Sprache und Metrum: Semiotik und Linguistik des Verses [Reprint 2017 ed.] 9783111607542, 9783484105744


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German Pages 320 [324] Year 1988

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Semiotische Grundlagen
3. Die Wahrnehmung des poetischen Textes: Temporalität versus Relationalität
4. Ebenen der metrischen Abstraktion: Ein dreistufiges Modell
5. Beziehungen zwischen den metrischen Ebenen: Einige Kernprobleme neuerer metrischer Forschung
Anhang I: Versifikationstypen im Deutschen und Englischen
Anhang II: Erläuterung der im Text verwandten metrischen Notationsweise
Literaturverzeichnis
Register
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Sprache und Metrum: Semiotik und Linguistik des Verses [Reprint 2017 ed.]
 9783111607542, 9783484105744

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Sprache und Metrum Christoph Küper

Christoph Küper

Sprache und Metrum Semiotik und Linguistik des Verses

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Meinen Eltern, meiner Frau, meinen Kindern

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Küper, Christoph: Sprache und Metrum : Semiotik u. Linguistik d. Verses / Christoph Küper. - Tübingen : Niemeyer, 1988 ISBN 3-484-10574-7 Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zur vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Bernhard Walter, Tübingen. Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

1

Einleitung

1

1.1

Metrik und Linguistik

1

1.2

Metrik und Semiotik

6

2

Semiotische Grundlagen

10

2.1

Die poetische Funktion im Kommunikationsmodell Jakobsons

11

2.2

Der Begriff der Äquivalenz

20

2.2.1

Äquivalenz in Sprache und Poetik

20

2.2.1.1

Der formallogische Äquivalenzbegriff

20

2.2.1.2

Äquivalenz in der natürlichen Sprache

20

2.2.1.3

Äquivalenz in der Poetik: der Reim

23

2.2.1.4

Opposition als Spielart der Äquivalenz

28

2.2.2

Rekurrenz und Äquivalenz

30

2.2.2.1

Rekurrenz in der Poetik als reduktiver Begriff

30

2.2.2.2

Die Rolle der Position

33

2.2.3

Das Äquivalenzpotential: sprachliche und poetische Einheiten .

36

2.2.4

Die prinzipielle Offenheit der Äquivalenzkriterien und die funktionelle Mehrfachbelastbarkeit der Elemente

39

2.2.5

Sprachlicher vs. poetischer Kode: die Bedeutung der Zahl

41

2.2.6

Äquivalenzen aus der Sicht des Autors und des Rezipienten . . .

47

2.3

Der Parallelismus als umfassendes poetisches Prinzip

50

2.3.1

Der parallelismus membrorum

50

2.3.2

Die semantische Interpretation des Parallelismus bei Hopkins und Jakobson Die Weiterentwicklung bei Lotman: Kunst als sekundäres modellbildendes System

2.3.3

54 58

VI

3

Inhalt

Die Wahrnehmung des poetischen Textes: Temporalität versus Relationalität

72

3.1

Der Vorwurf der Geometrisierung der Poetik: Shapiros Kritik am Äquivalenzbegriff Jakobsons

72

3.2

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

76

3.2.1

Grundlagen der auditiven Sprachwahmehmung

76

3.2.2

Konsequenzen für die Wahrnehmung poetischer Texte

84

3.3

Die Textstrukturanalyse: das Aufdecken von Relationen

92

3.4

Die „Gestalt" des poetischen Textes

95

3.5

Der Text und der Rezipient

98

4

Ebenen der metrischen Abstraktion: Ein dreistufiges Modell

102

4.1

Vier verschiedene Metrikbegriffe

102

4.1.1

Die Opposition Metrum vs. Rhythmus in der russischen Metriktradition Metrum als abstraktes System in der strukturalistischen und generativen Metrik

4.1.2 4.1.3

102 103

Metrum als metrische Kompetenz: verse design, verse instance und delivery instance bei Jakobson

105

4.1.4

Metrum als psychisch wirksamer rhythmischer Impuls

106

4.2

Ein dreistufiges Modell metrischer Abstraktion

108

4.2.1

Das abstrakte metrische Schema

109

4.2.1.1

Metrische vs. sprachliche Einheiten

4.2.1.2

Wahrnehmungspsychologische Aspekte metrischer Schemata

109

4.2.1.3

Die Notation des abstrakten metrischen Schemas

124

4.2.2

Die sprachliche Realisierung des metrischen Schemas durch die (einzelsprachliche) Verszeile

127

4.3 4.3.1

EXKURS: Die Silbenquantität im Griechischen und im Lateinischen und ihre metrische Relevanz Die antike Auffassung

134 135

4.3.2

Quantität im Licht der Linguistik

138

4.3.2.1

Quantität und Akzent im Lateinischen

139

.

119

4.3.2.2

Quantität im Griechischen

142

4.3.2.3

Noch einmal: Quantität im Lateinischen

143

4.3.3

Quantitativer Vers und Sandhi

145

4.4

Die Rezitation des Verses

147

Inhalt

5 5.1

VII

Beziehungen zwischen den metrischen Ebenen: Einige Kernprobleme neuerer metrischer Forschung

152

Metrisches Schema und sprachliche Realisierung: die Korrespondenzregeln der generativen Metrik am Beispiel von Halle/Key ser (1971a)

152

5.2

Metrikalität

156

5.3

Metrische Ambiguität und metrische Typen

167

5.4

Metrische Komplexität

176

5.4.1

Komplexität bei Halle/Key ser (1971a)

177

5.4.2

Metrikalität und Komplexität bei Bemhart (1974)

184

5.4.3

Metrikalität und Komplexität bei Kiparsky (1975) - Darstellung, Kritik und weiterführende Überlegungen

192

5.4.3.1

Die Berücksichtigung mehrerer Akzentstufen

192

5.4.3.2

Die Berücksichtigung der Wortstruktur: die monosyllable constraint im Englischen und im Deutschen

198

Der syntaktische und der metrische Kontext und die horizontale Nicht-Äquivalenz vertikal äquivalenter Elemente

207

5.4.3.3 5.4.3.4

Versgrenzen und Phrasengrenzen oder noch einmal: metrische vs. sprachliche Einheiten

213

5.4.3.5

Versfüße und Wortfüße: Metrik und „metrische Phonologie" . .

223

5.4.4

Versfüße und syntaktisch-pragmatische Einschnitte: eine statistische Untersuchung der Verteilung von Sprecherwechseln in 16 deutschen Blankversdramen

232

5.4.5

Abschließende und zusammenfassende Überlegungen zur metrischen Komplexität

245

Anhang I: Versifikationstypen im Deutschen und Englischen 1 2

253

Überlegungen zur Grundlage einer Versifikationstypologie des Deutschen und des Englischen

253

Der syllabische Versifikationstyp

258

3

Der syllabotonische Versifikationstyp

259

4

Der fußmessende Versifikationstyp

264

5

Der akzentuierende Versifikationstyp

268

6

Der taktierende Versifikationstyp

274

VIII

Inhalt

Anhang II: Erläuterung der im Text verwandten Notationsweise

283

Literaturverzeichnis

285

Register I: Namen

307

Register II: Sachen

308

Danksagung

Ich möchte an dieser Stelle allen jenen danken, die durch ihre konstruktive Kritik an früheren Fassungen der Arbeit, durch wertvolle Hinweise oder anregende Diskussionen über die hier behandelten Themen mit zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben: allen voran Roland Posner, sowie Achim Barsch, Erika Kaltenbacher, Helmut Richter, Klaus Robering, Bernhard Sowarka, Christian Wagenknecht. R. Geraint Gruffydd danke ich für die Übersetzung der walisischen Beispiele.

1

Einleitung

1.1

Metrik und Linguistik

Wenn unter den Wissenschaftlern, die sich mit metrischen Fragen beschäftigen, über etwas Einigkeit besteht, dann darüber, daß in diesen Fragen keine Einigkeit besteht. Seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts häufen sich die Klagen über diesen Zustand, der in zunehmendem Maße als belastend für die gegenseitige Verständigung unter Metrikern und anderen Wissenschaftlern, zu deren Interessengebieten ebenfalls die Metrik gehörte, empfunden wurde. Brücke (1871:111) beruft sich genau auf das allgemeine Einvernehmen über die Strittigkeit in metrischen Fragen: „Alle Diejenigen, welche sich mit deutscher Prosodie und Metrik beschäftigen, wissen, wie sehr noch die ersten Principien streitig sind", und trotz der dann folgenden großen Darstellungen der Metrik wie etwa Minor (1902) und Saran (1907) gelangt Andreas Heusler zu der gleichen Situationsbeurteilung: Über ziemlich alle tiefer dringenden Fragen herrscht Uneinigkeit bis heute. Die Uneinigkeit erstreckt sich auf die Ziele der Versbetrachtung, auf das Verfahren, nicht zum wenigsten auf die technischen Ausdrücke und Sinnbilder. In keinem anderen geschichtlichen Fache ist es so schwer, sich unter Forschern zu verstehen. Denn in der Metrik redet jeder seine Sprache und läßt sich von seinen Voraussetzungen leiten.1

Die Situation ist im englischsprachigen Raum nicht anders als in Deutschland. Schon E. A. Poe bemerkt in einem Brief von 1835, er habe noch nie auch nur zwei Menschen getroffen, die über metrische Probleme wirklich einer Meinung gewesen wären.2 Und in seinem Essay „The Rationale of Verse" führt er über das, „was mit Rhythmus, Reim, Metrum und Versbildung zusammenhängt", aus: Es gibt vielleicht kein Thema der Schönen Literatur, das beharrlicher diskutiert worden wäre, und es gibt wahrlich keines, von dem sich gerechterweise sagen ließe, es existiere ein solches Maß an Ungenauigkeit, Verwirrung, Mißverständnis, Fehldeutung, Mystifikation und regelrechter Ignoranz auf allen Seiten. (Poe 1979, Bd. 10:608)

In ähnlicher Weise beklagen auch die englischen Metriker zu Beginn dieses Jahrhunderts, daß es keine ausgearbeitete, allgemein akzeptierte Theorie und Terminologie der Metrik gebe.3 Tomasevskij in der Sowjetunion kommt zu der 1 2 3

Heusler 1925-29/1968:7, Bd. I. Brief an Beverly Tucker vom 1. 12. 1835, Poe, Werke Bd. 10:951. Vgl. zum Beispiel Saintsbury 1910:4, Omond 1921:266, Scripture 1929:60, Barkas 1934:4f.

2

Einleitung

gleichen Einschätzung, gewinnt ihr jedoch auch positive Seiten ab: „Darum macht auch die Arbeit am Vers Spaß, weil auf diesem Gebiet fast alles - strittig ist."4 Eher negativ beurteilen um die Mitte dieses Jahrhunderts Wellek/Warren den Stand der Metrikforschung: In Wirklichkeit sind aber die Grundlagen und Hauptkriterien der Metrik überhaupt noch nicht gesichert, wofür das verschwommene Denken, die verwirrte und ständig wechselnde Terminologie, selbst in Standardwerken, bezeichnend ist. [ . . . ] Die im Englischen gemachten Unterscheidungen müßte man noch um ein Vielfaches multiplizieren, wollte man den großen Wirrwarr metrischer Theorien 5 auf dem Kontinent, besonders in Frankreich, Deutschland und Rußland, mit in Betracht ziehen. 6

Die Kritik richtet sich also zum einen gegen die idiosynkratischen oder sogar inkonsistenten Terminologien der einzelnen Metriker, zum anderen aber auch und dieser Kritikpunkt ist der gewichtigere - gegen das Arbeiten mit ungesicherten Grundlagen und Kriterien. Zwei Stimmen aus den sechziger bzw. siebziger Jahren mögen das Bild abrunden. So schreibt Kabell (1960: VII), daß „die ganze Wissenschaft der Metrik mit leeren Hypothesen und gleichgültigen Schnurrpfeifereien [.. .] überfüllt ist", und R. Fowler (1971: 231) kommt zu dem Schluß: „Metrics is surely the most lamentably neglected area of literary studies today." Dieses allgemeine Unbehagen an der Art, wie Metrik betrieben wurde, führte um die Mitte dieses Jahrhunderts dazu, daß sich immer mehr die Linguistik dieses Gebietes annahm. 1952 veröffentlichten Roman Jakobson und John Lötz ihre „Axiome eines Versifikationssystems, am Mordwinischen Volkslied dargelegt"7, in dem sie metrische Regeln aufstellen, aus denen „der gesamte Bestand der wirklich vorhandenen metrischen Formen vollständig" ableitbar sein soll (S. 78 der deutschen Übersetzung) - ein Verfahren, das für die generative Metrik richtungsweisend wurde. 1960 erschien dann ein weiterer einflußreicher Aufsatz von John Lötz, „Metrie Typology"8, in dem die alleinige Zuständigkeit der Linguistik für die Metrik folgendermaßen begründet wird: Alle metrischen Phänomene sind sprachliche Phänomene; folglich liegt die Metrik völlig im Bereich der Linguistik. Gäbe es eine einheitliche Funktion des Verses, könnte man von daher an die Metrik herangehen. Dies ist jedoch nicht der Fall; also kann man den Vers nicht unter dem Aspekt der Kunst oder der Literatur definieren.9 In erweiterter Form wurde

4 5

6

7

8 9

Tomasevskij 1928/1972:271. Den „Wirrwarr der [metrischen und rhythmischen] Theorien" beklagt schon Saran 1907: XI. Wellek/Warren 1968:144. — Die erste englische Ausgabe erschien 1949; die deutsche Übersetzung folgt der leicht überarbeiteten und um das letzte Kapitel gekürzten späteren Ausgabe. Dieser in englischer Sprache erschienene Aufsatz ist eine Zusammenfassung eines am 8. April am Ungarischen Institut der Universität Stockholm gehaltenen Vortrags; die deutsche Übersetzung erschien in Ihwe (ed.) 1971/72, Bd. III: 78-85. In Sebeok (ed.) 1960:135-148. Lötz 1960:137.

Metrik und Linguistik

3

dieses Argument nicht nur auf die Metrik, sondern auf die Poetik generell angewandt. 10 Diese „sprachwissenschaftliche Wendung der Literaturwissenschaft"11 wurde zuerst in den USA und erst sehr viel später in Deutschland vollzogen. Interessanterweise waren es in Deutschland vor allem die theoretischen Implikationen, die aufgegriffen und diskutiert wurden,12 während die praktische Anwendung in der Analyse von poetischen Texten hinter den theoretischen Diskussionen zurückblieb. 13 Dies gilt auch, sogar in noch verstärktem Maße, für die Rezeption linguistischer Methoden in der Metrik. Gab es kaum eine Diskussion der „strukturellen" Metrik von der Art, wie sie Chatman (1965) darstellte,14 so wurde die sich seit 1966 vehement entwickelnde „generative Metrik" immerhin von einigen Forschern - entweder ablehnend wie Standop (1972) oder in der kritischen Anwendung weiterführend wie Küper (1973) und Schultz (1975) - diskutiert. Die wichtigsten Beiträge zur generativen Metrik waren jedoch wiederum eher theoretischer Natur, so etwa Klein (1974), Ihwe (1975) - beide in englischer Sprache publiziert - und Schmidt/Barsch (1981). So wurde zum Beispiel die Berechtigung des Prädikats „generativ" in bezug auf die generative Metrik (argumentativ korrekt) bestritten,15 so wurde die interne Konsistenz dieser Theorie kritisch beleuchtet. Die alleinige Zuständigkeit der Linguistik für die Aufgaben der Metrik wurde jedoch nicht in Frage gestellt, was wegen des mangelnden theoretischen Problembewußtseins seitens der literaturwissenschaftlichen Metrik auch gar nicht verwundern kann; ein Versuch, im Sinne der Forderung von Wellek/Warren „die Grundlagen und Hauptkriterien der Metrik" zu sichern, wurde aber auch nicht unternommen (vgl. Ihwe 1975). Bei allem (nicht zu leugnenden) Fortschritt in Einzelfragen besteht somit im Prinzip noch immer die gleiche Situation wie zur Zeit deren Bestandsaufnahme. Hinzu kommt, daß - wenn auch in weit geringerem Maße als noch um die Jahrhundertwende - auch noch von literaturwissenschaftlicher Seite Metrik betrieben wurde. Zum Teil war man dabei ängstlich um eine klare Abgrenzung gegenüber der Linguistik bemüht; so formulierte etwa Pretzel kategorisch: „Eine Wissenschaft, die sich mit der rhythmischen Form der Dichtung befaßt, gehört zur

10

11 12

13

14

15

Vgl. Jakobson 1960, Stankiewicz 1960, Saporta 1960. - Kritisch zu dieser „Linguistic Fallacy in Poetics" siehe Posner 1976. So Wagenknecht 1981:8. Ein typisches Beispiel ist die auf hohem (wissenschafts-)theoretischem Niveau stehende Darstellung von Ihwe 1972. Allerdings erschienen mehrere einführende Darstellungen in den Problembereich von Linguistik und Poetik, in denen oft reiches Illustrationsmaterial geboten wurde; vgl. zum Beispiel Oomen 1973, Kloepfer 1975, Plett 1975, Küper 1976. Lediglich die von Chatman herangezogenen 4 Akzentstufen, die auf Trager/Smith 1951 zurückgehen, wurden gelegentlich erwähnt. Dies konnte jedoch den nachlässigen Gebrauch des Begriffs generativ nicht stoppen: Noch 1983 erschien eine (ansonsten sehr interessante) Arbeit mit dem Titel „Generative Tests for Generative Meter" (= Youmans 1983).

4

Einleitung

D i c h t u n g s geschichte, nicht zur Grammatik", 16 womit er weit hinter Positionen zurückfiel, die H. Paul schon 1893 abgesteckt hatte: Der Rhythmus beruht im Deutschen auf der e x s p i r a t o r i s c h e n B e t o n u n g und auf der Q u a n t i t ä t . Festzustellen, wie sich beide in der natürlichen Rede verhalten, ist nicht Aufgabe der Metrik, sondern der Grammatik, was man allerdings lange zum Schaden beider Disziplinen verkannt hat. Freilich bilden die Verhältnisse der natürlichen Rede die Grundlage, auf welcher sich der Vers aufbaut, und ihre Kenntnis ist daher dem Metriker notwendig, wie umgekehrt die Metrik, richtig verwendet, dem Sprachforscher Aufklärung gewährt.17

Andere literaturwissenschaftlich orientierte Metriker wären eher bereit gewesen, diesem ausgewogenen Urteil Pauls zu folgen, doch hatten sie zu wenig Kenntnis von dem, was die Linguistik auf diesem Gebiet anzubieten hatte, und kamen daher zu zwiespältigen und inkonsistenten Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der Linguistik. So vertrat ein ausgesprochener Nicht-Linguist wie Schlawe zwar die Auffassung, daß „gegenwärtig die Bedeutung und die Möglichkeiten der Linguistik überschätzt werden" (Schlawe 1972:10), sprach aber an anderer Stelle von „der bislang unzureichenden linguistischen Grundlegung der Metrik" (S. 25); die vorliegenden linguistischen Ansätze zu metrischen Fragen nahm er jedoch kaum zur Kenntnis und bezeichnete Heusler und Saran als „die bisherige Endstufe dieser Wissenschaft" (S. 4) - um 1972 sicherlich eine anachronistische Behauptung. Eine gewisse ,Renaissance' der Metrik ist - zumindest was Einführungsbücher anbelangt - seit dem Ende der 70er Jahre zu beobachten (vgl. Diller 1978, Wagenknecht 1981, Breuer 1981, Albertsen 1984;18 siehe auch die Habilitationsschrift von Schultz 1981). Doch auch hier finden sich allenfalls gelegentlich - die Arbeiten von Schultz und Diller ausgenommen - Reflexe linguistischer Metrikforschung, und komplexere Phänomene bleiben überdies weitgehend ausgespart. 19 Ein besonders krasses Beispiel ist die Deutsche Metrik und Versgeschichte von D. Breuer, die hinsichtlich der Leistung der Linguistik für die Metrik Aussagen macht, die schlicht unhaltbar sind und von wenig Sachkenntnis zeugen. So behauptet Breuer, die neueren Metriker befaßten sich kaum mit prosodischen Fragen (was für die literaturwissenschaftlich orientierten Metriker wohl stimmt), und ältere Metriker wie Heusler und Trier hätten diese Fragen in den Bereich der Grammatik verwiesen (siehe aber das obige Zitat von H. Paul). Von den „Grammatikern (heute:

16 17 18

19

Pretzel 1962: Sp. 2381. Paul 1893:904. Insbesondere Breuer 1981 und Albertsen 1984 zeichnen sich durch eine äußerst .defensive' Darstellungsweise aus, die auf einem (tatsächlichen oder vermuteten) Desinteresse der Germanistikstudenten beruht. Diese Haltung hat nun leider nicht zur Folge, daß die Relevanz der Metrik für das Verständnis des poetischen Textes semiotisch begründet wird, sondern sie führt nur zu einem drastischen Verzicht auf die Diskussion komplexer metrischer Probleme. Wagenknecht 1981 übernimmt zum Beispiel einige Gedanken und Termini von Jakobson 1960, verzichtet aber auf eine Auseinandersetzung mit der generativen Metrik.

Metrik und Linguistik

5

Linguisten)" würden diese Fragen (,.Fragen der Wortbetonungen, der Silbenzusammenfügung, der Satzintonation") jedoch an die Sprechkunde weitergereicht, wo sie aber „auch nur nebenbei behandelt" würden (Breuer 1981:29). Die Desinformation könnte nicht größer sein: Breuer unterschlägt hier eine ganze wissenschaftliche Disziplin, nämlich die moderne Phonologie mit ihren Richtungen generative, natürliche und metrische Phonologie, in denen gerade die Probleme von Wort- und Satzakzent sowie intonatorische Probleme eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus scheinen Breuer aber auch alle neueren linguistisch fundierten Richtungen m e t r i s c h e r Forschung unbekannt zu sein, in denen die genannten Probleme ebenfalls eine große Rolle spielen.20 Allerdings ist es eine crux der zahlreichen linguistischen Arbeiten zur Metrik, die auf hohem Niveau über die verschiedensten Probleme der Metrik, von den theoretischen Grundlagen einer z u k ü n f t i g e n Metrik bis zu interessanten Detailfragen, handeln, daß sie für Unkundige auf diesem Gebiet (also sowohl für beginnende Germanistikstudenten wie für etablierte Literaturwissenschaftler, soweit sie keine Experten in Linguistik sind) weitgehend unverständlich sind, und zwar nicht nur wegen der fehlenden Voraussetzungen in phonologischer Theorie, sondern auch wegen der vielen Querverweise auf andere Arbeiten, deren Kenntnis meist vorausgesetzt wird (die einzige mir bekannte rühmliche Ausnahme ist Attridge 1982 für die englische Metrik). Die Kluft, die zwischen linguistischen und literaturwissenschaftlichen Metrikstudien besteht, wird am deutlichsten, wenn von den sprachlichen Grundlagen oder der sprachlichen Basis der Metrik bzw. metrisch organisierter Verse die Rede ist. Die literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehen in der Regel davon aus, daß jeder Leser schon weiß, wie ein bestimmtes Wort oder ein bestimmter Vers seiner Muttersprache auszusprechen (genauer: zu betonen) ist, so daß man glaubt, auf eine Darstellung solcher prosodischer Phänomene verzichten zu können. Oder dies ist die andere Alternative - man präsentiert ausgewählte Verszeilen nach der eigenen subjektiven Rezitationsweise, nach dem .eigenen Empfinden', das mit dem des Lesers erstens keineswegs in Einklang zu stehen braucht und zweitens auch nicht aus den phonologischen Regeln der Sprache abgeleitet werden kann. Demgegenüber werfen die linguistischen Arbeiten der letzten 25 Jahre zu diesem Thema die Schwierigkeit auf, daß jede metrische Theorie oder - bescheidener - jede Formulierung metrischer Regeln oder Prinzipien etwa im Sinne von Zuordnungsregeln (vgl. hierzu Kap. 5.1) auf einem bestimmten sprachtheoretischen Modell aufbaut, ausgehend von dem Akzentsystem von Trager/Smith (1951) über Chomsky/Halle (1968) bis hin zu neueren und neuesten Entwürfen der generativen oder der metrischen Phonologie. D. h., die Aussagen über die 20

Daß daneben auch wichtige ältere Darstellungen der Metrik unerwähnt bleiben (wie z. B. Minor 1902 oder Saran 1907), in denen alles das, was Breuer in neueren Metrikarbeiten vermißt, doch relativ breit, wenn auch vom damaligen Forschungsstand aus, behandelt wird, ist ein zusätzliches Ärgernis.

6

Einleitung

Beziehung zwischen metrischen und sprachlichen Elementen sind stets an bestimmte modellabhängige „Ebenen" der jeweils verwendeten phonologischen Theorie gebunden und von daher nicht ohne weiteres miteinander zu vergleichen (für den Nichtlinguisten sind sie schlicht nicht mehr nachvollziehbar). Dies ist freilich ein Problem, das nicht für die Metrik allein besteht, sondern generell für moderne Literaturtheorien, soweit sie linguistisch orientiert sind und sich auf Ergebnisse und Kriterien der analytischen Wissenschaftstheorien stützen. Für einige dieser Theorien läßt sich, wie Schmidt/Barsch (1981) zeigen, die logische Relation von Sprach- und Literaturtheorie als Spezialisierung im Sinne Sneeds logisch rekonstruieren (vgl. Sneed 1971, 1976).21 Hieraus erklärt sich sicher zu einem großen Teil die Scheu vor einer Auseinandersetzung mit diesen Theorien (wie bei Wagenknecht 1981 gegenüber der generativen Metrik). Andererseits aber haben die Ergebnisse metrischer Forschung einwandfrei gezeigt, daß bestimmte metrische Phänomene nur auf einer relativ abstrakten sprachlichen Ebene, die weder durch eigenes Rezitieren, also Introspektion, noch durch Bezugnahme auf die eigene Kenntnis der Aussprache der eigenen Sprache bewußt gemacht werden kann, erklärbar sind (z. B. Kiparsky 1970, 1972; Zirin 1970; Zepf 1963; Jakobson 1963). Pauls Aussage, daß nicht nur die Linguistik für das Studium der Metrik notwendig, sondern daß auch umgekehrt das Studium der Metrik für den Linguisten nützlich sein kann, bewahrheitet sich hier.22

1.2

Metrik und Semiotik

In dieser Situation setzt sich die vorliegende Arbeit das Ziel, die Frage nach den Grundlagen und Hauptkriterien der Metrik neu zu stellen, um Klarheit in den „Wirrwarr" zu bringen. Dazu soll zunächst, gestützt auf die Ansätze Roman Jakobsons und Jurij Lotmans, ein allgemeiner semiotischer Rahmen entwickelt werden, in dem diese Grundlagen überhaupt erst angegangen werden können. In dieser doppelten (linguistischen und semiotischen) Fundierung unterscheidet sich diese Arbeit von anderen metrischen Konzeptionen, die entweder weitgehend der traditionell literaturwissenschaftlich orientierten Metrik verpflichtet sind oder aber die Linguistik als alleinige Grundlage gewählt haben. Der hier verfolgte 21

22

„Aus dem Vorliegen der Spezialisierungsrelation läßt sich jedoch kein Argument gegen die Autonomie dieser linguistischen Poetiken oder der linguistischen Poetik Uberhaupt ableiten. Die untersuchten Literaturtheorien [T. A. van Dijk, J. Ihwe, S. J. Schmidt, J. S. Petöfi und G. Wienhold; C.K.] hängen zwar in ihrer Begriffsbildung von ihrer jeweilig verwendeten Sprachtheorie ab; sie können jedoch eigenständig für ihren Bereich spezielle Gesetze und spezielle Nebenbedingungen im Sinne Sneeds aufstellen und überprüfen" (Schmidt/Barsch 1981:9). So führte z. B. die Untersuchung von alternierenden Versen im Englischen (am Beispiel des Pentameterverses) zu der Formulierung einer (Second) „Alternating Stress Rule" durch Beaver, die - als fakultative Regel - nicht nur für metrische Verse, sondern auch für das Sprachsystem des Englischen allgemein gültig sein soll (vgl. Beaver 1971a: 189).

Metrik und

Semiotik

7

übergreifende semiotische Ansatz rechtfertigt sich meines Erachtens aus folgenden Gründen: Erstens: Die Metrik hat es nicht, wie Lötz meint, n u r mit sprachlichen Einheiten zu tun, sondern eben auch mit metrischen, allgemeiner gesagt, poetischen Einheiten, die als Teile des metrischen/poetischen Systems einer eigenen Entwicklung unterliegen, die von der sprachlichen Entwicklung streng zu unterscheiden ist (vgl. Kap. 2.2.3 und 4.2.1.1). Zu den sprachlichen Einheiten, die in der deutschen Metrik eine Rolle spielen, gehören etwa der Satz, die Tongruppe, das Wort, die Silbe, der Akzent, während zu den metrischen Einheiten das Versmaß, die Verszeile, der Versfuß - eine unter Metrikern besonders umstrittene Größe - und Hebung und Senkung gehören, in neueren metrischen Theorien auch die Position (zu näheren Einzelheiten siehe Kap. 4 und 5). Diese metrischen Einheiten sind nun immer in einer näher zu spezifizierenden Weise sprachlich zu realisieren: ein Vers zum Beispiel durch eine Abfolge von Silben, die in bestimmter Weise charakterisiert sein können. Gibt es zum Beispiel in mehreren aufeinanderfolgenden Versen eine totale Übereinstimmung sowohl zwischen Hebungen und akzentuierten Silben als auch zwischen Senkungen und unbetonten Silben, so wird der Eindruck, den die Verse bei der lautlichen Aktualisierung hervorrufen, oft als .klappernd' oder als .monoton' bezeichnet, während bestimmte Arten von Nichtübereinstimmung zum Eindruck der .Komplexität* führen (während andere Arten der Nichtübereinstimmung dazu führen, daß diese Verse als ,unmetrisch' eingestuft werden - vgl. Kap. 5.2 bis 5.4). Die Beziehung zwischen dem Versmaß (genauer: dem abstrakten metrischen Schema), dessen sprachlicher Füllung durch konkrete Verszeilen und deren Rezitation (zu diesem 3-Stufen-Modell siehe Kap. 4) muß also Gegenstand nicht nur linguistischer, sondern auch, da es eben nicht nur um sprachliche Einheiten geht, semiotischer Untersuchung sein. Überdies muß auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß bestimmte metrische Einheiten schon ,an sich', d. h. aufgrund ihres Status a l s p o e t i s c h e E i n h e i t , mit einer bestimmten, wenn auch vagen, Bedeutung verbunden sind: Man denke nur an die metrische Form des Limerick, wo sich für jeden, der diese Form kennt, bereits nach der ersten Verszeile die Erwartung eines Witzes einstellt. Die Verifizierung, d. h. die metrische Organisation eines Textes, ist also keine bloße Zutat im Sinne einer .äußeren Form', sondern betrifft ganz entscheidend den Status eines Textes und hat somit eine bedeutsame semiotische Funktion, die in der Metrik nicht ausgeklammert werden darf. D. h., in metrisch organisierten Texten ist mit einer Modellierung von Inhalten durch eine in spezifischer Weise gestaltete Ausdrucksstruktur zu rechnen, zu der eben die metrische Organisation in der Interdependenz mit den übrigen Lautstrukturen sowie den weiteren poetischen Strukturen gehört. Diese Auffassung steht in direktem Gegensatz zu der Auffassung, wie sie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, also seitdem die normativen Poetiken mit ihren Vorschriften, welches Metrum für welche Gattung zu wählen sei, im Zuge des Sturm und Drang stark an Einfluß verloren hatten, in Deutschland

8

Einleitung

dominierte und zum Teil - vor allem im Literaturunterricht an den Schulen - immer noch dominiert. In diesem Verständnis ist Metrik eine weitgehend mechanistische Disziplin, die, unter Ausklammerung jeglicher Form-Inhalt-Problematik, Metrik auf die Untersuchung und Beschreibung der Aneinanderreihung von metrischen Einheiten reduziert, die jeden Inhalts entbehren. Ein solches Metrik-Verständnis aber wurde bereits 1923 von Oskar Walzel scharf kritisiert: Ich glaube der Metrik und der Stilistik, die in unsern Lehrbüchern vorgetragen werden, keinen unberechtigten Vorwurf zu machen, wenn ich sie als niedere Mathematik bezeichne und die Forderung ausspreche, daß man auf dieser Stufe nicht stehen bleiben darf, wenn anders die Gestalt von Dichtungen wirklich ganz gewürdigt werden soll. [ . . . ] Daher klafft zwischen der Poetik und der Metrik meist eine große Lücke [...]. Vorläufig bleibt die Poetik beim Gehalt stehen und kümmert sich fast gar nicht um die Gestalt. Die Metrik hingegen engt sich so willig ein auf die niederste Mathematik der Gestaltzüge, daß der Weg bis zu irgendeiner Ergründung des Gehalts sich ins Unendliche ausdehnt. 23

Der Ansatz, der in dieser Arbeit vertreten wird, geht demgegenüber davon aus, daß Metrik ein wesentlicher Bestandteil der Poetik ist, der die Beziehungen zwischen Zeichenträgern und Zeicheninhalten im (metrisch organisierten) poetischen Text zum Untersuchungsgegenstand hat. Die semiotische Fundierung dieser Arbeit soll somit dazu beitragen, die Lücke zwischen Poetik und Metrik zu schließen und zu zeigen, daß das, was Walzel als „Gehalt" und „Gestalt" in der metrischen Praxis so unendlich weit voneinander entfernt sah, in Wirklichkeit gar nicht voneinander zu trennen ist. Zweitens: Damit aber geht es in der Metrik auch um allgemeine ästhetische Probleme. Denn die semiotische Relevanz metrischer Organisation von Texten erschöpft sich nicht in einer allgemeinen inhaltlichen Zuordnung eines bestimmten Metrums zu einer bestimmten literarischen Gattung (etwa: Epos - Hexameter, Drama - Blankvers) oder der Interpretation der Metrikalität, Komplexität oder Unmetrikalität (um Walzeis Begriffe durch neuere metrische Termini zu konkretisieren) einer gegebenen Verszeile in bezug auf deren Bedeutung, sondern der metrisch organisierte Text ist an sich schon Ausdruck oder Realisationsform einer grundsätzlichen poetischen, oder, allgemeiner: ästhetischen Einstellung, die in einem konsequenten Vergleichen und Gegenüberstellen wurzelt. Diese ästhetische Einstellung kennzeichnet bereits die frühesten bildlichen Darstellungen (Höhlenbilder) und ist in der Geschichte der Ästhetik unter Bezeichnungen wie Proportionalität, Äquivalenz, (Eben-)Maß, Symmetrie, Harmonie, Parallelismus, Rhythmus thematisiert worden. In der Dichtung sind es vor allem die Begriffe der 23

Walzel 1923: 185. - Für eine kurze Darstellung des Prozesses, der zu dieser von Walzel kritisierten Trennung zwischen Disziplinen, die sich nur mit dem „Gehalt" und solchen, die sich nur mit der „Gestalt" literarischer Texte beschäftigten, führte, siehe Schultz 1981: 1-10. Für eine Darstellung des Unterschiedes zwischen einer „Gehalts-,Ästhetik'" und einer ,„Norm'-Ästhetik" - man beachte die unterschiedliche Plazierung der doppelten Gänsefüßchen! - , die von einem Ansatz ausgeht, der mit dem vorliegenden in vielen Punkten übereinstimmt, vgl. Schmid 1977, Kap. 2.

Metrik und Semiotik

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Äquivalenz und des Parallelismus, die in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielen, sowie der - leider arg strapazierte und in metaphorischer Redeweise oft nur sehr vage - Begriff des Rhythmus. Eine E r k l ä r u n g dessen, was eine linguistische B e s c h r e i b u n g des Verses leisten kann, ist oft nur mit Rekurs auf diese allgemeinen Fragen einer semiotischen Ästhetik möglich. Drittens: Aber auch die linguistische Beschreibung des Verhältnisses zwischen sprachlichen und metrischen Einheiten steht selbst wiederum in einem übergreifenden semiotischen Zusammenhang. Denn es ist nicht nur die Aufgabe der Metrik, zu untersuchen, wie die metrischen Einheiten in einzelnen (oder, als Zielvorstellung, in allen) Texten einer gegebenen Sprache sprachlich realisiert sind, sondern für die Metrik ist generell die Art, wie in einer Sprache diese Realisierung durchgeführt wird, von großem Interesse. Es ist eine Grundhypothese dieser Arbeit, daß die Beziehung zwischen beiden Arten von Elementen (poetischen, hier speziell metrischen, und sprachlichen) nicht arbiträr (im Saussureschen Sinne von unmotiviert) ist, sondern daß die in einer Sprache herrschende Versifikationspraxis, selbst wenn sie in wesentlichen Punkten aus der Versifikationspraxis einer anderen Sprache entnommen ist, grundlegende Eigenschaften dieser Sprache abbildet (modelliert). Diese Hypothese steht im Einklang mit Ansätzen der neueren semiotischen Ästhetik, denen zufolge die poetische Sprache ein sekundäres modellbildendes System (Lotman) ist, das auf dem primären System der Alltagssprache basiert. Eine weitere Stütze findet diese Hypothese durch die Ergebnisse moderner linguistisch orientierter Metrik-Theorien selbst, die zu dem Resultat gekommen sind, daß metrisch organisierte Texte nicht den sprachlichen Gegebenheiten der betreffenden Sprache zuwiderlaufen. Die semiotische Fundierung des hier verfolgten metrischen Ansatzes gestattet es also, erstens grundsätzlich zwischen metrischen und sprachlichen Einheiten zu unterscheiden, um zweitens deren Beziehung zueinander an konkreten Texten zu untersuchen (eine notwendige Grundlage für die Interpretation); sie ermöglicht darüber hinaus drittens, die metrische Organisierung als Spezialfall des übergreifenden Phänomens der ästhetischen Einstellung zu untersuchen, und liefert viertens den Rahmen für die linguistische Fragestellung, auf welchen sprachlichen Eigenschaften die in einer gegebenen Sprache zur Anwendung kommenden Versifikationstypen basieren.

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Semiotische Grundlagen

Die Auffassung der Metrik als eines Bestandteils der Poetik hat zur Folge, daß - wie oben angedeutet - die Metrik nicht mehr allein im Zuständigkeitsbereich der Linguistik liegt, da nun auch Fragen der Poetizität/Literarizität, kurz: ästhetische Fragen zu berücksichtigen sind. Wir müssen uns also eine Ausgangsbasis verschaffen, von der aus wir so verschiedene Fragen wie die nach dem Unterschied (der differentia specifica) zwischen poetischer und nichtpoetischer, zum Beispiel alltagssprachlicher, Sprachverwendung oder nach dem Zusammenhang zwischen sprachlichen Einheiten und den poetischen Einheiten, die sie in der poetischen Sprachverwendung realisieren, oder nach den ästhetischen Besonderheiten des Verses (im Sinne eines metrisch organisierten poetischen Textes) oder nach den Beziehungen zwischen Sprachsystem und Versifikationspraxis, um einige zentrale Fragestellungen herauszugreifen, angehen können. Einen solchen integrativen semiotisch-linguistischen Ansatz liefert - gerade in bezug auf die Versproblematik - Roman Jakobson mit einer Vielzahl seiner Arbeiten. Aus Gründen der Einfachheit der Darstellung werde ich mich im folgenden Abschnitt vor allem auf seinen 1960 erschienenen Aufsatz „Linguistics and Poetics"' stützen, in dem er ein Kommunikationsmodell vorstellt, das der poetischen Sprachfunktion ihren genau definierten Platz zuweist. Ich werde einige Aspekte, die für unsere Fragestellungen von zentraler Bedeutung sind, im folgenden dann einer detaillierten Untersuchung unterziehen, wobei auch einige historische Gesichtspunkte hinsichtlich der Entwicklung von Jakobsons Ansatz zur Sprache kommen werden, und anschließend diesen Ansatz um einige Gedanken des sowjetischen Semiotikers Jurij Lotman ergänzen.

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Jakobson 1960. - (Jeweils unterschiedliche) deutsche Übersetzungen erschienen u. a. in: Blumensath (ed.) 1972: 118-147, Ihwe (ed.) 1972: 99-135, Jakobson 1979: 83-121. Vor der alleinigen Benutzung dieser Übersetzungen muß gewarnt werden, da sie sämtlich fehlerhaft sind. Es ist unbedingt anzuraten, in jedem Fall das Original mitheranzuziehen.

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Die poetische Funktion bei Jakobson

2.1

Die poetische Funktion im Kommunikationsmodell Jakobsons

Laut Jakobson sind für jeden Akt sprachlicher Kommunikation folgende sechs Faktoren unabdingbar:2 Abb. 1 KONTEXT MITTEILUNG SENDER

EMPFÄNGER KONTAKT KODE

Jakobson erläutert dies Modell wie folgt: D e r SENDER m a c h t d e m EMPFÄNGER e i n e MITTEILUNG . U m w i r k s a m z u s e i n , b e d a r f d i e

Mitteilung eines KONTEXTES, auf den sie sich bezieht (Referenz in einer anderen, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m. a. W. dem Kodierer und dem Dekodierer der Mitteilung) gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTES, eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfanger, der es den beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben. 3

Jakobson leitet nun aus diesem Kommunikationsmodell sechs verschiedene Sprachf u n k t i o n e n ab, die im folgenden kurz zusammengefaßt werden sollen. Um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden, seien vorab kurz einige Erläuterungen zum Funktionsbegriff gegeben. Sowohl in der Umgangssprache wie in der Wissenschaftssprache gibt es verschiedene, miteinander konkurrierende Auffassungen des Terminus Funktion, die sich zum Beispiel in unterschiedlichen Verbalisierungen ausdrücken: Eine erste Bedeutungsvariante meint das Arbeiten, das F u n k t i o n i e r e n etwa einer Maschine (in Wendungen wie Funktion des Vergasers überprüfen), während demgegenüber eine zweite auf die spezifische Leistung eines Elements in einem System abzielt oder auf die Rolle, die es darin übernimmt. In diesem Sinne kann man davon sprechen, daß eine bestimmte Nominalphrase als Subjekt innerhalb des Satzes f u n g i e r t oder daß die Funktion eines bestimmten Fußballspielers innerhalb der Mannschaft die des Libero ist. In der Mathematik wird ein anderer Funktionsbegriff zugrunde gelegt: „Eine F[unktion] ist eine Vorschrift, die jedem Element x einer Menge A ein bestimmtes Element y einer Menge B eindeutig zuordnet (Formal: y = fix) oder x ->f(y))."4 Wie der mathematische hat auch der logische Funktionsbegriff die Zuordnung von Mengen bzw. das Abhängigkeitsverhältnis von Variablen zum Gegenstand. 2 3 4

Jakobson 1979: 88. Ebd. Bußmann 1983: 153. - Eine .moderne' Definition des Funktionsbegriffs, die das nur schwer genauer zu umschreibende Wort Vorschrift vermeidet, findet sich in Meschkowski 1971: 39 (vgl. auch Meschkowski (ed.) 1967 s. v. „Abbildung"); der Unterschied zwischen beiden Definitionen kann hier jedoch vernachlässigt werden.

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Semiotische Grundlagen

In der Linguistik nun wird neben dem mathematisch-logischen Funktionsbegriff eine Reihe weiterer Funktionsbegriffe verwandt, die zum Teil von den bisher vorgestellten Konzeptionen abgeleitet sind. So versteht die Glossematik Funktion „in einer Bedeutung [. . .], die vermittelnd zwischen der logisch-mathematischen und der etymologischen liegt",5 nämlich einerseits als Relation (Interdependenz, Determination, Konstellation) zwischen verschiedenen Größen, andererseits aber untersucht sie auch, als was diese Größen im Text fungieren. In ähnlicher Weise ist die Funktion in der generativen Transformationsgrammatik bestimmt: So ist die Funktion des Subjekts im Satz zum Beispiel dadurch charakterisiert, daß eine grammatische Kategorie (NP) in einer bestimmten Relation zu einer anderen Kategorie (S) steht: Abb. 2

NP Daher handelt es sich auch hier, wie Chomsky sagt, „um einen inhärent relationalen Begriff." 6 Geht es bei diesen Verwendungsweisen des Terminus .Funktion' um Funktionen i n d e r Sprache, so steht bei anderen Verwendungsweisen, die zum Beispiel von Busse (1975) präsentiert werden, die Funktion d e r Sprache im Mittelpunkt des Interesses, 7 wobei .Funktion' hier als „Wesensfunktion der Sprache" in einem finalen Sinne zu verstehen ist.8 Da Sprache in diesem Sinne nur eine einzige Funktion, nämlich die der Darstellung hat (vgl. hierzu Anm. 9 unten), ist dieser Funktionsbegriff für die Analyse verschiedener Äußerungsakte/Texte unbrauchbar. Genau hier aber setzt Jakobson mit seinem Konzept der Sprachfunktionen ein. Ihm geht es nicht um eine Bestimmung d e r Wesensfunktion d e r Sprache, sondern darum, aus dem Kommunikationsmodell die möglichen Einstellungsziele von Äußerungsakten/Texten systematisch abzuleiten. 9 Insofern ist die Bezeichnung 5

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Hjelmslev 1974: 38. - Vgl. auch den Artikel „Funktion" in Nöth 1985: 153-161, wo Hjelmslevs Position als eine „.formalistische' Version des Funktionsbegriffs" charakterisiert wird. Chomsky 1969: 95 = 1965: 68. Z. B. bei Dempe 1930 und Busse 1975. - Die Unterscheidung zwischen Funktionen in der Sprache und Funktionen der Sprache übernehme ich von Busse 1975: 211. Vgl. Busse 1975: 223 u. ö. Busse 1975 vertritt die Auffassung daß Jakobsons Kommunikationsmodell hinsichtlich des Funktionsbegriffs der gleichen Kritik zu unterziehen ist wie Bühlers Organonmodell, auf das sich Jakobson stützte. Kernsatz seiner Argumentation ist ein Zitat Dempes (1930: 94): „[. . .] die Sprachzeichen haben nur eine einzige Funktion, und diese besteht darin, bestimmte Bedeutungsinhalte, d. i. eine intentionale Gegenständlichkeit darzustellen." Als alleinige „Wesensfunktion der Sprache" läßt Busse mit Dempe somit die Darstellungsfunktion gelten (Busse 1975: 223). Die beiden restlichen Sprachfunktionen Bühlers - Kundgabe bzw. Ausdruck und Appell - werden als „biologisch ältere Einrich-

Die poetische Funktion bei Jakobson

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„ S p r a c h f u n k t i o n " - zumindest gegenüber dem Ansatz Busses - nicht ganz zutreffend, da sie eher parole-orientiert ist, während jener eindeutig langue-orientiert ist. Jakobsons Begriff der Sprachfunktion bezeichnet also d i e A u s r i c h t u n g e i n e s g e g e b e n e n Ä u ß e r u n g s a k t e s / T e x t e s auf e i n e n b e s t i m m t e n A s p e k t der K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n . Trotz seiner Warnungen sind diese Sprachfunktionen immer wieder in der Weise mißverstanden worden, als seien gegebene sprachliche Texte stets nur von e i n e r Sprachfunktion bestimmt. Doch Jakobson betont im Gegenteil ausdrücklich, es gebe „wohl kaum eine sprachliche Mitteilung, die nur eine Funktion erfüllt. Die Vielfalt beruht nicht auf der getrennten Verwirklichung der einzelnen Funktionen, sondern auf ihrer unterschiedlichen hierarchischen Anordnung" (Jakobson 1979: 88). Das heißt, es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher, hierarchisch gegliederter Kombinationsmöglichkeiten aus diesen sechs Funktionen, wobei die Struktur des Textes (der Mitteilung in Jakobsons Worten) im wesentlichen von der dominierenden Funktion bestimmt wird. 10 Die e m o t i v e Funktion liegt vor, wenn die Haltung des Sprechers zum Gesprochenen im Mittelpunkt der Äußerung steht. Typische Indikatoren dieser Funktion sind Interjektionen, Gesten, Mimik, Sprechweise etc., also vor allem parasprachliche Phänomene, die im Kode nicht als diskrete Einheiten determiniert sind. (Ein bestimmter Gesichtsausdruck oder eine bestimmte Sprechweise, die

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tungen" als Kausalprodukte eingestuft und von der Intentionalität der Darstellung, die Sprache erst zur Sprache im eigentlichen Sinne mache, streng unterschieden (222f.). Andererseits hebt Busse, Martínez Bonati 1960 folgend, hervor, daß in der referentiellen Funktion das Gesagte „nicht nur auf die .Gegenstände und Sachverhalte' außerhalb des Sprechereignisses ausgerichtet sein [könne], sondern auch auf alle Faktoren der verbalen Kommunikation." (S. 219) In diesem Sinne sei auch metasprachliche Kommunikation referentiell, wodurch sich eine gesonderte metrasprachliche Funktion erübrige. Busses Schlußfolgerung ist, daß nur die Darstellungsfunktion eine Funktion im eigentlichen Sinne (d. h. bei ihm also im Sinne der Finalität) sei, während die sogenannten „sekundären Funktionen" („ästhetische, logische (theoretische), praktische und magische (usw.)") unter keinen der von ihm dargestellten Funktionsbegriffe subsumierbar seien (233f.), während Bühlers Kundgabe- und Appellfunktion (die emotive und die konative Funktion bei Jakobson) als „Bedingungen der Darstellung überhaupt" bezeichnet werden (234). Busses Kritik ist in manchem sicher zutreffend, jedoch erscheint sein Funktionsbegriff geradezu auf die Darstellungsfunktion zugeschnitten zu sein. Unter linguistischem Gesichtspunkt lassen sich jedoch einige Argumente für die übrigen Funktionen beibringen. Für die Appellfunktion spricht zum Beispiel der Formenreichtum in vielen Sprachen, mit dem diese Funktion signalisiert wird (Vokativ, Imperativformen). Versuche, wie sie z.B. von der generativen Semantik unternommen wurden, Imperativsätze wie etwa Hau ab! auf zugrunde liegende Strukturen wie Ich befehle dir, daß du abhaust, zurückzuführen, wodurch in der Tat das Schwergewicht von der Appell- auf die Darstellungsfunktion verschoben wäre, müssen als linguistisch nicht haltbar angesehen werden (vgl. Grewendorf 1972, Gazdar 1979). Performative Befehlssätze enthalten sowohl die Appell- wie die Darstellungsfunktion (d. h. sie sind token-reflexive), während Imperativsätze Appell ohne Darstellungsfunktion sind (daher kann ihnen auch kein Wahrheitswert zugeschrieben werden). Zur Dominanz der poetischen Funktion vgl. Jakobson 1935/1979 und Barsch/Hauptmeier 1983: 552ff.

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Semiotische

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„Traurigkeit" signalisiert, kann sich quasi .stufenlos' bis „Freudigkeit" verändern; sprachlich hingegen, d. h. mit diskreten Elementen, ist dies nicht in gleicher Weise möglich.) Die k o n a t i v e Funktion äußert sich in der Ausrichtung der Mitteilung auf den Empfänger, z. B. durch grammatische Phänomene wie Vokativ und Imperativ (Jakobsons Beispiele), aber auch durch direktive Sprechakte, seien sie performativexplizit (Ich bitte Sie, das Fenster zu schließen) oder indirekt (Es zieht!). Die r e f e r e n t i e l l e Funktion ist bezogen auf das, worüber gesprochen wird, d. h. auf den Inhalt der Äußerung. Typische Textsorten mit dominierender referentieller Funktion sind etwa Sachgespräche oder Nachrichten (im Gegensatz zu Kommentaren, wo die emotive Funktion eine gewichtige Rolle neben der referentiellen Funktion spielt). Kennzeichen vieler poetischer Texte ist es, daß - in Morrisscher Terminologie - zwar ein Designat, also ein Inhalt, jedoch kein Denotat, also kein tatsächlich .existierender* Referent vorhanden ist: Es handelt sich hierbei um Texte mit dem Merkmal [+fiktional]. Dennoch spielt auch in fiktionalen Erzähltexten die referentielle Funktion eine Rolle, die allerdings der poetischen (siehe unten) untergeordnet sein kann (vgl. auch Mukarovsky 1970: 113, 143). Die p h a t i s c h e Funktion äußert sich in der Orientierung auf den zwischen Sender und Empfänger bestehenden Kontakt (den Kanal). Noch bevor das Kleinkind fähig ist, informative Information zu senden oder zu empfangen (referentielle Funktion), kommuniziert es in phatischer Funktion - Kommunikation um des Kontaktes mit der Bezugsperson (Mutter, Vater) willen. Die Ausrichtung auf den Kode bezeichnet Jakobson als die m e t a s p r a c h l i c h e Funktion. Damit ist nicht nur die für Logiker, Linguisten, Sprachphilosophen etc. grundlegende Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache gemeint, sondern diese Funktion manifestiert sich auch immer wieder in Alltagssituationen, wo nach der Bedeutung von Begriffen gefragt oder wo die Bedeutung von Wörtern erläutert wird (zum Beispiel beim Spracherwerb). Jede der bisher genannten Funktionen wurde jeweils einem anderen Faktor des Kommunikationsmodells zugeordnet. Das ist bei der p o e t i s c h e n Funktion nicht anders: Sie ist bezogen auf die Mitteilung selbst, d. h. auf den Text in seiner spezifischen Anordnung und Darbietung. Ist es bei den anderen Sprachfunktionen so, daß die Zeichenträger (die Signifikanten) auf etwas anderes verweisen (auf die Einstellung des Sprechers zu dem, was er sagt, auf die Ausrichtung auf den Empfänger, auf den Inhalt der Mitteilung, auf den Kontakt zwischen Sender und Empfänger, auf die Klärung des Kodes), so verweist bei der poetischen Sprachfunktion die Zeichenmaterie'1 auf sich selbst: Dies ist die A u t o r e f l e 11

Der Begriff „Zeichenmaterie" bedarf einer kurzen Präzisierung. Denn es sind nicht alle materiellen Aspekte des Zeichenexemplars von gleicher Bedeutung für den Zeichenprozeß (die Semiose): „nur das, was auch im Reproduktionsprozeß invariant bleibt, ist potentiell von semiotischer Relevanz" (Posner 1980c: 688). D. h., nur die Zeichengestalt als Abstraktionsklasse der einzelnen konkreten Zeichenexemplare geht in die semiotische

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x i v i t ä t des sprachlichen Kunstwerks.12 Jakobson faßt dies in der Formulierung zusammen: „Die Einstellung auf die B O T S C H A F T als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer selbst willen, stellt die P O E T I S C H E Funktion der Sprache dar". 13 Es ist zu beachten, daß Jakobson hier weder die poetische Sprachfunktion mit der Dichtung noch die Dichtung mit der poetischen Sprachfunktion gleichsetzt. Dichtung ist nur dadurch charakterisiert, daß in ihr die poetische Funktion d o m i n i e r t - aber auch die übrigen Funktionen können in jedem poetischen Text in je unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher hierarchischer Anordnung präsent sein. Mukarovsky, der sich in verschiedenen Arbeiten ebenfalls mit dieser Frage beschäftigt hat, vertritt sogar die Auffassung, daß ,jede wahrhaft starke Ausweitung einer Kunst [. . .] immer von einer nachdrücklichen Betonung einer ihrer außerästhetischen Funktionen begleitet" sei (Mukarovsky 1967: 42). Umgekehrt kann sich die poetische Funktion auch in solchen Texten manifestieren, in denen sie nicht dominiert. Vor allem die Werbung macht sehr gezielt von der poetischen Funktion Gebrauch, aber auch schon die Alltagssprache: Viele Redewendungen enthalten Wörter, die für den heutigen (linguistisch nicht gebildeten) ,Durchschnitts'-Sprecher in ihrer Bedeutung nicht mehr klar sind (vgl. Kind und Kegel, in Bausch und Bogen)-, daß sie sich dennoch als Teil des alltagssprachlichen Vokabulars gehalten haben (wobei nun der Ausdruck als ganzer die Bedeutung trägt),14 dürfte wohl auf die in ihnen manifeste poetische Funktion (Alliteration) zurückzuführen sein. Jakobsons Definition der poetischen Funktion der Sprache, die man mit Holenstein (1975: 150) als eine eigentlich phänomenologische Definition auffassen kann, läßt sich schlüssig aus der Tradition des Russischen Formalismus und des Prager Strukturalismus herleiten, an deren Entwicklung Jakobson ja wesentlichen Anteil hatte.15 Schon die Russischen Formalisten setzten sich mit der Beziehung zwischen Zeichenträger und Designat auseinander und betonten, daß diese Beziehung in literarischen (poetischen) Texten insofern in den Vordergrund gerückt wird, als die .normale' Zeichenfunktion, die in der reibungslosen Übermittlung von Zeichen-

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Analyse ein (vgl. Klaus 1973: 58). Vgl. Civikov 1987, Kap. 6, für eine weiterführende Diskussion. Jakobson 1960/1979: 92. Vgl. das englische Original (Jakobson 1960: 356): „The set (Einstellung) toward the MESSAGE as such, focus on the message for its own sake, is the POETIC function of language." Da in der deutschen Übersetzung von 1979 im Kommunikationsmodell message als Mitteilung wiedergegeben wird, sollte auch hier Mitteilung stehen. Daß die Einzelausdrücke ihre Bedeutung verloren und der Gesamtausdruck eine quasilexikalische Bedeutung angenommen hat, so daß also keine echten Konjunkte mehr vorliegen, ist daran zu sehen, daß diese Ausdrücke nicht mehr aufspaltbar sind: Sätze wie *Er verreiste mit Kind und sie mit Kegel oder *Der Kritiker verriß das Stück in Bausch und die Aufführung in Bogen sind klar ungrammatisch. So schrieb Jakobson bereits in seiner 1921 auf Russisch erschienenen Arbeit über „Die neueste russische Poesie" (= Jakobson 1921/1972: 31), die Poesie sei „nichts anderes als eine Äußerung mit Ausrichtung auf den Ausdruck".

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Semiotische Grundlagen

inhalten besteht (referentielle Funktion), bewußt durch bestimmte Mittel gestört wird - als das Verfahren, mit dem sich dies am besten erreichen läßt, bezeichneten sie die Verfremdung.16 Damit war die poetische Sprache für sie „eine schwierige, erschwerte, gebremste Sprache" (Sklovski 1916/1971: 33), die dazu geeignet ist, den Automatismus der Alltagssprache, die dann am besten funktioniert, wenn man sie als solche gar nicht bemerkt, zu durchbrechen. Lagen in der frühen Phase des Formalismus die Akzente noch im wesentlichen auf den Verfahren selber, mit denen eine solche „Erschwerung" der Wahrnehmung erzielt werden sollte,17 so erkannte man bald in zunehmendem Maße, daß man die Funktion dieser Verfahren (über die Funktion der Verfremdung hinaus) zu berücksichtigen habe.18 Damit aber zeichnete sich eine Wende von einem eher statischen zu einem dynamischen Ansatz ab: Der Formalismus war auf dem Weg zum funktionalen Strukturalismus. 19 Diese Entwicklung setzte sich nach dem Zusammenbruch des Russischen Formalismus im Prager Strukturalismus fort 20 und führte bei Wissenschaftlern wie Jakobson und Mukafovsk^, die sich beide eingehend mit Fragen der Poetik und Ästhetik auseinandersetzten, zu einer immer stärker semiotisch geprägten Herangehensweise an diese Probleme.21 Immer wieder findet sich bei ihnen der Begriff der ästhetischen (Mukarovsky)22 bzw. der poetischen Funktion (Jakobson), und beide legen Wert darauf, daß es dabei nicht um etwas Ausschließliches geht, das bestimmte Gegenstände (zum Beispiel Texte) als eindeutig ästhetisch/poetisch von allen anderen nicht-ästhetischen/nicht-poetischen Gegenständen/Texten unterscheidet, sondern eher um fließende Übergänge: Von Individuum zu Individuum, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Epoche zu Epoche wird die Grenzlinie unterschiedlich gezogen. Das Postulat der nicht völligen Abtrennbarkeit und Ausgliederung der Kunst besagt weiterhin, daß sie mit anderen sozialen Fakten in dialektischer Korrelation 16 17

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Russ. ostranenie (vgl. besonders Sklovski 1916/1971). So schrieb Sklovski 1921: „Ein literarisches Werk ist die Summe aller darin angewandten stilistischen Mittel." (Zitat nach Erlich 1973: 99) Bereits 1921 formulierte Jakobson: „Poesie ist Sprache in ihrer ästhetischen Funktion" (Jakobson 1921/1972: 31). Vgl. auch Tynjanov 1924/1971:403. Dieser Wechsel wird deutlich in verschiedenen Arbeiten von Tynjanov; vgl. zum Beispiel Tynjanov 1927/1971. Siehe auch Erlich 1973: 99. Für nähere Einzelheiten zum Russischen Formalismus siehe Erlich 1973, Ihwe 1972, Hansen-Löwe 1978 sowie die Textsammlungen Striedter (ed.) 1971 und Stempel (ed.) 1972. So schreibt Jakobson in seinem Artikel „Was ist Poesie?" von 1933/34, es sei die Funktion der Dichtung, aufzuweisen, daß das Zeichen nicht identisch mit seinem Bezugsgegenstand ist (Jakobson 1934/1979: 79). Und Mukarovsky formuliert: .Alles am Kunstwerk sowie dessen Beziehung zur W e l t . . . läßt sich auf Grund von Zeichen und Bedeutung erörtern. In diesem Sinne kann man die Ästhetik als einen Teil der modernen Wissenschaft von den Zeichen, der Semasiologie, ansehen" (zitiert nach Erlich 1973: 175). Vgl. zum Beispiel Mukarovskys 1936 erschienene Arbeit „Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten", in: Mukarovsky 1970: 7-112.

Die poetische Funktion bei Jakobson

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steht. Insbesondere Tynjanov war es, der die systemhafte Beziehung der Literatur mit den anderen „Reihen" des künstlerischen und sozialen Lebens betonte: Das Element steht gleichzeitig in Korrelation: einerseits zu der Reihe entsprechender Elemente anderer Werk-Systeme und sogar zu anderen Reihen, andererseits zu anderen Elementen des vorgegebenen Systems (Autofunktion und Synfunktion). 23

Jedes Textelement steht also in Beziehung zu anderen gleichartigen Elementen in anderen Texten, weiterhin zu entsprechenden Elementen im Sprachsystem, und schließlich zu anderen, gleichartigen und nicht-gleichartigen Elementen im selben Text. Diese Entwicklungslinien, die hier nur in aller Kürze und stark vereinfacht nachgezeichnet werden konnten, lassen sich in Jakobsons Definition der poetischen Funktion, die er aus seinem Kommunikationsmodell ableitet, deutlich wiedererkennen. Allerdings treten hier auch Weiterentwicklungen zutage, die u. a. auf Jakobsons Beschäftigung mit dem Werk von Charles S. Peirce, Karl Bühler und Gerard Manley Hopkins zurückgehen. Der Einfluß von Peirce zeigt sich in einer noch stärkeren Einbindung der Linguistik in die Semiotik, der von Bühler im Kommunikationsmodell selbst, das Jakobson von den drei Faktoren Ausdruck (Sender), Appell (Empfänger) und Darstellung (Gegenstände und Sachverhalte)24 auf die genannten sechs Faktoren erweitert, mit denen sich die alte Frage nach der poetischen Funktion neu aufrollen ließ, und der Einfluß von Hopkins zeigt sich in einer neuen Formulierungsweise der poetischen Funktion.25 Der ersten Definition der poetischen Funktion, die wir mit Holenstein die phänomenologische genannt haben, stellt Jakobson nämlich eine zweite zur Seite, die nun genuin strukturalistisch ist: ,J)ie poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination" 26 Jakobson nimmt hier Bezug auf die zuerst von dem polnischen Sprachwissenschaftler M. Kruszewski vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei Arten von Beziehungen, die zwischen Wörtern bestehen können, nämlich Ähnlichkeitsassoziationen und Angrenzungsassoziationen,27 eine Unterscheidung, die von de Saussure aufgegriffen wurde und in modifizierter Form als Unterscheidung zwischen assoziativen und syntagmatischen Beziehungen eine wichtige Rolle in seiner Darstellung des Funktionierens von Sprache spielt, da diese Beziehungen zwei grundlegende, aber verschiedene Arten geistiger Tätigkeit repräsentieren.28 So stehen, um ein Beispiel Jakobsons zu gebrauchen, Haus und Hütte in einer Ähn23 24 25

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Tynjanov 1927/1971:439. Siehe Bühler 1934: 28. Über den Einfluß von Hopkins auf Jakobson wird noch an einer späteren Stelle der Arbeit ausfuhrlich zu sprechen sein (vgl. Kap. 2.3.2). Jakobson 1979: 94 (Hervorhebung im Original; vgl. auch Jakobson 1960: 358). Vgl. Posner 1972: 238, Anm. 25; Holenstein 1975: 143f. - Eine ausführliche Diskussion findet sich jetzt in Happ 1985. Saussure 1967: 147-156.

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lichkeitsbeziehung und Haus und abgebrannt in einer Angrenzungsbeziehung. 29 Jeder konkrete Kommunikationsakt mittels Sprache hat es nun mit beiden Arten von Beziehung zu tun. Während des Äußerungsaktes stehen dem Sprecher laufend mehrere Alternativen zur Verfügung, aus denen er eine auswählt: Dies ist die Ebene der Selektion. Dabei steht jedes sprachliche Zeichen mit den Zeichen, die statt seiner in der betreffenden Äußerung verwendet werden könnten, in einer Äquivalenzrelation. Demgegenüber steht es mit den anderen sprachlichen Zeichen derselben Ebene (zum Beispiel der morphologischen oder der syntaktischen), mit denen es zusammen die sprachliche Äußerung bildet, in einer Kontiguitätsrelation: Dies ist die Ebene der Kombination. 30 In einem Text, in dem die poetische Funktion keine dominierende Rolle spielt, werden die Ausdrücke nun aus ihren jeweiligen Äquivalenzklassen (den verschiedenen Paradigmen) gemäß dem jeweiligen Kommunikationszweck ausgewählt und miteinander kombiniert. Dabei gelten die Kombinationsregeln unabhängig von den Kriterien, nach denen selektiert wird: Die Ausdrücke, die als dem jeweiligen Kommunikationszweck am meisten dienlich ausgewählt wurden, werden gemäß den grammatischen Regeln der betreffenden Sprache sozusagen ,in den Satz eingepaßt'. Äquivalenzen zwischen den verwendeten Ausdrücken werden vom Sender in der Regel nicht angestrebt bzw. vom Empfänger in der 29

30

Jakobson 1956: 91. - Streng genommen ist, wie Posner 1972: 238, Anm. 26 bemerkt, der Begriff „Angrenzungsbeziehung" (oder, wie es bei Jakobson auch heißt, „Kontiguität") seit der Entwicklung der generativen Transformationsgrammatik (also spätestens seit Chomsky 1957) ein Anachronismus, da kombinatorische Beziehungen (z. B. syntaktischer Art) nicht nur zwischen benachbarten, angrenzenden Elementen bestehen. Da sich dieses Oppositionspaar jedoch inzwischen eingebürgert hat und das eben angesprochene Problem in diesem Rahmen keine Verwirrung stiften kann, so lange man sich bewußt ist, daß es existiert, soll hier keine neue Namensgebung unternommen werden. Im übrigen gibt der Ausdruck „Achse der Kombination" auch nicht zu Mißdeutungen Anlaß. Siehe hierzu auch Jakobson 1956: 74. - Um dies zu verdeutlichen: Wenn wir sprechen, wählen wir (mehr oder weniger bewußt) aus einer Anzahl alternativer Ausdrücke (zum Beispiel Wörter) den für unseren Kommunikationszweck passendsten aus, und zwar tun wir das bei jedem Ausdruck, den wir verwenden, bis zum Ende der Äußerung. Natürlich ist die Zahl alternativer Ausdrücke an verschiedenen Stellen in unserer Äußerung unterschiedlich groß (vgl. sogenannte geschlossene' Klassen von grammatischen Formativen - Artikel, Pronomina etc. versus sogenannte .offene' Klassen von lexikalischen Formativen - Nomina, Verben, Adjektive etc.). Aber auch eine an einer früheren Stelle vorgenommene Wahl kann Konsequenzen für spätere Selektionsprozesse haben (von den beiden Alternativen trinken und saufen bleibt zum Beispiel nach der Wahl des Subjekts Kühe normalerweise nur die Alternative saufen) und im Extremfall - wie in diesem Beispiel - die Wahlmöglichkeit sehr stark reduzieren. Wenn man jedoch berücksichtigt, daß wir nicht nur zwischen Wörtern wählen können, sondern auch einen aus mehreren Wörtern bestehenden Ausdruck (ein Syntagma) durch e i n Wort ersetzen (zum Beispiel der Verfasser der „Wahlverwandtschaften" durch Goethe), oder, umgekehrt, ein Wort durch einen längeren Ausdruck umschreiben können (z. B. saufen durch Wasser zu sich nehmen o. ä.), wird deutlich, daß wir prinzipiell an jeder Stelle in unserer Äußerung eine echte Wahl zwischen mehreren äquivalenten Ausdrücken haben.

Die poetische Funktion bei Jakobson

19

Regel, sollten doch welche vorhanden sein, gar nicht bemerkt. Dies ist bei der poetischen Funktion anders: Laut Jakobson manifestiert sie sich gerade darin, daß das Äquivalenzprinzip auf die Kombinatorik des Textes übertragen wird, so daß nicht mehr, wie in nicht-poetischen Texten, die Relation der Äquivalenz zwischen einem im Text präsenten und anderen, im Text nicht präsenten Ausdrücken besteht, sondern vielmehr zwischen Ausdrücken, die im Text präsent sind.31 Jakobson hat hier zweifellos den Prozeß der T e x t p r o d u k t i o n im Auge und zeigt, welche Konsequenzen die Projektion des Äquivalenzprinzips von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination für die Struktur des poetischen Textes hat. Demgegenüber zeigt Posner in einer neueren Arbeit (Posner 1984), daß die Symbolinterpretation, also eine bestimmte, in der neueren Literaturwissenschaft praktizierte Art der Text r e z e p t i o n . s i c h der genauen Umkehrung dieser Operation bedient, nämlich der Projektion des Prinzips der Kontiguität von der Kombinationsachse auf die Selektionsachse. So werden, um bei dem von Posner angeführten Beispiel (verschiedenen Interpretationsweisen von Goethes Gedicht „An den Mond") zu bleiben, in symbolorientierten Interpretationen Textteile, die in der Relation der Kontiguität zueinander stehen, zu verschiedenen Paradigmen kombiniert und „auf zentrale Wörter im Gedicht" projiziert, im erwähnten Goethegedicht etwa auf die Wörter Mond, Fluß und Nacht (Posner 1984: 198). Diese Paradigmenbildung (die ja den Anspruch erhebt, eine Rekonstruktion der Paradigmenbildung zu sein, die der Autor beim Produktionsprozeß vorgenommen hat) und die Projektion der jeweiligen Paradigmen auf zentrale Wörter des Textes ist freilich nur möglich in einem Text, „dessen Bestandteile sowohl in der Relation der Kontiguität a l s a u c h d e r Ä q u i v a l e n z z u e i n a n d e r s t e h e n " (Posner 1984: 202, Hervorhebung von mir; C. K.). Denn gäbe es keine Äquivalenzbeziehungen im Text, stünde der Interpret hilflos vor der Frage, welche Textteile er zu welchen Paradigmen zusammenfassen und auf welche „zentralen Wörter" er sie dann projizieren sollte. (Daß es auch solche Interpreten gibt, die diese Frage recht unbekümmert hinsichtlich vorhandener oder nicht vorhandener Äquivalenzbeziehungen im Text angehen und damit die Methode der Symbolinterpretation selbst in Mißkredit zu bringen Gefahr laufen, sei hier nur am Rande vermerkt.) Aufgrund des Befundes, daß sich die Umkehrung des Jakobsonschen Ansatzes als für die Beschreibung einer, wie man zugeben muß, fruchtbaren Methode der literarischen Textinterpretation überaus tauglich erweist, schlägt Posner eine Neuformulierung dieses Ansatzes vor, die nun modalitätsneutral hinsichtlich der Sprachverwendung ist: Sie gilt gleichermaßen für den Produktions- wie für den Rezeptionsprozeß (wobei Rezeption hier im Sinne einer um das Verständnis des Textes als poetischen Textes bemühten Beschäftigung mit dem Text und nicht als flüchtige Lektüre zu verstehen ist): „ D i e p o e t i s c h e F u n k t i o n p r o j i z i e r t das P r i n z i p der Ä q u i v a l e n z und das P r i n z i p d e r K o n t i g u i t ä t auf i h r e g e g e n s e i t i g e n A n w e n d u n g s b e r e i c h e " (Posner 1984: 201f., Sperrung im Original; C. K.). 31

Vgl. die schematische Darstellung dieser Übertragung in Posner 1972: 210f.

20

Semiotische Grundlagen U m die Auswirkungen, die diese Definition der poetischen Funktion auf das

weitere Verständnis von „Poetizität" bzw. v o m „poetischen Text" hat, in ihrer ganzen Tragweite verstehen zu können, ist es zunächst notwendig, den Begriff der Äquivalenz von verschiedenen Seiten gründlich zu beleuchten.

2.2

D e r B e g r i f f der Ä q u i v a l e n z

2.2.1

Äquivalenz in Sprache und Poetik

2.2.1.1

Der formallogische Äquivalenzbegriff

In der formalen Logik bezeichnet Äquivalenz eine dreistellige Relation der Form „x äquivalent y im Hinblick auf den Bezugspunkt Z". 3 2 Da Z in den meisten Fällen (d. h. bei konkreten Anwendungsgebieten) eine Konstante ist, wird Äquivalenz jedoch zumeist als zweistellige Relation dargestellt, zum Beispiel als Aussagenverbindung p q (d. h. als bilaterale Implikation). Interpretieren wir nun Z als den Wahrheitswert, so ist die Aussagenverbindung p »

q dann und nur dann wahr,

wenn die beiden Aussagen p und q jeweils beide wahr oder beide falsch sind. In der linguistischen Disziplin der Semantik wird der Äquivalenzbegriff u. a. für die Beschreibung von Synonymen herangezogen. Danach sind z w e i Ausdrücke A i und A 2 synonym, wenn p o

q wahr ist und p und q A i bzw. A 2 an der

gleichen syntaktischen Position enthalten und sonst aus denselben Ausdrücken bestehen oder, was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft, wenn A i und A 2 in einem Satz austauschbar sind, ohne daß sich die Bedeutung des Satzes verändert. Jede Äquivalenzrelation hat die Eigenschaften der R e f 1 e x i v i t ä t (R (x, * ) ) , der S y m m e t r i e (R (x, y) - > R (y,x))

und der T r a n s i t i v i t ä t ([Ä ( x , y ) a R (y, 2)] - > R (x,

z)). A u f den Fall der Synonymität zwischen Ausdrücken bezogen, bedeutet dies, daß gilt: ( a ) ein Ausdruck ist mit sich selbst synonym (Reflexivität) ( b ) wenn A i synonym ist mit A 2 , dann ist A 2 auch synonym mit A ( (Symmetrie), ( c ) wenn A i synonym ist mit A 2 und A 2 synonym ist mit A 3 , dann ist auch A j mit A 3 synonym (Transitivität). 2.2.1.2

Äquivalenz in der natürlichen Sprache

A l s ein Beispiel für eine M e n g e von drei synonymen Ausdrücken, an denen sich diese Eigenschaften der Äquivalenzrelation relativ gut demonstrieren lassen, seien die Wörter Lift, Aufzug, Fahrstuhl

angeführt, die alle im gleichen Kon-

text erscheinen können. Allerdings hat die Geschichte der Semantik gezeigt, daß es - zumindest auf der lexikalischen Ebene - kaum Fälle solcher Art von Synonymie gibt. Daher wird meistens zwischen t o t a l e r und p a r t i e l l e r Syno-

32

In Klaus/Buhr 1971: 98 lautet die Formulierung: äquivalent y in bezug auf z". Da z jedoch einen anderen theoretischen Status hat als x und y, drücke ich diesen Unterschied auch formal durch die Verwendung des Großbuchstaben Z aus.

Der Begriff der Äquivalenz

21

nymie unterschieden, wobei die partielle Synonymie nicht alle Eigenschaften von Äquivalenzrelationen hat. Den Ausdrücken entschlafen, verscheiden, den Geist aufgeben, sterben, abkratzen fehlt zum Beispiel die Eigenschaft der Transitivität, so daß hier eher eine Ähnlichkeits- oder Toleranzrelation vorliegt. 33 Unter dem Aspekt, daß Z der Wahrheitswert ist, kann man zwar von totaler Synonymie dieser Ausdrücke sprechen, aber es gibt wichtige Unterschiede hinsichtlich der Verwendungsbedingungen dieser Ausdrücke (zum Beispiel stilistischer Art), die einen freien Austausch dieser Ausdrücke in einem gegebenen Satz unmöglich machen. Zum Aspekt des Wahrheitswertes, unter dem diese Ausdrücke äquivalent sind, tritt somit ein weiterer Aspekt hinzu, unter dem sie nicht äquivalent sind. Wir sehen also, daß der Anwendungsbereich der Äquivalenzrelation zumindest in der lexikalischen Semantik nur gering ist; es gibt kaum Lexeme, die sowohl hinsichtlich ihrer Intension als auch ihrer Extension äquivalent sind. Meistens ist es so, daß zwei zur Debatte stehende Ausdrücke Ai und A 2 e x t e n s i o n a l synonym (im Sinne der logischen Äquivalenzrelation) sind, während sie es i n t e n s i o n a 1 nicht sind. Zur Bedeutungs g 1 e i c h h e i t kommt in der Regel, unter einem anderen (stilistischen, dialektalen, soziolektalen, konnotativen) Aspekt, eine Bedeutungs U n g l e i c h h e i t . Das Sprachsystem duldet keine überflüssigen Ausdrücke. Genau dies meint Jakobson, wenn er schreibt: A selection between alternatives implies the possibility of substituting one for the other, e q u i v a l e n t to the f o r m e r in o n e r e s p e c t a n d d i f f e r e n t f r o m it in another.34

In der natürlichen Sprache ist es also von entscheidender Bedeutung, den Bezugspunkt, unter dem Ausdrücke einander äquivalent sind (Z in der oben zitierten dreistelligen Relation), exakt zu spezifizieren. Die Rede von der Äquivalenz zweier Ausdrücke ohne Angabe dieses Bezugspunktes ist somit sinnlos. Man sollte daher im Bereich der natürlichen Sprache (und, wie wir sehen werden, gilt dies auch für den Bereich der Poetik) nicht von d e r Äquivalenzrelation sprechen, sondern vielmehr davon ausgehen, daß es eine F a m i l i e v o n Ä q u i v a l e n z b e z i e h u n g e n zwischen Elementen der Sprache gibt. Unter dem Aspekt der grammatischen Bedeutung sind zum Beispiel die Pluralallomorphe im Deutschen miteinander äquivalent, unter dem Aspekt ihrer Lautung sind sie es jedoch nicht. Umgekehrt sind im Deutschen Morpheme, die von ihrer grammatischen Bedeutung her nicht äquivalent sind, hinsichtlich der Lautung äquivalent: Die Lautform, die durch die beiden Buchstaben -en wiedergegeben wird, kann zum Beispiel stehen für (a) alle Pluralformen bestimmter Nomina (Frau+en) (b) Dativ Plural bestimmter anderer Nomina (auf den 33

34

Weg+en)

Vgl. Fischer 1973, der in bezug auf die natürliche Sprache Toleranzrelationen für adäquater hält als Äquivalenzrelationen. Jakobson 1956: 74 (Hervorhebung von mir; C. K.). - Dies Problem wird z. B. bei jeder Übersetzung offenkundig.

22

Semiotische

Grundlagen

(c) Infinitiv (les+eri) (d) 3. Person Plural (sie les+en\ sie spiel+t+en) (e) Partizip Perfekt zusammen mit dem Präfix ge- (ge+les+en) und anderes mehr (zum Beispiel Flexionsformen bei Adjektiven). Äquivalenzbeziehungen sind somit nicht auf die semantische Ebene der Sprache beschränkt, sondern praktisch auf allen sprachlichen Ebenen möglich: Phonetik/Phonologie, Morphologie, grammatische Kategorien, Syntax, Semantik, Stil, Dialekt, Soziolekt - all dies kann die Basis für Äquivalenzbeziehungen bilden. Nun sind aber nicht nur (sprach)ebenenspezifische Äquivalenzen möglich, sondern es können a u f j e d e r d i e s e r E b e n e n wiederum eine Vielzahl möglicher Äquivalenzkriterien unterschieden werden (so können allein unter dem grammatischen Aspekt zum Beispiel folgende Kriterien zur Äquivalenzbildung benutzt werden: genus, numerus, Aktiv/Passiv, Wortart, Kasus, Tempus, Modus, Person, Konjugationsklasse, verbum finitum/verbum infinitum etc.),35 so daß mit einer sehr großen Menge möglicher Äquivalenzbeziehungen, die im Sprachsystem verankert sind, gerechnet werden muß.36 Daher hat die folgende Liste von Äquivalenzkriterien, die Jakobson als für Dichtung besonders relevant zusammenstellt, allenfalls illustrativen Charakter und kann keineswegs als vollständig gelten: In der Dichtung wird eine Silbe einer anderen Silbe derselben Sequenz angeglichen; Wortakzent gleicht Wortakzent, das Fehlen des Akzentes gleicht seinem Fehlen; prosodische Länge gleicht Länge, Kürze gleicht Kürze; Wortgrenze gleicht Wortgrenze, das Fehlen einer Grenze dem Fehlen einer Grenze; syntaktische Pause gleicht syntaktischer Pause, das Fehlen einer Pause gleicht dem Fehlen einer Pause. Silben wie auch Moren und Betonungen werden in Takteinheiten verwandelt. 37

Allerdings ist dieser Passus insofern besonders interessant, als Jakobson deutlich macht, daß im poetischen Text nicht nur in bezug auf gleichartige, im Text präsente Elemente von Äquivalenzbeziehung gesprochen werden kann, sondern auch in bezug auf Elemente, die nicht im Text präsent, wohl aber dort gemäß bestimmten Normen oder Regeln zu erwarten sind;38 daß auch solche, wider alle Erwartung abwesenden Elemente eine wichtige Rolle im poetischen Text spielen, hatten schon die Russischen Formalisten erkannt und mit der Bezeichnung Minus-Verfahren (minus-priem) versehen.

35 36

37 38

Vgl. die Aufstellung von Jakobson 1961/1979: 243f. Insbesondere die grammatischen Äquivalenzen in poetischen Texten sind von der Literaturwissenschaft bislang sträflich vernachlässigt worden. Welche gewichtige Rolle solche Äquivalenzen aber spielen können, wurde von Jakobson in verschiedenen Untersuchungen gezeigt; vgl. zum Beispiel die drei Aufsätze in Jakobson 1976 über Hölderlin, Klee und Brecht. Jakobson 1979:94f. Über die Rolle der Rezipientenerwartung vgl. Kap. 2.2.6 sowie 3.2.

Der Begriff der Äquivalenz

2.2.1.3

23

Äquivalenz in der Poetik: der Reim

Als Belegfall für die Äquivalenzrelation in der Poetik wollen wir jedoch ein einfacheres Beispiel wählen, und zwar den Reim (also eine im Text präsente Struktur). Wie die oben angesprochenen metrischen Einheiten ist auch der Reim eine abstrakte poetische Einheit, die sprachlich aktualisiert werden muß. A l s e i n e s o l c h e a b s t r a k t e E i n h e i t erfüllt der Reim die Bedingungen der Reflexivität, Symmetrie und Transitivität: Die verschiedenen Reimformen (Paarreim, Kreuzreim, umarmender Reim, Schweifreim etc.) sind ja gerade durch die Äquivalenz der Reimglieder charakterisiert, was sich zum Beispiel in deren formalen Notationen (aabb, abab, abba, aabccb) ausdrückt. Kritisch wird es jedoch, sobald wir sprachliche Aktualisierungen des Reims betrachten. Hier stellt sich zunächst einmal die Frage, welche sprachliche .Füllung' vom jeweiligen poetischen System überhaupt als Reim akzeptiert wird. Für die unter phonetischphonologischem Aspekt zu differenzierenden sprachlichen Aktualisierungsarten rührender Reim, reiner Reim, unreiner Reim ist diese Frage unterschiedlich zu beantworten. R ü h r e n d e r R e i m bezeichnet den Gleichklang zweier oder mehrerer Wörter von der letzten betonten Silbe an, also einschließlich der dem betonten Vokal voraufgehenden Konsonanz, so weit sie zur gleichen Silbe gehört (klingen : erlklingen). Hier ist die sprachliche Äquivalenz unter lautlichem Aspekt gegeben im Deutschen wird jedoch diese Art des Reims, wie auch der identische Reim, von der literarischen Tradition seit Opitz - abgesehen von der gelegentlichen Verwendung in .exotischen' Gedichtformen wie dem Ghasel - nicht toleriert:39 Es gilt also nicht die Reflexivitätsbeziehung, nach der jedes Wort mit sich selbst reimen müßte (Grotjahn 1979: 48), bzw. sie gilt nur in Ausnahmefällen. Es ist zu beachten, daß es hier um Exemplare (tokens) desselben Typs (type) geht - nur auf dieser exemplarspezifischen Ebene ist die Redeweise, jedes Wort reime bzw. reime nicht mit sich selber, sinnvoll. - Wo doch rührender Reim gemäß der oben gegebenen Definition vorkommt, wird nicht das gesamte sprachliche Zeichen wiederholt,40 sondern nur dessen Lautform, während die Bedeutung eine andere ist (vgl. den Reim Waise : Weise in Beispiel (11), S. 30). R e i n e r R e i m , also der lautliche „Gleichklang zweier oder mehrerer Wörter vom letzten betonten Vokal an" (von Wilpert 1964: 565) erfüllt im Deutschen die drei Bedingungen für Äquivalenz. Im Französischen hingegen gilt dies nicht uneingeschränkt. So war etwa bei den Reimen malheur : cœur : bonheur die Eigenschaft der Transitivität nicht immer gegeben: malheur reimte zwar mit cœur und cœur mit bonheur, aber der rime dérivative malheur : bonheur wurde zeitweise 39

40

Ähnlich ist es in der neueren englischen Literatur, während z. B. Chaucer diese Art des Reims noch benutzte. Auch in der französischen Literaturgeschichte gibt es Perioden, wo der rime riche akzeptiert, ja gesucht, und andere, wo er vermieden wurde. Vgl. hierzu 2.2.3.

24

Semiotische Grundlagen

nicht akzeptiert (obwohl es, da das h nicht gesprochen wird, kein rührender Reim ist). 41 Beim u n r e i n e n R e i m ist die Bedingung derTransitivität auch im Deutschen häufig nicht erfüllt. Reime wie sehe : Höhe und sehe : Nähe sind zwar recht gängig, Höhe: Nähe kommt jedoch sehr viel seltener vor. Grotjahn (1979:49) schlägt daher vor, beim unreinen Reim nicht von einer Äquivalenzrelation auszugehen, sondern höchstens von einer Ähnlichkeitsrelation. Das Beispiel des Reims macht einen wesentlichen Punkt deutlich, der generell bei der Diskussion des Äquivalenzprinzips in der Poetik von entscheidender Bedeutung ist: Die Relation der Äquivalenz im strengen Wortsinn liegt zwar immer zwischen poetischen (und damit auch metrischen) Einheiten vor. Poetische Einheiten als solche sind jedoch stets abstrakter Natur und müssen in irgendeiner Weise sprachlich realisiert werden. Sobald aber eine solche sprachliche Realisierung stattfindet, ist damit zu rechnen, daß die Äquivalenzrelation zur Ähnlichkeitsrelation abgeschwächt wird, da eine der drei grundlegenden Eigenschaften den zu einer poetischen Struktur (d. h. zu einem Paradigma) zusammengefaßten sprachlichen Ausdrücken häufig fehlt. Dies gilt auch für metrische Einheiten wie zum Beispiel Versfüße. In einem isometrischen Text, etwa einem Gedicht, das in fünffüßigen Jamben geschrieben ist, stehen die Versfüße als metrische Einheiten natürlich in der Relation der Äquivalenz zueinander - daher ist eine schematische Notation der Art x x x x x x x x x x (vgl. Anhang II) überhaupt erst möglich. In der sprachlichen Realisierung dieses metrischen Schemas (vgl. hierzu Kap. 4.2.2) treten jedoch notwendig akzentuelle Unterschiede zwischen den einzelnen sprachlichen Ausdrücken auf, welche die Versfüße repräsentieren, und zwar schon allein aus dem Grund, weil das mehrstufige Akzentsystem der Sprache auf ein binäres System von Hebung und Senkung reduziert wird. Hinzu kommt, daß die Besetzung einer Hebung durch eine unbetonte und die Besetzung einer Senkung durch eine betonte Silbe unter bestimmten Bedingungen (zum Beispiel im ersten Fuß der Zeile oder nach einem deutlichen syntaktischen Einschnitt) im selben Versfuß durchaus möglich ist. Nicht möglich ist dies allerdings in zwei aufeinanderfolgenden Versfüßen (zumindest nicht im Deutschen und im Russischen, und im Englischen auch nur bei einigen wenigen Dichtern wie Milton oder Hopkins - vgl. hierzu S. 107f.), so daß auch hier von d e m Fehlen der Transitivitätsrelation auszugehen ist. Um ein Beispiel zu geben: Im folgenden Vers stimmt die sprachliche Betonung mit dem metrischen Schema im ersten Fuß nicht überein, sondern ist genau umgekehrt: (1)

Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide X

X

(Goethe, „Elegie")

41

Grotjahn 1979: 48.

25

Der Begriff der Äquivalenz

Fälle wie das folgende Konstrukt, bei dem die gleiche Nicht-Übereinstimmung auch im zweiten Fuß zu finden ist, werden jedoch im Deutschen als unmetrisch vermieden:42 [1']

*

Gab mir Hermes zu sagen, was ich leide X

X

x

x

x

x

x

x

x

x

x

Nach den von uns diskutierten Fällen zu urteilen, scheinen es vornehmlich die Eigenschaften der Reflexivität und der Transitivität zu sein, von denen eine fehlen kann. In beiden Fällen kommt es zu unterschiedlichen Konsequenzen, die m. E. in ihrer Bedeutung für die Poetik bislang übersehen worden sind: 1. D a s F e h l e n d e r R e f l e x i v i t ä t s r e l a t i o n (etwa beim rührenden Reim) f ü h r t d a z u , d a ß s p r a c h l i c h r e a l i s i e r t e p o e t i s c h e E i n h e i ten nicht als g l e i c h e s p r a c h l i c h e Z e i c h e n e x e m p l a r e d e s s e l b e n T y p s a u f g e f a ß t w e r d e n k ö n n e n . Sind sie es unter lautlichem Aspekt dennoch (von irrelevanten phonetischen Unterschieden, wie sie bei mehrmaligem Äußern desselben sprachlichen Ausdrucks immer vorkommen, abgesehen), so tritt gleichzeitig unter einem anderen Aspekt (hier dem der Bedeutung) ein Bezugspunkt hinzu, der die verwendeten Ausdrücke voneinander unterscheidet {Waise vs. Weise). Die verwendeten Ausdrücke selbst sind stets durch Ä h n l i c h k e i t , also das gleichzeitige Vorhandensein von etwas Gleichem und etwas Ungleichem, charakterisiert (dies gilt natürlich auch für den reinen Reim, bei dem ja ungleicher Wortanfang und gleiches Wortende gekoppelt sind - vgl. hierzu auch Kap. 2.2.3). 43 Übrigens läßt sich im Vers auch das umgekehrte Phänomen beobachten, daß nämlich verschiedene Exemplare desselben Typs auf der sprachlichen Ebene (zum Beispiel wiederholtes Vorkommen desselben Wortes oder gar Satzes) dadurch einen Aspekt der Ungleichheit erhalten, daß sie unterschiedliche metrische Einheiten realisieren; vgl. die folgenden Beispiele: (2)

Instantly! Instantly! X X

X X X

X

(Coleridge, Übersetzung von Schillers „Piccolomini", II, ii = [III, ii des Originals])

42

43

Jedenfalls dann, wenn beide Füße nicht durch einen syntaktischen Einschnitt getrennt sind; aber selbst solche Fälle (wie in (215), S. 218) sind ausgesprochen selten. „[. . .] nicht der gleiche Klang allein macht den rechten Reim, sondern Gleichheit und Ungleichheit zusammen, und zum Reim gehört nicht bloß das gleich Klingende vom Vocal an, sondern ebenso das verschieden Klingende, das dem Tonvocal als Ansatz vorhergeht. Also, könnte man sagen, Reim und Unreim verflochten bilden den rechten Reim" (Hildebrand 1891: 578).

26

Semiotische

(3)

Grundlagen

Treason - why, treason breaks all bonds asunder X X

X X X

(ebd., V, iv [= „Wallensteins Tod", II, v des Originals]) (4)

Es kann nicht sein! kann nicht sein! kann nicht sein! x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

(Schiller, „Die Piccolomini", V, i) (5)

Soll ich es nicht? Bist dus mir? Bist dus mir? X X X

X X X

(Kleist, „Amphitryon", II, v) (6)

Was zaudr' ich noch? Ist ers nicht? Ist ers nicht? XX X XX X (ebd., II, vi)

Etwas überspitzt könnte man angesichts dieses Befundes die These aufstellen, daß der poetische Text dadurch charakterisiert ist, daß äquivalente poetische/metrische Einheiten durch ähnliche, jedoch nicht äquivalente sprachliche Einheiten realisiert werden, und daß umgekehrt äquivalente sprachliche Einheiten nicht äquivalente poetische/metrische Einheiten realisieren. 2. D a s F e h l e n d e r T r a n s i t i v i t ä t s r e l a t i o n (etwa beim unreinen Reim) hat nun gerade die entgegengesetzte Konsequenz, und zwar passiert folgendes: Dadurch, daß zwar Ai (z. B. Höhe) mit A 2 (z. B. sehe) und A2 mit A 3 (z. B. Nähe) reimt, jedoch nicht A, mit A 3 , wird v e r h i n d e r t , d a ß d i e T e n d e n z zur U n g l e i c h h e i t ü b e r h a n d n i m m t ; s t a t t d e s s e n wird s i e a u f e i n e n f e s t u m r i s s e n e n A s p e k t b e s c h r ä n k t . A2 (sehe) steht im Schnittpunkt zweier Ähnlichkeitsbeziehungen, von denen sich jede nur durch eine geringe Abweichung von totaler Äquivalenz unterscheidet. So hat der betonte Vokal in A2 (sehe) mit dem betonten Vokal in Ai (Höhe) folgende phonologischen Merkmale44 gemeinsam: [+ vokalisch, + vorn, + gespannt, + lang]; der einzige Unterschied besteht in der An- bzw. Abwesenheit des Merkmals [±rund]. Mit A3 (Nähe) hat A 2 die Merkmale [+ vokalisch, + vom, + lang] gemeinsam, während sie sich durch die Merkmale [± niedrig] und [± gespannt], von denen das letztere in gewisser Weise durch das erstere impliziert wird, unterscheiden. Aj und A3 hingegen unterscheiden sich stärker voneinander, nämlich durch die Merkmale [± niedrig, ± rund, ± gespannt], und sie kommen auch praktisch nicht als Reime vor. Da nun verhindert, Ausdrücke angehören) tet'. 44

zwischen A], A2, A 3 etc. keine Transitivitätsrelation vorliegt, wird daß sich in einem größeren Paradigma syntagmatisch verbundener (etwa den Wörtern, die derselben .Reim'gruppe in einem Gedicht eine zwischen zwei Ausdrücken tolerierte Ungleichheit quasi .ausbrei-

Nach der Merkmalsmatrix in Meinhold/Stock 1980: 82.

Der Begriff der Äquivalenz

27

In diesem Schwanken zwischen dem Fehlen der Reflexivitätsrelation und der Transitivitätsrelation mit ihren unterschiedlichen Konsequenzen bestätigt sich das, was Schmid (1977: 45) das „ästhetische Gesetz des dialektischen Gleichgewichts von Identität und Nicht-Identität" nennt, demzufolge das „ästhetische Optimum" zwischen „den beiden Schwellwerten zu Redundanz und chaotischer Informativität liegt". Nach einer Untersuchung von Krämer (1971), in der die Reime in den Gedichten von Hölderlin, Nietzsche, Ringelnatz, Mörike, Morgenstern, Rilke, Trakl und Wilhelm Busch analysiert wurden, sind ca. 10% davon .fehlerhaft' im Sinne unreiner Reime; knapp 84% dieser 10% beruhen auf einer vokalischen Differenz, die zu über der Hälfte in der An- bzw. Abwesenheit des Merkmals [± gerundet] besteht, zu gut 32% in unterschiedlicher Vokalqualität (wie sehe : Nähe), zu knapp 14% in unterschiedlicher Vokalquantität (wie Bann : Wahn), und nur in etwa 2% der Fälle in unterschiedlicher Qualität u n d Quantität des Vokals. Darüber hinaus treten der Untersuchung von Krämer zufolge Vokaldifferenzen vorwiegend bei sprachgeschichtlich belasteten Vokalen auf, und die als äquivalent betrachteten Vokale sind meist nur durch e i n e n Öffnungsgrad voneinander unterschieden; artikulatorische ,Sprünge' wie zwischen Vorder- und Hintervokalen fehlen fast ganz. 45 Eine deutliche artikulatorische Ähnlichkeit bleibt also zwischen den .reimenden' Ausdrücken erhalten. Die Untersuchung des Reims bestätigt die Richtigkeit einer Überlegung, die Schädlich (1971/72) anstellte. Anstelle der traditionellen Beschränkung auf die Analyse von Segmenten „als Ganzheiten", bei der notwendig alle unterschiedlichen Segmente, ungeachtet dessen, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden, als „ungleich" einander gleichgesetzt werden, was natürlich „den realen sprachlichen Verhältnissen" nicht gerecht wird, plädiert er für die Analyse der phonetischen Merkmalstruktur von Lauten, die es dann gestattet, eine „Skala von Ähnlichkeitsgraden für phonetische Merkmale" zu entwickeln, deren Grenzen zwischen der „Stufe absoluter Ähnlichkeit als Identität aller betreffenden Merkmale" und der „Stufe absoluter Unähnlichkeit", d. h . , D i f f e r e n z aller betreffenden Merkmale" liegen (Schädlich 1971/72: 50f.). 46 Die Relevanz dieser Skala von Ähnlichkeitsgraden für die Poetik zeigte das Beispiel des unreinen Reims: der größte Teil der unreinen Reime basierte auf der Differenz eines Merkmals (sehe : Höhe), dann folgte die Gruppe von Reimen, bei denen zwei Merkmale differieren (sehe : Nähe), und Beispiele, bei denen drei Merkmale differieren, kommen fast nicht mehr vor. Die Diskussion des Äquivalenzbegriffs hat gezeigt, daß Äquivalenzen in der Sprache wie in der Poetik nicht in so umfassender Weise vorkommen, daß man 45 46

Vgl. Krämer 1971: 24. Intuitiv erkannte das auch Hildebrand, als er schrieb (1891: 578), die Ungleichheit von Greis und Kreis sei kleiner als die von Gleis und Greis, weshalb das zweite Paar ein besserer Reim sei.

28

Semiotische

Grundlagen

einfach von d e r Äquivalenz zweier Ausdrücke sprechen könnte, also ohne Angabe des Bezugspunktes, unter dem sie äquivalent sind. Vielmehr ist es so, daß die .äquivalenten' Ausdrücke nur unter einem ganz spezifischen Aspekt äquivalent sind, während ihnen unter einem anderen Aspekt immer etwas Unähnliches inhärent ist (zu einer weiteren Diskussion dieses Punktes vgl. Kap. 2.2.2).47 D i e ses g l e i c h z e i t i g e V o r h a n d e n s e i n von Ä q u i v a l e n z und N i c h t Ä q u i v a l e n z z w i s c h e n A u s d r ü c k e n d e s p o e t i s c h e n T e x t e s , wobei die Äquivalenz (bzw. die Nicht-Äquivalenz resp.) sowohl primär auf der Ebene der poetischen als auch primär auf der Ebene der sprachlichen Elemente zu finden sein kann, ist e i n G r u n d p r i n z i p d e r P o e t i k u n d d a m i t a u c h d e r Metrik. 2.2.1.4

Opposition als Spielart der Äquivalenz

In diesem Sinne können auf der semantischen Ebene der Sprache Äquivalenzen auch dadurch entstehen, daß einander e n t g e g e n g e s e t z t e Elemente (Antonyme) miteinander kombiniert werden, Elemente also, die eine gemeinsame semantische Basis (Archisem) haben, der gegenüber der eine Begriff positiv, der andere negativ charakterisiert ist (vgl. eigentliche Antonyme wie hoch - tief, billig - teuer, gut - böse, schnell - langsam sowie Komplenyme wie tot - lebendig, verheiratet - unverheiratet, evtl. auch Mann - Frau). Ein wichtiger formaler Unterschied zwischen beiden Arten von Äquivalenz sollte allerdings, da er Konsequenzen für die Textstruktur hat, nicht übersehen werden: Eine .normale', d. h. sich aus gleichartigen Elementen zusammensetzende Äquivalenzklasse besteht aus 1 bis n Elementen (wobei n > 2), während eine Klasse von Antonymen immer nur aus 2 Elementen besteht. Die Anwendung des Äquivalenzprinzips (im Jakobsonschen Sinne) auf einen Text führt nun dazu, daß 47

Vgl. Jakobson 1959/1971: „Equivalence in difference is the cardinal problem of language and the pivotal concem of linguistics". - Dieser Punkt ist auch für die M e t a p h e r von entscheidender Bedeutung. Auch sie beruht auf der Ähnlichkeit, ja, in der klassischen Rhetorik ist sie „der Ähnlichkeitstropus schlechthin" (Ricoeur 1986: 168). Allerdings besteht die Ähnlichkeit nicht zwischen zwei im Text anwesenden Ausdrücken, sondern zwischen einem im Text (in ,uneigentlicher' oder .übertragener' Bedeutung gebrauchten) präsenten und einem nicht im Text präsenten Ausdruck (nach Aristoteles heißt gut Ubertragen das Ähnliche sehen). Wie Ricoeur (1986) in seiner grundlegenden Diskussion des Metaphembegriffs zeigt, sind die diversen Metapherntheorien, die zum Beispiel die Substitution des .eigentlichen' Ausdrucks durch den .uneigentlichen' oder die Spannung zwischen beiden oder die durch diese Substitution entstehende .Abweichung' ins Zentrum ihrer jeweiligen Metapherndefinition stellen, auf den Aspekt der Ähnlichkeit zurückführbar, wobei allerdings die Ähnlichkeit nicht auf die Substitution reduzierbar sei, sondern auf der Prädikation basiere, die „zwischen eben den Begriffen eintritt, zwischen denen die Spannung des Widerspruchs besteht" (S. 183). Ricoeur vermißt diese prädikative Basis der Metapher in Jakobsons Ausführungen über die beiden Pole der Sprache (Metapher, Selektion, Ähnlichkeit vs. Metonymie, Kombination, Kontiguität), aber an der Relevanz der Ähnlichkeit, verstanden „als Einheit von Identität und Differenz" (S. 198), hält er fest.

Der Begriff der Äquivalenz

29

es bei Klassen der ersten Art - von dem Fall, daß von einem Element als T y p mehrere Exemplare vorkommen, hier einmal abgesehen - keine zahlenmäßige Beschränkung der im Text vorkommenden äquivalenten Elemente gibt außer durch die Zahl der Elemente im Paradigma,48 während Klassen des zweiten Typs immer nur geschlossene, zweiteilige Strukturen ermöglichen, die allenfalls durch Chiasmus (Wiederholung der Elemente in umgekehrter Reihenfolge), selbst eine geschlossene Figur, auf zweimal zweiteilige erweitert werden können. Beides, extensive Nutzung eines Paradigmas semantisch ähnlicher Ausdrücke und häufige Verwendung semantischer Gegensätze, oft sogar mehrerer Gegensätze in einem Satz bzw. einem Vers, findet sich bei vielen Renaissance- und Barockdichtern. Hier drei Beispiele für Häufung gleichartiger Ausdrücke (Beispiel 7), für mehrfache Verwendung von Antonymen innerhalb desselben Verses (Beispiel 8) und für chiastische Wiederholung eines Antonymenpaars (Beispiel 9): (7)

Man wütet, tobt und zörnt, man flucht und lästert Gott. Man beißt und hadert sich, man lebt wie Hund' und Katzen, Man muß sich ewiglich mit allen Teufeln kratzen. Man frisset Hüttenrauch, Pech, Schwefel, Teufelsmist. (Angelus Silesius, „Überschrift der Verdammnüs")

(8)

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein (Andreas Gryphius, „Vanitas vanitatum et omnia vanitas")

(9)

Fair is foul and foul is fair (William Shakespeare, „Macbeth", I, i)

Wenn man nun die Antonymierelation unter Abstraktion ihres semantischen Gehalts verallgemeinert, kommt man zur formalen Definition eines Oppositionsbegriffs, der nicht mehr auf die semantische Sprachebene beschränkt ist und in der Tat eine wesentliche Komponente des Äquivalenzbegriffs auch auf den anderen sprachlichen Ebenen darstellt: Zwei unabhängig voneinander definierte Äquivalenzklassen stehen in Opposition, wenn sie einander ausschließen und in bezug auf eine dritte übergreifende Klasse komplementär zueinander sind. 49

48

49

Es sei denn, der poetische Kode selbst beschränkt die Zahl möglicher Äquivalenzen im Text; vgl. hierzu Kap. 2.2.5. Posner 1972: 213.

30

Semiotische Grundlagen

2.2.2

Rekurrenz und Äquivalenz

2.2.2.1

Rekurrenz in der Poetik als reduktiver Begriff

Man kann die Anwendung des Äquivalenzprinzips im poetischen Text auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß die äquivalenten Elemente, also die Elemente, die im Text (unter welchem Aspekt auch immer) ein Paradigma bilden, r e k u r r e n t sind und Figuren der Wiederholung (Repetitionsstrukturen) bilden. Es stellt sich dann allerdings zwangsläufig die Frage, was denn eigentlich wiederholt wird. Wenn wir davon ausgehen, daß ein Zeichen aus der Verbindung von Bezeichnendem (Signifikant, signifiant, signans) und Bezeichnetem (Signifikat, signifié, signatum) besteht, so ergeben sich prinzipiell drei Möglichkeiten der Wiederholung (vgl. Cohen 1976, Rimmon-Kenan 1980): 1. Das gesamte Zeichen wird wiederholt, also zum Beispiel Morpheme, Wörter, Sätze, Textteile. Im poetischen Text fallen solche sprachlichen Wiederholungen oft mit Wiederholungen von poetischen Einheiten (Halbvers, Vers, Strophe) zusammen: 50 Im folgenden Gedicht sind zum Beispiel der erste und der letzte Vers (bis auf die unterschiedliche Intonation am Versende) sowie der zweite und der vorletzte (bis auf die Permutation der Wörter braun und blaue zu blau und braune) jeweils identisch: (10)

Rondel Verflossen ist das Gold der Tage, Des Abends braun und blaue Farben: Des Hirten sanfte Flöten starben Des Abends blau und braune Farben Verflossen ist das Gold der Tage. (Georg Trakl)

2. Nur das Bezeichnende (bzw. ein Teil desselben) wird wiederholt, also zum Beispiel Laute, Lautgruppen, Akzentstrukturen, Intonationseinheiten; im Falle von Homonymie wird sogar - mit dem Effekt des rührenden Reims (vgl. den vorigen Abschnitt) - die Klanggestalt eines ganzen Wortes wiederholt: (11)

50

Marie Farrar, geboren im April Unmündig, merkmallos, rachitisch, W a i s e Bislang angeblich unbescholten, will Ein Kind ermordet haben in der W e i s e : (B. Brecht, „Von der Kindesmörderin Marie Farrar")

Je nach Art der Wiederholung und der Verteilung der wiederholten Elemente auf die jeweiligen poetischen Einheiten (Versanfang, Versende, Strophenanfang, Strophenende etc.) kann man hier verschiedene Strukturen unterscheiden, die von der Rhetorik relativ gut kodifiziert sind. Beispiele für solche rhetorischen Figuren finden sich zum Beispiel in Plett 1975: 210ff. und in Küper 1976: 89ff. Siehe auch S. 34.

Der Begriff der Äquivalenz

31

3. Nur das Bezeichnete wird ganz oder teilweise wiederholt. Im Falle der totalen Wiederholung liegt Synonymie vor (vgl. hierzu 2.2.1.2). Für die Diskussion von Fällen von partieller Wiederholung des Bezeichneten empfiehlt es sich, zwischen dem R e f e r e n t e n des Äußerungsaktes (dem Denotat in Morrisscher Terminologie) und der s p r a c h l i c h e n B e d e u t u n g (dem Designat bei Morris) zu unterscheiden. Denn neben der Wiederholung von bedeutungsmäßig ähnlichen Ausdrücken (z. B. Man wütet, tobt und zörnt) oder von Antonymen (Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein) kann auch der Referent wiederholt werden, und zwar w e i t g e h e n d u n a b h ä n g i g v o m s p r a c h l i c h e n A u s d r u c k . Die Renaissance- und Barockdichtung zum Beispiel versuchte mit Vorliebe, denselben ,Gegenstand' mit immer neuen Metaphern, Metonymien, Periphrasen etc. zu umschreiben, wobei oft gerade das Überraschende gesucht wurde, also die Unähnlichkeit zwischen sprachlicher Bedeutung und Gemeintem. 51 Insbesondere bei mehrfacher Wiederholung des Referenten durch verschiedene uneigentliche Ausdrücke besteht zwischen diesen Ausdrücken im Sinne einer intensionalen Semantik oft keine Ähnlichkeit mehr: Der Bezugspunkt ist der Referent, nicht die Bedeutung der einzelnen Ausdrücke: (12)

Was sind wir Menschen doch! Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen, Ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit, Ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid, Ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen. (Andreas Gryphius, „Menschliches Elende")

Der Wechsel der Blickrichtung von der Äquivalenz auf die Rekurrenz hat zwei Konsequenzen, die von den Vertretern, die ihn propagieren, meist übersehen werden. Zum einen findet eine g r a v i e r e n d e V e r e n g u n g d e r P e r s p e k t i v e statt, da bei den als äquivalent gesetzten Ausdrücken nur noch das Gleiche, also das, was wiederholt wird, gesehen wird, während die andere Seite, das Ungleiche, keine Rolle mehr spielt. Damit aber verliert der Begriff der Äquivalenz seine Daseinsberechtigung; was übrig bleibt, ist eine mehr oder weniger mechanische Repetition von Elementen, die als identisch aufgefaßt werden. Wir werden an späterer Stelle sehen, wenn wir nach der semantischen Funktion der Projektion des Äquivalenzprinzips auf die syntagmatische Achse fragen, daß der Begriff der Äquivalenz wesentlich ergiebiger und fruchtbarer ist als der Begriff der Rekurrenz. Aber schon die hier diskutierten Beispiele zeigen den reduktiven Charakter dieses Perspektivwechsels: (10) enthält trotz der versformtypischen Verswiederholungen den Unterschied in der Intonation sowie die Permutation, und in (11) und (12) haben wir ohnehin nur Wiederholungen auf der Ebene des Bezeichnenden o d e r des 51

Vgl. die Bedeutung des concetto (conceit) bei Dichtern wie Petrarca, John Donne oder Angelus Silesius. - Wie Pilch 1983 zeigt, ist in diesem Zusammenhang auch das walisische Stilmittel dyfalu zu nennen, das von Dichtem wie Dafydd ap Gwilym bereits 2 Jahrhunderte, bevor das italienische concetto in Mode kam, angewandt wurde.

32

Semiotische

Grundlagen

Bezeichneten. Z u d e m sollte nicht übersehen werden, daß e i n e Reduktion auf die rekurrenten Elemente unter Umständen der betreffenden Repetitionsstruktur selbst gar nicht gerecht wird. A l s Beispiel drängt sich hier der germanische Stabreimvers auf, in d e m ja v e r s c h i e d e n e verschieden

Vokale miteinander staben. 5 2 D . h . , der Begriff

ist Teil der Definition dieses spezifischen Äquivalenzaspektes: der

Anlaut der stabenden Wörter ist äquivalent unter d e m Gesichtspunkt „verschiedene Vokalqualität". U n d b e i m konsonantischen Stabreim ist zu bedenken, daß d e m g l e i c h e n Konsonanten häufig - zu häufig, als daß es Zufall sein könnte - ungleiche Vokale folgen. 5 3 Da aber die Vokale Hauptträger d e s A k z e n t e s sind und der Stabreim auch e i n e Akzentstruktur ist, liegt auch hier w i e d e r u m eine Verbindung v o n Gleichem und U n g l e i c h e m vor: 5 4 (13)

Hiltibrant enti Hädubrand

untar heriun tüem

[Hildebrand und Hadubrand,

z w i s c h e n Heeren z w e i e n ]

(„Hildebrandslied", Vers 3) Übrigens gilt das g l e i c h e für das Walisische, das ebenfalls Alliterationsstrukturen kennt, die sogar noch wesentlich k o m p l e x e r als im Germanischen sein können, da - bei der Form cynghanedd groes - a l l e Konsonanten der ersten Vershälfte in

52

Die lange Zeit akzeptierte These, es sei eigentlich die Rekurrenz des Glottisschlags, die Grundlage dieser vokalischen Alliteration sei, ist längst nicht mehr unumstritten, da dessen Existenz für das Altgermanische nicht mit Sicherheit angenommen werden kann (von den heutigen germanischen Sprachen existiert er nur im Deutschen und im Dänischen); vgl. Jakobson 1963 sowie von See 1967: 15. - In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, daß im finnischen „Kalevala" ebenfalls Alliteration zwischen verschiedenen Vokalen stattfindet, obwohl es keinen .glottal stop' im Finnischen gibt (vgl. Kiparsky 1970: 170, der dort einen eigenen Vorschlag zur Erklärung der Vokalalliteration unterbreitet).

53

Von See 1967: 15f. referiert die Vermutung W. P. Lehmanns, nur das Heliand-Epos habe „bei konsonantischem Stabreim das Mitreimen g l e i c h e r Vokale bevorzugt", da „die Haupttonsilben im Asächs. schwächer geworden seien und der konsonantische Stabreim deshalb der Stützung durch den folgenden Vokal bedurft habe." Weder die Hypothese der schwächeren Haupttonsilben noch die der besonders häufigen Rekurrenz gleicher Vokale scheint jedoch einer Überprüfung standzuhalten. Es ist nämlich zu beachten, daß die höhere Zahl gleicher Vokale insofern statistisch vorhersagbar ist, als im Asächs. wegen der Monophthongierungen einfach weniger verschiedene Vokale zur Auswahl stehen (von See 1967: 16). Ein weiterer Aspekt gilt in bezug auf alle Stabreimdichtungen. Gleiche Vokale kommen oft auch dadurch vor, daß ein und dasselbe Wort innerhalb desselben Verses wiederholt wird (vgl. den unter (19) bis (21) zitierten 2. Merseburger Zauberspruch oder die folgende Zeile aus dem Muspilli mit dem zweimaligen enti:

54

enti vuir enti luft is allaz arfurpit (Vers 59). Hildebrand 1891 meint denn auch, im Stabreim wie im Endreim das gleiche ästhetische Verfahren der Verbindung von Gleichem und Ungleichem zu sehen, das sich auch in Alliterationsformeln wie Schimpf und Schande, Schutz und Schirm etc. sowie in Ausdrücken wie Schnickschnack etc. manifestiert. Was den Endreim anbelangt, hat Hildebrand sicher recht (vgl. unsere Ausführungen in Kap. 2.2.1.3). Für eine Diskussion von Ausdrücken wie Schnickschnack, Schimpf und Schande etc. vgl. Ross 1980.

33

Der Begriff der Äquivalenz

gleicher Reihenfolge in der zweiten Vershälfte wieder erscheinen, und zwar mit der Maßgabe, daß die unter dem Akzent stehenden Vokale d i f f e r i e r e n müssen: 55 (14)

Cyfyrdyr iwch,

cafwyrdraw

c f rd r ' ( c h )

c f

rdr'

[Second cousins of yours, I discern men yonder] (Tudur Aled, „Cywydd Cymod Hwmffre ap Hywel ap Siencyn a'i Geraint") (15)

Ni'th lysg tan, n t h l sgt'(n)

ni'th lesga twyll n th 1 sg t ' ( l l )

[Fire shall not burn you, nor deceit weaken you] (Dafydd ap Gwilym, „Y Gwent") Diese Beispiele dürften klar gezeigt haben (und Phänomene wie der Reim ließen sich ebenfalls anführen), daß viele Repetitionsfiguren auf der Lautebene sich mit dem Begriff der Rekurrenz nicht adäquat beschreiben lassen, sondern daß der Äquivalenzbegriff, der sich, wie wir gesehen haben, immer nur auf einen bestimmten Aspekt der verwendeten sprachlichen Zeichen bezieht, so daß diese äquivalenten' Ausdrücke immer durch das gleichzeitige Vorhandensein von Gleichem und Ungleichem charakterisiert sind, für die Beschreibung solcher lautlichen Repetitionsfiguren adäquater ist (vgl. auch den folgenden Abschnitt). 2.2.2.2

Die Rolle der Position

Die zweite Konsequenz des Perspektivwechsels von der Äquivalenz auf die Rekurrenz ist eine V e r l a g e r u n g d e s S c h w e r g e w i c h t s , und zwar von der Beziehung zwischen den einzelnen Elementen eines Paradigmas a u f d i e T e x t s t r u k t u r s e l b s t , die das Resultat der Projektion des Äquivalenzprinzips auf die syntagmatische Achse ist. In einer neueren Arbeit bestreitet Koch (1983), daß die in einem Text vorhandenen Äquivalenzen überhaupt als syntagmatische Realisierungen von Konstellationen aufzufassen sind, die zuvor schon in einem Paradigma existieren (1983: 458f.). Statt dessen postuliert er, daß die minimale Einheit des ästhetischen (poetischen) Paradigmas selbst eine repetitive Struktur sei, also mindestens aus zwei identischen oder fast identischen Segmenten bestehen müsse. Das ist, was den Vers anbelangt - unter den eben gemachten Einschränkungen, daß auch Grundstrukturen des Verses auf der kanonischen Verbindung von Gleichem und Ungleichem bestehen können - , sicher richtig, und wir werden darauf zurückkommen (s. S. 63). Es darf andererseits aber nicht übersehen werden, daß Rekurrenz allein noch nichts Dichtungsspezifisches ist. Gesprochene (und geschriebene) Sprache wiederholt notwendigerweise laufend 55

Hinsichtlich der Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der Konsonanten, die dem jeweils letzten betonten Vokal folgen, gibt es unterschiedliche Regeln, je nach Akzentstruktur der betreffenden Wörter. Vgl. hierzu Kiiper 1973a: 38.

34

Semiotische

Grundlagen

sprachliche Elemente, da das Phonem-(Graphem-)Inventar auf eine relativ kleine Anzahl von Elementen beschränkt ist. Solche Wiederholungen liegen also in der Struktur der Sprache begründet und sind nicht vermeidbar, haben also auch keine spezifische poetische Funktion. Dennoch aber, daran besteht kein Zweifel, spielen Figuren der Lautwiederholung eine wichtige Rolle. Nur liegt der Grund dafür nicht in der Tatsache, daß Laute wiederholt werden (das ist in der Sprache, wie gesagt, unvermeidlich), sondern darin, daß bestimmte Lautwiederholungen eben als Realisierungen von Äquivalenzbeziehungen aufgefaßt werden, die, je nach kultureller Bedeutung der betreffenden Repetitionsstruktur, durchaus als paradigmenbildend aufgefaßt werden bzw. wurden; man denke etwa nur an Reimwörterbücher, in denen diese Paradigmen sogar schriftlich fixiert waren. Wodurch aber unterscheiden sich solche .akzeptierten' Lautwiederholungen von denen, die uns beim Sprechen notwendigerweise begleiten, aber nicht als L a u t f i g u r e n auffallen? Ein wesentlicher Unterschied besteht zweifellos darin, daß die Lautfiguren durch eine bestimmte Anordnung gleicher Elemente im Syntagma charakterisiert sind, d.h. dadurch, daß die P o s i t i o n der rekurrenten Elemente festgelegt ist. Hier treffen also sprachliche und poetische Einheiten zusammen: Die Wiederholung von bestimmten sprachlichen Elementen (z.B. Lauten) an genau festgelegter Stelle innerhalb einer größeren sprachlichen Einheit, eventuell verbunden mit weiteren sprachlichen Elementen (z. B. Akzent), und/oder an einer bestimmten Stelle in einer poetischen Einheit (z.B. der Verszeile) führt zu poetischen Äquivalenzstrukturen. Je genauer solche Festlegungen hinsichtlich der Position sind, umso wahrscheinlicher ist es, daß solche Strukturen poetisch kodifiziert sind; eine Kodifizierung ist jedoch keine Bedingung für Äquivalenz (vgl. unsere Ausführungen in 2.2.4): So sind die wenigsten grammatischen Äquivalenzstrukturen, die Jakobson in seinen Gedichtanalysen aufgedeckt hat, poetisch kodifiziert. Wir halten fest, daß neben der Rekurrenz von Elementen auch deren Position eine entscheidende Rolle spielt, und zwar zeigt ein Blick auf die wichtigsten kodifizierten Repetitionsstrukturen, daß vor allem der A n f a n g s - und der E n d P o s i t i o n eine besondere Bedeutung zukommt, indem sie Teil der Definition dieser Strukturen ist. Hier einige Beispiele: Alliteration: Anaphora: Epiphora: Reim: Endreim:

Gleichlaut am Wortanfang56 Wortwiederholung am Versanfang Wortwiederholung am Versende Gleichlaut des Wortes außer dem Wortanfang (also des Wortendes) Reim am Versende

Refrain:

Wiederholung (von Wörtern oder Sätzen) am Strophenende

Nun hat die Rhetorik - und die oben aufgeführten Figuren sind ja zum Teil von 56

Die folgenden Definitionen sind knapp und approximativ und decken nicht alle Aspekte ab; sie sollen im Grunde nur die Rolle der Position in der betreffenden Definition zeigen.

Der Begriff der Äquivalenz

35

der Rhetorik kodifiziert - schon seit jeher gewußt, daß diesen beiden Positionen, dem Anfang und dem Ende, eine besondere Bedeutung zukommt, und sie im rhetorischen, d. h. persuasiven Diskurs mit besonderer Sorgfalt ausgestaltet, wobei der Endposition wohl die Priorität zukommen dürfte, 5 7 außer in bestimmten Fällen reaktiven Sprechens, wo gleich mit einem starken Argument zu beginnen ist. 58 Diese besondere Ausgestaltung der Endposition findet auch in der Poesie in vielfältiger Form statt. Schon die indogermanische Dichtung zeichnete sich durch einen relativ freien Versanfang und eine demgegenüber relativ festgelegte Schlußpartie aus, und mit gewissen Einschränkungen gilt dies auch für den germanischen Stabreimvers, dessen erster Halbvers drei Varianten (aa, ax, xa) hat, während der zweite nur als ax vorkommt. Ähnlich ist es beim Hexametervers, bei dem die ersten fünf Füße durch Daktylen und Spondeen realisiert sein können, während das Ende durch die festgelegte Folge - v v - * bzw., bei akzentuierender Realisation, h x x * markiert ist. Auch der Endreim ist ein Mittel, das Versende in besonderer Weise zu betonen. Diese Hervorhebung der Endposition hat nun zur Konsequenz, d a ß d i e P o sition einen eigenen Status erhält, der unabhängig von der jew e i l i g e n s p r a c h l i c h e n R e a l i s i e r u n g i s t : die Position gibt den Elementen, die sie ,füllen', ein besonderes Eigengewicht, das sie ,von Natur aus' nicht haben. 59 Wir werden auf dieses komplexe Wechselverhältnis zwischen sprachlichen Einheiten und der Position, die sie einnehmen, noch zu sprechen kommen. Unsere Diskussion der Begriffe Äquivalenz und Rekurrenz wieder aufgreifend, können wir jedoch schon hier folgendes festhalten: Der Rekurrenzbegriff ist für die Beschreibung literarischer Texte nicht geeignet, da es Rekurrenzen im strengen Wortsinn nicht gibt. Was wiederholt wird, ist meist ein Teil oder ein Aspekt des Bezeichnenden o d e r des Bezeichneten, jedoch nie das ganze Zeichen. Wo doch ganze Wörter oder Sätze wiederholt werden, kommt stets etwas an Ungleichheit hinzu: Zum einen stehen Erstes und Zweites a n u n t e r s c h i e d l i c h e r P o s i t i o n i m T e x t , werden infolgedessen auch zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt rezipiert (vgl. hierzu Kap. 3.2), und zum anderen schafft die Tatsache der Wiederholung eine A k k u m u l a t i o n a n B e d e u t u n g . 6 0 Man denke nur an die stetige Bedeutungsaufladung des Wortes nevermore in Poes Gedicht „The Raven", das in der letzten Strophe von ganz anderem Gewicht 57

58 59

60

Vgl. Quintilian 1975: 391: „Die nächstgrößte Sorgfalt nach der Schlußbildung verlangt der Anfang." Für einen Überblick über diese Problematik siehe Küper 1981. Auch diese Erkenntnis findet sich bei verschiedenen Rhetorikem. Aristoteles weist z.B. darauf hin, daß ein einziges Beispiel als Schlußwort zu den Enthymemen ausreiche, während man bei Voranstellung mehrere brauchen würde (Rhetorik, 1394a), und Quintilian illustriert dasselbe Phänomen am Beispiel des Verbs, das, auch wenn es einen packenden Gedanken enthalte, nur am Ende des Satzes voll zur Geltung komme, während es in der Mitte des Satzes überdeckt werde (Quintilian 1975: 377). Vgl. Rimmon-Kenan 1980: 152f.

36

Semiotische Grundlagen

ist als in der ersten. Autoren wie etwa Genette (1972: 145) fassen Rekurrenz daher als Abstraktion auf, bei der nur das Gemeinsame verschiedener Vorkommnisse (das Gleiche) übrigbleibt und das Ungleiche sozusagen der Abstraktion zum Opfer fällt, während andere Autoren, wie etwa Deleuze (1981) oder Rimmon-Kenan (1980), gerade die Paradoxie hervorheben, die dem Rekurrenzbegriff innewohnt: „Thus there is n o repetition without difference and no difference without repetition". 61 Demgegenüber gerät der Äquivalenzbegriff, so wie wir ihn charakterisiert haben, nicht in solche Aporien: für ihn ist das Ungleiche, das immer zusammen mit dem Gleichen (Rekurrenten) auftritt, weder durch Abstraktion zu beseitigen noch ein Grund, von einer Paradoxie zu sprechen, sondern für ihn ist das gleichzeitige Auftreten von Gleichem und Ungleichem ein Wesensmerkmal des poetischen Textes. Man kann nun - und Autoren wie zum Beispiel Rimmon-Kenan (1980) und Brooke-Rose (1981) tun dies auch - hieraus eine wichtige Konsequenz für die B e w e r t u n g von Literatur ziehen. Denn eine permanente Häufung von Wiederholungen ohne Variation, d. h. ohne das Vorhandensein von Ungleichem, ist funktionslos, monoton, langweilig und kann geradezu als Merkmal der unpoetischen Funktion angesehen werden, die sich insbesondere in Werken der Trivialliteratur manifestiert. 2.2.3

Das Äquivalenzpotential: sprachliche und poetische Einheiten

Im vorangehenden Abschnitt, in dem en passant auf einige wenige rhetorische Figuren hingewiesen wurde, wurde schon angedeutet, daß in einem poetischen Text nicht nur mit Äquivalenzen zwischen sprachlichen Elementen zu rechnen ist, sondern darüber hinaus auch mit Äquivalenzen zwischen poetischen Elementen, darunter natürlich auch metrischen (Vers, Hebung, Senkung, Takt, Zäsur, Strophe, Gedichtform etc.). Zwar sind poetische Elemente stets in irgendeiner Weise sprachlich zu realisieren - Gedichte wie Morgensterns „Fisches Nachtgesang" einmal ausgenommen, dessen Titel aber immerhin noch sprachlich ist - , aber dennoch ist es unerläßlich, grundsätzlich zwischen beiden Arten von Elementen zu unterscheiden. Dies versäumen praktisch alle neueren Metriker, die die Metrik in der Linguistik aufgehen lassen wollen. So sind zum Beispiel die metrischen Einheiten für Lötz (1960) syntaktische Rahmen, für die numerische Regelungen des phonologischen Sprachmaterials gelten. Und Kiparsky (1975) definiert ein metrisches Schema (basic pattern) als eine regelmäßige Anordnung einer kleinen Zahl phonologischer Einheiten, im Englischen und Deutschen betonter und unbetonter Silben (Kiparsky 1975: 580). Dies aber ist ein unzulässiger Kurzschluß: Metrische Einheiten sind zunächst einmal abstrakte Einheiten eigener Art, die nicht unbedingt an (einzelsprachlichen) „Rahmen" oder Realisationsformen festgemacht werden müssen (vgl. Kap. 4.2). Nichts hat in der Geschichte der Metrik so fatal gewirkt und den allseits beklagten Wirrwarr ausgelöst wie gerade das Versäumnis, 61

Rimmon-Kenan 1980: 153. - Dieser Gedanke findet sich schon bei Hopkins 1959 (vgl. Kap. 2.3.2).

Der Begriff der Äquivalenz

37

sauber zwischen sprachlichen und metrischen Einheiten zu unterscheiden (vgl. Kap. 4.2.1.1). Wenn aber, um ein besonders gravierendes Beispiel zu nennen, die metrische Einheit Hebung mit der sprachlichen Größe Akzent (oder: betonte Silbe) einfach identifiziert wird, geht plötzlich der metrische Zusammenhang zwischen Versen desselben Textes, die vom Autor offenbar als isometrisch, d.h. dem gleichen Metrum zugehörig, intendiert waren, völlig verloren, und um wenigstens etwas Gemeinsames zwischen ihnen zu ,retten', greift man dann zu r e z i t a t o r i s c h e n Mitteln wie „Tonbeugung" oder „schwebender Betonung".62 Dabei passiert nun folgendes: Der ersten Vermischung von Elementen aus unterschiedlichen Klassen (Sprache und Metrum) folgt eine zweite, nämlich die zwischen dem metrischen Schema (das als solches invariant ist) und seiner rezitatorischen Realisierung - der Wirrwarr ist in der Tat komplett. Wir müssen also davon ausgehen, daß Hebung und Akzent n i c h t miteinander identisch sind, genausowenig, wie die übrigen metrischen Elemente mit den sprachlichen Elementen identisch sind, durch die sie realisiert werden. Gerade die Art und Weise, wie diese Realisierung vorgenommen wird, ist von entscheidender Bedeutung für den jeweiligen Text, und zwar gibt es hier verschiedene Möglichkeiten: Sprachliche Elemente, die miteinander äquivalent sind, können zum Beispiel metrische Elemente realisieren, die ebenfalls miteinander äquivalent sind (wenn etwa betonte Silben Hebungen realisieren oder Sätze Verse), so daß zwischen beiden Arten von Elementen ebenfalls eine Äquivalenzbeziehung besteht. Es ist jedoch ebenfalls möglich, daß sprachlich äquivalente Elemente unterschiedliche metrische Elemente realisieren (wenn etwa betonte Silben nicht nur auf Hebungen, sondern auch auf Senkungen fallen, und unbetonte Silben desgleichen, oder wenn Sätze und Verse (präziser: Satz- und Versgrenzen) manchmal, aber nicht immer übereinstimmen);63 in diesem Fall besteht keine Äquivalenzbeziehung zwischen beiden Arten von Elementen. Ein Blick auf die Geschichte der Literatur zeigt, daß es in verschiedenen Epochen unterschiedliche Tendenzen hinsichtlich dieser Beziehung zwischen sprachlichen und poetischen Elementen gegeben hat. Es wechseln Perioden, in denen eine möglichst weitgehende Übereinstimmung angestrebt wurde, mit solchen, in denen weitgehende Nichtübereinstimmung höher eingeschätzt wurde. Aber auch in Perioden der Nichtübereinstimmung muß man die poetischen Elemente, selbst wenn sie sprachlich in heterogener Weise realisiert und linguistisch somit nicht eindeutig faßbar sind, als reale Textelemente mit berücksichtigen, da gerade die 62

63

Eine Warnung wie die folgende verhallte ungehört: „The terms of the definition of metre must be independent of the terms used to define its actualization; hence any definition which introduces a term like .stress' or .prominence' (and most definitions do) is confusing levels of abstraction, and should be avoided" (Crystal 1975: 107). - Eine ausführliche Diskussion dieser Problematik findet sich in Kap. 4. Oder wenn äquivalente metrische Elemente durch nicht äquivalente sprachliche Elemente realisiert werden.

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Semiotische

Grundlagen

vom Autor beabsichtigte Nichtübereinstimmung das Vorhandensein zweier verschiedener Elementklassen voraussetzt. Wir haben es hier mit komplexen Korrelationen zu tun, die im Grunde bereits von Tynjanov angesprochen wurden.64 Zum einen stehen, wie oben angedeutet, sprachliche und poetische Elemente (oder allgemeiner: Sprache und Literatur) in einer bestimmten, näher zu spezifizierenden Beziehung. Zum anderen aber, und das gilt nun für die Sprache wie für die Literatur gleichermaßen, ist die Beziehung der Elemente desselben Systems von Bedeutung, insbesondere hinsichtlich des historischen Wandels. Sprachliche wie literarische Elemente können an Bedeutung verlieren und sogar aus dem System ausscheiden oder, umgekehrt, an Bedeutung gewinnen und von der Peripherie ins Zentrum dieses Systems rücken - sowohl die Sprachgeschichte als auch die Literaturgeschichte kennen genügend Beispiele für beide Fälle.65 Da nun zu jedem Zeitpunkt beide Arten von Elementen in Korrelation stehen, die Sprache jedoch als das primäre System zu betrachten ist, auf dem die Literatur als sekundäres System organisiert ist,66 kann ein Wandel im literarischen System mindestens dreierlei Ursachen haben. Erstens: dieser Wandel ist aus dem eigenen System heraus zu verstehen oder hängt vom Wandel anderer Systeme ab, mit denen die Literatur gleichfalls in Korrelation steht (zum Beispiel der Gesellschaft).67 Zweitens: dieser Wandel ist auf Veränderungen im Sprachsystem zurückzuführen. Drittens: dieser Wandel läßt sich durch Veränderungen in den Zuordnungspraktiken von sprachlichen zu poetischen Elementen erklären. Der erste Fall ist in unserem Zusammenhang nicht weiter von Belang. Fall zwei und drei sind jedoch, da es um die Beziehung zwischen Sprache und Literatur geht, von größtem Interesse, wenn auch nur der dritte Problemkreis im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden kann. Um jedoch wenigstens ein Beispiel für Fall zwei zu geben: Die Herausbildung des germanischen Stabreimverses mit seiner deutlichen Unterscheidung zwischen (metrischer) Hebung und Senkung wäre ohne die Ausprägung des „dynamischen"68 Wortakzentes im Germanischen nicht denkbar; insofern unterscheidet sich die 64 65

66 67 68

Vgl. Tynjanov 1927/1971. Tynjanov verdeutlicht dies am Beispiel des literarischen Genres: , Jedes beliebige Genre rückt in der Epoche seines Verfalls aus dem Zentrum an die Peripherie, an seinem Platz aber taucht aus den Kleinigkeiten der Literatur, aus ihren Hinterhöfen und Niederungen eine neue Erscheinung im Zentrum a u f (Tynjanov 1927/1971: 399; dort gesperrt). Konkretisieren ließe sich dies am Beispiel der Ersetzung des Epos durch den Roman. - Aus dem sprachlichen Bereich lassen sich viele Beispiele anführen, so etwa der unterschiedliche Abbau des Kasussystems in den verschiedenen indoeuropäischen Sprachen und die Übernahme der Kasusfunktion durch andere grammatische Mittel (Satzstellung, Präpositionalverbindungen etc.). Hierzu siehe Kap. 2.3.3. Näheres hierzu siehe in Tynjanov 1927/1971. Die Bezeichnung des germanischen Wortakzentes als „dynamisch" ist sicherlich eine Vereinfachung, da vermutlich auch tonale Faktoren eine Rolle spielten, ebenso wie im Indoeuropäischen der Akzent vermutlich nicht rein tonal war, sondern auch bereits ein dynamisches Element besaß (vgl. Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache 1983: 532). In jedem Fall scheint unbestritten, daß das dynamische Element bei der Ausprägung des

Der Begriff der Äquivalenz

39

germanische Versdichtung deutlich von der indoeuropäischen, soweit deren Form aus der griechischen, sanskrit-vedischen und keltischen Dichtung rekonstruiert worden ist.69 2.2.4

Die prinzipielle Offenheit der Äquivalenzkriterien und die funktionelle Mehrfachbelastbarkeit der Elemente

Neben den bisher besprochenen Arten von Äquivalenz, die sämtlich auf vorgegebenen Paradigmen des sprachlichen oder literarischen Systems beruhten, können aber auch b e l i e b i g e Texteigenschaften als Äquivalenzkriterien dienen. Dies folgt aus der Definition von Äquivalenz als einer punktuellen Similarität, und schon de Saussure, für den die Ähnlichkeitsbeziehung noch eine reale mentale Größe war („ihr Sitz ist im Gehirn") 70 , sah deutlich, daß sich „die Glieder assoziativer Art weder in bestimmter Zahl noch in bestimmter Ordnung" darbieten (1967: 151). Das bedeutet, daß nicht nur solche Äquivalenzklassen in einem poetischen Text eine Rolle spielen, deren Elemente im jeweiligen - sprachlichen oder literarischen - System kodifiziert sind und damit dem sprachlichen oder dem literarischen Kode angehören, sondern daß es darüber hinaus auch Äquivalenzen zwischen nicht kodifizierten Elementen gibt. Ein nicht-literarisches Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine Kneifzange ist einer Kombizange unter dem Aspekt äquivalent, daß man mit beiden zum Beispiel einen Nagel aus der Wand ziehen kann, während sie in verschiedenen anderen Aspekten nicht miteinander äquivalent sind (sonst wäre eine von ihnen überflüssig). Hier liegt der Fall einer Äquivalenz zwischen Elementen eines vorgegebenen Paradigmas (das der Zangen) vor. Nun kann, unter einem anderen Aspekt, die Kneifzange aber auch einem Hammer äquivalent sein, denn mit beiden lassen sich (kleinere) Nägel in eine (nicht zu harte) Wand einschlagen. Hier tritt die Kneifzange in ein anderes Paradigma, das der Schlagwerkzeuge, ein, verbleibt aber immer noch im Paradigma der Werkzeuge. Schließlich kann unsere Kneifzange aber auch einem Gewicht einer Balkenwaage äquivalent sein, wenn beide z. B. dasselbe wiegen. Hier liegt nun keine vorgegebene paradigmatische Beziehung mehr vor, und es lassen sich viele weitere punktuelle Äquivalenzkriterien denken. Wir müssen also von einer nicht begrenzbaren Anzahl möglicher Äquivalenzkriterien ausgehen. Ein weiteres kommt hinzu, und zwar die potentielle Mehrfachbelastbarkeit ein und desselben Elements. Jedes Textelement kann nämlich gleichzeitig an mehreren unterschiedlichen Äquivalenzbeziehungen teilhaben und somit im Schnittpunkt mehrerer Äquivalenzklassen stehen. Ein einfaches Beispiel möge dies verdeutlichen. Ich wähle einen einzelnen Vers aus Hölderlins Gedicht „Brot und Wein": (16)

69 70

Vater! heiter! und hallt, so weit es gehet, das uralt

germanischen Wortakzentes stark an Bedeutung gewann, so daß man heute allgemein vom „dynamischen" germanischen Wortakzent spricht. Siehe Kurylowicz 1970 und Watkins 1961, 1963. Saussure 1967: 148.

40

Semiotische Grundlagen

Allein auf der lautlichen Ebene lassen sich die folgenden Äquivalenzen beobachten: (a) Va/er - heiier (b) Leiter - /lallt

(gleiche Endsilbe) (Alliteration)

(c)

(Reim)

hallt-malt

(d) und - hall; - w e k - geh et - ural/ (e) he//er - weit

71 (Konsonanz),71 (Reim)

Die vorletzte Gruppe könnte um die Wörter Vater und heiter erweitert werden; dann wäre das Kriterium ein anderes: das Enthalten des Konsonanten /t/. Zu den kodifizierten Äquivalenzkriterien in der deutschen Dichtung gehören nur die Gruppen (b) und (c), aber dennoch sind die übrigen Gruppen ebenso ,real' im Text vorhanden wie sie. Das heißt, die Wörter heiter und hallt gehören gleichzeitig drei bzw. vier verschiedenen Äquivalenzklassen an. 72 Für den Forscher, der poetische Texte analysiert, hat beides, die potentielle Mehrfachbelastung des einzelnen Elements wie auch die prinzipielle Offenheit möglicher Äquivalenzkriterien, weitreichende Konsequenzen. Denn er darf sich nicht mit der Aufdeckung bekannter Strukturen, also zum Beispiel solcher Äquivalenzen zwischen kodifizierten Elementen (Beispiel: Reimtyp c), zufriedengeben, sondern er m u ß den gesamten Text gründlich und immer wieder nach weiteren Äquivalenzen (etwa dem unkodifizierten Reimtyp e) durchsuchen. Die Erfolge, die Jakobson mit seinen Analysen der grammatischen Struktur von Gedichten erzielt hat, belegen dies nachdrücklich und das, obwohl er sich dabei überwiegend auf vorgegebene grammatische Paradigmen beschränkte, die jedoch von der Literaturwissenschaft bis dahin als irrelevant für die poetische Struktur von Texten betrachtet worden waren. Es ist zu vermuten, daß weitere sorgfältige Arbeit auf diesem Gebiet sowohl bei bekannten, oft analysierten Texten als auch bei Texten fremder Literaturen, deren Struktur noch weitgehend unbekannt ist, neue Arten von Äquivalenzbeziehungen aufdecken kann. Der Äquivalenzbegriff ist somit, wie Posner (1972: 209) nachweist, ein wertvolles „Analyseinstrument" für den Wissenschaftler, der sich mit poetischen Texten beschäftigt, aber er ist zugleich auch, wie Jakobson hervorhebt, ein wichtiges Hilfsmittel für den Linguisten, der es sich zur Aufgabe macht, herauszufinden, „welche grammatischen Kategorien und welche Elemente syntaktischer Strukturen von einer bestimmten Sprachgemeinschaft als äquivalent betrachtet werden und demnach parallelisiert werden können." 7 3

71

72

73

Hier verstanden als Auslaut mehrerer Wörter auf den gleichen Konsonanten, also das Pendant zur Alliteration. Natürlich ist dies noch keine erschöpfende Analyse dieses Verses; wichtig ist auch, daß die durch Äquivalenz verbundenen Elemente auf der Ebene der Wortart nicht äquivalent sind! Jakobson/Pomorska 1982: 97.

Der Begriff der Äquivalenz

2.2.5

41

Sprachlicher Kode vs. poetischer Kode: die Bedeutung der Zahl

In unseren bisherigen Ausführungen ist zwar immer wieder auf den grundlegenden Unterschied zwischen sprachlichen und poetischen/metrischen Elementen hingewiesen und die Gefahr gezeigt worden, die aus einer Vermischung beider Klassen oder Systemreihen erwachsen kann. In welcher Weise beide Klassen zueinander stehen und wie metrische Elemente durch sprachliche realisiert werden, soll an späterer Stelle ausführlich untersucht werden. Aber schon hier ist auf einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden aufmerksam zu machen, und zwar liegt dieser Unterschied nicht nur in der Art der jeweiligen Elemente begründet, sondern auch in der Struktur des jeweiligen Kodes. Ein Kode besteht aus einem Inventar von Elementen und Regeln zur Verknüpfung dieser Elemente zu Zeichenketten. Wie nun die generative Transformationsgrammatik deutlich gemacht hat, ist es sinnvoll, von einer infiniten Menge von Sätzen einer Sprache L auszugehen, auch wenn jeder Satz dieser Sprache von endlicher Länge ist. Das heißt, daß es von den Verknüpfungsregeln der Sprache keinerlei zahlenmäßige Beschränkung hinsichtlich der Länge von Sätzen oder, was im Prinzip dasselbe ist, hinsichtlich der Häufigkeit der Regelanwendungen gibt: Der Länge von Sätzen sind keine linguistisch begriindbaren Grenzen gesetzt, und ebenso können Teile von Sätzen (z. B. Nebensätze, Attribute etc.) von den Verknüpfungsregeln her beliebig oft wiederholt werden. 74 Technisch wird dies durch sogenannte Rekursivregeln möglich gemacht, die beliebig oft auf ihren eigenen output angewendet werden können. Damit ist eine Grammatik ein Regelsystem, das „von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch" macht, wie Humboldt schon 1836 in bezug auf die Sprache betonte. 75 Selbst wenn man kein Anhänger der generativen Transformationsgrammatik ist und die von jeglichen Gebrauchsbedingungen von Sprache abstrahierenden Vorstellungen dieser Sprachtheorie ablehnt, wird man doch zugeben müssen, daß die Rekursivregeln eine elegante Lösung des Problems sind, daß es in der Tat keine linguistisch begründbaren zahlenmäßigen Beschränkungen in der Sprache gibt: Jede - willkürlich gegebene - derartige Beschränkung auf, sagen wir, maximal 100 Nebensätze pro Satzgefüge kann von jedem einigermaßen kompetenten Sprecher dieser Sprache, zumindest wenn er sich des schriftlichen Mediums bedient, als absurd abgetan werden. Dies ist nun im poetischen Kode ganz anders. Die Zahl spielt hier eine entscheidende Rolle. 76 Textformen, Strophenformen, Versformen, sie sind alle 74

75 76

Die Phrasenstrukturregeln erzeugen Tiefenstrukturen, und tiefenstrukturell gibt es keinen Unterschied zwischen Attributen (einige wenige Arten ausgenommen) und Relativsätzen; die einzig notwendige Rekursivregel enthält sowohl links wie rechts vom Pfeil das Symbol S (für Satz) und ist damit beliebig oft auf ihre eigene Ausgabe anwendbar. Humboldt 1836; von Chomsky 1969: 19 zitiert. Das folgende Zitat von Robert Lowth 1787, Bd. 1:56 dürfte für den größten Teil der Versdichtung aller Völker (mit der Ausnahme freier Rhythmen) auch heute noch Gültigkeit haben: „[...] it appears essential to every species of poetry that it be confined to numbers, and consist of some kind of verse, (for indeed wanting this, it would not only want its most

42

Semiotische Grundlagen

dadurch charakterisiert, daß die poetischen Elemente, die sie konstituieren, in einer zahlenmäßig exakt angebbaren Häufigkeit kombiniert werden: So besteht das Sonett aus 14 Versen, die sich wiederum, je nachdem, ob es in der Tradition Petrarcas oder Shakespeares konzipiert ist, zu unterschiedlichen, ebenfalls zahlenmäßig exakt bestimmten Gruppen (zwei Quartetten und zwei Sextetten bzw. drei Quartetten und einem couplet) zusammenschließen. Wir sehen also, daß die poetischen Elemente, die solcherart zu einer poetischen Struktur verknüpft sind, zwar sprachlich realisiert sind (ein Vers z.B. als Folge einer bestimmten Anzahl von Silben, deren Anordnung weiteren Restriktionen unterliegen kann), so daß auch das Kriterium, nach dem sie als äquivalent im jeweiligen literarischen System gelten, sprachlich bestimmbar ist, daß aber das Resultat dieser Verknüpfung ein poetisches ist, nämlich eine poetische Struktur (im Fall des Sonetts eine literarische Textform, die neben den sprachlichen auch eigenen, nicht mehr sprachlichen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, von denen die zahlenmäßigen Restriktionen die gravierendsten sind. So sind zum Beispiel die hebräischen Psalmen des Alten Testaments dadurch charakterisiert, daß sie aus fortlaufenden syntaktischen Zweiergruppen bestehen, von denen die zweite in semantischem Gegensatz zur ersten stehen kann: (17)

Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten; aber der Gottlosen Weg vergeht. (Psalm 1,6)

oder aber nur eine Variation der ersten darstellt, die semantisch auch fortlaufend weiterentwickelt werden kann: 77 (18)

77

Halleluja! Lobet Gott in seinem Heiligtum, lobet ihn in der Feste seiner Macht! Lobet ihn für seine Taten, lobet ihn in seiner großen Herrlichkeit! Lobet ihn mit Posaunen, lobet ihn mit Psalter und Harfen! Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen! Lobet ihn mit hellen Zimbeln, lobet ihn mit klingenden Zimbeln! Alles, was Odem hat, lobe den Herrn! Halleluja! (Psalm 150)

agreeable attributes, but would scarcely deserve the name of poetry) [...]". Vgl. Kap. 2.3.1 iiber den parallelismus membrorum.

Der Begriff der Äquivalenz

43

Demgegenüber ist in vielen Literaturen eine Dreierstruktur verbreitet, die in vielen Fällen jedoch als Expansion einer zweiteiligen Struktur aufgefaßt werden kann, und zwar dann, wenn die Elemente 1 und 2 einander semantisch äquivalent sind, während sich das dritte in Opposition zu ihnen befindet. Vor allem in Märchen ist diese Struktur häufig zu finden: Der erste Versuch des Königssohns geht fehl, der zweite ebenso, doch der dritte gelingt. Oder die erste Tochter ist böse, die zweite ebenso, doch die dritte (häufiger Unterschied: nur eine Stiefschwester von ihnen) ist gut. Nach einem derartigen Prinzip ist zum Beispiel auch der zweite Merseburger Zauberspruch aufgebaut. Nach der Schilderung des Unglücks (das Pferd verrenkt sich den Fuß) werden drei Heilungsversuche unternommen, von denen die ersten beiden mißlingen; erst Wodans Spruch bringt den gewünschten Erfolg, da er der Herr über allen Zauber ist (so he uuola conda): (19)

thu biguol en sinthgunt, sunna era suister; thu biguol en friia, uolla era suister; thu biguol en uuodan, so he uuola conda [Da besprach ihn Sindgund (und) Sunna, ihre Schwester, Da besprach ihn Frija (und) Volla, ihre Schwester, Da besprach ihn Wodan, so gut wie (nur) er es konnte]78

Wodans Zauberformel ist nun selbst wiederum zweimal dreiteilig: Einer Krankheitsanrede (20)

so benrenki, sose bluotrenki, sose lidirenki [Wie die Verrenkung des Knochens, so die des Blutes, so die des ganzen Gliedes!]79

folgt der Heilungsbefehl, bei dem wiederum das letzte Glied durch einen Abvers, der mit dem vorangehenden Teil stabt und dadurch mit ihm eine Langzeile bildet, deutlich hervorgehoben ist:80 (21)

benzibena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin. [Knochen an Knochen, Blut zu Blut, Glied an Glied, als ob sie zusammengeleimt wären!]81

Das Beispiel des Zauberspruchs (mit der Verwendung der magischen Zahl drei) macht, im Gegensatz zum Parallelismus der Psalmen, deutlich, daß die Zahl nicht nur dazu dient, bestimmte Mengen von poetischen Elementen zu größeren poetischen Einheiten (Versfüße zu Versen, Verse zu Strophen, Strophen zu Gedichtformen) zusammenzuschließen. 78 79 80 81

Übersetzung nach H. D. Schlosser in K. O. Conrady (ed.) 1977. Übersetzung nach H. D. Schlosser in K. O. Conrady (ed.) 1977. Vgl. de Boor 1966: 96f. Übersetzung nach H. D. Schlosser in K. O. Conrady (ed.) 1977.

44

Semiotische Grundlagen

Stärker noch als bei den Germanen hatten bei den Griechen Zahlen eigene semantische Funktionen, die in der Regel mit einem Harmoniedenken verbunden waren. So hatten manche Zahlen einen hohen semantischen Wert, da sie in bestimmter Weise von größerer Harmonie sind als andere. Als perfekt galten zum Beispiel 6 und 28, die als Summen ihrer Divisoren interpretiert wurden (6 = 3 + 2 + 1; 28 = 1 4 + 7 + 4 + 2 + 1); und hohe Wertschätzung wurde auch der 10 zuteil, also der Summe der Zahlen 1 + 2 + 3 + 4. Besonders bei den Pythagoräern war die 10 heilig, die in Form eines Dreiecks dargestellt wurde:82 Abb. 3

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Auch im christlichen Mittelalter spielte die Zahlensymbolik eine große Rolle. So verweist zum Beispiel die „quadrata aequalitas sancta [die heilige vierteilige Ausgewogenheit] der vier Evangelien [...] auf die Reinheit des Ewigen", wie Otfrid in seinem Widmungsschreiben an Liutbert feststellt.83 Diese „Parallelen zwischen significatio des Aufbaus und significatio des Verses" legen nun nach Wisniewski

(1972/77: 429) „die Vermutung nahe, daß die Vierhebigkeit des Otfridschen Verses nicht ohne [diese] quadrata aequalitas sancta gesehen werden kann".

Neben einer solchen Symbolik bestimmter Zahlen geht es aber auch um Z a h l e n r e l a t i o n e n , also um Phänomene, die unter Bezeichnungen wie S y m m e t r i e , P r o p o r t i o n , ( E b e n - ) M a ß und H a r m o n i e thematisiert worden sind. Auch diesen Aspekt sieht Wisniewski schon im Werk Otfrids realisiert. Die Verse 37-42 seiner Evangelienharmonie interpretiert sie wie folgt:84 Die Stelle besagt also, daß Gottes Gesetz, in Verse gefaßt, in seiner ganzen geordneten Schönheit sinnenhaft erfahibar wird. Die metrischen Elemente Versfuß, Zeit und Regel (als Richtschnur für den Einzelvers) sind namentlich in ihrer Verwirklichung in Versen biblischen Inhaltes Abbild oder abbildendes Maß göttlicher Weltordnung. 82 83 84

Butler 1970: 3. Z. 46-52; vgl. Wisniewski 1972/1977: 423. Vgl. Wiesniewski 1972/77:425: fli thu zi nöte, theiz scöno thoh gilute, joh götes wizod thänne tharäna scono hélle; Thâz tharana singe, iz scöno man ginenne; in themo firstäntnisse wir gehiltan sin giwisse, Thaz lâz thir wesan süazi: so mézent iz thie füazi, zit joh thiu régula; so ist götes selbes brédiga. (V. 37-42) (Strebe du unbedingt danach, daß es doch schön erklinge und daß das Gesetz Gottes schön darin ertöne, daß es darin singe und man es schön nenne; in diesem Verständnis sollen wir sicher bewahrt sein, Das laß dir süß sein: dann messen es [seil, das Gesetz Gottes] die Versfüße, die Zeit und die (metrische) Regel nach; so ist Gottes Predigt selbst beschaffen.)

Der Begriff der Äquivalenz

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Numerologisches Denken durchzog auch die wissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten vieler Denker und Forscher der Renaissance,85 die in der Untersuchung des Kosmos nach irgendwelchen Zeichen des Schöpfers dieses Kosmos suchten und sie in geometrischen Gesetzmäßigkeiten auch zu finden glaubten, zum Beispiel Kepler und Kopemikus. 86 Auch Thomas Campion gibt in seiner 1602 erschienenen Arbeit Observations in the Art of English Poesie dieser Auffassung Ausdruck: „The world is made by Simmetry and proportion, and is in that respect compared to Musick, and Musick to Poetry" (Campion 1602/1967: 293). Dieselbe Auffassung findet sich auch bei den übrigen Metrikem dieser Zeit, etwa in George Puttenhams 1589 erschienenem Buch The Arte of English Poesie, dessen zweiter Teil überschrieben ist „Of Proportion". Ein weiteres hervorragendes und typisches Beispiel zugleich ist der 1749 erschienene „Essay on the Power of Numbers, and the Principles of Harmony in Poetical Compositions" von John Mason, der als Ziel seiner Darstellung eine Untersuchung der numerischen Struktur in Vers und Prosa angibt - „the Source from whence their respective Harmony springs" (Mason 1749: 4). Durch die Verknüpfung von Harmonie und Proportion erhält nun der Begriff der M i t t e eine besondere Bedeutung, was sich in der Struktur vieler literarischer Werke (wie etwa Spensers „Faerie Queene" 87 ) niederschlug. Andererseits führte die Hervorhebung der Mitte zu einer Segmentierung in äquivalente, da gleich lange Teile. Für die Metrik ist dies insofern von besonderer Bedeutung, als viele Verssysteme in den verschiedensten Sprachen eine solche Versstruktur kennen, die aus zwei Halbversen besteht, die durch eine Zäsur (die metrische Mitte) getrennt und aufeinander bezogen, also einander äquivalent sind, wie etwa die germanische Langzeile (vgl. Beispiel 13) oder der Alexandriner (vgl. Beispiele 7, 8 und 12). Neben solchen Formen, in denen die Mitte nur als Bezugspunkt oder als Achse fungiert, gibt es aber auch andere, in denen die Mitte selbst als sprachliches/metrisches Teilstück konzipiert ist, das mit dem links von ihr stehenden wie auch mit dem rechts von ihr stehenden Teilstück durch Äquivalenzbeziehung verbunden ist. Als Beispiel sei eine in der walisischen Literatur häufige Struktur angeführt, die von Gerard Manley Hopkins auch in dessen englischen Gedichten recht häufig angewandt wurde, nämlich cynghanedd sain:88 (22)

85

86

87 88

i 1 Dod im Dy nawdd a hawdd hynt [Give me your protection and an easy course ] (Goronwy Owen, „Dydd y Farn")

Im Grunde ist dies heute noch ähnlich: Manche Wissenschaftler denken eher in dyadischen, andere eher in triadischen Systemen. Siehe insbesondere Keplers Mysterium cosmographicum (1596) und Harmonices mundi (1619). Baybak, Delany und Hieatt 1970. Siehe auch die übrigen Aufsätze in A. Fowler (ed.) 1970. Zu Hopkins' Verwendung walisischer Versstrukturen im Englischen siehe Küper 1973a.

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Semiotische Grundlagen (23)

i 1 Frequenting there while moon shall wear and wend (G. M. Hopkins, „The Sea and the Skylark")

Diese Art von cynghanedd ist, im Gegensatz zu den drei übrigen Arten, die zweiteilig sind (vgl. noch einmal die Beispiele 14 und 15), dreiteilig: Das mittlere Glied (hawdd; wear) ist mit dem links von ihm stehenden Glied (nawddr, there) durch Reim und mit dem rechts von ihm stehenden Glied (hynt; wend) durch Alliteration verbunden. Nur am Rande sei vermerkt, daß sich auch in dem bereits zitierten Beispiel (16) von Hölderlin eine solche Struktur verbirgt: (16)

Vater\ heiter! und h a l l t . . .

Daß wir dennoch in unserer Aufstellung von Äquivalenzklassen, die in diesem Vers zu beobachten sind, zwar die Alliteration und den Reim getrennt aufgeführt haben, jedoch nicht als einheitliche Struktur (cynghanedd sain), verlangt eine kurze Erklärung, denn es handelt sich hier um einen Punkt von grundsätzlicher Bedeutung, der ebenfalls die Beziehung zwischen sprachlichen und poetischen Elementen berührt. Unter linguistischem Aspekt sind keine wesentlichen Unterschiede zwischen (16), (22) und (23) festzustellen (abgesehen davon, daß es sich um Ausdrücke verschiedener Sprachen handelt und daß die Silbenwiederholung -ter : -ter im Deutschen nicht als vollwertiger Reim gilt; für einen Waliser wäre der Reim jedoch korrekt). Daß ein Deutscher (16) und die meisten Engländer (23) als jeweils zwei voneinander unabhängige Strukturen enthaltend wahrnehmen (Reim einerseits, Alliteration andererseits), während ein Waliser, wenn er des Deutschen und des Englischen mächtig ist, in beiden Versen nur jeweils eine Struktur (cynghanedd sain) wahrnimmt, liegt also nicht an der sprachlichen Struktur der Verse, sondern am jeweiligen (erlernten) poetischen Kode, der die Wahrnehmung steuert. 89 Die Eigenständigkeit des poetischen gegenüber dem sprachlichen Kode basiert also im wesentlichen auf den folgenden drei Punkten: 1. Der sprachliche wie der poetische Kode verfügen über jeweils ein eigenes Inventar von E l e m e n t e n . Zwar werden poetische Elemente in der Regel durch sprachliche Elemente realisiert, aber die Zuordnung ist oft sehr komplex; ein poetisches Element kann unter Umständen durch verschiedene sprachliche Elemente realisiert werden, und ein sprachliches Element kann zur Realisierung verschiedener poetischer Elemente dienen - vgl. noch einmal die Beispiele (2) bis (6). 2. Darüber hinaus gibt es auch keine eineindeutige Beziehung zwischen sprachlichen und poetischen S t r u k t u r e n . Sprachliche Äquivalenzklassen können von unterschiedlichen poetischen Kodes in unterschiedlicher Weise organisiert werden. 89

Weitere Beispiele zur Abhängigkeit unserer Wahrnehmung von „Erkennungskodes" finden sich in Eco 1972: 205ff. - Zur Wahrnehmung vgl. Kap. 3.2.

Der Begriff der Äquivalenz

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3. Der poetische Kode bedient sich häufig z a h l e n m ä ß i g e r R e s t r i k t i o n e n und ordnet bestimmten Zahlen oder Zahlenrelationen bestimmte s e m a n t i s c h e W e r t e zu; der sprachliche Kode kennt keine zahlenmäßigen Restriktionen, die Uber paradigmatisch vorgegebene Bedingungen (vgl. die Bemerkungen über die Antonymierelation, S. 28f.) hinausgehen. 2.2.6

Äquivalenzen aus der Sicht des Autors und des Rezipienten

Insbesondere die im letzten Abschnitt angesprochene Tatsache, daß eine scheinbar .objektive' sprachliche Äquivalenzstruktur in einem poetischen Text von unterschiedlichen poetischen Kodes unterschiedlich strukturiert werden kann, was letztlich bedeutet, daß unterschiedliche Rezipienten sie in unterschiedlicher Weise wahrnehmen können, wirft die Frage nach der Beziehung zwischen solchen Äquivalenzstrukturen und ihrer Dekodierung bzw. Dekodierbarkeit durch die Rezipienten auf. In vielen Fällen ist es schlicht eine Frage des Kodes, und zwar nicht nur des sprachlichen, sondern eben auch des poetischen. Ist der Rezipient mit dem poetischen Kode, in dem der Text abgefaßt ist, vertraut, weiß er wenigstens ungefähr, wonach er zu suchen hat, und er wird viele kodifizierte Strukturen auch tatsächlich finden. Voraussetzung ist allerdings, daß der Autor ihm entgegenkommt und die physischen und psychischen Fähigkeiten und Grenzen des Rezipienten bei der Kodierung berücksichtigt und zum Beispiel seine Gedächtniskapazität nicht überfordert. Das bedeutet, daß er die äquivalenten Elemente in einer gewissen Nähe zueinander plaziert, so daß der Rezipient während der Lektüre oder der auditiven Rezeption (Lesung, Aufführung, Schallplatte) das erste Element noch im Kurzzeitgedächtnis gespeichert hat, wenn das darauf bezogene andere erscheint (vgl. das Ende von Kap. 3.2.2, wo ein Gedicht vorgestellt wird, das die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses deutlich überfordert). Dies gilt in besonderer Weise für die lautlichen Elemente der Sprache, die nicht in das Langzeitgedächtnis transferiert werden wie Begriffsinhalte.90 Ein wichtiges Mittel, diese psychischen Beschränkungen wenigstens teilweise zu kompensieren, besteht darin, äquivalente Elemente an besonders markanten Positionen zu plazieren und dem Rezipienten damit einen großen Teil des Aufwands, den er sonst für seine eigene Organisation des Sprachmaterials benötigt, abzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist der Refrain, der regelmäßig am Strophenende wiederkehrt. Werden nun äquivalente Elemente regelmäßig an den gleichen Positionen wiederholt, werden sie vom Rezipienten natürlich auch dort erwartet. Dies gilt in besonderem Maße für Metrum und Rhythmus, wie schon 1924 I. A. Richards klar erkannte: Der Rhythmus und seine besondere Form, das Metrum, sind von Wiederholung und Erwartung abhängig. Sowohl dort, wo das Erwartete eintritt, als auch dort, wo es ausbleibt, gehen alle rhythmischen und metrischen Wirkungen von der Antizipation aus. In der Regel ist diese Antizipation unbewußt. Silbenfolgen, und zwar als Töne wie auch als Images 90

Zu näheren Details über den auditiven Wahrnehmungsprozeß siehe Kap. 3.2.1.

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Semiotische Grundlagen von Sprechbewegungen, machen den Geist aufnahmebereiter für ganz bestimmte weitere Folgen und weniger aufnahmebereit für alle anderen.91

Das Metrum schafft also durch seine Regelmäßigkeit im Hörer bestimmte Erwartungen, die entweder erfüllt oder enttäuscht werden und daher das Rezeptionsverhalten in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Wir werden diese Problematik noch an späterer Stelle (Kap. 3.1.2) eingehender besprechen, doch ist es wichtig festzuhalten, daß die Psychologie des Rezipienten - neben den .objektiven' (vgl. aber hierzu 2.2.5) Äquivalenzstrukturen im Text - eine gewichtige Rolle spielt. Es ist also damit zu rechnen, daß auch allgemeine psychologische Faktoren in Fragen des Metrums und des Rhythmus mit zu berücksichtigen sind. Andererseits sind die Erwartungen des Rezipienten aber auch, wie wir gesehen haben, kulturabhängig, sprachabhängig und schließlich textabhängig: Der Rezipient erwartet nur Strukturen, die er aus der Kenntnis des Kulturraums, in dem er lebt, kennt, in unserem Fall speziell der Literatur; weiter erwartet er nur Strukturen, die in der Sprache, in der der Text abgefaßt ist (und die er kennt), möglich sind, und drittens beeinflußt der Text selbst die weiteren Erwartungen des Rezipienten: Enden zum Beispiel die ersten drei Strophen eines Gedichts mit demselben Refrain, so erwartet ihn der Rezipient auch am Ende der vierten; sind die ersten Verse eines Gedichtes in demselben Metrum abgefaßt, so erwartet der Rezipient, daß es so weitergeht; weist, andererseits, ein Text keine metrische Bindung auf, wird vom Rezipienten auch nicht erwartet, daß plötzlich eine solche einsetzt, etc. Alle diese Erwartungen aber können enttäuscht und der Rezipient quasi ,hinters Licht geführt' werden. Auch unter diesem Aspekt ist also die „Reduktion der gesamten künstlerischen Konstruktion auf Wiederholungen" ein Fehler, da nur ein Teil dieser Gesamtkonstruktion, nämlich die tatsächliche Realisierung einer vom Rezipienten erwarteten Repetitionsstruktur berücksichtigt wird, während die Frustration seiner Erwartungshaltung als nicht z u r Textkonstruktion gehörig erscheint. Beides aber, die Wiederholungen und die Störungen der Wiederholung, sind „künstlerisch aktiv", und nur „die Berücksichtigung dieser beiden gegeneinander gerichteten Tendenzen ermöglicht es, das Wesen ihres ästhetischen Funktionierens aufzudecken" (Lotman 1973: 302). Betrachten wir nun die Beziehung des Autors zu den Äquivalenzstrukturen. Für ihn gilt, mutatis mutandis, zunächst einmal das Gleiche. Auch er ist ja in gewisser Weise ein Rezipient des Textes (Eigenrezipient), 92 der darüber hinaus für bestimmte Rezipienten schreibt und daher, will er verstanden werden, auch das 91 92

Richards 1924/1972: 176. Für Schneewolf 1987, der die Möglichkeiten der Analyse von Lautstrukturen in den Alexandrinergedichten Rimbauds ausgiebig diskutiert, ist das Konzept des Autors als Eigenrezipient zumindest als heuristisches Verfahren grundlegend: „Ich denke, man kann die Frage einer adäquaten Rezeption umgehen, d.h. auch auf die Konstruktion eines dem Autor spiegelbildlichen Lesers wie auf die Psychologie verzichten, wenn man [...] Produzent und Rezipient in der einen Person des Autors durch Vermittlung des Textes miteinander kurzschließt" (Schneewolf 1987: 2.90).

Der Begriff der Äquivalenz

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Rezeptionsverhalten seines Publikums mit einkalkulieren muß. Nur ist er derjenige, der darüber entscheidet, w e l c h e Erwartungen er beim Rezipienten wecken und ob er sie befriedigen oder enttäuschen will. Die Art der Äquivalenzstrukturen und die Art ihrer sprachlichen Realisierung hängen also von ihm ab. Allerdings sollte immer - dies gilt für jede Art von Kommunikation, aber besonders für so komplexe wie poetische Kommunikation, bei der außer dem sprachlichen noch andere Kodes beteiligt sind - mit einer prinzipiellen kommunikativen Differenz zwischen Sender und Empfänger gerechnet werden: Beide verfügen, wie aus der Beschreibung unseres Kommunikationsmodells hervorging, nicht unbedingt über exakt denselben Kode, sondern, davon ist auszugehen, nur teilweise. Es stellt sich also die Frage, ob die Äquivalenzstrukturen, die der Rezipient aus dem Text heraus konstruiert, auch tatsächlich dieselben sind, die der Autor intendiert hat. Oder genereller: Wie ist es überhaupt möglich, zu bestimmen, was für den Autor äquivalente Elemente sind und was das Äquivalenzkriterium ist? Die Antwort darauf lautet zum einen: der Text 93 selbst, wobei alle Möglichkeiten der Bildung von Äquivalenzen unter Einbeziehung so wichtiger Faktoren wie Position, Nähe im Text etc. mitveranschlagt werden müssen. Hier finden nun statistische Untersuchungen ihre Berechtigung. Sie basieren also erstens auf der Prämisse, daß das Konzept des Autors als Eigenrezipient sinnvoll ist (oder, wie Schneewolf 1987: 2.73 es formuliert, daß der Text „als eine Art Werkzeug in Hinblick auf seine Benutzer entworfen worden" ist), und zweitens auf der Überzeugung, daß die Entscheidung darüber, welche Äquivalenzstrukturen als poetisch intendiert oder als ästhetisch relevant einzustufen sind bzw. was überhaupt als Äquivalenzstruktur im Text zu gelten hat, aufgrund von statistischer Signifikanz getroffen werden kann. Voraussetzung hierfür ist allerdings „die Quantifizierbarkeit von Elementen und ihren Beziehungen und das Vorliegen großer Zahlen" (Schneewolf 1987: 2.91). Daß mit diesem Kriterium auch im Bereich der Metrik sinnvoll gearbeitet werden kann, wird sich vor allem in Kap. 5.4.4 zeigen. Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit zur Beantwortung der Frage, was für den Autor äquivalente Elemente sind und welches das Äquivalenzkriterium ist. Und zwar kann man anstatt der - erst zu findenden - Äquivalenzen im Text diejenigen Äquivalenzen untersuchen, die zwischen vom Autor selbst ausgetauschten Ausdrücken (in verschiedenen Textfassungen) bestehen. Dieser Frage geht, unter eben diesem Aspekt, Lotman (1981) nach, der verschiedene Textvarianten bei Puschkin und Pasternak untersucht. Ausgangspunkt ist dabei die Hypothese, daß der Autor anstelle eines Ausdrucks, den er aus einem Paradigma äquivalenter Ausdrücke gewählt hat, einen anderen Ausdruck wählt, der dem ersetzten Ausdruck in bestimmter Hinsicht äquivalent ist (sonst wäre keine Ersetzung möglich). Aus dem Vergleich der beiden Ausdrücke kann man nun das Kriterium ihrer Äquivalenz bestimmen, und Lotmans Studie zeigt, daß bei Puschkin und Pasternak ganz unterschiedliche Äquivalenzkriterien gelten: Puschkin wählt seine Wörter vor dem 93

Für weitere Überlegungen zum Textbegriff s. Kap. 3.5.

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Semiotische Grundlagen

Hintergrund einer bestimmten metrischen Konstanten, von der er nicht abweicht, während bei Pasternak - Lotman beschränkt seine Analyse auf dessen frühe Werke - die grundlegende Komponente ein Montageprinzip visueller Bilder ist. Solche Untersuchungen können also interessante Einsichten in die Produktionsweise von Autoren liefern. Darüber hinaus bestätigt Lotmans Aufsatz eindrucksvoll unsere oben entwickelte Auffassung von Äquivalenz im Bereich der Poetik als aspektabhängiger, punktueller Similarität, bei der Gleiches mit Ungleichem verbunden ist. Lotman drückt dies in der paradox klingenden Formel aus „äquivalent, aber anders", 94 die er wie folgt erläutert: Um einen Teil des poetischen Textes durch einen anderen zu ersetzen, müssen beide in bestimmter Beziehung äquivalent sein. Damit dieser Austausch jedoch zugleich künstlerisch sinnvoll ist, bedürfen beide auch einer bestimmten Nichtäquivalenz.95

Auch unter dem Aspekt der Betrachtung und Vergleichung von Textvarianten eines Autors zeigt sich also, daß der Begriff der Äquivalenz seine Berechtigung hat und nicht durch den Begriff der Wiederholung (Rekurrenz) ersetzt werden kann. In verschiedenen Fassungen (Versionen) desselben Textes - wobei „derselbe Text" hier als Abstraktionsklasse zu verstehen ist - sind die jeweils unterschiedlichen Elemente einander äquivalent, aber in jeder Textfassung kommt jeweils nur eins dieser Elemente vor. Also bilden sie keine Repetitionsstruktur. Der Begriff der Rekurrenz ist somit ein auf den Text bezogener, rein deskriptiver Begriff, der keine explanative Kraft besitzt. Demgegenüber vermag der Begriff der Äquivalenz zu b e g r ü n d e n, (a) warum bzw. unter welchem Kriterium bestimmte Ausdrücke in einer Textversion durch andere Ausdrücke in einer anderen Version vom Autor ersetzt werden und (b) was in einem bestimmten Text das Kriterium für dort vorfindliche Repetitionsstrukturen ist.

2.3

Der Parallelismus als u m f a s s e n d e s poetisches Prinzip

2.3.1

Der parallelismus membrorum

Wenn wir nun einen Begriff suchen, der Textstrukturen bezeichnet, die auf der Projizierung des Äquivalenzprinzips von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination basieren, so bietet sich der Begriff des P a r a l l e l i s m u s an. Als „parallelismus membrorum" wurde dieser Begriff von dem englischen Professor für hebräische Poesie und späteren Bischof Robert Lowth in die Wissenschaft eingeführt, und zwar bezeichnet er bei ihm das, was Lowth als die Grundstruktur der hebräischen Dichtung erkannte, nämlich „the correspondence of one verse, or line, with another". 96 Lowths eigentliches Anliegen war es, nachzuweisen, daß derjenige Teil der hebräischen Literatur, der als poetisch gilt, 94 95 96

Lotman 1981: 112. Lotman 1981: 361. Lowths „preliminary dissertation" zu seiner Übersetzung von Jesaja, zitiert nach Lowth 1787, Bd. II, S. 32, Anm. 10.

Der Parallelismus als umfassendes poetisches Prinzip

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eine metrische Form hat, doch erkannte er, daß jegliche Grundlage zur genaueren Bestimmung der Art dieses Metrums fehlte. Was ihm jedoch auffiel, war „a certain conformation of the sentences", dergestalt, „that a complete sense is almost equally infused into every component part, and that every member constitutes an entire verse".97 Diese .poetische Angleichung der Sätze' besteht nach Lowth eben in dem Parallelismus oder der Ähnlichkeit zwischen den Gliedern jeder Periode, und zwar in der Form, daß in zwei parallelen Zeilen bzw. Gliedern derselben Periode die einzelnen Elemente jeweils miteinander korrespondieren. Interessanterweise bezieht sich Lowth hier sowohl auf die Ebene des Bezeichnenden als auch auf die Ebene des Bezeichneten, wie seine Beschreibung des antithetischen Parallelismus erkennen läßt: „This is not confined to any particular form: for sentiments are opposed to sentiments [Ebene des Bezeichneten; C.K.], words to words, singulars to singulars, plurals to plurals, etc. [Ebene des Bezeichnenden; C.K.]".98 Jakobsons spätere Auflistung der für den Parallelismus verwendbaren Kategorien99 ist im Grunde nichts anderes als eine konsequente Weiterführung und Ergänzung der bei Lowth aufgeführten Kategorien. Ein weiterer Punkt bei Lowth verdient hervorgehoben zu werden. Aufgrund sorgfältiger Auswertung des von ihm untersuchten Materials gelangt er zu einer dreiteiligen Klassifikation des Parallelismus in der hebräischen Poesie: Neben dem bereits erwähnten antithetischen Parallelismus sieht er den synonymen („when the same sentiment is repeated in different, but equivalent terms"), 100 den häufigsten Typ, und schließlich den synthetischen oder konstruktiven Parallelismus, im Grunde eine Restkategorie, die nicht wie die beiden anderen Typen durch eine klare semantische Struktur gekennzeichnet ist. Hinsichtlich der Distribution dieser drei Typen des parallelismus membrorum stellt Lowth fest, daß sie ständig miteinander vermischt werden, „and this mixture gives a variety and beauty to the composition."101 Damit erweist sich also der Parallelismus für Lowth zum einen als das charakteristische Merkmal der hebräischen Poesie 102 und zum anderen in seiner Verwendung als dasjenige Mittel, das dieser Poesie Schönheit verleiht.

97 98 99

100 101 102

Lowth 1787, Bd. I: 68. Lowth 1787, Bd. II: 45 „Als solche für Parallelismus und Kontraste ausgenutzte Kategorien fungieren in der Tat alle flektierenden und unveränderlichen Wortklassen, Numeri, Geschlechter, Kasus, Tempora, Aspekte, Modi, Genera des Verbs, Belebtheit und Unbelebtheit, Abstrakta und Konkreta, Gattungs- und Eigennamen, Negation, Verba finita und infinita, bestimmte und unbestimmte Pronomina sowie Artikel und außerdem verschiedene syntaktische Bestandteile und Konstruktionen." (Jakobson 1965: 27) Lowth 1787, Bd. II: 35. Lowths „preliminary dissertation", zitiert nach Jakobson 1966: 400. Vgl. Lowth 1787, Bd. I: 101: „In Hebrew the frequent or rather perpetual splendour of the sentences, and the accurate recurrences of the clauses, seem absolutely necessary to distinguish the verse: so that what in any other language would appear a superfluous and tiresome repetition, in this cannot be omitted without injury to the poetry."

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Semiotische

Grundlagen

Lowths Arbeiten über die hebräische Poesie und insbesondere über den parallelismus membrorum blieben nicht ohne Auswirkungen in Europa. Herder zeigte sich in seiner Schrift „Vom Geist der ebräischen Poesie" 103 sehr beeindruckt, und auch in der deutschen Theologie wurde Lowths Untersuchung rezipiert und ihrerseits zum Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen gewählt. So übertrug z. B. de Wette in seinem in mehreren Auflagen erschienenen „Commentar über die Psalmen" (1. Aufl. 1811) den Parallelismus auch auf den Rhythmus und den Reim, 104 und bereits vorher kam es zu einem fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen Lowth und dem deutschen Bibelforscher Johann David Michaelis, dessen Bemerkungen zu Lowths ursprünglich in lateinischer Sprache verfaßten Vorlesungen über die Poesie der Hebräer bei der englischen Übersetzung von 1787 mitabgedruckt wurden. 105 Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde Lowths Theorie in Deutschland noch immer als vollgültig akzeptiert, 106 und seine wesentlichsten Erkenntnisse haben selbst Eingang gefunden in die von Alex Preminger herausgegebene Princeton Encyclopedia ofPoetry and Poetics. 107 Die Linguistik - und in diesem Zusammenhang ist insbesondere die Arbeit von Lang (1987) zu erwähnen - hat inzwischen erkannt, daß der syntaktische Parallelismus nicht nur eine bedeutende Stilfigur der Volks- und Kunstdichtung ist, sondern „auf ein universelles Prinzip sprachlicher Strukturbildung überhaupt" verweist (Lang 1987: 1). Eine wichtige Voraussetzung für diese Erkenntnis war die durch zahlreiche ethnologische Forschungen belegte Tatsache, daß der Parallelismus in den verschiedensten Literaturen bzw. oralen Traditionen zu finden ist, so daß man durchaus von einer ubiquitären Verbreitung sprechen kann. Der Parallelismus basiert also weder auf spezifischen einzelsprachlichen Strukturen noch ist er von spezifischen ethnischen, soziokulturellen oder literarischen Faktoren abhängig. Er 103 104

105 10i

107

Dessau 1782. „ [ . . . ] d e r P a r a l l e l i s m u s d e r G1 i e d e r [ . . . ] ist nichts Anderes als ein rhythmisches Ebenmaass der Redeabschnitte" (de Wette 1865: 45). Und: „Wirklich scheint auch der Parallelismus der Glieder ein rhythmisches Grundgesetz zu sein. Es liegt offenbar dem Reime zu Grunde, durch welchen ein Vers dem andern gegenübergeordnet wird." (a. a. O., S. 45f.) Dieser Zusatz fehlt leider in dem Nachdruck von 1971. So schreibt Gustav Baur, der Herausgeber der 5. Aufl. von de Wettes „Commentar über die Psalmen": „Uebrigens hat Lowth bei dem einfachen Verzicht auf die Wiederauffindung der früher vorhandenen Metra sich nicht beruhigt, sondern er hat zugleich das Verdienst, zuerst eingehendere Untersuchungen über diejenige Eigenthümlichkeit der Form der hebräischen Poesie angestellt zu haben, welche ihr blieb, wenn auch die Entdeckung ihres Metrums aufgegeben werden musste. Gerade er fand diese Eigenthümlichkeit hauptsächlich in dem Parallelismus der Versglieder (vgl. die 3. und 19. seiner praelectiones), und seine Ansichten sind dann von Herder, Rosenmüller, Gesenius, de Wette u. A. verbreitet und weiter ausgebildet worden, doch hat schon Lowth selbst die bezügliche Theorie und Terminologie im Wesentlichen so befriedigend aufgestellt, dass die jetzt herrschende Theorie des Parallelismus nichts Wesentliches zuzusetzen weiss, vielmehr einiges von Lowth Gewahrte allzusehr übersehen haben dürfte." (S. 78 der Einleitung, Anm. 1) Erschienen 1965, in erweiterter Form 1975 neu aufgelegt.

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ist „in erster und letzter Instanz eine s p r a c h l i c h e K o n f i g u r a t i o n , deren Gebrauch und Interpretation [. . .] somit grundsätzlich in der Sprachkompetenz verankert ist" (Lang 1987: 4). In einem ersten Ansatz zu einer „Grammatik des Parallelismus" 1 0 8 arbeitet Lang zwei wichtige Aspekte dieser Stilfigur heraus. So kommt er erstens nach einer Sichtung der einschlägigen Forschungsergebnisse hinsichtlich der verschiedenen Realisierungsformen zu dem Ergebnis, daß der Parallelismus im Prinzip auf der Grammatik der koordinativen Verknüpfung (hierzu vgl. Lang 1977) beruht, die sowohl durch die gleiche Konstituentenkonfiguration als auch durch eine semantische Minimaldifferenz charakterisiert ist; d. h. die beiden syntaktisch parallelen Konjunkte müssen sich in mindestens einem Konstituentenpaar semantisch/referentiell unterscheiden. Dies wiederum zeitigt auch eine parallele Akzentkontur beider Konjunkte im Hinblick auf ihre prosodische Charakterisierung der thematischen bzw. rhematischen Konstituenten. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, daß diese grundlegenden Bedingungen des Parallelismus keine weitere poetische Sekundärstruktur voraussetzen, sondern aus den Regeln der Alltagssprache ableitbar sind. Poetische Kodifizierungen - etwa hinsichtlich der Silbenzahl der jeweiligen Konjunkte oder weiterer Lautfiguren wie Alliteration, Reim, Metrum etc. - sind Superstrukturen, die zusätzlich hinzu kommen können, die jedoch den syntaktischen Parallelismus nicht (mit)definieren. Neben dieser grammatischen Beschreibung des Parallelismus bietet Lang auch eine kognitive Erklärung der Ubiquität dieses Phänomens an, und zwar stützt er sich dabei auf empirische Daten aus der Sprachproduktion, die eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Bedingungen der koordinativen Verknüpfung und spontanen (syntaktischen) Selbstkorrekturen beim Sprechen augenfällig werden lassen: Danach scheint eine strukturelle Analogie zwischen den Prozessen, die bei der koordinativen Verknüpfung und denen, die bei einer Selbstkorrektur ablaufen, 108

Dieser Ausdruck stammt von dem deutschen Sprachwissenschaftler und Folklore-Forscher Wolfgang Steinitz, dessen 1934 in Helsinki erschienene Arbeit „Der Parallelismus in der finnisch-karelischen Volksdichtung" großen Einfluß auf Jakobson ausübte. Steinitz verstand seine Arbeit als „eine Art .Grammatik des Parallelismus'" - die Tatsache, daß er diesen Begriff in Anführungszeichen setzte, zeigt, daß er selbst ihn eher metaphorisch auffaßte - , die auf die literarisch-ästhetische Seite dieses Phänomens nicht eingeht (vgl. Steinitz 1934: XII, Vorwort; siehe dazu auch Anm. 1 auf derselben Seite). Zunächst gibt Steinitz einen wertvollen Überblick über die Geschichte der Erforschung des Parallelismus in der finnischen und ungarischen Literatur, in dem er nachweist, daß lange vor Lowth bereits Vergleiche zwischen dem finnischen Parallelismus und dem des Alten Testaments durchgeführt wurden, die jedoch auf die Wissenschaftsgeschichte keinen solch nachhaltigen Eindruck machten wie dessen Arbeiten. Steinitz legt dann überzeugend dar, welch bedeutende Rolle der Parallelismus als Strukturelement in der finnisch-karelischen Volksdichtung spielt. In der Beschreibung der grammatischen Seite des Parallelismus ist Steinitz' Darstellung vorbildlich und für die weitere Parallelismusforschung beispielgebend gewesen. Aufgrund der selbst auferlegten Beschränkung auf den grammatischen Aspekt ist sie jedoch in bezug auf das Verhältnis zwischen der formalen und der inhaltlichen Seite, d. h. zwischen Signifikant und Signifikat, weniger ertragreich.

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Grundlagen

anzunehmen zu sein. Dieser gemeinsame Erklärungsansatz für beide Phänomene impliziert natürlich eine gemeinsame mentale Verarbeitung: „Parallelismen, die den ohnehin in der Sprachproduktion stattfindenden Struktur-Transfer ausnutzen, sind ökonomisch in der Hinsicht, daß sie leichter zu merken und leichter zu reproduzieren sind als frei aufeinander folgende Strukturen. Damit wäre die Verbreitung des Parallelismus gerade in der oral tradierten Volksdichtung verankert" (Lang 1987: 47). Somit wäre die sprachliche - und daher linguistisch zu beschreibende - Basis des syntaktischen Parallelismus erwiesen. Hieraus jedoch, wie es Lang (1987: 47) tut, zu folgern, daß diese Art von Parallelismus nicht unter die übrigen „poetischen Repetitionsfiguren" - hierzu vgl. noch einmal Kap. 2.2.2 - eingereiht werden dürfe, erscheint mir nicht zwingend. Denn der Parallelismus, wie er in den verschiedenen Volks- und Kunstdichtungen realisiert ist, ist stets durch m e h r als die Grammatik der koordinativen Verknüpfung charakterisiert: Hinzu kommt jeweils eine spezifische poetische Kodifizierung - ein Aspekt, den Lang auch durchaus sieht. Erst aufgrund dieser poetischen Kodifizierung (die zum Beispiel die Silbenzahl in den einzelnen Konjunkten oder auch die Zahl der Konjunkte selbst regeln kann) unterscheidet sich ein alltagssprachlicher Text einer gegebenen Sprache von einem Text, in dem der Parallelismus die dominante Stilfigur und äußerliches Erkennungsmerkmal der in diesem Text dominierenden poetischen Funktion ist. 2.3.2

Die semantische Interpretation des Parallelismus bei Hopkins und Jakobson

Einen entscheidenden Denkanstoß, der sich für die erst in diesem Jahrhundert einsetzende semiotische Ästhetik äußerst fruchtbar erweisen sollte, vermittelte Lowths Untersuchung des Parallelismus 1866 dem damals gerade einundzwanzigjährigen Philologiestudenten und späteren Dichter Gerard Manley Hopkins (1844-1889), ohne den Roman Jakobsons bedeutende Beiträge zum Thema Parallelismus nicht denkbar wären und den dieser daher in seinen einschlägigen Veröffentlichungen nicht müde wurde zu zitieren. Eine wesentliche Leistung von Hopkins als Vorläufer und Wegbereiter der heutigen semiotischen Ästhetik besteht darin, das von Lowth für die hebräische Dichtung nachgewiesene Phänomen des Parallelismus in e i n e r a b s t r a k t e r e n F o r m als d a s G r u n d p r i n z i p v o n D i c h t u n g ü b e r h a u p t zu postulieren: The artificial part of poetry, perhaps we shall be right to say all artifice, reduces itself to the principle of parallelism. The structure of poetry is that of continuous parallelism, ranging from the technical so-called Parallelisms of Hebrew poetry and the antiphons of Church music up to the intricacy of Greek or Italian or English verse. But parallelism is of two kinds necessarily - where the opposition is clearly marked, and where it is transitional rather or chromatic. Only the first kind, that of marked parallelism, is concerned with the structure of verse - in rhythm, the recurrence of a certain sequence of syllables, in

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metre, the recurrence of a certain sequence of rhythm, in alliteration, in assonance and in rhyme. 109 Hopkins' erste Erkenntnis ist also, daß das abstrakte Prinzip des Parallelismus nicht auf die syntaktische Struktur von poetischen Texten einer bestimmten Nationalliteratur beschränkt ist, sondern in allgemeiner Form auch den übrigen formalen poetischen Strukturen der verschiedenen Literaturen zugrunde liegt. 110 Von semiotischem Interesse ist jedoch insbesondere seine zweite Erkenntnis, daß nämlich diese auf Äquivalenz beruhende Parallelität von Elementen auf der Ebene des Bezeichnenden eine Parallelität auf der Ebene des Bezeichneten herstellen kann: „[. . .] parallelism in expression tends to beget or passes into parallelism in thought" (Hopkins 1959: 85). In diesem Punkt geht Hopkins über Lowth, der nur die Äquivalenzen zwischen Elementen des Ausdrucks o d e r des Inhalts sah, und über seine Nachfolger hinaus und stellte damit die Weichen für die Entwicklung einer semiotisch fundierten Richtung der heutigen Ästhetik (vgl. Kap. 2.3.3). Hopkins' Diktum impliziert auch nicht nur das für die koordinative Verknüpfung verbindliche Prinzip der semantischen Minimaldifferenz. Dieses Prinzip besagt ja lediglich, daß zwei parallele Konjunkte nicht total identisch sein dürfen, sondern daß es einen semantischen/referentiellen Unterschied in mindestens einem Konstituentenpaar geben muß (nämlich dem jeweiligen rhematischen Teil). Voraussetzung hierfür ist die Kontrastfähigkeit derjenigen lexikalischen Einheiten, die diese Konstituenten belegen. Diese Kontrastfähigkeit setzt wiederum eine semantische Differenzierbarkeit voraus, „d. h. die Möglichkeit, die Bedeutungsstruktur der Konstituente in kontextuell determinierte Substrukturen zu dekomponieren" (Lang 1987: 31). Was Hopkins hier meint, ist jedoch das Phänomen, daß eine P a r a l l e l i t ä t a u f d e r A u s d r u c k s e b e n e g e n e r e l l (also nicht nur auf der syntaktischen Ebene!) eine Parallelität auf der Inhaltsebene suggeriert. Hopkins' Auffassung wird erst recht deutlich, wenn man einen anderen Essay von ihm aus dem gleichen Jahre mit heranzieht, der von den wenigsten, die Hopkins heute im Zusammenhang mit Jakobson erwähnen, gelesen worden sein dürfte. 111 Der Titel lautet: „On the Origin of Beauty", und Hopkins stellt darin in der Form eines platonischen Dialogs seine Auffassung vom Wesen der Schönheit dar, die darin gipfelt, daß Schönheit im Grunde eine Relation und ihre Wahrnehmung ein Vergleichen sei, während der Sinn f ü r Schönheit in der Fähigkeit des Vergleichens bestehe. Diese Auffassung ist insofern bemerkenswert, als hier die künstlerische Wahrnehmung als ein a k t i v e r P r o z e ß (vgl. hierzu Kap. 3) dargestellt wird, der darin besteht, etwas mit etwas anderem zu vergleichen - übrigens ein Gedanke, 109 1,0 111

Hopkins 1959: 84. Auch Norden 1958: 813 betrachtet den Parallelismus als „Urform der Poesie". So führt selbst Fox 1977 in seinem ansonsten recht ausführlichen Literaturverzeichnis (fast 140 Titel) von den vier einschlägigen Arbeiten Hopkins' nur eine einzige an, und zwar das lediglich 2 Seiten umfassende Fragment „Poetic Diction".

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der der Ästhetik keineswegs fremd ist. So schreibt zum Beispiel G. L. Raymond in seiner 1894 zuerst erschienenen siebenbändigen komparativen Ästhetik: It is generally acknowledged that the principal mental process involved in art-construction is comparison. This causes all men, both consciously and unconsciously, both for convenience and pleasure, to take satisfaction in putting like with like (Raymond 1909, Bd.3:25).

Die Ästhetik sieht also ein allgemeines Prinzip wirksam, das sich in der Geschichte der Kunst in allen Bereichen manifestiert hat. Diese generelle „artistic tendency toward comparison, as manifested in putting like with like" (Raymond 1909, Bd. 6: 29)" 2 kann nun nicht aus den spezifischen Bedingungen des syntaktischen Parallelismus oder seiner Basisstruktur, der koordinativen Verknüpfung, abgeleitet werden. Es dürfte eher umgekehrt sein, daß sich der syntaktische Parallelismus als eine o p t i m a l e R e a l i s i e r u n g s f o r m dieses allgemeinen ästhetischen Prinzips geradezu anbietet, da seine Basisstruktur bereits die grundlegenden Elemente der strukturellen Gleichheit bzw. Ähnlichkeit bei semantischer Differenz in sich enthält." 3 Offenbar sieht auch Hopkins dies so: Denn für ihn ist der Parallelismus aufgrund seiner spezifischen, auf Ähnlichkeit beruhenden Struktur das geeignete Mittel, beim Rezipienten (Leser, Hörer, Betrachter) inhaltliche (semantische) Vergleiche hervorzurufen. Dabei unterscheidet Hopkins drei Arten des Vergleichens, von denen die beiden folgenden für die Kunst im allgemeinen und die Dichtung im besonderen spezifisch seien: zum einen der V e r g l e i c h um d e r Ä h n l i c h k e i t w i l l e n , wozu er Metapher, Simile und ähnliche Phänomene rechnet, und zum anderen der V e r g l e i c h um d e r U n ä h n l i c h k e i t w i l l e n , wozu er Antithese, Kontrast etc. zählt." 4 Hierbei denkt Hopkins durchaus dialektisch: Ähnlichkeit impliziert Unähnlichkeit, und Unähnlichkeit impliziert

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Als ein Beleg unter vielen möglichen, daß dieses Prinzip auch für die Musik gilt, sei Riemann 1903: 198 zitiert, der schreibt, daß „die G e g e n ü b e r s t e l l u n g z w e i e r e i g e n t l i c h a l s g l e i c h gemeinten Einheiten die Grundlage des metrischen Aufbaues bildet und daß wir darum auch für die Gegenüberstellung größerer Formglieder nicht eine Proportion 1 : 2 erwarten dürfen, sondern vielmehr fortgesetzt nur 1 : 1 [. . .]. Wir stehen darum zunächst vor der Erkenntnis, daß die fortgesetzte Gegenüberstellung von Einheiten gleicher Größe, die Beantwortung eines Ersten durch ein Zweites gleicher Ordnung die Grundlage des Aufbaues musikalischer Formen bildet." Daß sich poetische Strukturen generell Eigenschaften oder Tendenzen der natürlichen Sprache, auf denen sie operieren, zunutze machen, ist - zumindest für den Bereich der Metrik - eine Grundthese dieser Arbeit. In allgemeiner Form findet sich diese These auch schon bei Raymond (1909 Bd. 6: 29): „Art is a development of natural tendencies, of which we are not always conscious." Hopkins i959: 106. - Eine ähnliche Auffassung vertritt übrigens Coleridge in seiner 1817 ersenienenen Biographia Literaria: „[. . . ] the composition of a poem is among the imitative arts; and [. . . ] imitation, as opposed to copying, consists either in the interfusion of the s A M E throughout the radically D i F F E R E N T , or of the different throughout a base radically the same" (Coleridge 1983: 72).

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Ähnlichkeit. 115 Erst das Vergleichen der in den Parallelismus eingebundenen Elemente jeweils im Lichte des anderen116 bewirkt Schönheit. Schönheit besteht für Hopkins also nicht in völliger Symmetrie, sondern in der komplexen Verbindung von Gleichem und Ungleichem. 117 Für Jakobson war es weniger der Aspekt der Schönheit, der ihn an den Arbeiten Hopkins' faszinierte, sondern eher der semiotische Aspekt, daß die Äquivalenzen auf der Ausdrucksebene unvermeidlich Äquivalenzen auf der Inhaltsebene implizieren. Dieser Gedanke, daß der Parallelismus auf der Ausdrucksseite eine semantische Veränderung bewirkt, war übrigens auch schon 1916 von dem Russischen Formalisten Viktor Sklovskij geäußert, wenn auch praktisch nicht weiterverfolgt worden:

115

Hopkins 1959: 105. Diese Dialektik von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bei Hopkins hat ihren Ursprung in seiner religiös-philosophischen Weltanschauung. Für ihn ist jedes Ding, jedes Lebewesen etc. einerseits einzigartig, d. h. allem anderen gegenüber unähnlich (Hopkins nennt diese Einzigartigkeit inscape), andererseits jedoch ist alles Geschaffene als von Gott Geschaffenes einander ähnlich (vgl. die Bemerkungen zu Beispiel (24) in Kap. 2.3.3). - Für die Darstellung dieser Auffassung Hopkins' und die Konsequenzen, die sich möglicherweise daraus für die heutige semiotische Ästhetik ergeben, die diese religiös-philosophische Auffassung Hopkins' bisher nicht reflektiert hat, vgl. Küper 1984. - In ähnlicher Weise sieht übrigens Jammers 1963/1977 den Endreim in der mittelalterlichen Dichtung als ein Element, das „aus dem christlichen Untergrund der musikalischpoetischen Kunst [stammt], dem eschatologischen Glauben des Christentums: daß alles einem Ende zuströmt, im einzelnen oder im gesamten. Das will vielleicht nicht sofort einleuchten. Aber man darf bedenken, daß die erste althochdeutsche Dichtung Otfrieds christliches und sehr eschatologisch schließendes Werk ist und daß heute, wo Endreim und musikalische Kadenz fast belanglos geworden sind, auch die christliche Substanz in Dichtung (und Musik) genauso unwesentlich ist." (Jammers 1963/1977: 255 in einem 1974 geschriebenen Nachtrag) - Dieser Gedanke ist sicherlich faszinierend, aber er kann nicht die Bedeutung des Reims für so .profane' Textgattungen wie den Schlager etc. erklären. Hier greift jedoch immer noch der semiotische Ansatz: Nach wie vor scheint es reizvoll, durch lautlich Ähnliches vordergründig Unähnliches als unter einem bestimmten Aspekt doch Ähnliches darzustellen. Vgl., um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, den Reim „It's been so many years, so many tears" von Chris de Burgh in seinem Song „The Revolution".

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„It seems then that it is not the excellence of any two things (or more) in themselves, but those two things as viewed by the light of each other, that makes beauty." (Hopkins 1959: 93) In dem erwähnten Essay „On the Origin of Beauty" verdeutlicht Hopkins dies am Beispiel des Kastanienblattes, das auch nicht völlig symmetrisch ist, insofern das größte (Teil-) Blatt keiner der beiden Seiten ganz angehört, und unter diesem Aspekt mit dem walisischen cynghanedd sain vergleichbar ist (vgl. hierzu S. 45). - Übrigens diskutiert auch Hildebrand 1891: 578 den Reim unter dem Aspekt der Schönheit, und auch er sieht als eine Grundbedingung für die Schönheit die Verbindung von Gleichem und Ungleichem. So behauptet er, „daß der Reim an Schönheit zunimmt in dem Maße, wie dem Gleichen darin ein Ungleiches, dem Einklang ein Zwieklang gegenübertritt, und n u n erst, wenn das Gefühl d a s erfaßt, kommt uns der wahre Begriff vom Reim, nun erst sieht man ihn unter dem Gesichtspunkt des Kunstschönen".

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Semiotische Grundlagen Zweck des Parallelismus, wie überhaupt der Bildlichkeit, ist die Übertragung eines Gegenstandes aus seiner normalen Wahrnehmung in die Sphäre einer neuen Wahrnehmung, d. h. eine eigenartige semantische Veränderung.118

Bei Hopkins war dieser Gedanke jedoch sehr viel tiefer durchdacht. Wie beeindruckt Jakobson von diesem Ansatz war (auch noch 20 Jahre, nachdem er sich zum erstenmal mit Hopkins beschäftigte), zeigen die Formulierungen in seinem Gespräch mit Krystyna Pomorska, in dem er Hopkins einen „der aufregendsten Dichter des vorigen Jahrhunderts" und zugleich einen „der faszinierendsten Theoretiker der Dichtkunst" nennt, der „als junger Student - hundert Jahre vor meinen eigenen Versuchen" - seine Theorie entwickelte. 119 Jakobson sieht also durch Hopkins seine Auffassung, die sich im Russischen Formalismus und im Prager Strukturalismus sowie in der Zeit danach immer deutlicher herausbildete, bestätigt: Die alte Trennung in Inhalt und Form ist in bezug auf die Dichtung aufzuheben. Im poetischen Text gibt es nichts bloß Formales; die Form gehört zum Inhalt, wie der Inhalt zur Form gehört. Die Bedeutung des poetischen Textes besteht in dem komplexen Zusammenspiel von signans und signatum. 2.3.3

Die Weiterentwicklung bei Jurij Lotman: Kunst als sekundäres modellbildendes System

Vielleicht mag es dem einen oder anderen Leser scheinen, daß die folgenden Ausführungen, in denen ich versuche, einen knappen Überblick über wichtige Aspekte von Lotmans kultursemiotischem Ansatz zu geben, Gefahr laufen, von der eigentlichen Thematik dieser Arbeit (Sprache und Metrum) zu weit ab zu 118

119

Sklovskij 1916/1971: 31. - Die an der gleichen Stelle geäußerte Überzeugung, „daß beim Parallelismus das Empfinden der Inkongruenz trotz Übereinstimmung wichtig ist", drückte Sklovskij dann programmatisch in seinem Alterswerk Von der Ungleichheit des Ähnlichen in der Kunst (= Sklovskij 1973) aus. Jakobson/Pomorska 1982:92. Jakobson untertreibt hier. Schon 1921 war er im Grunde zu der gleichen Erkenntnis wie Hopkins gekommen, als er in seiner Arbeit über die neueste russische Poesie schrieb: „In der poetischen Sprache gibt es ein elementares Verfahren die Annäherung zweier Einheiten. Im Bereich der Semantik finden wir folgende Modifikationen dieses Verfahrens: den Parallelismus, den Vergleich - einen Sonderfall des Parallelismus, die Metamorphose, d. h. den in der Zeit entfalteten, und die Metapher, d. h. den auf einen Punkt geführten Parallelismus. Im Bereich der Euphonik sind der Reim, die Assonanz und die Alliteration (oder Lautwiederholung) Modifikationen des Verfahrens der Zusammenstellung" (Jakobson 1921/1972: 95). Allerdings begann er mit der weiteren Ausarbeitung dieses Gedankens und vor allem mit der konsequenten semiotischen Weiterentwicklung erst 1959, also in dem Jahr, in dem die Journals and Papers von Hopkins erschienen. Der Vortrag, den Jakobson im Frühjahr 1958 auf der Conference on Style an der Indiana University hielt, wurde erst später (1959) in der in Sebeok (ed.) 1960 abgedruckten Fassung umformuliert (siehe Selected Writings III: 51); bei dieser Umarbeitung muß Jakobson seine HopkinsLektüre in so eindrucksvoller Weise verwertet haben.

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führen. Ich glaube jedoch, daß dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil, die bislang angestellten Überlegungen zum Äquivalenzbegriff münden ein in das für Dichtung, und insbesondere für Versdichtung, grundlegende Phänomen des Parallelismus, und der Parallelismus wiederum ist ein wesentlicher Faktor in einem umfassenden Modell, das Unterschiede wie auch Zusammenhänge zwischen dem primären System der Sprache und dem darauf aufbauenden sekundären System der Literatur zu beschreiben versucht - und die genauere Betrachtung eben dieser Beziehungen ist ja Thema des vorliegenden Buches. Daher sind die linguistischen Untersuchungen der folgenden Kapitel immer im Lichte der hier entwickelten semiotischen Grundlagen zu sehen, und der Leser sei aufgerufen, immer wieder selbst den Schritt zurück zu diesem Kapitel zu gehen. Es geht mir also wohlgemerkt in erster Linie nicht um eine historiographische Darstellung des Lotmanschen Ansatzes (dazu liegt inzwischen einiges an ausführlicher Literatur vor120), sondern um eine tragfähige Grundlage, auf der die Problemstellungen der folgenden Kapitel aufbauen können. Bevor wir nun die Entwicklungslinie, die bei Lowth begann und über Hopkins direkt zu Jakobson führte, bis hin zu Lotman weiterverfolgen können, ist es notwendig, einige Bemerkungen zu dessen allgemeinem semiotischem Ansatz vorauszuschicken. (Dabei werden einige der in den bisherigen Abschnitten entwikkelten Voraussetzungen sozusagen ,wieder eingeholt', ohne daß ich dies besonders vermerke.) Zunächst einmal sei betont, daß Lotman nicht als Linguist, sondern als Semiotiker argumentiert. In einem seiner Aufsätze (Lotman 1977a) stellt er klar, daß sich der linguistische und der literaturwissenschaftliche Strukturbegriff - wobei er letzteren als struktural-semiotischen versteht - voneinander unterscheiden. Das bedeutet, daß eine rein linguistische Beschäftigung mit poetischen Texten in jedem Fall zu kurz greift. Allerdings hebt Lotman auch deutlich hervor, daß viele fruchtbare Erkenntnisse über die menschliche Kommunikation zuerst in der Linguistik formuliert worden seien und daß diese daher „in allen Wissenschaften des semiotischen Zyklus, darunter auch in der strukturellen Poetik, einen besonderen Platz" einnehme (1975:16). Die Linguistik wird somit zur notwendigen, aber nicht hinreichenden wissenschaftlichen Disziplin für die Literaturwissenschaft.121 Auch Lotman sieht klar, daß beide Disziplinen es mit unterschiedlichen Phänomenen zu tun haben: Die Linguistik nämlich mit sprachlichen Strukturen, deren Funktion es sei, als M i t t e l der Informationsübertragung zu dienen (insbesondere, wie wir gesehen haben, in der referentiellen Funktion), während die poetische

120

121

Vgl. zum Beispiel Ihwe 1972, besonders Kap. 3.4 und passim; Günther 1974; Städtke 1981; Lang 1981; Eimermacher 1969 und 1982. Vgl. auch Ihwe 1972: 30, der unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten die Sprachwissenschaft als unmittelbar vorangehende Disziplin" der Literaturwissenschaft bezeichnet. Ähnlich äußert sich auch Kloepfer 1975: 136.

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Struktur, der Gegenstand der Literaturwissenschaft, Ziel und I n h a l t der Informationsübertragung sei (Lotman 1977a). Diese These zu erhärten und in allen Details zu belegen, kann als eine der wesentlichen Aufgaben bezeichnet werden, die sich Lotman in seinen verschiedenen Publikationen stellt. D. h., es geht ihm um eine Klärung der Frage, wodurch sich ein poetischer Text von einem nichtpoetischen unterscheidet bzw., auf einer allgemeineren Ebene, was die eigentliche Funktion von Kunst, oder, noch allgemeiner, Kultur ist. Daß diese Fragen mit Hilfe der Semiotik zu beantworten sind, rechtfertigt Lotman damit, daß es sich bei allen Phänomenen, die in diesen Fragen involviert sind, um „Sprachen" im semiotischen Sinne handelt, also um Kommunikationssysteme, die ein Lexikon (Alphabet, Inventar), das aus Zeichen besteht, sowie Regeln zur Verknüpfung dieser Zeichen aufweisen und sich als eine Struktur von hierarchischem Charakter darstellen (1973: 20). Neben den natürlichen und künstlichen Sprachen ist auch Dichtung insofern eine Sprache (im eben definierten Sinn), als sie erstens eine natürliche Sprache als ihr Material verwendet und zweitens auf den gleichen Prinzipien wie natürliche Sprachen (generell) aufgebaut ist, also sowohl syntagmatische als auch paradigmatische Beziehungen besitzt. Der poetische Kode ist somit zwischen der natürlichen Sprache; in der er sich manifestiert, als dem primären Zeichensystem, und dem allgemeinen kulturellen Kode der betreffenden Kulturepoche angesiedelt und stellt ein sekundäres, modellbildendes System (gegenüber der natürlichen Sprache) dar.122 Unter einem Modell versteht Lotman ganz allgemein „ein Analogon zum jeweiligen Erkenntnisobjekt", das dieses Objekt im Erkenntnisprozeß vertritt (1981: 67). Der menschliche Erkenntnisprozeß beruht zu einem großen Teil auf seiner „modellbildenden Tätigkeit" - jede Wissenschaft, aber auch jegliche Form der Alltagsbewältigung benutzt Modelle (Baupläne, Arbeitsskizzen, Landkarten etc.). Alsein m o d e l l b i l d e n d e s S y s t e m definiert Lotman „eine durch eine Menge von Elementen und deren Verknüpfungsregeln determinierte Struktur, die sich in einem Zustand festgelegter Analogie zum Gesamtbereich des jeweiligen Objekts befindet, das erkannt, begriffen oder eingeordnet werden soll. Man kann deshalb ein modellbildendes System als Sprache betrachten" (1981: 67f.). Diese Definition basiert auf der Erkenntnis, daß die natürliche Sprache das entscheidende Kommunikationssystem in der menschlichen Gesellschaft ist, nach deren Typus auch die anderen modellbildenden Systeme aufgebaut sind, ohne sie freilich in allen Aspekten zu kopieren - so gibt es zum Beispiel in der Musik keine obligatorischen semantischen Bezüge, wohl aber syntagmatische Konstruktionen, die denen der Sprache vergleichbar sind (Lotman 1973: 23). Systeme, die nun in diesem Sinne auf der Sprache aufbauen bzw. denen die natürliche Sprache zugrunde liegt und „die zusätzliche Hyperstrukturen ausbilden zur Schaffung von Sprachen 122

Vgl. Städtke 1981:425f.

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zweiter Stufe", bezeichnet Lotman als „sekundäre modellbildende Systeme", zu denen er auch die Kunst zählt (1981: 68). Die Beziehung zwischen einem modellbildenden System wie der Sprache und einem sekundären modellbildenden System wie der Kunst bestimmt sich am Beispiel der Dichtung wie folgt. Gemäß der Zweiachsentheorie (Paradigmatik - Syntagmatik) besteht Rede, die Realisierung des Sprachsystems, aus der syntagmatischen Anordnung von Zeichen, von denen jedes aus einem Paradigma stammt (vgl. oben S. 17f.). Diese Zeichen lassen sich einerseits in die Ebenen des Inhalts und Ausdrucks zerlegen und andererseits in Elemente von hierarchisch angeordneten Strukturebenen segmentieren (Phoneme, Morpheme, Wörter, Syntagmen etc.), von denen einige, aber nicht alle, einen Bezug zur außersprachlichen Realität haben (genauer: ihn in der aktuellen Rede erhalten). Wir halten fest: 1. Das Sprachsystem ist strukturiert, und zwar sowohl auf der Ausdrucksseite als auch auf der Inhaltsseite. 2. Nur ein Teil der sprachlich isolierten Elemente hat Bedeutung (Phoneme und suprasegmentelle Phänomene, wie zum Beispiel der Akzent, haben, für sich genommen, keine). 3. Jedes Element der Rede stammt aus dem Sprachsystem, das sozusagen Hintergrund und Bezugspunkt der Rede bildet, d. h. jedes Element der Rede ist eine Realisierung eines abstrakten Elements aus dem System, d. h. ein Exemplar eines Typs. Demgegenüber hat nun der poetische Text nach Lotman die folgenden Eigenschaften: Er ist - als T e x t - ein Fall von notierter, reproduzierbarer Rede (parole), d.h. eine Folge von Zeichen, die nach den Regeln des betreffenden Sprachsystems miteinander verknüpft sind und sich in Elemente unterschiedlicher Klassen segmentieren lassen, und zugleich - als p o e t i s c h e r Text - ein einziges, „einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen eines besonderen Inhalts".123 Aufgrund der Vielfalt der möglichen Äquivalenzbeziehungen, die ein Element im poetischen Text mit anderen Elementen eingehen kann, die - in bezug auf das Sprachsystem - nicht einmal demselben sprachlichen Paradigma angehören müssen, kann jedes Element im poetischen Text zu einem semantischen Element werden, auch wenn es in der natürlichen Sprache kein solches ist, und semantische Elemente der natürlichen Sprache können völlig neue und einmalige Beziehungen eingehen, die ihre übliche Bedeutung verändern, z. B. dadurch, daß sie an besonders markanten Positionen des poetischen Textes plaziert und dadurch aufeinander bezogen sind. Dies betrifft nun in ganz entscheidender Weise den Status des einzelnen Zeichens im Text. Nach der gängigen Auffassung vom Zeichen in der Linguistik,

123

Lotman 1973: 42. - Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Waugh 1980: 62 in ihrer brillianten Darstellung des Jakobsonschen Ansatzes. - Vgl. auch Morris 1939/1972: 102: „[...] das Kunstwerk als Ganzes bleibt stets ein Zeichen."

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die auf de Saussure zurückgeht, stehen Bezeichnendes und Bezeichnetes in einer vertikalen Relation zueinander:124 Abb. 4

A

v

V Zwar weist Saussure auf den Wert des Zeichens hin, d.h. auf die horizontale Beziehung zwischen den signantia einerseits und den signata andererseits - in diesem Zusammenhang betont er, daß die einzelnen Elemente zueinander in Opposition stehen -, 1 2 5 doch sind diese horizontalen Beziehungen für das Einzelzeichen nicht konstitutiv. Diese Auffassung ist in den letzten Jahren in der Linguistik dahingehend korrigiert worden, daß das Zeichen sowohl durch die (vertikale) Relation zwischen signans und signatum als auch durch die doppelte horizontale Relation zwischen den signantia auf der einen Seite und den signata auf der anderen Seite charakterisiert ist.126 In der ästhetischen Zeichenverwendung (d. h. im poetischen Text) passiert nun folgendes: Dadurch, daß die verschiedensten Zeichen bzw. Zeichenelemente funktional aufeinander bezogen sind (durch die unterschiedlichsten Äquivalenzen), wird die in der nichtästhetischen Zeichenverwendung zwar vorhandene, aber normalerweise unbemerkt bleibende gleichzeitige horizontale und vertikale Zeichenrelation im Sinne des Prager Strukturalismus a k t u a l i s i e r t , d.h. für den Rezipienten in den Vordergrund gerückt. Denn die horizontalen Äquivalenzen etwa auf der Ausdrucksebene schaffen, eben durch die notwendig auch immer vorhandene vertikale Beziehung, neue, vorher nicht vorhandene und nur in dieser Struktur in diesem Text gültige horizontale Äquivalenzen (Ähnlichkeit oder Gegensätzlichkeit der Bedeutung) auf der Inhaltsebene. Hierin besteht wohl die wichtigste Funktion der lautlichen Repetitionsfiguren, daß sie, obwohl die Laute selbst - von so vagen Phänomenen wie Lautsymbolismus einmal abgesehen - keine Bedeutung haben, dennoch semantische Bezüge zwischen bedeutungstragenden Einheiten (z. B. Wörtern) herstellen können. 124 125

126

Saussure 1967: 78; dort als Verbindung von „Vorstellung" und „Lautbild" dargestellt. So zumindest ist der folgende Passus zu verstehen: „Alles Vorausgehende läuft darauf hinaus, d a ß e s in d e r S p r a c h e n u r V e r s c h i e d e n h e i t e n g i b t . Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten o h n e p o s i t i v e E i n z e l g l i e d e r . Ob man Bezeichnetes oder Bezeichnendes nimmt, die Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären, sondern nur begriffliche und lautliche Verschiedenheiten, die sich aus dem System ergeben." (Saussure 1967: 143f.) Vgl. zum Beispiel Gamkrelidze 1974; Lehmann 1974; Woolley 1977; Posner 1980a, b; Pesot 1980; Ross 1980; Mayerthaler 1980; Küper 1981.

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Damit aber findet im poetischen Text ein I k o n i s i e r u n g s p r o z e ß statt: Dadurch, daß die Wiederholung der Signifikanten die semantische Struktur des Textes mitdeterminiert, wird sie selber zum ikonischen Zeichen, dessen Signifikant in einer Ähnlichkeitsrelation zum Signifikat steht. Auch aus diesem Grunde ist die Rede von Rekurrenzen im poetischen Text unangemessen: Die rekurrenten Einheiten bilden zusammen e i n Z e i c h e n , d.h. sie gehen in diesem Zeichen auf. 127 Da nun der Signifikant dieses Zeichens (die rekurrenten Einheiten) aus einer Relation besteht, kann, wie Cohen (1976: 415) betont, auch das Signifikat nur eine Relation sein. Cohen drückt dies in der Formel aus: Abb. 5 (Sa, = Sa 2 )

(Sei = Se 2 )

wo Sa = Signifikant und Se = Signifikat

Im Grunde ist dies nichts anderes als ein in der natürlichen Sprache selbst bereits angelegtes Prinzip. Schon Saussure erkannte, daß es in der Sprache neben völlig arbiträren (d.h. unmotivierten) Zeichen auch r e l a t i v m o t i v i e r t e Zeichen gibt, und zwar von Sprache zu Sprache in unterschiedlichem Ausmaß. Insbesondere dachte Saussure dabei an Zeichen, die durch morphologische Suffixe von anderen Zeichen abgeleitet sind, z.B. Frühling (abgeleitet) vs. Lenz (nicht abgeleitet). 128 Inzwischen - vor allem seit der im Gefolge Gamkrelidzes durchgeführten Revision des Saussureschen Zeichenbegriffs - hat die Linguistik erkannt, daß viel mehr sprachliche Phänomene als bislang angenommen als ikonische Zeichen aufzufassen sind, da sie auf einer Ä h n l i c h k e i t z w e i t e r S t u f e zwischen einer Gruppe von Signifikanten und einer Gruppe von Signifikaten (d. h. auf relativer Motiviertheit) basieren. Ohne auf diesen Punkt allzu ausführlich eingehen zu wollen, 129 sollen doch wenigstens einige sprachliche Beispiele genannt werden. Grundprinzip eines solchen Ikonismus ist, daß eine spezifiziertere Bedeutung (also ein Mehr an Bedeutung) auch eine spezifiziertere Ausdrucksform (d. h. ein Mehr an Ausdruck) hat. So sind zum Beispiel Pluralformen in der Regel länger als Singularformen, Nicht-Präsens-Formen länger als Präsens-Formen (wenn die betreffende Sprache überhaupt zwischen beiden differenziert). Hier besteht also die Beziehung der Ähnlichkeit nicht, um ein Beispiel zu nennen, zwischen der Lautform /man/ und der Bedeutung von Mann oder zwischen der Lautform /mensr/ und der Bedeutung von Männer - solch eine Beziehung besteht nur bei onomatopoetischen Wörtern, 127

128 129

Als sprachlich kodifiziertes Phänomen ist dies der Linguistik nicht neu: So bezeichnet schon Pott 1862 die „Doppelung" (Reduplikation, Gemination etc.) als „eines der wichtigsten Bildungsmittel der Sprache", das sich in „Sprachen aller Welttheile" beobachten läßt (aus dem Untertitel seiner sehr materialreichen Schrift). Vgl. Saussure 1967: 156-159. Ein Überblick über verschiedene Formen eines solchen sekundären Ikonismus findet sich in Küper 1981.

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und selbst dort ist sie zumindest teilweise auch arbiträr - , sondern es liegt eine Ähnlichkeitsrelation zweiter Stufe vor: die Lautform von /man/ verhält sich zu der von /menar/ wie sich die Bedeutung von Mann zu der von Männer verhält: .weniger Ausdruck = weniger Bedeutung'. Solche ikonischen Beziehungen zweiter Stufe sind fraglos im Sprachsystem angelegt und erscheinen zum Teil sogar in Syntagmen, wie zum Beispiel festen Zwillingsformen, deren Elemente nicht vertauschbar sind: mit Pauken und Trompeten, Kind und Kegel, bei denen das längere Element dem kürzeren folgt. 130 Auch die ,.Präferenz für maximale Lautdifferenzen" bei Ausdrücken wie Singsang, Schnickschnack ([i] versus [a]) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen. 13 ' Zwar gibt das Ablautsystem des Deutschen die Möglichkeit zu solcher Bildung vor, doch die Entscheidung für die maximal kontrastierenden Vokale (also nicht *Schnükschnok oder dergleichen, etwa nach dem Muster lügen - log) zeigt, daß die Sprache selbst schon ästhetisch relevante Strukturen anbietet (vgl. de Groot 1968: 535). Ähnlich, wie hier die Vielfalt des Vokalsystems im Deutschen auf den maximalen Kontrast stilisiert wird, wird in der Metrik die Vielfalt der Akzentabstufungen auf den maximalen Kontrast Hebung vs. Senkung reduziert. Unter diesem Aspekt erhält der oben eingeführte Begriff des sekundären modellbildenden Systems, den Lotman für die Kunst in allgemeiner Weise verwendet, zumindest für die Dichtung eine interessante neue Bedeutungsnuance. Zum einen ist die Dichtung für Lotman natürlich insofern ein sekundäres modellbildendes System, als sie eine natürliche Sprache als ihr Material verwendet (1973: 22). Dies ist auch der Punkt, auf den Bierwisch in seiner bekannten Formulierung abzielt, in der er poetische Strukturen als parasitäre Strukturen bezeichnet (Bierwisch 1965: 55): Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem [ . . . ] Verssystem und einer Grammatik besteht [ . . . ] darin, daß ein Verssystem nur konstituiert werden kann auf der Basis von Elementen, die ihm schon aus der Grammatik vorgegeben sind 1 3 2 und die in Strukturen eingehen, die durch die Grammatik festgelegt sind, während alle in die Grammatik eingehenden Elemente autonom und durch kein außerlinguistisches System konstituiert sind. Poetische Strukturen wie Vers, Reim, Alliteration sind demnach parasitäre Strukturen, die nur auf der Grundlage linguistischer Primärstrukturen möglich sind.

Die Bezeichnung „sekundäres modellbildendes System" ist aber zum anderen auch dadurch gerechtfertigt, wie wir gesehen haben, daß die Literatur, wie alle semiotischen Systeme, ,/iach dem Typus der Sprache aufgebaut" ist (Lotman 1973: 23). Diese allgemeine - und daher notwendig vage - Bestimmung, die auf sehr abstraktem Niveau Gemeinsamkeiten zwischen der natürlichen Sprache und den verschiedenen Künsten postuliert, kann nach dem oben Gesagten für die 130 131 132

Zur inhaltlichen Interpretation solcher Formeln vgl. Ross 1980. D e Groot 1968: 535, Anm.3. Bierwisch bezieht sich hier auf die generative Transformationsgrammatik, also ein von der Konzeption her umfassendes Sprachmodell, das alle für die Beschreibung von Verssystemen relevanten sprachlichen Einheiten inkorporiert.

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Literatur präzisiert werden. Die poetische Sprache ist nicht nur über der natürlichen Sprache konstruiert und verwendet deren Einheiten, sondern - und dies ist die Grundthese der vorliegenden Arbeit - s i e a k t u a l i s i e r t u n d m o d e l l i e r t g r u n d l e g e n d e E i g e n s c h a f t e n u n d V e r f a h r e n v o n i h r . Eine gründliche Untersuchung von poetischen Texten kann also, wie Jakobson (und vor ihm Paul) dies behauptete (vgl. S.4, 40), Aufschlüsse über die Relevanz sprachlicher Einheiten im jeweiligen Sprachsystem geben. Allerdings geht die poetische Sprachverwendung insofern weit über die ,normalen' sprachlichen Verfahren hinaus, als sie generell paradigmenüberschreitend ist. Während z. B. Ikonismen in der natürlichen Sprache auf fest begrenzte Paradigmen beschränkt sind, können im poetischen Text Elemente der verschiedensten Klassen in eine semantisch relevante (semantisch .aktive') Äquivalenzbeziehung treten. Darüber hinaus können im poetischen Text weitere komplexe Relationen gestiftet werden, indem Ä q u i v a l e n z s t r u k t u r e n a u f a n d e r e Ä q u i v a l e n z s t r u k t u r e n b e z o g e n w e r d e n . Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen. Der erste Vers eines der schönsten Sonette von G. M. Hopkins lautet: (24)

As kingfishers catch fire, dragonflies draw flame

Dieser Vers enthält gleich 5 verschiedene Parallelismen: 1. syntaktisch:

N (Subjekt)

Verb (transitiv)

N (Objekt)

2. semantisch:

N (Tier)

Verb (Kontakt)

N (Feuer)

3. phonologisch: 4. phonologisch:

/k f : k f/ /dr fl : dr fl/

5. Analogie:

/k f : k f/ : /dr fl : dr fl/133

Jeder Halbvers enthält hier einen phonologischen Parallelismus (Alliteration), der auf semantischer Ebene eine Äquivalenz herstellt zwischen dem jeweiligen Subjekt und dem jeweiligen Prädikat: das W e s e n {seif in Hopkins' Terminologie) des Eisvogels bzw. der Libelle drückt sich in seinem bzw. ihrem T u n aus. Indem nun aber noch die beiden Vershälften durch die phonologische Analogie 5. aufeinander bezogen, d. h. einander äquivalent gesetzt werden (über die ohnehin bestehenden syntaktischen und semantischen Parallelismen 1. und 2. hinaus), entsteht eine potenzierte Äquivalenzstruktur. Diese kann als ein Modell aufgefaßt werden, das für die gesamte Kreatur gilt: Alles Geschaffene ist zugleich unverwechselbar und hat ein spezifisches Selbst (ausgedrückt durch die in beiden Vershälften jeweils unterschiedlichen Alliterationen zwischen Subjekt und Prädikat); zugleich aber ist es mit jeder anderen Kreatur verwandt (ausgedrückt durch den Parallelismus zwischen den beiden Alliterations-Parallelismen). Wir halten folgendes fest:

133

Die vorliegende Analyse dieses Verses stützt sich auf meine ausführlichere Darstellung in Küper 1984.

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Keine der unter 1. bis 5. aufgeführten Strukturen hat ,an sich', d.h. ohne die äquivalente andere Hälfte des Parallelismus, die Bedeutung, die sie im Parallelismus hat. Damit hat sich erwiesen, d a ß d i e B e d e u t u n g s s t r u k t u r d e s p o e t i s c h e n T e x t e s a b h ä n g i g ist von der R e l a t i o n der e i n z e l n e n E l e m e n t e im T e x t z u e i n a n d e r . Dadurch entsteht eine eigenartige Spannung im poetischen Text: Einerseits gibt es eine Tendenz, daß jedes an einer Äquivalenzbeziehung partizipierende Element - und der poetische Text ist reich an solchen Elementen - selbst bedeutungsvoll und damit zum Zeichen wird, andererseits gibt es die Tendenz, daß jedes dieser Elemente, da es ja selbst keine Bedeutung oder zumindest nicht die im Text relevante Bedeutung hat, abgewertet wird zu einem Teil des Zeichens. Und dieses Zeichen ist der Gesamttext,134 auf den alle Äquivalenzen und Äquivalenzen von Äquivalenzen letztendlich bezogen sind. Selbstverständlich ist mit mehrschichtigen hierarchischen Strukturen zu rechnen; als solche .Zwischeneinheiten', die selbst aus kleineren Elementen bestehen, sich andererseits aber wiederum zu größeren Einheiten zusammenschließen, kommen etwa Wörter, Halbverse, Verse, Strophen in Betracht; aber letzter Bezugspunkt ist der Gesamttext. Wie Lotman betont, gibt es noch eine weitere Spannung im poetischen Text. Denn ungeachtet seiner besonderen Struktur bleibt er ja auch ein Text des Primärsystems Sprache, und in dieser Funktion, als Rede, ist er „der konkrete Ausdruck des Systems",135 das sich auch in beliebig vielen anderen Texten ausdrücken kann, während er als poetischer Text der einzige Ausdruck des Systems ist, das sich sonst nirgends als in diesem Text realisiert. Hier zeigt sich nun die besondere Bedeutung der Informationstheorie für den Lotmanschen Ansatz. Aus der Erkenntnis heraus, daß sich „die Komplexität der Struktur [...] in direkt proportionaler Abhängigkeit von der Komplexität der Information, die übermittelt wird", befindet, ergibt sich, daß die poetische Sprache als eine Struktur von großer Komplexität auch einen gegenüber der natürlichen Sprache erheblich größeren Informationsumfang übertragen kann. Daraus wiederum folgt, daß dieser Informationsumfang „außerhalb der betreffenden Struktur weder vorhanden sein noch übertragen werden kann" (Lotman 1973: 24f.) eine Tatsache, die jedem, der sich mit poetischen Texten befaßt, zur Erfahrung geworden ist: Jede noch so minutiöse oder auch einfühlsame Gedichtparaphrase oder -interpretation kann nicht das Gleiche ausdrücken wie das Gedicht selbst. Dennoch erscheint die Behauptung, daß die besonderen Restriktionen in der Dichtung (Metrum, Rhythmus, Reim etc.) nicht zu einer größeren Redundanz, d. h. zu einer größeren Vorhersagbarkeit, führen, sondern daß im Gegenteil die Redundanz abnimmt, was zu einer erhöhten Informativität führt, auf den ersten Blick überraschend. Gedichte, in denen auf Herz unweigerlich Schmerz folgt, scheinen dem zu widersprechen. Wenn wir jedoch den oben (am Ende von Kap. 2.2.2) 134 135

Vgl. Lotman 1975: 167ff. Lotman 1975: 176.

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entwickelten Gedanken aufgreifen, daß solche Wiederholungen immer desselben eigentlich Manifestationen der unpoetischen Funktion sind - und kein ernstzunehmendes Gedicht würde heute noch, außer zu parodistischen Zwecken, einen solchen Reim enthalten - , verliert dieses Argument an Gewicht. Und in der Tat haben empirische Untersuchungen bestätigt, daß die Vorhersagbarkeit von Wörtern in Gedichten geringer ist als in alltagssprachlichen Texten. So referiert Fonagy (1961) eine Untersuchung, bei der 20 Versuchspersonen Texte verschiedener Gattung Laut für Laut erraten sollten. Das Ergebnis: Der Informationswert der poetischen Texte übertraf bei weitem den Informationswert des Leitartikels und des spontanen Gesprächs. 67% der Phoneme erwiesen sich im Leitartikel als redundant, beim Erraten eines Telefongesprächs zwischen jungen Mädchen genügte die Angabe von 29% der Laute. Im Gedicht mußten hingegen 60% der Laute angegeben werden, trotz der Hilfe von Metrum und Reim (Fönagy 1965: 254f.).

Diese Ergebnisse finden eine Bestätigung in der Untersuchung von Groeben (1970). Danach beträgt die Redundanz bei Zeitungsprosa 70,7%, „ein Wert, der fast 5% über den [...] Redundanzprozenten für deutsche Schrift überhaupt (66%) liegt [...]. Auf Kommunikation ausgerichtete Schriftsprache überschreitet also die Verständlichkeit der jeweiligen langue. Der Durchschnittswert von Lyrik (56,7%) liegt dagegen weit unter dem Wert der Zeitungsprosa (14%) und auch unter dem Mittelwert deutscher Sprache überhaupt (ca. 10%)" (Groeben 1970/1975: 205). Der Grund für dieses Faktum liegt nun nach Lotman darin, daß im poetischen Text einerseits ein enormer Zuwachs an semantischen Elementen stattfindet (durch Äquivalenzbildung auf den verschiedensten, in der Alltagssprache semantisch ungenutzt bleibenden Ebenen) und daß andererseits die Regeln zur Verknüpfung dieser Elemente wesentlich komplexer werden. Denn jedes Element kann mit jedem anderen, auch wenn beide verschiedenen Paradigmen oder sogar Strukturebenen angehören, in eine besondere, semantisch relevante Beziehung treten, und zwar aufgrund der Projizierung des Äquivalenzprinzips von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse. Für Lotman - und hier können wir die Entwicklungslinie von Kap. 2.3.2 wiederaufnehmen - ist dies „ein universelles strukturbildendes Prinzip in der Poesie und der Wortkunst insgesamt", nämlich das „Prinzip der Gleich- und Gegenüberstellung von Elementen",136 ein Prinzip, auf das Hopkins bereits in seinen studentischen Arbeiten mehrfach hingewiesen und das Jakobson - nach seiner frühen Entdeckung - in seinen späteren Arbeiten immer wieder betont hat. Wie eng verwandt Hopkins' und Lotmans Auffassungen sind - Lotman scheint Hopkins selbst nicht rezipiert zu haben - mag der folgende Passus von Lotman zeigen: Die Antithese bezeichnet das Herausstellen des Gegensätzlichen im Ähnlichen (ein korrelatives Paar), die Identifikation - das Vereinen desjenigen, was verschieden zu sein schien. Eine Spielart der Antithese ist die Analogie - die Hervorhebung des Ähnlichen im

136

Lotman 1975:51.

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Semiotische Grundlagen Verschiedenen. Diese Systeme von Relationen bilden das Grundprinzip der Organisation der künstlerischen Struktur.137

Wie Lang (1981) nachweist, offenbart sich hier ein wesentlicher, vielleicht d e r wesentliche Aspekt des Lotmanschen Denkstils. Begriffe wie „Zusammenstellung" (sopolozenie), „(vergleichende) Nebeneinanderstellung" (sopostavlenie) und „(kontrastive) Gegenüberstellung" (protivopostavlenie) sind Schlüsselbegriffe für Lotman, und zwar dienen sie als Anweisungen, bestimmte begriffliche Operationen über dem kulturellen Objektbereich zu vollziehen (Lang 1981: 440). Das heißt, diese Begriffe spielen eine doppelte Rolle: Sie sind einerseits bezogen auf die Struktur des Textes selbst, die ja zu einem großen Teil Ergebnis der Tätigkeit des Autors ist, andererseits aber beschreiben sie Tätigkeiten, die der Textanalytiker (als ein besonderer Rezipient) mit dem Text und dessen Kontext durchzuführen hat. Wenn man nun diese Begriffe unter dem O p p o s i t i o n s p r i n z i p zusammenfaßt, so kann man „zweierlei methodische Funktionen" unterscheiden (Lang 1981:441): eine heuristische und eine deskriptive. In der heuristischen Funktion wendet man dieses Prinzip k o n s t r u k t i v an, indem man einen Untersuchungsgegenstand ausgliedert und ihn hinsichtlich typischer Merkmale aus dem Material des Objektbereichs „aufbaut". Dies ist insbesondere eine Verwendung, wie sie vor allem außerhalb der Linguistik vorgenommen wird. Bei der deskriptiven Funktion ist das Verfahren demgegenüber ein struktives:

rekon-

Das Prinzip wird angewandt, um die Struktur des Untersuchungsgegenstandes nach bestimmten Kriterien systematisch zu beschreiben, das heißt, um sie mit Hilfe eines Netzes von Oppositions- und Äquivalenzbeziehungen „nachzubauen".' 38 Ganz offensichtlich spielt das Oppositionsprinzip in der gesamten Kunst eine dominierende Rolle, da es, wie Lang postuliert, „bestimmten kognitiven Grunddispositionen der menschlichen Psyche in bezug auf die Wahrnehmung, Identifizierung und Klassifizierung von Gegenständen sowie in bezug auf die Bildung von Vernetzung von Begriffen im Gedächtnis" entspricht (Lang 1981: 441). Dies läßt sich deutlich an den ersten bildlichen Darstellungen des Menschen illustrieren. Waren die ersten Zeugnisse der bildlichen Kunst (kleine Knochenstücke mit parallelen Einkerbungen, die am Ende des Mousterien auftauchen und im Chatelperronien schon weit verbreitet sind) noch Darstellungen immer des Gleichen, 1 3 9 so äußert sich in den ersten gegenständlichen Darstellungen das Prinzip des Parallelismus in schon sehr viel komplexerer Weise, nämlich in der Gegenüberstellung von Gleichem und Ungleichem. So hat die statistische Auswertung von mehreren tausend Höhlenbildern und anderen Objekten ergeben, daß es ein zentrales Thema in der Form einer zentralen Opposition gab: Mann versus Frau und/oder Pferd versus Bison. Bei diesen Darstellungen, die sich, ungeachtet 137 138 139

Lotman 1975: 54. Lang 1981:441. Vgl. Leroi-Gourhan 1980: 455.

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deutlicher Abwandlungen in Raum und Zeit, vom Ural bis in die Dordogne und nach Spanien hinein erstrecken, 140 wird also das Gemeinsame (Mensch einerseits, Tier andererseits) zur Grundlage des Vergleichs gemacht, im Gemeinsamen aber das Unterschiedliche betont. Damit aber bestätigt sich emeut die für die Kunst grundlegende Bedeutung des Vergleichens (siehe S. 55f.) bzw. der vergleichenden Gegenüberstellung. 141 Von daher kann Lotman mit Recht folgern: „Als Organisationsprinzip der Struktur ist die vergleichende Gegenüberstellung (Gegenüberstellung, Gleichsetzung) zugleich auch das Organisationsprinzip ihrer Analyse" (Lotman 1975: 55). Das heißt, daß die in der Analyse aufgedeckten Strukturen als vom Urheber der Struktur (in unserem Falle vom Autor) intendierte Strukturen aufgefaßt werden können. Dies mag im E i n z e l f a l l bei den nicht verbalen Künsten (,künstlerischen Sprachen' im Sinne Lotmans) riskant sein (daß es als Grundprinzip in der darstellenden Kunst von Anfang an vorhanden ist, haben wir eben gesehen); da wir uns hier aber mit dem Verhältnis zwischen Sprache und Metrum beschäftigen wollen, dürfte diese Auffassung kein besonderes Risiko bergen. Denn die Oppositionen und Äquivalenzen, mit denen wir zu rechnen haben, sind von der Linguistik in diesem Jahrhundert, insbesondere seit dem Prager Strukturalismus, wo das Oppositionsprinzip in der Phonologie ja seine erste Bewährungsprobe bestand, in sehr differenzierter Weise ausgearbeitet worden, wenn auch sicherlich noch viele Fragen unbeantwortet sind. 142 140 141

142

Leroi-Gourhan 1980: 456. Zugleich erweist sich hieran, daß der Begriff der ästhetischen Funktion über die individuelle Produktion und/oder Rezeption hinaus auch als „eine ganz fundamentale Kategorie der menschlichen Orientierung in der Welt" aufzufassen ist. In diesem Sinne meint der Begriff der Einstellung „die elementare Ausgerichtetheit des menschlichen Bewußtseins auf die Dinge, eine Ausgerichtetheit, die den fundamentalen menschlichen Interessen entspringt und bestimmte spezifische Horizonte der Vertrautheit mit den Dingen konstituiert, die dem Menschen die Welt in einer b e s t i m m t e n P e r s p e k t i v e alseine s i n n v o l l e W e l t erschließen. Mit diesen partiellen Sinnhorizonten ist auch die entsprechende m e n s c h l i c h e A k t i v i t ä t verbunden, die in dieser Perspektive das menschliche Sein als einen aktiven Prozeß der tätigen Praxis realisiert" (Chvatik 1983: 231). Schon bei de Saussure finden sich Überlegungen über die beiden Faktoren Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, die stets gemeinsam einen Wert bestimmen. Ähnliche (d. h. innerhalb eines Systems vergleichbare) Elemente sind grundsätzlich immer voneinander unterschieden - sie stehen in Opposition zueinander (vgl. de Saussure 1967: 137ff.). Dieser Gedanke wurde dann von Trubetzkoy, Jakobson und anderen aufgegriffen und beim Ausbau der Phonologie mit sehr viel Erfolg angewandt; er ist heute zu einem der Eckpfeiler der strukturellen Linguistik geworden. - Es ist übrigens interessant festzustellen, daß das Oppositionsprinzip in den Anfangen der Linguistik zunächst durchaus noch in heuristischer Weise gehandhabt wurde, denn die Etablierung der relevanten Einheiten (Phoneme etc.) war ja ohne Kenntnis des Systems, in dem sie ihren genau definierten Stellenwert haben, gar nicht möglich. In diesem Dilemma war die heuristische Anwendung des Oppositionsprinzips von ausschlaggebender Bedeutung: die Einheiten wurden zusammen mit dem jeweiligen System überhaupt erst konstituiert (vgl. hierzu auch Ducrot 1973: 36 und öfter). - Von daher ist es natürlich kein Wunder, daß Lotman ein so erfolgreiches und

70

Semiotische

Grundlagen

Für Lotman kommt nun noch ein weiterer Punkt hinzu, der für unser Thema zentral ist: Die vergleichende Gegenüberstellung äußert sich nämlich bei der Rezeption eines poetischen Textes in einem weiteren universalen Strukturprinzip, und zwar dem „Prinzip der Rückwendung".143 Lotman meint damit, daß der jeweils bereits gelesene (rezipierte) Text stets im Lichte des gerade neu Gelesenen wieder neu erschlossen wird, wobei neue Gegenüberstellungen vollzogen werden und neue Bedeutungen entstehen. So gesehen, bezieht sich das Prinzip der Rückwendung auf alle poetischen Texte, und Rückwendung ist sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Bedeutung zu verstehen. Das Prinzip der Rückwendung ist jedoch in einem spezifischeren Sinne seit langem erkannt und im Wort Vers (lat. versus: (Acker-)Furche, Kehre) kodifiziert: der Vers als paralleles Furchenpaar, und das Versemachen als ein stetes Sichorientieren am Vorangegangenen - dieser Gedanke steckt im Wort Vers.144 D e r V e r s i s t a l s o k e i n v e r e i n z e l b a r e s P h ä n o m e n , s o n d e r n er v e r l a n g t d i e p e r m a n e n t e R ü c k w e n d u n g z u m v o r h e r i g e n V e r s , m i t d e m er in e i n e r Ä q u i v a l e n z b e z i e h u n g steht,145 und d a m i t ist er e i n P r o t o t y p v o n k o d i f i z i e r t e m p o e t i s c h e m P a r a l l e l i s m u s . Dahernimmt der Parallelismus auch für Lotman eine überragende Bedeutung ein. Er bezeichnet ihn als „ein Binom [...], wobei der eine Teil durch den anderen erkannt wird, der im Verhältnis zum ersten als Analogon auftritt."146 Beide sind nicht identisch, sondern bestehen aus Ähnlichem und Unähnlichem, aufgrund deren Relation zueinander wir jeden Teil im Lichte des anderen beurteilen.

143 144

fruchtbares Verfahren auch in bezug auf andere „Sprachen" anwendet, die eine ähnliche Struktur haben. Lotman 1975: 54. Zumindest hierin sind sich „traditionelle" wie „strukturalistische" Metriker einig; vgl. zum Beispiel Kayser 1946: 12f., Thompson 1961:4. Siehe auch Jakobsons Äußerung in seinem Gespräch mit K. Pomorska (Jakobson/Pomorska 1982: 69): „Wie schon die Etymologie des lateinischen Wortes versus anzeigt, enthält der Vers die Idee einer regelmäßigen Wiederkehr, im Gegensatz zur Prosa, die etymologisch auf das lateinische provorsa (prorsa, prosa) zurückgeht und somit auf ein geradliniges Fortschreiten verweist".

145

Anders noch Wackemagel 1875: 35, der einen Unterschied sieht zwischen der Antike und der Neuzeit: „Bei den Alten steht jeder Vers für sich, und es kann allenfalls ein Gedicht, z. B. ein Epigramm mit einer Zeile abgethan werden: bei den Neuern verlangt jeder Vers wenigstens noch einen zweiten, der die Alliteration, den Reim, die Assonanz vollende; das kürzeste Gedicht ist wenigstens zweizeilig. Auf Anlass dieses zweigliedrigen Gleichklanges ist der Parallelismus der Gedanken in der neuem Poesie weit mehr zu Hause als in der antiken, namentlich der griechischen, wenn er ihr auch nicht in solchem Masse eigen ist als der hebräischen." Wackemagel übersieht hier, daß auch das einzeilige Epigramm insofern nicht allein steht, als es einen außertextlichen Bezug auf andere einzeilige Texte der gleichen Art in derselben literarischen Tradition hat, die seine (metrische) Struktur denn auch genau bestimmt. Es geht hier um Tynjanovs Erkenntnis, daß ein Werk (bzw. die Elemente, die dieses Werk konstituieren) mit anderen „Reihen" in Korrelation steht (stehen).

146

Lotman 1975: 131.

Der Parallelismus als umfassendes poetisches Prinzip

71

Diese gegenüber der natürlichen Sprache wesentlich komplexere, da auf gegenseitiger Modellierung basierende, Bedeutungsstruktur bringt es nun mit sich, daß der poetische Text in der Tat als ein „einmaliges, ad hoc konstruiertes Zeichen eines besonderen Inhalts" verstanden werden kann, d. h. eines Inhalts, der außerhalb dieser Struktur gar nicht existiert; denn existierte dieser Inhalt auf der Inhaltsebene der natürlichen Sprache, ließe er sich auf der Ausdrucksebene der natürlichen Sprache verbalisieren. Lotman erblickt hierin die Realisierung eines allgemeinen Prinzips in der Kunst: „Die Funktion einer auf Äquivalenzbildungen und Oppositionen beruhenden formalen Textstrukturierung (also der Ausdrucksebene) besteh[t] nicht nur in der Markierung bestimmter Bedeutungen auf der Inhaltsebene, sondern erzeug[t] und spezifizier^] diese erst eigentlich" (Eimermacher 1982: 13). Diesen besonderen Inhalt nennt Lotman Idee. Die Idee ist für ihn „in der Kunst immer ein Modell, denn sie reproduziert ein Bild von der Wirklichkeit" (1975: 53). Der Begriff der Idee hebt den alten Dualismus von Form und Inhalt auf: Es gibt im poetischen Text keine,formalen', d. h. semantisch irrelevanten, Elemente. Die Idee realisiert sich in einer ihr adäquaten Struktur, die aus semantischen Elementen besteht, und existiert nur in ihr; eine andere Struktur vermittelt eine andere Idee, und eine andere Idee läßt sich nur in einer anderen Struktur vermitteln.147

147

Damit ist die von Walzel angesprochene Lücke zwischen Metrik und Poetik geschlossen.

3

Die Wahrnehmung des poetischen Textes: Temporalität versus Relationalität

Dieses Kapitel stellt einen Übergang von den „Semiotischen Grundlagen" zu den „Linguistischen Grundlagen" dar und soll daher in seinem Verlauf hier kurz skizziert werden. Zunächst wird der bisher entwickelte Ansatz für eine semiotische Grundlegung der Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Metrum mit kritischen Anmerkungen, die vor allem die These von der Projektion des Äquivalenzprinzips von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ausgelöst hat, konfrontiert werden. Kernpunkt dieser Kritik ist der Vorwurf der Geometrisierung, also der Ent-Dynamisierung, der Poetik (gegen alle Behauptungen Jakobsons wie Lotmans; vgl. z.B. Lotman 1974). Die Stichhaltigkeit dieses Vorwurfs wiederum läßt sich nur überprüfen, indem die ästhetische Wahrnehmung selbst Gegenstand unserer Untersuchung wird. In diesem Zusammenhang wird systematisch zwischen der Erstrezeption und den darauf folgenden Lektürevorgängen, die zu einer Analyse der Textstruktur führen (können), unterschieden. Dabei wird auch das von der Rezeptionsästhetik aufgeworfene Problem diskutiert, wie das Verhältnis zwischen Text und Rezipient bestimmt sei. Aufgrund dieser Überlegungen wird schließlich entschieden, auf welcher Ebene die Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Metrum zu behandeln ist: der phonetischen oder der phonologischen.

3.1

Der Vorwurf der Geometrisierung der Poetik: Shapiros Kritik am Äquivalenzbegriff Jakobsons

Die von verschiedenen Seiten laut gewordene Kritik an Jakobsons Poetizitätsauffassung sei hier exemplarisch an Shapiro (1976) dargestellt. Shapiro kritisiert gerade Jakobsons Definition der poetischen Funktion, und zwar insbesondere das Projektionsprinzip. Der Ausgangspunkt ist bei ihm dabei die Behauptung, durch den Äquivalenzbegriff und die besondere Bedeutung des Parallelismus erhalte der m a t h e m a t i s c h e S y m m e t r i e b e g r i f f einen entscheidenden Stellenwert in Jakobsons Poetik. Symmetrie im mathematischen Sinne bezeichnet eine Beziehung zwischen zwei Körpern, die bei Spiegelung oder Rotation in bezug auf eine Ebene oder Achse zusammenfallen. Daraus folgt, daß es hierbei um eine Relation zwischen zwei Körpern geht, nicht aber um eine zwischen ihnen bestehende Polarität. So sind rechts und links für den Mathematiker nicht substantiell, sondern allein

Der Vorwurf der Geometrisierung der Poetik

73

r e l a t i o n a l verschieden, während etwa im mythischen Denken mit diesem Unterschied p o l a r e Gegensätze (gut vs. böse bzw. gut vs. schlecht) verbunden werden, was sich in Redewendungen wie linkisch, ein linker Typ vs. der rechte Mann ßr diese Aufgabe niedergeschlagen hat. Mit der Symmetrie im mathematischen Sinne verbindet Shapiro nun weiterhin Begriffe wie Invarianz und Automorphismus sowie, und dies ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, die Transformation von Direktionalität und Temporalität in Räumlichkeit. Diese „spatialization of the temporal", die auf einer Gleichsetzung des mathematischen mit dem linguistischen Äquivalenzbegriff beruhe, 1 findet sich laut Shapiro (1976: 68) nicht nur bei Jakobson, sondern auch bei anderen strukturalistischen Denkern wie etwa Derrida und Lotman. Diese Gleichsetzung ist jedoch nach Auffassung von Shapiro grundfalsch und irreführend, da sprachliche Relationen zwischen Elementen eines Paradigmas nicht nur binär seien (worauf sich ihre Symmetrie gründe), sondern zugleich auch polar und qualitativ (worauf sich ihre fundamentale Asymmetrie gründe). 2 Jakobsons Definition der poetischen Funktion beachte nicht den Wert der verschiedenen Elemente, die auf der syntagmatischen Achse nebeneinander gestellt (juxtaposed) seien, sondern nur die Tatsache, d a ß sie miteinander kombiniert seien: It is precisely this emphasis on repetition of „equivalent" units that prompts Jakobson [...], following Gerard Manley Hopkins among others, to proclaim p a r a l l e l i s m t o b e the instantiation par excellence of the poetic function [.. .] 3

In seiner Betonung der Unterschiedlichkeit der im poetischen Text nebeneinandergestellten Elemente hat Shapiro zweifellos recht, und unsere Darstellung hat von Anfang an betont, daß die im poetischen Text miteinander durch die verschiedensten Äquivalenzbeziehungen verbundenen Ausdrücke neben dem Bezugspunkt, unter dem sie äquivalent sind, stets auch einen anderen Aspekt aufweisen, unter dem sie nicht äquivalent sind. Dieser Punkt wird jedoch sowohl bei Hopkins als auch bei Jakobson und Lotman ebenfalls deutlich herausgearbeitet, doch Shapiro übersieht geflissentlich alle Stellen bei beiden Autoren, in denen der Parallelismus als ein auch und in erster Linie semantisches Phänomen aufgefaßt wird, das es ermöglicht, daß Ähnliche im Unähnlichen und das Unähnliche im Ähnlichen 1 2

3

Shapiro 1976:73. Shapiro 1976: 75. - Eine ganz andere Auffassung als Shapiro vertritt Ivanov 1974. Er sieht gerade in der Anwendung der Theorie der Symmetrie auf Bereiche wie Physik, Geologie, Biologie, Ästhetik und andere Humanwissenschaften eine wichtige Zukunftsaufgabe, die sich als eine der bedeutendsten wissenschaftlichen Entwicklungen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts erweisen könnte. Im Gegensatz zu Shapiro hält er die Beschreibung von sprachlichen binären Strukturen (z. B. distinktiven Merkmalen in der Phonologie, Oppositionen wie Aktiv/Passiv in der Syntax) sowie von Interpretationen solcher antisymmetrischen Paare binärer Elemente in der Mythologie mit Hilfe der Theorie der Symmetrie offensichtlich für möglich. - Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Toporov 1976: 212, Anm.4. Shapiro 1976: 79f.

74

Die Wahrnehmung des poetischen

Textes

aufzudecken (vgl. S. 56 ), eine dynamische Vorstellung, die mit dem mathematischen Symmetriebegriff nicht vereinbar ist. Damit aber wird auch Shapiros Vorwurf, Jakobsons Ansatz zeichne sich durch eine Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt aus (S.82), gegenstandslos. Und bei Lotman wird sogar, wie wir gesehen haben, poetische Kommunikation, die auf dem Prinzip der vergleichenden Gegenüberstellung basiert (vgl. Kap. 2.3.3), zu einer Möglichkeit, etwas zu kommunizieren, was in der natürlichen Sprache (d. h. in der Alltagssprache) nicht kommunizierbar ist. Andererseits ist Shapiros Kritik, Jakobsons Auffassung stelle eine Verräumlichung des Dynamisch-Temporalen (S. 68) und eine durchgängige Geometrisierung der Poetik (S. 82) dar, ernsthaft zu prüfen. Denn Jakobson selbst vergleicht in seiner Arbeit über „Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie" (Jakobson 1961/1979) in einem längeren Abschnitt die Grammatik und die Geometrie miteinander und kommt unter Berufung auf Whorf und Stalin zu der Ansicht, daß beiden, Grammatik und Geometrie, die „abstrahierende Tätigkeit des menschlichen Denkens" zugrunde liege, da beide es mit formalen Prinzipien, aber nicht mit konkreten Objekten zu tun hätten.4 Nach diesen allgemeinen Überlegungen liefert Jakobson eine kurze Analyse eines hussitischen Kriegschorals, in dem er unter anderem „eine geometrische Proportionalität" zu erkennen glaubt, wie sie auch für die tschechische Malerei der hussitischen Periode als typisch erkannt worden ist, und die er mit einem Aufgebot an geometrischen Begriffen beschreibt: „Das Lied, bestehend aus drei dreigliedrigen Strophen [...], ist in seinem grammatischen Bau charakterisiert durch ein kompliziertes System s y m m e t r i s c h e r Entsprechungen, die man konventionell als drei Reihen v e r t i k a l e r Entsprechungen [...] und drei Reihen h o r i z o n t a l e r Entsprechungen [...] kennzeichnen kann, als zwei D i a g o n a l e - eine a b s t e i g e n d e [...] und eine a u f s t e i g e n d e [. ..]" 5

Und auch Jakobsons Exegetin Linda Waugh definiert den poetischen Text als ein Geflecht (network) interner Relationen, die vor allem auf hierarchisch strukturierten Symmetrien basieren.6 Relationen aber haben - da ist Shapiro beizustimmen - keine zeitliche Dynamik. Jeder poetische Text ist jedoch nur in d e r Z e i t rezipierbar; das einem Text zugrunde liegende Metrum wird nicht gleich mit dem ersten Wort, sondern erst nach einer Weile (etwa nach dem ersten Vers) erkannt, und von zwei Reimwörtern wird eins notwendig v o r dem anderen rezipiert, ja, die Tatsache, daß es sich überhaupt um Reim handelt, bleibt dem Rezipienten 4 5 6

Jakobson 1961/1979: 249. Jakobson 1961/1979: 250 (Hervorhebungen von mir; C. K.). Waugh 1980: 64. Wie Jakobson betont auch sie die Bedeutung des Gegensatzes im Parallelismus: „Of course, the other side of equivalence is difference and the other side of similarity is dissimilarity. By projecting equivalence (and perforce difference) into the axis of combination, the contrast between or within parallelistic elements comes to the fore and indeed contrast, as much as equivalence, becomes an important part of the structuration of the poem. [...] The poetic function is different from the strictly referential function by the strong linkage of contrast with equivalence." (Waugh 1980: 65)

Der Vorwurf der Geometrisierung der Poetik

75

bis zum Vorkommen des zweiten Reimwortes verborgen. Auch Erwartungen des Hörers/Lesers, auf die I. A. Richards mit solchem Nachdruck hinwies (vgl. S. 47), und ihre Bestätigungen bzw. Frustrationen sind zeitliche Phänomene. Der zeitlichdynamische Aspekt spielt also eine wichtige Rolle und muß zweifellos in seiner Bedeutung für die Wahrnehmung und Rezeption von poetischen Texten untersucht werden. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß, wenn man ein Gedicht erst einmal kennt, nicht mehr dieselben Hörererwartungen geweckt werden und sich auch nicht mehr dieselben Frustrationen oder Bestätigungen einstellen. Der Hörer/Leser k e n n t nun das Metrum und w e i ß , welche Reime, Alliterationen etc. sich im Gedicht befinden und welche Beziehungen zwischen welchen Wörtern sie stiften. Unter diesem Aspekt hat der Begriff der Relation durchaus seine Berechtigung. Ein weiteres kommt hinzu. Die Verräumlichung des Zeitlichen findet ja bereits in der Verschriftlichung eines Textes statt. Wir leben in einer Kultur, in der es praktisch keine orale literarische Tradition mehr gibt; die Rezeption findet in der Regel von der Buchseite her statt. Damit aber hat das Gedicht selbst eine räumliche Komponente gewonnen, die von verschiedenen Autoren in unterschiedlicher Weise genutzt wird. Erinnert sei hier zum Beispiel an die Figurengedichte der Renaissance und des Barock, aber auch an die Piktogramme der konkreten Poesie, bei denen oft sogar die üblicherweise bestehende Beziehung zwischen der Sequentialität der gesprochenen Sprache und der durch unser Schriftsystem vorgegebenen Leserichtung aufgegeben ist, so daß in der Tat nur noch geometrische Figuren da sind, die in beliebiger Reihenfolge angeschaut werden können. Bei anderen modernen Gedichten wiederum, die weder auf metrischer Organisation noch auf Reimbindung o. ä. beruhen, ist die typographische Anordnung auf dem Papier oft das einzige Indiz dafür, was der Autor als Vers verstanden wissen will. Wir müssen somit von der Tatsache ausgehen, daß einem poetischen Text in unserer Kultur zwei verschiedene Dimensionen eigen sind: eine (lineare) z e i t l i c h - d y n a m i s c h e und eine (statische) r ä u m l i c h - r e l a t i o n a l e . Da in unserem Zusammenhang weder Figurengedichte (soweit die Figur das einzige Strukturelement ist) noch metrisch ungebundene Texte eine Rolle spielen, kann der räumliche Aspekt hier vernachlässigt werden. Es bleibt jedoch der Gegensatz zwischen dem zeitlich-dynamischen und dem relationalen Aspekt bestehen. Hiermit korrespondiert nun ein weiterer wichtiger Unterschied, der von der in den letzten Jahren sich immer mehr durchsetzenden Rezeptionstheorie m. E. nur ungenügend reflektiert worden ist, nämlich der Unterschied zwischen der Erstrezeption und der mehrmaligen, gründlichen Lektüre eines Textes.7 Denn ohne Frage sind poetische Texte in unserer Kultur auf b e i d e s hin angelegt: Der Autor arbeitet einerseits mit Mitteln wie der enttäuschten Lesererwartung, und zwar gleichermaßen auf der mikrostrukturellen (Metrum, Reimschema etc.) wie auf der makrostrukturellen 7

Von dieser Kritik auszunehmen ist Riffaterre 1980; einige Bemerkungen zum Unterschied zwischen Erst- und Zweitlektüre finden sich auch bei Iser 1975: 260.

76

Die Wahrnehmung des poetischen Textes

Ebene (Handlungsverlauf etc.), also Mitteln, die primär auf die Erstrezeption bezogen sind; andererseits rechnet der Autor mit der im Kulturbetrieb seit langem etablierten Tendenz, einen Text - insbesondere ein Gedicht - mehrmals gründlich zu lesen, und strukturiert ihn infolgedessen so .dicht', daß auch die mehrmalige Lektüre immer neue Aspekte zutage fordern wird. Wir werden uns im folgenden daher beiden Rezeptionsarten zuwenden.

3.2

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

3.2.1 Grundlagen der auditiven Sprachwahrnehmung Da ein metrisch organisierter Text von den prosodischen8 Eigenschaften der Sprache, in der er abgefaßt ist, systematischen Gebrauch macht,9 werden wir hier von der auditiven Sprachwahrnehmung ausgehen und nicht von der Lesetätigkeit,10 obwohl der Besuch von Rezitationsabenden heutzutage für die meisten Rezipienten von poetischen Texten wohl eher die Ausnahme sein dürfte. Allerdings werden noch immer metrisch organisierte Dramen aufgeführt, und jeder Rezipient von Gedichten ist wohl schon sein eigener Rezitator gewesen. Die systematische Untersuchung der Vorgänge, die bei der lautsprachlichen Wahrnehmung involviert sind, wird vor allem von Phonetikern, Sprachpsychologen, Psycholinguisten und Neurobiologen durchgeführt und hat noch keine sehr lange Tradition. Insbesondere weist die Untersuchung der auditiven Wahrnehmung gegenüber der Untersuchung der visuellen Wahrnehmung ein Defizit auf. Dementsprechend können viele der Ergebnisse, die bisher vorgelegt worden sind, noch längst nicht als gesichert gelten; viele Theorien sind zudem noch heftig umstritten. Ich werde daher im folgenden nicht allzu sehr auf Detailprobleme 8

Das Wort Prosodie hat im Deutschen (neben einer musikalischen Bedeutung, die uns hier weniger interessiert) zwei verschiedene Bedeutungen, die in einer Arbeit wie dieser leicht verwechselt werden könnten und die daher sorgsam auseinandergehalten werden müssen. 1. In der traditionellen Metrik bezeichnet dieser Begriff die Lehre von denjenigen sprachlichen Phänomenen, die für die Versstruktur bedeutsam sind. So definiert Wagenknecht (1981: 134) Prosodie in diesem Sinne als „Inbegriff derjenigen Regeln einer Metrik, die das Material des Versbaus („linguistic constituents") betreffen", also „insbesondere die Unterscheidung zwischen .schweren' und .leichten' Silben". (Noch fürSieveke 1973: 360 ist Prosodie n u r „die Lehre von der sprachlichen Länge oder Kürze einer Silbe".) 2. In der Linguistik hingegen bezeichnet Prosodie alle sprachlich-artikulatorischen Eigenschaften neben und über dem einzelnen Laut, also insbesondere die Suprasegmentalia (Akzent, Intonation etc.). Da die vorliegende Arbeit nicht von einem gegebenen Vorverständnis, welche dieser Eigenschaften für die Metrik im Deutschen relevant sind, ausgeht, sondern dies erst herausfinden will, kann „Prosodie" nur in diesem zweiten Sinne verwandt werden.

9

Natürlich ist dies eine metonymische Redeweise, die lediglich eine umständlichere Formulierung verkürzen soll; denn nicht der Text macht Gebrauch von prosodischen Eigenschaften der Sprache, sondern der Autor im Einklang mit der literarischen Tradition. Für einen Überblick über neuere Erkenntnisse der Leseforschung vgl. Waller/MacKinnon 1979, MacKinnon/Waller 1981 und Aust 1983.

10

Die Erstrezeption: ein dynamischer

Prozeß

77

eingehen, sondern einen kurzen Überblick über diejenigen Prozesse geben, die bei der Wahrnehmung von gesprochener Sprache in der einen oder anderen Form vermutlich eine Rolle spielen. Alle neueren Theorien der Sprachwahrnehmung (und alle Wahrnehmungstheorien überhaupt) stimmen darin überein, daß die Wahrnehmung ein k o m p l e x e r V o r g a n g ist, bei dem sowohl die Eigenschaften des Reizes, der mit unseren Sinnesorganen wahrgenommen wird, als auch Eigenschaften des diesen Reiz aufnehmenden und verarbeitenden Systems eine wichtige Rolle spielen. Für die Sprachwahrnehmung bedeutet dies, daß sowohl die akustischen Eigenschaften gesprochener Sprache (also je einer spezifischen Sprache) als auch die Verarbeitungsmechanismen des Gehirns und das Gedächtnis, das die sprachlichen Äußerungen in irgendeiner Form aufnimmt, am Prozeß der Wahrnehmung beteiligt sind. Dabei bildet den Kern des Wahrnehmungsprozesses das sogenannte P e r z e p t , das sich „aus von außen aufgenommenen und im System gespeicherten Informationen zusammensetzt" (Murch/Woodworth 1978: 25). Wie aber kommt dieses Perzept zustande? Das Sprechen und das Wahrnehmen von Gesprochenem sind Tätigkeiten bzw. Vorgänge, die eine zeitliche Erstreckung haben. Keine Äußerung kann ,auf einen Schlag' wahrgenommen und verstanden werden; immer ist eine gewisse zeitliche Erstreckung zwischen dem Anfang und dem Ende der Äußerung gegeben. Das Verstehen setzt also voraus, daß das beim Hörer laufend neu eintreffende Material nicht wieder sofort verschwindet, sondern zumindest eine Zeitlang gespeichert wird - und zwar mindestens so lange, bis es in irgendeiner Weise weiterverarbeitet ist. Seit William James (1890) kennt die Psychologie die beiden Begriffe primary memory and secondary memory, die diese unterschiedlichen Gedächtnisleistungen zu fassen versuchen und die heute meist als K u r z z e i t g e d ä c h t n i s (short term memory oder short term störe) bzw. L a n g z e i t g e d ä c h t n i s (long term memory oder long term störe) bezeichnet werden. Weitere Untersuchungen ergaben dann, daß dem Kurzzeitgedächtnis noch ein s e n s o r i s c h e s G e d ä c h t n i s vorgeschaltet ist. Allerdings ist davon auszugehen, daß die verschiedenen Gedächtniskomponenten sehr eng miteinander verbunden sind. Insbesondere wäre die Vorstellung falsch, daß der Wahrnehmungsprozeß linear-sukzessiv vom sensorischen über das Kurzzeit- zum Langzeitgedächtnis verlaufen würde. Das Perzept wird vielmehr durch sowohl sukzessive als auch simultane Beteiligung dieser Komponenten gebildet (Studdert-Kennedy 1974: 2350), d.h., Information aus dem Kurzzeitgedächtnis tritt mit solcher aus dem Langzeitgedächtnis in Interaktion. Wir müssen somit davon ausgehen, „daß bottom-up-Prozesse - also das, was als Input von draußen hereinkommt - mit top-down-Prozessen, also dem, was aus dem Wissen, dem Können, den Erwartungen des Hörers kommt, in Interaktion tritt" (Hörmann 1981: 124; vgl. auch Engelkamp 1984, besonders S.43ff.). Das sensorische Gedächtnis (sensory störe, Loftus/Loftus 1976; der Reizspeicher, Murch/Woodworth 1978) nimmt über die verschiedenen Sinnesorgane

78

Die Wahrnehmung des poetischen

Textes

verschiedene Arten von Information auf und speichert sie für kurze Zeit in zunächst unanalysierter, ,roher' Form (Loftus/Loftus 1976: 21), und zwar scheint es für jedes Sinnesorgan, d. h. für jede Rezeptionsmodalität, einen eigenen Speicher zu geben, der über eine unterschiedlich lange Aufnahmekapazität verfügt. Die bisher am besten untersuchten Speicher sind der ikonische, der visuelle Information aufnimmt,11 und der uns in unserem Zusammenhang mehr interessierende auditorische (Studdert-Kennedy 1974)oder E c h o s p e i c h e r (Neisser 1967,Rumelhart 1977), der für die akustische Information zuständig ist. Die zeitliche Speicherkapazität ist in beiden Fällen äußerst gering, doch scheint sie beim Echospeicher geringfügig länger zu sein. Aus der Fülle der im Echospeicher repräsentierten Information wird nun im Falle der Sprachwahmehmung ein Teil ins Kurzzeitgedächtnis überführt. Und schon hier setzt die Interaktion mit den übrigen Komponenten ein: Was weiterverarbeitet wird, hängt nicht mehr allein vom akustischen Reiz ab, sondern auch von anderen Faktoren. Zunächst bestimmt die Kenntnis der Sprache, in der die wahrgenommene Äußerung stattgefunden hat, die weitere Verarbeitung. D. h., es setzt ein Prozeß der M u s t e r e r k e n n u n g (pattern recognition)12 ein, der den kontinuierlichen Schallstrom in Laute (phonetisches Stadium der Erkennung) und Phoneme (phonologisches Stadium der Erkennung) segmentiert (Studdert-Kennedy 1974: 2350f.). Diese S e g m e n t i e r u n g des Schallkontinuums in Laute und die K l a s s i f i z i e r u n g der Laute in Phoneme (dies ist natürlich eine analytische Trennung; in praxi verläuft beides wohl zusammen) hängt, wie gesagt, in starkem Maße von unserer Sprachkenntnis ab und kann nicht allein aus der Beschaffenheit des akustischen Reizes erklärt werden. So haben Versuche ergeben, daß akustisch ähnliche Laute/Lautketten als unterschiedlich und akustisch verschiedene Laute/Lautketten als gleich perzipiert wurden. Diese und andere Beobachtungen führten Liberman und seine Mitarbeiter (Liberman 1957, Liberman et al. 1963, 1967) zur Entwicklung ihrer sogenannten Motor-Theorie der Sprachwahrnehmung, die einen engen Zusammenhang zwischen der Produktion und der Perzeption von Sprache postuliert. In ihrer ursprünglichen (strengen) Form besagt diese Theorie, daß die Wahrnehmung von Sprache auf der andeutungsweise vollzogenen Nachartikulation des sprachlichen Reizes durch den Hörer basiert. Diese Theorie wurde gestützt durch verschiedene Experimente sowjetischer Psychologen, für die der motorischkinästhetische Aspekt eine wichtige Rolle beim Übergang des sogenannten „inneren Sprechens" zum tatsächlich ausgeführten Sprechakt bildet (vgl. zum Beispiel Luria 1967, Leontjev 1969; siehe auch Ulimann 1975: 615, sowie Hörmann 1970: 72). Allerdings hat sich gezeigt, daß der andeutungsvolle Nachvollzug der Artikulationsbewegungen der Sprechorgane keine generell notwendige Bedingung für das 11 12

Loftus/Loftus 1976: 23. Eine Reihe interessanter Beobachtungen, die dies stützen, findet sich in Liberman/Pisoni 1977.

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

79

Wahrnehmen und Verstehen von Sprache ist, sondern eben nur in verschiedenen typischen Situationen beobachtet werden kann. In der neueren (schwächeren) Formulierung der Motor-Theorie haben sich Liberman und seine Mitarbeiter daher auf die experimentell nicht mehr überprüfbare Position zurückgezogen, daß die Beteiligung der Sprachmotorik intracerebral erfolge.13 In jedem Fall scheint die Motor-Theorie eins gezeigt zu haben: Unsere Fähigkeit, sprachliche Laute zu kategorisieren, basiert auf unserer Kenntnis des Sprechapparates, die wir durch unser eigenes Sprechen erworben haben (Darwin 1976: 212).' 4 Der Ausdruck „Kenntnis des Sprechapparates" ist nun nicht in dem Sinne mißzuverstehen, als hätte jeder Sprecher Kenntnisse ü b e r seine Sprechorgane, wie sie etwa ein Phonetiker besitzt. Hier geht es um das unbewußte, während des Spracherwerbs erworbene, praktische Wissen über die Funktionsweise der Sprechorgane. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise daran zu erinnern, daß taube Kleinkinder wie normal hörende zunächst lallen, dann aber das Lallen wieder aufgeben, während die nicht hörgeschädigten Kinder allmählich begreifen, daß es einen Zusammenhang zwischen sensomotorischem und auditivem Reiz gibt, daß sie also durch ihre artikulatorische Tätigkeit die auditiven Reize selbst produzieren können. Ein solcher R ü c k k o p p e l u n g s p r o z e ß setzt also bereits in der allerersten Phase des Spracherwerbs ein. Weitere Belege dafür, daß ein Sprecher über eine gewisse unbewußte Kenntnis der oben genannten Art verfügt, liefert die Phänologie, die sich mit den artikulatorischen .Ausgleichsmechanismen' beim Sprechen mit vollem Mund befaßt. Aufgrund dieser Rückkoppelungsprozesse zwischen dem Hören und dem eigenen Sprechen fällt es uns wesentlich leichter, Laute einer fremden Sprache zu .erkennen', die bestimmte prosodische Gemeinsamkeiten mit unserer Muttersprache hat, als gegenüber einer anderen, die prosodisch recht verschieden davon ist (für uns zum Beispiel eine Tonsprache wie das Chinesische). Die Motor-Theorie ist in unserem Zusammenhang darüber hinaus aber auch insofern von Bedeutung, als es eine (recht weit verbreitete) Art des ,stillen Lesens' gibt, bei der in der Tat eine andeutungsweise Bewegung der Artikulationsorgane beobachtet werden kann. D. h., wir rezipieren in einem solchen Fall zwar nicht die akustische Struktur des Gedichts, wohl aber die sensomotorische. Für einen Phonetiker wie Abercrombie ist dies sogar der wichtigste Aspekt der Gedichtrezeption. Für ihn sind es eher die lautproduzierenden Bewegungen des Sprechens als der 13

14

Noch verbreiteter sind sogenannte Analyse-durch-Synthese-Modelle, die mit der schwächeren Form der Motor-Theorie gewisse Verknüpfungspunkte haben. Ein detaillierter Vergleich zwischen beiden Theorien ist jedoch in unserem Zusammenhang nicht erforderlich. Zusätzlich zu den (vollen oder nur angedeuteten) Artikulationsbewegungen nimmt I. A. Richards auch noch bestimmte mentale Images an, die eine Rolle spielen können: so zum Beispiel „auditive Images von Worten", die „zu den offensichtlichsten mentalen Ereignissen" gehören (vgl. Saussures Begriff des „Lautbildes"), und „ArtikulationsImages" (Richards 1924/1972: 161, 163).

80

Die Wahrnehmung des poetischen Textes

akustische Eindruck beim Hören, welche die Organisation des Verses bestimmen. Denn die Laute selbst sind fUr den Hörer nicht nur Laute, sondern auch Anzeichen für Bewegungen (clues to movements): „We perceive speech in muscular terms."15 Interessanterweise ist es insbesondere das Phänomen des Sprachrhythmus, an das Abercrombie hierbei denkt, und gerade dieses Phänomen ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt des Interesses gerückt. So sieht auch Peters (1975) als die Verbindung zwischen Sprachperzeption und Sprachproduktion den Rhythmus, der als grundlegende organisierende Struktur für beides aufgefaßt wird. 16 Als Hörer benutzen wir unsere Kenntnis, die wir als Sprecher erworben haben, und strukturieren die Äußerungen, die wir wahrnehmen, quasi synchron mit, d. h. wir erwarten an bestimmten Stellen bestimmte rhythmische Signale, weil wir sie als Sprecher dort auch setzen würden. D. h., bei der Sprachwahmehmung handelt es sich um eine 15

16

Abercrombie 1965: 19. - Von einem ähnlichen Ansatz ausgehend, entwickelt Jörg 1972 seine „Linguamotorik der Verssprache", in der er die Linguamotorik des Kindergedichts am Beispiel der Gedichte von James Krüss darzustellen versucht. Indem er mit allem Nachdruck hervorhebt, daß der K l a n g der Sprache nur ein Aspekt ist, dem der artikulatorisch-motorische Aspekt zur Seite zu stellen ist, weist Jörg in der Tat auf einen wichtigen und oft übersehenen Punkt hin. In seiner Interpretation der einzelnen Gedichte schießt er jedoch gelegentlich weit über das Ziel hinaus, indem er für die Beschreibung der Gedichtinhalte eine spezielle Sprachebene konstruiert, auf der sich Textteile und Textparaphrasen mit Artikulationsbeschreibungen einzelner Textausdrücke beliebig mischen wie etwa im folgenden Passus:, Jn der nächsten Strophe ist vom Ritter die Rede, erst spöttelnd, artikulatorisch enggriffig, an leichtem Zügel gehalten: .Jeder Möchtegern von Ritter" aber dann kündet es sich, und zwar in der Häufung von gestautem vokalischem und explosivem Anlaut, und also nicht nur semantisch, drohend an: „Wird bei ihrem Anblick bitter", und endlich, in prunkender Entladung groß gemimten Ritterzorns, greift es mächtig aus mit gewaltsam gesenktem Unterkiefer, gespanntem Mundboden, bei immer weiter geöffnetem Munde, aus dem es von aufgeregt kraftvollem Hin und Her und mannhafter Überwindung selbst errichteter Widerstände nur so knirscht und knackt und dröhnt: „ Z i e h t das S c h w e r t und b r e m s t den G a u l . Und dann ruft er: P o t z G e w i t t e r , Ich,der s i e g g e w o h n t e R i t t e r , Hau d e m D r a c h e n e i n s a u f s M a u l ! " (Jörg 1972: 27; Hervorhebungen im Original) Peters 1975: 158; vgl. auch Martin 1972, 1975. - Die Bedeutung des Rhythmus für andere zielgerichtete und quasi automatisch ablaufende menschliche Tätigkeiten wie etwa das Schreiben mit der Hand oder mit der Schreibmaschine, aber auch für das Sprechen und Hören, untersucht Shaffer 1982 und 1984. Auch ein Phonetiker wie Tillmann, der im Gegensatz zur traditionellen Auffassung im Bereich von Phonetik und Phonologie davon ausgeht, daß der Gegenstand beider Disziplinen nicht die Sprachlaute seien, sondern „die in ihrer form einzelsprachlich geregelten Sprechbewegungen" (Hervorhebung im Original), ohne daß er sich damit der Motor-Theorie verschriebe, darf in diesem Zusammenhang zitiert werden: „Sprechen ist in der Tat eine körperliche Tätigkeit, die in ihren Ablaufbedingungen der Wohlartikuliertheit genügen muß, die im wesentlichen durch die rhythmisch strukturierte Abfolge von vokalischen Öffnungs- und konsonantischen Verschließungsbewegungen zustandekommt." (Tillmann/Günther 1986: 195)

Die Erstrezeption:

ein dynamischer

Prozeß

81

mitvollziehende Wahrnehmung, in der sich der Hörer in gewisser Weise mit dem Sprecher identifiziert (Abercrombie 1967: 97, 1965: 19). Seit der Arbeit von Pike (1945) wird nun für Sprachen wie das Englische angenommen, daß es sich um sogenannte „stress-timed" Sprachen handelt, bei denen die Intervalle zwischen den akzentuierten Silben annähernd gleich (isochron) sind. Dies wäre in der Tat ein - für Sprecher wie Hörer - objektiver Maßstab. Das Interessante ist aber nun, daß die physikalische Basis eines solchen isochronen Rhythmus (jedenfalls im Englischen, sozusagen dem Prototyp dieser Klasse von Sprachen) nur recht schmal ist, daß dennoch aber die Rhythmizität dieser Sprache psychologisch real ist, wie sich in Versuchen immer wieder herausgestellt hat (vgl. Buxton 1983: l l l f . ) . Neuere Versuche haben sogar gezeigt, daß eine Liste von Einzelwörtern, die (jeweils gemessen vom Wortanfang) in strenger rhythmischer Folge dargeboten werden, gar nicht als rhythmisch wahrgenommen wird. Unsere rhythmische Wahrnehmung scheint daher nicht auf den Wortanfang zu reagieren, sondern eher von den sogenannten „P-Zentren" (Perzeptions- oder Produktionszentren) der Silben gesteuert zu werden, die ihrerseits eine komplexe Funktion aus der Dauer des/der anlautenden Konsonanten und der Dauer des darauf folgenden Vokals sowie des/der weiteren Konsonanten bilden (Buxton 1983: 114). Perzeptuelle Rhythmizität in diesem Sinne (die also nicht identisch ist mit physikalischer Regularität) ist nun gekoppelt mit starker zeitlicher Prädiktabilität, d.h. in einer so strukturierten sprachlichen Kette sind die einzelnen Elemente zeitlich weitgehend vorhersagbar, und zwar stärker gegen Ende der Kette, wenn man sich also auf den Rhythmus hat einstellen können (Buxton 1983: 117). Dieses Sich-Einstellen auf einen gegebenen sprachlichen Rhythmus ist übrigens nicht nur in Laborsituationen beobachtet worden. So haben zum Beispiel Einzelbildanalysen von gefilmter menschlicher Kommunikation gezeigt, daß „bei der Unterhaltung zweier Erwachsener sich beide synchron mit den Einheiten (Phonemen) der Rede des jeweils sprechenden Partners (minimal) bewegen" (Kanngießer/Kriz 1983: 89). Ein solches Mitvollziehen findet sich aber nicht nur auf der Ebene der Laute oder beim Rhythmus, sondern allgemein auf der Ebene der prosodischen Struktur. Offenbar ist es dabei so, daß bereits früh in einer Äußerung Erwartungen hinsichtlich des weiteren intonatorischen Verlaufs beim Hörer geweckt werden, die beim Eintreffen dieses Verlaufs die kognitive Verarbeitung beim Hörer erleichtern (vgl. Hörmann 1981: 126f.). Des weiteren spielen auch lexikalische und syntaktische Erwartungen eine wichtige Rolle. Man hat festgestellt, daß die Wahrnehmung von isoliert dargebotenen Lauten sehr viel schwieriger ist als von Lauten, die Teil einer Silbe oder eines Wortes sind; insbesondere trägt (neben dem Bekanntheitsgrad des Wortes) eine größere Wortlänge zu einem besseren Verständnis bei, und Wörter, die im Kontext dargeboten werden, werden wiederum leichter verstanden als isolierte Wörter (O'Neill 1975: 236f.). Hinsichtlich der syntaktischen Strategien ist es so, daß der Hörer bereits zu Beginn der Äußerung „dem einlaufenden Lautstrom eine

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Die Wahrnehmung des poetischen Textes

Struktur über[stülpt]", die er dann laufend mit dem weiteren Input vergleicht und gegebenenfalls korrigiert (Hörmann 1981: 129). Allen diesen mitvollziehenden Strategien des Hörers (und neben den hier vorgestellten wären noch weitere wie semantische, pragmatische, kommunikationsoder sozialpsychologische 17 sowie - im Falle der Rezeption von Gedichten spezifische metrische und allgemeinere poetische zu erwähnen) und den daraus resultierenden Erwartungen ist nun gemeinsam, daß sie die aktive Mitarbeit des Langzeitgedächtnisses voraussetzen, in dem unter anderem die Wörter samt ihrer Akzentstruktur und Bedeutung (also das Lexikon), die syntaktischen Regeln und Intonationsmuster gespeichert sind. Bottom-up- und top-downProzesse greifen hier deutlich ineinander. Das bedeutet, daß der Hörer nicht nur Gehörtes rekonstruiert, sondern daß er auch noch nicht Gehörtes antizipierend vorkonstruiert und es dann mit dem laufend eintreffenden Input vergleicht. Dies läßt sich deutlich bei der Identifizierung von Wörtern während der Sprachwahrnehmung demonstrieren. Verschiedene Experimente haben ergeben, daß Wörter im Durchschnitt bereits nach etwa 200msec. identifiziert werden, wenn sie im Kontext 18 dargeboten werden (bei isolierten Wörtern dauert die Identifizierung wesentlich länger), d. h. nachdem der Hörer ungefähr die beiden ersten Laute (zum Beispiel Konsonant und Vokal) gehört hat. Zu diesem Zeitpunkt aber ist allein von der Lautstruktur der Wörter her - normalerweise - noch keine Identifizierung möglich, da es meist mehrere Wörter mit den gleichen anlautenden Phonemen gibt. Daher schließt Marslen-Wilson (1984), der eine Reihe dieser Experimente schildert, auf eine reziproke Balance zwischen dem sensorischen Input und dem kontextuellen, also dem, den der Hörer selbst beisteuert. Neben der Sprachkenntnis des Hörers ist noch ein weiterer Faktor bei der Sprachwahrnehmung hervorzuheben, und zwar handelt es sich um dessen gezielte A u f m e r k s a m k e i t (attention). Denn auch sie entscheidet darüber, was an Informationen aus dem Echospeicher ins Kurz- und Langzeitgedächtnis zur weiteren Verarbeitung weitergeleitet werden soll: Das, worauf sie gerichtet ist, wird transferiert. 19 Da in der Alltagskommunikation normalerweise der Inhalt einer Äußerung am wichtigsten ist und sich die Aufmerksamkeit darauf richtet, wird die besondere Lautform und auch die syntaktische Struktur bereits nach kurzer Zeit vergessen. Richtet sich die Aufmerksamkeit jedoch auf einen dieser beiden Aspekte, dann leidet das Verstehen darunter. Für die Rezeption von so komplex

17 18

19

Hörmann 1981: 131. Das heißt, daß der Hörer mindestens syntaktische, prosodische, lexikalische und semantische Strategien anwenden konnte. Versuche mit dichotischem Hören (den Versuchspersonen werden im rechten und im linken Ohr jeweils verschiedene sprachliche Reize dargeboten) haben gezeigt, daß man von dem, was man über das Ohr hört, auf das man sich nicht konzentriert, praktisch nichts mitbekommt bzw. davon nach kurzer Zeit nichts mehr weiß („Cocktail-party-Phänomen"); vgl. Loftus/Loftus 1976: 31.

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

83

strukturierten Texten wie poetischen ist dieser Punkt von allergrößter Relevanz; wir werden gleich darauf zurückkommen. Ein wichtiger Grund für die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt der Äußerung zu richten, liegt in der Begrenztheit des Kurzzeitgedächtnisses. Es kann nämlich nicht alle Aspekte gleichzeitig bearbeiten, und da es Informationen auch nur bis zu etwa 15 Sekunden speichern kann (Loftus/Loftus 1976: 55) - vorausgesetzt, es wird nicht, wie es bei der Sprachwahmehmung der Fall ist, durch weiter eintreffende Informationen zusätzlich belastet20 - kann es die verschiedenen Aspekte einer Äußerung auch nicht sukzessive bearbeiten. In einer für die weitere psychologische Forschung sehr wichtigen Arbeit hat nun Miller (1956) die These aufgestellt, daß die Erinnerungskapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf 7 Einheiten („plus or minus two") beschränkt ist, wobei als Einheit (chunk) alles das fungieren kann, was im Langzeitgedächtnis eine einheitliche Repräsentation hat, zum Beispiel Ziffern, Buchstaben, nicht in einem syntaktischen oder semantischen Zusammenhang stehende Wörter, sogar Sprichwörter (vgl. Simon 1974, Loftus/Loftus 1976: 45). Diese Gedächtnisspanne von ca. sieben chunks würde für die kognitive Verarbeitung des Menschen ein ernstes Problem darstellen, wenn es nicht Wege gäbe, kreativ damit fertig zu werden. Am wichtigsten scheint dabei das Mittel der U m k o d i e r u n g (recoding) zu sein, d. h. der Neuorganisation dieser sieben chunks, indem aus mehreren kleineren chunks eine kleinere Zahl von größeren gebildet wird (vgl. Miller 1956: 93, Loftus/Loftus 1976: 69). Bei der Sprachwahrnehmung findet laufend eine solche Umkodierung des Wahrgenommenen statt - aus einzelnen Lauten, die vom Kurzzeitgedächtnis aus dem Echospeicher segmentiert und kategorisiert werden, werden Wörter, ganze Sätze und schließlich semantische Repräsentationen von irgendwelchen Sachverhalten oder Ereignissen, die wir nach einer gewissen Zeit zwar nicht mehr in der Formulierung, die wir gehört haben, wiedergeben können, aber durchaus angemessen in unseren eigenen Worten. Dies zeigt, daß das Langzeitgedächtnis, in dem wir die aufgenommene Information schließlich speichern, überwiegend, wenn auch nicht total, semantisch strukturiert ist, während das Kurzzeitgedächtnis überwiegend auditiv strukturiert ist (Loftus/Loftus 1976: 70ff.). Aus dieser auditiven Prädisposition des Kurzzeitgedächtnisses heraus ist es zu verstehen, daß der R h y t h m u s ein so wirksames Hilfsmittel für das chunking, das Zusammenfassen kleinerer chunks zu größeren ist. Jeder kennt das Phänomen, daß längere Konto- oder Telefonnummern nicht als Serie einzelner Ziffern behalten 20

Hier treffen verschiedene Probleme zusammen: die Aufnahmefähigkeit des Echo- und des Kurzzeitspeichers wird durch die bei der akustischen Wahrnehmung laufend neu eintreffende zu verarbeitende Information natürlich stark beansprucht, andererseits gestattet es die Sprachkenntnis des Hörers, wie wir gesehen haben, auch noch nicht Gehörtes faktisch vorauszunehmen. Wie sich dies gegeneinander .aufrechnet', scheint in der Psychologie momentan unentscheidbar (vgl. Nooteboom/Cohen 1975: 125, 138).

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Die Wahrnehmung des poetischen Textes

werden, sondern als Gruppen von zwei bis drei Ziffern: aus 385468021 wird so zum Beispiel 3 8 5 4 6 8 0 2 1 . Mit den einzelnen Ziffern wird also eine bestimmte rhythmische Folge gelernt, die das Behalten erleichtert. (Man kann natürlich argumentieren, daß eben nicht einzelne Ziffern gelernt werden, sondern - zum Beispiel - drei dreistellige Zahlen, bloß kommt man nicht darum herum, insgesamt 9 Ziffern an einer jeweils fest determinierten Stelle zu behalten.) Wie Neisser (1967: 233f.) zeigt, ist der Rhythmus hier nicht eine zusätzliche Größe, die das Gedächtnis zusätzlich belastet, sondern im Gegenteil ein auf Wiederholung beruhendes Muster, das dem Gedächtnis neuen Raum schafft: Die Wiederholung der ersten Dreierstruktur läuft automatisch ab und entlastet das Gedächtnis von weiterem Mitzählen. Die Telefonnummer wird zu einer r h y t h m i s c h e n

Ge-

s t a l t (Neisser 1967: 234) im gestalttheoretischen Sinne des Wortes, also einer Ganzheit, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. 3.2.2

Konsequenzen für die Wahrnehmung poetischer Texte

Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den hier skizzierten Bedingungen der Sprachwahrnehmung für die Erstrezeption von poetischen, speziell metrisch organisierten, Texten? (Die Frage, ob es sich um eine auditive Rezeption oder um .stilles', von artikulatorischen Bewegungen begleitetes Lesen handelt, wollen wir hier offen lassen.) In der psychologischen Forschung hat diese Frage, abgesehen von einigen gestalttheoretisch orientierten Ansätzen, bislang keine zentrale Rolle gespielt; 1.

21

wir müssen uns daher auf einige Schlußfolgerungen beschränken.

Zunächst einmal ist festzuhalten, daß schon die Wahrnehmung nicht poeti-

scher Texte einen d y n a m i s c h e n C h a r a k t e r a u f w e i s t u n d a k t i v und zielgerichtet

i s t . Das, was wahrgenommen wird, das Perzept, ist sowohl

vom akustischen Reiz selbst als auch von der mitvollziehenden, rekonstruktiven und präkonstruktiven Tätigkeit des Wahrnehmenden selbst sowie seiner selektiven Aufmerksamkeit abhängig, ist also „keinesfalls als passive Reaktion auf das Einwirken der Umweltreizung" anzusehen (Murch/Woodworth 1978: 24). Dies zeigt sich an verschiedenen Punkten der Wahrnehmung mit besonderer Deutlichkeit, zum Beispiel bei der Segmentierung des Sprechkontinuums in Laute und der Klassifizierung der Laute zu Phonemen der eigenen Sprache. Es zeigt sich aber auch, um einen bisher noch nicht angesprochenen Aspekt zu nennen, dabei, daß einer wahrgenommenen Äußerung in der Regel stets ein Sinn oder eine Intention des Sprechers unterstellt wird, auch wenn dieser Sinn nicht auf den ersten Blick offenbar wird. Zwischen dem Erreichen der Sinnkonstanz durch den Rezipienten und dessen emotionaler Bewertung dieser kognitiven ,Aufgabe' können nun, wie Bock (1984: 79) vermutet, enge Zusammenhänge gesehen werden. Versuche haben nämlich gezeigt, daß nicht bewältigte Aufgaben (etwa bei unverständlichen Texten) als negativ, zu leichte Aufgaben (bei simplen, automatisch 21

Von linguistischer Seite liegen einige erste Ergebnisse hierzu vor; vgl. Lehiste 1984 und die dort angegebene Literatur.

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

85

verstehbaren Texten) ebenfalls als negativ, und einigermaßen komplexe, jedoch lösbare Aufgaben als positiv bewertet werden, da die .Anstrengung' des Rezipienten .belohnt' wird. P o e t i s c h e T e x t e a b e r e r f ü l l e n g e n a u d i e s K r i t e r i u m d e r K o m p l e x i t ä t , 2 2 und zwar von Text zu Text und/oder von Autor zu Autor und/oder von Periode zu Periode in unterschiedlichem Ausmaß. Da jedoch poetische Texte - von sogenannten „hermetischen" Texten einmal abgesehen nicht von vornherein eine Verständnisbarriere aufbauen, sondern ihre Komplexität oft erst bei der mehrmaligen Lektüre zu erkennen geben, können der erste wie auch weitere folgende Lektürevorgänge für den Rezipienten außerordentlich .lohnend' sein. Dieses oftmals festgestellte Spezificum der Literatur findet in diesem Zusammenhang eine angemessene Erklärung. Eine wichtige Voraussetzung ist allerdings, daß die oben erwähnte Zielgerichtetheit der Wahrnehmungsaktivität des Rezipienten sich in besonderer Weise auf den poetischen Charakter des betreffenden Textes einstellt (Jakobsons poetische Funktion), daß der Text also a l s e i n p o e t i s c h e r T e x t (und nicht als, beispielsweise, ein Tatsachenbericht) rezipiert wird. Hierbei spielt nun die Eigenleistung des Wahrnehmenden eine besondere Rolle, wie sich am Beispiel des chunking deutlich zeigen läßt: Zwei Menschen, die dieselbe Telefonnummer zu verschiedenen Zahlengruppen zusammengefaßt haben, haben meist Schwierigkeiten, die jeweils andere Zahlenfolge als Repräsentation derselben Telefonnummer zu erkennen. Genau dieser Punkt spielte bereits in Kap. 2.2.5 eine Rolle, wo ein bestimmter Versausschnitt in Abhängigkeit von einer bestimmten (und nicht einer anderen) literarischen Tradition strukturiert wurde. D.h., bei der Wahrnehmung poetischer Texte kommt zur Kenntnis der Sprache und zur selektiven Aufmerksamkeit auch die K e n n t n i s d e r l i t e r a r i s c h e n T r a d i t i o n des Rezipienten als entscheidender Faktor hinzu. Diese Kenntnis aber variiert nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern unter Umständen auch von Generation zu Generation, von Epoche zu Epoche. Im Falle der individuellen Rezeption wird ein in literarischen, speziell in metrischen Dingen bewanderter Rezipient ganz andere und vor allem sehr viel mehr Strukturen im Text wahrnehmen als ein .naiver' Rezipient. Daß sogar die Wahrnehmung einer ganzen Versform mehrmaligem historischem Wandel unterliegen kann, zeigt das Beispiel des Hans-Sachs-Verses, dessen metrisches Grundschema in ganz unterschiedlicher Weise interpretiert worden ist. So sieht Heusler (1925-29/1968) ihn als Repräsentanten für vierhebige Verse mit freier Verteilung der vier Hebungen, Pretzel (1962) demgegenüber als Beispiel für verunglückte metrisch alternierende Verse, bei denen das Alternieren nur unter erheblichen Verstößen gegen die Wort- und Satzbetonung sprachlich zu aktualisieren ist, und neuere Metriker wie Wagenknecht (1981) und Breuer (1981) erkennen darin Verse, die auf dem Prinzip des Silbenzählens und dem Paarreim

22

Ein weiteres paradigmatisches Beispiel für das Prinzip der Sinnkonstanz ist die Ironie (vgl. hierzu Groeben 1984).

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Die Wahrnehmung des poetischen Textes

beruhen - also ohne feste Hebungszahl und ohne metrische Alternation.23 Albertsen (1984: 57f.) wiederum sieht zwar Heuslers Einschätzung als einen Irrweg an, konzediert jedoch, er sei wenigstens zum Teil durch Rückprojizierung von anderen Epochen in der europäischen Literatur, in denen ein solches „Denken in vier Takten" in der Tat eine wichtige Rolle spielte, erklärbar. Die hier angesprochenen Faktoren hängen somit eng miteinander zusammen: Aufgrund der Tendenz des Rezipienten, einer wahrgenommenen Äußerung (in unserem Kontext also einem rezipierten poetischen Text) stets eine sinnvolle Autorenintention zu unterstellen, wird er, wenn er den Text bewußt als poetischen Text rezipiert, alle Eigenschaften, die die spezifische Form des Textes betreffen, also zum Beispiel alle Äquivalenzen, als inhaltlich bedeutsam auffassen, da sie ja aus der Autorenintention resultieren. Damit wird die poetische Sprachfunktion als die dominierende akzeptiert. Zur Strukturierung dieser formalen Elemente und eventuell auch zu ihrer Interpretation bedient sich der Rezipient seiner Kenntnis des/der entsprechenden poetischen Kodes. Wo kein solcher Kode existiert bzw. ihm nicht bekannt ist, wird er versuchen, einen Kode zu konstruieren, und zwar auf der Basis der im Text wahrgenommenen Formelemente, der zwischen ihnen bestehenden Äquivalenzen sowie seiner Kenntnis anderer ästhetischer Kodes. Als ein Beispiel für ein solches Suchen nach dem richtigen Kode sei hier noch einmal an die Entdeckung des parallelismus membrorum als poetische Grundlage der hebräischen Psalmen erinnert, eine Entdeckung, die am Ende langer Bemühungen um eine Rekonstruktion einer verschüttet geglaubten metrischen Struktur stand. Die Wahrnehmung des .richtigen' Kodes war hier lange Zeit behindert durch die Annahme, die Psalmen seien - zumindest ursprünglich entsprechend den Kodes strukturiert, die man aus der eigenen Dichtung kannte, seien also durch ein über den phonologischen Elementen konstruiertes metrisches Schema gekennzeichnet. 2. Ein wichtiger Aspekt der Wahrnehmung überhaupt, aber in noch prononcierterer Form der Wahrnehmung komplex strukturierter poetischer Texte, ist die begrenzte Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses. Es ist unmöglich, einen solchen Text auf allen sprachlichen Ebenen gleichzeitig detailliert wahrzunehmen. M e h r V e r a r b e i t u n g s t i e f e auf e i n e r s p e z i f i s c h e n E b e n e ist nur auf K o s t e n e i n e r g e r i n g e r e n V e r a r b e i t u n g s b r e i t e zu h a b e n , u n d e i n e größere V e r a r b e i t u n g s b r e i t e hat u m g e k e h r t eine gering e r e V e r a r b e i t u n g s t i e f e z u r F o l g e (vgl. Rumelhart 1977: 95). Daher muß man bei der Erstrezeption zwischen zwei Strategien wählen: Entweder man richtet seine Aufmerksamkeit gezielt auf eine bestimmte Ebene ( s e l e c t i v e a t t e n t i o n bzw. f o c u s e d a t t e n t i o n ) oder man versucht, die Aufmerksamkeit 23

Für eine sachkundige Darstellung der älteren Positionen zu der Frage des Hans-SachsVerses siehe Minor 1902: 333f., der (im Gegensatz zur 1. Aufl. seines Buches, in der er die syllabische Theorie vertrat) den taktierenden Charakter (4 Hebungen) dieser Versart für wahrscheinlich hält.

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

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allen Ebenen gleichzeitig (wenn auch nicht detailliert) zuzuwenden ( d i v i d e d attention). Im ersten Fall (der fokusorientierten Aufmerksamkeit) bieten sich verschiedene Möglichkeiten. Man kann den Text zum Beispiel so rezipieren, daß man die referentielle Funktion in den Mittelpunkt stellt und fragt: „Was passiert da eigentlich?", man kann aber auch die poetische Funktion in den Mittelpunkt stellen. Aber selbst wenn man dies tut, bleiben immer noch mehrere Möglichkeiten offen. So kann man etwa seine Aufmerksamkeit dem Reimschema, dem Metrum oder der Metaphorik des Textes zuwenden oder sich auf andere Dinge konzentrieren. In jedem Fall wird man jeweils völlig andere Eigenschaften des Textes bemerken und sehr viele andere Eigenschaften übersehen. Bei der zweiten Strategie (der geteilten Aufmerksamkeit) wird man hingegen durchaus verschiedene Texteigenschaften bemerken und ein geschlosseneres Bild von der Textstruktur erhalten, man wird jedoch auch feststellen, daß einem bestimmte Züge sozusagen ,entgleiten', daß man sie nicht im Gedächtnis festhalten kann, so daß man den Text gern noch ein zweites oder drittes Mal lesen oder hören möchte, um sich diesmal diesen Eigenschaften zuzuwenden. In diesem Sinne ist in der Tat „die Sprache der Dichtung eine schwierige, erschwerte, gebremste Sprache" (Sklovskij 1916/1971: 33), da sie mehrere Verarbeitungsgänge erfordert, um die auf verschiedenen Textebenen kodierten Strukturen wahrzunehmen und dann miteinander in Beziehung zu setzen. Ist nun das .normale' Sprachverstehen durch automatisch ablaufende und kontrollierte, d. h. bewußt gesteuerte Aktivationsprozesse gekennzeichnet (vgl. Engelkamp 1984: 47), so wird deutlich, daß im Falle der Wahrnehmung poetischer Texte die Anzahl der automatisch ablaufenden Prozesse sinkt und die Zahl der kontrollierten Prozesse drastisch steigt. Kontrollierte Prozesse aber kosten mehr Verarbeitungskapazität: Sklovskijs Begriffe schwierig und gebremst erhalten somit eine nachdrückliche psychologische Bestätigung. Wir werden auf diesen Punkt bei der Diskussion der Textstrukturanalyse, also der mehrmaligen gründlichen Textrezeption, zurückkommen müssen. 3. Poetische Texte zeichnen sich häufig gegenüber der Sprache alltäglicher Kommunikation durch eine gewisse Ungewöhnlichkeit aus. Dies ist ein anderer Aspekt der erschwerten, gebremsten Sprache: Ging es im vorigen Abschnitt um eine gegenüber der Alltagssprache wesentlich erhöhte Komplexität, die aus einer reicheren Textstruktur resultiert, so geht es hier um eine g e ringere Voraussage Wahrscheinlichkeit einzelner sprachlicher E l e m e n t e (zum Beispiel Wörter) aufgrund ungewöhnlicher Wortwahl, ungewöhnlicher syntagmatischer Verbindungen von Wörtern (collocational clash), ungewöhnlicher Metaphern, ungewöhnlicher Syntax etc. Hier erfüllen nun Strukturierungen auf der lautlichen Ebene wie kodifizierte Lautfiguren (Alliteration, Assonanz, Reim etc.) oder eben metrische Organisation eine wichtige Funktion, indem sie nämlich eine gewisse S t a b i l i s i e r u n g d e r H ö r e r e r w a r t u n g bewirken können, und zwar insbesondere, wenn es sich um rekurrente Muster handelt.

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Die Wahrnehmung des poetischen Textes

Die phonologische Identifizierung bestimmter Wörter wird dadurch erleichtert, daß vorhersagbar ist, mit welchem Phonem sie beginnen (Alliteration), welches der betonte Vokal ist (Assonanz), auf welche Phonemfolge sie enden (Reim) oder welche rhythmische Struktur sie haben. Dieser Aspekt ist in oralen Traditionen von nicht zu unterschätzender Bedeutung, denn eine solche Strukturierung - wie auch ähnliche Strukturierungen auf der syntaktischen (Parallelismus) oder prosodischen Ebene - trägt in wesentlichem Maße dazu bei, kleinere chunks zu größeren zusammenzuschließen. Das aber bedeutet wiederum, daß für das Behalten bzw. Auswendiglernen von ,mehr Text' weniger Gedächtniskapazität aufgeboten werden muß. 2 4 In diesem Zusammenhang ist an Millers „magische Zahl 7" zu erinnern: Es gibt zwar in vielen Literaturen Verse, die aus mehr als 7 oder 9 (7+2) Silben bestehen, jedoch lassen sich solche Verse fast immer auf weniger als 9 Einheiten größeren Zuschnitts, und zwar durchaus in Begriffen der jeweiligen literarischen Tradition, strukturieren. Diese h i e r a r c h i s c h e S t r u k t u r i e r u n g v o n (mehreren) k l e i n e r e n m e t r i s c h e n E i n h e i t e n z u (wenigeren) g r ö ß e r e n i s t - n e b e n der sequentiellen Ordnung der kleineren Einheiten - eine der wichtigsten Funktionen metrischer Organisation. Als Gliederungsgrößen kommen dabei vor allem Lautfiguren, Versfüße und Zäsuren in Betracht, die sämtlich eine Folge von Silben als den kleinsten metrisch relevanten Einheiten zu einer größeren Einheit zusammenfassen. 4. Diese hierarchische Strukturierung des metrisch organisierten Textes hat jedoch nicht immer eine Stabilisierungstendenz der Hörererwartung zur Folge, sondern der Effekt kann auch in sein Gegenteil umschlagen, wenn auch auf dieser Ebene der lautlichen Organisation die Leser-Hörererwartung enttäuscht wird, da dies sofort die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers von anderen Aspekten des Textes abzieht. Gerade dieses Spiel mit der Erfüllung bzw. der Enttäuschung der Erwartung des Rezipienten auf der lautlichen Ebene führt zu der Konsequenz, daß diese Ebene, die gewöhnlich nur eine Subsidiärfunktion bei der Sprachwahrnehmung hat (vgl. Linell 1979: 44), insofern als die Identifizierung von Phonemen primär der Erkennung von Wörtern dient, selbst in den Vordergrund der Leser-Höreraufmerksamkeit rückt und im Zusammenhang mit den übrigen Textebenen semantisch aktiviert wird. Eine solche semantische Aktivierung findet zwar auch dann statt, wenn der Klang einer Verszeile in ikonischer Beziehung zu ihrer Bedeutung steht, um Popes berühmtes Wort „The Sound must seem an Eccho to the Sense"25 semiotisch zu paraphrasieren; in einem solchen Fall aber wird die Versstruktur meist sofort als .richtiger Ausdruck' für den Inhalt akzeptiert 24

25

Dies ist die Erklärung dafür, daß es in verschiedenen Kulturen metrisch organisierte Gesetzestexte gab (selbst Grammatiken dieser Art sind bekannt; vgl. etwa das in Hexametern abgefaßte Doctrinale von Alexander de Villa-Dei aus dem Jahre 1199); solche Texte sind nicht nur leichter auswendig zu lernen, sie sind auch weniger anfallig gegenüber Veränderungen. Alexander Pope, „An Essay on Criticism", V. 365.

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

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(vgl. in Popes Vers die Alliteration zwischen Sound und Sense und die Assonanz zwischen Eccho und Sense), und der Vers wird auf Anhieb, d. h. bei der Erstrezeption, als gelungen aufgefaßt. Erst die S t ö r u n g d e r L e s e r - H ö r e r e r w a r t u n g auf der Ebene der Versstruktur rückt diese Struktur in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zu den Mitteln, mit denen dies erreicht werden kann, gehören zum Beispiel: -

die Abwandlung oder Durchbrechung des Reimschemas (vgl. (92) bis (94), S. 161 f.),

-

ein Wechsel des metrischen Schemas (vgl. das Parzenlied in Goethes „Iphigenie auf Tauris"),

-

ein bewußtes Einsetzen unmetrischer Verse (vgl. Kap. 5.2),

-

eine plötzliche Steigerung der metrischen Komplexität (vgl. Kap. 5.4),

-

ein Wechsel der Strophenform.

Es handelt sich hierbei um Mittel („Verfahren" im Sinne des Russischen Formalismus), bei denen zwei Aspekte eine Rolle spielen: Zum ersten handelt es sich um Verfahren, bei denen u n g l e i c h e T e x t ü b e r g ä n g e (im Sinne von Weinrich 1976: 130ff.) involviert sind, bei denen also etwa ein deutlicher Unterschied zwischen zwei aufeinander folgenden Versen oder Versgruppen zu beobachten ist. Dieser Unterschied kann nun zweitens entweder durch eine a n d e r e O r g a n i s a t i o n d e r m e t r i s c h e n E i n h e i t e n (Wechsel des Metrums) oder durch eine vom vorigen abweichende Zuordnungspraxis von sprachlichen z u m e t r i s c h e n E i n h e i t e n (Unmetrikalität, Komplexität) erreicht werden. Auch hier erweist sich also unsere Trennung zwischen beiden Arten von Elementen wiederum als sachlich gerechtfertigt. 5. Im Zusammenhang mit den bisher besprochenen Aspekten der Erstrezeption metrisch organisierter Texte ist auf einen weiteren Punkt hinzuweisen, der für die Versrezeption typisch ist: Gemeint ist das Phänomen, daß die Z e i t a l s s o l c h e dabei eine bedeutende Rolle spielt. In der bewußten Artikulation (oder Nachartikulation; vgl. Kap. 3.1.2.1) wird die Zeitlichkeit gesprochener Sprache deutlich erfahren, sehr viel deutlicher als im normalen alltagssprachlichen Hör- und Leseprozeß. Das liegt daran, daß der Vers selbst eine zeitlich strukturierte Größe ist: zum einen aufgrund der ihn konstituierenden Elemente (also j e nach Versifikationstyp zum Beispiel Silben, Versfüße, Takte), die seinen Rhythmus ausmachen - und Rhythmus wird, wie wir gesehen haben, auch bei der nicht vokalisierten, rein motorischen Nachartikulation körperlich empfunden - , zum anderen als eine Einheit, die aus einer bestimmten Zahl solcher Elemente besteht. Dabei ist es von sekundärer Bedeutung, ob nun gleich lange oder unterschiedlich lange Verszeilen miteinander verbunden sind: Im Gegensatz zu einer Folge von Sätzen (in einem Text, der sich nicht durch besondere rhythmische Gestaltung - „rhythmische Prosa" - auszeichnet) ist die Länge der Verszeile stets rhythmisch signifikant: entweder handelt es sich um eine Folge äquivalenter oder nichtäquivalenter Einheiten. So kannte schon das Indogermanische den Unterschied zwischen einer Kurzzeile und

Die Wahrnehmung des poetischen Textes

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einer Langzeile, die jeweils durch unterschiedliche Silbenzahl realisiert waren und vermutlich für unterschiedliche Zwecke eingesetzt wurden. 26 Gegenüber dieser quantitativen Bestimmung des Verses ist der Satz allein qualitativ, d. h. durch seine grammatische Struktur, bestimmt. Des weiteren wirkt die Versstruktur in zweierlei Weise auf den Rezipienten ein: Einerseits verleitet sie ihn, stärker noch als bei der Perzeption alltäglicher Rede, zur z e i t l i c h e n V o r w e g n a h m e d e s K o m m e n d e n (dies gilt insbesondere für das Metrum), andererseits verweist sie ihn immer wieder z u r ü c k z u m V e r g a n g e n e n , 2 7 zum Beispiel bei nicht erwarteten lautlichen Parallelismen, deren Existenz ja erst beim Vorkommen des zweiten Elements bemerkt wird, oder aber bei Nichtübereinstimmung zwischen der Vorauskonstruktion des Rezipienten und der tatsächlichen Struktur. Damit aber modelliert, systematisiert und transzendiert die ästhetische Wahrnehmung im Bereich metrisch organisierter poetischer Texte die Wahrnehmung der Alltagssprache, indem die Prozessualität, die bei der Wahrnehmung gesprochener Sprache immer gegeben ist, jedoch weitgehend unbewußt abläuft, entautomatisiert wird. Da diese Entautomatisierung nun auch semantisch genutzt wird, was wiederum eine Erschwerung oder V e r z ö g e r u n g der Wahrnehmung zur Folge hat, hat die ästhetische Wahrnehmung in der Tat einen besonders komplexen dynamisch-temporalen Charakter. Wie sehr der Autor mit einer solchen zeitlich verzögerten Wahrnehmung des Rezipienten spielen kann, zeigt das Gedicht „Author's Prologue" von Dylan Thomas. Jeder, der seine Gedichte kennt, erwartet irgendeine Form von lautlichem Parallelismus am Versende, zum Beispiel Reim, Assonanz, Konsonanz oder eine andere, nicht kodifizierte Form lautlicher Äquivalenz. Nach den ersten sechs bis acht Versen jedoch wird der Erstrezipient das Suchen nach einer solchen Markierung des Versendes aufgeben (25)

This day winding down now At God speeded summer's end In the torrent salmon sun, In my seashaken house On a breakneck of rocks Tangled with chirrup and fruit, Froth, flute, fin and quill At a wood's dancing hoof,

und sich auf ein reimloses Gedicht einstellen. Allerdings bleibt seine Aufmerksamkeit laufend der lautlichen Ebene zugewandt, da der Text eine Fülle von Alliterationen (u. a. day - down; speeded - summer''s - salmon - sun - seashaken; 26 27

Vgl. Watkins 1961,1963. Schon Tynjanov 1924/1977 sah in Metrum und Reim als rhythmischen Faktoren zwei dynamische Momente, ein progressives und ein regressives, von denen je nach der Erwartbarkeit der betreffenden Textstruktur das eine oder das andere im Vordergrund stehen kann (vgl. dort S. 61f.).

Die Erstrezeption: ein dynamischer Prozeß

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fruit - Froth - flute - fin) und Assonanzen (u. a. down - now; God - torrent; fin - quill; fruit - hoof), ja sogar einige Binnenreime (shak(en) - break(neck); fruit flute) aufweist. Genau in der Mitte des Gedichts, bei den Versen 50ff. 28 , stutzt der aufmerksame Rezipient jedoch - die Verse lauten (im Druck beginnt mit To Wales eine neue Seite)29 (26)

Over the wound asleep Sheep white hollow farms To Wales in my arms. Hoo, there, in castle keep

Der zu Beginn des Gedichtes vermißte Endreim30 ist plötzlich da; hat sich der Rezipient sehr stark auf die Ebene der lautlichen Organisation konzentriert, hat er vielleicht sogar noch Vers 49 im Ohr, (27)

Molten and mountainous to stream

der mit dem auf castle keep folgenden Vers reimt: (28)

You king singsong owls, who moonbeam

Damit aber dürfte die Gedächtniskapazität auch eines trainierten Rezipienten lautlich komplex strukturierter Gedichte erreicht sein, zumindest was die Erstrezeption anbelangt. Natürlich ist der Rezipient jetzt darauf bedacht, herauszufinden, ob die Reimstruktur in dieser Weise weitergeht, aber dazu braucht er einen weiteren Durchgang, und zwar diesmal mit dem gedruckten Text. Das heißt, der Autor zwingt hier den Rezipienten zu einer mehrmaligen, gründlichen Lektüre, wenn er den formalen Aufbau seines Gedichtes verstehen will. Diese erneute Lektüre ergibt dann, daß das Gedicht so konstruiert ist, daß der erste Vers mit dem letzten, der zweite mit dem vorletzten reimt und immer so weiter, bis endlich in der Gedichtmitte die reimenden Verse aufeinander stoßen und vom Kurzzeitgedächtnis des Rezipienten aufgenommen werden können. Die letzten acht Verse des Gedichtes lauten:

28

29

30

In der Ausgabe der Collected Poems, die das Gedicht einleitet, hilft auch die Zeilennumerierung dem Rezipienten auf die Sprünge: sie geht von 1 bis 51 (Sheep white hollow farms) und dann wieder zurück von 51 (To Wales in my arms) auf 1, dem letzten Vers des Gedichts (And the flood flowers now). Diese Numerierung fehlt in der 1971 erschienenen Ausgabe The Poems. Jedenfalls in der Ausgabe der Collected Poems; auch hier folgt die spätere Ausgabe (The Poems) nicht dieser Druckanordnung, sondern deutet diese .Mittelachse' des Gedichts nur durch eine Leerzeile an. Der Endreim bestimmt hier auch die m e t r i s c h e Struktur des Gedichts. Die einzelnen Verse sind weder durch Alternation, noch durch feste Silben- oder Hebungszahl charakterisiert, sondern allein durch das Vorkommen von Endreim.

92

Die Wahrnehmung des poetischen

(29)

3.3

Textes

Manned with their loves they'll move, Like wooden islands, hill to hill. Huloo, my proud dove with a flute! Ahoy, old, sea-legged fox, Tom tit and Dai mouse! My ark sings in the sun At God speeded summer's end And the flood flowers now.

Die Textstrukturanalyse: das Aufdecken von Relationen

Damit sind wir unversehens bei der Textstrukturanalyse angelangt, die auf der mehrmaligen, gründlichen Lektüre eines Textes basiert, wobei sukzessive die verschiedenen Textebenen in den Mittelpunkt des Interesses treten. Dylan Thomas' Gedicht hat gezeigt, daß wir unter Umständen nicht einmal in der Lage sind, bei einer einmaligen Rezeption auch nur eine einzige Textebene voll zu erfassen. Wir müssen in einem zweiten Rezeptionsprozeß die beim ersten Mal nicht voll wahrgenommene Struktur rekonstruieren. Riffaterre (1980), der als einer von wenigen zwischen beiden Rezeptionsvorgängen unterscheidet, wobei er die Erstlektüre als „heuristic reading", die Zweitlektüre als „retroactive reading" bezeichnet, vertritt daher mit Recht die Auffassung, der semiotische Prozeß finde „in the reader's mind" statt und resultiere aus dem retroaktiven Lesevorgang (Riffaterre 1980: 4). Das aber bedeutet, daß eine Lautstruktur, die i n d e r Z e i t p r o d u z i e r t wird, n i c h t i n g l e i c h e r W e i s e in d e r Z e i t r e z i p i e r t werden kann. Unser für die Verarbeitung von gesprochener Sprache verantwortliches Kurzzeitgedächtnis reicht hierfür nicht aus; die durch Reim verbundenen Verse stehen zeitlich zu weit auseinander. Damit vollzieht der Text selbst eine Verräumlichung des zeitlichen Aspekts. Wir erkennen, daß die Reime Spiegel- oder achsensymmetrisch zueinander angeordnet sind, aber dieses Wissen hilft uns nicht, jeden Reim so lange im Ohr zu behalten, bis sein Pendant artikuliert wird. Die metrische Struktur des Gedichts ist also als R e l a t i o n zwischen Versen erkennbar, jedoch nicht als Ganzes sinnlich wahrnehmbar. Natürlich ist dies ein Extremfall, aber Dichter haben immer gern mit Extremfällen gearbeitet, gerade um die Spezifik poetischer Sprachverwendung zu thematisieren. Dies mag das folgende Beispiel zeigen, das darin dem obigen ähnlich ist, daß auch hier eine einmalige Rezeption nicht ausreicht, um die aufeinander bezogenen Textelemente (hier sind es syntaktische Einheiten, und zwar Nomina) im Gedächtnis zu behalten und dann die Zuordnung nachzuvollziehen: (30)

Auf Nacht, Dunst, Schlacht, Frost, Wind, See, Hitz, Süd, Ost, West, Nord, Sonn, Feur und Plagen

Die Textstrukturanalyse: das Aufdecken von Relationen

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Folgt Tag, Glanz, Blut, Schnee, Still, Land, Blitz, Wärm, Hitz, Lust, Kält, Licht, Brand und Not. Auf Leid, Pein, Schmach, Angst, Krieg, Ach, Kreuz, Streit, Hohn, Schmerz, Qual, Tück, Schimpf als Spott Will Freud, Zier, Ehr, Trost, Sieg, Rat, Nutz, Fried, Lohn, Scherz, Ruh, Glück, Glimpf stets tagen. (Quirinus Kuhlmann, „Der XLI. Liebeskuß. Der Wechsel menschlicher Sachen") Erschwerend kommt hinzu, daß der Bezugspunkt, unter dem die korrespondierenden Wörter äquivalent sind, häufig wechselt, und daß oft mehrere Äquivalenzaspekte gleichzeitig vorhanden sind: neben der P o s i t i o n werden s e m a n t i s c h e ( K o n t i g u i t ä t bei den Versen 1 und 2, O p p o s i t i o n bei den Versen 3 und 4) sowie l a u t l i c h e Äquivalenzen verwendet (Reim: Hitz - Blitz, Leid Freud, Krieg - Sieg, Hohn - Lohn, Schmerz - Scherz, Tück - Glück, Schimpf Glimpf, K o n s o n a n z : West - Lust, Nord - Kält, Angst - Trost, Kreuz - Nutz, Streit - Fried). Auch hier findet also eine Projektion des Zeitlich-Dynamischen ins Räumliche statt, und auch hier ist der Begriff „Symmetrie" angebracht. Allerdings handelt es sich hier um eine andere Art von Symmetrie als im vorigen Gedicht: Folgten dort die korrespondierenden Einheiten in umgekehrter Reihenfolge aufeinander, so tun sie dies hier in derselben Reihenfolge. Aufgrund seiner beschränkten Gedächtniskapazität muß der Rezipient, will er die Verse verstehen, von der üblichen Lesegewohnheit abweichen und praktisch Wort für Wort von der jeweils oberen zur jeweils unteren Zeile .springen' - die Transformation des Zeitlichen ins Räumliche ist perfekt! 31 Eine solche ,Verräumlichung' bedeutet jedoch nicht notwendig - und dies ist Shapiro entgegenzuhalten - eine Entdynamisierung. In Kuhlmanns Gedicht trifft das Gegenteil zu: Die Transformation der auditiven Wahrnehmung in eine visuellräumliche 3 2 erschwert und dynamisiert damit den Wahmehmungsprozeß beträchtlich, wovon sich jeder Leser selbst überzeugen kann. Das eigentliche Problem des Vorgangs der ästhetischen Wahrnehmung hinsichtlich der von uns angesprochenen Problematik von Temporalität und Dynamik auf der einen Seite und Räumlichkeit (Geometrie, Symmetrie) und Statik auf der 31

32

In einer Erklärung weist Kuhlmann selber daraufhin, dieses Gedicht sei ein „volständiger Wechselsatz / in den ersten zwölf Versen", der „sonder eintzige Verletzung des Reimmaßes und Inbegriffes / auff die 6'227'020'800 [Mal] versätzet werden [könne]" (vgl. den Abdruck dieser Erklärung in Thalmayr 1985: 457f.). Der Begriff „Transformation" ist hier Uberspitzt. Die visuelle Wahrnehmung, die zwischen je zwei Verszeilen hin- und herspringt, ist für das erste Textverständnis von vorrangiger Bedeutung, aber die akustische Wahrnehmung wird in diesem Gedicht nicht ausgeschaltet: dafür sorgen das Metrum (achtfüßige Jamben, die als solche allerdings nur am Versanfang und am Versende erkennbar sind) und das Reimschema.

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Die Wahrnehmung des poetischen Textes

anderen Seite besteht m. E. darin, daß bestimmte Strukturen, und zwar insbesondere Lautstrukturen wie Metrum, Rhythmus sowie phonologische Parallelismen jeder Art, Strukturen also, die sich bei der Erstrezeption temporal-linear darbieten und erst r e g r e s s i v , d.h. in der Rückwendung vom zweiten Element zum ersten, wahrgenommen werden, in der zweiten und jeder weiteren Rezeption bereits a 1 s S t r u k t u r v o r a u s g e w u ß t sind. Bei der Erstrezeption konstituiert sich die Struktur, bei der wiederholten Lektüre, auch bei der auditiven Rezeption, ist die Struktur bereits gegeben. Mit dem Vorkommen des ersten Reimwortes wissen wir, welches sein Äquivalent ist, und das Metrum des Textes brauchen wir nicht mehr durch Antizipation vorzukonstruieren. Wir kennen die Relation zwischen den Textelementen. Dies hat nichts mit Jakobsons Formulierung des Äquivalenzprinzips und seiner Bedeutung für die poetische Funktion zu tun; es ist schlicht ein Faktum jeder wiederholten Textrezeption. Aber das bedeutet nicht, daß jeder wiederholte Rezeptionsvorgang nicht mehr dynamisch sei. Würde eine wiederholte Rezeption für den Rezipienten nichts Neues mehr bringen, keine neuen Strukturen mehr aufdecken und Beziehungen zwischen Strukturen erkennbar werden lassen, wäre diese Rezeption überflüssig. Gerade die Komplexität und die Ungewöhnlichkeit der poetischen Textstruktur machen, wie wir gesehen haben, solche wiederholten Rezeptionsvorgänge erforderlich - damit aber bleibt die Dynamik des Textes gewahrt. Diesen stufenweise und komplexen Wahrnehmungsvorgang beschreibt Morris (1939/1972: 101) wie folgt: Eine komplexe Zeichenstruktur führt zu einer ebensolchen ästhetischen Wahrnehmung und der Interpret (den Schöpfer eingeschlossen) führt die komplexe Wahmehmungstätigkeit durch, indem er von einem Teil des Kunstgegenstands zum anderen fortschreitet, auf gewisse Teile als auf Zeichen anderer Teile reagiert und so aus den Teilreaktionen eine Gesamtreaktion (und somit einen einheitlichen Wahrnehmungsgegenstand) aufbaut.

Dies sei noch einmal kurz an Beispiel (24) demonstriert: (24)

As kingfishers catch fire, dragonflies draw flame

Bei der Erstrezeption weiß der Rezipient beim Vorkommen des Wortes kingfishers noch nicht, daß es mit dem Prädikat catch fire alliteriert, und das gleiche gilt für dragonflies und draw flame. Bei einer weiteren Rezeption mag er dies wissen, so daß die Alliterationsstrukturen in seinem Gedächtnis präsent sind. Aber erst bei einer neuerlichen Rezeption wird er die Relation der Äquivalenz zwischen beiden Alliterationsstrukturen erkennen und damit den Zusammenhang, der zwischen ihnen besteht. Hier geht es also um das Aufdecken von Relationen, wobei in diesem Fall die linear-temporale Dimension nun keine Rolle mehr spielt: Für die Äquivalenzrelation zwischen beiden Strukturen ist es in der Tat gleichgültig, welche vor der anderen steht. Diese Aufgabe des temporalen Aspekts ist allerdings keine notwendige Folge des Äquivalenzkonzepts. Auch Caesars Ausspruch veni, vidi, vici besteht aus lautlich und grammatisch äquivalenten Ausdrücken, die jedem im Gedächtnis präsent sind, aber hier wird die Bedeutsamkeit der linearen Anordnung nicht aufgegeben, da die Reihenfolge der Ausdrücke in ikonischer Beziehung

Die „Gestalt" des poetischen Textes

95

zu der Reihenfolge der dadurch bezeichneten Handlungen steht. In diesem Sinne kann man mit Ingarden (1968/1975: 42) von zwei verschiedenen Dimensionen des literarischen Werks sprechen. Einerseits ist es ein „mehrschichtiges Gebilde" aus Elementen verschiedener Ebenen und den zwischen ihnen bestehenden Relationen, 33 und andererseits besitzt es „eine eigene, quasi zeitliche .Ausdehnung' vom Anfang bis zum Ende", aus der sich verschiedene Kompositionseigenheiten („z. B. verschiedene Charaktere der dynamischen Entwicklung und dergleichen mehr") ergeben. Entscheidend für die Konstruktion der formalen Einheit des ganzen Werks (Ingarden) bzw. des einheitlichen Wahrnehmungsgegenstandes (Morris) ist es also, beiden Dimensionen des Werks gerecht zu werden.

3.4

Die „Gestalt" des poetischen Textes

Die Auffassung vom poetischen Text als einem mehrschichtigen Gebilde (Ingarden) mit einer komplexen Zeichenstruktur (Morris) wirft nun unausweichlich eine der zentralen Fragen der Gestalttheorie auf, nämlich die nach der „Gesamtgestalt" eines Kunstwerks. Denn auf allen den möglichen Ebenen des poetischen Textes, die der Wahrnehmung zugänglich sind, finden sich Gestalten u n t e r s c h i e d l i c h e r P r ä g n a n z und K o m p l e x i t ä t . Bei der selektiven Rezeption einzelner Ebenen werden vorwiegend nur diese Gestalten wahrgenommen; sobald jedoch mehrere Ebenen nacheinander rezipiert werden, treten diese „Primärgestalten" zueinander in Beziehung, wobei eine Gestalt eine andere noch hervorheben, aber auch mit ihr in Konflikt treten kann, so daß eine höhere Komplexität entsteht auf Kosten der Prägnanz der Primärgestalten. Ein Beispiel für eine hohe Prägnanz, die auf semantischem, syntaktischem, morphologischem, phonologischem und rhythmischem Parallelismus beruht, bei dem die parallelisierten Elemente also nicht im Konflikt zueinander stehen, sondern dem Gestaltgesetz der „gemeinsamen Bewegung" folgen, 34 enthält der folgende Vers: (31)

Das Schießgewehr schießt, und das Spießmesser spießt (Brecht, „Ballade vom Weib und dem Soldaten")

Was der Rezipient, der diesen Vers mit nicht fokusorientierter Aufmerksamkeit rezipiert, wahrnimmt, ist eine zwar komplexe, aber noch immer prägnante „synthetische Sekundärgestalt". 33

34

Ingarden führt folgende „Schichten" auf: ,,a) die Schicht der Wortlaute und der sprachlautlichen Gebilde und Charaktere höherer Ordnung, b) die Schicht der Bedeutungseinheiten: der Satzsinne und der Sinne ganzer Satzzusammenhänge, c) die Schicht der schematisierten Ansichten, in welchen die im Werk dargestellten Gegenstände verschiedener Art zur Erscheinung gelangen, und d) die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, welche in den durch die Sätze entworfenen intentionalen Sachverhalten dargestellt werden" (Ingarden 1968/1975: 42). Vgl. die in diesem Zusammenhang sehr interessante Arbeit von Schmid 1977, hier besonders S. 78f.

96

Die Wahrnehmung des poetischen Textes

Das folgende Beispiel illustriert, in welchem Ausmaß prägnante Primärgestalten der unterschiedlichsten Ebenen (vornehmlich Parallelismen), indem sie selber in einen übergreifenden Parallelismus integriert sind, eine Gesamtgestalt von hoher Prägnanz ergeben können; es illustriert zugleich aber auch, daß eine Durchbrechung der Parallelisierung paralleler Primärgestalten die Komplexität dieser Gesamtgestalt sprunghaft ansteigen läßt: (32)

Her f