißt ihr letzter Zweck. Als Encyclopédie entfaltet sie sich in den 35 wirkungsmächtigen Bänden des wohl größten aufklärerischen Projektes in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Diderot 1751ff.). Es setzt Bayles Dictionnaire historique et critique von 1694 umfassend und mit umfassendem Anspruch fort. Zugleich sieht sich die Aufklärung legitimiert dadurch und darin, daß sie sich auf die Natur beruft. Diese Revolutionierung des Wissenssystems ist die vielleicht bedeutendste. Denn - so jedenfalls will es die Rhetorik der Aufklärung — hier wird gegenüber Schöpfungstheologie wie Fall- und Heilsgeschichte eine neue Konstruktion der Selbstverständigung des Menschen angestrebt. Newton schreibt 1687 „philosophiae naturalis principia mathematica", Linné errichtet 1735 ein „systema naturae", Buffon entwikkelt seit 1749 eine „histoire naturelle". Natur und Geschichte werden neu verstanden. Die vorausliegenden Systeme, besonders das von Leibniz (den als Aufklärer zu betrachten seine Position wahrscheinlich doch eher verkennt — trotz der genannten Wortgeschichte), verfallen dem vernichtenden Spott und der kritischen Destruktion, etwa in Voltaires Candide. Aufklärung sieht in ihrer Geschichte aber zugleich eine ebensolche Notwendigkeit, wie die, die sie mit der Kritik als ihrem eigenen Lichtgenerator betreiben zu können behauptet, die Notwendigkeit nämlich neuer Begründungen, die an die Stelle der alten treten. Neben der — zunächst noch im System gezähmten — Natur, neben der als Nemesis erkannten geschichtlichen Gesetzmäßigkeit ist es die Gattung „Mensch" selbst, die zum antitheologischen Grund ernannt wird — und, wie könnte es anders sein, eben die Vernunft. Deren Proklamation zur zu feiernden Gottheit ließ nicht lange auf sich warten. Vor allem aber die Menschheit wird zum emphatischen Gegenstand aufklärerischer Beschwörung: Sie muß alles tragen.

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4.2 Retroflexe Es sollte kein halbes Jahrhundert dauern, bis die Aufklärung sich selbst zum Gegenstand ihrer Verfahren macht. Im fulminanten Exkurs II über „Juliette oder Aufklärung und Moral" arbeiten Horkheimer und Adorno in ihrem Grundlagenwerk (1947) den Prozeß der dadurch ausgelösten Selbsterosion von Aufklärung heraus. In den sadistischen Praxen und den alle Grundlagen des Konstrukts Menschheit zerstörenden theoretischen Bewegungen des Marquis de Sade und seines Personals geschieht die Antizipation eines Wegs ins Bodenlose, der in einer immer erneuten Repetition aufklärerischer Bewegung über Nietzsche auch in den Mahlstrom der Faschismen führt, ein durch die innere Logik der auf sich selbst zurückgewandten aufklärerischen Programmatik bohrender Auslöschungsprozeß, an dessen Grund die zum Moloch verklärte Natur als die radikalisierte Selbstverwirklichung des Übermenschen steht — einer Bestie. Die Dekonstruktion entläßt ihre Kinder in eine nicht mehr zähmbare politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit; die Bodenlosigkeit selbst scheint als grundlos dunkler Grund aller Lichtverbreitung auf. 4.3 Aufklärung und Wahrheit Aufklärung als eine auf Revolutionierung der Wissenssysteme zielende Struktur partizipiert an dem Pathos der Wahrheit, von dem auch alle Orthodoxie getragen ist. Da und sofern es ihr um Wissen geht, entwickelt sie eine ihr eigene Rhetorik. Ja, als exemplarische Destruktion von Philosophie, die sie in ihrer Metaphysikkritik betreibt, restituiert sie ein Stück weit jene andere griechisch-westliche Denkstruktur und Denkfigur neben der Philosophie, die der Rhetorik selbst, in ihrem immer neuen Widerspiel der Weisheit der Weisen, der Sophisten, gegen das philosophische Denken. Aufklärung ist die vielleicht letzte große Instanz von Rhetorik in ihrem Anspruch und in ihrer Konkurrenz zur Philosophie. Die Okkupation der ratio bricht aus der Philosophie mit dem Erkenntnisapparat das Kernstück heraus und nimmt es für sich in Anspruch, beansprucht es als das ihr Eigenste. Nicht umsonst tauchen beim deutschen Spätaufklärer Kant alle diese Stichworte, zur Kritik als System verfestigt, wieder auf und werden — philosophische Parallele zu Juliettes Destruktion aller Moral — als die die Bedingungen der eigenen Möglichkeit vernichtenden unabweisbar gemacht. Aufklärung ist in sich eine sprachliche Bewegung. Als sprachliche ist sie subversiv, als subversive entwickelt sie ihre eigene Sprache. Die hauptsächlichen Stichwörter sind ihr Werkzeug. Deren Anwendung auf immer

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neue Bereiche des Wissens ist ihre Methode und die Bedingung ihres Erfolges. Es ist der Methodismus der Aufklärung, der ihr Dauer verleiht. Interessanterweise partizipieren die Naturwissenschaften an ihr weniger. In ihrer engen Anbindung an einen eher faktischen als emphatischen Gebrauch von ratio und in ihrer Rückkopplung an die Methodik des Experimentes entwickeln sie eine bescheidenere und damit auf die Dauer wirkungsvollere Methodologie.

5. Grenzen der Aufklärung Die Aufklärung nimmt ihren Ubergang in die Praxis als einen Ubergang in politisches Handeln vor. Dies freilich geschieht nicht mehr oder nur zum Teil durch sie selbst, durch ihre eigenen Repräsentanten. Getragen wird ihr Pathos vor allem von der Hoffnung auf eine selbstverständliche Akzeptanz. Diese Hoffnung richtet sich, insbesondere in Deutschland, auf die Herrscher als unmittelbare Adressaten des aufklärerischen Diskurses. Sind die Herrscher erst aufgeklärt, so werden die gesellschaftlichen Umsetzungen von selbst folgen. Solche Hoffnungen inkarnierten sich in Gestalten wie Friedrich II. von Preußen. Der „Aufklärer auf dem Thron" repräsentierte die aufklärerische Hoffnung par excellence — und enttäuschte sie auf exemplarische Weise. Er demonstrierte, soweit er seine philosophisch gewonnenen Überzeugungen umsetzte, zugleich und massiv die Grenzen der Aufklärung. In anderen Gestalten, Karl Theodor etwa oder jenem württembergischen Fürsten Karl Eugen, an dessen Aufklärungsbemühen Friedrich Schiller fast zugrunde ging, wurden diese Grenzen noch viel deutlicher. Sofern die Aufklärer selbst politisch aktiv wurden, geschah dies in — Geheimgesellschaften und im Versuch, auf diesem Wege jenen Einfluß zu entfalten, der gesellschaftlich nicht zu erreichen war. In der Gestalt des „Illuminaten" wird diese Figur unmittelbar deutlich. Biographien wie die von Georg Forster zeichnen das Schicksal einer Aufklärung, die allerorten an ihre Realisierungsgrenzen stößt, als persönliche Tragödie. Die Umsetzung der Aufklärung in den gesellschaftlichen Alltag von Subjekten, denen eben dieser Alltag den Status von Objekten und nur diesen gestattete und unverrückbar zuwies, verlangt den Zwang, mittels dessen die Aufklärung propagiert und zu einer Praxis gemacht wird, die doch in sich notgedrungen instabil ist. In den Worten eines der vielleicht wichtigsten praktischen deutschen Aufklärers, des Freiherrn Knigge: „Aber immer wird der größere Theil der Menschen der Zwangsmittel und Täuschung bedürfen" (zit. n. Göttert 1995, S. 184). So endet das aufklärerische Bemühen in einer mehrfachen Enttäu-

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schung: Die Protagonisten des aufklärerischen Wortes werden enttäuscht durch die Grenzen der aufgeklärten politischen Aktanten. Die politischen Aktanten werden enttäuscht durch die Fortgesetztheit aufklärerischer Forderungen. Die Bürger, die Untertanen bleiben, werden enttäuscht durch die Fragmentarizität der Programme und vor allem die Fragmentarizität ihrer Realisierungen; sie werden enttäuscht durch die Begrenztheit einer Bewegung, die just über diese Grenzen mit guten Gründen hinausdrängt. Derart mehrfach sistiert und blockiert, setzt sich die Aufklärung in ein Unrecht, das sie selbst am allermeisten zu beklagen aus ihrer eigenen inneren Bewegung heraus sich genötigt sieht. Aufklärung wird zu einem Teil des unglücklichen Bewußtseins. Dies ist ein Prozeß, den Diderot zu seinen Lebzeiten in „Rameaus Neffe" hellsichtig erfaßte, den freilich erst Hegel nach Diderots Tod in seiner ganzen Tragweite herauszuarbeiten in der Lage war (vgl. Bahner 1985, S. 140f.). Bereits in der Phänomenologie schreibt Hegel (1807/1952, S. 376): Die ihrer selbst bewußte und sich aussprechende Zerrissenheit des Bewußtseins ist das Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen über sich selbst. [...] nur als empörtes Selbstbewußtsein aber weiß es seine eigene Zerrissenheit, und in diesem Wissen derselben hat es sich unmittelbar darüber erhoben. In jener Eitelkeit wird aller Inhalt zu einem Negativen, welches nicht mehr positiv gefaßt werden kann: der positive Gegenstand ist nur das reine Ich selbst, und das zerrissene Bewußtsein ist an sich diese reine Sichselbstgleichheit des zu sich zurückgekommenen Selbstbewußtseins.

So läuft die Rhetorik der Aufklärung immer mehr leer. Sie treibt über sich selbst hinaus und stößt doch genau darin an ihre Grenzen. Die Rhetorik der Aufklärung wird hohl. Sie wird hohl, weil und insofern sie die Applikabilität, die Anwendungsmöglichkeiten, auf die sie angewiesen ist, nicht konsequent ergründet und weil sie nicht sieht, wie ihre Grenzen entstehen und in welcher Weise diese Grenzen überwindbar wären.

6. Dialektik der Aufklärung Doch damit nicht genug. Der Umschlag einer aus traditionellen Fesseln sich befreienden Bewegung in eine Bewegung des Zwangs zu ihrer eigenen Realisierung nimmt doppelt Gestalt an. Dies ist es, was als „Dialektik der Aufklärung" thematisiert worden ist. Es gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Erkenntnissen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, daß in dessen Mitte zwei vom Faschismus vertriebene Wissenschafder in ihrem Exil dieses Verhängnis der europäischen Politik so analysierten, daß sie die geheimen Bande sichtbar machten, die im Umschlag von einer ihre eige-

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nen Bedingungen nicht durchschauenden Rationalitätspropagierung wirksam sind, wie sie für die Aufklärung charakteristisch ist. Je stärker die Aufklärung ihre Gegner besiegt, um so mehr setzt sie sich um in die Herrschaft des partiellen Kalküls. Die ratio kontrahiert sich zur Rationalität. Sie wird zur begrenzten und sich selbst begrenzenden Vernunft, die ihre eigenen Grenzen mit derselben Intensität verteidigt, die sie an ihrem Haßobjekt, der überkommenen Theologie und Metaphysik, ausmachte. In einer Welle von unterschiedlich dichten und unterschiedlich weit reichenden Wiederholungen demonstriert sie der Welt im Großen und im Kleinen den Umschlag von Rationalität in Zwang, von Freiheit in Bevormundung, ja von Befreiung in die terreur. Der tragische Held dieses Umschlages ist der Jakobiner, der widerspruchsresistente Exekutor ist der Bürokrat. Die Verwaltung der Welt ist die vorherrschende Form, in der sich die Dialektik der Aufklärung im und seit dem 20. Jahrhundert realisiert. In den Worten Horkheimers und Adornos: Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift. (Adorno/Horkheimer 1997, S. 49)

Das bürokratische Kalkül ersetzt das Weitertreiben der Arbeit der Vernunft und stellt sie zugleich still. Dies wurde von Hegel als erstem erkannt und in der widersprüchlichen Faszination besonders am Beispiel der französischen Aufklärung benannt. Er spricht in der Geschichte der Philosophie von einem „Fanatismus des abstrakten Gedankens" (Hegel 1965, S. 517). „Fanatismus" und „fanatisch" werden zu einem wesentlichen Element aus dem Wörterbuch des Unmenschen (vgl. Klemperer 1947). Dieser, durch Nietzsche belehrt, steht an einem Endpunkt jener Dialektik der Aufklärung. Horkheimer und Adorno, selbst tief verletzt, singen die Klage über dieses Geschick einer großen neuzeitlichen europäischen Bewegung. So ist Aufklärung eine tragische Figur des Denkens. Ihre Überwindung vermag sie nicht aus sich selbst heraus zu leisten. Zugleich gilt aber auch: Sie ist weder in ihrer einfachen Form noch als die Dialektik, als die sie sich in ihrer Geschichte erwiesen hat, zu suspendieren. Einige Aspekte dieser Prozesse von Dialektik verdienen herausgehoben zu werden: — Die Aufklärung steht vor einer doppelt kalamitären Alternative: sich entweder selbst zu begrenzen und darin ihre Grundlagen zu verleugnen oder die Figuren ihrer eigenen Bewegung und Umsetzung auf sich selbst anzuwenden und so ihre eigenen Grundlagen zu zerstören. — Die Aufklärung steht in der Gefahr, für ihre Verallgemeinerung jene Zwänge einzusetzen, aus deren Kritik sie ihren primären Impetus bezog.

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— Eine hauptsächlich nachaufklärerische Existenzform von Aufklärung ist die einer bürokratischen Rationalität. Sie verwaltet eine entzauberte Welt und entzieht sich für ihre eigene Erhaltung der Aufklärung über sich selbst und über ihre eigenen Grenzen. — Der Widerschlag gegenüber der Aufklärung sind vielfältige Versuche einer Remystifizierung. Eine herausragende Form ist die Romantik, die das Zurück zu einem status quo ante zum Programm hat und in Wahrheit artifizielle Substrate für ihn erzeugt. So wie Orthodoxie und Aufklärung in einem unauflösbaren Patt verharrten, sind Aufklärung und solcherart Romantik ineinander gefangen. — Die Uberwindung der Aufklärung in ihren Begrenzungen steht in der Gefahr der Regression in einen voraufklärerischen — in nachaufklärerischer Zeit notgedrungen künstlichen — Talmi-Mystizismus. Ein Ausweg aus den Dilemmata der Aufklärung wird kaum möglich sein, ohne sich auf jene Kritik einzulassen, die nicht einfach in einem Pro und Kontra gegenüber der Aufklärung sich erschöpft. Solche Kritik ist notwendig eine historischer, sie ist notwendig eine vernünftige. Sie wiederholt also Kernfiguren der aufklärerischen Bewegung selbst. Sie ist Aufklärung der Aufklärung, aber das in einem anderen Sinn, als dies bei de Sade oder Nietzsche praktiziert wurde. Mit anderen Worten: Eine solche Metaaufklärung wird um eine substantielle Rezeption des objektiven Idealismus nicht herumkommen.

Β

7. Aufklärung, Linguistik, Linguisten 7.1 Aufklärung und Linguistik Die aufklärerische Programmatik berührt auch die Sprache. Aber, so scheint mir, man wäre schlecht beraten, wollte man die Sprache allgemein als einen Kernbereich ihrer Objekte in Betracht ziehen. Vielmehr sind es diejenigen Aspekte an Sprache, die für die allgemeine Programmatik der Aufklärung eine besondere Brisanz hatten, auf die sich das aufklärerische Bemühen primär richtet. Ansonsten aber verläuft die linguistische Theoriebildung und ihre Praxis weithin nach durchaus eigenen Fragestellungen und in Entwicklungslinien, die sich ihnen verdanken. Beauzée, einer der Enzyklopädisten (1717—1789), etwa schreibt in seiner „Allgemeinen Grammatik oder theoretischen Darlegung der notwendigen Elemente der Sprache, als Grundlage für das Studium aller Sprachen" schon im Stich-

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wort „raisonnée" (das Arens (1974, S. 114) als „theoretisch" übersetzt) die in der Grammatik von Port Royal unternommenen Versuche, zwar kritisch und überhöhend, aber im wesentlichen doch fort. Das sicher folgenreichste Werk, das von Etienne Bonnot de Condillac (1715-1780), ist dem Kalkül verpflichtet (vgl. Gessinger 1994) — wie die eine Dimension im Werk von Leibniz mit seiner Suche nach der mathesis universalis. Das gleichzeitig laufende Projekt der Etablierung von Nationalsprachen zu voll ausgebildeten, auch für die Wissenschaft fähigen Sprachen ist kein eigentlich aufklärerisches Projekt — obwohl es für die Arbeit der Aufklärung eine unabdingbare Voraussetzung bietet. Doch dieser Zusammenhang scheint so wenig zum eigenen Programmpunkt zu werden, wie insgesamt Sprache der „blinde Fleck" des philosophischen Gedankens ist. Für die Programmatik der Aufklärung wird Sprache vielmehr immer dort relevant, wo Deutungsansprüche der Theologie in bezug auf die Sprache erhoben wurden (vgl. etwa Süßmilch „Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe" (1754/1766); Arens 1974, S. 120). Dies betrifft primär und vor allem die Frage des Sprachursprungs. Die berühmten Preisfrage der Berlinischen Akademie von 1769 Sind die Menschen, wenn sie ganz auf ihre natürlichen Fähigkeiten angewiesen sind, imstande, die Sprache zu erfinden? Und mit welchen Mitteln gelangen sie aus sich heraus zu dieser Erfindung? Es wird eine Hypothese verlangt, die die Sache erklärt und allen Schwierigkeiten gerecht wird.

fand in Herder (1774-1803; Abb. 2) einen von 30 Beantwortern (1772 publiziert; Abb. 3). Die Bearbeitung der Preisfrage durch ihn weist sowohl über den theologischen Horizont der Zeit wie über den der Aufklärung hinaus. Herder wird zunehmend in einen Widerspruch zur deutschen Spätaufklärung gefuhrt — bis hin zu seiner für die Zeit zu frühen, in der Form zu späten Metakritik der „Kritik der reinen Vernunft".

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7.2 Karl Philipp Moritz Aufklärung als auch sprachliche und linguistische Praxis findet sich — sozusagen als propagandistisches und publizistisches Alltagsgeschäft — vielleicht am deutlichsten repräsentiert in den Arbeiten Gottscheds. Aus dem rhetorischen Bestand ist es die Stilistik, die in engem Verband mit der Poetik als „Sprachkunst" Gegenstand dieses sprachaufklärenden Bemühens wird — und damit der Bereich, der in den Transformationen der Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts die wohl geringste Chance hatte, den Verdikten des 19. Jahrhunderts über die Aufklärungslinguistik zu entgehen. Geradezu umgekehrt proportional zu diesen Verdikten ist die Bedeutung, die solchen — und zwar durchaus aufklärungsfundierten normativen — Bemühungen in ihrer Zeit widerfuhr. Die „Vernünftigen Tadlerinnen" sind aufklärerisches Programm und Leitfiguren in einem, und sie sind dies, vom Buchmarktzentrum Leipzig aus, sehr erfolgreich. Heute weniger bekannt sind andere Repräsentanten dieser Aufklärungspraxis. Einen nenne ich, Karl Philipp Moritz (Abb. 4). 1756 in Hameln geboren, bereits 1793 gestorben, wandte er sich unter anderem 1782 an „die Damen", und dies mit einer „Deutschen Sprachlehre". Die populäre Briefform der Zeit wählend, leistet Moritz ein Stück praktischer Aufklärung für eine besonders aufklärungswillige Gruppe der Bevölkerung — und dies tut er — so die ersten Worte —, indem er „das Vergnügen" thematisiert, nämlich „das Vergnügen, welches die nähere Kenntniß der Sprache gewährt". Eher plaudernd Abb. 4 als dozierend erreicht er doch in seinen fünfzehn Briefen eine hochinteressante Sprachbeschreibung — selbstverständlich des Hochdeutschen —, deren Rezeptionspraxis ganz ohne Zweifel nähere Untersuchung verdiente. Dem Werk vorangestellt ist ein „Gedicht an die Sprache", aus dem die folgenden drei programmatischen Strophen zitiert seien:

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An die Sprache D a n n schmücke den Gedanken, den im Dunkeln Dein milder Lichtstrahl, schlummernd fand, Und laß ihn einst in deiner Krone funkeln, Wie einen hellen Diamant! V o n Gottes Ruf, der durch die Himmel schallet, Und Welten aus dem Dunkeln schafft, Bis auf des Kindes Worte, das noch lallet, Erstreckt sich deine Wunderkraft. W e n n Nächte den Gedanken noch umhüllen, Und deine Zauberstimme spricht, So muß er, wie ein Blitzstrahl, sich enthüllen, Und in der Seele wird es Licht.

Diese Zeilen sind, wie man sieht, getränkt von der Lichtmetaphorik jener Bewegung, die uns hier interessiert.

7.3 Adolph Freiherr Sehr viel stärker politisch hingegen ist das Werk eines anderen, der wohl eine der dauerhaftesten Rezeptionswirkungen erzielte, des Freiherrn von Knigge (1752-1796; Abb. 5). Die bange Frage, „Ob Baron Knigge auch wirklich todt ist?", die als Reaktion auf die Todesnachricht vom 6. Mai 1796 in einem Wiener „Magazin der Kunst und Litteratur" mit Blick auf eine gängige Praxis in den wirren Zeiten der Revolution gestellt wurde, ist ein über die Tagespolemik hinausweisendes Echo einer Existenzform, die einen von Inkognito zu Inkognito sich flüchtenden, die Untiefen des Illuminatenwesens durchleidenden Aufklärer kennzeichnet. Ihn im Zusammenhang mit Sprache zu nennen, weist auf einen sprachlichen Bereich, der erst in der Neophilologie und allgemeinen Sprachreflexion des 19. Jahrhunderts aus dem Bereich sprachwissenschaftlicher Beschäftigung disziplinär-diziplinierend

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ausgeschlossen wurde — endgültig, wie es schien, bis er im Ausgang des 20. Jahrhunderts auf eine neue Weise neu auch linguistisch thematisiert wurde: eben als Teil einer ganz dem spätfeudalistischen Hof vorbehalte nen Kunst, der Kunst des Kommunizierens, das Knigge über die Grenzen dieses Hofes hinaus „dem Menschen" zugänglich machen will. Knigges Überlegungen sind eingebunden in ein breites Programm politischer und gesellschaftlicher Aufklärung. Explizit bemerkt Knigge zu Beginn des „Umgangs mit Menschen", „er habe das Buch .nicht flüchtig hingeschrieben, wie wohl andre meiner Schriften, sondern lange an den Materialien dazu gesammelt.'" (zit. n. Göttert, S. 138). Hier artikuliert sich ein quasi ethnographisches Interesse, das Kommunikation durchaus als einen Gegenstand betrachtet, über den Aufklärung nötig und möglich ist.

7.4 Johann Christoph Adelung Vor allem Johann Christoph Adelung (1732-1806; Abb. 6) darf vielleicht am ehesten als Repräsentant der „deutschen Spätaufklärung" in bezug auf die Sprache gelten (Bahner 1984; 1985). Besonders in seiner Produktionsweise als Publizist, „der darauf angewiesen war, sich allein mit der Autorschaft seinen Lebensunterhalt zu verdienen", war er ein Praktiker der neuen aufklärerischen Erschließungen von geistigen Handlungsfeldern. Als solcher war er an einem Hauptgeschäft der Aufklärung beteiligt, der Popularisierung von Philosophie, und ihrer Vermarktung, der Popularphilosophie. Er setzte damit Bemühungen etwa von Gottsched fort, £ C . ^ w û p k ï ohne dessen belletristische Begabung und Publikationsmöglichkeiten zu haben. Sein fulminanter Fleiß resultierte auf dem Abb. 6 Gebiet der Linguistik in mehreren Grundlagenwerken, darunter das grammatisch-kritische Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, das „Umständliche Lehrgebäude der deutschen Sprache" und sein „Mithridates". Adelung war eigentlich so sehr Spätaufklärer, daß man ihn fast mehr als einen „Zu-Spät-Aufklärer" charakterisieren müßte: Er war es, der hauptsächlich in das Sperrfeuer der nachfolgenden „neuen Linguistik"

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geriet. Insbesondere Grimm arbeitete sich an ihm ab - und verkannte darin seine Leistungen gründlich. Doch die Verdikte der neuen Zeit — und Grimm ist hier vor allem Repräsentant einer romantischen Reaktion auf das aufklärerische Geschäft — ließen ihn als Aufklärer in Vergessenheit geraten. Wenn Henne (1984) seine Überlegungen zur „Konstitutionsproblematik gegenwartsbezogener Sprachforschung" mit der Überschrift versieht „Johann Christoph Adelung — Leitbild und Stein des Anstoßes", so formuliert er dieses weitere Dilemma von Aufklärung poindert. Bereits zu Lebzeiten wird Adelung massiv kritisiert — am drastischsten vielleicht im Xenion von 1797: Der Sprachforscher Anatomieren magst du die Sprache, doch nur ihr Kadaver; Geist und Leben entschlüpft flüchtig dem groben Skalpell.

Zugleich nutzt einer der Verfasser, Goethe, die vielfältige praktische Arbeit des gescholtenen Aufklärers - sich immer dessen bewußt, daß seine eigene Stärke auf diesem Gebiete nicht unbedingt lag und er gut daran tat, fertiggestellte Werke „zum Philologen" zu schicken, um sie mit den etwa orthographischen Ansprüchen in Übereinstimmung zu bringen. Die Absatzbewegungen des 19. Jahrhunderts gegenüber dem sich aufklärenden 18. Jahrhundert sind eine weitere Wiederholung einer Figur, die für die Aufklärung selbst konstitutiv ist. Deren Verdikte wirken massiv bis in die Gegenwart fort. Selten werden Epochenkonstruktionen derartig sinnfällig wie beim Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert in der Geschichte der Sprachwissenschaft. So setzt etwa Hans Arens in seiner „Sprachwissenschaft. Der Gang ihrer Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart" (Arens 1974) zwischen Adelung und Schlegel eine massive Zäsur: Mit Adelung endet der erste Teil, der „die Wege zu einer Wissenschaft von der Sprache" vom frühen Mythos bis eben zu Adelung darzustellen unternimmt. Ab dem zweiten Teil dann beginnt „die Sprachwissenschaft" (Arens 1974, S. 153). Heibig (1971) läßt seine Geschichte der neueren Sprachwissenschaft überhaupt erst im 19. Jahrhundert ihren Anfang nehmen. Für die verdienstvolle neuere Darstellung von Gardt (1999), die die numerischen Jahrhunderte den Epochencharakterisierungen zugrundelegt, wird Aufklärung nur bedingt zum Gliederungsprinzip. Leibniz erscheint als ihr eigentlicher Repräsentant (§ 4.3), eine, wie oben angeführt, meines Erachtens nicht unproblematische Einordnung, und Gottsched wird nicht zuletzt als Rezipient der französischen Diskussionen behandelt. Das abschließende Verdikt von Arens über Adelung lautet: Seine ausgedehnte Tätigkeit und sein durchschnittlich aufgeklärter Geist ließen ihn nicht zu wirklich neuen Erkenntnissen auf dem Felde der Sprachwissenschaft

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kommen. Vernünftige Ansichten, richtige Bemerkungen, flüchtige Ahnungen und rückständige Meinungen stehen nebeneinander, vor allem fehlt die Konsequenz und die Fähigkeit, die Bedeutung einer Tatsache voll zu erfassen. (Arens 1974, S.149)

Das Schicksal, das Adelung in seiner gespaltenen Rezeption erlitt, entspricht dem der deutschen spätaufklärerischen Popularphilosophie insgesamt: besonders Nicolais Berliner Ausführung des Aufklärungsprogramms als eine eigene Philosophie geriet in immer größeren Widerspruch zur faktischen Entwicklung. Uneingelöst, wie sie war, blieb die Aufklärung in Deutschland Programmatik. Die Nutzung ihrer materiellen Ergebnisse und die theoretische Diskreditierung ihrer Grundlagen eröffneten eine Bewegungsform des theoretischen Umgangs mit ihr, die, je länger, desto schneller, Schule machen sollte.

8. „Was ist Aufklärung?" III Moses Mendelssohn und Christoph Martin Wieland fanden auf die Frage, was Aufklärung sei, recht einfache Antworten. Mit der Empörung, die der Selbstbewußtheit des Wissenden und Belehrenden eignet, nehmen sie die polemische Herausforderung aus der berlinischen Monatsschrift auf und erwidern auf sie im Brustton der Überzeugung, daß die Infragestellung von Aufklärung selbst, wie sie sich in Zöllners Anmerkung bemerkbar machte, eine Dreistigkeit sei. Kant kommt zu einer (wie könnte es — selbst bei einer solchen Gelegenheitspublikation — anders sein) grundlegenderen Bestimmung, insbesondere zu einer solchen, die handlich das definitionssüchtige Interesse zu befriedigen in Aussicht stellt: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung, (zit. n. Bahr 1974, S. 9)

In Kants unmittelbarer Königsberger Lebenswelt, der einzigen, die ihm aus eigener Anschauung und nicht aus den aufgeklärten Büchern bekannt war, erstand ihm in seinem Gesprächspartner, dem Magus aus dem Norden Johann Georg Hamann, ein Kritiker, der an jener Definition kaum ein gutes Haar ließ. In einem Brief an den Kantschüler Kraus zerpflückt er Kants Bestimmung. Er läßt es sich gern gefallen die Aufklärung mehr ästhetisch als dialectisch, durch das Gleichnis der Unmündigkeit u Vormundschaft, zwar nicht erklärt doch wenigstens erläutert und erweitert zu sehen. Nur liegt mir das πρώτον Ψευδός (ein sehr bedeutendes

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Kunstwort, das sich kaum unflegelhaft in unsere deutsche Muttersprache übersetzen läßt,) in dem vermaledeyten adiecto oder Beywort s e l b s t v e r s c h u l d e t Unvermögen ist eigentlich keine Schuld, wie unser Plato selbst erkennt; und wird nur zur Schuld durch den W i l l e n und deßelben Mängel a n E n t s c h l i e ß u η g und M u t h - oder als F o l g e vorgemachter Schulden." (Hamann 1784/1988, S.19)

Nicht nur von den durch die Aufklärung Inkriminierten also geht die Metakritik der aufklärerischen Kritik aus. Diese formuliert hellsichtig Probleme, die dem Programm und seiner Rhetorik inhärent sind und die in der Dialektik seiner Umsetzung historisch auseinandergefaltet wurden. In doppelter Weise drängte die Bewegung der Aufklärung über ihr Programm hinaus: einerseits zu einer tatsächlichen politischen, nicht aus dem aufgeklärten Meliorisierungswillen immer noch absolutistischer Herrscher geborenen Aufklärung der gesellschaftlichen Verhältnisse, andererseits und im schnellen Bezug auf diese tatsächlichen, in Frankreich vor allem sich ereignenden politischen Umsetzungen zu neuen, zu anderen — insbesondere zu grundlegenderen Reflexionen der Reflexion, zu Aufklärungen auch der Aufklärung, zur Historisierung des auf einen perfektiblen utopischen und einlinigen Fortschritt hin orientierten Modells. Sowohl Idealismus wie Romantik überwinden die Aufklärung — wenn auch in unterschiedlichen Richtungen. So erlebt die Aufklärung an ihrem Ende eine Phase der Ermüdung — und birgt doch noch immer eine je neu aktualisierbare und zwischenzeitlich immer wieder aktualisierte Potenz zur Veränderung. Will diese nicht zur bloßen Wiederholungserfahrung werden, so bedarf sie eines im eben genannten Sinn „aufgeklärten" Umgangs mit der ihr eigenen Geschichte. Sie bedarf der Praktizierung ihrer Prinzipien auch dort, wo diese in ihrer Endlichkeit sichtbar werden; sie bedarf einer Sprache und einer Sprachlichkeit, die die Gattung in der Vielfalt ihrer geschichtlich-sprachlichen Realisierungen ernst nimmt; sie bedarf eines neuen Konzeptes verallgemeinerbarer Toleranz. Aber dies, was in — nicht zuletzt linguistische — Probleme einer bedrängenden Gegenwart vielleicht am unmittelbarsten hereinführt, ist ein Thema, von dem hier nicht zu handeln ist. Es steht im engen Zusammenhang mit anderen Themen und Topoi von Aufklärung wie eben den Menschenrechten oder auch der Aufklärung als einem europäischen Phänomen (vgl. Bahner 1985) — mit einer aus heutiger Sicht unerwarteten Extension, die nach Neuengland oder zu den sich als Spätaufklärungsprojekt formierenden „Vereinigten Staaten von Amerika" und deren Wiederholungserfahrungen dieses Projekts führt.

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Schalk, Fritz (1971): Aufklärung. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Darmstadt, Sp. 620-633. Voltaire, d.i. François-Marie Arouet (1759): Candide ou l'optimisme. Genf.

Abbildungen Abbildung 1 - Berlinische Monatsschrift: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/berlmon/berlmon.htm Abbildung 2 — Johann Gottfried Herder: http://fotothek.slub-dresden.de Abbildung 3 - Abhandlung über den Ursprung der Sprache http://gutenberg.spiegel.de/herder/sprache/sprache.htm Abbildung 4 - Karl Philipp Moritz: http://gu tenberg.spiegel.de/autoren/moritz.htm Abbildung 5 - Adolph Freiherr von Knigge: http://gutenberg.spiegel.de/autoren/knigge.htm Abbildung 6 — Johann Christoph Adelung: http://fotothek.slub-dresden.de

Native Speaker's Heritage. On Philology of "Dead" Languages1 Abstract Native speakers leave behind traces of their linguistic activities. Philology analyses them, trying to re-establish the languages of those relics. Philology and linguistics share a common subject, language, but they also differ in various respects. In my paper, I discuss some of the relationships between them (section 1). Relevant parts of the similarities and differences can be described by reference to the specific use they make of various types of Native Speakers and of their activities. First, I discuss some relations of linguists and native speakers (section 2), then I point out the philologist's dilemma (section 3). In order to find out about the differences between linguists and native speakers, I describe those types of researchers exhibiting those differences most obviously: the linguistic fieldworker and the type of native speaker he works with (section 4.1), the introspectionist and the hidden native speaker he refers to (section 4.2), the philologist of "dead" languages and his work with situationally detached texts (section 5). The philologist's work combines the main theoretical figures characterizing the fieldworker's as well as the intuitionist's work. It is described by means of the category of "hermeneutic circle" (section 6). A discussion of philological research strategy leads to four questions concerning the entirety of activities of linguists beyond those parts which are accounted for in the respective theory of science and methodology (section 7).

1. Linguistics and Philology 2 Linguistics is a newcomer in the scientific world. Its rapid development has made us forget that the scientific occupation with language has a long history. Its name is philology — a scientific discipline which nowadays 1

I thank Florian Coulmas for the inestimable support of a 'near native speaker' he gave me in order to make my Anglo-German paper readable for the original 'linguist native' speaker1 who, without doubt, nowadays by and large is a speaker of English.

2

Cf. Anttila (1973).

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stands somewhat puzzled before the new science of linguistics — progeny now grown up and gone independent. Linguistics, on the other hand, does not seem to remember any of its predecessors. In fact, both branches of the study of language — though sharing a common object — seem to work along different lines without taking much cognizance of each other. Apparently, they treat their common subject in very different ways. The relation of linguistics and philology was much closer when it was understood that occupation with language means occupation with texts. The discovery of spoken language and its acceptance as a legitimate object of scientific analysis marks one of the most decisive theoretical and practical turning points in the history of language-science. "Modern" linguistics is basically synchronous linguistics. Much of modern linguistic methodology is designed for tackling tasks which spring up with that sort of object and that sort of analysis.

2. Linguists and Native Speakers In as much as linguistics turned towards the analysis of spoken language and actual speech events, "Native Speaker" became one of its head figures. There are two main types of "Native Speaker" which are the most prominent ones for the linguist's everyday activity. One is the native who speaks a language which is unknown to the linguist. The linguist's aim is to establish a description of the native's language and in order to do that he tries to get the native to collaborate with him. This is the classical type of native speaker. He started his career somewhere "in the field." Whenever the linguist (anthropologist, ethnologist, etc.) happened to arrive in a district with a hitherto unknown language there were one or several candidates who could enter into the role of "Native Speaker." This type of native speaker bridges the gap to an alien world, to a world unknown to the linguist. He opens the doors to the linguist's destination, the treasuries of unknown languages and cultures. It is mainly in the context of anthropology and ethnology that this first type of native speaker finds his employment or, better, his exploitation. The second type of native speaker is less known. He differs from the first one to a great extent, being a native speaker in disguise. He is the linguist himself, acting as producer and proliferator of the "data" of his work. His mother tongue is, at the same time, the language under investigation. It is the language, or "dialect" or even "idiolect" of the linguist which stands as an example for all the fundamental capacities and competences that are in play when people talk. The linguist is his own native

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speaker - the more so whenever a claim on grammaticality or acceptability of a sentence, of a selfproduced datum, is challenged or counterclaimed by someone else. Then, it is the native-speaker-linguist who draws all his knowledge about the object of inquiry from his own language, since, in the last instance, it is his own idiolect that matters, that is considered as the object of analysis. The two types of native speakers deserve to be distinguished by different names. Let us call the first one the "native native speaker (NNS)", the second the "linguist native speaker flJSiS)". Linguists who work with data provided by NNS are empirical linguists. Linguists relying on data provided by LNS are called intuitionists or introspectionists. Of course, the different approaches of empirical and of introspective linguistics are not simply identical with the difference between NNSs and LNSs. But the least we can say is that there is a strong tendency of them to co-occur with the two types of native speakers. Both types of native speaker provide their interviewer with the best possible information about his subject, and they enable him to expand his knowledge in a systematic way according to its actual state and according to the procedural prerequisites which the linguist has decided to follow on methodological grounds. Thus, both, NNS and LNS, contribute to solve the linguist's professional problems.

3. The Philologist's Dilemma None of these helpful collaborators, neither NNS nor LNS, stands ready to support the philologist's work. Whereas the linguist finds himself in a position such that he can rely on the native speaker's information, provided that he takes care of well-established strategies of inquiry, the philologist is confronted with a different situation. Its peculiar characteristics are most obvious in the case of data from hitherto unknown languages. He finds himself face to face not with a speaker of any language but with written documents about which the only thing he knows with certainty is that they are linguistic entities. By identifying them as linguistic entities, the philologist knows that they are comprehensible. His dilemma is hence the gap between (potential) comprehensibility and (actual) comprehension, and his task is to bridge this gap. In order to do that the philologist has to re-construct the language of the data at hand. For the philologist the achievement of this task is not generally an aim in itself, but rather a resort for understanding the contents of the data written in the language in question. Thus, philology is a subsidiary scientific discipline.

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4.1 Field Workers and Native Speakers: Entering a Foreign World The gap between comprehensibility and comprehension so characteristic of the philologist's work seems not unlike the situation encountered by the linguistic field worker. What, then, is the difference between the conditions of their respective work? The field worker enters the field, i.e., the life situation of the native speakers. He intrudes upon their actual speech situation. In so doing, he tries to integrate into the native speakers' world — however spellbound he may be at first because of the unknown language of his new environment. The integration into the native speakers' world, if it is at all successful, brings about fundamental identifications between the native speakers and the linguist. Their common world is a common domain of inter-action. It enables them to achieve mutual understanding, by re-instantiating the qualification for language as a means and medium of communication. A major consequence of this common world for both, native speakers and field worker, however restricted it may be in the beginning, is the constitution of a common "origo" in Bühler's (1934) sense. It has two essential consequences. First, it enables the field worker, to acquire a knowledge of an elementary subset of linguistic entities, namely of deictic expressions, and to make use of them for the expansion of his linguistic knowledge; deictic expressions, though small in number, are of outstanding importance for all linguistic activity. Second, the common "origo" enables the field worker to make use of a complex combination of two procedures: pointing at and identifying things, persons, and so on, and hence learning their names. The common origo as a domain which constitutes a common sensual approach to the world for the native speakers and the field worker and to enact a common practice provides the linguist with the opportunity to observe the use of language of native speakers in everyday life, and to enhance his knowledge by asking for names of entities and activities at which he can point. The linguistic means for doing so is the so-called "ostensive definition," a combination of a deictic procedure and an act of naming. The linguistic interest of the field worker in his interaction with the native speaker leads towards a set of sophisticated methods for optimizing the acquisition procedures of knowledge about linguistic structures of unfamiliar languages. Moreover, these methods lead to the compilation of guide books of practical field work such as those by Samarin (1967) or Healey (1975) thus making available the experiences of many linguists as a useful tool for further application.

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Now, what are the main features of the linguist's work with NNS, as regarded from the point of view of action theory? To my mind, its most outstanding characteristic can best be described in terms of the notions of 'alien' and 'de-alienation'. The linguist who enters any "field" and lets himself get involved in linguistic activity with the native speakers comes to the field as a stranger - and the language which is the regular means of communication there is itself strange to him. That means, the linguist has the status of an alien (cf. Schütz 1944). This, of course, is a serious obstacle to carrying out linguistic as well as other activities within the host community. Nevertheless, this obstacle is only a relative one, the real obstacle being that the language is alien to him. All of his efforts aim at transforming the alien language into a familiar one. He wants to become well-informed on the language's structures, and he wants to become wellacquainted with its use. He improves his knowledge about the unknown language by using the native speakers' elicited and spontaneous utterances for collecting data and information as best he can. The efficiency of his work, to a large extent, depends upon the opportunities of eliciting data and making inquiries about them. The process of transforming the alien, unknown language into a familiar one I would like to call 'de-alienation of the language for the linguist. As the linguist obtains his information by means of a combined methodology based on his sharing the native speakers' world he learns about his subject not only in a purely theoretical way. Quite the contrary is the case. His inquiries of the native speakers are part of intruding into the foreign world and of "appropriating" its language to himself. (In many cases, this very process results in a partial expropriation, and hence destruction, of the native speakers' culture who loose their own traditions and who are overwhelmed by another culture which tends to absorb them; cf. Kummer 1981). By this process, however, the linguist is not only introduced into a new language, but also into a new practice·, thus, the activities of the field worker in cooperation with, and/or outsmarting of, the native speaker are a practical approach towards his language. In learning the language, the linguist learns about the native speakers' world: he realizes language as a "I^ebentforrrf' ("form of life," Wittgenstein3). As regards the language under consideration by the researcher, the process of de-alienation is a controlled and systematic adoption of a form of life, an adoption which is carried out in a practical way.

3

The relevant texts are quoted and discussed in Zabeeh (1971, §1/3; s. esp. pp. 346s.); cf. Hunter (1971).

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4.2 Introspection Let us take a look now at the introspective linguist's activity. The object of his introspection is his own language, or, to be more exact, the knowledge of his language. His theoretical reflection is carried out by permanent recourse to his linguistic intuitions. All the data he needs he finds in his own linguistic knowledge. Thus, the introspectionist relies on himself for linguistic evidence: he is his own native speaker. This fact is to be accounted for with the term of the 'linguist native speaker (LNS)'. As is well known, the linguist who uses his own intuitions as data for his theory refers to his own competence as the ultimate basis for his linguistic judgments. However, the notion of 'competence' is not without problems. It is a practical abbreviation which lets aside a lot of general issues which are of fundamental theoretical importance for linguistic analysis. 'Competence' tends to individualize and to reify language. The functional qualities of language as a means towards a variety of ends, and its ultimate character as a "form of life" tend to become neglected by an approach which is centered on the concept of intra-psychic competence. Nevertheless, the intuitionist's view is one of great importance for doing linguistics. What exactly is the theoretical figure the introspective linguist executes when "looking into himself'? His competence is a "mechanism" enabling him to use his own language effectively. He is familiar with the language in his mind — on a practical basis. He is able to speak his language. Whereas the field worker who contacts the native speaker enters an alien world and tries to systematically transform it into a familiar one, the introspective linguist is part of a world which is completely familiar to him, knowing his language. But his knowledge is of a practical kind, it is a knowledge which he makes use of in every day life. Unlike "normal" speakers of his language, however, the linguist is not content that his competence functions all right in actual speech situations, he wants to know how it works. This means that, in order to become aware of what he does when he is speaking, he looks at the language familiar to him in practice from a point of view which has little or nothing to do with his actual practice. This figure is the exact opposite of that of the field worker. When analyzing his own intuitions, the introspective linguist treats as distant and strange something which is quite familiar to him: His procedure is an alienation (in the sense of Verfremdung (Brecht)). In making his every day linguistic practice the object of investigation he turns it into something alien. The structures of his object can only become visible if the process of alienation is successful.

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5. Differences and Parallels between Field Workers, Introspectionists and Philologists: Detached Texts as Linguistic Objects and the Consequences for Linguistic Work Quite different from the situation of the field linguist who works with native speakers is the situation of the philologist. As was pointed out above, the philologist has no native speaker to talk with. He finds himself in an isolated, solitary position. The only linguistic connection to any native speaker he comes across are relics of the native speaker's linguistic activities. These relics are called texts. Texts are native speaker's heritage. What, then, are texts? Of course, there are hundreds of "definitions" of 'text'. Only few of them take into account the relationship of text and linguistic activity. However, it is from this angle that those characteristics of text can be seen most clearly which bring about structural determinations for the philologist's analyses. Texts differ characteristically from speech acts. Speech acts have a speaker and a hearer who share a common situation, namely the speech (or speech act) situation. This fundamental characteristic is missing with texts (cf. Ehlich 1979, § 6). They are spoken (or written) at a specific time ti. The hearer or reader of the speech act uttered at t¡ is typically not copresent in the speech situation. Rather, the addressee exists at another time, t¡, iX; =: ist lautlich gleich; >: folgt an einer topologisch äquivalenten Position.

Diese semantische Präfiguration wird nun grammatisch eingesetzt, um die Leistung einer spezifischen Ausdrucksklasse zu erfassen: exemplarisch die des Personalpronomens der dritten Person. Bestimmend für die Übertragung ist die in (1) benannte Folgebeziehung. Allerdings unterscheidet sich die Anapher von der Relation in (1) in mehrer Hinsicht: (a) Y ist ein Ausdruck aus der Klasse der Personalpronomina der dritten Person.; Y ist eo ipso lautlich nicht gleich X; (b) Y folgt zwar X, steht aber nicht an einer topologisch vergleichbaren Position; vielmehr steht Y an einer syntaktisch äquivalenten Position. Zusammenfassend: (2)

Χ Φ Y, Y>?X φ: nicht gleich; >? : folgt an einer syntaktisch äquivalenten Position.

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Was diese Wiederaufnahme aber im einzelnen bedeuten soll oder gar, wie sie sprachlich „funktioniert", ist in der Übertragung selbst nicht ausgedrückt. Während die Relation (1) durch ihre phonologische „Offensichtlichkeit" unmittelbar ins Auge bzw. Ohr fallt, ist die Relation (2) durch subtile semantisch-funktionale Verbindungen charakterisiert, die alles andere als offensichtlich sind. Eine Beschreibung oder Erfassung dieser Verbindungen erfolgt im Ausdruck „Anapher" nicht, eine funktionale Analyse ist in ihr zunächst nicht enthalten.

4. Die Übertragung von „anaphérein" ins Lateinische verkompliziert die semantischen Verhältnisse erheblich. Diese Übertragung betrifft die Übernahme sowohl der grammatisch-linguistischen wie der rhetorischen wie der philosophischen Terminologie und vererbt ein semantisches Konglomerat an die theoretischen Diskussionen nicht nur der mittelalterlichen, sondern auch der neuzeitlichen Theoriebildung. Die beiden Elemente, aus denen sich das griechische Verb zusammensetzt, sind auch im Lateinischen vorhanden: „ana-" entspricht „re-", „pherein" entspricht das Verb „ferre, fero". Dieses ist ganz offensichtlich mit „pherein" unmittelbar verwandt. Das lateinische „ferre" gehört in seinen Flexions formen zu dem komplizierteren. Seine Flexionsformen umfassen nämlich neben „fer-" zwei weitere Stämme, und zwar „tul-" und „lat-". Letzteres kommt in dem für die Nominalableitungen wichtigen participium perfecti „latus" ins Spiel. Zu diesen Ableitungen gehört das Substantiv „relatio" ebenso wie das Adjektiv „relativus". Andere Nominalableitungen beziehen hingegen den Präsensstamm ein, nämlich „referentia" und „referentialis". Diese Ausdrucksklasse, die sich aus dem Verb und seinen Nominalderivaten bildet, muß nun innerhalb der europäischen Traditionen dafür herhalten, eine Vielzahl von Ausdruckserfordernissen zu befriedigen. Dafür aber reicht sie in keiner Weise aus. Die Übernahme insbesondere für verschiedene linguistische und philosophische Aufgaben hat zudem zu einer wechselseitigen, den Terminologieverwendern kaum noch recht durchsichtigen Amalgamierung beider semantischer Bereiche geführt, die die Entstehung eines nur schwer durchdringlichen semantischen Konglomerats zur Folge hatte. In dieses semantische Konglomerat sind zudem auch die griechischen Ausgangspunkte der Terminologiebildungen mit eingebracht.

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Das Ergebnis ist eine semantische Struktur, die nicht nur schwer aufzulösen ist. Sie ist darüber hinaus mit dem Problem behaftet, daß neue Ausdruckserfordernisse, die sich aufgrund neuer analytischer Erkenntnisse, seien sie linguistischer, seien sie philosophischer Art, ergeben, keine Möglichkeiten der Ausdruckserweiterung vorfinden. Zur Lösung dieser Ausdrucksknappheit wird vielmehr auf die bereits vorhandenen Ausdrücke zurückgegriffen, indem ihre jeweiligen Bedeutungsspektren ausgeweitet werden. Bereits vorhandene Nutzungen einzelner Elemente der Ausdrucksklasse werden durch Übertragungsprozesse „recycelt". Insbesondere werden bereits vergebene Bedeutungen in der Gestalt von minimalen Metaphern auf andere Bereiche übertragen — was den neuerlichen Umschlag in ein weiteres semantisches Amalgam fast von selbst zur Folge hat.

5. Die Übernahme der lateinischen und eines Teiles der griechischen Termini in die vernakulären neuen Wissenschaftssprachen übertrug den ganzen Komplex in das Französische und die anderen lateinbasierten romanischen Sprachen. Auch das Englisch nutzte dieses semantische Potential, dem keine germanisch basierten Parallelausdrücke zur Seite gestellt wurden. Dies war im Deutschen anders. Die Wissenschaftssprache bediente sich hier der nur leicht eingedeutschten graeco-lateinischen Ausdrücke, entwickelte zugleich aber germanisch basierte eigene Ausdrücke wie „Verhältnis" für „relatio" oder „Beziehung" bzw. „Bezug" für denselben Ausdruck. Als schwieriger erwies sich der Verbalbereich. Hier sind es Funktionsverbgefüge wie „in Beziehung setzen" / „in Beziehung stehen", die gebildet werden. Für die referentiellen Verwendungen werden zudem Kandidaten aus anderen Teilen des Wortfeldes eingesetzt wie „bezeichnen", „benennen" und ähnliches. Dieser größere Reichtum erleichtert einerseits die problematische Situation hinsichtlich der Neubildung von Termini; er führt andererseits auch zu einer größeren terminologischen Diffusität. Der semantische Gehalt der Präfixe „ana-" bzw. „re-" wird teilweise durch das deutsche Präfix „rück-" aufgenommen — doch geschieht dies insgesamt nur bei verhältnismäßig wenigen der Übertragungen. Auch das Präfix „wieder-" wird eingesetzt.

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6.

Hauptsächlich wird die Ableitungsgruppe „REFER" von der Philosophie und der von ihr beeinflußten Semantik in Anspruch genommen. Sie dient zur Bestimmung des schwierigen Verhältnisses von — sprachlichen oder auch gedanklichen - Ausdrücken (die ihrerseits als „Zeichen" bestimmt werden) zu dem, was sie in der außersprachlichen Wirklichkeit bezeichnen. In der Weiterentwicklung besonders der Universalien-Diskussion werden die bzw. einige Zeichen auch zur Bezeichnung für gedankliche Komplexe, für Vorstellungen u.ä. Deren Beziehung zur außersprachlichen und außergedanklichen Wirklichkeit kann dann als prinzipiell nicht erkennbar, als nur in der Gestalt ihrer mentalen Erfassung erkennbar oder als zusätzliche, eigens zu erkennende Relation verstanden werden. Wie immer dieses Verhältnis im einzelnen näher bestimmt wird: Die Beziehung eines solchen „Zeichens" zu dem, was es bezeichnet, wird „Referenz" genannt. Aufgrund der Vielfalt von Relationen, die damit im einzelnen benannt werden sollen, ergibt sich eine vielfache Polysemie des Ausdrucks „Referenz". Wird das einzelne Zeichen in Richtung auf seine Kombination zu einem „Satz" bzw. zu einem „Gedanken" oder einer „Proposition" hin erweitert, so ergibt sich eine entsprechende Erweiterung der Bedeutung des Ausdrucks „Referenz". Diese wird von einer fundamentalen Bedeutung in bezug auf jene sprachliche Handlung, die seit Aristoteles' Peri hermeneias das besondere Interesse der Philosophen gefunden hat, die Assertion. Überführt in die radikalisierte Form der Logik, findet dies seinen Ausdruck in der wahrheitswertbezogenen Semantik. Für die Bestimmung des Wahrheitswertes spielt die „Referenz" eine entscheidende Rolle. In Tarskis Konzept: Ein Satz ist dann wahr, wenn sein propositionaler Gehalt in der Welt der Fall ist. Die Referenz wird zum entscheidenden Prüfstein für die logische Analyse des Satzes. Daß dieser nur eine Form des sprachlichen Handelns ist, ist dabei außer Acht gelassen. Dieser, für die Logik als spezielle Disziplin der Philosophie nachvollziehbare, Gedanke wurde von der Linguistik ebenso unbedacht wie umstandslos übernommen. Das Resultat der Übernahme war — und ist — ein Assertions-bias innerhalb der linguistischen Theoriebildung. Er harmoniert sehr gut mit einer weiteren unheilvollen Neigung der Linguistik, nämlich dem „written language bias". Dieser gibt der linguistischen Analyse als ultima ratio die Satzform des „Aussagesatzes", also der sprachlichen Handlung Asserti-

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on und die ihrer wenigen unmittelbaren Nachbarformen, besonders den „Fragesatz", vor. Innerhalb des Satzes wird besonders die Nominalphrase referentiell bestimmt — und zwar wiederum in der Form, für die die Beziehung zwischen sprachlichem Ausdruck und Wirklichkeitsausschnitt besonders einfach greifbar zu sein scheint, nämlich als determinierte Nominalphrase, in der eine eigennamenähnliche Beziehung zwischen sprachlichem Ausdruck und Wirklichkeitsausschnitt hergestellt zu sein scheint.

7. Das „Pronomen", die „Antonymia", „steht", so suggeriert der Ausdruck, „für ein Nomen". Diese Bestimmung ruht auf einer vergleichsweise leicht zu durchschauenden, dennoch sich zäh haltenden Verwechslung zweier kategorialer Klassen auf — der der Wortarten einerseits, der der Satzteile andererseits. Diese waren in der Tradition zunächst nicht wirklich geschieden, was dieser Verwechslung ihr haltbares Fundament verlieh. Wenn das Nomen, genauer also die Nominalphrase, im wesentlichen referenzsemantisch bestimmt wird, so steht das Pro-Nomen für etwas, das seinerseits für etwas anderes, nämlich einen — in sich bestimmten (definiten) - Wirklichkeitsausschnitt usw. steht. In der Perspektivik, die durch die Verengung auf die Referenz-Frage bestimmt ist, wird das Pronomen zum korreferentiellen Ausdruck. Damit ist dann nicht nur die AbfolgeBeziehung von (2) aufgenommen. Zugleich wird vielmehr eine funktionale Bestimmung vorgenommen: Die anaphorische Beziehung erscheint als koreferentielle (>? wird zu >COrr) Aus der gemeinsamen Referenz heraus gewinnt die Wiederaufnahme ihren funktionalen Stellenwert. Beispiele wie (3) (mit Eigennamen) oder (4) (mit definiter Nominalphrase) illustrieren das Verfahren: (3)

(a) Müntefering charakterisierte Finanzinvestoren als Heuschrekken. (b) Er erntete dafür Beifall wie Kritik.

(4)

(a) Der Vizekanzler sprach in Arnsberg, (b) Er wurde mit viel Beifall bedacht.

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8. Eine derartige referentielle Sichtweise legt sich nun nicht nur für die Personalpronomina der dritten Person nahe. Vielmehr bietet sie sich für scheinbar vergleichbare Ausdrücke an, die gleich oder doch ähnlich verwendet werden wie die Anapher. Dies gilt insbesondere für die eingangs (§ 2) genannte Gruppe Δο. Für eine ganze Reihe von Belegen läßt sich eine ähnliche Paarbildung herstellen (5)

(a) Müntefering charakterisierte Finanzinvestoren als Heuschrekken. (b) Dieser neigt sonst nicht zum Verbalradikalismus.

(6)

(a) Der Vizekanzler sprach in Arnsberg. (b) Dieser ist seiner Heimat noch immer verbunden.

Freilich — diese Beispiele wirken kaum sehr authentisch. Eher wäre im Beispiel (5) die Fortsetzung vorstellbar: (5)

(b') Diese fielen über Wirtschaftsunternehmen her und verließen sie „ausgeweidet" wieder.

Zunächst aber ist der kategorialen Erfassung von Ausdrücken wie „dies-", ,jen-" und „betontem der1' weiter nachzugehen. Mit einiger Verzögerung wurde erkannt, daß sie zu einer größeren Gruppe von Ausdrücken gehören, deren genaue Erfassung durch die überkommenen Kategorien schwierig ist. Es ist die Klasse der deiktischen Ausdrücke, die Klasse Delta. Das analytische Unbehagen an ihrer traditionellen Behandlung entzündete sich freilich nicht so sehr an „diesel" und Jener". In den Blick traten vielmehr die orts- und zeitbezogenen Ausdrükke „hie/' und , j e t s f ' — sowie das ohnehin seit jeher stark fokussierte „ich". Letzteres war in das Paradigma der Personalpronomen „hereingeholt" und wurde dort kategorial verrechnet — genauso wie sein Gegenpart „du". Als schwieriger und widerständiger erwiesen sich „hiet*' und ,Jet%f'. Traditionell wurden sie den Adverbien zugeschlagen, der bis heute problematischsten Wortartenklasse. Dort tauchten sie als „Demonstrativadverbien" auf — und so werden sie bis heute klassifiziert. Das Element „demonstrativ-" hätte Anlaß zur genaueren kategorialen Reflexion bieten können, tat das aber nicht. Erst die an „hier'' und ,jetv(f' sowie an „ich" gewonnenen Erkenntnisse veranlagten die Linguisten, auch in Bezug auf „dieset*' und andere, vergleichbare Ausdrücke deren deikti-

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sehe Qualität zur Kenntnis zu nehmen. Dies geschieht freilich bis heute eher zögerlich. Im Ausdruck „deixis" und in seiner Ubersetzung „demonstratio" steckt das semantische Element „geigen". Dieses ist kein semantisches Primitiv, „geigen" bedeutet, jemanden etwas sehen zu lassen. Das macht das Niederländische unmittelbar deutlich. Dort ist die Verbalverbindung „laten %ien" {„sehen lassen") eine der möglichen Übersetzungen für „zeigen". (Ein weiteres Wort für „geigen" ist „tonen") Schwieriger sieht die Situation für das Englische aus. Hier gibt es zwar die Ausdrücke „to show" bzw. „to display"; doch sie haben es eher mit dem „vorführen", dem „präsentieren" zu tun, „to point" hingegen hat mehr die Bedeutung eines „hinweisen, hinzeigen auf etwas". Eine eigentliche englische Form zur Ubersetzung von „zeigen" sucht man hier vergeblich. Angesichts der Stellung des Englischen im heutigen Wissenschaftsbetrieb ist dies keine unproblematische terminologische Situation.

9. Nun ist mit dem Ausdruck „zeigen" für die kategoriale Erfassung zunächst auch nicht mehr als eine Metapher gewonnen, die nicht einfach für sich selber spricht. Ihren Nutzen entfaltet sie erst, wenn sie im Zusammenhang derjenigen theoretisch-kategorialen Reflexion verstanden wird, in dem sie von Bühler eingesetzt wird. Dessen Nutzung des griechischen Ausdrucks „deixis" legt eine Analysetradition frei, die weitgehend verschüttet war. Sie hatte sich nicht als sehr kräftig erwiesen, und sie reichte auch nicht wirklich hin, um das, was in ihr bereits gesehen war, tatsächlich auch theoretisch angemessen zu erfassen. Die Tragweite der deiktischen Interpretation von Delta-Ausdrücken wird nämlich erst deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wozu ihre eigene Kategorisierung dient. Sie wird nämlich eingesetzt, um einen semantischen Skandal zu bearbeiten, den die Delta-Ausdrücke für jede referenzsemantische Bestimmung bedeuten. Die Referenzsemantik attribuiert einem Ausdruck seine je spezifische Bedeutung. Bedeutung ist eine zweistellige Relation zwischen einem Ausschnitt aus der Wirklichkeit usw. und dem Zeichen, das — in der simpelsten Variante des Konstrukts — für ihn steht. Diese Relation kann auch als Eigenschaft des Ausdrucks beschrieben werden: Der Ausdruck X „hat die Bedeutung xi". Die Bedeutung eignet dem Ausdruck X. Im einfachen Fall gilt durch einfache Zuordnung der „bedeuteten" Wirklichkeitselemente, durch deren Aufzählung, die Bedeutung xi als bestimmt.

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Dieses Bedeutungseigentum, diese „property"-Sichtweise von Bedeutung, wird durch die Delta-Ausdrücke grundsätzlich in Frage gestellt. Die referenzsemantische Bestimmung „landet" in jedem einzelnen Fall bei einer anderen Extension. Das „ich" ist ein je anderes, je nachdem, wer gerade spricht, und entsprechend das „hier" und das „jetzt". Die Schärfung des linguistischen Bewußtseins für diesen semantischen Skandal steht am Anfang der genaueren Bestimmung der Deixis in der Analyse von Sprachwissenschafdern wie Bühler und Gardiner. Der durch die Referenzsemandk nicht mehr verstellte Blick auf die Realität der Verwendung von Delta-Ausdrücken beim sprachlichen Handeln führt zur kategorialen Neubesdmmung. Dies aber erfordert eine Umwälzung in der Kategorisierungstätigkeit der Linguisten überhaupt. Es verlangt nämlich die Aufgabe einer geradezu als axiomatisch behandelten Annahme. Diese Annahme sieht die sprachlichen Einheiten als prinzipiell homogen — homogen nämlich hinsichtlich ihrer referenzsemantischen Erfaßbarkeit. Durch die Bestimmung der Eigenart von Delta-Ausdrücken wird das semantische Homogenitätsaxiom außer Kraft gesetzt. Dies ist ein destruktiver Aspekt, der von den DeltaAusdrücken ausgeht. Die Anerkennung der kategorialen Differenz von Delta-Ausdrücken hebt sie aus einer Gleichartigkeit heraus und scheidet sie von ihr, die als semantisch unhinterfragbar galt. Die Gesamtmenge der Ausdrücke verteilt sich jetzt auf zwei inkommensurable Klassen. Für die Klassenbildung selbst aber wird es erforderlich, nach neuen, angemessenen Differenzierungskriterien zu suchen. Bei dieser Suche nutzt der Terminus „Deixis" — und zwar dann, wenn er in seiner metaphorischen Tragweite weiter exploitiert wird.

10. In Bühlers Ausarbeitung ist es nun nicht nur (a) das bloße Zeigen selbst , das als zentral für die deiktischen Ausdrücke beschrieben wird. Es sind vielmehr zwei weitere Aspekte, die Bühler hervorhebt: Der „Zeigende", der Wegweiser, an dem Bühler seine Argumentation entwickelt, hat einen (b) eigenen Ort, von dem aus das Zeigen geschieht. Dies erachtet Bühler als unbedingt notwendig für die Analyse des Zeigens, und er gibt diesem Ort einen eigenen theoretischen Stellenwert. Er nennt ihn die origo, den Ursprungsort; und diese origo sieht er durch die sprachliche Handlung selbst bestimmt. Es ist diese sprachliche Handlung, die je neu eine origo

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erzeugt. In ihrem Vollzug und nur darin entsteht der Mittelpunkt, von dem aus das Zeigen interaktiv erfolgen kann. Die Bedeutung der einbezogenen Ausdrücke ergibt sich von der origo aus. Von ihr her werden Nähe und Ferne bestimmt. Deiktische Ausdrücke „funktionieren" also nur durch den Bezug auf diesen Vollzug einer sprachlichen Handlung selbst. Nur dann hat es Sinn, von Deixis zu reden. Etwas drittes ist für das Verständnis des sprachlichen Zeigens wesentlich: Dieses Zeigen ist keine Tätigkeit, die sich selbst genügt bzw. um ihrer selbst willen vollzogen wird. Es ist vielmehr ein Zeigen für einen anderen, für (c) den Hörer. Das Zeigen erbringt für den Hörer eine Orientierungsleistung. Der Hörer richtet seine Aufmerksamkeit auf das jeweilige „Objekt" des Zeigens aus, er fokussiert das Objekt des Zeigens. Indem der Sprecher diese Orientierungsleistung für den Hörer und an ihm sprachlich vollbringt, gelingt etwas für die Kommunikation zentral Wichtiges. Es wird eine Gemeinsamkeit in der Orientierung der Sprecher-Hörer-Aufmerksamkeit erreicht — unabdingbare Bedingung für das Gelingen von Kommunikation. Während die ersten beiden Bestimmungen des sprachlichen Zeigens von Bühler deutlich herausgearbeitet und in ihren sprachtheoretischen Konsequenzen entfaltet wurden, bleibt die Hörer-Funktion des Zeigens bei ihm eher unbestimmt. Es ist aber erst dieser Hörerbezug, der die Funktion der ganzen Prozedur erkennbar und analysierbar macht. Von der psychischkommunikativen Funktion her erschließt sich der Sinn und die Struktur des Verfahrens, das mit dem Ausdruck „Deixis" benannt wird. Die Orientierungsleistung, die der Sprecher, vermittelt durch seine sprachliche Tätigkeit, bei seinem Hörer zustandebringt, erschließt diesem den ihn und den Sprecher umgebenden Verweisraum. Dieser Verweisraum ist zunächst der Sprechzeitraum selbst, der sinnlich zugänglich ist und innerhalb dessen die Orientierung als je spezifische Aufmerksamkeitsleistung des Hörers mittels der Fokussierung auf einzelne seiner Dimensionen und Aspekte gelingt. Diese Kooperativität der Aufmerksamkeitsorganisation bedingt die Möglichkeit von Verständigung. Aufmerksamkeit in diesem Sinn ist eine an die sinnliche Wahrnehmung gekoppelte psychische Tätigkeit. Ihre Objekte sind die Interaktanten, die an der sprachlichen Handlung als Verständigungshandeln beteiligt sind; sind Objekte in diesem sinnlich zugänglichen Wahrnehmungsraum; sind aber auch die — nicht mehr einfach sinnlich zugänglichen — Dimensionen des Raumes und der Zeit als Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung der Interaktanten wie Objekte.

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11. Die referenzsemantisch induzierte Verkürzung auf eine „Bedeutung", die ein Ausdruck „hat", versagt gegenüber der Komplexität der deiktischen Struktur. Von der kommunikativen Funktion her der deiktischen Ausdrücke ergeben sich weitere ihrer Eigenschaften. Sie sind type-mäßig ein sehr geringer Teil des gesamten Lexikons (vielleicht ein Zehntel Promille des gesamten lexikalischen Bestandes). Sie werden aber extrem häufig verwendet. Die token-Intensität ihres Gebrauchs bezeugt die hohe Wichtigkeit, die ihnen beim Kommunizieren zukommt. Dieser ihr beständiger Einsatz wird in einer Sprache wie der deutschen durch morphologische deiktische Elemente zusätzlich gesteigert. Wenn Sätze gebraucht werden und wenn diese Sätze, wie es im Deutschen der Fall ist, Verbalsätze sind, steigert sich der Einsatz der Deixis so weit, daß kein Satz ohne mindestens eine solche kommunikative Orientierungsleistung erfolgt, denn die Flexion der Verben im Feld der sogenannten Tempora ist temporaldeiktisch. Es wäre nun allerdings verfehlt, würde man solche Deixis-Intensität vorschnell als „universal" betrachten. Es gibt durchaus sehr unterschiedliche Intensitäten, in denen Sprachen standardmäßig den Einsatz deiktischer Verfahren erfordern. Angesichts der weltweit mangelhaften Korpussituation ist dies freilich auch empirisch bisher nur schwer im einzelnen nachzuweisen. Die sprachliche Komparatistik trägt an den verschiedenen blasses der Linguistik besonders schwer.

12. Die Bindung der Deixis an die durch die sprachliche Handlung je neu erzeugte origo befördert den Eindruck, daß dies die einzig mögliche Verwendung von deiktischen Ausdrücken sei — ist doch die Funktionserfassung der Deixis gerade darüber unabdingbar. Doch zeigen sich deiktische Ausdrücke keineswegs nur in solchen unmittelbaren Sprechsituationen. Dies kommt einem Problem zugute, das mit der theoretisch-analytischen Provokation verbunden ist, als die sich die Delta-Ausdrücke erwiesen haben. Solche Provokationen bleiben nicht unbeantwortet. Eine der wichtigsten eristischen Strategien zu ihrer Bearbeitung ist die schrittweise Sistierung und daran anschließende Eliminierung dessen, was die Provokation ausmacht. Dies geschieht unter anderem dadurch, daß die neu entdeckten

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Phänomene möglichst weit in die überkommenen überführt werden. Dies ist auch für den Bereich der Deixis zu erkennen. Die deiktischen Ausdrücke haben ihre je eigene formale Charakteristik. Sie machen spezifische Teilbereiche des Lexikons und seiner Formen aus; ein Teil von ihnen zeigt zudem noch erkennbare Subsystematiken, so etwa die „d-"-Bildungen im Deutschen oder die „th-"-Bildungen im Englischen. Auch im Semitischen sind vergleichbare formale Subgruppen erkennbar, die bestimmte Ausschnitte des Konsonantismus nutzen (k bzw. t). Dies macht sie kommunikativ vergleichsweise gut erkennbar und setzt sie so in die Lage, ihre kommunikative Funktion optimal zu erfüllen. In der Verwendung dieser formal deutlich erkennbaren Delta-Ausdrücke jenseits von unmittelbaren Sprechsituationen scheint sich die Chance darzubieten, ihnen ihren kategorialen Provokationscharakter zu nehmen. Aufgrund des Schriftlichkeits-bias der Linguistik sind die Vorkommen, derer sich die Linguistik analytisch annimmt, ohnehin in den wenigsten Fällen solche aus unmittelbaren Sprechsituationen. Das hat zur langen Unkenntlichkeit des spezifischen Charakters deiktischer Ausdrücke ja gerade wesentlich mit beigetragen. Die Belege für die Verwendung deiktischer Ausdrücke entstammen im allgemeinen vielmehr den schriftlichen Korpora lebender — oder gar „toter" Sprachen, oder sie sind für die Analyse ersonnene Produkte aus der Ressource, die dem Linguisten am besten zur Verfügung zu stehen scheint, seiner eigenen sprachlichen Intuition. Diese aber ist durch ein langes professionelles Training auf die Erzeugung von Sätzen, allenfalls auf die Erzeugung von Satzpaaren, „eingestellt", wie sie den grundlegenden Objektbereich des linguistischen Geschäfts ausmachen. Indem für solche Belege die raison d'être der deiktischen Bestimmungen, die sprachliche Handlung, durch den Belegzusammenhang selbst eliminiert erscheint, kann von deren deiktischem Charakter um so einfacher abstrahiert werden. Andere Erklärungsmöglichkeiten werden gesucht — und stellen sich ein. Eine der wichtigsten ist die Überführung der entsprechenden Ausdrücke in die Klasse der Anaphern. Dies kann in einer okkasionellen (anaphorischer Gebrauch deiktischer Ausdrücke) oder in einer substantiellen Weise geschehen (die auch deiktisch gebrauchsfähigen Ausdrücke sind Anaphern) — oder sie gelten als Mitglieder einer anderen, umgreifenden Klasse, etwa der Klasse der „Artikelwörter" oder der „ProFormen".

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Diese Strategie ist bereits bei dem Entdecker der deiktischen Ausdrücke selbst, bei Bühler, zu beobachten. In einem späteren Kapitel seiner „Sprachtheorie" untersucht er unter anderen auch deiktische Ausdrücke unter dem kategorialen Stichwort der Anaphorik (§ 34). Daraus folgen für ihn freilich keine Revisionen seiner eigentlichen Deixis-Analyse. Aber es wirken sich hierhin deren Schwächen aus. Dadurch, daß Bühler von den drei Bestimmungen, die die Deixis charakterisieren (s. oben § 10), lediglich zwei — das Zeigen und die origo — in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt, bleibt der Hörerbezug und die durch das sprachliche Handeln mittels deiktischer Ausdrücke beim Hörer erreichte Orientierungstätigkeit unbeachtet. Zugleich wird durch die analytische Grundlegung beim unmittelbaren Sprech-Zeit-Raum die Herauslösung von Delta-Ausdrücken aus diesem Raum sinnlicher Gewißheit gar nicht erst in Betracht gezogen. Erstaunlich nun ist, daß die sprachlich Handelnden selbst die formalen Klassen offensichtlich auch jenseits dieses Bereichs der unmittelbaren Sprechsituation einsetzen. Zwar gibt es durchaus solche kategorialen shifts, wie es die Behandlung von nicht unmittelbar in die Sprechsituation eingebundenen Verwendungen der Deixis unterstellt. Doch der Umfang, in dem die deiktischen Ausdrücke insgesamt davon erfaßt werden, erstaunt, so daß es lohnend ist, nach anderen, konsistenteren Verstehensweisen für dieses Phänomen zu suchen. Diese finden sich nun freilich erst dann und insoweit, wie die von Bühler und anderen initiierten Veränderungen der sprachlichen Grundkonzepte konsequent weiter entwickelt werden. Erst durch eine tatsächliche Handlungstheorie von Sprache werden die Dimensionen der Herausforderung erkennbar, die sich durch das sprachliche Handeln der Interaktanten für die Analyse von Delta-Ausdrücken jenseits der unmittelbaren Sprechsituation stellen. Für eine systematische Rekonstruktion der Verwendungen deiktischer Ausdrücke beim sprachlichen Handeln bedarf es einer Systematik der verschiedenen qualitativ differenzierten Verwendungszusammenhänge jenseits der unmittelbaren Sprechsituation. Jeder dieser Verwendungszusammenhänge bietet eigene Herausforderungen für den Einsatz der DeltaAusdrücke und gerade für sie, weil sie sich ja von der unmittelbaren Sprechsituation wesentlich unterscheiden. Gerade für die Delta-Ausdrücke werden die Unterschiede manifest, die sich durch diese systematisch modifizierten Verwendungszusammenhänge ergeben.

Anadeixis und Anapher

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Mindestens zwei dieser systematisch modifizierten Verwendungszusammenhänge sind zu unterscheiden: der Diskurs und der Text. Dazu kommt als dritter systematisch ableitbarer und faktisch abgeleiteter Verwendungszusammenhang die Vorstellung der Interaktanten, soweit sie sprachlich gebunden und sprachlich kommunikativ vermittelt wird. Von diesen hat Bühler lediglich die eigens Vorstellung thematisiert, indem er die „Deixis am Phantasma" näher zu bestimmen suchte. Der Diskurs, die Rede, und der Text blieben hingegen substantiell geschieden von der unmittelbaren Sprechsituation und von einer eigentlichen Deixis-Analyse ausgeschlossen. Alle drei Verwendungszusammenhänge bilden aber je spezifische Verweisräume aus, in denen die Deixis eingesetzt werden kann — um dann jeweils andere Aufgaben in Bezug auf die Fokussierungstätigkeit des Hörers — bzw. im schriftlichen Text-Fall des Lesers — übernehmen zu können. Denn in allen drei Bereichen stehen die Interaktanten vor je spezifischen Aufgaben in Bezug auf die Synchronisierung ihrer Aufmerksamkeit. Die sinnliche Gewißheit als verläßlicher Grund der gemeinsamen Orientierungstätigkeit ist in allen dreien entfallen. In der Rede als Verweisraum ist zwar Kopräsenz der Aktanten häufig noch gegeben - nicht aber die durch die sinnliche Gewißheit zugängliche gemeinsame sprachliche Handlung. Deren Teile werden vielmehr in die memoria der Beteiligten ausgelagert. Dadurch wird das Problem der Flüchtigkeit der gesprochenen sprachlichen Handlung, die für Einheiten wie den Satz oder gar für selbstsuffiziente Prozeduren im allgemeinen handlungspraktisch unerheblich ist, zu einem substantiellen Problem, das lediglich durch die Gedächtnisleistung der Beteiligten bearbeitet werden kann. Diese Gedächtnisleistung ermöglicht eine vermittelte Präsenz der sprachlichen Handlung und ihrer verschiedenen Elemente im gemeinsamen Handlungsraum der Interaktanten. Doch ist diese Präsenz durch die allgemeinen Gefahrdungen, durch die prekäre Belastung der Gedächtnisleistung und die UnZuverlässigkeit ihrer Vorhaltung, nachhaltig problematisch. Entsprechend stark wird der Verwendungsbereich deiktischer Ausdrücke hier eingeschränkt. Zugleich wird die Herstellung der deiktischen Objekte, der Objekte des deiktischen Zeigens, zu wesentlichen Teilen zu einer Aufgabe der synthetisierenden Tätigkeit des Hörers. In Beispiel (6) etwa ist alles andere als an sich klar, was das deiktische Objekt ist, auf das in (b) durch den deiktischen Ausdruck „das" die Aufmerksamkeit von A gerichtet werden soll.

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(6) (a) A zu Β: „Du hast gestern weder die Aufgaben gemacht, deren Erledigung du doch zugesagt hattest, noch auch die Einkäufe, ohne die wir nicht nur heute, sondern auch noch das ganze Wochenende ohne was Vernünftiges zu essen auskommen müssen, obwohl du bei der vorigen Gelegenheit hoch und heilig versprochen hattest, daß es das nächste Mal besser wird." (b) Β zu A: „Das tut mir furchtbar leid, und ich bitte euch alle vielmals um Entschuldigung." Sind es (i) die nicht erledigten Aufgaben oder (ii) der Umstand, daß deren Erledigung zugesagt war oder (iii) die nicht gemachten Einkäufe oder (iv) der Umstand, daß die Gruppe ohne Essen auskommen muß oder (v) daß die Gruppe das ganze Wochenende ohne Essen auskommen muß oder (vi) daß das Versprechen gebrochen wurde oder (vii) eine beliebige Kombination aus (i) bis (vi) oder (viii) (i) bis (vi) zusammen? Interaktional dürfte (viii) das Wahrscheinlichste sein. Wie immer aber die Lösung für die Bestimmung des deiktischen Objektes ausfallt: Sie ist nur durch eine kommunikativ adäquate Synthetisierung zunächst bei Β und dann bei A möglich. Diese Synthetisierung erzeugt ein mentales Objekt, das Gegenstand des deiktischen Verweises wird. Was leistet die Verweisung für die interaktionale Konstellation der Interaktanten A und BP Sie ermöglicht ihnen einen flexiblen Umgang mit mentalen Objekten. Allerdings ist dieser Umgang risikoreich und stärker vom Scheitern bedroht als die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die durch die sinnliche Gewißheit jederzeit vergewisserbaren deiktischen Objekte im unmittelbaren Wahrnehmungsraum. Die Verwendung der deiktischen Ausdrücke bedarf deshalb routinierter Erfahrungen der Interaktanten — und eines gut funktionierenden Korrektursystems für den Fall, daß es den Interaktanten nicht gelingt, das deiktische Objekt tatsächlich gemeinsam zu fokussieren. Diese Gefahrdungen des Einsatzes der deiktischen Ausdrucksmittel ändern aber nichts an der Grundstruktur des Verfahrens, in dem sie zum Einsatz gelangen. Es bedarf analytisch vielmehr einer Bestimmung, die sowohl die Nutzbarkeit des Delta-Ausdrucks wie einer präzisen Bestim-

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mung der Gefahrdung, denen er unterliegt, ermöglicht. Dies erfordert eine Konzentration auf das, was kommunikativ im Zentrum der Verwendung deiktischer Ausdrücke steht. Das aber ist die gemeinsame Fokussierungstätigkeit der lnteraktanten Zweck der Organisierung der Aufmerksamkeit des Hörers durch den Sprecher unter Be^ug auf einen ihnen beiden gemeinsamen Verweisraum. Zu diesem Verweisraum wird im Diskurs, in der Rede, diese Rede selbst — mit ihren verschiedenen Dimensionen, der propositionalen, der illokutiven und der Äußerungsdimension. In der Vergänglichkeit der sprachlichen Handlungen in der Abfolge ihrer Verbindung zum Diskurs gewinnen diese Elemente der Rede selbst in ihrer memorialen Präsenz eine Stellvertretungs-Repräsentanz, die die Anwendung deiktischer Verfahren jenseits der Dimensionen der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmbarkeit möglich macht.

13. Noch größer stellt sich die sachliche Problematik, stellen sich die Risiken der Verwendung deiktischer Ausdrücke für den Text dar. Dieser ist sprachliches Handeln, das systematisch aus der unmittelbaren Sprechsituation entbunden ist — mit der Folge, daß auch die Kopräsenz der lnteraktanten nicht mehr gegeben ist. Um so wichtiger wird die Minimierung der entstehenden kommunikativen Risiken durch Verwendungsrestriktionen und Routinisierung des Deixis-Einsatzes. Insbesondere der Text selbst verbleibt als der Ort, in dem die deiktischen Objekte ausfindlich gemacht werden können. In der schriftlichen Form des Textes ist es die räumliche Linearität, die den hauptsächlichen Verweisbereich ausmacht, besonders mit Blick auf die standardisierte rezeptive Abarbeitung dieser Linearität. Aber auch die propositionalen Gehalte, die der Textproduzent für den Textrezipienten zur Verfügung stellt, werden zum potentiellen und im Rezeptionsprozeß, besonders im Leseprozeß, aktualisierten Verweisobjekt-Bereich. Auch hier bleibt die Leistung der deiktischen Ausdrücke gleich. Lediglich der Verweisraum hat sich substantiell verändert. Die Funktion der deiktischen Ausdrücke liegt auch hier darin, die Aufmerksamkeitstätigkeit des Hörers bzw. Lesers unter Bezug auf das — nun freilich erheblich differenzierte — sprachliche Handeln zu steuern und die Gemeinsamkeit einer Orientierung herzustellen. Diese erfolgt freilich jetzt im Textraum mit seinen verschiedenen Dimensionen. Eine der wichtigsten ist dabei die mentale der propositionalen Prozessierung. Um die Synchronisierung der Aufmerksamkeit zwischen dem Textproduzenten und dem Textrezipienten herzustellen, werden deiktische Verfahren intensiv genutzt. Diese

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Gemeinsamkeit ist hinsichtlich des Textproduzenten stark vermittelt, hat er sie — und damit die möglichen deiktischen Objekte — doch ausgelagert in den Text selbst. Und für den Textrezipienten gelingt die Synchronisierung nur dann, wenn er, und nur so, daß er diese Deposita für sich aktualisiert. Gerade beim schriftlichen Text aber wird das Erfordernis dieser Aufmerksamkeitsorganisation zu einer um so wichtigeren Aufgabe, je „dichter", je komplexer der Text wird: Das Navigieren innerhalb des Textes verlangt vom Leser eine permanente Mikro-Reorganisation seiner Aufmerksamkeitstätigkeit — und dies um so mehr, je komplexer der Text (besonders in der propositionalen Dimension) wird. Dies führt zu einer permanenten Adjustierung der Aufmerksamkeitstätigkeit. Die Fokussierung deiktischer Objekte geschieht in schneller Folge, mit der Möglichkeit ebenso schneller Veränderungen in der Ausrichtung dieser Aufmerksamkeit — und damit in der Syntheseleistung des Rezipienten in bezug auf die mentale Herstellung der je erforderlichen deiktischen Objekte.

14. Diskurs wie Text sind Strukturen mit einer zeitlichen Verlaufscharakteristik. Im Diskurs ist dies unmittelbar sichtbar. Im Text wird die zeitliche Verlaufscharakteristik im Prozeß der Texterstellung sozusagen „eingefroren", um dann im Rezeptionsprozeß re-aktualisiert zu werden. Im schriftlichen Text in seiner räumlichen Dimensionalität wird diese temporale zu einer topikalen Struktur, die im Rezeptionsprozeß abgearbeitet — und gegebenenfalls sistiert, wiederholt und rekursiv durchlaufen werden kann (einer der großen Vorteile der Verschriftlichung von Texten). Diese Strukturcharakteristik nun läßt sich mit dem Präfix „ana-" gut kategorial-terminologisch erfassen. Doch bedeutet die „ana-"-Struktur nicht, daß dadurch die deiktische Qualität der Verwendung von DeltaAusdrücken sich auflösen würde. Im Gegenteil: Es sind gerade die je spezifischen, die rede- oder diskursspezifischen und die textspezifischen, Verwendungen, die die umfangreiche Nutzung der deiktischen Ausdrücke für das differenzierte kommunikative Handeln extrem nützlich — und für die linguistische Analyse so außerordentlich verwirrend machen. Der Versuch, von anaphorischen Verwendungen deiktischer Ausdrücke zu sprechen, zieht aus dem analytischen Problem eine naheliegende Konsequenz, die eine Lösung aber unter Aufgabe der entscheidenden Merkmale dieser spezifischen sprachlichen Handlungsformen vorschlägt.

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Demgegenüber ist es meines Erachtens sinnvoll, auch terminologisch beides zugleich zu erfassen. Deshalb schlage ich den terminologischen Neologismus „Anadeixis" vor und spreche von anadeiktischen Prozeduren. Die Anadeixis findet sich also in komplexen Verweisräumen, insbesondere im Rederaum und im Textraum. Sie dient der Organisation der Aufmerksamkeit des Hörers / Lesers hinsichtlich der synthetisierend von ihm mental auszumachenden deiktischen Objekte unter Bezug auf die je spezifischen kommunikativen Merkmale von Diskurs und Text. Insbesondere wird sie eingesetzt, um schnelle Fokussierungswechsel in der propositionalen Dimension von Diskurs und Text vorzunehmen und um möglichen, vom Sprecher / Schreiber antizipierten Fehlleitungen der Aufmerksamkeit des Hörers / Lesers zuvorzukommen. Dies führt zu einer intensiven und schnellen Adaptierung der Fokussierungstätigkeit des Hörers / Lesers, zu einer zum Teil sehr kleinschrittigen Adjustierung seiner Aufmerksamkeit. Durch die weitgehende Beschränkung der Deixis-Verwendung im Rederaum und im Textraum zur Risiko-Verminderung bei diesen hochabgeleiteten Verfahren sind Routinisierungen vor allem auf der Seite des Hörers / Lesers unabdingbar, um den Nutzen dieser sprachlichen Verfahren wirklich erfahren zu können. Dabei halten die verschiedenen Sprachen diese Ressource in unterschiedlichem Umfang vor. Die je spezifischen standardisierten Verfahren bestimmen die Struktur der jeweiligen Sprache mit. Deixis-reiche und deixis-arme Sprachen haben je unterschiedliche kommunikative Möglichkeiten, deren Spezifik durch die Eruierung der deiktischen Nutzungsmöglichkeiten linguistisch näher erfaßt werden kann. Die Einsatzmöglichkeiten gerade rede- und textdeiktischer Mittel wirken sich bis in die komplexen syntaktischen und in die textuellen Strukturen hinein aus.

15. Und die Anapher? Auch sie hat ihre eigene Funktion beim sprachlichen Handeln. Während die Deixis der Organisation der Aufmerksamkeit des Hörers dient, ist die Funktion der Anapher aber gerade eine gegenteilige. Die Anapher gehört genuin zu den sprachlichen Verfahren, mittels derer Sprache als Sprache verarbeitet wird. Sie dient dazu, dem Hörer die Möglichkeit zu geben, ein einmal in den Fokus genommenes mentales Objekt als solches dort zu halten. Die Anapher verlangt also keine NeuAusrichtung der Aufmerksamkeit, sondern entlastet den Hörer davon, solche mentalen Tätigkeiten zu erbringen. Die Anapher ist insofern ein Mittel der sprachlichen Ökonomie.

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Unter Rückgriff auf (2) läßt sich also spezifizieren: (7) Χ φ Y , Y>Am-Ko„s.

Φ: nicht gleich; -^Am-Konst folgt an einer syntaktisch äquivalenten Position und ermöglicht H, die Aufmerksamkeit konstant zu halten. Dieses Mittel der sprachlichen Ökonomie wird -wiederum in den verschiedenen Sprachen in unterschiedlicher Weise vorgehalten. Insbesondere die Klassenbildung, wie sie sich etwa in den Genera des deutschen Personalpronomens der 3. Person findet, multipliziert die Einsatzmöglichkeiten dieses sehr probaten Verfahrens. Während die Anadeixis der (Re-)Adjustierung der Fokussierung des Hörers / Lesers dient, zeigt die Anapher ihm, daß er seine Aufmerksamkeit konstant halten kann. In diesem Sinn wäre also eine anaphorische Verwendung deiktischer Ausdrücke kommunikativ-paradox.

* Dieser Beitrag wurde bei der 29. DGfS-Jahrestagung 2007 in Siegen in einer von Carla Umbach, Graham Katz und Peter Bosch organisierten AG „Anaphoric uses of demonstrative expressions" vorgetragen. Er dient der Verdeutlichung der in meinen Arbeiten zu Phorik und Deixis entwickelten Auffassung eines grundlegenden Unterschieds zwischen beiden Funktionsklassen (s. die Artikel in diesem und dem folgenden Abschnitt des vorliegenden Bands 2 von „Sprache und sprachlichem Handeln"). Die Beiträge der AG, die demnächst publiziert werden, sollen informieren über den aktuellen Diskussionsstand ebenso der von Monika Schwarz-Friesel, Manfred Consten und Mareile Knees herausgegebene Band „Anaphors in Text", der 2007 bei John Benjamins (Amsterdam etc.) erscheint.

Deictic Expressions and the Connexity of Text1 Summary It is widely accepted that deictic expressions play an important role in the connexity of text. It is much less accepted, however, that text deixis is, in fact, deixis and not something that can be amalgamated with anaphora — whose function is altogether different. To demonstrate the deictic (and not 'anaphoric") quality of text deixis, I shall start with a critical evaluation and expansion of Bühler's concept of deixis and apply this concept to texts. I shall then analyze characteristic uses of deixis (time deixis and text deixis) in newspaper articles, and finally discuss some general consequences for the notion of connexity.

1. Deixis 1.1 Deictic expressions Deictic expressions have been known as a specific sub-class of linguistic expressions since the end of the 19th century (Peirce), and especially since Bühler's book "Sprachtheorie", which appeared in 1934. The need for a special treatment of deictic expressions in a theory of language was first seen in the context of logical analyses of language. Deictic expressions are not easy to treat within the usual logical framework where one tries to define expressions by reference to entities (in the world, or in the mind). Deictic expressions cannot be understood on the basis of semantic definitions. Rather, their 'reference' changes at every new instance of their occurrence. The most radical consequences of this insight were drawn by Karl Bühler. He split up the vocabulary into two Fields which he treated as being fundamentally different from one another. Bühler termed the expressions of the one subset 'expressions belonging to the symbolic field', 1

I would like to thank W. Thielmann for a new English version of this paper.

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and of the other subset 'expressions belonging to the field of pointing (.Zeigfeld)'. The subset of Zeigfeld-expressions is very small compared to other sets of types in any language; the frequency of these expressions within spoken and written language is, however, very high: There are many tokens of deictic expressions in most utterances, both written and spoken. Expressions belonging to the symbolic field or, in short, symbolic expressions, name entities etc. in the world. In contrast to symbolic expressions, deictic expressions can only be interpreted when the centre of reference is known to which they are linked. This centre is the speech action as such. Bühler called it the origo of the Zeigfeld. By saying something, the speaker establishes a new centre of reference which enables him to identify objects and dimensions in the world around him in a unique way. Bühler thus described deictic expressions as expressions which must be interpreted through reference to speech action. This concept of Bühler's helped gready to distinguish deictic from other types of linguistic expressions. Bühler's concept is a turning point in the analysis of deixis, for Bühler took into account the fact that deixis is intrinsically bound to the execution of a speech action. This interpretation has strong implications. It implies that the analysis of linguistic expressions can no longer be restricted to properties of signs as such. Instead, Bühler's insights lead to an awareness of the fact that at least the sub-class of deictic expressions can only be understood by reference to linguistic activity. In other words: Bühler's concept is a pragmatic concept avant la lettre. It is a concept based on the idea of an action theory of language. 1.2 Deictic procedures Bühler did not, however, develop his theoretical insight to a point where he could have given a full account of the function of deictic expressions. On the contrary, he stopped half way: He did not sufficiendy consider the role of the addressee and — even though he recognized the speech action as pivotal to the analysis of deixis — he understood the speaker's use of a deictic expression as ordinary use of a sign. For a proper understanding of deixis, however, such a semiotic concept of deixis is insufficient, as the activities of both interactants need to be considered. During the speaker's ongoing speech activity there is a continuous demand on the addressee to re-orientate his focus of attention. This reorientation is an important sub-part of the activities the addressee has to

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process in order to follow what the speaker says. The sub-class of deictic expressions is a means through which the speaker can effordessly direct the addressee's attention focus. Deictic expressions enable the speaker to achieve his aim of being understood by referring to the ongoing speech activity as the centre of reference. Deictic expressions are a highly economic means to this end, a sort of short cut to an important sub-activity which must be processed during communication. To sum up: One of the most important goals of communication is to achieve a common organization of the speaker's and the addressee's attention with reference to the content of the message. In order to successfully organize the addressee's attention, the speaker has to guide the addressee's attention to the objects, entities, and dimensions of which he makes use during his speaking activity. I call this activity of the speaker the focusing of the addressee's attention. In focusing the addressee's attention by means of a deictic expression, the speaker makes use of the speech activity and of the various dimensions of the interactants' common surroundings accessible to their direct sensory perception, thus treating the speech action as origo. I call this activity of the speaker which effects the orientation of the addressee's attention a deictic procedure. Procedures are sub-activities of speech action. More precisely: procedures constitute parts of acts which, in turn, constitute parts of speech actions. Definitions: A deictic procedure is a linguistic instrument for achieving the focusing of the addressees attention towards a specific entity that is part of a domain of common accessibility, namely deictic space. In ordinary communication this deictic space is the speech-action space. — Deictic procedures are performed by utilising deictic expressions. This view of deictic expressions and of their operations in deictic procedures differs largely from current interpretations of deixis. These interpretations are mainly characterized by the fact that they consider 'deixis' as a sort of residual class that contains everything non-symbolic, i.e. everything that does not easily lend itself to a description in semiotic terms. This current view blurs the boundaries between three very distinct classes of linguistic expressions (phoric expressions, determiners, paradeictic expressions) — not to mention case or interjections, which are sometimes also considered candidates for incorporation in the class of deictic expressions. There is also a tendency to interpret deictic expressions in terms of phoric expressions ('pronouns', 'exophoric deixis'), although these linguistic instruments are about the maintenance, and not the shift of the addressee's focus.

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1.3 Deictic dimensions The class of deictic expressions consists of a variety of items which can be subcategorized as to their various dimensions of reference. The most important dimensions are: — actants (speaker, addressee); — place; — time; — objects; etc. With regard to most of these dimensions, the reference to the origo makes possible a further cross-distinction of 'close to' vs. 'far from' the origo, with further sub-distinctions in many languages. Thus, there is a general matrix in the form of Fig. 1. close to origo

far from origo

actants place time objects

Fig. 1 : Subcategorisation matrix of deictic expressions

The lexical and word class realization of this matrix differs considerably in different languages. 1.4 Deictic domains Bühler and his followers placed major emphasis on the dependency of deictic expressions on the speech situation. This idea was very useful initially. But it did have negative impacts on the further development of the analysis, as the theoretical framework appeared to be invalid for all uses of deictic expressions beyond the immediate speech situation. Even though Bühler, in the case of deixis in the 'phantasma, saw the need to go beyond his initial notion, he did not find a unified theoretical concept which could have incorporated the various types of occurrences of deictic expressions, especially those in discourse and in text. This failure is a consequence of his non-radical pragmatic approach. Bühler never went beyond the central aspects of his discovery, i.e. the reliance of deictic expressions on the speech situation and sensory percep-

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tion. He did not find a way to preserve the essential characteristics of his discovery in a more general concept that would have accounted for all usages of deixis. Such a unified concept of deixis has to account for the various ways in which deixis is used in authentic language data. A unified concept of deixis can be achieved by abstracting from the sensory implications inherent in Bühler's notions of 'speech action'. His concept must be extended to a more general concept of 'deictic domain' of which the speech-act space is only one specific subtype. There are at least four different domains with reference to which deictic procedures can be used: (1) (2) (3) (4)

speech domain discourse domain text domain imagination domain.

All of these domains are systems of reference shared by the speaker and the addressee. They are spaces of orientation for the two interactants in the process of communication, and therefore are possible locations of deictic objects: By employing a deictic procedure, the speaker can thus direct the addressee's focus to an object in, say, the text domain. Naturally, the speech domain is the most prominent deictic domain. Here, deictic objects are objects of sensory perception. However, if one takes time as a dimension of the speech domain, it is obvious that this dimension lies beyond the limits of direct sensual perception — a fact well known since Kant. As for time, the common frame of reference is a mental structure shared by the speaker and the addressee. When the speaker utters the expression 'now', he makes use of a system of knowledge which he presuppposes the addressee shares with him. From this, we can understand some important aspects of deictic procedures in general: The sensory characteristics of speaker or addressee deixis (I,you) or of object-deixis {this, that) in the speech domain are only a very specific case of deixis use. A thorough analysis of all aspects of deictic procedures, even of speech domain deixis, makes evident that there is a strong involvement of mental systems, systems of knowledge and of analysis of reality, all of which are shared by the speaker and the addressee. It is these shared systems that provide the ground for the applicability of deictic procedures. The communicative economy brought about by the use of deictic expressions is based on a broad set of mental resources shared by the interactants.

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2. Text deixis 2.1 Characteristics of text deixis Text deixis is the form of deixis which has caused most trouble in traditional analyses of deixis. Consequently, it is very commonly disregarded as a proper deixis and interpreted as a specific 'anaphoric' or 'cataphoric' use of deixis. This idea is clearly based on the misconception of deixis as reliant on sensory phenomena. The most obvious property of texts in their usual present day form, i.e. in the form of written texts, is the absence of a visible speaker and thus the lack of an audible utterance. The notion of speech situation thus seems inapplicable. This is why when it comes to texts — instead of trying to explore how texts relate to the speech situation — linguists far too willingly dispose of the concepts of speech action and pragmatics altogether, and prefer eclectic, incompatible theory fragments to any serious attempt at a unified theory of language. Text is a linguistic problem solution to overcome a dilated speech situation, i.e. a speech situation where speaker and addressee are not copresent. The most important practical consequence of this separation of speaker and addressee is that the use of deictic expressions becomes a much more risky business than it is in the speech domain. In order to make proper use of deixis in texts, the author must refer to a domain shared by him and the reader. The first and most important candidate for this domain is the text itself because it is the only thing the reader really has at hand. But even in reference to the text domain the processing of the deictic procedure is much more complex than it is in the simple case where reference can be made to sensory objects with the help of, say, a concomitant act of pointing. Thus the author's reliance on the mental cooperation of the reader increases considerably. With regard to text deixis, the addressee has to perform the following mental activities: (a) He has to identify the deictic domain within which the deictic expression is employed; (b) he has to mentally reconstruct the structures which make up the domain in question; this means either that he has to put them into the active, operative part of his mental equipment, or that he has to construct, or compose, the structures in question from other structures at his disposal; (c) he must process the successful orientation of his attention within these structures.

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These activities are very complex. The risk of failure on the part of the addressee is high. The mental activities involved are time consuming. This is in obvious contradiction to what has been characterised as the most important effect of deictic expressions — their communicative economy. The use of deictic expressions in the text domain, then, is less favourable than is their use in domains which demand less from the addressee. In order to minimize these risks, text deictics are much more restricted in their possible applications than are other types of deictic expressions. Writers have to take precautions to minimize these risks and to make optimal profit from the application of the deictic procedure in the text domain. The most important way to achieve communicative economy is to restrict the use of deixis in texts to a small number of structural occasions. There also seem to be very important differences in the choices different languages offer for the use of text deixis. Whereas English, for example, is very restrictive, German and French are much less so. (This difference will be important for the analysis of the text examples later.)

2.2 Text deixis and deixis in texts What has been said so far is relevant to text deixis proper. There are other types of deixis that can occur within texts. For example, deictic expressions can be used within the deictic domain of a speech situation which is reported in the form of 'reported speech' within a text. Or, to take another example, there can be occurrences of deixis which are to be interpreted by reference to the imagination domain of the reader. These are deictics in texts but not text deixis. The following analyses of authentic texts shall help to make clear this distinction.

3. Newspapers as text types In the following I will discuss examples of text deixis taken from a specific text type, i.e. newspaper. I shall discuss briefly some characteristics of newspaper as a text type with regard to its use of deictic expressions. Newspapers are a relatively recent type of text. They arose in the bourgeois period of our history when the informational requirements of the expanding European world instigated a fascinating process of everchanging text forms. One of the most important characteristics of newspapers is that they are time-bound. This characteristic of newspapers can be considered 'ephemeric'. The newspaper's boundness to time has direct consequences

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for the applicability of deictic expressions. Another characteristic of newspapers is that they consist of a variety of text sorts which are bound together by the sole quality of being 'new' for the public. Journalistic handbooks give a classification of the text sorts which make up this text type, though the categories which are used for their description do not appear to be very clear. The text type 'newspaper' is rich with text sorts, which distinguishes it in important ways from other forms of text such as novels, stories, poems or the like. A systematic analysis of deixis in newspapers has to take these various forms into account. To my knowledge such an analysis has not yet been undertaken. The following is only a first step, which is restricted to a few characteristic examples.

4. Deixis in newspaper texts 4.1 The use of the speech domain in newspaper texts — establishing subparts of a text on the basis of deictic expressions The first example is taken from a report on plans for the further development of the German Railways (text 1 and text 2 at the end of this paper.). In its 20 sentences the text has only 6 occurrences of deictic expressions. One of them is 'wir' (m) in sentence s—20. The deictic expression 'wir' (we) occurs in a direct quote from the Secretary of Transportation. What does that mean linguistically? Quotes are strange forms of linguistic activity. In using a quote, one performs a speech action — and one does not. A quoted warning does not have the illocutionary force of a warning, and a quoted promise does not have the illocutionary force of a promise. Nevertheless, the quote is different from, say, a report on a warning or on a promise. It has all the verbal characteristics the real illocutionary act has - but it does not have its force. The illocutionary force of the quoted speech action is suspended. That is, it can be recognized, but it is not in actu. This makes quotes another risky linguistic activity. Consequently, there is a variety of precautions which prevent the addressee from mis-interpreting a quote as if it were a real illocutionary act of the first order. Such precautions can consist of linguistic quotation formulas, quotation marks (in printed texts), changes in the modality of the text, or, of major interest here, a certain organization of the deictic procedures. Linguistic formulas consist of speech reporting verbs that interrupt the flow of the narrative and are followed by an object clause rendering what was said.

Deictic Expressions and the Connexity of Text

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Quotation marks interrupt the running text semiotically. Modality change in a language such as German consists in a change from the indicative to the subjunctive mood. A return to the indicative isolates the section in the subjunctive as a quote. The use of deictic expressions is similar: The direct speaker deixis (I or we) has no place in most newspaper text sorts. (There are a few exceptions as in commentaries or in direct addresses of the editors to their public, e.g. in the case of strikes, or in connection with an increase of the newspaper's price.) The speaker deixis 'we' has two primary interpretations: 'we' can be understood in a general sense as including the writer, the readers, and other persons; or it can be understood as a quote. The latter is the case in s—20 — with the interesting specification that Dollinger himself uses 'we' in a sense which makes it a good example of the vague application of a deictic (an issue which cannot be treated here). The use of such deixis, then, is one of the means which can solve the difficult communicative problem of suspending illocutionary force. This applies to direct communication, as well as to texts. The deictic expression contributes to a specific structure of the text as a whole: it contributes to text connexity by indicating those parts which are coherent sub-elements of the text. This works in the following way: By making use of a deictic procedure, the speaker enables and requires the addressee to identify the deictic domain, and then to orientate his attention towards the object pointed to by the deictic procedure. The use of the deixis 'we' in the context of texts demands from the reader that he decides whether his own field of sensory perception is involved; if this is the case, the deictic domain is the speech domain of which he makes himself part (with all the necessary modifications stemming from the general characteristics of 'text'); if not, the reader has to look for another possibility. The expanded speaker deixis 'we', however, cannot be reconstructed as applying to other domains such as, for instance, the imagination domain. Thus the only possibility is to take 'we' as instantiating a speech domain that is different from the one in which the reader is involved — i.e. to construct its domain as a quote. The reader is led to the identification of this domain: He becomes involved in reconstructing the part of the writer's text he is reading. As I have said, this kind of text deixis is an example of the use of deixis to establish text connexity. More succinctly: Establishing text connexity is not a simple, linear process. Text connexity includes interruptions that fulfill specific tasks in the structure of texts. Quotes belong to the non-linear aspects of text connexity, and deixis can be involved in processing these aspects.

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4.2 Text connexity and the nexus of text and world — time deixis in newspaper texts In section 3., I characterized newspapers as an ephemeric text type, i.e. a text type bound to the day of publication. The date of publication functions as a sort of bracket around all the other text sorts in the newspaper edition. The publication date is an obvious point of reference. This point of reference is made use of in the application of deictic procedures. It functions as 'origo' in Bühler's sense of the term. Thus, a framework of temporary reference can be established. This framework is a sort of 'skeleton' or, to use another metaphor, it is a link which relates words and world. It gives the reader the permanent opportunity to reorganize his temporal perception and to process the texts in his system of knowledge. Consequently, there are many text sorts which make use of temporal deictic expressions: 'heute' {today), 'gestern' {yesterday), 'morgen' {tomorrow), 'heuer' {thisyear), 'in diesem Monat' (in this month), 'in diesem Jahr' {in thisyear), etc. In text (1), s—2, we find an occurrence of 'this decade'. Let us consider what this deictic expression implies for the reader and for the text type. Temporal organization is an important and difficult task in the context of everyday activity. The modern concept of time is such that it frees humans from the limitations of a cyclic time concept. The modern concept views time as a continuum which moves on from past to future. The deictic system in its temporal dimension splits up this time line by establishing a point 'zero' in every speech activity that is executed. There is a continuity of origines which form a line parallel to the one of time itself. The text type of the newspaper is a transformation of these elementary properties of ordinary communication into a text form. Just as speaking splits up time into a 'now' and a 'then', the text type of the newspaper splits up the world into a 'today', as opposed to a past and to a future. The continuity of time origines in the speaking activity of the speaker finds its societal equivalent in the 'todays' of the newspaper. In ways similar to those used in ordinary linguistic activity, the newspaper enables its readers to keep orientated in the current of events which seem to be unstructured and dangerous. Bringing order into a stream of unstructured events certainly is one of the most important purposes of this text form. In the pursuit of this purpose, the system of time deixis plays a crucial role. It links each individual token of the text type newspaper to the world. At the same time, it constitutes a basic frame of reference which binds together the various tokens of different text sorts which make up a newspaper. Thus, time deixis makes an important contribution to the integration of

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the various texts of a newspaper into a unified whole: What they all have in common is that they report on the news of today and yesterday.

4.3 Text deixis and text structure The analysis of deictic procedures has shown that the use of deictic expressions involves a complex cooperation between speaker and addressee. I wish to return to this topic now, in order to discuss an example of the use of text deixis in a newspaper text (text (2) — cf. pp. 60—61). I will consider in some detail the deictic expression 'das' (this) in s-9. What does this 'das' refer to? This question arises when one looks more closely at the text than is usually done during the reading process. Obviously, we 'understand' a reference like the one in s-9 without much difficulty, and we do not bother very much about the details of our understanding process. But this does not at all mean that it is easy to analytically reconstruct this understanding process. In order to uncover the inner structure of the deictic procedure in the example of s-9 we must attempt a thorough reconstruction of the argument. I will do this by a sort of anatomy of the argumentative structure, decomposing the text segment s-7 through s-9. (z)

Die Aussagekraft der Stornoquote besteht. (=s-7)

ρ

The cancellation rate possesses informative value. (a)

Zielgruppe und Bestandsstruktur variieren von Unternehmen zu Unternehmen.

ρ

Target group and portfolio structure vary from company to company. (b)

Die Stornoquoten der einzelnen Unternehmen sind vergleichbar.

ρ

The cancellation rates of various insurance companies are comparable. (b')

(b) gilt nicht.

(b) is not valid. 03")

(bO gilt bedingt = (b) gilt nicht unbedingt

(b') is valid in some respects = (b) is not valid in all respects (c)

(b") ergibt sich aus (a).

(b") follows from (a) (d)

(a) + (b) + (c) ist eine Äußerung von χ.

(a) + (b) + (c) is an utterance of χ. (e)

(d) ist als Meinung zu qualifizieren.

(d) is to be qualified as an opinion.

"nicht"

"not" „unbedingt"

"in all respects" "da"

"since" Ρ illocutionary report; subjunctive

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Die Meinung besteht zu Recht. This opinion is correct. Wenn (f), dann nicht (ζ). If φ then not (¡ή. nicht (g) not (g)

zu Recht" "rightly" zwar kV α ϊ .. . . "aber" "but"

The items which are explicitly verbalized from (z) to (h) certainly have the character of propositional items. (Although some of them are comments or, better, qualifications, nevertheless these, too, are part of a propositional structure.) The deictic expression 'das' can point to (e), (f), ((a) + (b) + (c)), (b'). These candidates for the object of the reader's attention differ to a great extent with regard to their position in the structure (z)-(h). They do not, however, differ with regard to their being possible deictic objects for the deictic procedure. The specific differences of (e), (f), ((a) + (b) + (c)), and (b') are irrelevant for (h). The deictic expression points to none of these propositions in particular; it points to them in their inner interrelationship. This is a somewhat astonishing result. Deictic expressions are often treated as being of specific clarity because they are seen as being directly related to sense perception. As we saw above, this relationship is however only one of a variety of possible applications of deixis. What then is the deictic object in this case? The answer is: The object to which one's attention is to be orientated is not any single elementary proposition but the knowledge structure (K) constituted by these propositions. Let us next ask what the implications of this result are with regard to the deictic procedure involved: What activities must the reader perform in order to successfully follow the speaker's attention focusing activity? The reader has not only to identify the deictic domain. He also (and primarily) has to reconstruct the complex knowledge structure, and/or to identify it. Furthermore, he has to process a neutralisation (in the technical sense of the term) of specifications with regard to the argumentation structure, or, to put it in more general terms, with regard to the substructures of the knowledge structure K. Only if the reader succeeds in processing these activities will he successfully identify the deictic object. In other words: The use of 'das' in the example under analysis demands a large amount of cooperation on the reader's part. He must be constructively cooperative. What the writer demands from him is that he should direct his attention to the "relevant issue' within the structure Κ which functions as a whole for the progression of the argument. The success of the deictic procedure in texts is therefore dependent on how well

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the writer achieves a textual structure that allows the reader to reconstruct the deictic object. In the case of success, the economy of deictic procedure is even greater with text deixis than it is in more elementary forms of deixis use. In the case of failure, the reader's risk of getting lost is much greater with text deixis than it it is with deixis in the speech domain. Explicit use of symbolic expressions can help to avoid this risk, but the price that has to be paid is relatively high. Texts become highly redundant when text deixis is »¿»¿used. 4.4 Conclusions: 'text coherence', 'text cohesion' and text deixis Let us consider briefly what the theoretical consequences are for text connexity, text coherence and text cohesion. The use of text deixis is an application of the deictic procedure which differs largely from what is known from simple deictic procedures in the speech domain. Uses of text deixis demand a large amount of active cooperation on behalf of the reader. The reader has to actively co-construct what is meant by the writer. This can be done by reference to knowledge structures which belong to the writer's and reader's shared knowledge. The reader has to make use of these knowledge structures in a way that is compatible with the course of the writer's development of the argument. There are no external aids for the reader's activity. The reader is in charge of the complex hermeneutic operations required by the reconstruction of text deixis. If he succeeds, the economic effect of text deixis is high; if he fails, he may not understand a substantial portion of the text. One certainly would like to regard text deixis as one type of linguistic expression which can be used to establish text cohesion (cf. Halliday/Hasan 1976; de Beaugrande/Dressler 1981; Hatakeyama/Petöfi/ Sözer 1984). The analysis of the last example, however, brought somewhat astonishing results with regard to this classification, because the linguistic entities related to the knowledge structure Κ do belong to what is traditionally termed text coherence. Where, then, does text deixis belong? I think it belongs to both fields. More exactly: I think that text deixis is a means which mediates between text coherence and text cohesion both by reference to a common knowledge system of writer and reader, and by relying on the reader's cooperation in constructing the meaning of a text. The contribution of text deixis to text connexity, then, is a very complex and a very specific one.

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Text 1 sentence 1 2

SZ 22.6.1984, S. 29 Bahn will 90 000 Stellen streichen Neues Konzept für dieses Jahrzehnt/ Probleme bleiben vorerst bestehen

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Bonn (ddp) - Bei der Deutschen Bundesbahn werden bis 1990 rund 90 000 Stellen abgebaut. Das sehen die Leitlinien der Bundesregierung und die Unternehmensstrategie der Bahn („DB 90") vor. Ferner: Die Arbeitsproduktivität soll um 40% gesteigert, die Personalkosten um real 30% reduziert und die gesamten Kosten um real 25% gesenkt werden. Regierungssprecher Boenisch betonte ά α ψ in Bon(!) nach einer Kabinettssitzung, in der Bundesverkehrsminister Werner Dollinger und der DB-Vorstandsvorsitzende Reiner Gohlke die Regierung über das Unternehmenskonzept der Bundesbahn informierten: „Alle Planungen sind auf Erhöhung von Schnelligkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit ausgerichtet. Die Bahn muß, will sie im Wettbewerb bestehen, ihre Reise- und Transportzeiten verkürzen." Sie müsse attraktiver und schneller werden. Laut Boenisch setzt die Bundesbahn auch auf die neue Drehstromtechnik. Die neue Drehstrom-Lok vom Typ E 120, die nur ein Drittel der Betriebskosten alter Lokomotiven erfordere, ermögliche ein höheres Tempo auch im Güterverkehr. Natürlich bleibe die Bahn „noch für viele Jahre ein Problembetrieb". Aber Verkehrsminister Dollinger habe der Bundesbahn erste Erfolge dank straffer Führung bestätigt. Der DB-Vorstandsvorsitzende Gohlke verwies im Kabinett darauf, der Jahresfehlbetrag 1984 sei auf das Niveau der Jahre 1979/1980 gesenkt worden und die Verschuldung der Bahn gegenüber dem Stand von 1982 nicht weiter gestiegen. Allein wegen der Zinsbelastung der Bahn von jährlich fast 3 Mrd. DM stünden die wesentlichen Aufgaben noch bevor, habe Gohlke unterstrichen. Dollinger bekräftigte die Unternehmensziele der Bahn und betonte die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der geplanten Investitionen. Sie sicherten oder schafften Arbeitsplätze und erhöhten die Exportchancen der deutschen Industrie. Dollinger sagte: „Wenn wir die hochmoderne Drehstrom-Lok ins Ausland verkaufen wollen, dann müssen wir sie auch zu Hause fahren."

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Text 1 sentence 1 2

SZ 23, 22-6-1984, p. 29 German Railways Plan to cut 90 000 Jobs New Concept for this Decade/Problems 'Remain for the time being

2>/A 5

Bonn (ddp) - At German Railways about 90 000 jobs will be phased out by 1990. This is scheduled in the guidelines of the Federal Government and the Management Strategy of the Railways ("DB 90"). Furthermore, Labour productivity is to be increased by 40 %; personnel expenses are to be reduced by 30 %; and total costs are to be reduced by 25 %. After a cabinet meeting in Bonn during which Secretary of Transportation Werner Dollinger and the managing director of the German Railways Reiner Gohlke informed the Government about the Management Strategy of the Railways, government spokesman Boenisch said: "All plans are oriented towards increases in speed, punctuality and reliability. The Railways must shorten their travel and transport times, if they want to remain competitive. They must become more attractive and faster." According to Boenisch the Railways will also invest in the new three-phase AC drive technology. He said that the new three-phase locomotive of the type E 120 would require only a third of the operating costs of older models and would make higher speeds possible, even for freight trains. Of course the Railways would remain "a problematic enterprise for years to come." Boenisch said, that the Secretary of Transportation, Mr Dollinger, had however acknowledged the Railways' first successes due to their tight management. In the cabinet German Railways' managing director Gohlke noted that the annual deficit of 1984 had been reduced to the level of the years 1979/80 and the level of debt had not risen above the level of 1982. He said that, due to high interest payments of about 3 billion Marks annually, the major challenges were still lying ahead. Dollinger confirmed the economic targets of the Railways and emphasized the overall economic advantages of the planned investments. He said that these investments secured or created jobs and increased the export opportunities of the German industry. Dollinger said, "If we want to sell /this/ ultramodern three-phase locomotive to foreign countries we have to use it at home, too."

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Text 2 sentence 1 2

SZ 22.6.1984, S. 29 Thema des Tages Kunden steigen aus

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(SZ) Die deutschen Lebensversicherer haben in diesem Jahr bei Vorlage ihrer Geschäftsberichte für 1983 ein besonderes Problem: sie alle müssen eine gegenüber dem Vorjahr zum Teil kräftige Erhöhung der Stornoquote veröffentlichen. Mit der Stornoquote wird das Verhältnis von vorzeitigen Abgängen bezogen auf den mitderen Versicherungsbestand ausgedrückt. Die Auffassung mancher Berichterstatter, die Stornoquote sage wenig über die Leistung eines Versicherers aus, ist in dieserVotm schlicht falsch. Sie ist sehr wohl Spiegelbild der Qualität eines Außendienstes. Zu Recht meinte zwar der Vorstandsvorsitzende der Hamburg Mannheimer, daß die Stornoquoten der einzelnen Versicherungen nicht unbedingt miteinander vergleichbar seien, da Zielgruppe und Bestandsstruktur von Unternehmen zu Unternehmen variieren. Aber das ändert nichts an der Aussagekraft der Quote. Doch woher kommt die durchweg hohe Steigerungsrate? Zunächst einmal sind davon alle jene Lebensversicherer besonders hart betroffen, die vorwiegend junge Leute ansprechen. Hier ist angesichts wachsender Jugendarbeitslosigkeit eine sehr hohe Zahl von Stornierungen zu registrieren. Da helfen auch Zahlungsaufschübe wenig. Ein Jugendlicher, der einen Lebensversicherungsvertrag unterschrieben hat, steigt lieber aus einem Vertrag aus, als zusammen mit der Versicherung seine schwierige Zeit durchzustehen. Anders sieht es bei den vorübergehend Arbeitslosen aus. Hier zeigt sich die Qualität des Außendienstes und des Managements einer Versicherung deutlicher. Während einige Versicherungen mit Beitragsstundungsaktionen und intensiver Beratung ihrer Kunden schon früh begannen, reagierten andere ungeheuer schwerfällig. Meistens sind dies jene Unternehmen, die zunächst Verbandsrundschreiben abwarten und dann beraten, was zu tun sei. Die Branche verzeichnete 1983 im Durchschnitt eine Stornoquote von 5,5%. Unternehmen, die davon mehr als ein bis zwei Prozentpunkte entfernt liegen, können dies auch nicht mehr mit einer besonderen Kundenstruktur erklären. Da stimmt einiges zwischen Unternehmen und Kunden nicht, und es empfiehlt sich, nicht nur das anzusehen, was der Lebensversicherer als Hilfsangebot in seiner ausgestreckten Hand hält. Auch der Vertrieb sollte kritisch unter die Lupe genommen werden.

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Text 2 sentence 1 2

SZ 22.6.1984, S. 29 Topic of the Day Clients Quit

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(SZ). This year German life insurers will have a special problem at the presentation of their annual reports for 1983: They all must publish a massive increase over last year's cancellation rate. The 'cancellation rate' is the ratio of cancellations and the mean number of clients. The claim of some companies that the cancellation rate says little about the efficiency of an insurance company is, as it stands, simply false. For the rate does reflect the sales force's quality. The managing director of the Hamburg Mannheimer (Insurance Company) rightly noted that the cancellation rate of various insurance companies cannot be compared in all respects since the target groups and portfolio structures vary from company to company. However, this does not change the informative value of the cancellation rates themselves. /What, then,/ has led to this generally high increase in cancellations? /Firstly,/ all those life insurers are affected especially hard who mainly appeal to young persons. // Increasing youth unemployment among young people accounts for a very high number of cancellations.// Even deferred payments offer little relief. A young person who has signed a life insurance contract prefers pulling out of the contract to weathering the storm with his insurance company. /Things/ look quite /different/ with the temporarily unemployed. Here the quality of the sales force and of the management of an insurance company can be seen more clearly. Whereas some insurance companies began /very/ early to defer premiums and to advise their clients, others reacted extremely slowly. In most cases the latter are those companies who wait for association circulars /before beginning/ to discuss what should be done. In 1983 the industry noted an average cancellation rate of 5.5%. Companies who deviate /from this rate/ by more than one or two percent cannot explain this away by referring only to their special clientele structure. There is something wrong with the relationship between company and clientele, and it is advisable /to look at more than just/ what the company offers as a remedy. Their marketing must also be examined closely and critically.

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Deictic expressions have been italicized. "/ /" has been used f o r indicating instances w h e r e a structural change had to be done in the process o f translation with regard to deictic expressions, or in other respects. "( )" is used f o r insertions.

References de Beaugrande, Robert A. / Dressier, Wolfgang U. (1981): Einfiihrung in die Textlinguistik. Tübingen: Niemeyer. Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 2. Aufl. 1965. Jena: Fischer. Parts of the book were translated in: Jarvella, R.J. / Klein, W. (eds.) (1982): Speech, Place, and Action. Chicester etc.: Wiley. A complete translation was published (1990): Theory of language. The representationalfunction of language. Translated by D. Fraser Goodwin. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. Ehlich, Konrad (1979): Verwendungen der Deixis beim sprachlichen Handeln. Unguistischphilologtsche Untersuchungen %um hebräischen deiktischen System. 2 vols. Frankfurt am Main, Bern, Las Vegas: Peter Lang. Halüday, Michael / Hasan, Ruqaiya (1976): Cohesion in English. London: Longman. Hatakeyama, Katsuhiko / Petöfi, Jänos S. / Sözer, Emel (1984) Texte, connexite, cohesion, coherence. Urbino: Centro Internazionale di Semiotica e di Linguistica, Documents de Travail et pre-publications, serie A 132-133-134.

Verweisungen und Kohärenz in Bedienungsanleitungen Einige Aspekte der Verständlichkeit von Texten

1. Verständlichkeit, Verstehen und Verständigung Wir sprechen ganz selbstverständlich von der Verständlichkeit eines Textes. Was damit genau gemeint ist, ist freilich gar nicht so einfach zu erfassen. Fürs erste können wir uns behelfen, indem wir sagen: Ein verständlicher Text ist ein leicht zu verstehender Text. Das Substantiv „Verständlichkeit" gibt auf eine abstrakte Weise eine Qualität von Sprache, Sprechweisen oder Texten an. Das Adjektiv „verständlich" bezeichnet diese allgemeine Qualität als Eigenschaft des einzelnen Textes. In beiden Ausdrücken wird also von den Texten selbst und ihren Qualitäten gesprochen. Die Texte sind sozusagen isolierte Gegenstände, denen Verständlichkeit zukommen — oder abgehen kann, so wie einem anderen Objekt, einer Schuhschachtel z.B., die Farbe braun zugehören kann oder nicht. Der Weg vom Substantiv „Verständlichkeit" über das Adjektiv „verständlich" hin zum „verstehen" führt unseren Blick von diesem losgelösten Text weg zu einer Tätigkeit, die jemand ausführt, zur Tätigkeit des Verstehens. Es ist der Leser (oder hier und im folgenden immer auch die Leserin), der diese Tätigkeit ausführt. Solange wir nur den Text losgelöst vom Verstehen des Lesers im Blick haben, erscheint Verständlichkeit also als eine abstrakte Kennzeichnung. Sobald wir uns von dieser engen Sicht lösen, wird dahinter eine menschliche Aktivität erkennbar. Gehen wir noch einen Schritt weiter und betrachten nicht nur die Leser, sondern beziehen ebenso die Herstellung des Textes mit ein, werden weitere Aktivitäten erkennbar, die zum Text notwendig dazugehören: Aktivitäten der Autoren. Auch das, was Autoren tun, können wir unter dem Gesichtspunkt des Verstehens betrachten. Sie wollen „Verstehen" bei den Lesern herbeiführen. Das Verstehen der Leser ist also nicht einfach die Folge von deren isolierter, von selbst zustande gekommener Aktivität, sondern es wird durch die Autoren sozusagen erzeugt, oder, vorsichtiger

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ausgedrückt, es wird durch die von den Autoren verfaßten Texte angestoßen und bewirkt. Um die beiden Seiten dieses Prozesses zu bezeichnen, können wir den Ausdruck „Verständigung" verwenden: Durch den Text kommt eine Verständigung von Autor und Leser zustande. (Das gilt selbstverständlich nur im gelingenden Fall; von dem soll zunächst die Rede sein.) Im Ausdruck „Verständigung" spielt neben dem Herstellen von Verstehen auch der Aspekt des „sich Verständigens" mit. Verständigen kann man sich über vieles — immer besteht zunächst Uneinigkeit, Ungleichheit, die durch das Sich-Verständigen in Einigkeit und Gleichheit umgewandelt wird. Für das Verstehen bezieht sich diese Ungleichheit auf das Wissen: Das Wissen des Autors ist umfänglicher als das des Lesers. Wenn der Leser durch den Text das versteht, was er vorher nicht verstanden hat, so ist eine Verständigung zwischen Autor und Leser zustande gekommen. So lassen die Ausdrücke „Verständlichkeit", „Verstehen" und „Verständigung" interessante Übergänge erkennen: von der recht abstrakten Kennzeichnung einer Eigenschaft an einem Objekt (dem Text) gelangen wir zur Tätigkeit (Aktion) der Leser, und von ihr aus kommen wir zur Einsicht, daß wir es in Wahrheit mit einer Interaktion zwischen Autoren und Lesern zu tun haben. Das Reden von der Verständlichkeit eines Textes als ein abstraktes Reden verbirgt also mehr von dem ganzen Prozeß, in den wir geraten, als es uns offenlegt. Es erweckt geradezu einen Anschein, der nicht stimmt. Wir werden folglich gut daran tun, uns immer auch vor Augen zu halten, was dieser Ausdruck vor uns verbirgt. Im weiteren werden wir sehen, daß diese Doppelheit von Aussage und Verbergen nicht folgenlos bleibt.

2. Die Verständlichkeit von Texten Die Verständlichkeit eines Textes wird von vielen Faktoren beeinflußt. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Der Text bezieht sich auf eine Situation, in der die meisten der erprobten Verfahren nicht verwendet werden können, mit denen wir in mündlicher Kommunikation Verständnis „sichern". In der mündlichen Kommunikation — jedenfalls in der zwischen zwei oder drei Partnern — steht uns ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten zur Verfugung, mit denen sich Sprecher und Hörer darüber verständigen, ob es zum Verstehen gekommen ist, ob Verständnis hergestellt wurde: Dazu gehören: — nonverbale Mittel (Blickkontakt, Verweigerung von Blickkontakt); — Interjektionen (besonders Ausdrücke wie ,hme erhitzen wollen, bereit Haften Sie das GefaB unter den Oampfausiae Schalten Sie die Maschine an und offnen Sie den Dampf-Knopf Achtungl Lasten Sie cft· Maschine bei dteaem Vorgang nicht unbeaufsichtigt. S c M u m e n Sie dann die Milch auf oder erhitzen Sie Ihr Gelrink sinn· gema6 w»e unter Cappuccino· Zubereitung beschneben Schatten Sie die Maschtne aus und lassen Sie den Rest-Dampf m em anderes GefaA ausdampfen. Reinigen und Entkalken Ftfiertrager. Fittersieb. Glaskrug. Glaskrug-Deckel. Tassen-Adapter. Abstetlg»tter & und Einsatz für Dampfzubereitung können m der Spülmaschine gereinigt werden (oberer Korb, w e g von der Heizung) Tauchen Sie das Grundgerat nie ins Wasser, wischen Sie e s mit einem feuchten Tuch ab. Faits Wasser in der Maschine verbheben ist. lassen Sie die Maschine abkühlen, öffnen Sie den Boiler und leeren Sie die Maschine durch die 8oder· Öffnung aus Bei si a rker Verschmutzung das 6ruhsieb a m Brúhkopí herausschrauben und reimgen Wichtig: Reinigen Sie die Dampfduse sofort nach dem Milchavfschiumen. indem Sie das Gerat noch t - 2 Sek. dampfen lassen (Duse wird freigeblasen) Duse mil einem feuchten Tuch abwischen Some die Duse doch einmal verstopft sem. reinigen Sie diese mit einer Nadel Nötigenfalls kann die Dampfduse mit dem am MeSiöttel angebrachten Schlüssel (6-kant) g e g e n den Uhrreipersinn abgescfüauw uno ansciweBend gereinigt werden Das Aufschrauben der gereinigten Düse mu6 im Uhrzeigersinn erfolgen Mit dem Schlüssel in vemunftig e m Μββ lestziehen «ri

Achtung: Dampfduse rocht m hei Bern Zustand montieren bzw demontieren.

( 3 · ) ENGLISH

Entkalken

f I j J

Je nach Härtegrad des Wassers die Maschine gelegentlich entkalken Z u m Entkaiken muS d a s Bruh· s«eb d e s Bruhkoptes unbedingt vorher abgeschraubt werden Kalk· und Karteereste von Bruhsieb und Bnjhknopf entfernen. Handelsübliche Entkelkungsmittel (nach Vorschrift) odet eme Losung aus 2 EBlÖffeln Wetnstemsáure oder Zitronensäure auf 0.351 Wasser m den Boiler geben Ohne Kaffee und ohne Fittersieb 1 b*s 2 * durchlaufen lassen. Anschhedend 2 χ mit klarem Wasser durchbrühen. Beim Entkamen wie beim Durchbruhen den Dampfknopl anfangs 2 0 - 3 0 Sek. Offnen. Nach d e m Durchbrühen d e n Boiierdeckei mit lauwarm e m Wasser abspulen Bruhsieb des Bruhkoptes wieder anschrauben S o n d e rxubehör Die original K R U P S Cappuccino ptus Aufschàumhrtte (Art -Nr 030) zum schneien und einfachen Aufschäumen von Mtlch tut perfekten Cappuccino ist * n Fachhandel erhallbch

For U. Κ. and Ireland only: WARNING - THIS A P P U A N C E M U S T B E EARTHED! IMPORTANT

j The wire» In tMe maina lead 1 are coloured In accordance with the following code: Orean» and-yettow: Earth Blue : Neutral Brown :Uve

j j I j i I ! !

Aa the colours of the wires in the m a t o lead of thia a p p i a n o may not correspond with the coloured meriting* Identifying the termínete In your plug, proceed aa foHowa: The wire which la coloured green-and-yettow muat be connected to the termine) 4n the plug which la marked with the letter E or by the earth symbol ± or coloured green or green-end-yeDow. The wire which ia coloured bkie muet be connected to the terminal which is marked with the letter Ν or coloured black. The wire which la coloured brown muat be connected to the terminal which is marked with the letter L or coloured red. Radio Interference suppres* Sion: In compliance with regu· latlon 82/499/EEC.

Important Pointa Concerning Safety D o not switch on the appliance if the water container ta empty. Connect the appliance only to earthed aocfceta. D o not open the water container Hd or the After holder filled with ground coffee while the appliance la In operation or under pressure. (Check by opening the ateem outlet.) D o not touch any hot parta of the appianco (Alter holder, steam outlet). Keep the lead away from hot parts. If the steam generation insert la fitted, operate the machine only with the steam outlet open.

Scientific texts and deictic structures 1. Some characteristics of scientific texts 1.1 Scientific texts and scientific knowledge "Scientific texts" (ScTs) form a specific text type. They underlie pragmatic constraints due to the aims of production and reception. ScTs are dependent upon the linguistic activities of writers and readers who spare a large amount of highly specified knowledge. Their common participation in a discourse community can be defined by: (a) their institutionally determined common knowledge and (b) a shared stock of methods of knowledge expansion. The institutionally determined common stock of knowledge (a) can be termed "material scientific knowledge"; the shared stock of methods of knowledge expansion (b) can be termed "accepted methodology". The acquisition of (a) and (b) is accomplished by a highly specified process of institutional socialization which covers years of the knowledge acquirers' biographies. The text type ScT comprises a variety of specific text sorts which can be characterized as subtypes of the text type ScT. Well-known examples of subtypes of the text type ScT are text books, readers, articles, papers, scripts, monographs, atlasses etc. Each of these text types have their own aims to fulfil in scientific communication. These tasks determine their specific features. Other features are shared by all of them, features characterizing the text type ScT in general. These features probably have to do with the above mentioned pragmatic constraints. The development of science has had direct influences on the features of ScTs, in their various aspects. To illustrate this with at least one example, regarding the aspect of formulation (cf. Antos 1982) or "wording" of scientific texts, let us take a closer look at quantifying expressions. The use of quantifying expressions in ScTs will tend to be realized by some specific selection of elements of the set of quantifiers. The application of the quantifier "all" is favoured. Other quantifiers such as "some" or "many" are disregarded. The definite article will be applied in its ge-

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neric sense. In some sorts of ScTs, the artificial logic sign 'V' will fully replace the everyday expressions. All of these forms of wording reflect properties of societal knowledge generation which is to be achieved by science. It has found its expression in the generation of specific linguistic forms of knowledge, such as "laws", "hypotheses", etc. The use of other parts of the semantic potentials of the linguistic expressions being used for ScTs is negatively marked or qualified as being "inappropriate" or "not scientific". The reflection of the pragmatic constraints in linguistic structures is part of what results in the scientific texts' "abstract" character or "abstractness". Such characteristics are not only dependent upon and a consequence of the structures of material scientific knowledge (a). They are also dependent upon and a consequence of the scientific ways of how knowledge "has to be" and, consequently, is expressed. These ways are part of the accepted methodology (b). To include them, the concept of accepted methodology, then, is to be understood in a broad sense, also referring to ways of speaking, next to methodology in the narrow sense of the term. The ways of expressing knowledge are argumentatively elaborated in, generalized for, and shared by scientific communities such as "schools" or "disciplines". For example, in some such schools "formalisms" are regarded a necessary feature of a scientific way of expressing knowledge. For them the capability to express newly found knowledge by use of expressions from a well-established set of formulas, following rules for their combination, is a necessary prerequisite for the acceptance of a suggested piece of knowledge as knowledge. The ways of transferring knowledge in words (or in subsidiary types of expressions, as number, symbols, etc.) are the result of at least two determinants: a determinant of matter and a determinant of communicative habit. Both determinants change in the history of disciplines, especially in the context of paradigm changes (Kuhn 1963). The result of these two groups of influences is what might be termed a "generalized style of scientific texts". It can be analyzed by empirical descriptive stylistics (cf. Rehbein 1983; Ehlich 1983a; Spillner 1974). In speaking about "science" and "scientific" in the context of ScTs the two terms are taken to cover not only "natural sciences", but also "the humanities" or the social and historical disciplines. The terms are used in t h e sense of F r e n c h sciences de la nature et säences de l'homme, o r in t h e sense o f Wissenschaft a n d wissenschaftlich in G e r m a n .

Scientific texts and deictic structures

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1.2 The analysis of ScTs Empiric analysis of ScTs is an important demand on linguistics, in several respects. It is important for: the development of pragmatic text-linguistics; the development of stylistics; training learners of scientific writing; teaching foreign scientific languages; comparative analysis of scientific literature belonging to different scientific language cultures, such as the Anglo-Saxon, the French, the German, the Russian ones, etc. Whereas the importance of some of these tasks stands beyond doubt (such as training skills in mother tongue and in foreign languages) others are less well accepted (such as the comparative analysis of scientific texts from a crosscultural perspective (cf. Clyne 1980, 1987; Galtung 1982; Feigs 1990)). As I see it, the relevance of research into the characteristics of ScTs for analytical and applicational issues is of major importance; but the analytic means at the linguists' disposal are not very well developed so far.

1.3 Scientific texts and literacy Some further aspects of "text" with regard to the distinction of orality and literacy which need to be taken into consideration for understanding the ways of how deixis can function in texts are to be specified next. The text type " S c T " nowadays usually appears as written (or printed or computerized) text. Only in very early stages of knowledge formation precursors of today's sciences made use of oral text forms for knowledge conservation and knowledge expansion. The Graeco-European tradition of the sciences is largely dependent upon the existence of written text forms, and the formation of these text forms for writing/reading is a fundamental part of the organization of knowledge in this tradition (cf. Goody 1983; Ehlich 1983b). The literality of ScTs makes them share general properties of written texts. Written texts have a major impact on the development of linguistic form in general. The main characteristics of "text", as opposed to "discourse" or single speech actions, is its separation from the "speech situation" as a fundamental linguistic unit. The text's coming into existence is due to the communicators' need to overcome the boundness of linguistic activity to speech situations. The systematics of texts as specific forms of linguistic activity is their unbinding or dissolution from speech situation (Sprech-

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situationsentbindung). The result of the interactors' departure from the common interactional ground of speech situation is a "dissolved speech situation". The speech situation common to speaker and hearer is, as it were, split up into two halves, each of which is incomplete in itself. The text is the intermediation between these two halves of the split speech situation.

2. Deixis: from speech situation to text 2.1 Deixis and the deictic field One of the linguistic devices which are of importance for linguistic actions are deictic expressions. Their characteristics have been a major topic of linguistic analysis during the last decades. The most promising way of analysis is Karl Bühler's distinction of a "deictic" and a "symbolic field" in language (Bühler 1934 [1965]: part II).1 Bühler demonstrated that deictic expressions differ essentially from most other types of expressions and that their analysis necessarily has to take into consideration linguistic activity in order to understand how deictic expressions function. The analysis of the "meaning" of deictic expressions, Bühler showed, can only be achieved by referring to their use in speech situation. 2.2 Speech situation, sphere of perception, and deixis The speech situation as a sphere common to speaker and hearer, as it is characteristic for ordinary linguistic activity, is of great importance for the organization of the psychological activities of the interactors. The speech situation in itself is part of the common sphere of perception. This common sphere of perception makes coordinated perception of parts of it possible to both parties. Both parties can focus their attention on perceivable objects, etc., lying within their common sphere of perception. Speakers exploit the common sphere of perception for their performance of linguistic action. They do so by using the linguistic sub-system of deictic expressions. The sub-system of deictic expressions makes direct 1

In the original German text, Bühler uses terms which differ semantically from one another, for the field and the expressions belonging to the field. So he speaks of the "Zeigfeld" ([1934]) for the "deictic field" and of "Deixis" for the expressions belonging in it. This is a useful distinction which is taken up as much as possible in the extended field theory (cf. Ehlich 1986). It seems to be difficult to simulate these distinctions in English, cf. the English translation 1990.

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use of the speech situation for the processing of linguistic activity. It thus transfers properties of the common sphere of perception into the system of language. It is an important interface between perceptional and linguistic activities. The linguistic activity is used to organize perceptional activities, which is a specific type of mental activity. By the use of deictic expressions the speaker induces the hearer's organization of his/her attention in their common sphere of perception. He/she orientates the hearer's attention to entities in the — mentally represented — sphere of perception or to categories inherent in it. The orientation of attention is a permanent, on-going activity which corresponds to and follows a variety of demands. Some of them are brought about by the linguistic activity as such. The linguistic activity is in itself a specific form of sense-perceptual activity. It demands specific ways of organizing attention. Ongoing speech as a highly complex type of activity centers the individual hearer's attention onto itself. This fact has been clearly identified in Karl Bühler's concept of the speech activity as origo for the application of deictic expressions (Bühler [1965]: § 7). Deictic expressions are used in "deictic procedures" (Ehlich 1979). Procedures are subforms of linguistic activity most of which enter into larger forms of linguistic activities such as illocutionary acts or propositional acts (cf. Ehlich 1986). By the application of a deictic expression in a deictic procedure, being part of a linguistic act, the speaker who processes the deictic procedure influences the mental orientation processes of the hearer by "pointing" to some item in the perceptually accessible common sphere of speaker and hearer, thus identifying it and making it salient for the hearer so that the hearer focusses his/her attention to it. The use of deictic expressions in deictic procedures is a highly economic and a highly efficient way of communication. This holds true as long as the common ground of reference, the sphere of perception which is accessible to the speaker's and hearer's senses, is present. The use of deictic expressions, which seems to be universal, is as effective and economic as it is because of its boundness to the origo, i. e., its boundness to the single speech action and its "environment", its immediate "Umfeld", with speech production and reception as parts of the overall sense activities of the communicators. Deictic expressions and speech action thus have an intimate, systematic interrelationship. Should this interrelationship be interrupted, severe problems will arise. Exactly this is the case as soon as "text", in the theoretical sense of the term as it has been described in section 2.2, enters into the picture. For texts, a systematic separation of linguistic activity from the common perceptual ground of speaker and hearer takes place. The unity of the common speech situation is dissolved, a dissolved speech situation, with

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Deiktische Prozeduren

its two halves, and the text as the only link between them, comes into being. This separation o f linguistic activity from the common perceptual ground of speaker and hearer consequently has a detrimental, if not fatal effect on the whole deictic sub-system. The efficiency of the sub-system as a means o f intermediation between speaker and hearer is at stake if this common ground is destroyed. No similar effects are to be expected for other subparts of language, such as the "symbolic field" of Bühler's (Bühler [1965]: part III), being a "perception-detached" system of independent quality with regard to the "origo" and the speech situation. The inherent features of texts themselves, then, lead to severe problems for the deictic sub-system o f language. The sub-system's positive qualifications for single speech actions, making it crucial and indispensable for linguistic activity, is completely reversed as soon as texts are involved. For texts, the system o f deictic expressions and their application in deictic procedures as it had been developed for efficient and economic linguistic interaction, becomes aimless, and consequently, useless — unless new aims and new uses can be established for the application of deixis in a context which differs fundamentally from the original one. The system is set free for new applications in the context of dissolved speech situations.

2.3 Attentional preciseness and vagueness in deixis Whereas deixis in speech situation and deixis in text seem to be juxtaposed to one another and thus seem to leave us with an aporetic situation, this situation is not quite as desolate if we look at it in some more detail. The development of a new framework for the application o f deixis in texts can make use o f some aspects o f deixis in its speech-situational applications. The situation for deixis in texts is not totally without parallels from a systematic point o f view. Whereas the ordinary line o f analysis o f deictic expressions in speech situations takes their boundness to the speaker's and hearer's common sphere of perception in a very strict sense, in an — as it were — "ontological" or objectivistic sense, a more detailed analysis shows that even in speech-situational uses of deictic expressions there are some — though sporadic — elements of dissolution regarding the relationship o f perceptual and linguistic activities. The objectivistic interpretation o f this relation is one which reduces the notion of perception to a simplistic mechanistic concept in which the part played by knowledge structures for perceptual and linguistic activities is severely underestimated. The application of deixis, however, in many cases makes use o f the common sphere o f perceptional access in a strongly conceptualized form.

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This becomes obvious from the language system itself as soon as we consider, e. g., the plural forms of the personal deixis. In the use of we, it is far from self-evident which persons are meant by the use of the expression, even if the possible referents are physically present in the speech situation. Specific knowledge structures are implied for the precise identification of the extension of the expression we on the part of the hearer, e. g., knowledge structures such as membership devices. Only by the application of such knowledge the hearer can correcdy identify who is meant by we next to the speaker, if the speaker makes use of we in a deictic procedure. This type of deictic expression, then, involves vagueness, causing perceptual uncertainty instead of perceptual certainty on the part of the hearer. So the analysis of deixis seems to be self-contradictory for such cases. Instead of being an economic and efficient means of achieving the hearer's orientation in the common sphere of perception, the deictic expression seems to end up with the hearer's non-orientation. This, however, is not really the usual effect of the application of expressions like we in deictic procedures. On the contrary, also in these instances of application, the deixis remains economic and efficient in achieving the hearer's orientation. But it does so in a more complex way than we have learned so far. Additional activities are involved to achieve the same effect. These additional activities involve the actualization of knowledge on the hearer's, and, of course, on the speaker's part. Previously acquired knowledge complements what is not accessible to immediate sense perception. Previous knowledge transforms the perceptual uncertainty caused by the vagueness of these types of deictic expressions. This change in the characterization of deixis becomes still clearer when the speaker speaks as one member of a set of persons of whom he is the only person present in the actual speech situation. The physically absent other members of the group are pointed to and are thus considered to be "present" in a very peculiar way: they are present in the knowledge of the hearer, thus in a way which is not accessible to sense perception. They are "presented" to the hearer in and by the use of the deictic expression which elicits the hearer's previously acquired knowledge. The results of our discussion of the personal deixis in its plural form hold true in a similar way for other deictic expressions. But in their case they are less obvious and less perspicuous. Another example is the temporal deictic expression now. It refers to the time dimension of the actual speech situation. How "far" does this time dimension extend? Consider the following examples: (1) A speaker at the Rauisch-Holzhausen conference: "I am now speaking at Rauisch-Holzhausen."

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(2) A speaker after three days of heavy rain, and a period of sunshine of several hours: "The weather is fine now." (3) During the last years the wall was an obstacle to free traffic between the GDR and the FRG but it is gone now. (4) For centuries the supply of corn was problematic for large parts of Europe's population but it can be managed now, with modern agriculture techniques at our disposal. (5) The development of new tools took thousands of years in prehistoric time but it has increased steadily and considerably now. The extension of now differs from the speech situation of the utterance in case (1), to "today" (2), to "this year" (3), to "the last one and a half centuries" (4), to "the last thousand years" (5). The impact and implication of mental structures is shown in another respect still with the deictic expression now. The dimension of the speech situation which is put into the center of the hearer's attention in the case of now is time. Time in itself, however, is unaccessible to direct sense perception. This incompatability of mental and perceptual structure in the case of time has been demonstrated clearly by modern, enlightenment and post-enlightenment philosophy (especially by I. Kant in his "Critique of Pure Reason"). At the same time it has been a permanent challenge to craftmanship and industry which managed to overcome this difficulty by developing clocks and watches which make time "visible", thus opening a pathway for direct sense perception of time. All of these characteristics of deictic expressions and of their usage, which could be enlarged and developed further with regard to other subparts of the deictic system, show ways of how to dissolve the immediacy of speech situation dependency of such expressions. 2.4 Deictic transfer: from speech situation to imagination There are other uses of deictic expressions which make methods of transferring deixis from the immediate speech situation into more complex types of application accessible to communicative interactors. Systematically speaking, the first such transfer, in the course of which a transcendency of the immediate speech situation, its accessibility to sense perception and of the boundaries involved by it, takes place, is the context of the application of deixis to speech itself and to parts of it. As soon as one speaker in a dialogue refers to a previous speech action of the other party by means of a deictic expression he/she refers to a

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speech action that is no longer "there"; or, in other words, he/she refers to a speech action in completed transgression. (6) gives an example: (6) (a) A to B: (b) Β to A:

" "You have stated Ato nicely."

"

In example (6), with its neat turn allocation, by the fact of change of the turn from A to Β which takes place wich B's very utterance, the utterance (a) of A is no longer "present" when Β speaks. It has come to an end at the very moment when Β starts. B's referring to A's utterance (a) by means of that in utterance (b), thus, focusses A's attention to something which is no longer present in the speech situation and no longer accessible to sense perception — though of course it had been present some seconds before B's utterance (b). The relation to A's speech action or, more precisely, to some part of it (its propositional act and the way of how A had put it) is a relationship to something the only presence of which in the present speech situation (the situation of B's uttering of (b)) can be a presence in memory. The deictic object is not present to physical, to sense activity - though it was present and accessible to them immediately before. Nevertheless, the deictic expression that is used. The immediacy of the immediate speech situation is transcended. The deictic procedure is transposed to a different type of space, a space which is constituted by discourse and its inherent structures. The deictic procedure becomes a procedure in the "space of discourse". The immediacy of the speech situation proper, as a sphere of perceptual access, has been transcended. What is relevant now is just a previous speech product from the previous speaker. This product is mirrored in the mental sphere of the previous hearer, and in his/her consequent speech action he/she makes use of what he/she has in mind, and of what he/she knows the previous speaker has in mind, and he/she no longer makes use of something which is the case in the present, perceptually accessible reality. In this instance we can clearly see a step of great systematic importance, the step of dissolution from the original qualifications of deixis. The second such transcending of the immediate speech situation occurs when a speaker deictically refers to entities, etc., which are neither part of the present speech situation as such nor of an immediately preceding speech situation, but which are "imported" into the present speech situation by the act of verbalization of one of the interactors in order to elicit, by means of the verbalized notion, a notion on the side of the hearer equivalent to that which the speaker has in mind. This is a case which Bühler termed Deixis am Phantasma ('deixis at the phantasma', Bühler [1965], p. 123). For the sake of a consistent terminology, it is advisable to speak here of a "deixis in the space of imagination".

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Let us consider this case in some detail also. Here, the dissolution from the actual speech situation has a more principled status. The factual interaction is one between the speaker's imagination, knowledge etc., and the hearer's imagination, knowledge etc. It is mediated by the deictic expression. By means of the deictic procedure in the speech action an orientation o f the focus of attention on the part of the hearer is affectuated in identity with a corresponding orientation of the focus o f attention o f the speaker. So these general characteristics o f deixis and deictic procedure remain the same but the sphere of their application, the deictic space, differs fundamentally. The physical presence o f the possible deictic objects and their perceptual accessibility are no longer part of the picture. In these two cases o f dissolution, the linguistic interactors share a common transfer of the deictic system into different spheres of relation between deictic expression and deictic object. These spheres o f relation are characterized by their mental qualities. The objects o f deictic reference are units o f the hearer's and the speaker's short time memory (in the case o f (parts of) the previous speech actions), or of their imagination (in the second case). How is the transfer to different spheres of relation brought about? It is brought about by common mental activities of the two involved interactors. They construe a mental sphere for the application o f deictic procedures. This sphere is called a "deictic space". The procedures themselves remain the same, but the spaces of their application change. In this process of change, the sense-perceptual access is substituted by a verbal and/or mental access. The process of transfer is not without considerable dangers o f failure. The great advantage of deictic procedures in the speech situation proper, in comparison with the use of symbolic (in the Bühlerian sense) procedures, is the immediate reliance on the speaker's and hearer's common ground, the common sphere of perception, which can permanently be actualized and which offers a source for solving communicative failure, in all cases of communicative misfit. Other than verbal means for clarification (such as gestural pointing) can be applied, and they are well accepted among the interactors for these purposes. They, together with a close interrelationship o f the speaker's speech actions and the hearer's activities o f understanding, ensure certainty in most practical contexts. This basis o f reliance and o f certainty is left behind in the process o f transfer o f deictic procedures into deictic spaces other than the one characteristic for the immediate speech action, i. e., for the speech situation itself as space of deictic procedures. At the same time, the constructive part of both parties increases considerably. The construction o f an imaginative space has to be organized,

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mainly by symbolic expressions. They usually do not, however, suffice. Instead, a large amount of shared knowledge prior to the speech situation is indispensable in order to succeed in the construction of a deictic space of imagination. The dangers of breakdown of deictic procedures necessitate specific measures of caution on the part of the speaker and of the hearer. The aim of the processing of deictic procedures is the establishment of a focus of attention of the hearer with regard to the deictic space under consideration. Failure of the application of the deictic procedure may turn out to have fatal consequences because it causes disorientation in the very focus of the linguistic activity which is meant to achieve orientation. A failure in the application of deixis thus is direcdy counterproductive in the speaker's on-going linguistic activity, and not only a linguistic infelicity.

2.5 Deixis in texts The construction of deictic spaces beyond the limits of the speech situation has been analyzed in a systematic "step-by-step" procedure in the transition from immediate speech situation to the deictic space of discourse and to the deictic space of imagination. This process continues, as soon as "texts" are systematically taken into consideration. The text itself is taken as a specific deictic space. But, again, at the same time with the establishment of a new space for the application of deictic procedures the dangers for the success of the linguistic activities increase. Further measures of precaution are needed. This means that there is also an increase of abstractness in the construction of the deictic space. The demands on the hearer's mental activities become more and more intense. The "hearer", becoming a reader in the case of written texts (cf. section 1.3.), is faced with the need to do more and more on his/her part, in order to let the deictic procedure do its job. The increase of abstraction, then, necessitates an increase of mental activities on the part of the text recipients. In order to counterbalance the risks of this process, the application of deixis in the space of text is strictly limited to a small range of possible deictic procedures. They are highly standardized in nature. Their use is part of the professional training of the recipients, be it in the context of learning how to read, be it in their further socialization. The readers of scientific texts are included in this process. The training of how to make use of deictic expressions in a ScT is part of the scientific socialization they have to undergo. These restrictions are also part of the generalized style of scientific writing. The ordinary scientific writer has been a scientific reader before.

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The restrictions for the application of deictic procedures in the space of text are thus bound to a strict stylistic tradition leaving little alternatives to the individual writers in their ScT production. One last important general aspect of the application of deictic procedures in texts needs to be mentioned. The more complex forms of deictic procedures, related to the different types of deictic spaces, are combined structurally and individually in discourse and text. That means: deictic procedures in texts are not restricted to text deixis. On the contrary, the surface of texts, as the surface of discourse, shows all sorts of deictic procedures. It is one of the most difficult tasks for a reader of a text to identify the specific quality of a particular deictic procedure and to perform exactly those mental constructions of deictic spaces that are demanded by the author of the text in order to fix his/her focus of attention to exactly that object which the author wants it to be focussed upon. An important help for correct identification of the deictic procedure used by the author, for correct selection of the respective deictic space, and for the mental (re-)construction of the appropriate space of knowledge, imagination, etc., is the standardization of application of deixis in the more complex and more abstract deictic spaces.

3. Deixis in scientific texts 3.1 Problems of applicalion of deixis in ScTs ScTs in themselves are highly abstract in character, that means: they are detached not only from the specific situation of their production as all texts are but they are detached from situation as such. The knowledge incorporated in them is transsituational knowledge. Generalization is a process of de-situalization. This characterizes the problematic character of the applicability of deixis in ScTs. The response of speakers/writers and of hearers/readers to this problematic constellation can be characterized in three ways: 1. The application of deixis is strongly restricted to very specific cases. 2. The application of deixis is done in a formularized way. 3. The application of deixis is avoided according to a permanent calculation of the costs and benefits in the use of alternative procedures, such as symbolic procedures or semiotic (e. g. graphic) procedures. In the subsequent sections of my paper, I will discuss some examples for these three aspects of the applicability of deixis in ScTs under the head-

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ings of specification (3.2), formularization (3.3), and avoidance of deictic vagueness (3.4). 3.2 Examples for specification One of the major specifications in the application of deixis to ScTs is that deictic procedures in this context are restricted to uses of deixis of the type "in this paper ..." They occur mainly in the beginning part of ScTs, or at the end, or in summaries and abstracts. This application of a deictic procedure makes direct use of the perceptual accessibility of the text itself. "This paper" is a new entity in the world of writer and reader. The writer constructs this reality, and the reader has it in his/her hands. The text itself is present and accessible to sense perception for the two of them. The use of deictic expressions referring to the text as perceptionally accessible object consequendy is a combination of two types of deictic procedure: speech situational deixis and text deixis. A second specification can be analyzed by making reference to the application of deixis in complex oral texts in early societies. These texts are accessible for us in a literary form, e.g., in some parts of biblical texts. As an example I quote Genesis 36,15—19, a combination of lists of names of some of the dukes of the sons of Esau (Fig. 1) (cf. Ehlich 1979, § 6.4.2 and Ehlich 1982, p. 332)). The text consists of three lists l(v. 16), 2 (v. 17), 3 (v. 18). These three lists are integrated in to a larger list (v. 15—19). At the end of verse 16 and verse 17 we find two elements of a secondary structure ((e), (i)). The lists of names ((c), (g), (k)) are the basic elements of content. They are organized in a complex structure of framing ((b)/(d); (f)/(h); 0/(1)). Also the larger list v. 15—19 has its framing ((a)/(m)). In all of the frame elements (except for (b)) we find deictic expressions. It is obvious how they function: they serve to set up frames. At the beginning of a list and at its end deictic expressions are used. In order to integrate lists into lists deixis again has a fundamental organizational function. If we take into consideration our analysis of the general function of deictic expressions in speech activity, we clearly see: deictic expressions can serve to establish lists by giving the hearer a help for the organization of pieces of knowledge, in setting his/her focus of attention to these elements. The deictic expressions reorientate the attention of the hearer to the textual structure itself. Two types of deixis are of importance here. The one is catadeictic in nature, the other one is anadeictic. By 'catadeictiâ I

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Deiktische Prozeduren 'ella 'allupe b.ne-'esäw: these (are) the dukes of the sons of E. b.ne 'Hipa^b.korcesäw: the sons of E. the firstborn of E. allup allup allup allup allup allup allup

Θ

temän 'ornar s.po q.naz qorab gactäm camäleq

'ellä 'allupe 'älipa\b. 'äräs '¿dom. these (are) the dukes of E. in the land of E. 'ella b.ne 'âdâ. these are the sons of A. w. 'ella b.ne r/u 'el bän-'esäw: and these (are) the sons of R., E.'s son

Θ

'allup nabat 'allup zärab 'allup sammá 'allup mizzä 'ella 'allupe r.'u 'el b. 'äräs ''dorn. these (are) the dukes of R. in the land of E. 'ella b.ne bas.mat 'esät 'esám. these (are) the sons of B., H.'s wife w. 'elläb.ne 'ohflibärnä 'esät 'esàïv: and these (are) the sons of O., E.'s wife

Θ

'allup y.cus 'allup yacläm 'allup qorab 'ella 'allupe 'ofrlibämä bal ena 'eiät'esäw these (are) the dukes of O., th daughter of Α., E.'s wife

'ellä b.ne-'esäw; these are the sons of E. w. 'ellä 'allupehäm. and these (are) their dukes

! frame element without deixis

frame of the list of lists

frame element etc. of the second

frame of the list Figure 1

Scientific texts and deictic structures

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mean a procedure which has as its aim the to a subsequent part of the text in his/her way through the "space of text" as sphere of perception, and by 'anadeictid I mean a procedure which has as its aim the orientation of the attention of the reader to a previous part of the text in his/her way through the "space of text" as sphere of perception. 2 Lists are specific forms of texts, and they are very early ones in the history of the development of text structures. The application of deixis for frame formation responds to obvious needs in the textual interaction, as long as the mode of transmission of texts is an oral one. Re-orientation of attention is essential to process correctly such complex types of information. One might expect these uses of textdeixis to occur also in written texts. This expectation however does not seem to be fulfilled in the data.3 The application of deixis in present day German ScTs does no longer concentrate on major text forms. Instead, the (re-)organization of the attention of the reader is done with regard to much smaller units than the major or overall structuring units of texts. Example (7) reads: (7)

(a)

Die sogenannten Funkengesetze beschreiben den zeitlichen Verlauf der elektrischen Größen bei Funkenentladungen, und zwar vorzugsweise im Bereich des raschen Spannungszusammenbruchs. (b) Die Anwendbarkeit dieser Gesetze wird aber dadurch erschwert, daß in allen Konstanten vorkommen, deren Zahlenwert nicht aus den Eigenschaften des betreffenden Gases berechnet werden kann. (Pfeiffer (1971)/LIMAS 091.wis) (a) The so-called spark-laws describe the temporal course of electric units in the case of spark discharge, preferentially in the domain of a quick tension breakdown. (b) The applicability of these laws is made difficult however by the fact that there are constants in all of them the value of which cannot be calculated from the properties of the gas in question.

Example (7) consists of two complex sentences (a) and (b). Sentence (a) has one basic verb (beschreiben / describe) and six noun-phrases which are integrated into the basic structure established by the verb as sentential 2

Catadeictic and anadeictic uses of deixis are to be differentiated from "anaphora" and "cataphora". By not making this distinction the discussion of photic as well as of deictic expressions and their use is obscured in large parts of the literature.

3

Though there has not been a detailed quantitative analysis up to now, as far as I see. The existing corpora of ScTs, e. g., LIMAS for German, are not tagged in a way which would enable detailed research regarding the use of deixis. A complexer type of corpus would be ver}' valuable, and it would be worthful to have a large size corpus which might come up to some representativity for the text types involved. Setting up such a corpus would need major funding. A small scale corpus is put together at Dortmund University, "Dortmunder Korpus Wissenschaftlicher Texte (DoKoWiT)".

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Deiktische Prozeduren

predicate (cf. (8) and Fig. 2; I do not discuss the various structural components of the graph here. Straight lines mark the basic verb-noun relation reflecting the direct verb valency, double straight lines mark the "genitive"-relation, and bent lines mark the adverbial relation). Besides, there are two structuring elements ("und zp>a^ / "—"; "vorzugsweise" / 'preferentially'). I Die soßenannten Funkengesetze beschreibet^ I den zeitlichen Verlauf I der elektrischen Größen I bei Funkenentladungen

(8)

und zwar vorzugsweise I im Bereich I des raschen Spannungszusammenbruchs

NP1 VPr NP2 NP3 NP4 OP1 OP2 NP5 NP6

VPr • NPl

L_ NP2 = NP3

(

NP5 = NP6

NP4 Figure 2

The deixis "diesel / 'these' has its position in the second noun phrase of sentence (b): "die Anwendbarkeif - N P l ; "dieser Gesetze" = NP2. Why, then, reorganize the attention of the reader at this point? The deixis "dieser" / 'these' is a clear instance of an anadeixis, as described above. It orientates the attention of the reader to a previous part of the text. How large the part is which is put into the focus of the reader is not obvious per se. The specification of extension of the deictic object basically has to rely on linguistic experience of the trained reader. Possible candidates for the reader's identification of the deictic object are — — — — —

parts of the previous sentence parts of the previous paragraph the previous paragraph parts of the previous text the previous text.

In order to help the reader to identify the deictic object the deixis is specified by additional information, in this case "Gesetz?' / 'laws', combined

Scientific texts and deictic structures

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with inflectional information. The grammatical form which is used for this combination is the attribution of the deixis to the noun "Gesetze" / 'laws'. The characteristics of this construction can be illustrated by way of opposition of a simple deixis at the position of the noun phrase "diese Gesetze" / 'these laws', as is shown in example (9):

(9) (a) Die sogenannten Funkengesetze beschreiben den zeitlichen Verlauf der elektrischen Größen bei Funkenentladungen, und %¡var vorzugsweise im Bereich des raschen Spannungszusammenbruchs. (b) Dies ist seit langem bekannt. (a)

The so-called spark-laws describe the temporal course of electric units in the case of spark discharge, preferentially in the domain of a quick tension breakdown. (b) This has been well known for a long time. Here, "die/' / 'this' has as its deictic object the whole previous sentence (a). In (7), however, the deictic object is part of (a) — but which part? In order to specify which part of (a) is the deictic object it is useful to give a second analysis of (a), an analysis which "breaks up" (a) along the lines of information processing. That means: the "subject-predicate" structure is taken as basis of analysis (cf. Fig. 3). IU

Key: IU = information unit IP = ongoing information process IC = information completion

Κ = the known Ν = the new NP, VPr, OP: see (8)

Figure 3

The subject position is interpreted as "the known", the predicate position as "the new". The predicate position is seen as comprising the verb plus its objects except for the subject, but also the operators. Other classifications are possible, especially with regard to the operators. The predication on the subject, or, in other words, the new information Ν which is added to information already in hands of the reader (K) is transformed into a new uniform information unit which is realized at the point where "#" stands. Information having been processed so far the previously new

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Deikásche Prozeduren

part has been integrated into the known parts of the reader's knowledge. The recall of what had been Κ in structure of Fig. 3 implies the actualization of what had been N. In other words, the actualization of "Funkengeset^e" / 'spark laws' makes active different knowledge structures before "(a) # ", and after it. In order to make use of the result of the integration of Κ and Ν in (a) the deictic procedure is applied. The reader is asked to treat, what has been pronounced before in a series of verbalization steps, as one deictic object. By the further application of the combination of a deictic procedure plus a term from the previous subject position, namely "Gesetze" / 'laws', the writer asks the reader to take K, enriched by N, as his/her deictic object, or, in other words, to concentrate his/her attention on it. The reorganization of the attention of the reader helps him/her with the processing of complex knowledge structures which are not only introduced in the ongoing linguistic activity of the speaker but also made use of in its continuation. The situation could be totally different in case we would not have an anadeixis but an anaphor, cf. (10): (10) (a) Die sogenannten Funkengeset^e beschreiben den zeitlichen Verlauf der elektrischen Größen bei Funkenentladungen, und %war vorzugsweise im Bereich des raschen Spannungszusammenbruchs. (b) Ihre Anwendbarkeit wird aber dadurch erschwert, daß in allen Konstanten vorkommen, deren Zahlenwert nicht aus den Eigenschaften des betreffenden Gases berechnet werden kann. (a) The so-called spark-laws describe the temporal course of electric units in the case of spark discharge, preferentially in the domain of a quick tension breakdown. (b) Their applicability is made difficult however by the fact that there are constants in all of them the value of which cannot be calculated from the properties of the gas in question. In German it would be possible to have as antecedents of "ihre" / 'their' all nouns with the specification (i) ( - plural/ + feminine) or (ii) (+ plural), i.e. NP1, NP3, or NP4 (all being of type (ii)). The application of the anaphoric procedure would mean a continuity of knowledge elements in the focus of attention of the reader which does not exist in his/her knowledge space. The reader would have three choices as to what the object might be to which the speaker refers by using "ihre" / 'their'. A new orientation of the reader, a new focus of attention is at its place here. By means of the application of the deictic procedure the speaker gives the reader the chance to do mentally what is needed. The reorientation in the processing of the text is an efficient means for text comprehension.

Scientific texts and deictic structures

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I call this a microorganization of attention of the reader. The microorganization of attention differs from the type of organization of attention illustrated by example (Fig. 1). In the biblical text, being a text dependent on orality, macrostructures, namely the textform in itself, are actualized by means of deictic procedures. I call this the macroorganization of attention. In case the two examples (Fig. 1) vs. (7) are representatives of two stages of text formation we can hypothesize: There has been a shift from macroorganization to microorganization of attention in the process of de-oralization which is a process of growing complexity of knowledge. The type of application of deixis illustrated by examples (7) to (9) is very prominent and occurs very often in ScTs, in German. The repetitive application of the deictic procedure with reference to the space of text means that the reader has to perform a permanent reorganization of his/her focus of attention at various instants of the continuing of the linguistic entities he/she is reading. The function of the deictic procedure is to help him/her manage this permanent shift of focus. Smaller and smallest text units can be so complex that these processes of focus adjustment are necessary. This holds true especially when syntactic structures are used to express maxima of information. German is known (and hated) for the "complex sentences" it has, and "German scientific style" is experienced as "very complicated" and "difficult to process" (as certainly will be the present one, notwithstanding its English "disguise"). The application of deictic procedures to the microorganization of attention is a major resource for the reader to overcome the difficulties which lay at the basis of the (negative) evaluations of German ScTs.

3.3 The use of deictic procedures in standardized ways: formularization Next, I would like to discuss a second set of deictic procedures very common in German ScTs. Let us reconsider example (7) for an illustration. (7 (b)) reads: (7) (b) Die Anwendbarkeit dieser Gesetz wird aber dadurch erschwert, daß in allen Konstanten vorkommen, deren Zahlenwert nicht aus den Eigenschaften des betreffenden Gases berechnet werden kann. (7) (b) The applicability of these laws is made difficult however by the fact that there are constants in all of them the value of which cannot be calculated from the properties of the gas in question.

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Deiktische Prozeduren

The expression "dadurch" has two components: (i) "da" and (ii) "durch", (ii) is a preposition which is semantically similar to and etymologically cognate with English "through", (i) is a deictic expression. Its semantic diversification in German is very large (cf. for detailed analysis Redder 1990). Let us consider shortly what the function of "dadurch" in example (7 (b)) is. In doing so we can refer to the results of 3.2. The structure of (7 (b)) is characterized by the fact that two positions of the basic sentence S (b) are filled up not with phrases but with sentences, cf. (11) and (12). The integration of sentences into sentences, treated in linguistics under headings like "subordinated clauses" or "Nebensat('by-sentence') constitutes a complex task for the recipient. In order to process these types of sentences the hearer/reader needs help from the speaker/writer. In case such help were lacking there would be a risk for the reader to get lost in structural complexity. The reader would find at his/her disposal a set of information pieces without indication of their interrelationship. The processing of the information pieces is largely organized by means of adequate adjustment of the focus of attention. In other words, deictic procedures can provide some of the help the reader needs. (11)

I Oie Anwendbarkeit I dieser Gesetze wird erschwer^

NP1 NP2

aber dadurch, daß(c)

nicht

OP2 I aus den Eigenschaften des betreffenden Gases

NP6 NP7

The application of deixis in these contexts is technical in a linguistic sense of the word. Deictic procedures which are used for these technical activities on the part of the reader are even more "specialized" in their function than those types of deictic procedures which were discussed in 3.1. This secondary type of specialization leads to a standardization of

111

Scientific texts and deictic structures

deictic uses which is realized by a formalization of the use of deixis. A set of expressions is used in order to achieve the goal of proper and easy processing of complex syntactical structure.

NP1 = NP2

N P 4 = (d) (

neg. beoordeling (41) 45 oplossingspoging

pos. inschat-

1 •·b 1 1 1 1 1 1

pos. ^ beoordeling

guess

26, 27, 29-32, 31-35, 38, 46, 47, (49), 50

ιr

Legende: onder „interactioneel" worden de communicatdeve (verbale/non verbale) handelingen aangeduid; onder "mentaal" reconstructies van mentale processen; yK

geeft een verzameling keuzes en het daarbij hörende beslissingsproces aan; exothese: een relatief rechtstreeks te kennen geven (verbaal of non verbaal) van mentale toestanden/processen.

***

Cijfers verwijzen naar de segmenten van transcriptie (1). ^

hier niet verder geanalyseerde mogelijkheden om het patroon te verlaten. Fig. 2: D i a g r a m A:

7

Opgave-geven/opgave-oplossen-^iXioorv?

I n de figuren 1 en 3 tot e n m e t 7 w o r d e n de formeel mogelijke relaües tussen oppervlakteen dieptestructuren verkend, terwijl in figuur 2 de systematische (diepte-)structuur van een

184

Institutionelle Kommunikation

Maar reeds voor de volgende uiting geldt dit niet meer. Uiting (s27) herhaalt uiting (s26) en dit gebeurt zo snel, dat het onduidelijk is of het hier gaat om een slechts wat later körnende uiting van een zelfstandig gevonden oplossing "Kaiser" van leerling s3, die gelijk is aan de eerdere oplossing uit (s26), of dat het zuiver een herhaling van (s26) betreft — een verschijnsel dat we in een ander kader als "echo" karakteriseerden. Hoe het ook zij, in ieder geval vertegenwoordigt (s27) een realisatie van dezelfde patroonpositie als (s26) - weliswaar door een andere aktant (b; vgl. figuur 4). Legende •

relatie patroonpositie - oppervlakterealisering patroon

oppervlakte-

type a: de oppervlaterealisering loopt parallel met de systematische opeenvolging van posities uit het handelingspatroon. Figuur 3

bepaald patroon grafisch wordt weergegeven. Deze beide typen diagrammen illustreren dus verschillende soorten relaties.

Handelingspatronen in de communicatie in de klas

patroon

185

oppervlakte-

type b: meerdere opeenvolgende uitingen realiseren telkens weer eenzelfde patroonpositie. Figuur 4

De segmenten (s29)=(s32) en (s31)=(s35) zijn weer andere oplossingspogingen en realiseren wat dit betreft dezelfde patroonpositie. De wijze waarop ze zieh tot elkaar verhouden is gelijk aan de relatie tussen (s26) en (s27). Segment (s32) lokt (s34) uit. Hierdoor ontstaat een reeks die niet voorzien is in het patroon (f). Dit vloeit voort uit het feit dat de kant van het patroon waar de oplossingspogingen worden gegeven, dus in de school de leerlingenkant, door meerdere aktanten wordt ingenomen. In zijn hoedanigheid van reactie op (s32) is (s34) een elementair discours over de oplossingspoging (s32). Tevens neemt een leerling daar van de leraar de funetie van beoordelaar over. Op dezelfde wijze verhoudt (s37) zieh tot (s35). Tot nu toe heeft er nog geen expliciete beoordeling door de leraar plaatsgevonden. Dit heeft, door de patroonstruetuur in zijn geheel, een voor de aktanten herkenbare communicatieve funetie. Zou namelijk een van de oplossingen goed geweest zijn, dan zou de leraar in het normale geval een positieve beoordeling geuit hebben.

186

Institutionelle Kommunikation

Hierbij moet wel een onderscheid gemaakt worden met een complexere situatie, wanneer de positieve inschatting van de leerkracht niet gerealiseerd wordt, alhoewel aan de voorwaarden ervoor wel voldaan is. De leraar kan dit bijvoorbeeld doen, als hij de vaardigheid van de leerüngen om zichzelf te beoordelen wil ontwikkelen of vergroten, of wanneer hij wil controleren hoe serieus de oplossing van een leerling is, waarbij hij door de leerling zijn positieve oordeel te onthouden deze uit wil lokken tot een mogelijke herziening van zijn antwoord — een handeüngswijze die in de onderwijspraktijk vaak terug te vinden is. Deze complexere, afgeleide gevallen vallen echter reeds gedeeltelijk onder de tactieken. Een tactiek is een partieel gebruik van patroondelen voor doelen die verschillen van het patroondoel. De afwezigheid van een positieve beoordeling door de leraar, geeft de leerlingen op basis van hun patroonweten de mogelijkheid te concluderen dat er van het tegendeel sprake is, namelijk een negatieve beoordeling door de leraar. Wat dit betreft moet de interpretade die wij hierboven van (s29) etc. gegeven hebben bijgesteld worden: weliswaar worden er in (s29) etc. dezelfde patroonposities gerealiseerd, maar dit gebeurt niet op dezelfde manier als waarop (s27) een identieke patroonpositie als (s26) realiseert. Veeleer is het patroon opgave-geven/opgave-oplossen ondertussen op een verkorte manier doorlopen en is de illocutionaire strekking van de beginvraag impliciet opnieuw van kracht geworden. Doordat dit laatste impliciet plaatsvond, dus niet doordringt tot de oppervlakte van de expliciete verbale handelingen, is dit een voorbeeld uit groep (c), (vgl. figuur 5). Weliswaar is er in principe ook nog de mogelijkheid van de herhaalde realisering van dezelfde patroonpositie (b): vooral in het begin van de oplossingspoging kan herhaaldelijk, direct opeenvolgend realiseren van eenzelfde patroonpositie door aktanten voorkomen (in dit geval door meerdere aktanten, wat wordt bepaald doordat meerdere leerlingen zijn opgeroepen om oplossingen aan te dragen), voordat de aktant van de andere kant van het patroon de kans heeft gekregen om zijn aansluitende handeling uit te voeren. In zo'n geval is er sprake van een batterij oplossingspogingen (z. Ehlich/Rehbein (1977a)). Pas op de volgende oplossingspoging (s38) wordt door de leerkracht expliciet verbaal ingegaan, allereerst met een navraag (s39), die zelf geen deel uitmaakt van het patroon, maar die als repair-initiërende talige vorm op talrijke plaatsen in andere patronen kan worden ingevoegd. Deze navraag wordt gevolgd door de uiting van een negatieve beoordeling (die alleen maar indirect verwoord wordt (s41)). Door de propositionele structuur, waarin de negatieve beoordeling door de leraar verschijnt, is het nodig dat

Handelingspatronen in de communicatie in de Idas

187

de leerlingen zelf deze uiting in verband brengen met het patroon, wat ze ook met succès doen (vgl. (s42)—(s44)). patroon

oppervlakte-

iype c. twee opeenvolgende uitingen realiseren twee systematisch niet op elkaar volgende patroonposities. Figuur 5

Uiteindelijk volgt de expliciete en duidelijke uiting van de negatieve inschatting door de leraar in (s48). Eventueel ligt hier bij de leraar een maximeconflict aan ten grondslag (vgl. hiervoor Ehlich/Rehbein (1977b), § 3). In de segmenten (s46) en (s50) zien we twee interessante pogingen van leerlingen om, met een quasi verwijzing naar de institutie-adequate leerlingenhandeling (op/ossingspoging) het patroon te verlaten. Het zijn beide abducties (vgl. Ehlich (1981)). Ze proberen de communicatie te laten ontsporen. De vorm van oplossingspoging blijft gehandhaafd, maar de inhoud is duidelijk zo weinig reëel, dat het niet als een serieuze poging kan worden gezien. Enerzijds is het dus een gebrekkige realisatie van een patroonpositie (f); anderzijds is het zo slim, dat hun talig handelen tegelijkertijd als een creatief naar eigen hand zetten van, of zelfs als een speien met het patroon overkomt (d; vgl. figuur 6).

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Institutionelle Kommunikation

patroon

oppervlakte-

type ά. één uiting realiseert de laatste positie van een bepaald patroon en tegelijk de eerste positie van een ander patroon. Figuur 6

De leraar wordt — door het uitblijven van een goede oplossing — gedwongen om de oplossing zelf te geven. Daarmee lijkt hij het eindpunt van het patroon te bereiken (s54). Maar dit wordt slechts bereikt, doordat hij juist het doel van het patroon mist (vgl. boven): want het feit dat de leerüngen zelfstandig de oplossing moeten vinden is juist het karakteristieke van dit patroon en maakt het geschikt voor de klassikale onderwijssituatie. — Met (s49) zien we een handeling in de lineaire reeks, die achterbüjft bij de op dat moment bereikte communicatieve stand van zaken; een leerling doet nog een poging om de oplossing te geven. Hij bevindt zieh nog in het patroon, alhoewel de leraar zieh, door zelf te beginnen met het geven van de oplossing, zieh al op de overgang naar een ander patroon bevindt. Met (s55) is dit nieuwe patroon bereikt (e; vgl. figuur 7), - en wel op zo'n manier dat ook het nieuwe patroon weer het opgave-geven/opgave-oplossenpatroon is.

Handelingspatronen in de communicatie in de Idas

patroon

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oppervlakte-

type e: een gang tussen verschillende patronen Figuur 7

E r valt op dat m o m e n t in de Idas een weifelen te bespeuren o f men zieh "nog-in-het-patroon-bevindt" o f dat men zieh "al-niet-meer-in-hetpatroon-bevindt" — een weifelen dat bij (de leerling die (s49) uit en de leerling die (s50) uit) twee aktanten expliciet in hun talige uitingen tot uitdrukking komt — maar die waarschijnlijk v o o r de andere, zwijgende leerlingen in gelijke mate geldt. Dit asynchroon doorlopen van een handelingspatroon (g) is een van de belangrijke probleemgebieden van de klassikale onderwijscommunicatie, temeer daar het waarschijnlijk een frequent voorkomend fenomeen is.

7. Mogelijkheden D o o r de reconstructie van de aan de concrete uitingen ten grondslag liggende patronen bereikt man enerzijds een reconstructie van het verband tussen handelingsdoelen en de feitelijke uitvoering van de handelingen en anderzijds de reconstructie van het praktische weten, dat handelingssturend werkt, maar dat men zieh echter nog niet als zodanig bewust is.

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Institutionelle Kommunikation

Bij het praktische functioneren vertrouwen de handelenden op de reciprociteit van het handelingsweten. Elke handelende vertrouwt erop dat de ander zieh net als hij binnen de patronen beweegt, en dat hij over het handelingsweten beschikt. De patroonanalyse reconstrueert individueel handelen niet als iets getsoleerds, maar juist als een vorm van maatschappelijk handelen, die gebruik maakt van historisch ontwikkelde, maatschappeüjke handelingsvormen. Anderzijds reconstrueert de patroonanalyse de maatschappeüjke samenhang van deze communicatievormen, o.a. door hun institutiespeeifieke karakter te analyseren.

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Dokumente und ihre Rolle in der institutionellen Kommunikation — eine linguistische Perspektive 1. Dokumente und Schrift Der Ausdruck „Dokument" selbst weist darauf hin, daß es sich hierbei um ein Phänomen institutioneller Kommunikation handelt. Es ist der „Beweis", und die institutionellen Zusammenhänge, in denen der Beweis relevant wird, sind juristische und administrative. Zum documentum, zum Beweis, wird etwas, indem und weil man aus ihm etwas lernen, etwas in Erfahrung bringen kann. Diese Qualität wird insbesondere sprachlichen Entitäten zugeschrieben. Bis heute ist die Verwendung des Ausdrucks „Dokument" eng an sprachliche Kommunikation gebunden, und er birgt offensichtlich nur ein verhältnismäßig geringes Metaphorisierungspotential über solche sprachlichen Zusammenhänge hinaus. Dokumente sind zudem weithin eingeschränkt auf eine spezielle Form von Kommunikation, nämlich die schriftliche. Sprachliche Dokumente sind an die Schriftform gebunden. Diese Bindung ist, wie sich zeigen wird, eine substantielle - zudem eine, die angesichts der heutigen medialen Veränderungen eine zunehmende Problematisierung erfährt. Die Entstehung des Phänomens Schrift selbst in der bis zu uns hin prolongierbaren Entwicklung hat mit Erfordernissen von Dokumentation massiv zu tun (vgl. Ehlich 1980). Es sind dokumentative Zwecke, die am Anfang der Schriftentwicklung stehen und diese entscheidend vorangetrieben haben, nicht — wie man vermuten könnte - die „hohen" Zwecke literarischer oder religiöser Überlieferung. Diese waren gesellschaftlich längst bearbeitet, als die Schrift in die Existenz trat. Ziele der Dokumentation des Ephemeren konnten von diesen Überlieferungsleistungen nicht erreicht werden.

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Institutionelle Kommunikation

2. Dokumente und der Verlust von Unmittelbarkeit Überall dort, wo Dokumente ins Spiel kommen, ist Unmittelbarkeit der Kommunikation verlassen. Dieser Ausgangspunkt, von dem sich Dokumente trennen, hat einige wichtige Kennzeichen: Die Interaktanten sind wechselseitig füreinander wahrnehmbar, stehen einander face-to-face gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Ihnen eignet ein gemeinsamer Wahrnehmungsraum und damit eine Fülle von Möglichkeiten der wechselseitigen Vergewisserung. Es ist die sinnliche Wahrnehmung in ihren verschiedenen Dimensionen, die aktualisiert ist und die den Rückgang auf den Kommunikationspartner als eine letzte Gewißheitsquelle ermöglicht. Sprachliche Kommunikation als verbale Kommunikation ist diesen Zusammenhängen bis in die Sprachstrukturen hinein zutiefst verpflichtet und zieht aus ihnen spezifischen Gewinn, wie insbesondere das deiktische Teilsystem der Sprache zeigt. Sprachliche Kommunikation zielt in einem elementaren Sinn auf verbale Verständigung ab; diese steuert sie, die verbale Kommunikation, als Kooperation — zumindest in einem formalen Sinn (vgl. Ehlich 1987). Für eine Reihe von Institutionen bleiben solche Vergewisserungsmögüchkeiten charakteristisch. Erst wenn eine bestimmte Komplexitätsstufe der gesellschaftlichen Differenzierung erreicht ist, gehen sie verloren. In der Differenzierung werden ältere, systematisch gesehen frühere Institutionen wie die Familie transformiert, und neue Institutionen, die jene Komplexität organisieren, entstehen. In diesen Prozessen löst Unmittelbarkeit sich auf. Ja, die neuen Formen und Typen von Institutionen bieten dafür Surrogate. Die Möglichkeit der unmittelbaren wechselseitigen Vergewisserung verflüchtigt sich mit ihnen. Zugleich aber wächst die Notwendigkeit der Vergewisserung. Jede Mittelbarkeit bedeutet ebenso viele Möglichkeiten für die Fälschung, für die Einsetzung in einen Handlungszusammenhang, die der faktischen Grundlage entbehrt. Dafür entwickeln die Institutionen selber ihnen eigene Aktantenverteilungen. Keine Institution existiert jenseits einer Gruppe, in der und für die sie besteht, von der sie zumeist auch entwickelt und unterhalten wird. Institutionen haben in dieser Gruppe ihren Horizont. Über ihn hinaus sind sie zwecklos. Entsprechend werden die Ränder und Grenzen geschützt — möglicherweise durch weitere Institutionen der zweiten, dritten, n-ten Stufe. Institutionen setzen Institutionen aus sich heraus, um die Erreichung ihrer Zwecke zu garantieren.

Dokumente und ihre Rolle in der institutionellen Kommunikation

193

Die Mitglieder der Gruppe werden durch die schiere Existenz der Institution in zwei Subgruppen zerlegt: die Gruppe der in der Institution und für sie, für die Erreichung ihrer Zwecke Tätigen, die Agenten der Institution, und diejenigen, die zur Erfüllung dieser Zwecke in die Institution entweder hineingezogen werden oder die die Institution für die Erfüllung eigener Zwecke nutzen, die Klienten der Institution. Die Zugehörigkeiten/Mitgliedschaften zu beiden Aktantengruppen bedürfen der eigenen, oft komplexen Regelung. Sie bedeutet jeweils eine Autorisierung. Diese erfordert Autonsierungsstrukturen. In ihnen werden die Bedingungen der Möglichkeit des Funktionierens der Institution, das heißt der Erreichung ihrer Zwecke, organisiert und verwaltet.

3. Dokumente und der Verlust von Gewißheit Solche Institutionen, denen das Merkmal der Unmittelbarkeit nicht mehr zukommt, versetzen alle ihre Mitglieder, wie eben gesagt, permanent in die Gefahr der Fälschung. Das Wegbrechen von Vergewisserungsmögüchkeiten nimmt den Aktanten die primäre Chance, durch den Rekurs auf sinnliche Gewißheit und den Zurückgang auf elementare kommunikative Wissensbestände Gewißheitskrisen zu bearbeiten. Dies betrifft insbesondere die Unterbrechung der Unmittelbarkeit von Kommunikation im Diskurs. Eben diese trägt zur Leistungsfähigkeit alltäglicher face-to-face-Interaktion wesentlich bei. Die Interaktanten finden sich nun in einer Situation wieder, die durch eine fundamentale kommunikative Unsicherheit gekennzeichnet ist. Schon in der face-to-face-Kommunikation übersteigen manche sprachlichen Handlungen jene unmittelbaren Vergewisserungszusammenhänge, etwa im prototypischen Fall des Versprechens, in dem die sprachliche Handlung Platzhalter für die zukünftige reale Handlung ist. Nur bei hinreichender Glaubwürdigkeit des Kommunikationspartners wird das Versprechen kommunikativ gelingen. Dieser Aspekt multipliziert sich in den Bereichen nicht mehr unmittelbarer institutioneller Kommunikation.

4. Institutionen und Dokumente — Autorisierungsbedarf Multiplikation ist ein zentrales Stichwort für das, was die Welt der Dokumente kennzeichnet. Die institutionelle Kommunikation zerlegt sich in eine spezifische — größere oder kleinere — Menge sprachlicher Hand-

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lungsmuster und ihrer Kombinatorik, die in ihrer spezifischen Charakteristik und Zusammenstellung all jenen Konfigurationen der Interaktion zugeordnet sind, die für das Handeln und die Zwecke der Institution kennzeichnend sind. Viele Institutionen können geradezu als weithin versprach licht gekennzeichnet werden, so die Schule oder das Gericht. Andere enthalten lediglich spezifische sprachliche Anteile, so die Institutionen der Produktion oder das Haftwesen. Für den größten Teil all dieser Konfigurationen ist der probleminduzierende Unmittelbarkeitsverzieht kennzeichnend. In jedem einzelnen Fall von Kommunikation in der Institution, in dem eine spezifische Konfiguration neu als individuell, lediglich instantiell als token der übergreifenden Struktur aktualisiert wird, aktualisiert sich zugleich jene Vergewisserungsunsicherheit, die Möglichkeit der Fälschung, die Inanspruchnahme durch den Nicht-Berechtigten. Die Mittelbarkeit, die Indirektheit bedeutet, daß in den Aktantenstatus solche eintreten können, denen die tatsächliche Mitgliedschaft in Wahrheit gar nicht zukommt. Dies betrifft sowohl die Agentenseite wie die Klientenseite. Es ist das autorisierte Dokument, das diese Verunsicherung bearbeitet, das den Glaubwürdigkeits-gap überwindet.

5. Siegel und Unterschriften — Garanten der Glaubwürdigkeit von Dokumenten Nur durch das Dokument entsteht jene sekundäre Sicherheit, wird jene sekundäre Vergewisserung erzeugt, die für das kommunikative Geschehen und das kommunikative Gelingen in der Institution unabdingbar sind. Dokumente sind also Mechanismen %ur Glaubwürdigkeitsbearbeitung. Die bedeutet, daß die Dokumente — und zwar in beiden Richtungen, für beide Aktantengruppen — eine je spezifische Autorisierungspraxis erfordern (vgl. § 2). Zeugmatisch ausgedrückt kommt als Resultat dieser Praxis dem Dokument selbst Authentizität zu. Freilich unterliegt auch diese Eigenschaft des Dokumentes wieder einer prinzipiellen Fälschbarkeit. Diese Zusammenhänge sind in der Kommunikationsgeschichte relativ früh durchschaut worden. Entsprechend wurden sie mit Remedien versehen, die gegen die Gefahren jener Fälschungen aufgerufen waren: Von der Anrufung der Götter oder des Himmels und der Erde in den hethitischen Staatsverträgen an wird versucht, die Fälschungsmöglichkeiten einzuschränken. Die Glaubwürdigkeitsprobleme schriftlicher Kommunikation begleiten deren Geschichte kontinuierlich. Die in Piatons negativer Einschätzung

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der Schriftlichkeit zum Ausdruck kommende Skepsis hat unter anderem hiermit zu tun. Am Ende eines Textes wie der Offenbarung des Johannes (Apk. 22, 18f.) heißt es in bezug auf das Buch „Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am Baum des Lebens und an der heiligen Stadt, von denen in diesem Buch geschrieben steht.". Das Buch als Dokument, die Dokumente insgesamt sind auf neue Glaubwürdigkeitssicherungen angewiesen. Die Mannigfaltigkeit der vergewisserungsgefahrdeten einzelnen Fälle hat freilich schon viel früher andere Authentizitätsnachweise von Dokumenten hervorgebracht, als diese sich auf ein göttliches Strafgericht beziehenden Beschwörungen. Neben den Text des Dokuments selbst tritt dessen Beglaubigung durch ein zusätzliches, und zwar individuelles Zeichen. Dieses ist z.B. in ein Rollsiegel eingezeichnet — ein Unikat, das der die Authentizität Beglaubigende allein in Händen hält. Dadurch wird die institutionelle Verfügbarkeit so restringiert, daß sie auf der Agentenseite an die Authentizität des Agenten selbst über die Materialität dieses Zeichen bzw. durch dessen alleinige Verfügbarkeit des Zeichens gekoppelt wird. So wird Glaubwürdigkeit gesichert. Das Siegel begleitet die Geschichte des Dokumentes bis in die Gegenwart. Strikte Gebrauchsrestriktionen regeln seine Nutzbarkeit. Der „Lordsiegelbewahrer" ist der Prototyp einer solchen, essentiellen Glaubwürdigkeitsressource in bezug auf die Dokumente und damit auf das Gelingen der Kommunikation in Institutionen in Entsprechung mit deren Zwecken. Auf der Seite der Klienten bedarf es anderer solcher Verfahren. Sie bilden sich in der Unterschrift heraus. Die Dialektik von allgemeinem kommunikativem System, hier dem Schriftsystem, und vereinzelter, je eigener Nutzung wiederholt sich. Die Signatur ist die aus den Ressourcen des Schriftsystems gezogene Variante des individualisierten Zeichenkomplexes, dessen Herstellung nur der Eigner erzielen können soll. Das individualisierte Zeichen im Gewand des allgemeinen Systems trägt im Italienischen nicht umsonst den Ausdruck „firma" - es ist das „Sichere", und damit ist es zugleich das Sichernde, das Glaubwürdigkeit des Dokuments Versichernde, das Vergewissernde. Das semantische Feld der Sicherheit taucht denn konsequenterweise im Umfeld der Dokumente zahlreich auf. Zwei deutsche onomasiologische bzw. semasiologische Wörterbücher, Dornseiff (1970) und Wehrle/Eggers

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(1967), mögen dies illustrieren. Der Ausdruck ,Dokument' erscheint im Zusammenhang unter anderem mit „Sicherheitsleistung" (19.16), mit „Beweis" (467), mit „Wappen" und „Siegel" und mit einer Fülle von einzelnen Formen, in denen Dokumente sich konkretisieren. Dokumente bedürfen der „Beglaubigung". Sie sind „Zeugnisse" — und Zeugnisse sind „Dokumente". Das Bezeugen selbst gehört zum Zusammenhang der Dokumentation, und das Dokument kann an die Stelle des Zeugen treten. Freilich, das Dokument unterscheidet sich vom bloßen Indi%. Das Indiz ist die eher nichtsprachliche Schwester des Dokuments. Ihm kommt eine geringere Kraft und deshalb eine geringere Bedeutung zu. Erst das Dokument verschafft jene Klarheit, die durch Sprache erzeugt werden kann.

6. Dokumente und Archive Das institutionelle Handeln ist ein zerlegtes Handeln, dessen Reintegration nur durch die Institution selbst ermöglicht und gewährleistet ist. Dies bedeutet, daß insbesondere die Agenten entlastet sind vom Verlangen nach personaler Kontinuität. Der Agent handelt anstelle der Institution, und an seine Stelle wiederum kann jederzeit ein anderer treten. Die Handlungsabläufe aber überspannen solche personalen Diskontinuitäten. Damit dies möglich wird, bedarf es gleichfalls der von der individuellen kommunikativen Gedächtnisleistung abgekoppelten Verfügbarkeit vorgängigen sprachlichen Handelns. Die vornehmlichste Form, in der das geschieht, ist das Dokument. Dieses erhält seine spezifischen Orte in der Gesamtheit des kommunikativen Handelns der Institution: die Akte, das Dossier und dessen Zusammenfassung zum Archiv. Die Archive sind eine wesentliche Grundlage institutionellen Handelns. In ihnen ist das vorgängige Handeln nicht nur zum schriftlichen Text geronnen, sondern zugleich für alle möglichen zukünftigen Handlungen verfügbar gehalten. Die Archive stehen am Anfang der Verschriftlichung und am Anfang der Dokumentation. Da die zukünftigen Handlungen nicht einfach von vornherein absehbar sind, bedürfen die Dokumente in den Archiven spezifischer Ordnungen, die auf eine Vielfalt zukünftiger möglicher Handlungen ausgelegt sind. Auch auf der Klientenseite ist das Dokument nur dann wertvoll und sinnvoll, wenn es für eine unabsehbare Zukunft bereitgehalten wird. Verlust

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der Dokumente kann bis zum Identitätsverlust fuhren, und dies nicht nur in Fällen der kognitiv-gedächtnismäßigen Pathologien, der Amnesien. Die zukünftigen Handlungsfälle in der je selben Institution oder auch in benachbarten, mit ihr vernetzten Institutionen verlangen neben der — agentenseitig — personenunabhängigen Kommunikationsmöglichkeit klientenseitig gerade personale Kontinuität, die in vielen Fällen der notwendig vorausgesetzte Normalfall ist. Dokumente dienen dem Nachweis der Handlungsberechtigung in der Institution — nicht nur einer generellen Handlungsberechtigung (wie dies im oben bereits angesprochenen Fall der Autorisierung vorliegt), sondern einer von Fall zu Fall und für jeden einzelnen Fall erforderten. Es ist ein permanenter Prozeß der Mitgliedschaftszuweisung zu einer der beiden Gruppen und der Aufrechterhaltung dieser Zuweisung, die über das Dokument prozessiert wird. Ansprüche werden durch Dokumente geltend gemacht, sie werden aber auch durch Dokumente erteilt oder verweigert. In diesen Fällen spannt das Dokument eine Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft. Ohne Dokument kein dauerhaft verläßliches institutionelles Handeln. Die Schriftlichkeit gehört komplexen Institutionen also substantiell zu. Das Dokument ist ein Kernbestandteil komplexer Institutionen.

7. Dokumente als institutionelle Adaptierungen von Handlungsmustern Institutionen sind durch die Multiplizität einzelner, in der Institution repetitiv auftretender spezifischer Handlungskonfigurationen charakterisiert (§ 4). Institutionen entstehen erst dann und dort, wenn und wo die gesellschaftliche Wirklichkeit eine solche Repetitivität kennt. Dokumente sind in diese Struktur eingebettet und sie dienen ihrer Bearbeitung. Betrachten wir dies etwas näher. Ausgangspunkt ist eine komplexe Konstellation, die gesellschaftlich immer neu ihre Bearbeitung erfordert. Dafür bilden die Gesellschaften spezifische Handlungsformen aus. Auch einfache sprachliche Handlungen sind so strukturiert. In Institutionen werden diese ebenso eingesetzt und dabei transformiert, wie z.T. neue sprachliche Handlungen entwickelt werden. Vor allem aber sind es Kombinationen von sprachlichen Handlungen, die die institutionelle Kommunikation kennzeichnen.

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Die sprachlichen Handlungsformen, die gesellschaftlich entwickelt sind, haben die Struktur von Mustern. Ais solche stellen sie Ressourcen für die Aktanten zur Verfügung. Die institutionellen Handlungsmuster sind als Kombinationen aus solchen Basismustern bzw. als deren Transformate häufig Muster zweiter Ordnung (Megamuster), die sich von den elementaren Mustern durch ihre größere Komplexität unterscheiden. Die Muster sind ihrerseits rekursiven Charakters, nicht einfach lineare Abfolgen. Für die einzelnen Positionen der Muster ergeben sich je spezifische Handlungsressourcen. Dokumente gehören zu diesen Handlungsressourcen. Sie sind Ausdruck erhöhter Routinisierung des kommunikativen Handelns. Ihre Produktion erfahrt von hier aus die zentrale Steuerung. Als Ressourcen für die Bearbeitung einzelner Handlungsschritte in den komplexen institutionellen Handlungsmustern tragen sie zur Erreichung der Gesamtzwecke des Musters bei. Von dort beziehen sie ihre Rationalität, eine Rationalität, die im konkreten Fall keinesfalls immer auch tatsächlich erreicht wird. Dokumentenstrukturen weisen also einen Optimierungsbedarf auf. Dieser verlangt in bezug auf die Dokumente Innovation. Innovation aber steht im Widerspruch zum Routinisierungscharakter, der das Dokument kennzeichnet. Hier ergibt sich ein permanentes Konfliktpotential in bezug auf die Dokumentenerstellung — genauer gesagt in bezug auf die Struktur des „document type", nicht des einzelnen tokens. Die Agenten der Institution entwickeln hinsichtlich der Erhaltung und der Kontinuität des Dokuments eine Art handlungsmäßiger Trägheit. Die Routine erleichtert ihre Arbeit in jedem einzelnen Fall. Dies erscheint selbst dann so, wenn es sich um eine schlechte Dokumentenvorlage handelt, wenn also eine Dokumentenoptimierung nicht stattgefunden hat. Veränderungen von Dokumentenvorlagen erfordern also einen größeren agentenseitigen Handlungsaufwand als die einfache Korrektur des jeweils Erreichten. Sie greift tief in die institutionelle Struktur als ganze ein. So sind solche Veränderungen häufig verbunden mit institutionellen Umwälzungen, die die Institution als ganze betreffen. Eine Ursache dafür - wenn auch sicher nicht die häufigste — ist ein kommunikativer Leidensdruck der Klienten. Dokumente haben eine inhärente Tendenz, in bezug auf die Aktantenverteilung in den Institutionen einseitig die Seite der Agenten und deren Interessen umzusetzen und zu vertreten. Dies hängt mit der Handlungsbevollmächtigung der Agentenseite zusammen, die die Klienten tendenziell in die Position der Passivität drängt. Selbst dann, wenn es um Rechte von Klienten geht, verändert sich dieses Aktiv-Passiv-Verhältnis, verändern sich die Diathesen des Handelns bis in ihr Gegenteil. Dokumente sind also Ausdruck eines Agenten-bias

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institutionellen Handelns. So erfahren sich Klienten häufig als handlungsmäßig geradezu entmündigt. Über die Folgegewalt, die sich im Anschluß an das Dokument in den Entscheidungsprozessen der Institution ausdrückt, setzt die Agentenseite ihre Interpretation des AgentenKlienten-Verhältnisses handlungsmäßig durch. Dem ohnmächtigen Klienten steht ein sich selbst als in bezug auf die Handlungskonstellation allmächtige Instanz stilisierender Agent gegenüber. So wird das Dokument — besonders in seiner Gestalt als Formular — zu einem kommunikativen Herrschaftsmittel. Für Gesellschaften, die starke Hierarchien aufweisen, ist eine solche Agenten-Klienten-Verteilung in bezug auf das dokumentarische Handeln unproblematisch. Anders wird das dann, wenn komplexe Gesellschaften einem Gleichheitsprinzip folgen. Die neuzeitliche Entwicklung hat, von theoretischen Bestimmungen in der Staatsphilosophie des 17. Jahrhunderts beginnend und in den politischen Revolutionen der vergangenen zweihundert Jahre sich umsetzend, das Prinzip der Gleichheit zu einem regulativen der Gesellschaft gemacht. Für zahlreiche Institutionen hat dies in der kommunikativen Agenten-Klienten-Struktur weitestreichende Konsequenzen, die aufgrund des oben beschriebenen Beharrungsvermögens der Institutionen sich nur äußerst zögerlich umgesetzt haben. Der wachsende Komplexitätsgrad dieser Gesellschaften steht gleichfalls in einem Widerspruch zum regulativen Prinzip der Gleichheit. Dieses würde eine institutionenbezogene Gleichbefahigung der Aktanten im Prinzip erfordern und vorsehen. Zahlreiche Sozialutopien insistieren auf diesem Punkt. In der bisherigen gesellschaftlichen Praxis ist eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Bürokratieintensive Kulturen, wie etwa die russische, haben im gesellschaftlichen Experimentierfeld der Umwälzungen des 20. Jahrhunderts den Nachweis geführt, daß die agentenzentrierte Kommunikation alle sie gefährdenden Umwälzungen erfolgreich neutralisieren kann. Auch in (relativ) weitgehend demokratisierten Gesellschaften wie in den westlichen Demokratien ist das dokumentenbezogene institutionelle Handeln ein permanenter Problembereich, der zu immer neuer Virulenz fuhrt. Die Zweckrationalität der institutionellen Agenten setzt sich gegenüber der Zweckrationalität sogar der Institution als ganzer durch. Dieser Konflikt resultiert im Format der eingesetzten Formulare. Der wachsende Komplexitätsgrad der gesellschaftlichen Struktur verdichtet die Intensität institutioneller Strukturen und koppelt die Dokumentenentwicklung von den Bedürfnissen der Klienten, z.T. von denen der Gesellschaft als ganzer, ab. Zahlreiche demokratische Autorisierungsermächtigungen verlieren sich in der Konkretisierung des administrativen Handelns. Besonders die Macht

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über die Archive konstituiert ein eigenes administratives Handlungspotential. Es ist dokumentengegründet. Der kommunikative Leidensdruck von Klienten bedarf seinerseits der dokumentarischen Artikulation. Zahlreiche Institutionen, besonders solche der Zirkulationssphäre, sehen dafür wiederum eigene institutionelle Vorrichtungen vor. Ein Beispiel ist das Reklamaüonsmsen (vgl. Schnieders 2005). Die Widersprüchlichkeit des institutionellen Handelns findet hier als „Kundenorientierung" zunächst einmal eine ausgearbeitete Bearbeitungsstruktur. Freilich setzt sie sich im Inneren dieser Struktur erneut durch und fort. Große wirtschaftliche Institutionen wie etwa die Bahn (und zwar in verschiedenen europäischen Ländern, von den USA ganz zu schweigen) scheinen ihre Reklamationsabteilungen eher im Sinn einer Pazifizierungsstrategie für die Klienten zu betreiben denn als tatsächliche Bearbeitungspraxis.

8. Institutionelle Selbsterhaltung Die Institutionen selbst, so perennierend und unwandelbar sie zu sein scheinen, unterliegen doch einem permanenten Druck der Selbsterhaltung. Institutionen bedürfen der dauernden Selbstbestätigung. Dokumente werden für diesen institutioneninternen Zweck eingesetzt und sind dafür optimal fungibel. Aus der Sicht der Institution ist jedes Dokument zugleich ein Exemplar der Selbstpräsentation. Dies drückt sich vor allem in der semiotischen Struktur des Dokuments bzw. ganzer Dokumentenfamilien aus. Das betriebswirtschaftliche Konstrukt einer „corporate identity" findet seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Dokumentenstruktur. Institutionen wenden erhebliche Geldmittel auf, um den semiotischen Anforderungen von Dokumenten als Selbstprädikationen und institutionellen Identitätsnachweisen nachzukommen. Was dokumentenbezogen für den einzelnen sich etwa in der Unterschrift realisiert, wird hier breit entfaltet. Logos, Formatierungen, typographische Vorschriften, Font-Bestimmungen werden entwickelt und eingesetzt. Diese Charakteristika erfüllen meist einen Doppelzweck: Sie dienen außer zur Selbstpräsentation auch zur Bearbeitung der Fälschungsgefahr. Diese Bearbeitung kann um so eher gelingen, als sie bis in die materiale Qualität des Dokuments vorangetrieben wird, indem etwa für das Dokument eine spezifische Charakteristik der Schriftträger eingesetzt wird. Ein klassisches Beispiel ist das Wasserzeichen; aber auch eine bestimmte Farbcharakteristik des Papiers, die Reliefierung einzelner Elemente, Prägungen unterschiedlicher Art erfüllen denselben Zweck.

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9. Dokumente im elektronischen Zeitalter Gerade hier zeigt sich eine erste Qualitätsbeeinträchtigung von Dokumenten durch die Elektronisierung. Sofern eine bleibende Verdauerung angezielt wird, also Ausdrucke elektronisch übermittelter Dokumente erreicht werden sollen, ergibt sich in dieser Hinsicht eine recht eingeschränkte Reichweite gegenüber den überkommenen Verfahren. Diese Problematik betrifft aber das elektronische Dokument als ganzes. Im Einerlei von Ausdruckformaten gehen Charakteristika von Dokumenten semiotisch-optisch verloren. Diese Simplifizierung (Times New Roman für alles und für jedes Dokument ...) entspricht nicht den Komplexitätsanforderungen, die für institutionsreiche, entwickelte Gesellschaften kennzeichnend sind. Ähnlich problematisiert wird durch die Entwicklung die Fälschungssicherung - eine bis heute nicht befriedigend gelöste Aufgabe. Lediglich kurzfristige Verdauerungen stehen den z.T. Jahrhunderte übergreifenden Erhaltungs- und Archivierungsmöglichkeiten von Dokumenten auf anderen Schriftträgern gegenüber. An diesem Problem wird international mit großer Intensität gearbeitet. Jene Institutionen, für die Identitätsnachweise — und damit Fälschungsverhinderungen — für Dokumente eine besondere Rolle spielen, sind denn auch nach wie vor äußerst zögerlich in der Anerkennung elektronischer Dokumentenübermittlung. Dies beginnt bereits beim Fax, jenem Ubertragungstyp, der in seinem Ausgangsnamen „facsimile" die NichtAuthentizität geradezu als Geburtsmerkmal trägt. Elektronische Übertragungen von Dokumenten über das Netz unterliegen dieser Problematik in verschärfter Weise. Auch ein anderer Aspekt der Dokumentarizität wirft neue Probleme auf, sobald diese ins elektronische Medium überführt worden ist, nämlich die eben schon angesprochene Verdauerung. Deren Möglichkeiten werden kurzfristig in einer ungeahnten Weise erweitert, ja potenziert. Mittel- und langfristig hingegen ist über den Verdauerungsgrad von Dokumenten in diesem Medium noch kaum recht etwas abzusehen. Die Verfalls- und Zerfallsdaten der Speichermedien, die gegenwärtig angesetzt werden, sind allesamt naturgemäß bisher rein spekulativ. Dramatische Erfahrungen etwa mit elektromagnetischen Speicherungen von audiovisuellen Dokumenten mahnen hier deutlich zur Vorsicht. Auch die ungeheuer schnellen Innovationsraten und damit Halbwertzeiten der Software und schließlich

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der Hardware entwickeln sich zur Dauerkrise für alle jene Dokumente, deren Verdauerungsbedarf nicht in kurzfristigen Perioden aufgeht. Auf Kosten der eigentlichen Textualitätsmerkmale werden die diatopischen und diachronischen Verbesserungen der Übertragungsmöglichkeiten forciert. Damit wird ein Grundelement von Textualität berührt — ein Zusammenhang, der bisher noch kaum in der Medienreflexion thematisiert und bewußt geworden ist. Die einzelnen Institutionen finden hier ihre je individuellen Lösungen; wie „haltbar" diese wiederum sind, muß die Zukunft erweisen. Nach einigen traumatischen Erfahrungen ist die Mehrfachsicherung heute schon die Regel. Für die Aufbewahrung von nicht-ephemeren Dokumenten zeichnet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus eine Parallelnutzung der Medien als Empfehlung ab. Freilich sind auch die älteren Dokumenttypen mannigfachen Zerstörungen ausgesetzt gewesen; alle Elemente waren und sind daran beteiligt. Der Archiwerlust war die Folge. Die institutionellen Konsequenzen gehen häufig tiefer, als die Institutionen sich dies an der Oberfläche anmerken lassen. Der Verlust ganzer Archive ist ohne Zweifel einer der größten Fälle von Dokumentenverlust. Dieser findet sich freilich durchaus auch in „harmloseren" Varianten: Dokumente „gehen auf dem Dienstweg verloren"; die Übertragungswege sind unsicher. Übertragungsinstitutionen wie die Post verlieren ihre Verläßlichkeit und damit ihre Glaubwürdigkeit — bis dahin, daß eine phänographisch sehr frühe Form eine neue Bedeutung gewinnt, der persönliche Kurier. Die Überspielung des Dokumentenverlustes gehört zu den üblichen Taktiken institutionellen Agentenhandelns. Häufig sehr viel dramatischer stellt sich die Situation dar, wenn der Dokumentenverlust den Klienten betrifft. Ihm scheint institutionell eine grundsätzliche Erhaltspflicht in bezug auf die für ihn relevanten Dokumente abverlangt zu werden — gleichgültig, ob er ihr nachkommen kann oder nicht.

10. Die Rolle von Dokumenten in Verwaltung und Religion Das breite Feld der Institutionen erzeugt eine große Menge unterschiedlicher Dokumententypen, Dokumentenformate und vor allem: Dokumenten-tokens. Einige der versprachlichten Institutionen, besonders solche

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der Administration, führen die Liste der Dokumentenproduktion an. Sie sind es auch, die am ehesten eine Schattenkommunikation des Gelächters mit sich tragen, etwa in Pseudoinstitutionen wie Karnevalsvereinen mit ihren Satzungen, Urkunden und Mitgliedschaftsausweisen — ein Gelächter, das freilich in der eigenen Praxis dieser Institutionen schnell zum bitteren institutionellen Ernst gerinnt. Recht und Administration - mehr noch als die Institutionen der Politik oder gar die ökonomischen Institutionen der Produktion - sind ohne Dokumente und Dokumentationen schwerlich vorstellbar. Während selbst versprachlichte Institutionen wie die Schule ein Ensemble gesellschaftlicher Praxen enthalten, die nicht auf Dokumente allein bezogen sind — schon deshalb, weil in dieser Institution etwa die mündliche Kommunikation eine erhebliche Rolle spielt - , sind die administrativen Institutionen von Anfang an mit der unendlichen Anzahl ihrer ephemeren kommunikativen Vorgänge verbunden. Sie haben Dokumententypen eigener Art aus sich hervorgesetzt; sie haben darüber und dadurch Sprache verändert und in neue Strukturzustände überführt; so ist z.B. die Entwicklung des Neuhochdeutschen aus verschiedenen Kanzleistilen und praxen hinreichend bekannt. Administrative Institutionen durchdringen immer größere Teile des gesellschaftlichen Lebens und erfassen immer mehr Aspekte des Alltags der gesellschaftlichen Aktanten. Dokumentenkompetenz ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein Leben in solchen Gesellschaften, Schriftlichkeit und der Zugang zu ihr ihre Basis. Ich will abschließend einen Blick auf einen institutionellen Bereich werfen, der zu den ältesten gehört, den der Religion. Auf der Grundlage einer Jahrtausende alten Praxis haben sich die Institutionen der Religion erhalten und durch die Jahrhunderte hin perpetuiert. Im vorderorientalischen Raum, einem der Zentren von Schrift- und von Dokumententwicklung, geriet auch Religion mehr und mehr in den Kreis dokumentarischen Handelns. Das Quittungswesen, das am Anfang der Dokumentationspraxis liegt, war bereits Teil des Tempelbetriebes. Substantiell ist der Zusammenhang von Dokument und Institution hier erst später geworden, als in diesem Raum die religiösen Institutionen selbst sich auf Dokumente gründeten. Die hauptsächlichen Religionen, die hier entstanden und die auf unterschiedliche Weise von hier aus in alle Welt expandierten, in der — historischen - Reihenfolge das Judentum, das Christentum und der Islam, fußen und gründen auf drei Urkunden, mithin auf drei Dokumenten, ohne die ihre Existenz nicht vorstellbar ist: auf der Tora, der Bibel und dem Qur'an. Die Bezeichnungen selbst nehmen Bezug auf Aspekte des sprachlichen Handelns: Die Tora ist die „Weisung", ein bestimmter illokutiver

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Typ; die Bibel, das Ensemble der „Bücher" (biblia, Plural von biblion) ist die „Heilige Schrift'. Der Qur'an ist „das ψ lösende". Zusammenfassend werden diese drei Religionen auch Buchreligionen genannt. Sie sind dokumentenbasiert. Ihre Auslegung ist das komplexe Drama aller für Dokumente charakteristischen Strukturen, die Auseinandersetzung um Authentizität und Fälschungen, die Abwehr illegitimer Dokumente und die Kanonisierungsprozesse zur Sicherung der institutionellen Legitimität und — nicht zuletzt — eine Dokumenteninterpretation, von der immerhin das Heil abhängt — und — gegenwärtig erneut — eine Phase des Weltfriedens.

Literatur Ehlich, Konrad (1980): Schriftentwicklung als gesellschaftliches Problemlösen. In: Zeitschriftfär Semiotik 2, S. 335-359. In diesem Band: S. 621-650. Ehlich, Konrad (1987): Kooperation und sprachliches Handeln. In: Liedtke, F. / Keller, R. (Hgg.): Kommunikation und Kooperation. Tübingen: Niemeyer, S. 19—32. (2007) in: Ehlich, K : Sprache und sprachliches Handeln. Bd. 1, S. 125-137. Schnieders, Guido (2005): Reklamationsgespräche. Tübingen: Narr. Dornseiff, Franz (1970): Oer deutsche Wortschatz in Sachgruppen. 7., unveränd. Aufl. Berlin: de Gruyter. Wehrle, Hugo / Eggers, Hans (1967): Deutscher Wortschatz Ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck. 13., gegenüber der 12. unveränd. Aufl. Stuttgart: Klett.

La communication économique et l'analyse du discours

Dans le présent article, j'ai l'intention de présenter certains résultats de l'analyse linguistique de la communication économique sous l'angle de l'analyse pragmatique du discours. Ce type d'analyse se situe dans le vaste domaine d'analyse de la communication au sein des institutions, analyse qui a produit des résultats importants dans la linguistique pragmatique allemande au cours des dernières décennies. Il me faudra utiliser quelques termes techniques en particulier dans le domaine de l'analyse pragmatique de la langue, des termes dont les relations d'équivalence entre l'allemand et le français ne sont pas encore établies. Il sera même nécessaire d'introduire deux ou trois néologismes afin d'exprimer de façon précise les faits analytiques et théoriques. L'article est constitué de cinq parties. Les deux premières traitent de l'économie et de la communication liée à ses différentes dimensions. J'introduirai par la suite quelques termes de bases de l'analyse pragmatique fonctionnelle de la communication, et notamment de la communication institutionnelle. Je thématiserai ensuite l'accès aux données linguistiques, aussi bien discursives que textuelles.

1. L'économie et la communication économique Il ne fait aucun doute que l'économie est un des secteurs les plus importants et les plus déterminants de notre vie. Il ne fait aucun doute non plus que la communication fait partie intégrante de la vie économique. Mais en y regardant de plus près, nous constatons que la part de la communication dans les divers domaines économiques diffère largement et profondément dans leur distribution. Certains secteurs de l'économie ne comportent guère d'implication et d'application de la langue, tandis que d'autres n'existent que d'une manière langagière.

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Avant de me lancer dans des considérations plus poussées, je propose de préciser en quelques mots ce que nous entendons ici par « économie ». « Economie » est un de ces termes à double sens qui, par conséquent, semble avoir une signification confuse et tend à confondre les choses et leurs théories. L'économie comprend un ensemble de formes d'actions productives et distributives ainsi que la sàence qui s'occupe de les analyser. Pour comprendre l'économie comme un terme de base désignant un ensemble d'activités humaines, il est nécessaire de prendre en considération les actions que l'homme réalise dans le but de reproduire sa vie et de développer l'espèce humaine, qu'il s'agisse de l'homme socialisé ou de l'homme isolé, tel l'éternel Robinson permanent échoué sur les îles de la production théorique de l'économie (au sens théorique). L'économie (sens théorique), c'est-à-dire l'ensemble des sciences qui analysent l'économie (au sens de base) fait partie des sciences les plus développées et les plus controversées. Malgré ces controverses, certaines distinctions semblent bien acceptées. Celle entre la production et la distribution en est sans aucun doute la plus fondamentale. Dans la réalité économique actuelle, réfléchie surtout par la microéconomie, il existe un secteur tertiaire appelé « les services ». Cette notion introduit une certaine confusion théorique, le terme comprenant en soi ou bien des services personnels qui n'attribuent rien à la valeur des biens, ou bien certains aspects de la distribution, ou encore le secteur bancaire en expansion, à savoir le secteur financier. Bien que cette confusion terminologique serve des buts raisonnables dans le cadre d'une micro-économie appliquée, elle n'est pas applicable à des fins analytiques.

.· services \ personnels

Schéma 1 : Les structures fondamentales et leur conceptualisation

La communication économique et l'analyse du discours

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Le schéma 1 illustre la relation entre les structures fondamentales représentées par une ligne pleine et la conceptualisation de ces structures représentée en pointillés. L'économie, ce sont des ensembles d'activités. L'appropriation du monde par l'homme est réalisée au moyen d'actions économiques. L'appropriation du monde est surtout une transformation des objets et des choses. Cette transformation est le résultat du travail, lui-même exécuté selon diverses méthodes coopératives. Le travail étant une nécessité permanente, les hommes ont développé des formes d'organisation visant d'une part à optimiser la réalisation des buts de leur travail, et d'autre part à diminuer la quantité du travail nécessaire, optimisant ainsi leur travail. Dès qu'une certaine stabilité est réalisée pour atteindre le but défini, les voies pour y arriver sont standardisées et fixées. Le travail s'inscrit dans une organisation fixe. Une fois que cette organisation a gagné en stabilité et en calculabilité, le statut d ' « institution économique » lui est conféré. Les sociétés modernes n'ont presque plus de formes économiques pré- ni désinstitutionnalisées. Ces ensembles d'activités s'accomplissent au sein de formations sociales et en particulier de procédures coopératives. La coopération nécessite la communication, et la communication est une forme spécifique de coopération. L'interrelation entre communication et coopération constitue un des traits caractéristiques fondamentaux de l'économie.

2. Les dimensions communicatives dans l'économie 2.1 Coopération La coopération prend des formes diverses en fonction des secteurs économiques dans lesquels elle est mise en œuvre. Pour atteindre les objectifs de transformation des objets du monde par un groupe d'actants, c'est-à-dire pour la coopération au sens propre, il est nécessaire de constituer Γopération commune, l'opération orientée vers un but commun, l'opération qui requiert la constitution d'une telle orientation commune. Je nommerai ce type de coopération la coopération en collaboration. Elle doit être distinguée d'un deuxième type : la coopération compétitive. Les objectifs de cette deuxième coopération sont communs aux coopérants mais ces objectifs sont réalisés différemment, supposant une forme de compétition.

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Les coopérations compétitives et collaboratives présentent des aspects communs en matière de communication, mais également des aspects divergents. On peut considérer un troisième type, la coopération antagoniste. Les coopérants tendent à empêcher, éliminer, annihiler les actions des autres afin de faire échouer la réalisation des objectifs.

2.2 Types de communication Ces trois types de coopération éclairent des formes spécifiques de communication et les différentes formes de coopération dans le domaine de l'économie sont généralement organisées de manière communicative. Ceci nous permet d'appeler communication coopérative toutes les formes de communication qui participent de la coopération économique. La communication coopérative peut se situer dans le secteur productif (communication coproductivè), elle peut se situer dans le secteur distributif (communication co-distributivè). Dans le secteur des services, la situation est plus complexe. Outre la communication économique coopérative, il existe un autre type de communication, situé dans les fissures et les ouvertures se manifestant dans tous les secteurs économiques. Cette communication n'est pas destinée à servir les objectifs économiques et peut être insérée dans presque toutes les formes de la communication coopérative. Il s'agit d'une communication par laquelle les interlocuteurs s'entretiennent et se distraient et que l'on peut qualifier de bomiléïque (un néologisme formé afin de marquer la différence face à l'usage théologique du mot « homilétique »). Il existe de plus une seconde série de types de communication dont le rôle est d'accompagner les structures de la communication coopérative : la communication tactique. A ces types de communication appartiennent les actes langagiers tels que « mentir », « tricher », « trahir ». Cette série, concomitante à la communication coopérative, présente une surface coopérative qui en réalité est déterminée par son contraire. Il s'agit en quelque sorte d'une « ombre communicative », d'une possibilité de suspendre quelques conditions de base sans lesquelles la communication ne peut obtenir le succès envisagé. Grâce à la communication tactique, le menteur, le tricheur ou le traître peut bénéficier d'un sur-profit communicatif, mais le risque d'être découvert est grand et le danger de perdre son crédit communicatif est énorme.

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Dans les règlements communicatifs, et essentiellement dans le secteur juridique, de vastes parties sont consacrées à l'élaboration de structures susceptibles d'enrayer la communication tactique — et la communication ne serait pas tactique si une forme de méta-élaboration n'utilisait les structures légales afin de les neutraliser. Les ombres communicatives représentent un aspect de la communication économique mais qui, dans de nombreux cas, n'est guère analysé en raison de son discrédit éthique. Le développement social de la division du travail a pour conséquence une multiplication considérable de toutes les formes de communication économique. Comme elle dépend du poids de chaque partie communicative dans les divers secteurs de l'économie, la communication — non seulement homiléïque mais aussi coopérative - requiert une certaine quantité de travail social. En particulier, l'extension temporelle de cette somme de travail a des conséquences importantes sur les coûts de production ou de distribution suivant les cas. L'extension des parts communicatives dans la coopération économique se reflète proportionnellement à l'augmentation des coûts. Dans le secteur de la banque, par exemple, la part communicative est extrêmement élevée. Or, les coûts se confondent avec l'objectif fondamental, tout en rendant sa réalisation difficile, c'est-à-dire l'acquisition du profit de l'institution économique. Par conséquent, de grands efforts sont consacrés à la diminution de ces frais. Dans d'autres secteurs, la communication en soi est considérée comme une forme de « faux-frais » et à plus forte raison la communication homiléïque, jugée inutile et donc à éliminer de toutes les sphères économiques. Certes, cette considération repose sur un calcul à courte vue qui ne prend guère en compte les améliorations en matière de bien-être des ouvriers dans l'usine, des vendeuses dans l'entreprise etc., ni les bénéfices qui en résultent pour la productivité et l'efficacité des transactions économiques. De même que le travail humain est transformé en un travail mécanique effectué par des machines, il existe des tendances à inventer et à implanter, pour ainsi dire, des « machines de communication ». Le développement et l'installation des ordinateurs constituent un des progrès les plus décisifs sur la voie de la mécanisation de la communication. Actuellement, les banques, les assurances et des institutions diverses du secteur financier subissent, par exemple, cette mutation — qui s'accompagne d'une forte diminution des effectifs.

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On peut néanmoins observer une grande variété de types et de formes de communication économique, et qui plus est, une variété croissante.

3. L'analyse pragmatique de la communication et de la communication économique Ce n'est qu'à la fin du XXe siècle que la linguistique s'est libérée des liens étroits d'une méthodologie disciplinaire qui l'empêchait d'analyser les phénomènes langagiers dans toute leur extension. Les limitations d'une analyse étroite ont été surmontées avant tout grâce au mouvement de la pragmatique linguistique qui a même permis d'éliminer ces limites elles-même. YJanalyse pragmatique fonctionnelle étudie les actions langagières des interlocuteurs d'une part dans leur rapport avec les actions humaines en général et d'autre part comme formes spécifiques d'actions humaines. Le but analytique et méthodologique d'une telle analyse est d'effectuer une reconstruction conceptuelle des structures complexes d'action. L'analyse s'inscrit dans un cadre conceptuel qui ne dispense pas l'analyste de sa tâche fondamentale et ne lui permet pas non plus de contourner les difficultés liées à la recherche des facteurs de base qui déterminent la production de diverses surfaces langagières immédiatement accessibles, alors qu'il ne peut se baser que sur ces surfaces simples dont l'apparence semble pourtant de premier abord naturel et incontestable. \J action langagière, les schémas d'action langagière et les procédures langagières forment quelques-uns des concepts essentiels d'une telle analyse pragmatique (cf. Ehlich 1988). L'action langagière se compose d'un acte énonciatif, d'un acte propositionnel et d'un acte illocutif. Les actions langagières se manifestent comme phénomènes de surface de la communication. L'illocution a un caractère partiellement abstrait en ce qu'il s'agit d'une réalité qui exige de l'auditeur un grand effort « d'interprétation » pour l'identification correcte du caractère illocutif d'une action langagière.

Schéma 2 : l'action langagière

La communication économique et l'analyse du discours

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Les actions langagières ne sont pas des faits isolés. Ce ne sont pas non plus des exemplaires uniques. Au contraire, la plupart des actions langagières réalisent une structure établie par un travail rigoureux effectué pendant des générations, et par les générations qui ont formé le langage que nous utilisons aujourd'hui. Ce sont donc des réalisations de structures générales. Ces structures ont le caractère de schémas. Les schémas sont des ressources communicatives destinées à traiter des constellations répétitives qui permettent de surmonter un obstacle dans le cours des actions des interactants. Pour mettre en accord les constellations avec les actants, ces ressources peuvent être actualisées et utilisées. Chaque schéma a sa propre structure, une structure générative de base (à ne pas confondre avec les calculs génératifs de la syntaxe) qui rend possible une variation de réalisations différentes en accord avec les buts des actants. Le schéma est organisé par rapport à sa finalité (Zweck) : la résolution de la constellation problématique. Les schémas d'actions lient deux actants (le locuteur et l'allocutaire). Comme tels, les schémas sont des formes élémentaires de coopération. Dans le cadre de la communication économique, tous les types de coopération peuvent être retrouvés dans des types de schémas, tels que la communication coopérative, la communication compétitive et la communication antagoniste. Le groupe des schémas de communication homiléïque forme un ensemble typologique à part. Par leur caractère intercoopératif intégré, les exemplaires du discours homiléïque peuvent être isolés facilement pour et par l'analyse — c'est un grand avantage pour le travail analytique du linguiste. Chaque action langagière a une dimension acoustique ou visuelle, par ellemême ouverte en elle-même et accessible aux deux actants : le locuteur et l'allocutaire. Chaque action langagière comprend aussi les sphères mentales des actants - un aspect qui avait été exclu de l'analyse pour des raisons méthodologiques empruntées par la linguistique à une psychologie fondée sur l'occultation de son propre objet. Dans les sphères mentales des actants, le savoir économique et le savoir langagier ont leur place. Les microstructures des actions langagières sont peut-être les activités langagières les plus négligées, et la théorie pragmatique elle-même n'est pas à l'abri de cette négligence. L'analyse pragmatique fonctionnelle offre cependant un concept pour surmonter ces difficultés : le concept des procédures langagières. Il s'agit de formes dont le caractère diffère de celui de l'action langagière et des actes propositionnels, illocutifs et énonciatifs.

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Institutionelle Kommunikation

Cinq types de procédures sont à distinguer : la procédure déictique, la procédure expéditive1, la procédure symbolique, la procédure opérative et la procédure de coloration. Pour atteindre les finalités des procédures dans les activités langagières, il existe différents moyens d'expression. L'arrangement et l'accord, la combinaison et l'intégration des procédures diverses constituent la réalité des phénomènes langagiers. La distribution des procédures dans un discours ou dans un texte caractérise les structures spécifiques des types de communication, et notamment de la communication économique.

4. Exemples La spécificité de la communication économique s'exprime de manière différente dans les divers secteurs de l'économie. Les analyses des trois dernières décennies ont amplement contribué à notre connaissance des différents phénomènes communicatifs économiques. L'étude de G. Brünner (2000) sur « La communication économique. Analyse linguistique de ses formes orales » donne un excellent résumé synoptique de ces recherches. D'autres ouvrages jettent des éclairages particulièrs sur certains phénomènes langagiers tels que par exemple l'analyse sur le phénomène de la « réclamation » (de G. Schnieders 2005), l'analyse de M. Dannerer (1999) sur les « conférences dans l'entreprise » ou l'ouvrage de K. Ehlich/J. Wagner (1995) sur les «négociations économiques». La bibliographie sélective ci-dessous présente un aperçu des recherches en langue allemande. Naturellement, les analyses en langue anglaise et en langue française sont également très nombreuses mais sans doute mieux connues de mes lecteurs que de moi-même. A titre d'illustration, je vais brièvement mettre l'accent sur trois exemples d'interrelation spécifique entre structure langagière et structure institutionnelle économique.

1

Par exemple, les interjections.

La communication économique et l'analyse du discours

la matérialisation

le savoir

expressivité ex.

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propositionnalité

les conditions normales de la communication

ex. les terminologies

l'illocution finalité ex. les échanges

la négociation Schéma 3 : Structures économiques et structures langagières

La relation entre l'économie et la propositionnalité représente un des rares domaines ayant attiré une partie de l'attention des chercheurs en linguistique. La propositionnalité relie l'action langagière au système du savoir. Les savoirs sont des phénomènes mentaux. La langue constitue la ressource concrète pour la communication des savoirs. L'ensemble des recherches sur les terminologies économiques constitue l'exemple le plus saillant d'une telle approche. Les conséquences de la recherche scientifique sont reutilisées dans le cadre des agences de normalisation terminologique telles que l'ASA, le DIN, le N F et l'ISO. Les savoirs standardisés jouent un rôle prépondérant dans le domaine de la production et des finances. Le secteur de la distribution, par contre, est caractérisé par des liens étroits entre la langue quotidienne et la langue des actants économiques. Ce secteur instaure les contacts entre les institutions productives et les destinataires finaux qui disposent de la langue quotidienne, une langue non pas spécialisée, mais commune. Le rôle de la publicité est primordial dans ce secteur.

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Institutionelle Kommunikation

Le savoir technique, transformé en formes linguistiques de terminologie, est non seulement l'objet des pratiques économiques, mais également de l'enseignement. La formation constitue un scénario d'introduction à ce savoir. Sur le plan linguistique, la phase d'adaptation des néophytes donne naissance à une langue qui mêle de façon intéressante les mots et les constructions de la langue quotidienne à ceux de la langue spécialisée. L'analyse de G. Brünner (1978) montre en détail comment les facultés communicatives spécifiques à la discipline sont acquises. L'analyse des langues spécialité a subi les restrictions traditionnelles d'une linguistique limitée aux signes. Les langues spécialité, elles aussi, sont des ressources communicatives, des ressources qui appartiennent aux actants à des degrés très variables. La complexité de la vie économique actuelle exige d'une grande partie de la population un certain savoir économique de base, ainsi que la capacité d'acquérir un savoir spécialisé croissant, propre aux spécialistes. Plusieurs sortes de textes ont été développées dans le but de transférer le savoir spécialisé aux destinataires non spécialisés profanes. Les « modes d'emploi », une des genres de textes les plus problématiques, sont l'expression la plus flagrante des problèmes linguistiques produits par la transformation du savoir, et rares sont les exemplaires qui ne reflètent pas ces difficultés. C'est sur le plan de l'analyse concrète des textes que se situe le véritable défi lancé à l'expertise linguistique. Le deuxième exemple se réfère à la dimension de l'énonciation, la dimension de la matérialisation de l'activité linguistique. Quand on considère le secteur de la production, on y trouve une situation dans laquelle les conditions élémentaires de la production linguistique au niveau de la réalisation sont substantiellement annihilées. Le bruit en tant que phénomène permanent dans les sphères de la production rend la communication impossible. Par conséquent, on note un effort continu visant à réduire la nécessité de communiquer dans les domaines de production. Les événements de communication sont transformés dans le travail mort, sous forme de machines. En particulier, le travail de montage à la chaîne est caractérisé par cette transformation des communications possibles en machines, une transformation par laquelle un monde de communication devient un monde taciturne et submergé de bruit. La partie la plus intéressante — et en outre la plus productive pour l'analyse linguistique — concerne la finalité de la communication, c'est-à-dire la partie de l'illocution. La structure des échanges est une structure constitutive de la coopération économique. Elle joue un rôle considérable dans tous les secteurs de l'économie. Les négociations, c'est-à-dire les échanges dans le domaine de la distribution, sont caractéristiques en ce qu'elles

La communication économique et l'analyse du discours

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combinent la communication coopérative et la coopération compétitive. Les ombres communicatives impliquent de nombreuses formes de communication tactique. Il en résulte que la communication se transforme en une communication double avec une sous-structure occulte. La structure des négociations économiques forme l'exemple le plus clair de la structure de l'échange. Le schéma suivant représente un hyperpragmème ou une structure formalisée de la négociation. Λ

négocier

β

fKonrnihtion du perception d'un l trottole 3 ooaflild'intérêt _ ffirtjcnuiiofl et spcci· Λ l ßcatiaidaliin} J ~ /pràenuiioa ci spccA y^fiçjtroBdttfjùn 6/

rO

t Γ Kccption Λ " ^réciproque 9J " I Proposition

Refus Objection Argument^ • ^question» |7 3 . («pécificationM^ * Propoution

Refus Objection Argument.,

r Wann ist Fritz gekommen? < > Es ist gleichgültig, wann Fritz gekommen ist.
otenformel auf kommunikativ höchst aufschlußreiche Weise in eine quasi alltägliche Verstehbarkeit überführt. Was an der Botenformel offen ersichtlich ist, könnte Anlaß dazu geben, geradezu eine Art Typologie der Inanspruchnahme illokutiver Strukturen im Offenbarungsgeschehen zu versuchen.

Religion als kommunikative Praxis

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Kommunikativ anders stellt sich das auf Deutung angewiesene Orakelwesen im Griechentum und in der Latinität dar, ist hier doch die Äußerungsdimension der sprachlichen Handlung unmittelbar betroffen. 3.7 Schrift Für den hier behandelten VER scheint ein weiterer kommunikativer Aspekt von zentraler Bedeutung zu sein. Man könnte ihn vielleicht als die „Grammatisierung" der Religion bezeichnen. Damit ist die systematische Einbeziehung von Schrift, die Etablierung eines zentralen Stellenwertes von Schriftlichkeit, gemeint. Sie bedeutet die Transformation mündlicher Kommunikation in schriftliche und das heißt die Umsetzung der mündlichen in schriftliche Textformen. Dies ist ein sehr komplizierter und, wie mir scheint, ein gleichsam sich hin- und herbewegender Prozeß. Der Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit ist nicht ein wie auch immer gearteter einmaliger Vorgang. Vielmehr bedarf die Schriftlichkeit ihrerseits wieder der Mündlichkeit, um sozusagen aus dem „toten Buchstaben" eine „viva vox" zu machen. Zugleich mit der Grammatisierung der Religion steht ihre „Propositionalisierung". Als „propositionaler Akt" wird derjenige der drei Akte der sprachlichen Handlung bezeichnet, der es mit den Inhalten, den Gedanken („Propositionen") zu tun hat. Drei Formen sind hier zu unterscheiden: Zunächst gibt es etwas zu sagen, genauer zu erzählen-, dies ist der Mythos. Es gibt dann — im konkurrentiellen Typ von Religion — etwas zu proklamieren·, es gibt schließlich die voll durchgeführte Propositionalisierung. Dies ist die Zusammenstellung eines religiösen Wissenssystems in versprachlichter Form, die eine eigene Wissensverwaltung erfordert. Das heißt: Es werden das Dogma und seine sprachlichen Formen herausgebildet und, ihm zugehörig, die gesellschaftliche Gruppe der Theologen, die diese spezifische Form der propositional organisierten Religionen verwalten. Ihr Stellenwert und ihre kommunikative Praxis unterscheiden sich erheblich von jenem religiösen Personal, das als Priestertum im wesentlichen rituell bestimmt ist und als solches eine kommunikative Praxis mit einem je charakteristischen Ineinander von Verbalem und Nonverbalem aufweist. Das Dogma ist im Prinzip gleichsam nonverbalitäts-frei — eben weil es sich auf die reine Propositionalität konzentriert, anders gesagt, weil der propositionale Akt ein Ubergewicht über die anderen, die sprachliche Handlung kokonstituierenden Akte hat und weil Propositionalität sich am schlechtesten zu Äußerung in nonverbalen Formen eignet. Wenn eben das reversible Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit als Grundcharakteristikum grammatisierter Religion bestimmt wurde, so

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Institutionelle Kommunikation

ergibt sich aus dem sozusagen energetischen Verhältnis beider Aspekte des sprachlichen Handelns für die drei Religionen des Judentums, des Christentums und des Islam sozusagen eine Art Anleitung zur systematischen Rekonstruktion ganzer Phasen und Etappen von deren Geschichte. Die Umsetzung mündlicher Tradition in schriftliche erzeugt eine je spezifische, im mündlichen Lehrbetrieb tradierte Interpretationspraxis. Diese tendiert wiederum dazu, schriftlich niedergelegt zu werden, um eine Interpretation der Interpretation aus sich herauszusetzen. Tora, Talmud, Gemara und heutige jüdische Theologie illustrieren diesen Zusammenhang exemplarisch. Kommunikativer Transmissionsriemen für all diese schriftlichen Mündlichkeiten und mündlichen Schriftlichkeiten ist das Zitat als eine spezifische Form kommunikativer Praxis. Auch das, was innerhalb der Christentumsgeschichte mit den Stichwörtern „spiritus et littera", „Geist und Buchstabe", seit den neutestamentlichen Schriften kontinuierlich behandelt, verhandelt und z.T. geradezu gruppenspaltend exekutiert wurde, verdient eine sorgfaltige Analyse im Kontext des Verhältnisses von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. — Das gleiche gilt für die hermeneutische Aufgabe als Aufgabe der je neuen Vermündlichung des schriftlichen Grunddatums und für die daraus abgeleitete reflexive Form kommunikativen Handelns bis hin zur Entwicklung einer hermeneutischen Theorie.

3.8 Kommunikative Transformation Die Geschichte der kommunikativen Praxis im VER scheint einige aufschlußreiche Grundstrukturen aufzuweisen, die zur Inanspruchnahme der Kategorie „Geschichte" in spezifischer Weise ermuntern: Mit Blick auf unterschiedliche Dimensionen des kommunikativen Handelns findet sich nämlich eine geradezu permanente kommunikative Transformation. Dies soll hier unter Rückgriff auf das zuvor Behandelte lediglich illustriert werden: — — —

Es findet sich die Transformation vom Mythos durch die Übergangsform des Kerygma zum Dogma. Es findet sich die Transformation vom Opfer zur Versammlung (ekklesia). Es findet sich der Ubergang vom Priester zum Theologen bis hin zu dessen Uberflüssig-Werden in radikalen Formen der Reformation, im sogenannten „Schwärmertum". Hier setzt sich die Kritik an einem spezifischen Vermittlungspersonal, der Hierarchie, radikal um. Man könnte von einer „Dehieratisierung' sprechen. Sie wird soweit vorangetrieben und mit der Propositionalisierung der Religion verbunden, daß diese in einem nicht mehr kommunizierbaren Spezialwissen ein-

Religion als kommunikative Praxis

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zelner endet, die im „Inneren Licht", äußerlich vielleicht erkennbar am „Zittern" etwa der quakers, den direkten Kontakt zum Numinosen hergestellt haben. Selbstverständlich sind auch dies nicht einlinige Entwicklungen.

3.9 Dekommunikation Begleitend findet sich, wie am Ende von § 3.8 bereits angedeutet, ein interessanter gegenläufiger Prozeß zu den vielfältigen Formen religiöser Kommunikation, den man geradezu eine ,, Hntkommuni%ierun¿' nennen könnte. Damit sind verschiedene Formen der Kommunikationsverweigerung gemeint, die als Verschärfungen der Mitgliedschaftszuweisung, also als die Praxis der Ausschließung vom kommunikativen Handeln, verstanden werden können. Bereits die Exkommunikation" stellt eine solche institutionalisierte Kommunikationsverweigerung dar. Sie bedeutet eine im Prinzip reversible Ausschließung einzelner Mitglieder von unterschiedlichen Teilen der religiösen Praxis. Welche Teile dieser Praxis davon betroffen werden, unterscheidet sich nicht zuletzt nach den Schwerpunkten der religiösen Gruppe. Man vergleiche etwa das Partizipationsverbot für das Sakrament in der römischen Kirche („excommunicatio" im Sinne des CIC) mit dem Verbot innerhalb so strenger Religionsgemeinschaften wie der US-amerikanischen „Old Order Amish", auch nur ein Wort mit dem abtrünnigen Bruder zu wechseln. Systematisch unterscheiden sich von diesen Ausschlußformen drei andere Formen der Dekommunikation: (a)

Die Hermetisierung. Die Hermetisierung ist eine weitgehend sprachliche Form der Kommunikationsverweigerung. Die Gnosis und andere hermetische Konzeptionen sind hierfür charakteristisch. In ihnen wird im Medium der Propositionalisierung ein Abschluß von Wissenssystemen als fundamentaler Mechanismus realisiert. Nur besonders Berufene sind in der Lage, sind geeignet oder eben „berufen", das Wissen bzw. das Wissen in all seinen Stufen zu übernehmen. (b) Die Eremitisierung. Als solche möchte ich die Verweigerung von Kommunikation für bestimmte Teile des religiösen Personals bezeichnen. Dies hat sich in der Geschichte des Christentums extrem ausgewirkt bis, so scheint mir, hin zum inneren Zusammenbruch großer Teile der östlichen und südöstlichen Christentumsformen. Die benediktinischen Reformen sind m.E. im wesentlichen als eine Bearbeitung der bedrohlichen Strukturen der Eremitisierung, wie sie sich etwa im

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ägyptisch-koptischen Christentum zeigten, zu sehen. Aber auch andere Formen der Dichotomisierung der Glaubenden, etwa in der Bewegung der Katharer mit ihrer Unterscheidung einer doppelten Mitgliedschaft, partizipieren an dieser Form der Entkommunizierung. (c) Die Mystik. Eine dritte derartige Form von Entkommunizierung scheint in verschiedenen Formen der Mystik vorzuliegen, in der „innere", mentale Erfahrungsgewinne die kommunikativen Aspekte von Religion devaluieren. Zwischen den verschiedenen Formen der Dekommunikation zeigen sich im übrigen interessante unterschwellige — und naturgemäß nur schwer dokumentierbare — Kontinuitäten auch konkreter historischer Art.

3.10 Kommunikative Nebeneffekte Nur noch hingewiesen werden soll auf den Umstand, daß die religiöse kommunikative Praxis aufgrund der großen Bedeutung, die dem sprachlichen Handeln in ihr zukommt, in bezug auf einzelne Aspekte dieses Handelns z.T. zu extremen Verselbständigungen Anlaß gibt. Sowohl im mündlichen wie im schriftlichen Medium soll dies an einem Beispiel noch illustriert werden, dem des Sprach-Zaubers. Hier wird der propositionale Akt bis zur Vollständigkeit hin aufgegeben. Dagegen findet sich eine Verabsolutierung der illokutiven Kraft, die durch Konzentration auf den Außerungsakt (in mündlicher oder schriftlicher Form) sozusagen als Karikatur der sprachlichen Handlung „wirkmächtig" gemacht werden soll. Andere Formen kommunikativer religiöser Praxis lassen ähnliche Modifizierungen sprachlichen bzw. kommunikativen Handelns erkennen.

4. Kommunikationsanalyse und Religion: Ansichten und Ausblicke Eine Kommunikationsanalyse religiöser Praxis könnte dazu beitragen, die religiösen Handlungszusammenhänge und Wissenssysteme der Aktanten genauer zu verstehen. Sie könnte also gelingendenfalls eine differenziertere Sicht von Religion ermöglichen. Es ist erstaunlich, daß trotz des offensichtlich erheblichen Stellenwertes der Kommunikation innerhalb der religiösen Praxis und der darauf bezogenen religiösen Wissenssysteme zu einer derartigen Kommunikationsanalyse bisher offenbar nur verhältnismäßig wenige systematisierende Vorarbeiten vorliegen.

Religion als kommunikative Praxis

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Dies dürfte nicht zuletzt mit der eingangs benannten stillschweigenden Arbeitsteilung der mit Religion befaßten akademischen Disziplinen zu tun haben. Überwindbar ist sie nur durch ernsthafte Interdis^iplinarität.

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Der Katechismus - eine Textart an der Schnittstelle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit1 1. Geschichte und Geschichtlichkeit einer Textart Die Erforschung von linguistisch-pragmatischen Fragestellungen in ihrer historischen Erstreckung, wie sie von Schlieben-Lange (1983) und Eggs (1988) zu Recht gefordert wurde (s. zusammenfassend die informative Übersicht in Cherubim 1998), insbesondere die Erforschung einzelner Strukturformen von Kommunikation in ihrer Entstehung, Veränderung und Erhaltung bedarf einer Vielzahl konkreter Analysen. Für viele solcher Formen liegen die kommunikativen Entstehungshintergründe im Dunkel ihrer jeweiligen Vorgeschichte. Dies ist gelegentlich Anlaß zu weitgehenden universalistischen Spekulationen. Für andere kommunikative Formen und Strukturen hingegen besteht durchaus die Möglichkeit, durch eine dichte Betrachtung und eine detaillierte Rekonstruktion just diese Zusammenhänge konkret zu bestimmen. Neuere Forschungen erbringen hier einen deutlich erweiterten Kenntnisstand, siehe Mihm (1999) und den Sammelband von Jucker/Fritz/Lebsanft (1999) aus dialoganalytischer Sicht sowie darin besonders Ramges (1999) Beitrag zur „Entstehung einer neuen Textsorte". Ein derartiger Fall scheint in der noch heute gut bekannten Form des Katechismus vorzuliegen, wie er als Kleiner Katechismus (K1K) in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts von Martin Luther geprägt und in den sich entfaltenden evangelischen Religionsgemeinschaften zu einer erheblichen Verbreitung gebracht wurde. Der Umstand allein, daß hier eine dermaßen erfolgreiche Textart bleibend mit einer historischen Konstellation verbunden erscheint, ermöglicht einen solchen Nahblick. Im folgenden soll dazu ein Beitrag geleistet werden. Die Darstellung beginnt mit einer kritischen Hinterfragung des lange herrschenden Reformationsbildes, das vor allem das 19. Jahrhundert entwarf (§ 2). In § 3 1

Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Forschergruppe „Diskurs und Formen des Wissens im Zeitalter des Humanismus" an der LMU München. Der Verf. dankt Dr. Jörn Bockmann (München) für vielfaltige Hilfe und wertvolle Diskussionsbeiträge bei der Erstellung des Aufsatzes sowie Prof. Dr. Reinhard Schwarz (München) und den Kollegen der Forschergruppe für deren wichtige Anregungen und Kritiken.

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(„Katechismus - Text und Umfeld") wird unter Bezug auf neue reformationsanalytische Forschungen dem Stellenwert nachgegangen, den der K1K darin findet (§ 3.1). Textarten, die Luthers K1K vorausgehen, erlauben eine Annäherung an den kommunikationssoziographischen Zusammenhang (§ 3.2). Die Adressatenbestimmung des K1K gibt Hinweise auf die neue textpraktische Situation, in der der KJK entsteht (§ 3.3). Die neu entstandene und sich schnell konsolidierende Textart wird im folgenden als Bearbeitung eines Ensembles kommunikativer Probleme verstanden (§ 4). Sie ergeben sich aus den der Reformation vorausliegenden Wissensverteilungen des späteren Mittelalters (§ 4.1), der prinzipiellen Wissensumverteilung in der Reformation (§ 4.2), die sich als Wissenszentrierung ausbildete (§ 4.3). Unter Bezug auf die Visitationsberichte der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts wird die Problemkonfiguration dargestellt, in die diese Umverteilung geriet (§ 4.4). Die Textart Katechismus wird dabei als Bearbeitung dieser Problemkonstellation bestimmt (§ 5): Sie erweist sich als eine kommunikative Struktur, die in besonderer Weise eine Schnittstelle zwischen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit in der Tradierung religiösen Basiswissens bildet.

2. Die Reformation — ein Medienereignis Die unter dem Stichwort „Reformation" zusammengefaßte religiöse Veränderung in den nördlichen Teilen des „Heiligen römischen Reiches deutscher Nation", die mit dem Namen von Luther und Melanchthon bleibend verbunden ist, ist über die religiöse Kontinuität ihrer Institutionen bis heute Bestandteil des gesellschaftlichen Gesamtwissens. Gerade jene noch gegenwärtige Tradition transportiert, außer daß sie Kontinuität ermöglicht, freilich auch spezifische Sichtweisen, die es schwer machen, die ursprünglichen Veränderungen als Ereignisse der damaligen Zeit zu verstehen. Statt dessen realisiert sich allzu leicht die Gefahr, daß sie immer schon allein in den Kategorien aufgeht, die in ihrer Konstituierung allererst herausgebildet wurden. Diese Schwierigkeit betrifft besonders all jene Bestandteile des gesellschaftlichen Wissens, die sozusagen zur puren Selbstverständlichkeit geworden sind. Dazu gehören unverkennbar diejenigen Formen sprachlich-religiösen Handelns, die zum Grundbestand protestantischer Kirchen gehören wie z.B. die Predigt und das religiöse Lied. Insbesondere durch die Sichtweise des 19. Jahrhunderts wurde die Reformation zudem personalisiert und heroisiert - was in den zahlreichen Lutherdenkmälern dieser Zeit bis heute unmittelbar zu greifen ist. Diese

Der Katechismus

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Sichtweise verstellt den Blick auf die strukturellen Veränderungen kommunikativer und wissenssoziologischer Art. Gerade die wissens- und kommunikationssoziologischen Aspekte der Reformation aber sind von herausragendem Interesse. Sie können freilich nur erkannt werden, wenn man ihre Spezifik im Bezug auf die vorausliegenden Strukturveränderungen betrachtet. Dies aber verhindert eine — neben Personalisierung und Heroisierung — dritte Verstehensfolie, die man als „Zäsurierung' bezeichnen könnte: Die Reformation erscheint als ein Einschnitt, als Ruptur und Neubeginn, ja geradezu als Anfang der Neuzeit in den nördlichen Teilen Europas (vgl. zur Diskussion Hamm/Moeller/Wendebourg 1995). In dieses Konzept werden innovadve religiöse Bewegungen der vorausliegenden Jahrhunderte als „vorreformatorische" integriert. Dies bedeutet eine Homogenisierung. Sie trägt dazu bei, die Spezifik der lutherischen Reformation und ihrer Parallelbewegungen in der Schweiz und im südlichen Deutschland nicht als solche sichtbar werden zu lassen. Selbstverständlich haben Personalisierung und Zäsurierung (und — in Grenzen — sogar die Heroisierung) jeweils ihre spezifischen Berechtigungen und Grundlagen in der tatsächlichen historischen Entwicklung. Hermeneutisch ist man aber gut beraten, wenn man versucht, diese Rezeptions- und Interpretationsstrukturen als bestimmte Sichtweisen methodologisch zu „neutralisieren". Dies geschieht, wenn Hamm (1996) die Deformation als ,JsAedienereignis", als erste Bewegung der Geschichte, deren durchschlagende Wirkung auf dem Buchdruck beruhte, charakterisiert. „Am Anfang der überwältigenden Offentlichkeitswirkung der Reformation stand — noch bevor das mündliche Wort der Predigt vervielfältigend hinzukam — der Buchdruck mit beweglichen Lettern und unter den Druckerzeugnissen vor allem das Massenmedium der Flugschrift" (S. 141). Selbstverständlich wurde der enge Zusammenhang von Buchdruck und Reformation immer gesehen, aber doch auch hier wieder sozusagen zu einer Art zäsurierendem, personalisierendem und heroisierendem Kern-Szenarium kondensiert: Es ist Luther und die Biblia Deutsch, auf die sich diese geradezu ikonographische Verdichtung konzentrierte. Wesentlich weniger beachtet wurde, daß durch die massenhafte Verbreitung von Flugschriften, Flugblättern, Druckgraphiken (letztere dienten auch als Medium für die nicht-literalisierten Teile der Bevölkerung, s. Rössing-Hager 1981) ein vorher noch nicht dagewesenes Maß an Öffentlichkeit für die religiösen Auseinandersetzungen relevant wurde (vgl. dazu auch Köhler 1981; Schwitalla 1983; Moeller/Stackmann 1996; Kaufmann 1998 sowie die Flugblätter-Sammlung, ed. Harms). Durch neuere Arbeiten gerade zur Flugblattliteratur (s. außer den eben genannten Titeln Beyer 1994 und zusammenfassend zur Textart

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Schilling 1990) sind die Kenntnisse über diese massenhaften kommunikativen Aspekte inzwischen kräftig gefördert worden.

3. Katechismus - Text und Umfeld 3.1 Luthers Kleiner Katechismus — ein unbekannter bekannter Text Hamm (1996) bestimmt als „öffentlichkeitswirksame Medien der Reformation" neben den Flugschriften und -blättern sowie der Druckgraphik „Predigten, Bibelübersetzungen, Gemeindelieder" (S. 142). Als Hauptmedium, als dasjenige, das der Reformation den entscheidenden Popularisierungsschub gab, führt Hamm die mündliche Predigt an, die die Inhalte der Druckmedien aufnahm und ihre Wirkung multiplizierte, andererseits den Druckmedien ihre Inhalte auch lieferte (S. 149). Eigenartigerweise ist in diese Aufzählung eine Textart nicht aufgenommen, die doch zu den offensichtlich erfolgreichsten der Reformation gehörte: eben der Katechismus. Ist dies bei Hamm dadurch bestimmt, daß er den Schwerpunkt seiner Analyse vor die „späteren zwanziger Jahre(n)" legt (S. 142), so scheint andererseits hinsichtlich der Gesamtcharakterisierung der Bedeutung von Textarten für die Reformation die weitgehende Auslassung des Katechismus nahezu kennzeichnend für dessen Behandlung zu sein, die er selbst dort erfahrt, wo andere Textarten ausführlicher erörtert werden. Für den Katechismus gilt exemplarisch: Er ist eine Textform, die — gerade aufgrund ihrer mehrhundertjährigen Erfolgsgeschichte zunächst innerhalb der protestantischen Kirchen, von dort dann aber auch ausstrahlend in die römische Kirche — als so selbstverständlich gilt, daß sie geradezu unscheinbar geworden ist. Ihr elementarer Charakter im Inhaltlichen und ihr „einfacher" Frage-Anwort-Schematismus haben sie offensichtlich der genaueren sprachlichen Aufmerksamkeit ebenso entzogen, wie sie als Textart vielfaltige elementarbildende Funktionen hat wahrnehmen können. Der Umstand, daß es innerhalb der lutherischen Kirchen der Kleine Katechismus Martin Luthers war, der quasi-kanonisch wurde, läßt die eingangs geschilderte Problematik besonders deutlich werden. Die Literatur zum Katechismus selbst, insbesondere zum lutherischen, ist andererseits Legion. Sie ist im wesentlichen von den Interessen der Gegenwart her bestimmt. Bereits Fraas (1971) verzeichnete etwa tausend Titel - ohne Vollständigkeit anzustreben. Angesichts einer hoch entwikkelten wissenschaftlichen Theologie im deutschen und europäischen Protestantismus umfaßt dieses Gegenwartsinteresse zugleich die Geschichte. So liegen hervorragende Editionen vor (WA 30/1, S. 484 ff., Bekenntnis-

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Schriften S. 501—544). Allerdings ist der durch das gegenwärtige Interesse entwickelte Fragehorizont eben dadurch, daß Geschichte hier als prototypisch kontinuär konstituiert gedacht wird, zugleich auch nach hinten hin abschließend konzipiert. So gelten auch hier die Zäsur und der Neubeginn als zentral; die starke Konzentration auf Luther und dessen heroisierende Positionierung sind unverkennbar (s. zur Rezeption den Forschungsüberblick Fraas 1971). Gerade im Zusammenhang dieser Literatur wird deutlich hervorgehoben, daß mit dem Katechismus Luthers etwas unverkennbar Neues und in dieser und gerade dieser Form exorbitant Erfolgreiches entstanden ist. Freilich haben Detailstudien gezeigt, wie stark Luther im einzelnen auf vorgängige Formen zurückgegriffen hat, wie er sie modifiziert, elementarisiert und so einsetzbar gemacht hat (Meyer 1929). (Die konkrete Entstehungsgeschichte arbeitet vor allem die Fundierung in der Sache heraus. Diese läßt sich in einer Reihe der Predigten Luthers (Fraas 1988, Sp. 712; Peters 1984, S. 342) ausmachen. Als weitere Entstehungszusammenhänge werden die Seelsorge und die Kirchenzucht genannt (Fraas 1988, ebd.).) Verfolgen wir diese Vorgeschichte etwas weiter.

3.2 „Katechismusliteratur" Bereits das spätmittelalterliche Christentum kannte verschiedene Formen, die sich, in der einen oder anderen Weise transformiert, in Luthers Kleinem Katechismus wiederfinden (vgl. Holtzmann 1898; Weidenhiller 1965). Im Rahmen der zäsurierenden Kategorienbildungen sind diese Traditionen nur geringfügig oder — im Falle der Böhmischen Brüder eben über die Adaptionsfigur des „Vorreformatorischen" (vgl. Benrath 1998, S. 157) in die Katechismusanalyse eingeflossen. Harmening (1987) hat ein Rekonstruktionsprogramm der „Katechismusliteratur im Spätmittelalter" vorgelegt. Diese Literatur liegt durchaus vor der Erfindung des Buchdrucks. Besonders die Bestände der Bayerischen Staatsbibliothek an deutschen Handschriften sind hierfür einschlägig und analytisch genutzt worden (vgl. Weidenhiller 1965). Mit der Figur Ulrichs von Pottenstein, der in der zweiten Hälfte des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Wien wirkte, ist ein bedeutender Autor katechisierender Literatur ausführlicher behandelt worden (Baptist-Hlawatsch 1980; 1995). Er benennt als Adressaten seines Werkes die „frumen und verstanden layen, die geschikchet [sie!] sind vnd lieb haben in dewtschen püchern zu lesen" (zitiertin Harmening 1987, S. 101). Gerade an dessen Werk, das bisher nur teilweise ediert worden ist (1987, S. lOOf.), wird freilich eine Problematik der allgemeinen Rubrizie-

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rung „Katechismusliteratur" deutlich. Sie erfaßt ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Textarten. Harmening (1987, S. 95) führt sechs unterschiedliche Typen auf: (a) Lehr- bzw. Studientexte, (b) Unterrichtstexte, (c) Prüfungs- und Beichttexte, (d) Merktexte, (e) Begriffs- und Artikelschemata, (f) Bildtexte. Diese werden von ihm im einzelnen durch entsprechende Handschriften illustriert. Sie gelten ihm als von ,oben' nach ,unten' (ebd., S. 91) geordnet. So geraten dann auch summenartige Darlegungen mit in diesen Bereich — was bei einem breiten Verständnis von Katechisierung durchaus sachlich Sinn macht, für die Entstehung und spätere Geschichte der protestantischen Katechismen aber viel eher in den Bereich des Lutherschen Großen Katechismus oder gar der Calvinschen Institutio führt. Für den hiesigen Kontext interessanter ist das, was auf der Synode von Tortosa 1429 verlangt worden war, nämlich „alles, [...] was das Volk zu wissen notwendig hat [...] und während des ganzen Jahres wiederholt durch die Seelsorger an den Sonntagen dem Volke erläutert werden kann." 2 Diese Forderung, so vermutet Harmening, setzte die frühere von Johann Gerson um, der nicht nur selbst einen Kurztraktat für die Laienunterweisung anregte, sondern seinerseits bereits entsprechende Texte verfaßte. Interessanterweise bezieht er sich für einen solchen „tractatulus" auf vorgängige Texte der medizinischen Fakultät „zur Belehrung der Einzelnen" in der Pestzeit (1349/50). Der Tractatulus sollte der instrucüo simplirìum dienen, „quibus nullus sermo aut raro fit, aut male fit" (zitiert nach Harmening 1987, S. 94f., Anm. 10). Der Bedarf einer umfassenden Glaubenslehre war Ausdruck für ein neues „Interesse" einer Laienwelt an religiöser Belehrung (ebd. S. 91). Es sind Gruppen eben jener „frumen und verstanden layen", die dieses Interesse entwickeln. Die präzise soziologische Bestimmung dieser Gruppen bedarf nun ganz offensichtlich weiterer Aufklärung. Als besonders wichtig erscheint die Frage, in welcher Weise sie zu jenen Radikalisierungen transformiert wurden, die sich nicht nur in der lutherischen und in anderen Formen der Reformation durchsetzten, sondern die über deren Re-Institutionalisierungen hinausdrängten (die Spiritualisten und „Schwärmer"). Die katechetische Literatur des späten Mittelalters hatte ohne Zweifel einen konkreten „Sitz im Leben" in der Beichtpraxis (Harmening 1987, S. 97f.). Auch deren spezifischer Adressatenkreis bleibt „noch näher zu bestimmen" (ebd.), was offensichtlich für den gesamten Bereich dieser vor der Drucksituation stehenden Literatur gilt. Das Werk Ulrichs von Pottenstein ist — schon von seinem gewaltigen Umfang her — an ein deutsches

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Acta conáliorum et epistolae decretales ac constitutiones summorum pontifmum, Bd. VIII, Paris 1714, 1078 c. Ó.Jean Harduin (Hg.). Zitiert nach Harmening 1987, S. 94, Anm. 9.

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Lííípublikum gerichtet und verdient im hiesigen Zusammenhang stärker mit Blick auf die Soziographie seiner Adressaten als mit Blick auf die eigentlichen Inhalte Beachtung. Die Transformation der manuskripturalen in die typographische Form bedarf für die Katechismusliteratur weiterer Erforschung. Das umfängliche Werk Gieseckes (1991) ist hinsichtlich der katechetischen Literatur eigenartig wenig ergiebig (vgl. S. 156 und S. 226) — dies, obwohl die Katechismen ganz ohne Zweifel zu den meist vertriebenen Werken der Zeit gehörten. Wie steht es nun mit den konkreten Adressaten des K1K? 3.3 Von Pfarrherren und Hausvätern Betrachtet man den Text des Kleinen Katechismus bzw. des Enchiridion, so ergibt sich aus Überschrift und Vorrede zumindest ein Adressatenkreis des Texts: Das Werk ist geschrieben „für die gemeine Pfarrherr und Prediger". Luther (K1K. S. 501) bittet seine „liebe Herren und Brüder, so Pfarrherrn oder Prediger sind" (S. 502, 28-30), daß sie sich „über Euer Volk, das Euch befohlen ist", „erbarmen" und „uns" (also Luther - und seinen Mitstreitern) „helfen, den Katechismon in die Leute, sonderlich in das junge Volk [zu] bringen", und „welche es nicht besser vermügen, diese Tafeln und Forme für sich nehmen und dem Volk von Wort zu Wort fürbilden [...]" (K1K, S. 502). Zu dieser Adressatenbestimmung kommt nun freilich in den einzelnen Hauptteilen eine etwas andere, weitere Angabe. Die Hauptteile von den zehn Geboten, vom Glauben, vom Vaterunser, von der Taufe, vom Abendmahl ebenso wie der Text von der morgendlichen und abendlichen Segnung bestimmen als Zielgruppe den „Hausvater" und sein „Gesinde". Der Teil von der Beichte hat hingegen eine ganz allgemeine Adressatenbestimmung, „wie man die Einfältigen soll lehren beichten" (K1K, S. 517); allerdings ersetzte diese Uberschrift von 1531 den ursprünglichen Wortlaut „Eine kurze Weise zu beichten für die Einfältigen dem Priester" (vgl. K1K, S. 517, Anm. 2). Da die einzelnen Stücke des Kleinen Katechismus zunächst als Tafeldrucke (K1K, XXX) verbreitet wurden, können wir der Formulierung „wie ein Hausvater [...] seinem Gesinde einfältiglich/einfältigst/aufs einfaltigst furhalten soll" ohne Zweifel die primäre Adressatenbestimmung entnehmen. Die Zusammenfassung zum Enchiridion geschah hingegen mit Blick auf die in der Vorrede benannte Vermittlergruppe. In den insgesamt später erfolgten lateinischen Ubersetzungen, die freilich in schneller Folge hergestellt wurden (beide gleichfalls 1529 gedruckt) und für deren erste

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wohl Georg Major verantwortlich ist, für die zweite Johann Sauermann (K1K, X X X ) , wird die Adressierung noch „didaktischer": Der „Hausvater" wird zum „paedagogus", dessen Gesinde zu seinen „pueri". Das differenzierte Bild, das sich hier abzeichnet (s. Weyrauch 1984), läßt die Vielfältigkeit religiöser Wissensvermittlung erkennen, die für die Reformation kennzeichnend ist. Durch die spätere Traditionsgeschichte ist die genauere Untersuchung dieses Wissensvermittlungszusammenhanges eher erschwert worden. Die aus der späteren Situation heraus verständliche Konzentration auf den „Pfarrherren" einerseits, die „Schule" andererseits läßt die Tragweite und Erstreckung der frühen Adressatendifferenzierung und der darin erkennbaren Zielsetzungen nur noch bedingt sichtbar werden (s. Reu 1929a und 1929b). Wenden wir den Blick zurück auf die Literatur der vorausliegenden zwei Jahrhunderte. Angesichts des Umfangs katechisierender Literatur im 14. und 15. Jahrhundert stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von Luthers Kleinem Katechismus anders, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Es geht nicht um ein Verständnis dessen, wie und unter Bezug auf welche „Vorläufer" Luther die Textart konstituiert hat (s. hierzu die Quellensammlung von Cohrs 1900), sondern es geht darum, (a) näher zu bestimmen, in welcher Weise es ihm möglich war, die bestehende katechetische Tradition derart zu transformieren, daß sie für die Folgezeit von einer so grundlegenden Bedeutung werden konnte, und (b) welche Funktionen gerade durch diese Textart derart optimal erfüllt werden konnten, daß sie als stabilisierte für die Folgezeit weiter genutzt werden konnte. Der Katechismus zeigt sich als eine schnell konsolidierte, geradezu zu kanonischer Geltung erhobene Textart, deren Entstehung sozusagen aus den Quellen unmittelbar rekonstruiert werden kann. Der Grundgedanke der Zäsurierung gewinnt so einen anderen Stellenwert: Es geht um den Umschlag (die Metaptose) einer weit geübten textuellen Praxis, dessen Ergebnis eine konsolidierte Textform darstellt. Dieses Entwicklungsresultat und der Prozeß seiner Herausbildung markiert jenen Einschnitt, der textartgeschichtlich in der Tat als „epochemachend" gesehen werden kann. Im folgenden wird die These vertreten, daß derartige Epochenbildung erfaßt werden kann, indem die Textart als die Bearbeitung eines bestimmten Ensembles kommunikativer Probleme verstanden wird.

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4. Wissensverteilungen 4.1 Religiöse Wissensverteilungen im späteren Mittelalter Viele Faktoren haben dazu beigetragen, daß die deutsche Reformation zu einem wirkungsvolleren Geschehen wurde als die Bewegungen des Petrus Waldus, John Wiclifs oder des Jan Hus (Holtzmann 1898, S. 124f.). Neben den politischen und soziographischen Einflußgrößen gehört eine Konzentration der religiösen Inhaltsstrukturen zu den fundamentalen Kennzeichen der Reformation. Diese antwortet auf eine offensichtliche Krise des zunehmend professionalisierten religiösen Wissensbetriebs, wie er sich insbesondere in der breit entfalteten Schultheologie zeigte. Dessen apologetische Funktionen (insbesondere gegen die mohammedanischen „gentes") waren zurückgetreten; die innere Entfaltung des Gesamtwissens und seiner Widersprüche nahm zunehmend den Vordergrund ein. Als ausgesprochene Wahrheitskrise wurden die konsequenten Explorationen der überkommenen Wissensbestände erfahren und in der einen oder anderen Form — bis hin zum Konzept der „doppelten Wahrheit" — entfaltet (vgl. zusammenfassend Gawlick 1984, Sp. 1520f.). Die sich entwickelnde städtische Welt verlangte zudem neue Möglichkeiten der Partizipation am Gesamtwissen für andere Teile der Population als diejenigen, die in den überkommenen Welten dafür vorgesehen waren. Gerade das religiöse Wissen drängte aus seiner kanalisierten Dichotomie zwischen „Teilhabern" (Klerikern, von „kleros", „Anteil") und dem Volk („laikos", „zum Volk gehörig", Laien) heraus (s. Vauchez 1993). Die hierarchische Organisation des Wissens erfuhr zunehmende Infragestellungen dadurch, daß sich neue Wissensgebiete besonders im Handel und in einer sich immer weiter differenzierenden Produktion herausbildeten. Hier sind die Ergebnisse der Sonderforschungsbereiche der DFG 226 „Wissensliteratur im Mittelalter" und 231 „Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" einschlägig (vgl. Keller/Worstbrock 1988; Keller u.a. 1992; Wolf 1987 und Brunner/Wolf 1993). Da das religiöse Wissen im Prinzip als umfassender Ort von Wissen überhaupt unangefochten in Geltung war, ergaben sich für die Wissensträgerschaft starke Tendenzen zur Modifikation der mittelalterlichen Gesamtwissensverteilung und ihrer personalen Zuweisungen. Diese entfalteten sich insbesondere sprachlich (Ehlich 1997). Charakteristischerweise sind zentrale Reformbewegungen seit dem 13. Jahrhundert immer auch Bewegungen, das religiöse Wissen im jeweiligen dialectus vulgaris zugänglich zu machen. So ist der Umstand, daß Jan Hus der erste Verfasser einer böhmischen „Grammatik" ist (vgl. Schröpfer 1968), kein bloß kontingentes linguistikgeschichtliches Ereignis. Gerade in der germanischen und

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westslavischen Welt machte sich dieser Bedarf verstärkt bemerkbar, in der der sprachliche Abstand zum klerikalen Latein besonders groß war. Die Umsetzung des religiösen Wissenssystems in die Volkssprache eröffnete für die Wissensträgerschaft einen verallgemeinerten Zugang. Die innere Drift dieser Modifikation in der Wissensträgerschaft sollte die Entwicklung im 15. und 16. Jahrhundert zentral bestimmen; sie sollte sich darüber hinaus aber auch weiter auswirken bis hin zur entwickelten Demokratie mit einer im Prinzip verallgemeinerten Partizipation am gesellschaftlichen Gesamtwissen (s. auch Hamm 1992, S. 253ff.). Dadurch ergaben sich zunächst einmal erhebliche zusätzliche Anforderungen an das Gedächtnis als Ort und Praxis des gesellschaftlichen Wissens. Das kollektive Gedächtnis (zum Begriff s. Assmann 1992) trat in einen Zustand ein, in dem — quantitativ — wesentlich größere Teile des Gesamtwissens und — qualitativ — eben jene Teile, die als klerikales Sonderwissen der Allgemeinheit entzogen waren, tendenziell wirklich zum Gedächtnis der Allgemeinheit wurden. Als deren zentrale Figur erscheint der „gemein man" (vgl. DWB, Bd. 5, Sp. 3169-3220). Allseitige Partizipation - jedenfalls der Möglichkeit nach — wurde verlangt. Damit veränderten sich zugleich Strukturen und Erscheinungsformen des Wissens. Wissenspartizipation von Laien war in der mittelalterlichen Welt stark auf außersprachliche, allenfalls rudimentärsprachliche semiotische Strukturen eingegrenzt (s. Wenzel 1995). Auch dem Ritus kam hinsichtlich des Wissens eine zentrale Bedeutung zu. Rituelle Orthopraxie machte eine zentrale Weise der Teilhabe aus. Besonders die Pilgerfahrt als in die räumliche Erstreckung der Welt ausgelegte Form religiösen Wissens ermöglichte solche Partizipation (s. Bausewein u.a. 1993). Durch ihren biographisch einschneidenden Charakter bewirkte sie zudem als geleitete Form des Wegs durch die Fremde, der erstrebten An- und der schließlichen Rückkunft eine in Bewegung umgesetzte Mnemotechnik, deren Zielund Fixpunkte feststanden. Es waren im herausgehobenen Fall Extrempunkte der bekannten Welt, zu denen hin diese Form religiöser Wissensorganisation ausgespannt war: Jerusalem im Osten und — sehr viel erstaunlicher, da im Grundwissen nicht in gleicher Weise legitimiert — Santiago de Compostela im Westen (vgl. Ganz-Blätter 1990; Herbers 1998). Die beiden zentralen dogmatischen Ereignisse der mittelalterlichen Kirche, die förmliche, materielle Präsentivierung des sinnlich zugänglichen Heilsgeschehens in der Transsubstantiationslehre von 1215 und die prozessierende Nutzung des transsubstantiierten Sakraments im Fest Corporis Christi, dem Fronleichnamsfest, ab dem 13. Jahrhundert sind Umsetzungen religiösen Wissens in semiotisch-sinnliche Formen (Ehlich 1993). Die „Ketzer"-Bewegungen bilden dazu die durchgehende Opposition, deren Ver-

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folgung, ja Extinktion auch ein Versuch der Re-Homogenisierung des Gesamtwissens war. Gegenüber diesen Strukturierungen traten die propositionalen Gehalte des Wissenssystems weitgehend zurück. Für das „Volk" spielten sie offensichtlich allenfalls rudimentär eine Rolle. Für die Spezialisten hingegen war deren Absonderung in Klöstern und Universitäten — auch physische — Voraussetzung für die Kontinuität des Wissens. Dessen Komplexität überstieg bei weitem die Möglichkeiten traditionaler Wissensvermittlung innerhalb der Familie, wie sie für große Teile des Produktionswissens (Landwirtschaft, Zunftwesen) charakteristisch war. Es bedurfte der immer neuen Rekrutierung von Wissensträgern, die die Befahigsten über Klostereintritte und Priesterweihen dem normalen kommunikativen Verkehr entzog und für die Wissensträgerschaft spezifisch qualifizierte. Zu den mehrfachen Initiierungen gehörte auch die sprachliche, der Erwerb also jener Sprache, die niemandes Muttersprache war, des Lateinischen (Grundmann 1958). Das Ensemble der Wissensverteilung, wie es sich im Mittelalter darstellte, führte also einerseits zu einer extrem elitären Wissensspezialisierung — mit allen Konsequenzen einer von sonstiger gesellschaftlicher Praxis losgelösten Verabsolutierung des wissensbezogenen „Schul"-Betriebs. Sie führte andererseits zu einer weit verbreiteten Gleichgültigkeit dem gesellschaftlichen, insbesondere dem religiösen Wissen gegenüber. Die spezifische Nutzbarkeit dieser Kombinatorik von Spezialistentum und Ignoranz wurde kurial in der Entwicklung des Ablaßwesens mit gewaltiger ökonomischer Ressourcenverlagerung zum Nutzen der Hierarchie optimal umgesetzt. 4.2 Wissensumverteilung Sollte die Verteilung von religiösem Wissen einerseits, religiös legitimierter Ignoranz andererseits aufgehoben werden, so bedurfte es einer umfassenden Einführung vieler, wenn nicht aller in das Gesamtwissen, jedenfalls in dessen Grundlagen. Nicht umsonst also sind die Reformbemühungen seit dem Anfang des 15. Jahrhunderts, angeleitet von Gerson und anderen, intensiv darum bemüht, eine systematische Kirchenreform durchzuführen (Moeller 1991, S. 80; Holtzmann 1898, S. 121). Allerdings tragen diese Bemühungen unverkennbar zugleich die Merkmale ihrer engen Begrenzung, so daß radikale Reformen konsequent marginalisiert werden mußten. Die Reformbeschlüsse, auch unter Billigung durch die gemäßigten Reformer wie Nikolaus Cusanus, verloren sich in der Erstarkung der

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Hierarchie und in deren Loslösung von Grundelementen des religiösen Wissens. Insbesondere die aufblühende Stadtbevölkerung und deren in die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen nicht integrierten Teile konnten sich mit diesen Entwicklungen kaum zufrieden geben. Die faktische Partizipation an anderen Teilen und Subsystemen des Wissens machte die Wissensrestriktionen, die für das Gesamtsystem grundlegend waren, immer deutlicher obsolet. Jene oben angesprochene systematisierende, summenähnliche Katechisierungsform eröffnete solchen Interessenten und Interessentinnen den Zugang zu unterschiedlichen Teilen des religiösen Wissens. (Auf die gegenläufigen, aber in denselben soziographischen Kontexten verorteten Bewegungen zum inhaltlichen Reduktionismus des Wissens in der Gestalt von „Mystik" kann hier nicht eingegangen werden; sie würden m.E. eine eigene Bearbeitung verdienen.) Dabei scheint es durchaus sinnvoll zu sein, die Anknüpfung an die Beichtspiegel und über sie an die Beichtpraxis als eine möglicherweise subversive Abdeckung dieser Art von Wissensverbreitung an einem der systematischen Berührungspunkte zwischen klerikaler und laikaler Welt zu verstehen (vgl. Grünberg 1984; Harmening 1990). Die das ganze Leben umgreifende Pflicht zur Beichte brachte die Wirklichkeit in ihrer Fülle in das abstrakte theologische System ein (vgl. Holtzmann 1898). Damit dies gelingen konnte, bedurfte es der Applikation; anders gesagt: durch die Umsetzung christlichen Elementarwissens in die Beichtpraxis erhielt diese eine katalysatorische Funktion im Verhältnis von theologischem Spezialwissen und laikalem Weltwissen. Trotz der gewaltigen systematisierenden Anstrengungen in den „Summen" zerfiel das theologische Spezialwissen in eine Vielzahl einzelner Wissenspartikel. Gerade die Elementarwörter, über die die Initiierung in das theologische Gesamtwissen geschah, waren einer weitgehend extratextuellen Kohärenz verpflichtet. D.h. Textarten wie der Kommentar und die Glosse, besonders aber unterschiedlichste Formen von Listen bezogen ihren jeweiligen inneren Zusammenhang nicht aus sich selbst, sondern aus ihnen fremden textuellen Kohärenzen, etwa der des auszulegenden Textes oder des anderweitig hergestellten Textganzen (vgl. Assmann/Gladigow 1995). Grundlagen wie Isidors „Etymologiae" oder grammatische bzw. logische Traktate bildeten derartige Kohärenzbasen. Die Beliebigkeit der quaestiones disputatae ermöglichte eine Wissensorganisation, die das erreichte methodologische wissensbe- und -verarbeitende Spezialistentum gerade am ,Quodlibet' des eigentlichen Inhalts aufscheinen ließ. Sollte demgegenüber nun eine systematische Zugänglichkeit für das Wissen erzeugt werden, auch jenseits des initiatorischen und separatistischen Zusammenhangs der Rekrutierung klerikalen Personals, so ergab

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sich die Notwendigkeit, Wissen zu systemadsieren und in seinem Zusammenhang für einen konsequenten didaktischen Zugang zugänglich zu machen. Die durch die beliebige Anfüllung mit Wissensstoffen zu bearbeitende systematische Leere der Novizen fand in der mit Weltwissen erfüllten Wissenswelt jener Laien keine Entsprechung mehr, die sich „um ihrer Seelen Seligkeit willen" mit der bloßen externen, semiotischen Wissenspartizipation nicht mehr zufriedengeben konnten (Schreiner 1984). Der religiöse Sinnbedarf gerade der innovativen Teile der Stadtbevölkerung verlangte also eine Restrukturierung des Wissens. Diese Bevölkerungsteile forderten zugleich die Aktualisierung von verdrängten Wissensbeständen, wie sie in den grundlegenden Texten durchaus präsent waren und von den „Ketzern", hießen sie nun Waldus oder die Reinen (Katharer), aber auch den innerkirchlichen Antworten darauf, z.B. denen der „fratres minores", je neu zur Geltung gebracht worden waren. Besonders aber die Konsolidierung und systematische Zentrierung des Wissens ergaben sich als unverkennbare Desiderate der Wissenssituation am Ausgang des 15. Jahrhunderts. 4.3 Wissenszentrierung durch die Reformation Die lutherische Reformation beantwortete das zuletzt genannte Desiderat mit ihrem dreifachen „solus": allein durch Glauben (sola fide), allein durch Gnade (sola gratia), allein durch die Schrift (sola scripturd). Was glaubensgeschichtlich als das Auffinden eines solchen dreifachen archimedischen Punktes erscheint, wird zu einem solchen zugleich für die Organisation des religiösen Gesamtwissens. Die tendenzielle Unstrukturiertheit des Wissensraums erfahrt durch die Zentrierung (vgl. Hamm 1992) eine solche Strukturierung, daß jene innere Kohärenz entsteht, die transspezialistische Zugänge, Aneignungen und Erhaltungen des Wissens allererst möglich macht. Unter dem Gesichtspunkt der Wissensstrukturen bedeutete diese Konzentration etwas qualitativ anderes, als es die überkommenen ReArrangements jeweils zustande zu bringen in der Lage waren. Das Wissen wurde nach Maßgabe der Nähe zu den neuen systematischen Wissenszentren ausgerichtet. Was den thematischen Komplexen scriptum, gratia, fides nahestand, war wichtig. Je größer die Entfernung zu diesen Zentren, um so nebensächlicher wurden die entsprechenden Wissenspartikel — bis dahin, daß selbst Teile des Schriftkanons kritisch wurden, wie Luthers Aussagen zur „strohernen Epistel" des Jakobus zeigen (vgl. Vischer 1959, Sp. 1120). Diese Wissensentwertung betraf nun gerade zentrale Bestandteile im status quo des Gesamtwissens: Die kirchliche Tradition und das

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Lehramt samt nachgeordneter Hierarchie wurden im Fernbereich zur scriptum lokalisiert; den „Werken" und der hierarchischen Heilsvermittlung erging es entsprechend gegenüber der fides und der göttlichen gratia. Der Glaube als Aneignungsform der Gnade und die Lektüre der Heiligen Schrift als Ort, über den diese Aneignung praktisch werden konnte, setzten nun freilich jeweils voraus, daß der Gläubige eigene Rezeptionsfahigkeiten hatte und sie nutzte. Die religiöse Praxis trat also in den Handlungsbereich des Einzelnen in einer zuvor ungeahnten Weise ein. Diese strukturelle Veränderung verlieh denjenigen Teilen der Bevölkerung, die ihre Interessen in der dichotomischen Wissensverteilung zwischen Klerikern und Laien am wenigsten befriedigt fanden, eine wissensstrukturell herausgehobene Bedeutung. Zahlreiche Gruppierungen des spätmittelalterlichen religiösen Lebens erfuhren so eine erhebliche Aufwertung ihres eigenen Stellenwertes innerhalb der Wissensgesamtverteilung. Die einfache Dichotomisierung hätte sie den Nichtwissenden zugeschlagen. Mit dem ihnen eigenen spezifischen Wissensinteresse ließ sich diese Dichotomie aber nicht mehr vereinen. In der Auseinandersetzung der Orden innerhalb der religiösen Welt des Spätmittelalters hatten die franziskanischen Gruppierungen seit ihrer Entstehung ein innerkirchliches Auffangbecken für all jene Strömungen dargestellt, die mit Pracht- und Machtentfaltung der römischen Kirche nichts anfangen konnten — auch nicht mit ihnen als semiotischen Formen der Wissensrepräsentation. Laienorganisationen wie die der Beginen und Begharden (s. Spies 1998) fanden ihren Anknüpfungspunkt bei den „armen" Orden — nicht ohne die spezifische Pointe, daß deren ideologisch nicht zugestandener, sich faktisch gleichwohl entwickelnder Reichtum durch sie seine Verwaltung fand. Die religiöse Praxis, die von objektiv subversiven Wissensfraktionen ausging, war die einer neuen „Frömmigkeit" (zur Laienfrömmigkeit s. Dinzelbacher/Bauer 1990 und darin Schreiner 1990). Neben den „Werken", in denen solche Frömmigkeit sich konkretisierte, bedeutete solche Frömmigkeit zugleich eine drastische Umakzentuierung der klerikalen, insbesondere der theologischen Wissensbestände: diejenigen Anteile traten in den Mittelpunkt, die für die „praxis pietatis" zentral waren. Eine ganze neue religiöse Literatur entstand, in deren Zentrum Werke wie die „Nachfolge Christi" des Thomas von Kempen standen. Charakteristisch für diese Aneignung und Kontinuierung religiösen Wissens war, daß religiöses Wissen zunehmend gelesen und auch außerhalb des klerikalen Zusammenhangs in schriftlicher Form tradiert wurde. Ein derartiges „Publikum" hatte offensichtlich ein Ulrich von Pottenstein im Auge. Diese Repräsentanz religiösen Wissens bediente sich zugleich der Sprache seiner Leser und Leserinnen, nämlich der Volkssprache. Auch bereits vor der Erfindung des Buchdruckes hat volkssprachliche religiöse

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Literatur hier ihren spezifischen Ort. Durch den Einsatz von Druck und Druckprodukten kam es dann freilich zu jener medialen Veränderung, die Interessen und Möglichkeiten solcher Gruppen entschieden steigerte. Die neue Rezeptionspraxis unterschied sich erheblich von der, wie sie für den klerikalen, insbesondere den im engeren Sinn theologischen Kontext charakteristisch war. Es wurde ein selbstverantwortlicher Umgang mit Wissen erforderlich, der sich aus den Selektionsprinzipien einer in praktische Frömmigkeit eingebundenen Lebenswelt ergab. Die Eigenständigkeit, mit der die neuen Wissensträger sich zur Tradition verhielten, ermöglichte umfassendere Radikalisierungen. In diesen wurden die neuen Wissenszugänge dann auch systematisch entfaltet und programmatisch vertreten. Das Grundkonzept lief auf ein Diktum hinaus, das aus dem ersten Petrusbrief entnommen werden konnte, nämlich auf das „Priestertum aller Gläubigen" (1. Petr. 2,9.; vgl. 2,5. S. weiter Lohse 1961; Prenter 1961). Damit war die Dichotomisierung des Wissens prinzipiell in Frage gestellt und eine neue, verallgemeinerte Zugangsweise zum religiösen Gesamtwissen eröffnet. Dieses bedeutete freilich nicht nur den Ausgang der Massen aus ihrer Ignoranz, sondern zugleich eine Verpflichtung, ihn auch konkret zu vollziehen. Mit anderen Worten: Es wurde zu einem gnoseologischen Imperativ, sich die Mittel zur Aneignung des Wissens zu verschaffen, also — lesen zu lernen. 4.4 Die Visitationsberichte: Kartographie eines Dilemmas War der innere Motor bei jenen Pilotgruppen intrinsisch entwickelt, von denen die Transformation des Wissenssystems ausging, so stellte sich dieser Imperativ für andere Teile der Bevölkerung durchaus problematisch dar. Die Massenalphabetisierung ergab sich nicht gleichsam von selbst, sondern mußte zum eigenen Programm erhoben werden. Bemühungen von Lehrern wie Ickelsamer (Ahlzweig/Ludwig 1998; Elwert/Giesecke 1983), Bemühungen um eine realisierbare Literalisierungspraxis und um die Herstellung von Institutionen, die dazu in der Lage waren, sie durchzuführen, stießen auf vielfältige Widerstände (s. hierzu Schreiner 1984; Knoop 1994). Die Wissensumwälzungen gerieten in die Krise einer problematischen Verallgemeinerung. Dies bedeutete, daß die emphatisch behauptete allgemeine Zugänglichkeit des Wissens in der soziographischen Realität mindestens auf den Widerstand der Trägheit stieß. Die Begrenzungen der wissensakquirierenden Praxis wurden kaum je deutlicher als bei der Konfrontation der Programmatiker mit der Faktizität religiösen Wissens „auf dem flachen Land". War die Sicht, in deren Mittelpunkt eine Universitätsstadt wie Wittenberg stand, war die Sicht, die sich

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aus der Perspektive der Städte und insbesondere ihrer Populationsgruppen ergab, nicht nur durch das Erfordernis, sondern auch durch die Realität der Transformation des Wissenssystems gekennzeichnet, so bot sich, war man aus diesen Zentren heraus, sehr schnell ein völlig anderes Bild. Dies ließ vor allem eines erkennen: eine weitgehende Vernachlässigung, ja Verwahrlosung des religiösen Wissens überhaupt. Die in hervorragender Weise zugänglich gemachten Visitationsberichte (Sehling 1902ff.) sprechen eine deutliche Sprache. Luther selbst nimmt in der Vorrede zum Kleinen Katechismus auf die katastrophale Situation Bezug: Diesen Katechismon oder christliche Lehre in solche kleine, schlechte, einfältige Form zu stellen, hat mich gezwungen und gedrungen die klägliche, elende Not, so ich neulich erfahren habe, da ich auch ein Visitator war. Hilf lieber Gott, wie manchen Jammer habe ich gesehen, daß der gemeine Mann doch so gar nichts weiß v o n der christlichen Lehre, sonderlich auf den Dörfern, und leider viel Pfarrherr fast ungeschickt und untüchtig sind zu lehren, und sollen doch alle Christen heißen, getauft sein und der heiligen Sakrament genießen, können wider Vaterunser noch den Glauben oder zehen Gebot, leben dahin wie das liebe Viehe und unvernünftige Säue und, nu das Evangelion kommen ist, dennoch fein gelernt haben, aller Freiheit meisterlich zu missebrauchen. (K1K S. 501f.).

Die Visitationen wurden seit Mitte der 20er Jahre abgehalten (vgl. zusammenfassend Schwarz 1998, § 39). Möglicherweise gehen sie auf Herzog Johann Friedrich selbst zurück (vgl. Sehling 1902, Bd. 1, S. 33ff.). Seit sie 1527 stattfanden, entwickelten sie sich bald zu einer festen Einrichtung mit einer eigenen schriftlichen Anleitung (vgl. 1528 „Unterricht der Visitatoren"). Durch die Visitationen ergab sich die Möglichkeit, mehr oder minder flächendeckend die institutionellen, aber auch die wissensmäßigen religiösen Zustände zu eruieren und Verbesserungsforderungen zu entwickeln und durchzusetzen. Die Ergebnisse der religiösen Evaluationen waren z.T. geradezu niederschmetternd. Jenes religiöse Wissen erwies sich als nicht vorhanden, und gerade die Pfarrer machten dabei kaum eine Ausnahme. Zur Bearbeitung der Problematik bedurfte es neuer Strukturen. Der Große Katechismus (1529) richtete sich an die letztere Gruppe mit der erklärten Absicht, den Wissensstand der religiösen Lehrer zu entwickeln und zu heben. Damit aber war die massenhafte Verbreitung des erforderlichen Grundwissens noch nicht gewährleistet. Andere Verfahren waren für die Gesamtbevölkerung nötig. Die allmähliche Durchsetzung einer umfassenden religiösen Grundkenntnis sollte eine lange Zeit erfordern. Nur sehr langsam besserte sich der allgemeine Kenntnisstand. Der Kleine Katechismus und seine vielfältigen Be- und Verarbeitungen wurden dafür zu den entscheidenden Werkzeugen. Zwar hieß es noch in der Mitte der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts:

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Das die leute v o m gehör göttliches worts durch die obrigkeiten in unsere ämpter, von denen v o m adel und Stedten zur fröne, verhör ihrer sachen, einnehmung der gefeile, und anderm, das in der wochen wol zuvorrichten gewesen, erfordert, auch durch hasenjagten, und in viel andere wege, vorhindert werden. Nichts weniger werden in den Stedten und dörfern die leute v o m gehör göttliches worts abgehalten durch gest Setzung, drummelschlagen und andere selten, auch karten, kugel und Würfelspiel, krämerei, bierausschroten und fuhren, schützenhöfe, die für endung der früe unnd mittags predigt vorstattet werden. ... Also auch erfahren wir, das zu mehrmalen kinder ihre eitern mit schmerzlichen ungehorsam beleidigen ... (Sehling 1902, Bd. 1, S. 356f.).

Gleichwohl kann in einer mittleren und langfristigen Perspektive die Durchsetzung der Katechismuskenntnis als rundum erfolgreich betrachtet werden. Was sind nun die inneren Kennzeichen dieses Erfolges, bezogen auf die wissenssoziographischen Erfordernisse? 5. Textart Katechismus Wie oben ausgeführt, bedeutete die „Reformation" insgesamt eine Reorganisation des religiösen Gesamtwissens. Die Wissensspezialisten erhielten einen neuen Ort zugewiesen. Sie wurden insbesondere aus ihrer hierarchischen Besonderung herausgenommen. Dies galt für die Mitglieder der klösterlichen Gemeinschaften sogar im ganz wörtlichen Sinn. Aber auch durch die Neubestimmungen der pfarrherrlichen Tätigkeit und durch die Integration der Pfarrer in das weltliche Familienleben veränderte sich ihre Sonderstellung. Der Stellenwert dieser Wissensträger wurde nicht mehr nur in der Relation zum speziellen religiösen Wissen bestimmt, sondern als einer von echten Mittlern zwischen dem religiösen Wissen und den Wissenserfordernissen in der Masse des Volkes. Gerade im erheblich aufgewerteten Institut der Predigt konkretisierte sich diese Veränderung. Für die früheren „Laien" hingegen ergab sich nicht nur die prinzipielle Möglichkeit, sondern auch das unabweisbare Erfordernis der Wissenspartizipation. Damit diese sich realisieren konnte, mußten das Wissen selbst allerdings ebenso verändert werden wie die Zugangsverfahren zu ihm. Die Bibellektüre als Mittel der religiösen Wissensakquisition verlangte neben der prinzipiell durchgesetzten Literalität neue Formen des Umgangs mit komplexen Wissensstrukturen. Vor allem aber war es unumgänglich, daß die Gesamtstrukturierung des Wissens ihrerseits in einer neuen Weise erfolgte. Diese läßt sich mit der oben bereits angeführten Metapher der „Zentrierung" gut beschreiben (s. Hamm 1992 und 1993). Es mußte dem Einzelnen möglich gemacht werden, aus der Fülle der religiösen Gesamtwissensbestände, ihrer Diffu-

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sität und Anordnungsbeliebigkeit herauszukommen und selbst eine Beurteilungskapazität zu entwickeln. Dieser Faktor sollte sich in der Folgezeit als zentral erweisen. Seine Bearbeitung kam so schnell nicht zur Ruhe, wie besonders die Entwicklungen auf dem „linken" Flügel der Reformation verdeutlichen (vgl. Goertz 1978 und Williams 1962). Die Mündigkeit der subjektiven Einschätzung und Beurteilung religiöser Wissensbestände stand selbstverständlich von Anfang an in der Gefahr, das religiöse Wissen zur vollständigen Beliebigkeit werden zu lassen — und ihm damit den Wissenscharakter letztlich zu nehmen. Was Theologen wie Luther und Melanchthon in spezialistischer methodischer Absicherung an neuen Wissensstrukturen erarbeiteten, bedurfte einer solchen Vermittlung, die die argumentativen Wissensergebnisse als neue Strukturierungen erkennbar werden ließ. Nur die Neuorganisation des religiösen Wissens als eines Ganzen konnte eine solche Verallgemeinerung leisten. In der Figur der Zentrierung wurde diese Umstrukturierung vorgenommen. Das dreimalige „solus" ist also keineswegs ein zufälliges Ergebnis, sondern eine gnoseologische Voraussetzung für die Veränderung des Wissenssystems insgesamt. Die Neustrukturierung bedeutete einerseits Kontinuität, indem überkommenes Wissen beibehalten wurde. Sie bedeutete andererseits eine Devaluierung großer Teile des überkommenen Wissens. Ähnlich wie das hierarchisch abgesicherte Personal seinen Stellenwert verlor, verlor auch das von ihm verwaltete Wissen seine Bedeutung. Die Beschimpfungen des scholastischen Schulwissens durch Luther sind ein Indikator und Ausfluß dieses Prozesses. Um Wissenspartizipation in einer Bevölkerungskonfiguration zu ermöglichen, bei der der Anteil des Analphabetismus erheblich war, bedurfte es nun inventiver Entwicklungen, die die überkommenen Tradierungsverfahren qualitativ veränderten. Für die vergleichsweise geringen Wissensmengen der Laien in der spätmittelalterlichen Welt hatten die bildlichen, aktionalen (rituellen) und oralen Vermittlungsformen im allgemeinen ausgereicht. Die Befriedigung des beginnenden Leseinteresses betraf herausgehobene, besondere, wenn auch in Hinblick auf die traditionellen Wissenseigner neue Bevölkerungssegmente. Als eigentlich problematischer Adressatenkreis erwies sich aber die große Gruppe derer, die zu den einfachen Leuten gehörten, nicht oder kaum lesefähig waren und doch den vollen religiösen Wissenszugang haben sollten. Für die polemische Absetzung gegenüber dem römischen Glauben waren Lieder, bildliche Druckschriften und ähnliche Formen zunächst hinreichend (vgl. Scribner 1981). Doch konnten diese konversionsbezogenen kommunikativen Strukturen nicht die Last der tatsächlichen Partizipa-

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tion am religiösen Gesamtwissen in wie immer rudimentarisierter Form tragen. Die charakteristische Traditionslücke zu überbrücken, die sich durch das Auseinandertreten von religiösem Anspruch und der Zugänglichkeit zu seiner Befriedigung aufgetan hatte, wurde zentrale Aufgabe. Bereits für die bei der Verallgemeinerung der Reformation so zentrale Textart der Flugschriften hatte sich die Notwendigkeit gezeigt, neben der eigentlichen Lese-Rezeptionssituation die eines stellvertretenden Lesers zu ermöglichen (Rössing-Hager 1981). Der „Vorleser" half dem des Lesens nicht Kundigen dazu, den Text für sich zur kommunikativen Wirklichkeit werden zu lassen. Eine ähnliche Vermittlungsfigur (bzw. Gruppe von Vermittlern) war für das religiöse Basiswissen erforderlich. In den unterschiedlichen Adressierungen des K1K (s.o.) findet sich die Antwort dafür: Als Vermittler dienen einerseits die Prediger, andererseits die Hausväter, von denen offensichtlich Lesefähigkeit im allgemeinen angenommen wurde und werden konnte. Sie reoralisierten den schriftlichen Text, den sie selbst als solchen und als einen neuen sich lesend aneignen konnten. Anders als bei den Flugschriften war es aber hinsichtlich der Endadressaten nicht mit der einmaligen Rezeption getan. Vielmehr ging es gerade darum, das differenziert entfaltete religiöse Elementarwissen beliebig reproduzierbar und abrufbar zu machen. Dies aber verlangte eine Struktur, die für orale Mnemotechnik praktikabel war. Die Erfordernisse der Mnemotechnik, verbunden mit dem unterschiedlichen Ressourcenzugriff für den Wissensbestand, die klare Verteilung also zwischen zwei Gruppen des Wissenspersonals, fanden in der Aufnahme des elementaren sprachlichen Handlungsmusters von Frage und Antwort seine angemessene Berücksichtigung. So ergab sich für die neu entstehende Textart als Schnittstelle unterschiedlicher diskursiver, textueller und wissensvermittelnder Aspekte eine in ihrer Form neue Struktur. Sie ist als Textart „stilbildend", genauer: prototypisch geworden. Zahlreiche Nachformungen finden sich, und diese gehen bis weit über den religiösen Bereich hinaus. Nicht alle späteren Exemplare der Textart freilich bieten eine entsprechende Dichte und Praktikabilität der textuellen Struktur. Dies wird schon im Vergleich von lutherischem Kleinen und dem Heidelberger Katechismus deutlich, der in seinem sehr viel größeren Umfang etwa die mnemotechnischen Erfordernisse wesentlich heraufsetzt — möglicherweise gerade dadurch aber an Nutzbarkeit einbüßt. Wir finden im Katechismus also eine Form des mündlichen Textes, die zugleich in die Schriftgestalt transponiert wird. Als Text wird dabei eine bestimmte Menge tradierbarer und auf Tradierung abzweckender sprachlicher Handlungen verstanden. Diese können durchaus in mündlicher Form

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zum Ziel kommen (vgl. Ehlich 1983). In diesem Sinn ist der Katechismus auswendig gewußter mündlicher Text, er ist aber zugleich schriftlich und ermöglicht die Loslösung von einer personalen Überlieferungskette, wie sie für die mündlichen Texte unumgänglich ist. Dadurch ist er ein optimales Mittel für eine große, flächenübergreifende und schnelle Verbreitung zur Konsolidierung der neuen Glaubensinterpretationen. Andererseits gewährleistet er eben jene Wissensverallgemeinerung, die in deren Zentrum Hegt. Die einzelnen textuellen Strukturmerkmale der Textart ergeben sich aus dieser komplexen Gesamtsituation. Die sogenannte „Dialogizität" ist die Text gewordene Umsetzung jener diskursiven Struktur, die für die mündliche Textrezeption, -tradierung und -Verbreitung erforderlich ist. Diese dient in der Einziehung eines Gitters von turn-Verteilungen in die zu überliefernde und anzueignende Wissensstruktur jener leichten Nutzung der Textart für die der Schrift nicht Kundigen. In ihrer schriftlichen Form und Verfaßtheit liegt also eine qualifizierte Möglichkeit der permanenten Re-Oralisierung vor. Diese entspricht zudem einer weitgeübten Praxis des entwickelten Lehr-Lern-Diskurses, was ihre Leistungsfähigkeit für das Erreichen der eigentlichen Vermittlungsziele nur vielfach verstärkt und erhöht. Zugleich aber ist gewährleistet, daß eine Erweiterung der Schriftbeherrschung die Textart nicht obsolet macht: War die Verbreitung des religiösen Gesamtwissens in kurzer Zeit für einen großen Kreis von Adressaten in der Dilemma-Situation der Frühphase der Reformation zentral, so wiederholte sich eine strukturell ähnliche Situation in ähnlicher Form in der Wissenstradierung über die Grenzen der Generationen hinweg. Aus einer diatopischen Uberlieferungssituation wird eine generationenübergreifende. Darin liegt die Grundlage für die Kontinuität der Textart und ihren gewaltigen Erfolg in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten. Diese Transformation berührt die strukturellen Merkmale der neuen Textart nicht. Der Katechismus als Textart zeigt also eine sehr spezifische Charakteristik in bezug auf das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Koch/Oesterreicher 1985; 1990): In ihr zeigt sich sozusagen eine Sistierung des Schriftlichkeits-Mündlichkeits-Dilemmas. Die Textart partizipiert in herausragender Weise an beiden Modi des sprachlichen Handelns. Nachdem die Textart einmal in dieser konsolidierten Weise ihren Ort im Rahmen der religiösen Struktur der neuen Kirchenorganisationen gefunden hatte, war sie geeignet, einerseits in einer konfessionell sich strukturierenden Religionswelt vom Wissensbuch zum Bekenntnistext umgewandelt zu werden. Andererseits bot sie sich für die Zwecke der verallgemeinert aufgerichteten Schulen geradezu an und wurde für das

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umfassende Erziehungsprogramm der Reformation vielfach eingesetzt (vgl. Schwarz 1990). Für die Stabilisierung der neuen Wissensdistribution und damit der neuen institutionellen Formen von Religion spielte der K1K eine herausragende Rolle. Neben der Bibellektüre, der Predigt und dem Kirchenlied kommt dieser Textart eine tragende Funktion zu, die sich soweit durchsetzte, daß sie zu derjenigen kommunikativen und wissensvermittelnden Selbstverständlichkeit wurde, von der eingangs die Rede war. Der „Siegeszug", den diese Textart am Beginn der deutschen Neuzeit antrat, erstreckte sich nicht nur auf den primären Bereich seiner funktionalen Entstehung und Kontinuierung, sondern drängte darüber weit hinaus: Spätestens mit Canisius adaptierte sich die römische Kirche die neue Textressource — ohne daß freilich die kommunikativ-wissensbezogenen Grunderfordernisse hier in gleicher Weise vorgelegen hätten. In späteren Zeiten wurde die Textart über den religiösen Zusammenhang hinaus eingesetzt und dabei nicht zuletzt, und, wie mir scheint, in nicht uncharakteristischer Weise insbesondere je neu im Zusammenhang jener revolutionären Bewegungen, die auf ein neues verallgemeinertes Wissen substantiell angewiesen waren, also in der bürgerlichen (vgl. z.B. den „Catéchisme du citoyen", Paris 1794/1795; Lüsebrink 1997) und der sozialistischen Revolution.

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Rom — Reformation - Restauration Transformationen des religiösen Diskurses im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit Zusammenfassung Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit hat durch die religiösen Entwicklungen am Ende des Mittelalters eine tiefgreifende Veränderung erfahren (§ 1). Das Traditionswesen der römischen Kirche, in dem der Mündlichkeit eine grundlegende Bedeutung zukam, wurde — auf der Basis des Buchdrucks und unter Inanspruchnahme seiner neuen Möglichkeiten — im deutschen Protestantismus grundlegend kritisiert. Diese Kritik betraf die Grundorganisation religiöser Kommunikation bis hin zur Trennung von Institutions-Agenten (Klerikern) und Laien sowie zur Rolle von Universal- (Latein) und Regionalsprache (§ 2). Die lutherische Reformation erfaßte sukzessive die verschiedenen Aspekte des kommunikativen Geschehens (§ 3). Die Umwälzungen setzten sich jedoch nicht vollständig um. Die Ambivalenz in der Durchführung des neuen kommunikativen Programms führte in der Zeit der altlutherischen Orthodoxie geradezu zu einer Restauration insbesondere im Blick auf den kommunikativen Stellenwert der kirchlichen Amtsträger, so daß es neuer Anstöße bedurfte, um die kommunikative Praxis weiter mit den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen in Übereinstimmung zu bringen (Pietismus; Entwicklung einer deutschen „NationaT'-Literatur) (§ 4).

1. Vorbemerkung Die Reformation hat eine tiefgreifende Veränderung für die Rolle von Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb der Kirche und damit innerhalb der politischen Organisations formen der gesellschaftlichen Gruppen, die sie vorangetrieben haben, mit sich gebracht; zugleich ist die Reformation Ausdruck und Folge einer solchen Veränderung. Gegenüber der westlich-römischen wie gegenüber der östlich-orthodoxen Form der christlichen Religion ist es diese Veränderung, die die religionsinterne

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Basis für die Neuorganisation der reformatorischen Kirche im religionssoziologischen Sinn bildet. Im Zusammenhang des Umbruchs von der Welt des Mittelalters in die „Neue Zeit" ist sie der Ort der entschiedenen Modernität der Reformation. Die Reformation ist auf das engste mit der Erfindung der Buchdruckerkunst verbunden; sie funktionalisiert das neue Medium für ihre Zwecke, und der Buchdruck hat in der reformatorischen Bewegung einen ersten zentralen gesellschaftlichen Bewährungsbereich, der die Produkte der neuen Technik weit über die herkömmlichen Adressatengruppen der bloßen eruditi hinaus Verbreitung erfahren und das Druckgewerbe in seiner sich herausbildenden Mannigfaltigkeit von produktiven und distributiven Formen zu einer Angelegenheit jenseits der an Traditionsvermitdung interessierten Kreise werden ließ. Eine Geschichte der reformatorischen Bewegung mit Blick auf diese Zusammenhänge und damit eine Rekonstruktion der konkreten Vermittlungsglieder zwischen den religiösen und den gesellschaftlichen Zusammenhängen ist noch immer ein Desiderat. Die folgende Untersuchung versteht sich als ein Beitrag dazu.1

2. Rom: Universale Latinität des Klerus, Sprachlosigkeit der Laien 2.1 Der Klerus In der mittelalterlichen Kirche des Westens hatte sich — als Ergebnis eines komplexen Prozesses, der seinen Anfang bei der frühchristlichen Kirche genommen hatte — eine Zweiteilung des Uberlieferungsprozesses herausgebildet. Auf der einen Seite stand der populäre Teil der Lehrüberlieferung. Dieser entfaltete sich in der Form narrativer Gattungen, insbesondere der Legende. Auf der anderen Seite findet sich der theologische Traditionsprozeß im theologischen Schulbetrieb. In ihm ist die dogmatische Überlieferung präsent. Der theologische und der populäre Traditionsprozeß weisen in jeweils spezifischer Weise ein eigenes Verhältnis von mündlicher und nicht-mündlicher Form ihrer Entfaltung auf. In der dogmatischen Traditionsübermittlung ist die Doppelheit von mündlicher und schriftlicher Form zu beobachten. Beide Formen sind begründet in der 1

Eine erste Fassung dieses Papiers wurde im Rahmen des Arbeitskreises „Geschriebene Sprache" bei der Reimers-Stiftung (Bad Homburg) vorgetragen. Eine gekürzte italienische Fassung ist in: Formigari/Di Cesare (1989, S. 9 0 - 1 0 6 ) erschienen. Die wichtigen Arbeiten Gieseckes (1991; 1992) erschienen nach Fertigstellung des Manuskripts. A u f sie kann hier nur verwiesen, leider jedoch noch nicht im einzelnen Bezug genommen werden.

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Traditionsverbürgung, die die Hierarchie der Kirche bietet. Die Legitimität der kirchlichen Lehre beruht auf der ungebrochenen Kontinuität der Bischöfe, insbesondere der Bischöfe von Rom. Diese personal-institutionelle Fundierung der Lehre wirkt sich auch für die Träger des theologischen Denkens aus, die ihrerseits Teil von ihr sind, da sie im allgemeinen selbst dem Klerus zugehören. Die personell-institutionelle Sicherung ist zugleich in ihrer jeweiligen Gegenwart die präsente Erscheinungsweise der mündlichen Tradition, die durch die personale Kontinuität über jeden Zweifel erhaben ist. Daneben steht das kanonisch gewordene göttliche Wort Alten und Neuen Testaments, also die schriftliche Form der Tradition. Diese Zweiteilung mit der ihren Teilen gemeinsamen Basis ist die Fortschreibung der Uberlieferungsbestimmung, wie sie bereits die Kirche im zweiten Jahrhundert im antignostischen Abwehrkampf gegeben hatte (Irenäus, adversus haereser, cf. von Campenhausen 1968; Adam 1965). Sie trägt ausgesprochenen Kompromißcharakter. Der Kompromiß erwies sich als geeignet, die Probleme mit der Tradition und ihrer Legitimität nicht nur für die Zeit, in der er erarbeitet wurde, sondern für die folgenden zwölf Jahrhunderte hinreichend zu beantworten. Allerdings bildete sich für die Funktionszuschreibung von mündlichen und schriftlichen Anteilen der Tradition im Fortgang des Traditionsprozesses eine zusätzliche Differenzierung heraus, die einerseits die Schrift vermündlichte, andererseits schriftliche Elemente in die mündliche Traditionsvermittlung integrierte: Die schriftliche Tradition erfuhr ihre Aktualisierung in der mündlichen Form der Auslegung; die mündliche Tradition wurde angesichts ihres stetig wachsenden Umfangs ihrerseits verschriftlicht. Besonders der zweite Prozeß erwies sich als gravierend, da er mit dem Übergang zur mittelalterlichen lateinischen Tradition (5. Jahrhundert) das dogmatische Denken zunächst für Jahrhunderte in die bloße Repetition führte (cf. Adam 1968). Als mit der Entfaltung des theologischen Denkens an der Schwelle zum Hochmittelalter neue Fragestellungen aufkamen (ebd.), war die Produktivität im wesentlichen auf sie beschränkt. Ihre Beantwortung erfolgte hingegen weiterhin in den überkommenen Bahnen. Die Antworten mußten nämlich im Arrangement bzw. Rearrangement der Überlieferungsbestände gefunden werden. Dabei trat die verschriftlichte mündliche Tradition gegenüber der Schrift in den Vordergrund; der Unterschied zwischen beiden Formen der Schrift galt als weitgehend eingeebnet. Die dogmatische Tradition gewann dabei — nicht zuletzt aufgrund ihrer größeren Nähe zu den jeweils gegenwärtigen Fragen — die Überhand. Hinsichtlich der kanonisierten Schrift hingegen wurden explizite Verfahren für die Vermündlichung entwickelt, die schließlich in der Entfal-

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tung der alexandrinischen Exegese gegenüber der antiochenischen resultierten. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn ist der schließlich systematisierte Ausdruck dieser Verfahrenslehre. Für alle Formen des theologischen Denkens wie des kirchlichen Handelns gab es innerhalb der römischen Kirche eine einheitliche sprachliche Form: die Bibel existierte in der als vulgata verallgemeinerten lateinischen Ubersetzung des Hieronymus (vgl. aber Thiele 1957, Sp. 1196), die sich gegenüber älteren lateinischen Übersetzungen durchsetzte; die älteren Überlieferungsbestände waren gleichfalls ins Lateinische übersetzt oder von Anfang an auf lateinisch (aufgeschrieben worden. Die Sprache der Kirche in den dogmatischen Bestimmungen (von den religiösen bis zu den rechtlichen Fragen) wie in der Liturgie war gleichfalls das Lateinische. Diese Sprache war so das unproblematische Medium der theologischen Diskurse in all ihren Formen wie der kirchlichen Praxis. Darüber hinaus war das Latein zugleich die Sprache jedes die engen Bande unmittelbarer Lebenszusammenhänge übersteigenden gesellschaftlichen Wissens. Der Zugang zum zweiten Stand — und damit zum Wissen — war somit unentkoppelbar an den Erwerb des Lateinischen gebunden, das bereits zu Beginn der mittelalterlichen Welt niemandes Muttersprache, aber die Umgangssprache jedes am Traditions- und damit am Wissensprozeß Partizipierenden war. Sprache wurde damit in einer Radikalität Mitgliedschaftsausweis für einen Stand, wie sie selbst in einer diglossischen Situation selten ist. Ähnlich wie die komplizierte altägyptische Schrift beamtenkonstituierend war, so wurde jetzt die lateinische Sprache zur faktischen ideologischen Grundlage für den Klerus. Die Sprachlichkeit der (westlichen) Reichskirche war in der schriftlichen und mündlichen Tradition inkorporiert; diese personalisierte sich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch im Klerus, dessen Tätigkeit wiederum zentral sprachliches Handeln in dieser Sprache war. Damit war ein zirkulärer Fundierungszusammenhang hergestellt, der gegen Infragestellungen weitgehend gefeit war. Die erstaunliche Beständigkeit, die Kontinuität und Immunisierung gegen Infragestellungen erweist, wie gerade diese Zirkularität die Fundamente nur umso fester gefügt hatte. 2.2 Die Laien Anders stellte sich die Situation für den populären Teil des Traditionsprozesses dar. In ihm war die für die Institution Kirche fundamentale sprachliche Basis um so weniger gegeben, als sich die Institution über immer weitere Teile Europas ausbreitete und zugleich die lateinische Sprache, die noch am Ende der Antike durchaus Verkehrssprache im (west-)

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römischen Reich war, zunächst „vulgarisiert" wurde, sich also von der kanonischen Varietät entfernte, um anschließend in eine Menge sich eigenständig weiter entwickelnder Varietäten zu zerfallen. Mit dem Voranschreiten dieses Prozesses verlor auch für die ehemals lateinischen bzw. latinisierten Regionen der theologische Diskurs die Zugänglichkeit für das Volk; der dem Volk Zugehörige, der laikos, wurde zum Gegenkonzept für den Kleriker, dem ein „Anteil" (kleros) an der institutionellen Struktur in der aktiven Partizipation zukam. Doch nicht nur der theologische Diskurs wurde den Laien unzugänglich, auch die kirchliche Praxis als eine in wesentlichen Teilen sprachliche Praxis innerhalb der Liturgie geriet in die Gefahr gleicher Unzugänglichkeit. Hätte sie sich realisiert, so wäre als Folge eine andere, prinzipiell für das kirchliche System fatale zweite Gefahr nur schwer zu vermeiden gewesen: die Ablösung der Massen von der Institution. Dies hätte bedeutet, daß die fundamentale Funktion der Kirche, wie sie sich zwischen der Konstantinischen Wende und der faktischen Übernahme der staatlichen Funktionen durch die Kirche in Rom nach 410 herausgebildet hatte, nicht mehr hätte wahrgenommen werden können, nämlich die integrative Subsumtion unterschiedlicher Gruppen in eine übergeordnete Struktur. Die Antwort auf diese Problematik war doppelt. Hinsichtlich der elementaren Lehrelemente, deren Vermittlung an alle Mitglieder der Kirche als notwendig erschien, für die also eine propositionale Struktur und damit ein Sprachverständnis unumgänglich waren, war die Umsetzung in die jeweilige lokale oder regionale Sprache erforderlich. (Im Missionszusammenhang stellt sich diese Problematik komplexer dar, doch gehe ich darauf hier nicht ein.) Diese Vermittlung konnte an Textformen anknüpfen, die in der binnenpropagandistischen Expansion der frühchristlichen Kirche ihren Anfang hatten und bereits damals zu einem wichtigen Mittel der Gruppenerhaltung und der Gewinnung neuer Mitglieder geworden, ja, geradezu für diese beiden Funktionsbereiche entwickelt worden waren: Geschichten von exemplarischen christlichen Lebensläufen. MärtyrerAkten (von Campenhausen 1960) und später die Heiligenlegenden dienten diesen Zwecken, wobei nach der Christianisierung einer Region die äußere Mission als Zweckbereich entfiel; die Umwandlung von der Geschichte des exemplarischen Zeugnisses (martyria) zur Geschichte von der exemplarischen Frömmigkeit war damit ebenso naheliegend wie leicht zu bewirken. Diese Geschichten waren ihrer Struktur nach wesentlich Texte (Ehlich 1983a), das heißt in feste Formen gebrachte sprachliche Produkte, die vielfältig reproduziert werden konnten; und sie waren wesentlich mündlich. Denn nicht nur fehlten den Adressaten im allgemeinen die Fähigkeiten des Lesens, sondern noch fundamentaler: für viele der Sprachen, in denen die Geschichten zu erzählen waren, gab es noch keine Verschriftli-

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chungsformen, und die ersten Ansätze zur schriftlichen Tradition fundamentaler Heils-Geschichten sind vielfach zugleich die ersten Problemlösungen für die Verschriftlichung der jeweiligen Sprache. 2.3 Der Kultus Diese doppelte A-literalität der Adressaten Schloß zugleich weithin die Doppelung der Tradition in mündliche und schriftliche Formen aus. Die nicht-mündlichen Formen mußten deshalb in anderen semiotischen Bereichen als der Schrift gesucht werden, soweit sie überhaupt als erforderlich angesehen wurden. Dies war der Fall für die zentrale inhaltliche Transmission der allgemeinen religiösen Lehre in die individuellen Biographien der Gläubigen, das heißt für den Kultus. Das kultische Geschehen, in fast allen Worten lateinisch, mußte auf ein mehr oder minder semiotisches Exekutieren des Ritus zurückgenommen werden, was weder in der griechischen noch in der lateinischen Liturgie angelegt oder gar angestrebt war und in nicht unerheblicher Spannung zu fundamentalen Traditionselementen stand. Hierfür boten sich zwei Wege an: der der Bilder und der der kultischen Repräsentation des Heils im mysteúum, also die kultische Handlung als isolierte Heilsvergegenwärtigung. Beide Wege bedurften der Sprache allenfalls als kultisch transformierter Elemente, die gerade in ihrer Unverständlichkeit den Geheimnischarakter des kultischen Geschehens verstärkten bzw. — als Anzeichen für die Faktizität des Sprechens — in den Sprachbändern und, in Entsprechung zur kultischen Transformation des Wortes in den kultischen Dromena, als zur Hieroglyphe transformiertes semiotisches Indiz in den Abkürzungen der Ikonen. 2.4 Die Sprache Das Bild, das die römische Kirche mit Blick auf die Sprache eröffnet, ist also ein ziemlich komplexes. Während die Laien über spezifische laienbezogene Textformen an den Inhalten der kirchlichen Lehre teilhaben, ist der Frömmigkeitsvollzug im Kultus auf eine sprachlose semiotische, anschauende Partizipation an den zentralen Heilsereignissen beschränkt. Der Klerus hingegen ist eingebunden in die theologischen Diskurse, die die — schriftlich und mündlich verfaßte — Tradition exekutieren und so die Bearbeitung des Vergessens als der eigentlichen Bedrohung des erreichten Standes institutionalisierter Religion leisten. Zugleich exekutiert er den

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Kultus, indem er die Riten als die sinnlich wahrnehmbare Partizipationsmöglichkeit der Laien inszeniert. Die Organisationsform der Traditionsweitergabe in den theologischen Diskursen geschieht in einem komplexen System der Ausbildung zum Kleriker, das vom Erwerb der Lateinkenntnisse über mönchische bis hin zu universitären Strukturen institutionalisiert wurde. Grundlage der einen Religion ist ihre Fundierung in der einen, die (westliche) Ökumene verbindenden gemeinsamen Sprache, in der die schriftliche und die mündliche Tradition verfaßt sind, in der die theologischen Diskurse geführt werden und in der der Kultus sich ereignet. Die einheitliche Sprache ist die kommunikative Grundlage der einheitlichen Religion, diese ist die Form, innerhalb derer die feudalen Einzelstrukturen sich entfalten können. Die einheitliche Sprache bindet die verschiedenen Gruppen: die eine, die der Kleriker, positiv, indem sie deren Verständigungsmittel ist, die andere, die der Laien, negativ, indem sie zum unpropositionalen Zeichen innerhalb des Kultus wird und so die vom Diskurs Ausgeschlossenen als Partizipanten einschließt. Die propositionale Sprachlosigkeit des Kirchenvolkes erfordert also einen stark entwickelten Kultus, in dem die Heilsteilhabe anderweitig angeboten werden kann.

2.5 „Fronleichnam" Dies schlägt sich in der eigentlichen Erweiterung des dogmatischen Bestandes im Mittelalter nieder, die ja nicht von der reichlichen theologischdisputierenden Entwicklung des theologischen Schulbetriebs, der Scholastik, her bestimmt ist, sondern genau am für das katholische System zentralen Punkt der Heilspräsentivierung entwickelt wurde, der 1215 auf dem 4. Laterankonzil verkündeten Lehre von der Transsubstantiation. Sie, die innerhalb der intensiven theologischen Diskussion ihrer Zeit eher am Rande zu stehen scheint, betrifft den entscheidenden Vermittlungspunkt, in dem sich die verschiedenen Aspekte der kommunikativen Struktur innerhalb der römischen Kirche vereinigen. Die Dogmatisierung dieses Zusammenhangs ist also alles andere als zufällig oder peripher. Gleiches gilt von der weiteren Entfaltung der Transsubstantiationslehre in der Volksfrömmigkeit, die — besonders in den germanischen Teilen des römischen Kirchengebiets - zum Fest „Fronleichnam" führt und in ihm ihren manifestesten Ausdruck findet (Heiler 1958). In ihm wird die Laienpartizipation am kultischen Prozeß sogar jenseits des kultischen Raumes ermöglicht, indem das Heilige in der Monstranz sinnenfällig in die Lebenswelt der — vorwiegend agrarisch sich reproduzierenden — Laien getragen wird: die Einführung der Prozession im Fronleichnamsfest

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schließt sich dessen allgemein-kirchlicher Verbreitung (1264 durch Urban IV.) unmittelbar an.

2.6 Desintegration Die Gefahren der Desintegration gehen innerhalb dieser Institutionalisierung deutlich von den Rändern aus: Dies gilt zunächst für die inhaltliche Einbindung der Laien, die an die lokale oder regionale Sprache geknüpft ist. Die nichdateinischen Sprachen wirken sich destabilisierend aus. Diese Dezentralisierungstendenzen beschränken sich sodann aber nicht nur auf die Sprache, sondern gelten allgemein für die Ränder der römischen Welt. Die Auseinandersetzungen von Gruppen mit der römischen Kirche, die anders als die Katharer innerhalb des christlichen Zusammenhangs bleiben, entfalten sich als solche dezentralisierenden Kräfte, die von unterschiedlichen Abschnitten der Peripherie aus die Einheit der (westlichen) Reichskirche in Frage stellen. Die erste dieser Bewegungen beginnt jenseits des römischen Zentrums, aber in seiner Nähe, nämlich in Ostfrankreich und in Italien selbst in der Lombardei; Ausgangspunkt der Bewegung ist die Predigt des Petrus Valdes in der Volkssprache in Lyon am Ende des 12. Jahrhunderts. Diese Bewegung kann sich auf Dauer insbesondere an den Grenzen der Romania halten, wo der Zugriff der verschiedenen Institutionen der Zentralkirche erschwert ist. Die folgende Bewegung betrifft ein germanisch-romanisches Gebiet, nämlich England (Wycliffe), und im slawischen Bereich die hussitische Bewegung, die theologisch und kirchenpraktisch den Zentralisierungsanspruch Roms bestreiten. Die theologischen Kontroversen nehmen ihren Ausgangspunkt bei der Verweltlichung der römischen Kirche, die ein praktisches Ergebnis der Zentralisierung ist. Sie betreffen dann aber — und dies zunehmend — die zentralen Bereiche der römischen Theologie: die Trennung der Kleriker von den Laien im Blick auf die zentrale Heilspartizipation (den „Laien-Kelch") und den Entzug der Heilstradition durch die Barriere, die in der nicht-indigenen sprachlichen Verfaßtheit der Traditionsprozesse errichtet ist; das heißt: es wird die Übersetzung der Bibel in die regionale Sprache vehement verlangt und — entgegen den ebenso vehementen römischen Protesten — durchgesetzt. Die Bibelübersetzung in nicht-lateinische Sprache ist also wesentlich mehr als eine zusätzliche, für die theologischen Auseinandersetzungen aber letztlich gleichgültige Tätigkeit der („Vor-")Reformatoren an den Rändern der römisch geprägten Welt; vielmehr handelt es sich um den Kern der Auseinandersetzungen

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zwischen Peripherie und Zentrum. Die Sprache spielt also eine zentrale Rolle; die Auflösung des Allgemeinheitsanspruches der lateinischen Sprache für die Heilsvermittlung ist stärkster Ausdruck der Infragestellung des römischen Gesamtanspruchs. Indem dieses Fundament der religiösen Institutionen ins Wanken gebracht wird, geraten die Institutionen als ganze, gerät die Scheidung von Klerikern und Laien und damit die Funktionalität des zweiten Standes für den Erhalt des feudalen Systems in die Krise.

3. Reformation Keiner der genannten Bewegungen war ein durchgreifender Erfolg in der Organisation der regionalen Interessen beschieden. Die Zentralkirche reagierte vielmehr mit der Doppelstrategie, die gegenüber den Katharern entwickelt worden war, physischer und psychischer Vernichtung der Gegner einerseits, Integration der Reformbewegungen in den „katholischen" Diskurs, soweit das ohne die prinzipielle Gefährdung seiner Grundlagen möglich war, andererseits (Franz von Assisi). Erst mit der deutschen Reformation änderte sich diese Situation grundlegend. Anders als in den anderen Zusammenhängen erwies sich eine religiöse Bewegung als adäquates Ausdrucksmittel für eine — hier frühbürgerliche — Revolution, die ihrerseits ein Stück weit in Ubereinstimmung mit regionalistischen Interessen stand, so daß die geistliche Zentralgewalt in Rom genausowenig in der Lage war, diese Bewegung dauerhaft zu unterdrücken, wie die weltliche, der Kaiser. Wie stellt sich die Reformation im Licht der bisher entwickelten Fragestellungen dar? 3.1 Luther Aus der Breite der reformatorischen Bewegungen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts greife ich hier die lutherische heraus; die anderen, die mit den Namen Zwingiis oder Calvins verbunden sind, haben jeweils ihre eigenen Voraussetzungen und ihre eigenen Formen, die einer selbständigen Darstellung bedürften. Allerdings haben die verschiedenen reformatorischen Bewegungen ihre gemeinsamen Kennzeichen, die ihre gemeinsame Qualifizierung erlauben. Luther 2 hat alle Teile des römischen Konzepts in Frage gestellt. Damit hat er ein völlig neues kommunikatives Modell für das kirchliche Handeln 2

Vgl. allgemein etwa Holl (1927); Bornkamm (1961); Adam (1965); Oberman (1982).

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entwickelt. Von den drei sola ist hierfür das sola scnptura von primärer Relevanz. Während das sola gratia das aktive göttliche, das sola fide das rezeptive menschliche Handeln umschreibt, betrifft das sola scriptum die Gesamtstruktur des römischen Traditionskonzepts und damit die Gesamtstruktur der römischen Kirche. Dies soll im folgenden näher ausgeführt werden. In der römischen Kirche galt als die Grundlage der theologischen Verantwortung des Religionssystems die Tradition, die ihre spezifisch mündlichen und ihre spezifisch schriftlichen Formen hatte (s.o.). Der theologische Diskurs war sowohl in diese Tradition selbst mit einbezogen wie auf die — mit durchaus unscharfen Grenzen — schriftlich vorhandene und mündlich präsent gemachte biblische, patristische und kanonische Tradition gegründet. In der dialektischen Technik des sie et non (Abaelard) wurde die Tradition auf ihre scholastische Relevanz hin argumentativ überprüft, eine Form des Theologisierens, die nicht nur in den „spitzfindigen" quaestiones disputatae die Tendenz zu einer Verselbständigung, ja Verabsolutierung des theologischen Diskurses mehr als einmal zeigte. Das Widerspruchsbewußtsein schärfte sich in dieser jahrhundertelangen disputativen Praxis in einer Weise, daß sie in spätscholastischer Zeit zu radikalen (besonders in England, aber zunehmend auch in Deutschland (Thomas von Erfurt)), von der theologischen Gesamttradition nur noch mühsam eingefangenen Kritiken an fundamentalen Bestandteilen der Tradition, ja der Theologie und den Bedingungen ihrer Möglichkeit führte. Im selben Maße, in dem sich die Tradition nicht mehr in der Praxis des Diskurses selbst als letzter ratio seines und damit ihres Bestehens auffangen und als „wahr" erweisen ließ, wurde die Suche nach Auswegen aus den Dilemmata der Traditions-Widersprüche dringlich. Während die radikale nominalistische Antwort bis hin zur salvatio in der Lehre von der doppelten Wahrheit Zuflucht suchte, um ihre Praxis des Widerspruchs noch innerhalb der Grenzen der römischen Kirche betreiben zu können, wurde in anderen Zusammenhängen die Einheitlichkeit der Gesamttradition in Frage gestellt und ihre lose Kanonizität durch eine Radikalisierung der Kanonfrage hinterfragt. Aufgrund der inneren Struktur der vielfältigen Traditionsbestände, die in der immer nur partiellen Aktualisierung im mündlichen theologischen Diskurs in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit koexistieren konnten, war dies ein in sich selbst naheliegendes Verfahren — dem freilich ein zentraler Umstand entgegenstand: die Dignität eben dieser Tradition in ihrer Gesamtheit. Das Verfahren also konkret zu entwickeln, bedurfte einer Radikalität, die in der bloßen disputativen sprachlichen Tätigkeit des Schulbetriebs kaum aufzubringen war. Erst, indem die Widersprüchlichkeit existentielle Krisen produzierte, das heißt: als solche erfahren wurde, war die Beruhigung bei einem — mehr oder minder scharfsinnigen — re-

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spondeo dicendum, wie es die ^»««/zo-Behandlung des theologischen Schulbetriebs vorsah, unmöglich geworden. Eine derartige Erfahrung hatten bereits Teile der „vor"-reformatorischen Bewegungen gemacht — und zwar im Widerspruch zwischen kirchlicher Lehre und kirchlicher Praxis. Dadurch war ihr Protest motiviert — und dadurch erschöpfte er sich zugleich in einer solchen Weise, daß die innere Struktur der Tradition davon nur vergleichsweise am Rande berührt wurde. Anders bei Luther: Die existentielle Krise betraf diese innere Struktur selbst, die zentrale Frage nach dem Heil. In bezug auf diese Fragestellung war die Antwort der „Schrift" eine andere als die „der (kirchlichen) Tradition", die in einer selbstkarikierenden Weise von den fleißigen Geldeinsammlern des Papstes in der Frömmigkeitspraxis zum Nutzen des Wohlstandes der römischen Kirche exploitiert wurde. Diese existentiell aktualisierte theologische Problematik beruhigte sich nun nicht mehr bei einem non liquet, im Aufsuchen einer Nische des kirchlichen Lehrgebäudes. Aufgrund der vielseitigen Verunsicherung dieses Lehrgebäudes innerhalb des theologischen Diskurses selbst konnte die existentielle Radikalität in eine theoretische umschlagen und innerhalb des theologischen Diskurses zu einer Lösung vorangetrieben werden. 3.2 Ad fontes Sie fand eine wesentliche Voraussetzung in einer Entwicklung vor, die, weit entfernt von aller solcher Radikalität, in den zurückliegenden 60 Jahren zu beobachten gewesen war: der Bewegung, die als Teilbereich der bereits längere Zeit aktiven „humanistischen" Bewegung einen schlechthin erstaunlichen Nutzen aus dem politischen Fiasko des östlichen Teils der alten Reichshälfte 1453 gezogen hatte. Durch die Emigranten aus Byzanz war die Westkirche mit den griechischen Traditionsbeständen konfrontiert worden. Die früheren derartigen Konfrontationen hatten zu genuinen Bearbeitungen geführt. Nun aber wurde die Existenz einer griechischsprachigen Tradition in einer ganz grundsätzlichen Weise zur Bedrohung für das lateinischsprachige Fundament der römischen Traditionsvermittlung. Der Westen, der selbst in einer Situation des Umbruchs — besonders in Italien mit seinem Übergang zur entwickelten Geldwirtschaft — war, erhielt eine unabweisbare Evidenz dafür, daß die Grundlagen der eigenen Traditionsargumentation offenbar sekundären Charakters waren. Die Antwort war eine Bewegung, die sich selbst als „Wiedergeburt" erfuhr, die Renaissance. Die Wiedergeburt betraf eben die Grundlagen des Traditionswesens in all seinen Aspekten, die römische Antike einerseits, die griechische Basis der christlichen Überlieferung andererseits. In

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schneller Folge entstand ein blühender humanistischer Betrieb, der diese Wiedergeburt in bezug auf die ursprünglichen lateinischen Referenztexte bewirkte und gleichzeitig die Beschäftigung mit der griechischen Sprache massiv beförderte. Eine neue Metapher faßte alles zusammen, was die Humanisten zentral bewegte, die Metapher der Quelle. Adfontes!, so lautete die Parole, der sich die Bewegung verpflichtete. Das Latein der Kirche, das allgemeine Kommunikationsmittel des zweiten Standes und damit derjenigen, die sich mit dem Wissen befaßten, erwies sich als sekundäres Surrogat. Eine neue Schicht von Intellektuellen entstand jenseits der kirchlichen Strukturen. Im Buchdruck fand sie eine genuine Möglichkeit der Reproduktion, die sie von kirchlichen Ressourcen unabhängig machte. Diese neue Bewegung wirkte schnell in den zweiten Stand hinein. Teile des Klerus, besonders an den Universitäten, beteiligten sich an ihr und entwickelten die Kritik an Rom vor allem mit Blick auf die fontes der kirchlichen Tradition. Das griechische Neue Testament, vom Humanisten Erasmus in einer für die damalige Zeit philologisch verläßlichen Version dem theologischen Schulbetrieb zugänglich gemacht, wurde emphatisch als eigentliche Grundlage der exegetischen Arbeit entdeckt (auch wenn die Praxis dieser Exegese und der sich daran anschließenden Übersetzungstätigkeit noch immer weitgehend dem Vulgata-Text verpflichtet blieb, den die professionellen Theologen weithin auswendig wußten). Die Beschäftigung mit der griechischen Ursprache ermöglichte nun schnell die Erkenntnis, daß gerade in bezug auf die existentiell drängenden theologischen Fragestellungen zwischen der römischen Tradition und diesem Urtext unüberbrückbare Differenzen bestanden. Dies warf die Frage nach der Legitimität des römischen Traditionsprozesses auf, und sie erwies sich sukzessive als ein entscheidender Hebel für die Entwicklung, die schließlich das mittelalterlich-katholische Institutionengefüge zum Einsturz brachte. An seine Stelle trat eine neue ideologische und institutionelle Struktur, die die Religion den sich entwickelnden frühbürgerlichen Ansprüchen anpaßte. Diese Ansprüche entfalteten sich nördlich der Alpen diesmal — und darin unterscheidet sich die Reformation von den früheren Reformbewegungen — in einer Heftigkeit und in einem Umfang, die die Abdrängung in sektenhafte Sonderformen nicht mehr erlaubten. 3.3 Sola scrip tura Den Konflikt zwischen römisch-mittelalterlicher Tradition und den fontes der christlichen Religion, der Bibel als der „heiligen Schrift", löste Luther dadurch, daß er die christliche Religion kritisch sola scriptum gegründet sein

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sah. Damit hatte er eine Basis gefunden, die ihm — unter Beibehaltung des mittelalterlichen Autoritätsprinzips — eine Kritik an der Autorität des konkreten Vermitdungsprozesses, dem Klerus mit dem Papst als seinem obersten Repräsentanten, möglich machte. Im Prinzip sola scriptum wurde die mündliche Tradition (ebenso wie die verschriftlichte „mündliche Tradition" der patristischen Zeit) grundsätzlich diskreditiert. Damit löste sich der Kompromiß auf, der von Irenäus in der antignostischen Polemik gefunden worden war: nicht mehr die Doppelheit von legitimierter mündlicher Traditionskette und Schrift, sondern nur noch letztere war als Autorität anzuerkennen. So war das Christentum definitiv zu einer Religion geworden, die — mit dem Terminus bezeichnet, der im Mittelpunkt der sich gerade abspielenden technischen Revolution stand - „Buch"-Religion ist. Der Bezug auf das griechische Neue Testament hatte freilich noch nicht die Gesamtheit der Quellen erreicht, aus denen sich die christliche Religion speiste: für das Alte Testament war eine weitere Sprache relevant, die hebräische. Sie war noch wesentlich schwerer zugänglich, obwohl auch hier im Rahmen der humanistischen Bewegung in der christlichen Welt (neben der jüdischen Welt und unter Bezug auf sie) Vermitder entstanden waren, die die hebräische Bibel dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich machten (insbesondere Johannes Reuchlin und Sebastian Münster). Prinzipiell gesehen bedeutete die Einbeziehung des Hebräischen also über die des Griechischen hinaus nichts Neues. Doch ließ sie den Bruch zu den bisherigen kirchlichen Repräsentanten — auch an den Universitäten — in einer Radikalität manifest werden, daß er von katholischer Seite erst in jüngster Zeit einer durchgreifenden Bearbeitung zugänglich wurde. Der Erwerb des Hebräischen, neben dem des bereits hinreichend schwierigen Griechischen, stellte Anforderungen an die universitären Repräsentanten des Klerus, die offenbar lediglich im Rahmen des revolutionären Aufbruchs zu erfüllen waren, die Vertreter der Tradition jedoch weitgehend überforderten. 3.4 Mündige Christen Die Diskreditierung des Lateinischen in der Bewegung ad fontes, zu den Ursprachen Griechisch und Hebräisch, betraf nun freilich nur eine Seite des religiösen Vermittlungsprozesses. Diese Seite bezieht sich auf den innertheologischen Diskurs und damit auf die Kommunikation des Klerus. Große Teile des Klerus fielen aus dem theologischen Diskurs heraus. Mit der Rolle des Latein wurde auch ihre Rolle in Frage gestellt. Nur eine

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kleine Gruppe von Spezialisten war in der Lage, die authentische Tradition zu kennen und zu interpretieren. Damit war die klerikale Seite des mittelalterlichen Traditionsprozesses im Prinzip aufgehoben - wobei die Qualifizierung „im Prinzip" unterstrichen werden muß, denn die Praxis sah bald wieder anders aus (s. unten). Von fast noch größerer Auswirkung war die reformatorische Bewegung aber für den Teil des religiösen Gesamtzusammenhangs, der im Mittelalter den Gegensatzbereich zum Klerus ausmachte, das „Kirchenvolk", die Laien. Sie, also die Masse der Population, die große Zahl einer sich immer stärker differenzierenden Gesamtgesellschaft, erfuhren im (zeitlich versetzten) Übergang durch das Spätmittelalter in die „neue Zeit" eine erhebliche Umstrukturierung: das agrarisch-feudale System setzte aus sich frühe bürgerliche Strukturen heraus, neben das „Land" traten die „Städte", die — besonders mit Blick auf den sich entfaltenden Handel — einen völlig neuen Stellenwert erhielten. Kommunikationsformen und -mittel, die die Lokalität übergreifen, wurden unumgänglich. Die neuen Kommunikationsstrukturen waren aklerikal; sie bedurften nicht länger des Lateinischen. Größere Wirtschaftsräume verlangten ihre eigene Sprache, und für den Verkehr, der die Grenzen dieser Räume überschritt, waren neue internationale Verständigungsformen erforderlich (Eggers 1969; von Polenz 1977). Die neue gesellschaftliche Stellung des aufkommenden Bürgertums drückte sich in einem entsprechenden neuen (Selbst-)Bewußtsein aus. Die Emanzipation, wirtschaftlich in vollem Gange, lehnte die Zentralgewalten ab und führte dazu, daß deren Ansprüche politisch wie religiös in Frage gestellt wurden. Die in der mittelalterlichen Religionsform weitgehend entmündigten End-Adressaten des religiösen Geschehens klagten ihre Mündigkeit ein. Die Partizipation an den Inhalten der Religion wurde zu einem zentralen Punkt, in dem sich die Forderung nach Mündigkeit artikulierte. Der Hilfscharakter der Hierarchie wurde wieder gesehen — und sie sollte fallen. Das göttliche Heilsgeschehen sollte ohne kirchliche Vermittlung seine Adressaten erreichen. Dies ist der Hintergrund für die Durchschlagskraft der Reformation. In der Sichtweise dieser Bewegung, wie sie die Kirchen- und Profangeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt haben, ist dieser Zusammenhang als „Individualismus" gefaßt worden, doch wird darin die Neuheit im Sinne des 19. Jahrhunderts verzeichnet. Die „Einsamkeit" Luthers ist eher ein Konstrukt dieser Sichtweise als eine Wiedergabe der historischen Prozesse. Es bleibt das korporativ gefaßte Individuum, oder, noch direkter, es bleiben die neuen institutionalisierten Formen der frühbürgerlichen Zeit, um deren Emanzipation aus

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den mittelalterlichen Einbindungen es geht. Hierfür ist religiös die neue Mündigkeit des Christen unumgänglich. Der weitere Ubergang zum Individualismus, der sich in anderen Gruppen, bei den „Schwärmern", zeigte, schoß über das historisch Realisierbare hinaus und blieb ein von den Rändern her reaktualisierbares Programm für die nächsten Jahrhunderte. Der „Christ", wie der Laie nunmehr wieder emphatisch verstanden wurde, wurde als „freier Herr" in rebus religionis proklamiert (der in der Liebe zugleich eines jeden Mitchristen Knecht werden sollte, Luther 1520). Um dieser Proklamation entsprechen zu können, mußte ihm der Zugang zu den Grundlagen der Religion möglich werden. Sie waren in der als eigentlicher Autorität neu erkannten Bibel als dem Worte Gottes niedergelegt. Der Christ bedurfte also zu seinem Heil des Zugangs zum göttlichen Wort. Damit der Glaube an die göttliche Gnade entsteht, mußte das Wort ihn erreichen. Nicht irgendwelche exemplarischen Biographien oder Geschichten von „Heiligen" reichten mehr aus3; das Wort selbst mußte für ihn, den Christen, vernehmbar werden. Dies erforderte eine genuine schriftliche und eine genuine mündliche Form. Die schriftliche Form war die Übersetzung des göttlichen Wortes in die dem „gemeinen Manne" verständliche Sprache. Prototyp dieses gemeinen Mannes ist der sein neues Selbstbewußtsein auch in der Religion umsetzende Stadtbürger. Die Entwicklung und schnelle Verbreitung der Buchdruckkunst hatte ihm im Buch ein zwar noch immer teures, aber im Prinzip preiswertes Mittel des Zugangs zu verschiedensten Formen des Wissens geboten. Nun wurde auf breiter Basis und in erheblichem Umfang Gottes Wort selbst greifbar zugänglich. Beginnend mit Luthers September-Testament (1522) entfaltete sich eine für die damaligen Verhältnisse außergewöhnliche Druckverbreitung der Bibel, bis mit der „Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrift / Deutsch / Auffs new zugericht", die Hans Lufft 1545 verlegte, eine Fassung der gesamten Bibel vorlag, die auf lange Zeit dem Bedarf des „Christen" nach Zugang zum göttlichen Wort Genüge tat. Selbstverständlich war diese Zugangsmöglichkeit, wie viele in revolutionären Umbrüchen proklamierte Konzepte, etwas, das einen deutlichen Uberschuß über die konkreten Realisierungsmöglichkeiten der Zeit aufwies (Schlieben-Lange 1983). Insofern ist sie neben ihrer initialen Realisierung zugleich auch Programm geblieben, das, zwischen Latenz und Manifestation schwankend, in den folgenden Jahrhunderten sich entfaltete. Die grundsätzliche Veränderung gegenüber der mittelalterlichen Welt der Laien war aber unaufhebbar gesetzt. Neben der schriftlichen Form, die die Lesefahigkeit des Endadressaten voraussetzte und damit die Notwendigkeit eines gemeindlichen 3

Vgl. Brückner/Brückner (1974); Schenda (1974); Wolf (1974).

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Schulwesens für die folgenden Zeiten auch und gerade aus dem Interesse der Kirche heraus hervorbrachte (Luther 1524), sollte das göttliche Wort ihn aber auch mündlich erreichen, als unmittelbares, als Geschehen, in dem der „tote Buchstabe" mit dem „lebendigen Geist" erfüllt wurde. Dies geschah in der Predigt. Die Predigt wurde zum neuen Mittelpunkt des kirchlichen Handelns. Sie war für das Heilsgeschehen von einer neuen, grundsätzlichen Bedeutung, die nicht entfernt innerhalb des semiotischen Repräsentativwesens der kirchlichen Sakramente im Mittelalter hätte entstehen können. In der Predigt erreichte die viva vox evangelii ihren eigentlichen Adressaten, den einzelnen Christen. Im Hören des Wortes entstand der Glaube: fides ex auditu. Diese propositionale Zugänglichkeit der Religion erlaubte dem Christen an der Stelle des Symbol-Nachvollzuges das tatsächliche Verstehen. Dies bedeutet: Die Repräsentativität des Kultus verlor zunehmend ihre Bedeutung. Die Formen, die dem Laien einen nicht über das Wort vermittelten Zugang zu den Heilstatsachen ermöglichen sollten, mußten in den Hintergrund treten. Dafür mußte die Messe „deutsch" gelesen werden. In der Vorrede zu seinem Büchlein „Von der deutschen Messe" aus dem Jahre 1526 hat Luther dies entfaltet — wobei er durchaus die — inhaltlich reformierte — formula missae weiter zuläßt, und zwar um der Kommunikationsmöglichkeit in all jenen Bereichen willen, in denen das Lateinische noch allgemeine Verkehrssprache ist. Doch gerade „umb der eynfeltigen leyen willen" ist die „deudsche Messe und Gottis dienst" unumgänglich (Luther 1523). Von der Vielzahl der Sakramente als den Mitteln, in denen die kirchliche Heilsverwaltung für das Leben des einzelnen sich im Mittelalter fühlbar machte, blieben nur Taufe und Abendmahl übrig. Die Kirche wurde bestimmt als Ort, wo „das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament Lauts des Evangelii gereicht werden"4. Die Predigt steht also vor den verbliebenen Sakramenten. Es erstaunt nicht, daß im Rahmen dieser Gesamtbewegung Luther hinsichtlich etwa des Fronleichnamsfestes als des Höhepunktes der mittelalterlichen Vermittlungsweise für die Laien vom „allerschädlichsten" Fest sprach: „an keinem Fest wird Gott und sein Christus mehr gelästert ... denn an diesem Tage und sonderlich mit der Prozession . . . " (Heiler 1958, Sp. 1166). Hier ist der Widerspruch zwischen römischem Mittelalter und Reformation scharf bezeichnet: Das Evangelium ist aus etwas Zeigbarem, Veräußerlichtem, aus der Monstranz zu einer erneuerten Realität kommunikativen Geschehens geworden. 4

Confessio Augustana VII; s. Deutscher Evangelischer Kirchenausschuß (1956).

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3.5 Reformation als Transformation Die Reformation erweist sich also als eine Bewegung, in der fundamentale kommunikative Strukturen der mittelalterlichen Kirche beseitigt und neue an ihre Stelle getreten sind. Die Dignität des Lateinischen wird durch die Dignität der scriptum sacra in ihren Ursprachen ersetzt. Die Diskurse des Wissens verlieren den Zusammenhang mit der lateinischen Sprache als dem eigentlichen Medium und religiös unterbauten Fundament für die Tradition, die sich in der diskursiven Praxis des zweiten Standes realisierte. Neue, überregionale, aber nicht mehr die ganze (westliche) Ökumene erreichende Sprachen treten an ihre Stelle. Sie sind Ausdruck der entstehenden Nationalitätsbildung und organisatorisches Medium des Widerstandes gegenüber den Zentralgewalten, zugleich aber auch erforderliches Verkehrsmittel für die sich neu entwickelnden ökonomischen Strukturen. Der „gemeine Mann" wird zu einer selbstbewußten Größe der Gesellschaft, mit dem Kaiser und Papst in neuer Weise rechnen müssen. Die in ihrer Zeit fortschrittlichen Landesherren erkennen das Gebot der Stunde, ermöglichen politische Formen, die den neuen Erfordernissen gerechter werden als die überkommenen, und die erstarkten freien Reichsstädte schaffen sich ihre eigenen politischen und religiösen Strukturen. Die „evangelische" Religion findet hier ihren Rückhalt, wie sie der religiöse Ausdruck dieser Bewegung ist. Die deutsche Sprache wird für die Religion in den deutschen Gebieten neues Kommunikationsmittel, ebenso wie die französische bei Calvin und im calvinistischen Genf oder, im Norden, das Schwedische. Ohne einen eigentlich reformatorischen Anstoß wird der Machtkonflikt zwischen Zentralgewalt und entstehendem Nationalstaat in England realisiert, wobei die sprachliche Umsetzung in die Landessprache von der anglikanischen Kirche voll mitgetragen wird. Das neue Modell der religiösen Kommunikation ermöglicht dem einzelnen Gläubigen den unmittelbaren Zugang zum göttlichen Wort, das ihm in seiner eigenen Sprache zugänglich ist. Die revolutionierende Qualität dieses Modells erweist sich Zug um Zug in einer Umwälzung der kirchlichen Institutionen und ihrer Praxis: deutsche Messe, Abschaffung des Mönchtums, Einrichtung von biblischen Lehrstühlen an immer mehr Universitäten, Herausbildung einer universitär-intellektuellen Gruppe von Exegeten, Säkularisierung von Teilen des Kirchenbesitzes, Einrichtung eines gemeindlichen Schulwesens in unterschiedlichen Formen. Zugleich dehnt sich die Bewegung auf Bereiche aus, die für Teile ihrer Vertreter selbst gefährlich werden. Von hier aus gehen ernsthafte Gefährdungen aus, die die folgenden historischen Auseinandersetzungen bestimmen. Die Revolution wird transformiert in Reinstitutiona-

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lisierungen, die es verschiedenen Fraktionen erlauben, ihre Interessen so durchzuset2en, daß das Gewonnene einerseits nicht wieder an die römische Reaktion verloren geht, daß andererseits die erkämpften Freiheiten nicht so weit ausgedehnt werden, daß frühbürgerliche wie landesherrliche Interessen in einer allgemeinen Emanzipation der gesamten städtischen (Reich Gottes zu Münster) oder gar der Landbevölkerung (Bauernkriege) resultierten. Aus diesem komplexen Prozeß sollen hier einige der Aspekte weiter verfolgt werden, die die religiösen Kommunikationsstrukturen betreffen.

3.6 Katechismus Die Unmittelbarkeit des einzelnen Gläubigen zum göttlichen Wort warf sehr früh die Frage auf, welche Rolle nun noch dem zweiten Stand bzw. dem, was von ihm geblieben war, zukam. Eine weitere Frage war die, wie angesichts der neuen Rolle des verstehenden (Nach-)Vollzuges der Religion diejenigen Teile der Bevölkerung, die nicht wie die des Lesens mächtigen Repräsentanten des Frühbürgertums einen Zugang zur Schrift hatten, in den religiösen Prozeß integriert bleiben konnten. Ich gehe zunächst auf die zweite Frage kurz ein. Hier bildete sich als neue Vermittlungsform für eine allseitige religiöse Bildung der Massen der Katechismus (Surkau 1959) heraus. E r bietet eine spezifische Zwischenform zwischen mündlicher und schriftlicher Traditionsvermittlung. Die Einzelheiten der sprachlichen Formen sind ganz auf mündliche Strukturen abgestellt. Diese aber werden in schriftlicher und damit kanonisierter Form verbreitet. Der Katechismus ist also geeignet, neuen Vermittlern für die Ungebildeten ein religiöses Kommunikationsmittel an die Hand zu geben, das diesen wenigstens die fundamentalen Elemente des Glaubens zugänglich machte, und zwar in einer Form, die im Zweifelsfall über Prozesse der Mündlichkeit auswendig beigebracht werden konnte. Die Probleme der nicht voll durchgeführten Alphabetisierung wurden so durch eine genuine Textart überwunden. Als Vermittler fungierten die „Hausväter", die für sich, ihre Familie und ihr Gesinde zu neuen Repräsentanten der neuen Frömmigkeit wurden und den Tageslauf durch entsprechende religiöse Formen wie unter anderem die Katechismusrepetition in die Kontinuität einer den Produktionsprozeß begleitenden alltäglichen Frömmigkeit einbanden. Dies sollte für Jahrhunderte innerhalb der protestantischen Kirche so bleiben, die hierin ihren Kompromißcharakter im Blick auf die Unmittelbarkeit des religiösen Lebens erwies. Hier findet sich also ein erstes Potential des neuen religiösen Modells, das nicht eingelöst wurde. Die neue

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Mündigkeit partikularisierte sich, und in dieser Partikularisierung gerann sie zu einer institutionellen Form, die insbesondere im landesherrlichen Regiment ausgebildet wurde.

3.7 Vom Klerus zum theologischen Amt Als zunächst gravierender erwies sich die Frage nach dem Angebot, das den Repräsentanten des Klerus innerhalb des neuen kommunikativen Modells ermöglicht werden konnte. Die Unmittelbarkeit des Zugangs zum göttlichen Wort fand in der Idee des „Priestertums aller Gläubigen" ihren Ausdruck. Sie machte jede priesterliche Vermittlungsinstanz jenseits des einen Hohenpriesters Christus, jenseits also des ursprünglichen Heilsgeschehens, überflüssig. Eine klerikale Funktion konnte innerhalb des Modells also nicht entwickelt werden. Dies wurde in den radikalen Teilen der reformatorischen Bewegung sehr direkt realisiert. Allerdings erkauften sie diese Radikalität mit der weitgehenden Unvereinbarkeit ihrer religiösen Ideen mit den bürgerlichen Bedürfnissen und, in der Folge davon, mit ihrer eigenen Marginalisierung: sie wurden, soweit sie nicht direkt verfolgt, vertrieben oder getötet wurden, zu Sekten gemacht — bzw. machten sich selbst dazu. Die — noch immer wenig erforschten — „schwärmerischen" Bewegungen bieten ein vielfaltiges Bild solcher Ideen und ihrer Umsetzung in eine anders geartete Frömmigkeitspraxis (Troeltsch 1912). Überall dort, wo die Reinstitutionalisierung der reformatorischen Revolution frühzeitig und erfolgreich einsetzte, waren die Chancen für die Kontinuität der Radikalisierung groß. Die schnelle Entwicklung der bürgerlichen Verhältnisse begünstigte ihre gesellschaftliche Entfaltung; dies geschah insbesondere in den Niederlanden und dann in England in Zeiten, in denen das landesherrliche Element der deutschen Institutionalisierung der Reformation gegenüber dem bürgerlichen die Oberhand gewann. Innerhalb der deutschen Reformation, besonders innerhalb des Luthertums entwickelte sich eine neue Position für die Theologen aus den Erfordernissen des Übersetzungsprozesses, und zwar an zwei Stellen: einmal in bezug auf die Übersetzung der heiligen Schrift aus den Ursprachen in die Landessprache, zum anderen in der Verstehenshilfe, die Verstehensfachleute in einer professionellen Ausführung des Verstehensprozesses für das göttliche Wort — von der Erfassung des eigentlichen Schriftsinns bis hin zur Applikation — anbieten konnten. Die Erarbeitung des Schriftsinnes blieb universitär professionalisiert. In der Predigt wurde sie applikativ umgesetzt. Der religiöse Fachmann war also Prediger, der

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die Vermündlichung des schriftlichen Gotteswortes als Dolmetsch bewerkstelligte. Damit wurde die Transformation einer einzigen Teilposition innerhalb des mittelalterlichen Standes der Geistlichen zum neuen Angebot für die Pfarrer. Der universitär ausgebildete Pfarrer ist also kein zufalliges Kennzeichen der lutherischen Kirche, sondern die konkrete Vermittlungsform der Uberführung des Klerus in die Ansprüche des neuen religiösen Kommunikationsmodells. Sie weist alle Kennzeichen eines instabilen Kompromisses auf, der nach beiden Seiten hin von seiner permanenten Auflösung bedroht ist. Einerseits enthält er von den Inhalten seiner Struktur her in sich die Tendenz, sich selbst überflüssig zu machen. Andererseits tendiert er dazu, durch zu starke Professionalisierung eine neue Entmündigung der Gläubigen zu bewirken. Die Absicherung gegen diese immanenten Auflösungstendenzen geschah durch die Institutionalisierung eines spezifischen „Amtes" innerhalb einer insgesamt in Ämtern organisierten landesherrlichen Form des gesellschaftlichen Lebens. Bereits in der Entwicklung der lutherischen Auffassung selbst bildet sich die Sistierung des revolutionären Prozesses heraus. Die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der links-reformatorischen Bewegungen seit der Kritik an Karlstadt und dem Bildersturm erwies Luther frühzeitig als Garanten einer neuen Ordnung, wie sie im Sinne von Landesherren, lokalem Adel und freiem Bürgertum war. Die Unvereinbarkeit lutherischer und reformierter Bewegungen, wie sie sich im Marburger Abendmahlsgespräch und in der Ausklammerung der Reformierten aus dem weiteren Konfessionalisierungsprozeß zeigte, war ein Ausdruck für die Widersprüchlichkeiten innerhalb der reformatorischen Bewegung als ganzer. Die lutherische Variante entsprach anderen, gesellschaftlich weniger weit entwickelten Erfordernissen als die calvinische oder die Zwingiis.

4. Restauration: Die Bewahrung von Luthers Ambivalenz in der altlutherischen Orthodoxie Die lutherische Kirche wurde als landesherrliche bzw. freistädtisch organisierte in einer Reihe von komplexen Prozessen durchgesetzt und 1555 auch von der kaiserlichen Zentralgewalt anerkannt. Die Machtverhältnisse in Deutschland erlaubten die Eliminierung des Luthertums nicht. Daß die Probleme im deutschen Reichsgebiet keineswegs auf Dauer bearbeitet waren, erwies sich spätestens 1618 und in den folgenden Jahren. Noch

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1648 versuchte die römische Zentralgewalt, ihre Ansprüche zu retten, was ihr aber politisch ebenso wenig gelang wie im Tridentinum theologisch. Wo sie in der Folgezeit zu neuen restaurativen Erfolgen kam, geschah dies an Stellen, an denen der Kompromißcharakter des Luthertums manifest war: der auch im Landesherrentum weiter präsenten und lediglich friihbürgerlich adaptierten spätfeudalen Herrschaft. Dieser Kompromißcharakter machte sich vielfaltig deutlich und fand bis in die Theologie und Frömmigkeit hinein seinen Ausdruck.

4.1 Luthers Ambivalenz Innerhalb des theologischen Bereiches erwies sich die — systematisch gesehen — innere Instabilität einer spezifischen theologischen Zunft als ein kontinuierliches Problemfeld. Nachdem durch die Zugänglichkeit des göttlichen Wortes in der Volkssprache das Volk sich im Prinzip über seine grundlegenden religiösen Belange mit Hilfe seiner eigenen Sprache verständigen konnte und nachdem die Versuche, dies auch in die Praxis umzusetzen, partialisiert und die umfassende Realisierung häretisiert worden war, war die Tendenz zur Reprofessionalisierung des religiösen Diskurses die naheliegende Variante. Luther, der die politischen Notwendigkeiten, die Reformation in Grenzen verlaufen zu lassen, sehr deutlich empfand und beachtete, hatte auch in bezug auf die Sprache keine radikale Lösung vom Lateinischen angestrebt, wie dies etwa bei Hus und seinen Nachfolgern der Fall gewesen war. In der schon genannten Vorrede zur deutschen Messe von 1526 lautet seine Argumentation im einzelnen so: Es ist aber dreyerley unterscheyd Gottis diensts und der Messe. Erstlich eyne latinische / wilche wir zuvor haben lassen ausgehen / und heist Formula Misse. Dise wil ich hie mit nicht auffgehaben oder verendert haben / sondern / wie wyr sie bis her bey uns gehalten haben / so sol sie noch frey seyn / der selbigen zu gebrauchen / wo und wenn es uns gefellet odder Ursachen bewegt / Denn ich ynn keynen weg wil die latinische spräche aus dem Gottis dienst lassen gar weg komen / denn es ist myr alles umb die iugent zu thun. Und wenn ichs vermocht / und die Kriechische und Ebreische sprach were uns so gemeyn als die latinische / und hette so viel feyner musica und gesangs / als die latinische hat / so solte man eynen sontag umb den andern / yn allen vieren sprachen / Deutsch / Latinisch Kriechisch / Ebreisch / messe halten / singen und lesen. Ich halte es gar nichts mit denen / die nur auff eyne spräche sich so gar geben / und alle andere verachten / Denn ich wolte gerne solche iugent und leute auffzihen / die auch ynn frembden landen künden Christo nutze seyn / und mit den leuten reden / das nicht uns gienge / wie den Waldenser ynn Behemen / die yhren glauben ynn yhre eygene sprach so gefangen haben / das sie mit niemand können verstendlich und deutlich reden / er lerne denn zuvor yhre spräche / So thet aber

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der heylige geyst nicht ym anfange / Er harret nicht bis alle weit gen Jerusalem keme und lernet Ebreisch / sondern gab allerley Zungen zum predig ampt das die Apostel reden künden / wo sie hyn kamen / Disem exempel wil ich lieber folgen / und ist auch billich / das man die iugent ynn vielen sprachen übe / wer weys wie Gott yhr mit der zeyt brauchen wird? dazu sind auch die schulen gestifftet. 5

Die ganze Ambivalenz der Sprachfrage bei Luther wird in diesem Zusammenhang deutlich. - Faktisch blieb innerhalb des theologischen Schulbetriebes das Lateinische als Wissenschaftssprache erhalten, ebenso wie in der gesamten Universität. Die Entwicklung einer nationalsprachlichen Wissenschaftsterminologie als Voraussetzung für einen nationalsprachlichen wissenschaftlichen Diskurs sollte noch mindestens 150 bis 200 Jahre in Anspruch nehmen (Pörksen 1986). Die Veränderungen für den theologischen Diskurs betrafen somit zwar die Inhalte, nicht so sehr jedoch die akademische Form. Interkonfessionelle Kommunikation blieb hier sehr viel einfacher möglich, als dies für die Praxis der Frömmigkeit galt. Der theologische Diskurs selbst als ein lateinischer wurde also von den Veränderungen des neuen Modells religiöser Kommunikation weniger stark beeinflußt, als dies erforderlich gewesen wäre. Die früheren Repräsentanten des zweiten Standes waren zudem das einzige Personal, das in der Ubergangszeit für die Entwicklung des neuen Wissens zur Verfügung stand. 4.2 Die professionalisierte Orthodoxie Es erstaunt angesichts dieser Situation nicht, wenn die Theologen, die die eigentlichen Propagandisten des Neuen sein mußten, zugleich in der Gefahr standen, das stärkste konservative Element zu werden. Während etwa die religiöse Lyrik die primären Impetus der reformatorischen Bewegung in der Entwicklung genuiner Ausdrucks formen der christlichen Frömmigkeit weitertrieb (Kemper 1987), bildete die Schultheologie in der Form der sogenannten „altlutherischen Orthodoxie" einen formal durchgehend traditionellen Schulbetrieb aus, der — anschließend an Melanchthons loa — den theologischen Charakter der neuen Lehre material zusammenfaßte und kontroverstheologisch diskutierbar machte (Ratschow 1964; 1966). Die Theologen versuchten dabei, das, was mit Luther im Blick auf die Volkssprache als wirklich allgemeines Verständigungsmittel geschehen war, in ihren theologisch-lateinischen Diskurs wieder zurückzuholen. Nicht nur der Diskurs als ganzer ist lateinisch und damit dem Alten verpflichtet, auch die sprachlichen Formen im einzelnen schließen an die mittelalterliche Disputationsform an. Es werden quaesüones aufgestellt. Das reformatorische Prinzip des sola scriptum macht sich in ihrer Beantwortung 5

Luther (1526, zit. nach Clemen (Hg.) III, S. 296).

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deutlich: sie wird aus der Schrift gewonnen durch eine Zusammenstellung von „Belegstellen". In einer didaktisierten, für den Schulbetrieb noch stärker aufbereiteten Form wird zudem der aristotelisch-scholastische Methodismus zusätzlich über das dogmatische Material gebreitet. Ich führe als Beispiel das Compendium l^ocorum Theologicorum des Leonhard Hutter aus Wittenberg an, das 1610 in der ersten Auflage erschien. Die beigefügten Faksimiles stammen aus dem Jahre 1747 und zeigen auch darin, wie erfolgreich die Re-Institutionalisierung dieses theologischen Schulbetriebes und seiner sprachlichen Formen geschah. D. LEONHARDI H V T T E R I

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Titelbild v o n H u t t e r ( 1 7 4 7 )

Das Faksimile (1) (siehe Bsp. (1)) behandelt den locus primus, den locus de scriptum sacra. In Beispiel (2) ist die Systematik dieser fundamentalen Lehre nach dem Schematismus eines anderen altlutherischen Dogmatikers, J. Fr. König, dargestellt, ohne daß hier Raum wäre, die Lehre im einzelnen zu erläutern.

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LOCVS I. DE SCmrTYKA SACRA. LOCVSDIPBIMVS LOCI PRIMI Di SCRIPTVRA SACRA. SCRIPTVRA SACRA • » Qtiaeiho ι. QuaeAio Qmi t f ifiritarmf m t ESt antan Dei, ImàulSi Spiritus Sanai, a I.Cpw.eftwtfboailM. pnyhonjo apertola Utttrarumraocwmcn- ».D-fnmUfrttlfu.(ab aïia «rfc/, R «rlft M) üt ntatc —oon^utum. . „ - _de--cdaxii et 1vohi vohi ntatcDeiDei Miw Gomma OMinM^^Mfaifca·. WKmAtiem. Etqudcmfmnvnat icripfwic 3.Hafai Cmf· ìap&u SpWn» Sanai. itene adpdlatiooc »emuM oœocs libri biblici ¡ 4. Caft i ^ M à pwphaaaa «t apaftal· M "" f · t **νχ4η· tc|. Stira, «im (Beatoti |ttO tip |rtlignât» ben, t o n t :*n Qjfauibtn, m » tofitlbe « φ » « m «αφ;