Sprache, Raum und Aufmerksamkeit: Eine kognitionswissenschaftliche Untersuchung zur Semantik räumlicher Lokations- und Distanzausdrücke [Reprint 2012 ed.] 9783110927061, 9783484304321

The study examines the semantics of spatial expressions, notably spatial prepositions and distance adjectives, and the w

186 112 8MB

German Pages 234 [240] Year 2001

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Räumliche Relationen in Sprache und Raum
1.2 Zum Terminus „Räumliche Relation“
1.3 Der interdisziplinäre Zirkel der Charakterisierung räumlicher Relationen
1.4 Beobachtungen zur Beziehung von Sprache und Raum
1.5 Distanzen und räumliche Relationen
1.6 Kognitionswissenschaft
1.7 Ziel und Inhalt der Arbeit
2 Räumliche Relationen
2.1 Nicht-sprachliche räumliche Relationen
2.2 Sprachliche räumliche Relationen
3 Aspekte der Semantik räumlicher Ausdrücke
3.1 Die Semantik lokaler Präpositionen
3.2 Die Semantik von Dimensions- und Distanzadjektiven
3.3 Zur Kombination von Distanz- und Lokationsausdrücken
3.4 Räumliche Relationen ohne Lokalisierung: Aspekte der Semantik von folgen
3.5 Fazit
4 Aspekte fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit
4.1 Vorwort: Warum eine Betrachtung visueller Aufmerksamkeit?
4.2 Ein Wort der Vorsicht zum Thema „Aufmerksamkeit“
4.3 Aufmerksamkeit versus Augenbewegungen
4.4 Der funktionale Aspekt: Selektivität der Aufmerksamkeit
4.5 Der qualitative Aspekt: Raum-basierte vs. Objekt-basierte Ansätze fokussierter Aufmerksamkeit
4.6 Der operationale Aspekt: Visuelle Suche
4.7 Der Repräsentationsaspekt: Object-Files
4.8 Mechanismen der Aufmerksamkeit und Raumrepräsentation: Der neuropsychologische Aspekt
4.9 Zusammenfassung
5 Aufmerksamkeit und räumliche Relationen
5.1 Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit für die Repräsentation räumlicher Relationen
5.2 Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit für die Semantik räumlicher Ausdrücke
5.3 Computermodellierung aufmerksamkeitsbasierter räumlicher Relationen
6 Aufmerksamkeitsbasierte Modellierung räumlicher Relationen
6.1 Nicht-sprachliche räumliche Relationen
6.2 Sprachlich räumliche Relationen
6.3 Die Beziehung nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen
7 Aufmerksamkeitsbasierte Semantik räumlicher Ausdrücke
7.1 Lokale Präpositionen
7.2 Dimensions- und Distanzausdrücke
7.3 Kombinatorik von Präpositionen und Distanzausdrücken
7.4 Computerlinguistische Modellierung
8 Fazit der Arbeit
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Namensregister
Sachregister
Recommend Papers

Sprache, Raum und Aufmerksamkeit: Eine kognitionswissenschaftliche Untersuchung zur Semantik räumlicher Lokations- und Distanzausdrücke [Reprint 2012 ed.]
 9783110927061, 9783484304321

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Linguistische Arbeiten

432

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Hans Jürgen Heringer, Ingo Plag, Heinz Vater und Richard Wiese

Kai-Uwe Carsteriseri

Sprache, Raum und Aufmerksamkeit Eine kognitionswissenschaftliche Untersuchung zur Semantik räumlicher Lokations- und Distanzausdrücke

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Carstensen, Kai-Uwe: Sprache, Raum und Aufmerksamkeit : eine kognitionswissenschaftliche Untersuchung zur Semantik räumlicher Lokations- und Distanzausdrücke / Kai-Uwe Carstensen. - Tübingen : Niemeyer, 2001 (Linguistische Arbeiten ; 432) Zugl.: Osnabrück, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-484-30432-4

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1

Einleitung 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

2

3

IX

Räumliche Relationen in Sprache und Raum Zum Terminus „Räumliche Relation" Der interdisziplinäre Zirkel der Charakterisierung räumlicher Relationen Beobachtungen zur Beziehung von Sprache und Raum Distanzen und räumliche Relationen Kognitionswissenschaft Ziel und Inhalt der Arbeit

1 1 2 5 7 9 10 12

Räumliche Relationen

14

2.1 Nicht-sprachliche räumliche Relationen 2.1.1 Ontologische Aspekte 2.1.2 Repräsentationsaspekte 2.1.3 Modellierung räumlicher Relationen 2.2 Sprachliche räumliche Relationen 2.2.1 Referenzrahmen 2.2.2 Repräsentationsebenen 2.2.3 Modellierung sprachlich räumlicher Relationen 2.2.4 Zusammenfassung/Kritik

14 14 15 25 40 40 43 47 51

Aspekte der Semantik räumlicher Ausdrücke

52

3.1 Die Semantik lokaler Präpositionen 3.1.1 Regionen 3.1.2 Der Lokalisierungsansatz 3.1.3 Raumkonzepte und funktionale Relationen 3.1.4 Differenzierung von an und bei 3.2 Die Semantik von Dimensions- und Distanzadjektiven 3.3 Zur Kombination von Distanz- und Lokationsausdrücken 3.3.1 Problemstellung 3.3.2 Der Ausschluß von Konzept-Unverträglichkeit 3.3.3 Syntaktisch-semantische Aspekte 3.4 Räumliche Relationen ohne Lokalisierung: Aspekte der Semantik von folgen 3.5 Fazit

52 52 55 58 64 71 73 73 74 76 80 83

VI 4

Aspekte fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit

85

4.1 4.2 4.3 4.4

85 87 88 89 89 90 91

4.5

4.6 4.7 4.8

4.9 5

6

Vorwort: Warum eine Betrachtung visueller Aufmerksamkeit? Ein Wort der Vorsicht zum Thema „Aufmerksamkeit" Aufmerksamkeit versus Augenbewegungen Der funktionale Aspekt: Selektivität der Aufmerksamkeit 4.4.1 Selektion und Aufmerksamkeit 4.4.2 Ausrichtung („orienting") der Aufmerksamkeit 4.4.3 „Frühe" vs. „Späte" Selektion Der qualitative Aspekt: Raum-basierte vs. Objekt-basierte Ansätze fokussierter Aufmerksamkeit 4.5.1 Metaphern raum-basierter Aufmerksamkeit 4.5.2 Modelle Objekt-basierter Aufmerksamkeit 4.5.3 Synthese Raum- und Objekt-basierter Modelle 4.5.4 Perzeptuelle Gruppen und Hierarchien Der operationale Aspekt: Visuelle Suche Der Repräsentationsaspekt: Object-Files Mechanismen der Aufmerksamkeit und Raumrepräsentation: Der neuropsychologische Aspekt 4.8.1 Raum-basierter Neglekt 4.8.2 Die Verarbeitung hierarchischer Stimuli 4.8.3 Neglekt in unterschiedlichen Referenzsystemen 4.8.4 Objekt-basierter Neglekt 4.8.5 Mechanismen der Aufmerksamkeit und ihre Lokalisierung Zusammenfassung

Aufmerksamkeit und räumliche Relationen

93 93 95 97 98 100 104 106 107 108 109 110 111 112 115

5.1 Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit für die Repräsentation räumlicher Relationen 5.2 Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit für die Semantik räumlicher Ausdrücke 5.3 Computermodellierung aufmerksamkeitsbasierter räumlicher Relationen

117 119

Aufmerksamkeitsbasierte Modellierung räumlicher Relationen

121

6.1 Nicht-sprachliche räumliche Relationen 6.1.1 Zur Unterscheidung expliziter und impliziter räumlicher Relationen 6.1.2 Mikroperspektivierung: Die Etablierung expliziter räumlicher Relationen

121 121

6.1.3 6.1.4

Eigenschaften von Mikroperspektiven Formale Modellierung von Mikroperspektiven

115

124 125 126

VII 6.2 Sprachlich räumliche Relationen 6.2.1 Eigenschaften sprachlich räumlicher Relationen 6.2.2

Vermittlung von Lageinformation ohne explizite Lokalisierung

128 128 131

6.2.3 Der LamP-Ansatz sprachlicher Lokalisierung 6.3 Die Beziehung nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen

136 139

Aufmerksamkeitsbasierte Semantik räumlicher Ausdrücke

144

7.1 Lokale Präpositionen 7.1.1 Allgemeine Aspekte der Semantik lokaler Präpositionen 7.1.2 Dimensionale Präpositionen 7.1.3 Vertikale Präpositionen 7.1.4 an, bei, auf und in 7.1.5 Räumliche Präpositionen im Sprachvergleich 7.2 Dimensions- und Distanzausdrücke 7.2.1 Semantische und konzeptuelle Aspekte dimensionaler Adjektive 7.2.2 Graduierung und Aufmerksamkeit 7.2.3 Aufmerksamkeitsbasierte Semantik der Graduierung 7.3 Kombinatorik von Präpositionen und Distanzausdrücken 7.3.1 Konzeptuelle Verträglichkeit 7.3.2 Semantische Komposition 7.4 Computerlinguistische Modellierung 7.4.1 OSKAR 7.4.2 GROBI

144 144 145 148 152 156 158 158 168 172 189 189 192 195 195 195

Fazit der Arbeit

202

Abbildungsverzeichnis

205

Literatur

209

Namensregister

221

Sachregister

225

7

8

Vorwort

Eine Reihe von Kolleginnen und Freundinnen haben die Entstehung dieses Buches begleitet und, wenn auch oft nur indirekt, zu seiner jetzigen Form beigetragen. Bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Dank gebührt in erster Linie Christopher Habel, Siegfried Kanngießer und Claus Rollinger. Christopher Habel verdanke ich den Einstieg in die interdisziplinäre Welt der Kognitionswissenschaft. Claus Rollinger hat mir die Möglichkeit gegeben, an den fruchtbaren Jahren der Etablierung dieses Gebiets an der Universität Osnabrück teilnehmen zu können. Ihm bin ich gleichzeitig dankbar für die vielfältige Unterstützung, die er mir in meiner Zeit als wissenschaftlichem Mitarbeiter am Institut für Semantische Informationsverarbeitung an der Universität Osnabrück hat zukommen lassen. Siegfried Kanngießer verdanke ich schließlich sicher mehr, als ihm bewußt ist. Wertvolle Erfahrungen im Bereich qualitativer räumlicher Repräsentation und Verarbeitung habe ich durch die Teilnahme am SPACENET-Projekt sammeln können, was mir durch Christian Freksa mit der Aufnahme in seine Arbeitsgruppe an der Universität Hamburg ermöglicht worden ist. Dafür danke ich ihm herzlich. Zahlreiche Personen haben außerdem dazu beigetragen, daß ich meinen Untersuchungsbereich auch durch die Augen anderer betrachten konnte. Für Anmerkungen, Feedback und sonstige (un)bewußte Beiträge bedanke ich mich bei den Mitarbeitern des Instituts für Semantische Informationsverarbeitung, des Arbeitsbereichs Wissens- und Sprachverarbeitung und des Graduiertenkollegs "Kognitionswissenschaft" der Universität Hamburg, sowie den Teilnehmern meiner Veranstaltungen zu Sprache und Raum und vielen Kolleginnen. Ausdrücklich erwähnen möchte ich an dieser Stelle Michel Aurnague, Bianka Buschbeck-Wolf, Ingrid Kaufmann, Christoph Schlieder, Geoff Simmons, Petra Weiß und Kai Zimmermann. Besonderer Dank gilt Anja Krüger, mit deren Hilfe ich aufschlussreiche Vorexperimente zur Verarbeitung räumlicher Ausdrücke durchführen konnte. Weiterhin danke ich den Herausgebern der „Linguistischen Arbeiten" für die Aufnahme dieser Schrift in ihre Reihe, dabei insbesondere Heinz Vater für einige wertvolle Anregungen. Meine Familie ist mir - vor allem in schattigeren Lebenslagen - ein steter Rückhalt gewesen. Insbesondere meinen Eltern - sowie Hannah und Levke - danke ich dafür ganz herzlich. Last but not least, special thanks go to Tom Petty.

1

Einleitung „[...] one must pick up a synergetic view to the problem of spatial knowledge representation and processing because it is likely that insights and findings from Cognitive Science will fertilize future research [...]". (Stiehl 1990:95)

1.1

Räumliche Relationen in Sprache und Raum

Räumliche Relationen zwischen Objekten - so die Ausgangshypothese dieser Arbeit stellen einen zentralen Bestandteil mentaler Repräsentationen dar, so daß wir die Welt ohne solche Relationen wahrscheinlich als ein Kaleidoskop von Eindrücken wahrnehmen würden. Dies ist nicht notwendigerweise ein Nachteil für das Überleben einer Spezies. Bestimmte Arten (wie ζ. B. Bienen) sind offenbar hervorragend an eine kaleidoskopartige Wahrnehmung der Welt adaptiert: Sie finden sich im Raum zurecht, ohne Objekte aus ihrer U m w e l t auszugrenzen und die r ä u m l i c h e n Relationen zwischen ihnen explizit zu repräsentieren. Dies hat allerdings einen wesentlichen Nachteil, wie sich an einem spezifischen Beispiel zeigen läßt: Bienen finden ihren Bienenstock nicht wieder, wenn dieser nur wenige Meter von seinem Platz versetzt ist. 1 Eine solche Aufgabe des Wiederfindens von Objekten bereitet Menschen und biologisch verwandten Arten hingegen kein Problem. Wie im Verlauf der Arbeit deutlich werden wird, hat die kognitionswissenschaftliche Forschung der letzten Jahre gezeigt, daß wir den externen Raum in vielfältiger Weise repräsentieren und unsere räumliche U m w e l t insbesondere (auch) als Beziehungen zwischen räumlichen Objekten wahrnehmen. Räumliche Relationen zwischen Objekten ergeben sich für uns als Resultate der Wahrnehmung, dienen der Koordination von Handlungen, liegen komplexeren Prozessen der Problemlösung zugrunde und sind letztendlich Voraussetzung für und Gegenstand von raumbezogener sprachlicher Kommunikation, in der sprachlich räumliche Relationen eine wesentliche Rolle spielen. Die Annahme nicht-sprachlich und sprachlich räumlicher Relationen führt zu der Frage, wie deren Beziehung zueinander beschaffen ist, so daß eine erfolgreiche Kommunikation bzgl. der Umwelt überhaupt möglich ist. Diese Frage, die seit langem im Rahmen der Untersuchung des Zusammenhangs von Wahrnehmung, Raumrepräsentation und Semantik räumlicher Ausdrücke thematisiert wird (Clark 1973, Miller/Johnson-Laird 1976, Talmy 1983, Landau/Jackendoff 1993, Bloom et al. 1996), bildet den Rahmen und allgemeinen Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit. Sie wird beantwortet werden durch das Einbeziehen des kognitiven Phänomens der selektiven Aufmerksamkeit, das in diesem Zusammenhang bislang kaum eine Rolle gespielt hat.

1

M. V. Srinivasan, Vortrag auf dem IK'97 (Interdisziplinäres Kolleg 97) in Günne/Möhnesee.

2

1.2 Zum Terminus „Räumliche Relation"

Was ist eine räumliche Relation? Diese scheinbar einfache und auf einem sehr allgemeinen Niveau leicht zu beantwortende Frage (z.B. „Lagebeziehung zwischen zwei oder mehr räumlichen Objekten") ist in der Kognitionswissenschaft kaum so explizit gestellt und noch weniger in all ihren Facetten zufriedenstellend beantwortet worden. Offensichtlich ist zunächst nur, daß in einem kognitionswissenschaftlichen Forschungskontext nicht die absoluten Lagebeziehungen von Objekten in der Welt gemeint sind, sondern kognitive Pendants solcher Beziehungen, also räumliche Relationen in mentalen Repräsentationen der Welt. 2 Diese zeichnen sich insbesondere durch die Reduktion der in der Welt vorliegenden immensen Informationsmenge aus: Es erscheint prinzipiell und vor dem Hintergrund unzähliger Arbeiten zur Repräsentation von Raum höchst unplausibel anzunehmen, daß Lagebeziehungen in der Welt eine direkte Entsprechung in einer holistischen analogischen mentalen Abbildung der Welt („Karte im K o p f ) besitzen (s. z.B. Kuipers 1982, Tversky 1981) - im Gegensatz zu partiellen analogischen mentalen Abbildungen („mentalen Bildern"), deren Untersuchung insbesondere durch die Arbeiten von Kosslyn (1980, 1994) vorangetrieben wurden. Aus diesem Grund besteht ein wesentlicher Teil der Beantwortung der Frage, was eine räumliche Relation im Sinne der Kognitionswissenschaft ist, darin, die relevanten Eigenschaften der Repräsentationen externem Raums herauszuarbeiten. Anhand der Beobachtung, daß sprachlich räumliche Ausdrücke nicht direkt auf den absoluten Raum verweisen („Ordinary languages are designed to deal with relativistic space; with space relative to objects that occupy it", Miller/Johnson-Laird 1976:380), ließe sich den durch räumliche Relationen konstituierten Raumrepräsentationen eine zentrale Vermittlerrolle zwischen Sprache und Raum zuweisen, wie sie in einfachster Weise in Abb. 1 dargestellt ist.

Abb. 1 :

2

Ein 3-teiliges Modell der Beziehung Sprache-Raum

Entsprechend verweist „räumliche Relation" in dieser Arbeit grundsätzlich auf mentale Entitäten, „Lagebeziehung" auf die entsprechende Gegebenheit in der Welt.

3 Allerdings erweist sich dieses Modell als nicht geeignet, der Komplexität der Beziehung von Sprache und Raum gerecht zu werden. Es trivialisiert sowohl die Kategorisierung der Welt (indem ein begrenztes Inventar räumlicher Relationen postuliert wird, das aus sprachlich bezeichenbaren Elementen besteht) als auch die sprachliche Raumreferenz (die zur sprachlichen Kennzeichnung der Relationen degradiert wird). Dem widerspricht die beobachtbare Komplexität und Vielfalt mentaler Raumrepräsentation, ebenso wie die Vielfalt und iibereinzelsprachliche Unterschiedlichkeit sprachlichen Bezugs auf Raum (so hängt ein Bild „an der Wand", aber „on the wall", ein Auto befindet sich „auf der Straße", aber „dans la rue" usw.). Es lassen sich in der bisherigen Forschung zu diesem Thema mindestens zwei Versuche identifizieren, die Nachteile dieses Modells zu kompensieren. Der erste Lösungsversuch ist dadurch charakterisiert, daß die Repräsentation von Raum im engeren Sinn durch eine Ebene funktionaler Konzepte angereichert wird, mithilfe derer unterschiedliche „Konzeptualisierungen" einer räumlichen Gegebenheit vorgenommen werden können. Variation in sprachlicher Raumreferenz ergibt sich danach aus unterschiedlichem sprachlichen Bezug auf räumliche und/oder funktionale Relationen (ein Beispiel hierfür ist der Bezug auf SUPPORT/, Unterstützung' im Fall von on the wall, auf der Straße, auf CONTACT/, Kontakt' bei an der Wand, und auf CONTAINMENT/,Enthaltensein' bei dans la rue; zur Relevanz funktionaler Relationen s. Coventry et al. 1994). Dieser Lösungsversuch ist insofern problematisch als er nicht nur die Frage nach den Eigenschaften räumlicher Relationen offenläßt, sondern auch eine Explizierung der Eigenschaften funktionaler Relationen erfordert und außerdem den Bezug sprachlicher Ausdrücke auf eine ontologisch reichere Raumrepräsentation komplexer gestaltet. Ein Beispiel, das dieses Problem verdeutlicht und das vor allem im Sprachvergleich und bei der (maschinellen) Übersetzung sichtbar wird, liefert die Verwendung der russischen Präposition na in (1) (die in etwa der deutschen Präposition auf entspricht, s. Cienki 1989, Buschbeck-Wolf 1995:26). 3 (1)

dyrka na tschurkje („Loch im Strumpf) Loch auf Strumpf

Der zweite Lösungsversuch ist dadurch gekennzeichnet, daß die Eindeutigkeit der räumlichen Relationen angezweifelt wird, so daß einer Lagebeziehung in der Welt mehrere unterschiedliche räumliche Relationen (mit entsprechenden sprachlichen Bezeichnem) zugeordnet sein können. Gemäß dieser Betrachtungsweise läßt sich ein Einfluß verschiedener sprachlicher Bezeichnungen derselben Lagebeziehung als sprachlich induzierte unterschiedliche „Raumsicht" interpretieren, wie es insbesondere durch eine starke Interpretation der Sapir/Whorf'schen Thesen nahegelegt oder auch durch die Frage „How language structures space" (Talmy 1983) angedeutet wird. Dies würde im Extremfall jedoch eine Beliebigkeit sprachlichen Verweisens auf Raum sowie die Irrelevanz inter-

3

Man könnte einwenden, daß „na" in diesem Fall nicht als „ a u f glossiert werden muß/darf. Die Semantik von na würde dann informal folgendermaßen beschrieben werden müssen: na drückt räumliche Relationen aus, die im Deutschen durch auf ausgedrückt werden, und außerdem Relationen wie die zwischen Löchern und Strümpfen. Ich stimme dieser Sichtweise nicht zu, da sie wesentliche Aspekte der Wortbedeutung (Struktur, Zusammenhang und Motiviertheit der Teilbedeutungen, vgl. z.B. Lakoff 1987) vernachlässigt.

4 subjektiver Gemeinsamkeiten räumlicher Repräsentation und Verarbeitung bedeuten, was weder plausibel noch von theoretischem Interesse ist. Die Probleme beider Lösungsversuche legen es nahe, statt eines dreiteiligen Modells der Beziehung Welt-Sprache (Abb. 1) ein vierteiliges (Abb. 2) anzunehmen, in dem eine intersubjektiv hochgradig ähnliche Raumrepräsentation systematisch von sprachspezifisch zum Teil stark differierenden Raumkonzepten unterschieden wird. Dieses Modell entspricht der von Clark (1973) getroffenen Unterscheidung räumlichen Wissens in P(erceptual)- und L(inguistic)- space und ist in seiner dichotomen Ausrichtung verwandt mit der DualCoding-Theorie Paivios (1983).

Abb. 2:

Ein 4-teiliges Modell der Beziehung Sprache-Raum

Hierdurch werden die Eigenschaften räumlicher Repräsentationen und sprachlicher Raumkonzepte sowie ihrer Beziehung zueinander jedoch nicht geklärt. A u ß e r d e m wird in jüngerer Zeit nicht zuletzt aus Gründen der Integration unterschiedlicher, d. h. multimodaler (visueller, auditiver und haptischer, vgl. Engelkamp 1991), Aspekte räumlicher Wahrnehmung und Aktion (Motorik) eine weitere Ebene der konzeptuellen Repräsentation von Raum angenommen, die zwischen den verschiedenen räumlichen Modalitäten und den sprachlichen R a u m k o n z e p t e n vermittelt (Abb. 3). Auf dieser E b e n e wären Lagebeziehungen explizit als konzeptuelle räumliche Relationen repräsentiert, im Gegensatz zu der impliziten Repräsentation solcher Lagebeziehungen in räumlichen Koordinatensystemen der Raumrepräsentation (zur explizit/implizit-Dichotomie s. u.). Gleichzeitig ließen sich funktionale Relationen als zu dieser konzeptuellen Ebene zugehörig auffassen. Wenngleich eine Entscheidung zwischen einer der beiden letztgenannten Konzeptionen (oder sogar möglichen weiteren) hier noch offenbleiben muß, so ist doch deutlich geworden, daß die vorher postulierte, „eindeutige" Beziehung von Lagebeziehung in der Welt, mentaler räumlicher Relation und sprachlicher Relationsbezeichnung nicht mehr besteht. Aus diesem Grund ist keineswegs von vornherein ersichtlich, was unter einer räumlichen Relation zu verstehen ist und ob nicht-sprachlich räumliche Relationen (ζ. B. ÜBER) angenommen werden können, die bestimmten sprachlich räumlichen Konzepten (ζ. B. ,über') entsprechen.

5

Abb. 3:

Ein 5-teiliges Modell der Beziehung Sprache-Raum

1.3 Der interdisziplinäre Zirkel der Charakterisierung räumlicher Relationen

Zusätzlich zu dieser dem Gegenstandsbereich inhärenten Problematik ergibt sich in den einzelnen kognitionswissenschaftlichen Disziplinen in bezug auf das Vokabular „räumlicher Sprachen" zum Teil ein Zirkel gegenseitiger Bezugnahme: Während Ansätze kognitiv orientierter Modellierung räumlich-sprachlicher Ausdrücke (Linguistik, KI) auf die Erkenntnisse der Psychologie zurückgreifen, verwenden Psychologen wiederum nicht selten linguistische Terminologie. 4 So schreiben zum Beispiel Miller/Johnson-Laird zunächst folgendes: „In order to take account of spatial relations, the perceptual process must not only register place, but relations between places, which entails perception of a spatial region containing the place of the thing. [...] Thus, two things whose regions overlap can be seen in a spatial relation to each other" (Miller/Johnson-Laird 1976:59) Diese Idee einer psychologisch motivierten Charakterisierung räumlicher Relationen wird explizit von Wunderlich in die Linguistik übertragen und kennzeichnet so einen Transfer .Psychologie Linguistik': ,,Miller/Johnson-Laird[...] haben gezeigt, daß jedem Objekt eine charakteristische Region gehört, innerhalb der man mit diesem Objekt interagieren kann." (Wunderlich 1982:6)

4

Ein solcher Zirkel wird von Klein explizit motiviert: „Um es mit einem Wort von Steinthal zu sagen: .Glückliche Fortschritte in der Sprachwissenschaft setzen eine entwickelte Psychologie voraus'. Freilich vermag sich die Psychologie auf diesem Felde nur dann zu entwickeln, wenn sie es am Leitfaden der Sprache tut." (Klein 1990:41).

6 Weder diese Auffassung von räumlichen Relationen noch diese spezifische Übertragungsrichtung wird jedoch von allen Autoren geteilt. Zum Beispiel wird in der sprachpsychologisch orientierten Arbeit von Olson und Bialystok (1983) die Ansicht vertreten, daß räumliche Relationen eine Teilmenge universal gegebener Prädikate darstellen: „Conceptual categories like balls and letters of the alphabet are clearly culturally defined, but predicates, like above and below, would appear to be universal" (Bialystok/Olson 1987:516)

Diese Aussage erscheint vor dem Hintergrund festgestellter interindividueller Ähnlichkeiten in bezug auf die Wahrnehmung und Kategorisierung entsprechender Lagebeziehungen auf den ersten Blick plausibel. back

front Abb. 4:

Qualitative Repräsentation räumlicher Relationen nach Hernández (1994:75)

Eine solche Sichtweise liegt auch Ansätzen im Bereich des qualitativen räumlichen Schliessens zugrunde, in denen komplexe Strukturen mit sprachlich benannten räumlichen Kategorien verwendet werden (s. Abb. 4), und wird für das Gebiet der Computer Vision von Stiehl wie folgt begründet: „Thus in the context of computational vision, spatial properties of objects and their spatio-temporal configurations lead to spatial relations [...] which may be labelled with attributes inhering geometrical and/or topological meaning. Evidently such a labelling implies attributes which fit easily and unambiguously into linguistic (!) categories such as ,left-of', .adjacent', ,enclosed-by' et cetera." (Stiehl 1990:93f)

Auf den zweiten Blick fällt jedoch auf, daß hier sprachlich räumliche Ausdrücke (above, below, left(-of)) suggestiv verwendet werden (und daß eine Übertragungsrichtung .Linguistik Psychologie, KI' implizit vorliegt): Die postulierten Relationen sind zwar durch ihre Bezeichnungen direkt interpretierbar, es bleibt jedoch unklar, welche Eigenschaften sie aufweisen (bzw. durch welche Eigenschaften sie voneinander abgrenzbar sind) und, daraus folgend, welche Relationen zusätzlich als universal angenommen werden müssen (z. B. on, bei, na). Die Problematik dieser Sichtweise, die aus übereinzelsprachlicher Perspektive unmittelbar auf der Hand liegt, wird gegenwärtig sogar innerhalb der Psychologie eingeräumt:

7 „while spatial relations are a basic (and essential) element of several theories of object representation, they have been characterized mainly in terms of their linguistic counterparts and without direct evidence about their organization" (Hayward/Tarr, 1995:40)

Dies ist ein Zirkel, der sich nur durch eine interdisziplinäre Vorgehensweise durchbrechen läßt, in der themenspezifisch mehrere Disziplinen gleichzeitig miteinander in Beziehung gesetzt und deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Theoriebildung berücksichtigt werden (s. z.B. Landau/Jackendoff 1993). Hierfür ist es notwendig, prinzipielleUnklarheiten in der Charakterisierung der Beziehung von Sprache und Raum zu identifizieren, um diese als Fragestellungen für konkretere Analysen in diesem Bereich verwenden zu können.

1.4

Beobachtungen zur Beziehung von Sprache und R a u m

Die vorangegangene Diskussion macht deutlich, daß die Beziehung nicht-sprachlich räumlicher und sprachlich räumlicher Relationen nicht-trivial und außerdem nicht geklärt ist. Dies läßt sich als Beobachtung Β1 festhalten: B1

Es ist unklar, wie die Beziehung zwischen räumlichen Relationen beschaffen ist.

nicht-sprachlich

räumlichen

und

sprachlich

Nun wäre es möglich, daß sprachliche Raumkonzepte trotz B1 transparent strukturiert und trotz übereinzelsprachlicher Unterschiede systematisch zu nicht-sprachlichen räumlichen Relationen in Beziehung gesetzt werden können. Einer solchen Transparenz widersprechen allerdings die Charakteristika der Ausdrücke in (2), die für die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Phänomene prototypisch sind. (2)

[Situation: Die Distanz zwischen Peter und der Wand beträgt 10 cm] a. Peter steht nahe an der Wand b. §Peter steht 10 cm (weit) an der Wand 5 c. Peter steht 10 cm (weit) von der Wand entfernt

Bislang ist nicht geklärt, wieso die vorliegende «n-Relation nicht durch die ebenfalls vorliegende, genauere Distanzangabe spezifiziert werden kann (2b). Dies müßte aber der Fall sein, wenn sprachliche Ausdrücke vorliegende Gegebenheiten direkt reflektieren (zu einer detaillierten Diskussion dieses Problems s. Kap. 3). Ebenfalls ist es nicht so, daß Lagebeziehungen in jedem Fall als spezifische sprachliche Relationen kodiert (also z.B. lexikalisiert) sind. Im Mixtee, einer mexikanischen Sprache, wird zum Beispiel eine Lagebeziehung, die im Deutschen als Die Vase befindet sich auf

5

Ich werde in dieser Arbeit „§" als Markierung grammatisch korrekter, aber nicht interpretierbarer bzw. semantisch nicht wohlgeformter Ausdrücke verwenden. „*" markiert die Ungrammatikalität und „?" die Fragwürdigleit (der Verwendung) eines Ausdrucks.

8 dem Tisch verbalisiert wird, als Die Vase befindet sich Kopf des Tisches ausgedrückt. 6 Dies führt zur Beobachtung B2: B2

Es ist unklar, wie sprachlich

räumliche Relationen beschaffen

sind.

In diesem Zusammenhang stellt sich die (von Landau/Jackendoff 1993 diskutierte) Frage, worauf die beobachtbaren Beschränkungen des Inventars sprachlich räumlicher Relationsausdrücke (—» räumliche Präpositionen als eine geschlossene Klasse) zurückzuführen sind. Landau/Jackendoff (1993) diskutieren hierzu zwei mögliche Hypothesen: Die Beschränkungen könnten einerseits auf bereits in der kognitiven Raumrepräsentation vorliegenden Beschränkungen beruhen („Design of Representation Hypothesis") oder sie könnten andererseits auf eine sprachliche Filterung von ansonsten beliebig komplexen Raumrepräsentationen („Design of Language Hypothesis") zurückzuführen sein. Die Autoren plädieren, insbesondere anhand multidisziplinärer Evidenz, plausibel für die erste Alternative. Wie sieht es mit den nicht-sprachlichen räumlichen Relationen aus? Sie stehen doch in einer mehr oder weniger direkten Beziehung zu den Lagebeziehungen in der Welt, die sie repräsentieren. In Palmer (1978) ist ausführlich dargelegt, welcher Art Repräsentationsbeziehungen sein könnnen: Sie sind durch die (ausgewählten Aspekte der ) repräsentierte(n) Welt, die (ausgewählten Aspekte der) repräsentierende(n) Welt sowie durch die Abbildung der (Aspekte der) einen auf die (Aspekte der) andere(n) bestimmt. Allerdings weist schon Palmer auf den konstruktiven Charakter kognitiver Repräsentationsabbildungen hin. Das heißt, daß nicht von räumlichen Lagebeziehungen als Entitäten in der Welt ausgegangen werden kann (Beobachtung B3). B3

Es existieren keine räumlichen Lagebeziehungen

- als Entitäten - in der Welt.

Um dieser Beobachtung gerecht zu werden, ist es im übrigen nicht notwendig, Argumentation oder Terminologie des radikalen Konstruktivismus (s. hierzu Nüse et al. 1991) zu bemühen. Stattdessen kann auf den der kognitiven Psychologie inhärenten „kognitiven Konstruktivismus" rekurriert werden, 7 der wiederum in neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verwurzelt bzw. mit ihnen kompatibel ist („Gehirne [...] können die Welt grundsätzlich nicht abbilden; sie müssen konstruktiv sein, und zwar sowohl von ihrer funktionalen Organisation als auch von ihrer Aufgabe her, nämlich ein Verhalten zu erzeugen, mit dem der Organismus in seiner Umwelt überleben kann", Roth 1996:21, Hervorh. im Orig.). In B3 spiegelt sich gleichzeitig eine der Ursachen für die Schwierigkeiten der Theoriebildung in den Forschungsrichtungen wider, die an der mentalen Repräsentation von Raum beteiligt sind: Trotz zunehmender und konvergierender Erkenntnisse ist eine umfassende

6

7

Vgl. hierzu Claudia Brugman (1992), „Spatial Cognition: The Perspective from Theoretical Semantics", PSYCOLOQUY 3 (45), space.ó.brugman. „Dabei ist unter Kognitivem Konstruktivismus zu verstehen, daß das reiz- qua umweltverarbeitende menschliche Subjekt gerade nicht die von außen kommenden Reize mehr oder minder passiv-rezeptiv .abbildet', sondern aktiv-konstruktiv mit vorhandenen kognitiven Strukturen, sprachlichem wie nicht-sprachlichem Vor- und Weltwissen etc. verbindet und damit die .rezipierte' Information zu einem nicht geringen Teil selbst aktiv ,konstruiert'." (Nüse et al. 1991:2).

9 und hinreichend zufriedenstellende Beschreibung dieses Bereichs noch nicht gelungen (Beobachtung B4). B4

Es ist unklar, wie die Beziehung räumlicher räumlicher Relationen beschaffen ist.

Lagebeziehungen

und

nicht-sprachlicher

Es ließe sich schon aus B1 und B4 folgern, daß auch der Erkenntnisstand bzgl. der nichtsprachlichen räumlichen Relationen ungesichert ist, obwohl diese die zentrale Rolle in der Beziehung von Sprache und Raum einnehmen. Einen weiteren Beleg dafür, daß dies tatsächlich der Fall und daß eine wie auch immer geartete simple Auffassung der Repräsentation von räumlichen Lagebeziehungen inadäquat ist, liefert das als dorsale Simultanagnosie bekannte Neglekt-Phänomen (Farah 1990), bei dem eine Person nur ein Objekt (oder Teil eines Objekts) zur Zeit wahrnehmen kann (insbesondere auch von zwei direkt benachbarten oder sogar sich visuell überlappenden Objekten), „even though the patients often have full visual fields" (Allport 1993:199). Einem solchen Patienten kann es passieren, daß er das zum Anzünden der Zigarette gereichte Feuer nicht wahrnimmt - eine Erscheinung, die mit einfachen Modellen der Raumrepräsentation nicht verträglich ist (sie wird vielmehr durch attentionale Fehlfunktionen erklärt): 8 Die Intaktheit der visuellen Wahrnehmung und der prinzipielle Nachweis, daß ein räumliches Objekt erkannt wird, lassen keinen Schluß darauf zu, warum das andere Objekt sowie die räumliche Beziehung zwischen beiden nicht ebenfalls wahrgenommen wird. Dies führt zur Beobachtung B5. B5

1.5

Es ist unklar, wie nicht-sprachliche

räumliche Relationen beschaffen

sind.

Distanzen und räumliche Relationen

Anhand dieser Beobachtungen wird deutlich, daß die Beziehung von Sprache und Raum insgesamt unverstanden und vor allem der Terminus .Räumliche Relation' nicht wohldefiniert ist. Insbesondere an (2) wird deutlich, daß ein grundlegendes Verständnis von räumlichen Relationen jedoch die Voraussetzung für die Analyse komplexerer Aspekte (die Kombinatorik von Relationen und Distanzeigenschaften) und spezifischerer Problemstellungen (die Erklärung der Kompatibilitätsphänomene in Beispielen wie (2)) darstellt. Da in der Beispielsituation eine Distanz zwischen den Objekten vorliegt, ist nicht einsichtig, warum ein Ausdruck einer angemessenen Relation nicht zugleich mit einem Ausdruck der Distanz erfolgen kann. Im Rahmen dieser Arbeit steht diese spezifische Fragestellung im Zentrum des Interesses (und nicht etwa - obwohl dies sicherlich hilfreich wäre - eine vollständige Klärung des Terminus .räumliche Relation' bzw. der Beziehung .Sprache und Raum'). Ich werde zeigen, daß hiermit eine ganze Problemklasse angesprochen ist, für die aktuell und prinzipiell gegenwärtig keine Lösung existiert.

8

wobei Neglektphänome in direkter Beziehung zur Repräsentation von Raum stehen: „These data indicate space representation as the proper domain in which a disorder of neural activities responsible for neglect must be identified" (Bisiach/Vallar 1988:212).

10 Vor dem Hintergrund der angesprochenen Zirkularität ist es daher notwendig, die Thematik ,Distanzen und räumliche Relationen' aus einer ganzheitlich orientierten, interdisziplinär ausgerichteten Perspektive zu betrachten, wie sie im Rahmen der Kognitionswissenschaft eingenommen werden kann.

1.6

Kognitionswissenschaft

Kognitionswissenschaft befaßt sich mit dem menschlichen Geist 9 , d.h. mit den kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die sich in Alltagssituationen in unserem situationsangemessenen und zielorientierten Wahrnehmen, Denken, Agieren und Kommunizieren manifestieren. Diese Fähigkeiten sind traditionell in der Philosophie, der Psychologie und der Linguistik untersucht worden und werden seit der Etablierung der Kognitiven Psychologie und der Künstliche-Intelligenz-Forschung sowie seit der „kognitiven Wende" in der Linguistik 10 verstärkt interdisziplinär unter dem Oberbegriff „Repräsentation und Verarbeitung von Wissen" diskutiert. Sie basiert grundlegend auf der Annahme, daß die mit dem Denken assoziierten Strukturen und Prozesse als Aspekte eines informationsverarbeitenden Systems (Informatik) untersucht werden können und müssen („Informationsverarbeitungsparadigma"), die abstrakte, formal beschreibbare (Mathematik, Logik) Eigenschaften aufweisen, welche letzlich auch auf künstliche Systeme zutreffen können (Computerlinguistik, Künstliche-Intelligenz-Forschung). Während insbesondere die Anfänge der Kognitionswissenschaft durch das Aufkommen der Computer geprägt und sowohl Theoriebildung als auch kognitive Modellierung über lange Zeit hinweg an der Struktur der von-Neumann-Rechner („Computermetapher") und der von ihnen abgeleiteten Art der Symbolverarbeitung („Symbolverarbeitungsparadigma") orientiert waren, wird in jüngerer Zeit versucht, diese aus einem bestimmtem Blickwinkel betrachtet immer noch sinnvolle und notwendige Herangehensweise 11 durch Forschung auf anderen Ebenen (sowohl der Mikro- als auch der Makroebene) zu ergänzen: Denken wird zum einen als in realen Systemen verkörpert betrachtet und untersucht („embodied cognition"). Dies führt zu dem Versuch, einzelne Aspekte der Kognition zu isolieren und im Gehirn zu lokalisieren (Neuropsychologie/-physiologie, Neurowissen-

9

10

11

Sie befaßt sich in zunehmendem Maße auch mit dem Gehirn bzw. mit der Beziehung GeistGehirn. Diese Wende ist von Noam Chomsky eingeleitet worden und hat vor allem im Bereich der Semantik räumlicher Ausdrücke zu einer Vielzahl kognitiv-linguistischer Ansätze geführt (Bierwisch 1983, 1996, Felix et al. 1990a, Jackendoff 1983, Langacker 1983, Talmy 1983, Bierwisch/ Lang 1987a, Lakoff 1987, Habel 1988, Habel et al. 1989, Wunderlich/Kaufmann 1990, Lang/Carstensen/Simmons 1991). Diese Herangehensweise ist sinnvoll und notwendig, weil sie vorliegendes kontinuierliches Systemverhalten diskretisiert und kategorisiert und somit kommunizierbare Theoriebildung erst ermöglicht. Sie führt allerdings zu Problemen, wenn sich die „Symbolverarbeitungssichtweise" verselbständigt: Es muß dann einerseits eine interpretierende Instanz z. B. in Form eines zentralen Prozessors angenommen werden („Homunkulus-Problem"), andererseits entsteht das Problem der Verankerung oder Fundierung der Symbole („Symbol grounding problem", vgl. Hamad 1990).

11 Schäften), und zwar nicht nur im Rahmen menschlicher Hirnforschung, sondern auch anhand der Untersuchung anderer Lebewesen ((Neuro-)Biologie) und anhand informatischer Methoden (Neuroinformatik). Wesentliche Fortschritte sind dabei vor allem durch eine Kombination von Mikro- und Makroaspekten erreicht worden, wie sie seit längerem aus der Neuro-/Patholinguistik (z.B. Aphasiologie) bekannt sind 12 : aus der Korrelation von Gehirnläsionen und spezifisch gestörtem Verhalten wird auf die Beeinträchtigung bestimmter Gehirnfunktionen geschlossen, deren Rolle f ü r entsprechende Denkstrukturen/-prozesse analysiert und diskutiert werden kann (Neuropsychologie). Gleichzeitig ermöglichen neuere physikalisch-technische Diagnoseverfahren (z.B. zum „Brain imaging" durch Positronen-Emissions-Tomogramm (PET) -Abbildungen oder zur Messung von Gehirnströmen als ereigniskorrelierter Potentiale (ERPs)) zunehmend detaillierte Untersuchungen auch am „gesunden" Gehirn (Neurophysiologie). Schließlich wird die Relevanz von Erscheinungen auf der Makroebene immer deutlicher. Intelligentes Verhalten wird mehr und mehr als notwendigerweise auf der Interaktion (Soziologie, Verhaltensbiologie) und Kommunikation (Kommunikationswissenschaft) mit anderen Lebewesen beruhend aufgefaßt und entsprechend auch in kulturspezifischen Kontexten untersucht (Kognitive Anthropologie). Forschungsbestrebungen innerhalb der Künstlichen Intelligenz verlagern sich daher zunehmend in die Erforschung/ Konstruktion von „Künstlichem Leben" („Artificial Life"), was dazu führt, intelligente Roboter nicht mehr als isolierte Systeme, sondern als Teil einer Mikrogesellschaft auftretend zu entwickeln. Diese Ausführungen kennzeichnen Kognitionswissenschaft eindeutig als ein multidisziplinär ausgerichtetes Untérfangen. Allerdings stellt sich seit jeher die Frage nach ihrem Selbstverständnis und institutionellen Status: Ist Kognitionswissenschaft als die Summe bzw. als eine zweckgebundene Gruppierung der beteiligten, oben aufgeführten Disziplinen zu betrachten („Kognitionswissenschaften") oder ist sie als eigenständiges Summenobjekt („Kognitionswissenschaft") zu verstehen, das bekanntlich mehr ist als die Summe seiner Teile (in diesem Fall müßte dieses „mehr" dann charakterisiert und genauer spezifiziert werden)? Gardner (1992) unterscheidet in diesem Zusammenhang eine „schwache" und eine „starke" Version von .Kognitionswissenschaft'. Die schwache Version, die der Summeninterpretation von Kognitionswissenschaft entspricht, kennzeichnet er dabei als die gegenwärtig übliche und praktizierte Interpretation dieses Terminus: Die genannten Disziplinen kooperieren im Hinblick auf das gemeinsame Ziel der Erforschung von Kognition, verfolgen aber ansonsten ihre primären Fragen, Methoden und Ziele. Diese Vorgehensweise hat sicherlich schon zu erheblichen Fortschritten und insbesondere zur Einrichtung interdisziplinärer Forschungsprogramme und -einrichtungen geführt. Sie birgt jedoch grundsätzliche Probleme, die von Roth wie folgt beschrieben werden: „Dabei hat sich jedoch gezeigt, daß die Schwierigkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit im kognitionswissenschaftlichen Bereich viel größer sind als angenommen. Eine fruchtbare Zusammenarbeit kommt in vielen Fällen erst nach Jahren zustande. Das größte Hindernis bei der gemeinsamen Arbeit sind Statusprobleme der beteiligten Wissenschaften, gefolgt von der weit-

12

„Language has had the longest history of study within neurology of any cognitive system" (Posner/Raichle 1994:106).

12 gehenden Unkenntnis des Problembewußtseins, der Begriffssysteme, des Wissensstandes und des methodisch-praktischen Vorgehens in den jeweils anderen Disziplinen" (Roth 1996:10).

Angesichts dieser Schwierigkeiten verdient diese Version der Kognitionswissenschaft „kaum das Etikett einer bedeutenden neuen Wissenschaft" (Gardner 1992:407). Demgegenüber stellt sich die starke Version für Gardner als eine Interpretationsmöglichkeit dar, nach der sich disziplinare Grenzen und Bindungen langsam auflösen, so daß die Bildung einer eigenen Disziplin sinnvoll und möglich wird. Dies beinhaltet eine grundsätzliche Umgestaltung der Fragen, Methoden und Ziele und erfordert ein radikales Umdenken, das er, im Gegensatz zur konventionellen Arbeitsteilung der schwachen Version, folgendermaßen charakterisiert: „Ich vertrete eine völlig andere, bislang noch umstrittene Meinung. Aus meiner [...] Sicht sind die wirklich wichtigen Grenzlinien in der Kognitionswissenschaft nicht die gleichen wie die der traditionellen Disziplinen, sondern vielmehr die zwischen speziellen kognitiven Inhalten. Darum sollten Wissenschaftler nach dem Kognitionsbereich definiert werden, der im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht [...]" (Gardner 1992:407)

In einer so verstandenen Kognitionswissenschaft rückt offenbar die Interdisziplinarität in den präsupponierten Hintergrund, während der Aspekt der themenorientierten Forschung mit dem Ziel der Integration der Erkenntnisse aus den beteiligten Disziplinen stärker betont wird. Ausgangspunkt kognitionswissénschaftlicher Forschungstätigkeit sind jeweils in einem bestimmten Themenbereich existierende Probleme, die in diesen Disziplinen einzeln nicht lösbar (zum Teil nicht einmal sichtbar) sind.

1.7

Z i e l u n d Inhalt d e r A r b e i t

Eingebettet in den Themenbereich der Untersuchung räumlicher Relationen und ihrer Eigenschaften im Kontext der Beziehung Sprache und Raum beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der spezifischen Problemstellung der Kombinatorik von Distanz- und Relationsausdrücken. Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Beantwortung der Frage, worauf die spezifische Inkompatibilität von Distanzangaben und Präpositionen in Ausdrücken wie (2b), hier wiederholt, zurückzuführen ist. (2)

[Situation: Die Distanz zwischen Peter und der Wand beträgt 10 cm] a. Peter steht nahe an der Wand b. §Peter steht 10 cm (weit) an der Wand c. Peter steht 10 cm (weit) von der Wand entfernt

Hierzu wird zunächst untersucht, wie räumliche Relationen im allgemeinen sowie die Beziehung nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen im besonderen beschaffen sind. Als Resultat der Integration multidisziplinärer Ergebnisse bzw. Erkenntnisse zu dieser Thematik wird ein kognitives Modell der Repräsentation und Verarbeitung der involvierten Aspekte entwickelt, anhand dessen eine erklärende Antwort auf die Ausgangsfrage im Rahmen einer kognitiven Semantik räumlicher Ausdrücke gegeben werden kann. Als heuristisches methodisches Werkzeug bei der Theoriebildung wird eine computer-

13 linguistische Modellierung der Kombinatorik räumlicher Ausdrücke und ihrer Beziehung zu räumlichen Wissensstrukturen durchgeführt. Im zweiten Kapitel wird eine allgemeine Synopsis zentraler Aspekte nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen vorgenommen und es werden ausgewählte Ansätze ihrer Modellierung betrachtet. Es dient dazu, das Spektrum der Eigenschaften räumlicher Relationen von einem kognitionswissenschaftlichen Standpunkt aus zu beleuchten. Das dritte Kapitel nimmt eine eingeschränktere, kognitiv-linguistische Perspektive ein und untersucht die für die Arbeit relevanten Aspekte der Semantik räumlicher Ausdrücke. Dabei stehen die Semantik lokaler Präpositionen und die der Distanzadjektive im Mittelpunkt des Interesses, ebenso wie die syntaktisch-semantischen Aspekte ihrer Kombination. Es wird sich zeigen, daß die gegenwärtigen Ansätze der Modellierung sprachlich räumlicher Relationen die im Rahmen der Besprechung diskutierten Probleme nicht hinreichend gut behandeln können (was entsprechende Rückschlüsse auf die Erkenntnis über das in den Beobachtungen 1-5 aufgezeigte Beziehungsgeflecht sprachlich und nicht-sprachlich räumlicher Relationen zuläßt). Stattdessen werden Hinweise für die Notwendigkeit gesammelt, die Wahrnehmung bzw. Perspektivierung von Raum explizit zu modellieren. Im vierten Kapitel wird daher das Konstrukt ,fokussierte selektive Aufmerksamkeit' detailliert betrachtet, im fünften Kapitel seine Rolle - nämlich die Etablierung expliziter Relationen zwischen Objekten - für die Repräsentation von Raum und für die Semantik sprachlicher Ausdrücke untersucht. Auf der Grundlage der Ergebnisse hiervon schlage ich im sechsten Kapitel dann eine aufmerksamkeitsbasierte Modellierung räumlicher Relationen vor. Dabei werden die Termini , Mikroperspektivierung ' (als aufmerksamkeitsbasiertes „missing link" zwischen Sprache und Raumrepräsentation) und ,Mikroperspektive' (als Kern einer explizit repräsentierten räumlichen Relation) eingeführt. Hierauf aufbauend werde ich im siebten Kapitel einen Vorschlag für eine aufmerksamkeitsbasierte Semantik räumlicher Ausdrücke erarbeiten, die sowohl die Phänomene sprachlich ausgedrückter Lokalisierung als auch solche sprachlich ausgedrückter Graduierung u m f a ß t und a n h a n d derer die (Ink o m p a t i b i l i t ä t e n räumlicher Adjektive und Präpositionen erklärt werden können. Schließlich wird die prototypische Implementation dieses Ansatzes, das System GROBI, vorgestellt. Die vorliegende Arbeit ist somit ein kognitionswissenschaftliches Unterfangen, in dem ein spezifisches linguistisches Problem als Ansatzpunkt für die Behandlung einer allgemeinen Thematik verwendet wird, wie sie von jeder der beteiligten Disziplinen einzeln nicht geleistet w e r d e n kann. Sie hat eine sprachlich b z w . computerlinguistisch ausgerichtete S c h w e r p u n k t s e t z u n g („sprachlich orientierte Kognitionswissenschaft", „kognitive Computerlinguistik") und ist, was die eingenommene kognitiv-linguistische Perspektive betrifft, grundsätzlich einer Auffassung verpflichtet, die von Schwarz wie folgt charakterisiert wird: „Das kartesianische Vertrauen auf die Introspektion engt [...] die Methodik der Linguistik erheblich ein. Gerade im kognitiven Bereich sind Introspektion und Informantenbefragung unzureichende Verfahren zur Ermittlung struktureller und prozeduraler Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien. [...] Linguistische Modelle laufen Gefahr, an der kognitiven Realität vorbei zu theoretisieren, wenn sie nicht genügend externe Evidenzen aus der empirisch - experimentellen Kognitionsforschung berücksichtigen." (Monika Schwarz, Einführung in die Kognitive Linguistik, S. 43)

2 Räumliche Relationen „At present [...] there is little empirical evidence for the exact structure of either spatial prepositions or visual representations of spatial relations." (Hayward/Tarr 1995:47)

2.1

2.1.1

Nicht-sprachliche r ä u m l i c h e Relationen

Ontologische Aspekte

Freksa/Habel weisen darauf hin, daß ,,[d]er Begriff Raum im allgemeinen Sinne [...] aus beliebigen Elementen aufgebaute Strukturen [bezeichnet]" (Freksa/Habel 1990b:l). Dies hat zur Folge, daß für die Untersuchung räumlicher Relationen prinzipiell unterschiedliche „Räume" relevant sind, von denen die Autoren die folgenden näher betrachten: Neben dem physikalischen Raum den geometrischen Raum als Instanz abstrakter mathematischer Räume, den visuellen Raum als Instanz psychologischer (d.h. kognitiver) Räume, und den metaphorischen Raum, der sich aus der Übertragung räumlicher Eigenschaften in nichträumliche Domänen ergibt (vgl. hierzu Lakoff/Johnson 1980). Diese Begriffsbildung ist für die Strukturierung unterschiedlicher Raumaspekte sicherlich hilfreich. Sie kann aber auch irreführend sein. So suggeriert die in Kap. 1 erwähnte Dichotomie P(erceptual)- vs. L(inguistic)-space (Clark 1973) a priori eine Eigenständigkeit beider Räume, die zu der aktuellen Forschungsfrage geführt hat, welche Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede sie aufweisen. Dies lenkt jedoch von der eigentlichen, im Zentrum dieser Arbeit stehenden Fragestellung ab, wie die Beziehung mentaler Repräsentationen von externem, physikalischem Raum (perzeptuelle, konzeptuelle etc.) und Repräsentationen von Sprache (eingeschränkt auf die Teilmenge räumlicher Ausdrücke) beschaffen ist.

Mathematische Modelle

Repräsentanda

Abb. 5:

Die Beziehung (der Repräsentationen) verschiedener Raumtypen (nach Habel 1994:83)

15 Habel weist zunächst darauf hin, daß die Verwendung des Terminus .Repräsentation' feinere ontologische Differenzierungen erlaubt. Wie Abb. 5 (angelehnt an Habel 1994:83) zeigt, können mathematische Modelle (also mathematischer Raum) sowohl den psychologischen als auch den physikalischen Raum repräsentieren. 1 Interessant sind aber gerade die möglicherweise bestehenden Unterschiede beider Modelltypen. Sie werden jedoch durch eine einheitliche Redeweise von mathematischen Räumen verschleiert. 2 Anhand sprachlicher Beispiele listen Habel/Eschenbach (1995) eine Reihe nicht-sprachlicher, ontologischer räumlicher Aspekte als Raumkonzepte auf. Bzgl. einzelner Objekte sind dies - topologische Konzepte wie .innen', .außen', ,Rand' oder .Zusammenhang', - Formkonzepte wie .gerade', .gekrümmt', ,rund',,eckig', - abstrakte Dimensionalitätskonzepte (.Punkt',,Linie', .Fläche', .Körper'), - qualitativ spezifizierte Dimensionskonzepte (.Länge',,Breite', ,Höhe' etc.) und - sich aus dem Verhältnis mehrerer Dimensionen ergebender Gestaltkonzepte (,groß\ ,flach'). Bzgl. mehrerer Objekte nennen sie - mereologische Konzepte (.Inklusion', .Überlappung'), - Di'stonzkonzepte (.Kontakt', .Nachbarschaft', .Abstand'), - Anordnungskonzepte wie .zwischen', .jenseits' - Richtungskonzepte wie ,vor' und .hinter', sowie - Orientierungskonzepte (,von...nach', .hinein', ,her', .nach Süden', .westwärts'). Im folgenden werden vor allem qualitativ spezifizierte Dimensionskonzepte sowie das Zusammenspiel des korrespondierenden - in der obigen Auflistung nicht auftretenden qualitativ spezifizierten Distanzkonzepts (.Distanz') mit den entsprechenden Konzepten räumlicher Relationen näher betrachtet.

2.1.2 2.1.2.1

Repräsentationsaspekte Terminologische Unterscheidungen

In der Kognitionswissenschaft existieren eine Reihe von Klassifikationskriterien innerhalb des Bereichs der Wissensrepräsentation, die für die Untersuchung räumlicher Relationen prinzipiell relevant sind. Insbesondere stellt sich die Frage, welche der in der Literatur bekannten Kriterien/Unterscheidungen relevant für die Argumentation der vorliegenden Arbeit sein können. Hierzu gehört zunächst die Abgrenzung qualitativer von quantitativer Repräsentation von Wissen, wie sie vor allem mit dem Programm einer „naiven Physik" 1 2

Die p¡ sind dabei Repräsentationsabbildungen. Insbesondere kann dies, wie Habel (pers. Komm.) betont, zu einer unberechtigten Übertragung mathematischer Aspekte des physikalischen Raums auf solche des psychologischen Raums führen.

16 von Hayes (1979) vorgeschlagen wurde. Klassisch und vor allem relevant f ü r die Frage der Repräsentation bildhaft-räumlichen Wissens ist die Kontroverse um analogische vs. propositionale Darstellungen, die unter d e m Titel „ i m a g e r y d e b a t e " bekannt g e w o r d e n ist. 3 W e n i g e r b e k a n n t , aber wesentlich f ü r die v o r l i e g e n d e A r b e i t ist die U n t e r s c h e i d u n g explizit vs. implizit repräsentierten Wissens. Spezifische Eigenschaften räumlicher Relationen werden derzeit außerdem anhand der „What/Where"-Distinktion und im R a h m e n der Unterscheidung kategorialer von Koordinaten-Relationen diskutiert.

2.1.2.1.1

Qualitativ vs. quantitativ

I n s b e s o n d e r e i n n e r h a l b der K ü n s t l i c h e - I n t e l l i g e n z - F o r s c h u n g hat die U n t e r s c h e i d u n g qualitativer und quantitativer Repräsentation von W i s s e n z u n e h m e n d an B e d e u t u n g gewonnen. Aus theoretischen wie auch aus praktischen Gründen ist es oft sinnvoll, nicht über einer sehr feinen und oft unendlichen M e n g e an Parameterwerten zu operieren (wie im Fall numerischer Werte), sondern sich auf eine M e n g e bedeutungs- und im jeweiligen Kontext sinnvoller 4 W e r t e zu beschränken. Nach H e r n á n d e z (1994) sind qualitative Dimensionen solche, durch deren W e r t e Unterscheidungen nur soweit wie notwendig getroffen werden. Beispiele aus d e m Bereich des qualitativen r ä u m l i c h e n Schließens, in d e m qualitative Kategorien verwendet werden, sind vor allem Kalküle, in denen nur bestimmte Basiselemente (z. B. Objekte, Regionen) zugelassen sind, die durch ausgewählte Relationen zueinander in Beziehung gesetzt werden (z.B. Randell et al. 1992). Eine solche Modellierung abstrahiert somit von den spezifischen Eigenschaften des Raums. Allerdings, und dies knüpft an die obige Kritik des T e r m i n u s . R ä u m l i c h e R e l a t i o n ' an, w e r d e n auch sprachliche Kategorien ( , n a h \ , w e i t ' , ,sehr weit' etc. als W e r t e einer qualitativen Distanzdimension) und sprachlich motivierte Relatoren ( , v o r ' , .hinter', , r e c h t s _ v o n ' usw.) in den Modellen v e r w e n d e t (s. H e r n a n d e z 1994). O b w o h l in solchen A n s ä t z e n ein expliziter kognitiver A n s p r u c h nicht besteht, stellt sich, i n s b e s o n d e r e vor d e m H i n t e r g r u n d der o b i g e n Diskussion und aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive, die Frage der Fundierung/Definition solcher Kategorien.

2.1.2.1.2

Analogisch/Propositional

Die A n f ä n g e der Kognitionswissenschaft zeichnen sich im Hinblick auf die V e r w e n d u n g von F o r m a t e n zur Repräsentation von Wissen - nicht unbegründet und unmotiviert (vgl. Pylyshyn 1973) - durch eine im wesentlichen auf propositionalen Strukturen aufsetzende Forschung aus. Es war sicherlich eines der wesentlichen Verdienste Kosslyns, in der sogenannten „Imagery-Debate" mit zunehmendem Erfolg f ü r ein weiteres, bildhaftes Format zu argumentieren (Kosslyn 1980; vgl. auch die „ D u a l - C o d e - T h e o r i e " Paivios (1983)). Z e n trales A r g u m e n t hierfür war, daß sich in diesem bildhaften Format räumliches Wissen auf

3 4

S. hierzu Ned Block (ed.), Imagery. Cambridge, Mass.: MIT Press. „Sinnvoll" ist hier zu verstehen als „sinnvoll in bezug auf eine (KI-)Repräsentationsaufgabe", d. h. in bezug auf einen pragmatisch vorgegeben Zweck der Modellierung von Wissen.

17 einer bestimmten Ebene der Betrachtung analogisch, d.h. in bestimmter Hinsicht der Struktur der Welt entsprechend, darstellen läßt (s. u.). Diese insbesondere in den 70er Jahren heftig geführte Debatte um die Unterscheidung „analogisch/propositional" ist mittlerweile durch eine Ebenenzuordnung aufgelöst worden: Danach lassen sich auf einer grundlegenden Ebene der Repräsentation beliebige Informationen zwar atomar durch Propositionen darstellen. Komplementär dazu kann aber auf einer höheren Ebene insoweit von einer analogischen, d. h. in bestimmten Aspekten zum repräsentierten Phänomen korrespondierenden, Repräsentation gesprochen werden, als Repräsentandum und Repräsentat einander unter funktionalen Gesichtspunkten entsprechen (mentale Rotation, „Scanning" mentaler Bilder). Nach Palmer (1978) ist eine Repräsentation intrinsisch (~ analogisch), wenn das Repräsentat in einer nicht-arbiträren Beziehung zum Repräsentandum steht, d. h. wenn die jeweils zugeordneten Aspekte gemeinsame Eigenschaften aufweisen (z.B. Länge eines Balkens repräsentiert Lautstärke-, hier: Intervalleigenschaften der Dimensionen); andernfalls ist eine Repräsentation extrinsisch (~ propositional), wie z.B. im Fall symbolischer Benennung von Kategorien oder Dimensionswerten, die a priori keinerlei Beziehung zueinander aufweisen. Daß die analogisch/propositional-Dichotomie keine universal gültige Unterscheidung darstellt, zeigt sich außerdem darin, daß mit propositionalen Symbolstrukturen und den zugehörigen Prozessen Aspekte der Welt analogisch repräsentiert werden (z. B. Zimmermann/Freksa 1993). In bezug auf die Charakterisierung räumlicher Relationen ergibt sich vor dem Hintergrund dieser Diskussion die Frage nach der Beschaffenheit intrinsisch- und extrinsischräumlicher Repräsentationen sowie ihrer Beziehung zueinander.

2.1.2.1.3

Explizit/Implizit

Einer der Aspekte mentaler Bilder ist der, daß - ähnlich den retinotopisch organisierten Hirnregionen - in ihnen die räumlichen Relationen zwischen beliebigen Objekten/Punkten implizit gegeben sind, ohne daß all diese Relationen explizit spezifiziert/repräsentiert sind. 5 Jedoch läßt sich nicht die gesamte Welt holistisch bzw. zusammenhängend analogisch darstellen (vgl. Kuipers 1982 zu einer Kritik der entsprechenden M e t a p h e r einer „Kognitiven Karte"; s. auch Tversky 1981). Stattdessen sind mentale Bilder aktual in einem entsprechenden Medium (dem „visual buffer" Kosslyns) instantiierte Strukturen, die nach Meinung verschiedener Autoren 6 von den im Langzeitgedächtnis abgelegten propositionalen Beschreibungen (räumlicher Relationen) unterschieden werden müssen, aus denen sie generiert worden sind.

5

6

Anders ausgedrückt: „A 2- or 3-dimensional array represents the locations of individual objects explicitly and directly, but relative location is implicit and requires more computation and more computational machinery to make it explicit" (Logan 1995:108). Vgl. außerdem das Prinzip der impliziten Enkodierung in Finke (1989). Nach Hayward/Tarr ( 1 9 9 5 : 8 0 0 vertreten ζ. B. Schacter/Cooper diese Sicht, die allerdings die .explizit/implizit'-Dichotomie anders verwenden. Sie treffen die Unterscheidung .explizites vs. implizites G e d ä c h t n i s ' , w o b e i propositionale strukturelle B e s c h r e i b u n g e n d e m impliziten Gedächtnis zugeordnet sind.

18 Eine andere Verwendung der explizit/implizit-Dichotomie findet sich bei Olson/ Bialystok (1983). Sie sprechen ebenfalls von Perzepten/mentalen Bildern als von implizit räumlichen Repräsentationen. Allerdings meinen sie hiermit bereits strukturelle (propositionale) Beschreibungen. 7 Sie kontrastieren diese impliziten mit expliziten Repräsentationen, die einerseits als das Ergebnis von (fokussierter) Aufmerksamkeitszuwendung (attention) und andererseits durch ihre Assoziation mit Bedeutung charakterisiert sind. Eines ihrer Beispiele ist die Repräsentation der räumlichen Eigenschaften eines „Lollipop" bei Kindern. Obwohl diese schon frühzeitig entsprechende Objekte als solche erkennen können, ohne die spezifische räumliche Relation zwischen den Bestandteilen internalisiert zu haben, wird diese Relation erst durch Aufmerksamkeitszuwendung vom Status impliziter in den expliziter Repräsentation überführt. 8 Wie schon angesprochen ist der Ansatz Olson/Bialystoks jedoch insofern unbefriedigend, als nicht klar wird, aus welchem Basisinventar (z.B. Relationsprimitive) die propositionalen Beschreibungen zusammengesetzt sind. Entsprechend bleiben in Olson/ Bialystoks Vorschlag die hier thematisierten Fragen nach den Charakteristika sprachlich- und nichtsprachlicher räumlicher Relationen sowie nach ihrer Abbildung aufeinander unbeantwortet. Die Unterscheidung explizit/implizit selbst ist jedoch wesentlich für die vorliegende Arbeit und wird sich als äußerst relevant für die Modellierung räumlicher Relationen erweisen.

2.1.2.1.4

Die „What/Where"-Distinktion

Neurowissenschaftliche Untersuchungen jüngerer Zeit liefern starke Evidenz dafür, daß ein spezifisch für die Verarbeitung räumlicher Relationen ausgerichtetes neuronales System im Gehirn von Primaten existiert (dorsales oder „where"-System, s. Ungerleider/Mishkin 1982), das von einem vor allem bei der Objekterkennung involvierten System {dem ventralen oder ,,what"-System) unterschieden werden kann. Beiden Systemen können jeweils neuronale Pfade zugeordnet werden, die ihren Ursprung im für die frühe visuelle Verarbeitung zuständigen okzipitalen Bereich haben, dann aber unterschiedlich in den parietalen Bereich (dorsale Route) und in den temporalen Bereich (ventrale Route) führen. Funktionale Dissoziationen beider Systeme konnten anhand selektiver Läsionen der Bereiche nachgewiesen werden (s. Kosslyn 1994, 70f): Wurde der temporale Cortex eines Affen partiell operativ entfernt, so waren auf Mustererkennung basierende Aufgaben beeinträchtigt; wurde der parietale Bereich entfernt, so waren Aufgaben beeinträchtigt, für die die relative Lage von Objekten entscheidend war, während die Mustererkennung nicht beeinträchtigt war. Trotz der klaren neurophysiologischen bzw. -psychologischen Daten ist deren Interpretation in bezug darauf, was repräsentiert bzw. verarbeitet wird, keineswegs unumstritten. Einer der Kritikpunkte gegen eine kategorische Trennung von Objekt- und Rauminformation betrifft die Tatsache, daß gerade Formeigenschaften als objektkonstituierende Merkmale durch die jeweilige Lage einzelner Objektteile zueinander bestimmt sind („Objects are merely collections of parts with fixed locations relative to each other", Olson 7 8

im selben Sinn eines zugrundeliegenden Formats wie schon bei Pylyshyn (1973). „The development of form perception involves explicit attention to part of the structural descriptions employed implicitly in the recognition of objects" (Olson/Bialystok 1983:37)

19 in einem Kommentar zu Landau/Jackendoff 1993; vgl. hierzu auch Baylis/Driver 1993). Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Frage, ob in der parietalen Region tatsächlich „Raum" repräsentiert ist, denn „even the idea of a brain region specifically devoted to space is under dispute. The inferior parietal lobe, rather than being a spatial lobe, appears to be the cortical region where visual information is coded for different types of actions, some of them requiring spatial information" (Rizzolatti/Gallese 1988:237). Umstritten ist daher die von Landau/Jackendoff vorgenommene Zuordnung Raum („where") - Raumbeschreibung und Nicht-Raum („what") - Objektbeschreibung. Eine mögliche alternative Sicht besteht darin, eine Unterscheidung der Repräsentation und Verarbeitung von Objekten (Objektbeschreibung) und der Repräsentation und Verarbeitung räumlicher Relationen zwischen Objekten (Raumbeschreibung) zu treffen, wodurch Raumaspekte bei der Repräsentation von Objekten nicht kategorisch ausgeschlossen sind. Diese Problematik wird in Kap. 4 wieder aufgegriffen.

2.1.2.1.5

Koordinaten- vs. kategoriale räumliche Relationen

Räumliche Relationen können prinzipiell verschiedene oder unterschiedlich spezifizische Informationen über Lagebeziehungen repräsentieren. Unter dieser Perspektive betrachtet ergibt sich die Frage nach einer Klassifikation solcher Relationen. Kosslyn (1987) schlägt hierzu vor, Koordinaten („coordinate")- und kategoriale („categorical")-Relationen voneinander zu unterscheiden. Koordinatenrelationen spezifieren genaue („metrische") Informationen über die relative Position der beteiligten Objekte zueinander, wie sie einerseits für motorische Aktionen und andererseits für die Repräsentation konkreter Objektkonstellationen benötigt wird. Im Gegensatz dazu abstrahieren kategorische Relationen (wie above, below, near, far usw.) von konkreten Positionsinformationen. Die Unterscheidung der beiden Relationstypen läßt sich auf verschiedene Weise motivieren. Kosslyn weist z.B. auf die Analogie zur Exemplar-Typ-Differenzierung in der Objektrepräsentation hin: Ebenso wie das Wissen über Objektkategorien (,Hund') von dem Wissen über bestimmte Objekte (,Bello') unterschieden werden kann, läßt sich „typisches" Wissen über Objektrelationen (, Augen über Nase', ,Nase über Mund') von „spezifischem" (.Peter's Augenabstand') trennen. Ein weiteres Argument liefern Experimente, die auf der Zuordnung von kategorialen Relationen zu Sprache und Koordinatenrelationen zu Navigation und Handlungssteuerung beruht. Geht man von der gesicherten Evidenz für die Lateralisierung des Sprach- und des Navigationssystems aus, so ist für eine bestimmte Hirnhälfte ein Verarbeitungsvorteil für den entsprechenden Relationstyp zu erwarten. Tatsächlich kann diese Dissoziation experimentell belegt werden: Aufgaben, die vorwiegend kategoriale Relationsinformation benötigten, wurden bevorzugt linkshemisphärisch, solche, die vorwiegend Koordinateninformation benötigten, bevorzugt rechtshemisphärisch verarbeitet (s. aber Kap. 4 zu einer differenzierteren Diskussion dieser Phänomene). Die Dichotomie kategorial-koordinativ ist außerdem verwandt mit der Differenzierung „kognitiver" und „sensomotorischer" räumlicher Verarbeitung (Paillard 1987), da die genauen Koordinateninformationen über die Position eines Objekts im Raum essentiell für die Planung und Durchführung konkreter Aktionen (z. B. Greifen nach einem Objekt) ist. Es läßt sich

20 zeigen, daß bewußtes Wissen über die Lage von Objekten dissoziierbar ist von dem für die Handlungssteuerung (Zeigegesten) verwendeten Wissen (Bridgeman 1993). Die von Kosslyn vorgeschlagenen Relationstypen können allgemein durch den Kontrast sprachnah vs. sprachfern beschrieben werden. Dabei bleibt zunächst noch unklar, ob „sprachnah" auch als „sprachlich" aufgefaßt werden kann/sollte bzw. ob die Unterscheidung der beiden Relationstypen einer linguistisch relevanten Differenzierung entspricht.

2.1.2.2 2.1.2.2.1

Die Struktur räumlicher Repräsentationen Referenzsysteme

Die W a h r n e h m u n g von Raum erfordert eine komplexe Koordination unterschiedlicher sensorischer Inputs (visuell, taktil, auditiv, propriozeptiv) und motorischer Aktionen. Sensorische Inputs müssen so mit motorischen Outputs gekoppelt sein, daß trotz ständiger Veränderungen visueller Eindrücke, die z.B. durch Augen- und Kopfbewegungen hervorgerufen werden, der Eindruck einer stabilen Welt ensteht (Bridgeman et al. 1994), in der die sich tatsächlich bewegenden Objekte auch als solche erkannt werden. Nach Paillard (1987) dient eine solche sensomotorische Ebene als Vorverarbeitungsstufe für die Ebene kognitiver Repräsentation von Raum, auf der die Information über die räumliche Lage von Objekten für höhere Verarbeitungsstufen zur Verfügung gestellt wird. Es existieren verschiedene Möglichkeiten, den Ort eines Objektes zu charakterisieren. Anders ausgedrückt gibt es mehrere Referenzsysteme, in denen das Objekt verankert werden kann (Bryant et al. 1992, Bryant 1992, Carlson-Radvansky/Irwin 1993, Easton/ Sholl 1995, Feldman 1985, Kosslyn 1994:168f)- Danach können Objekte entweder bzgl. der Retina (in retinotopischen Koordinaten) oder bzgl. irgendeines Ankerpunktes im Raum (in spatiotopischen Koordinaten) lokalisiert werden. Im zweiten Fall kann die Lokalisierung bzgl. des eigenen Körpers (körperzentriert, d. h. in Kopf- oder körperbasierten Koordinaten) oder bzgl. eines anderen Objekts (allozentrisch) stattfinden, wobei im Falle allozentrischer Lokalisierung das entsprechende Objekt in bezug auf den Betrachter (betrachterzentriert) oder auf ein anderes Objekt (objektzentriert) verankert wird. Nach Paillard (1987:65ff) ist der posteriore parietale Bereich diejenige Region, in der diese Art der Repräsentation von Lagebeziehungen stattfindet. Er verweist auf Experimente, in denen Läsionen dieses Bereichs zu Beeinträchtigungen allozentrischer Lokalisierung führten, während Läsionen im frontalen Cortex mit Beeinträchtigungen egozentrischer (körperzentrierter) Lokalisierung assoziiert waren. Kosslyn (1994: 171) nimmt aufgrund neuerer Experimente eine feinere Differenzierung vor. Danach lassen sich im frontalen Cortex zwei Systeme lokalisieren, von denen das eine (angesiedelt im im prämotorischen Cortex (Areal 6)) körperbasierte, egozentrische Lokalisierungen vornimmt und vorwiegend den Nahbereich (near space) betrifft, während das andere (verortet in den „frontal eye fields" (Areal 8)) überwiegend visuell determiniert ist und daher den sogenannten Fernbereich (far space) betrifft. Allerdings sind diese Systeme eher mit der Koordination entsprechender Handlungen (Greifen nach Gegenständen bzw. Augenbewegungen) befaßt. Aus diesem Grund wird das allozentrische System bzw. die Überführung retinotopischer in spatiotopische Koordinaten („spatiotopic mapping system")

21 von Kosslyn als das eigentliche und einzige räumliche Repräsentationssystem angesehen, d. h., als System, in dem Lagebeziehungen explizit repräsentiert sind: „The areas that register properties of nearby space may be part of an .implicit' memory system, as opposed to the .explicit' representations in the spatiotopic mapping subsystem [located in the posterior parietal cortex]" (Kosslyn 1994:171). Die verschiedenen Möglichkeiten der Kodierung räumlicher Information in unterschiedlichen Referenzsystemen lassen vermuten, daß räumliche Repräsentationen nicht im Sinne einer holistischen „Kognitiven Karte" homogen strukturiert sind. Tatsächlich läßt sich eine gleichzeitige Verfügbarkeit („equiavailability", vgl. Levine et al. 1982) räumlicher Information nur eingeschränkt nachweisen (nämlich bzgl. betrachterzentrierter Repräsentationen). Bei perspektivenfreien Repräsentationen finden sich Unterschiede in der Verfügbarkeit, die auf die Achseneigenschaften der jeweiligen Referenzsysteme zurückgeführt werden können (Franklin/Tversky 1990).

2.1.2.2.2

Achsen

Charakteristisch für einige Referenzsysteme sind die Achsen, durch die die entsprechenden Referenzrahmen aufgespannt werden. Sie leiten sich aus verschiedenen Aspekten des repräsentierenden Mediums, aber auch der zu repräsentierenden Welt ab und sind sowohl von unterschiedlicher Salienz als auch von unterschiedlicher Relevanz für die Aufgabe der Lokalisierung. Unterschieden werden können einerseits die Achsen eines Objekts im Rahmen des objektzentrierten Referenzsystems, die durch Prinzipien der Symmetriewahrnehmung bestimmt und anhand weiterer Eigenschaften konzeptuell kategorisierbar sind. Lang (1987) schlägt hierzu die folgenden Kriterien vor (s. auch Lang/Carstensen/Simmons 1991): Die (Des-)Integriertheit einer Achse, mit der ihre Ausgrenzbarkeit in bezug auf die drei Raumdimensionen gemeint ist. Beispielsweise kennzeichnet die Länge eines Bleistifts eine desintegrierte Achse, während seine Dicke auf eine integrierte zweite Achse referiert, die nicht eindeutig einer Raumdimension zugeordnet werden kann. Daher ist ein Bleistift ein dreidimensionales Objekt, das nur zwei sprachlich adressierbare Achsen aufweist. Entsprechend besitzt ein Quader drei Achsen, eine Kugel nur eine. Die relative Prominenz oder Salienz einer Achse qua Wahrnehmung der jeweiligen Objektabmessung. Eine herausragende Achse kann als maximal (z. B. die Länge eines Rohres) oder als relativ „unauffällig" und nur durch ihre Substanzeigenschaft charakterisierbar (z. B. die Dicke eines Blattes Papier) ausgezeichnet sein. Die Relevanz dieses Kriteriums ist daran erkennbar, daß die entsprechenden Achsen eines Objekts aufgrund dieser Eigenschaften qualitativ determiniert sind. Beispielsweise sind Papierblätter, die flach auf dem Boden liegen, niemals „hoch", obwohl jeweils eine Achse an der Vertikalen ausgerichtet ist. Die Durchdringbarkeit des Objekts in der betreffenden Dimension. Objekte wie z.B. Brunnen oder Tassen weisen interne Achsen auf, die als „Tiefe" oder „Enge/ Weite" ausgezeichnet werden können, ansonsten sind Achsen auf die externen Abmessungen bezogen. Zusammen mit der Begrenztheit eines Objekts entlang einer Achse läßt sich

22 so das „inhärente Proportionsschema" (nach Lang) spezifizieren, das nur durch die wahrgenommenen Eigenschaften des Objekts selbst bestimmt ist. Das Umgebungs-Referenzsystem („Primärer Orientierungsraum" bei Lang) wird überwiegend durch die Wahrnehmung der Gravitation und ihrer Orthogonalität zur Erdoberfläche bestimmt. Beide Aspekte sind dabei - mit wenigen Ausnahmen - ständig und überall gegeben. Die aus dieser Ubiquität resultierende Salienz der Vertikalen (VERT-Achse) als von einer Grundfläche ausgehenden gerichteten Halbachse, die Tatsache, daß der aufrechte Gang des Menschen an der Gravitation ausgerichtet ist, sowie die normalerweise vorliegende Koinzidenz der retino- und körperzentrischen Oben-Unten-Ausrichtungen mit der Gravitationslinie bewirken die relative Dominanz der Vertikalen in der Raumrepräsentation. Dies gilt sowohl für globale Umgebungen (kanonische Orientierung nach Lang) als auch für Übertragungen auf kleinere Umgebungen (Räume) oder Objekte (inhärente Orientierung nach Lang) (Carlson-Radvansky/Irwin 1993, 1994). Die Achsen des betrachterzentrierten Referenzsystems ergeben sich aus der retinalen oder körperbezogenen Oben-Unten-Ausrichtung, der durch die Perspektive bestimmten Vorne-Hinten-Ausrichtung (OBS-Achse), sowie der zu diesen beiden orthogonal verlaufenden Links-rechts-Ausrichtung (QUER-Achse). Dabei sind die Achsen nicht gleichwertig (Franklin/Tversky 1990): Dominant ist die Betrachterachse, die insbesondere eine spezifische Gerichtetheit aufweist, während die laterale Ausrichtung inhärent relativ und auch aus diesem Grund weniger salient und ungerichtet ist.

2.1.2.2.3

Imagery und Mentale Modelle

Pylyhyn (1973) leitete mit seiner vehementen Kritik an einer repräsentationalen Auffassung von mentalen Bildern (im Gegensatz zu einer phänomenalen) die sogenannte „Imagery Debate" ein, in der die Daseinsberechtigung eines bildhaften Repräsentationsformats (neben dem propositionalen) heftigst diskutiert wurde. 9 In zahlreichen Experimenten konnten Kosslyn und andere (vgl. Kosslyn 1980, Finke/Pinker 1983, Finke 1989) zeigen, daß mentale Bilder tatsächlich Aspekte aufweisen, die bestimmten Aspekten der Welt entsprachen (s. oben die Charakterisierung analogischer Repräsentationen) und daß die beobachtbaren Phänomene nur weitaus unplausibler durch propositionale Mechanismen erklärt werden konnten. Divergenz bestand in dieser Diskussion nicht darin, daß propositionale Elemente (z. B. räumliche Relationen) bei der Repräsentation mentaler Bilder beteiligt sind, sondern welche Rolle sie im Gesamtsystem spielen. Tatsächlich nahm Kosslyn schon frühzeitig an, daß Propositionen im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden („Tiefenrepräsentation"), postulierte aber außerdem, daß mithilfe zugehöriger Prozesse aus diesen Tiefenrepräsentationen in einem besonderen Medium (dem „visuellen Puffer")

9

Dazu gehörte der Vorwurf, daß die Annahme mentaler Bilder zum Homunkulus-Problem führen (d.h. zur Frage, wer oder was die Bilder betrachtet/interpretiert) und daß eine Auffassung von „Bildern" im photographischen Sinne unangebracht und irreführend ist („photographic fallacy"), da nicht einfach Teile eines mentalen Bildes „fehlen" können - im Gegensatz zu echten Bildern. Beiden Punkten ist Kosslyn mit seinem Vorschlag eines komplexen Repräsentationssystems entgegnet, das sich durch ein Zusammenspiel von Strukturen und Prozessen auszeichnet.

23 „Oberflächenrepräsentationen" erzeugt werden, die wiederum spezifische analogische Eigenschaften aufweisen. Während Kosslyn lange Zeit die Generierung mentaler Bilder mit einer Abbildung („depiction") propositional gegebener Information auf einem Bildschirm verglich (sog. „cathode ray tube"-Metapher), konnte Farah (1985) mithilfe bildgebender Verfahren (PET 10 scans) zeigen, daß sowohl bei visueller Wahrnehmung als auch bei Imagination dieselben Hirnareale aktiviert sind, was die Annahme unterstützt, daß der visuelle Puffer sowohl top-down als auch bottom-up angesprochen werden kann. Entsprechend ist die gegenwärtige Ansicht Kosslyns die, „that the visual buffer corresponds to a set of topographically mapped visual areas in cortex" (Kosslyn 1994:388). Sowohl die eigene Struktur des Puffers sowie die strukturerhaltende Abbildung retinaler Abbildungen in den hinteren Hirnarealen erklären so dessen spezifische analogische Repräsentationseigenschaften. Aus unterschiedlichen Gründen läßt sich neben dem bildhaften und sprachlich-propositionalen (vgl. die Dual-Code-Theorie Paivios, Paivio 1983) für ein weiteres, a-, inter-, multi- oder supramodales Format argumentieren (vgl. hierzu auch Engelkamp 1991), in dem nicht-sprachliche räumliche Relationen kodiert werden können. Allein die Überlegung, daß räumliches Wissen neben der visuellen Wahrnehmung über andere Modalitäten (haptisch, auditiv, propriozeptiv) erlangt werden kann (Haber et al. 1993), zeigt, daß integrierte räumliche Repräsentationen außerhalb der Domäne visueller Wahrnehmung spezifiziert sein müssen. Bryant spricht daher von einem umfassenden Räumlichen Repräsentationssystem (Spatial Representation System, SRS, Bryant 1992), das diese integrative Funktion erfüllt. Johnson-Laird (1983) betont mit seinem Begriff der Mentalen Modelle den analogischen Charakter entsprechender Kurzzeitrepräsentationen, die sich von mentalen Bildern durch die Abstraktion von spezifischen Perspektiven auszeichnen, aber trotzdem jeweils eine spezifische Struktur darstellen: „I shall assume that images correspond to views of models [...] Models, like images, are highly specific [...] You cannot form an image of a triangle in general, but only of a specific triangle." (Johnson-Laird 1983:157)

Die Eigenschaften solcher mentalen Modelle werden seit Mani/Johnson-Laird (1982) insbesondere aus der Perspektive des Textverstehens untersucht. Dabei wird angenommen, daß beim Verstehen räumlicher Beschreibungen nicht nur eine sprachliche Repräsentation der Textstruktur, sondern auch ein Modell des jeweils beschriebenen Weltausschnitts erstellt wird (Glenberg et al. 1987, Payne 1993, Taylor/Tversky 1992, Wender 1989, Wilson et al. 1993). Um dies nachzuweisen, gaben Mani/Johnson-Laird Versuchspersonen Beschreibungen räumlicher Relationen wie in (1) vor. (1)

The spoon is to the left of the knife. The plate is to the right of the knife (bestimmt) /spoon (unbestimmt). The fork is in front of the spoon. The cup is in front of the knife.

Die Hälfte der Beschreibungen war bestimmt (entsprach einer einzigen möglichen Konstellation), die andere unbestimmt (entsprach mehr als einer möglichen Konstellation). Die 10

„PET" ist ein Akronym für „Positronen-Emissions-Tomographie".

24 VPs mußten zunächst entscheiden, ob ein nach einer Beschreibung vorgegebenes Modell (s. (2) zu Beispielen) dieser entsprach oder nicht. (2)

Modell d. best. Beschr. spoon knife plate fork cup

M o d e l l e d. unbest. B e s c h r . spoon knife plate spoon fork cup fork

plate

knife cup

Sie mußten dann bzgl. einer jeweils dargebotenen zweiten Beschreibung einschätzen, ob sie mit der ersten übereinstimmte (.original'), aus ihr inferierbar war oder weniger mit ihr übereinstimmte (zwei weitere Bewertungskategorien). Inferierbare Beschreibungen enthielten Sätze wie „The fork is to the left of the cup". E s zeigte sich, daß .bestimmte' Beschreibungen insgesamt korrekter eingeschätzt wurden als .unbestimmte', daß aber 'unbestimmte' Beschreibungen besser wiedererkannt (als .original' eingeschätzt) wurden als .bestimmte'. Mani/Johnson-Laird erklären diese Ergebnisse dadurch, daß eine .bestimmte' Beschreibung zur Bildung eines nicht-sprachlichen mentalen Modells führt, auf das bei der Beurteilung der zweiten Beschreibung zurückgegriffen wird (daher die häufige Verwechslung .originaler' mit .inferierter' Beschreibungen). Im Gegensatz dazu führt die Uneindeutigkeit in der Modellbildung bei .unbestimmten' Beschreibungen dazu, daß die entsprechenden propositionalen Repräsentationen besser memoriert werden. Eine wesentliche Eigenschaft mentaler Modelle, daß bestimmte Informationen „direkt sichtbar/ ablesbar" sind (die ,inferierten' in dem vorangegangenen Experiment), wurde auch anhand der Zugänglichkeit von Informationen bei räumlichen Situationsbeschreibungen (Morrow et al. 1987, Glenberg et al. 1987, Morrow et al. 1989). Hier zeigte es sich ebenfalls, daß die Eigenschaften eines aufgebauten Situationsmodells relevanter waren als die Struktur der sprachlichen Oberflächenorganisation des jeweiligen Textes. Mentale Modelle sind nach Ansicht dieser Autoren räumliche Repräsentationen im visuellräumlichen Arbeitsspeicher („the mental model consists of representational elements arrayed in the spatial medium of the visuo-spatial scratchpad", Glenberg/Langston 1992:130). Notwendige Änderungen in einem mentalen Modell stehen ihrer Meinung nach in engem Zusammenhang mit dem Mechanismus der fokussierten Aufmerksamkeit. Dieser Mechanismus führt auch zur Erkennung (.noticing') räumlicher Relationen zwischen Objekten, die propositional im Langzeitgedächtnis abgelegt werden: „ W e p r o p o s e that w h e n e v e r a mental m o d e l is u p d a t e d (by a d d i n g , deleting or m o v i n g a representational element), attention is f o c u s e d on that element. F o l l o w i n g the .spotlight' metaphor of attention, w e p r o p o s e that other representational elements in the spatial vicinity of the updated elements are noticed. When this occurs, the relationship between the updated element and those noticed is e n c o d e d and stored ( p r o p o s i t i o n a l l y ) a l o n g with other p r o p o s i t i o n s f r o m the t e x t " (Glenberg/Langston 1 9 9 2 : 1 3 1 )

Allerdings muß außerdem die repräsentierte Betrachterperspektive in mentalen Modellen berücksichtigt werden. Bryant et al. (1992) konnten zeigen, daß, je nachdem welche Perspektive ein anhand von Erzählungen aufgebautes Situationsmodell aufwies, der oben erwähnte Unterschied der gleichzeitigen Verfügbarkeit von Informationen (bei repräsentierter interner Perspektive) und achsenabhängiger Unterschiede in der Verfügbarkeit (bei repräsentierter externer Perspektive) auftritt. Dies führt schließlich zu einer verallgemeinerten Auffassung von mentalen Modellen („spatial frameworks"): „there appears to

25 be a family of spatial frameworks that depend on the spatial array to be represented, the viewpoint of the observer, and other factors as well" (Bryant et al. 1992:97).

2.1.3

Modellierung räumlicher Relationen

Es ist leicht einsehbar, daß die Modellierung räumlicher Relationen aufgrund der Unterschiede der beteiligten Disziplinen sowie der gesetzten Schwerpunkte und Perspektiven zu einer Vielzahl unterschiedlicher Ansätze geführt haben. Die im folgenden vorgenommene Einteilung der betrachteten Arbeiten richtet sich danach, ob ein bestimmter Formalismus primär dazu verwendet bzw. entwickelt wurde, um bestimmte Schlüsse ziehen zu können möglicherweise kognitiv motiviert, aber ohne in erster Linie die kognitive Adäquatheit der Repräsentationsannahmen zu betonen - , oder ob die Eigenschaften mentaler Repräsentationen von Raum im Zentrum des Interesses stehen bzw. vorrangig berücksichtigt wurden. Ansätze des ersten Typs sind im Bereich des „qualitativen räumlichen Schliessens" innerhalb der Künstlichen Intelligenz anzusiedeln und verwenden propositionale Strukturen, deren Eigenschaften bestimmten Aspekten der Welt entweder (zum Teil) entsprechen (intrinsische Modellierung) oder in denen dies der logischen Tradition entsprechend nicht der Fall ist (extrinsische Modellierung). 11 Ansätze des zweiten Typs sind dagegen alle in irgendeiner Weise aus der in den 70er und 80er Jahren geführten Debatte um nicht-propositionale Repräsentationsformate hervorgegangen. Hierbei geht es z. B. um die Frage, welche Aspekte räumlichen Wissens in mentalen Bildern (Kosslyn), mentalen Modellen (Johnson-Laird) oder wahrnehmungsbasierten konzeptuellen propositionalen Strukturen (Jackendoff 1983, B i e r w i s c h / L a n g 1987a) repräsentiert sind, welche Eigenschaften ein räumliches Repräsentationssystem (Bryant) bzw. räumliche Relationen (McNamara 1986) aufweisen und wie die unterschiedlichen Module in einem solchen hybriden System (Pribbenow 1993) miteinander interagieren.

2.1.3.1 2.1.3.1.1

Primär Schluß-orientierte Ansätze Intrinsische Propositionale Modellierung

Zimmermann/Freksa (1993) stellen einen Ansatz vor, in dem nicht-sprachliche räumliche Richtungsrelationen zum Zwecke qualitativen räumlichen Schließens modelliert werden. Diese Modellierung basiert auf sogenannten „konzeptuellen Nachbarschaften", die von Freksa zunächst f ü r die Repräsentation groben Wissens über zeitliche Relationen entwickelt wurden. (Freksa 1992). Danach sind zwei Relationen rl und r2 konzeptuell benachbart (kn(rl, r2)), wenn sie direkt ineinander überführt werden können. In bezug auf die 13 Allen'sehen Relationen (dargestellt in Abb. 6) bedeutet dies, daß z. B. k n ( , < \ ,m'), aber nicht k n ( , < \ , o ' ) gilt (s. Abb. 7 zu einer zweidimensionalen Darstellung der Relationen und ihrer Nachbarschaftsbeziehungen).

11

Dies Unterscheidung intrinsisch- und extrinsisch-propositionaler Modellierungsansätze ist angelehnt an die in Pribbenow (1993) vorgenommene Klassifizierung.

26 A »

A ù

A ¿ b

m m ± 3

before(A, Β) ['']

A

meets(A, Β) ['m'] met-by(B, A) ['mi']

overlaps(A, Β) ['o'] overlapped-by(B, A) |

A

I - R I starts(A, B) ['s'] started-by(B, A) ['si']

A

R I I during(A, B) ['d'] contains(B, A) ['di']

R I I finishes(A, Β) [ T ] finished-by(B, A) ['fi'

A equals(A, B) ['=']

Abb. 6:

Die Intervall-Relationen Allens



ED m 0E Ξ EIE m [°D E Ξ Eriìl

Abb. 7:

Zweidimensionale Darstellung der Intervallrelationen Allens (Freksa)

Hierüber läßt sich eine konzeptuelle Nachbarschaft als transitive Hülle einer kn-Relation definieren. Danach bilden z. B. ,. 13 RelSet kann entweder durch eine Basisrelation (z. B. [t,r], „berührt rechts") oder durch eine Menge solcher Relationen instantiiert werden, die einer Disjunktion (und somit einer groben räumlichen Kategorie) entspricht (z. B. {[t,r],[d,r]}, „rechts"). Hernández benutzt einen constraint-basierten Mechanismus, mithilfe dessen er anhand dieser Strukturen komplexes qualitatives räumliches Schließen durchführt.

12

13

Die Strukturen werden von ihm entsprechend rtons (für „relative topological and orientational nodes") genannt. Als topologischen Relationen verwendet er die folgenden räumlichen pendants der Alien-Relationen: disjoint (d), tangent (t), overlaps (o), included-at-border (i@b), included(i), contains (c), contains-at-border (c@b), equals (=). Sprachliche Relationen modelliert er dadurch, daß in einer vierten Position Angaben über Referenzrahmen (s. u.) verwaltet werden.

28

front Abb. 10: Ein rton (relative topological and orientation node) (nach Hernández 1994:75)

Die hier vorgestellten Ansätze intrinsisch propositionaler Modellierung erlauben komplexe Schlüsse bzgl. einer entsprechend strukturierten Repräsentation von Raum und werden insbesondere dem Programm der „naiven Physik" in Hayes (1979) gerecht. Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive stellt sich allerdings die Frage, in welcher Beziehung die repräsentierten Aspekte des Raums (sowohl im Hinblick auf die postulierten Strukturen als auch im Hinblick auf die zugehörigen Prozesse) zu den Eigenschaften mentaler Repräsentationen von Raum stehen. Vor allem für die im Vordergrund der vorliegenden Arbeit stehenden Beziehung von Sprache und Raum sind diese Ansätze daher weniger einschlägig.

2.1.3.1.2

Extrinsische Propositionale (logische) Modellierung

Im Hinblick auf eine qualitative logische Modellierung räumlicher Relationen lassen sich zwei Typen von Ansätzen identifizieren, deren Unterschied mit dem zwischen der Mengentheorie und der Mereologie korrespondiert. Im ersten Fall wird von einer Menge von Raumpunkten ausgegangen. Räumliche Relationen werden auf dieser Basis durch Beziehungen (Schnitt, Inklusion) entsprechender Teilmengen dargestellt, z.B. „die einem Objekt als Ort zugewiesene Raumpunktmenge ist enthalten in einer einem anderen Objekt als relevante Region zugewiesenen Raumpunktmenge". Im zweiten Fall wird von räumlichen Objekten (Individuen, Körpern, Regionen) ausgegangen. Deren grundlegende Beziehung ist die ,teil-

29 von'-Beziehung, wobei allerdings seit den Arbeiten von Clarke 14 eine spezifische primitive Relation (,connected_to') als Basisrelation verwendet wird.

2.1.3.1.2.1

Mengentheoretisch basierte Ansätze

Ein Großteil der gegenwärtigen Ansätze in der Kognitionswissenschaft zur Behandlung räumlicher Relationen beruht auf einer Sichtweise, die - zumindest was die jüngere Forschung anbetrifft- auf Miller/Johnson-Laird (1976) zurückgeführt werden kann. Der Kern dieses Ansatzes findet sich in folgendem Zitat formuliert: „In order to take account of spatial relations, the perceptual process must not only register place, but relations between places, which entails perception of a spatial region containing the place of the thing. [...] Thus, two things whose regions overlap can be seen in a spatial relation to each other" (Miller/Johnson-Laird 1976:59).

Miller/Johnson-Laird charakterisieren somit nicht-sprachliche räumliche (hier zunächst: perzeptuelle) Relationen durch das Enthaltensein einer Region in einer anderen. Zur Beschreibung dieses Sachverhalts führen sie das Prädikat Reg(x, r) ein (einem Objekt χ ist die Region r zugeordnet). Die Inklusion eines Objekts y in einer Region eines anderen Objekts χ läßt sich somit folgendermaßen darstellen (S. 60): (3)

Incl(y, Reg(x)) = (3r)[Reg(x, r) & Incl(y, r)]

Regionen sind dabei unscharfe Entitäten, die einem Objekt zugordnet sind („The region of a thing can be thought of as a rather indeterminate penumbra surrounding it", S. 60). Ihre Ausdehnung wird wie folgt beschrieben: „We will say that object χ is in the region of object y when χ is spatially close enough to y to have the sort of interactions with it that normally that occur between x's and y's. This definition of region is deliberately vague, because the perceptual attributes of a region are correspondingly vague."

Regionen sind allerdings nicht ausschließlich durch perzeptuelle Faktoren determiniert, sondern vor allem auch durch funktionale Kriterien („typische Interaktionen") bestimmt, so daß „regions might better be discussed as concepts than as percepts". Entsprechend denotiert das r in dem zusätzlich postulierten REGION(x,r)-Prädikat die auf konzeptuellem Wissen beruhende Interaktionsdomäne von χ (S. 388). Diese konzeptuelle Relationen bildet die Grundlage für die Definition einiger sprachlicher Relationen (wie ζ. B. die Relation AT): χ ist enthalten in der Interaktionsdomäne von y und y ist nicht enthalten in der Interaktionsdomäne von χ ((4), s. Miller/Johnson-Laird 1976:390). (4)

14

AT(x, y): (i) INCL(x, REGION(y)) (ii) not(INCL(y, REGION(x)))

B. L. Clarke (1981), „A Calculus of Individuals Based on Connection", Notre Dame Journal of Formal Logic, 22 (3), 204-218; B. L. Clarke (1985), „Individuals and Points", Notre Dame Journal of Formal Logic 26 (1), 61-75.

30 Miller/Johnson-Laird machen allerdings unzweifelhaft deutlich, daß nicht alle sprachlichen Relationen anhand von Regionen beschrieben werden können: „In order to identify one object relative to the location of another, however, English has a rich supply of prepositions and adverbs that can provide much more specific information about their spatial relation than mere regional proximity. Therefore, we must consider what kinds of perceptual predicates would be needed to support such linguistic constructions" (60 f.). Eines ihrer Beispiele hierfür sind projektive Präpositionen ((5), s. Miller/Johnson-Laird 1976:399), bei deren Charakterisierung das Regionskonstrukt nicht verwendet wird, sondern u. a. die nicht-sprachliche Relation ,Betw'. (5)

RIGHT(deiktisch)(x, y): FRONT(deiktisch)(y, ego) and: (i) GREATER(DISTANCE(x,ego's left h a n d ) , D I S T A N C E ^ , ego's right hand)) mit FRONT(deiktisch)(x, y): Betw(ego, x, y)

Trotz dieser klaren Aussage Miller/Johnson-Lairds ist in Wunderlich (1982) ein verallgemeinerter regionsbasierter Ansatz zur Darstellung sprachlicher Relationen eingeführt worden (s. u.), der in allgemeinster Weise auf einer Lokalisierungsrelation zwischen einem Objekt und einer präpositionsspezifischen Region (LOK(x, PRAEP(y))) beruht. Dieser Vorschlag basiert offenbar auf der Relation in (3) und läßt sich durch eine Teilmengenbeziehung von Raumpunktmengen interpretieren. Während sich Miller/Johnson-Lairds Inklusionsrelation aber auf Aspekte der mentalen Repräsentation von Raum bezieht, modelliert die Lokalisierungsrelation ausschließlich Aspekte einer einfach strukturierten Raumdomäne. Dies bedeutet, daß der Bezug so definierter sprachlichen räumlichen Relationen zu kognitiven nicht-sprachlichen Relationen unklar bleibt. Eine formale Darstellung dieses raumpunktbasierten Ansatzes, der für die Charakterisierung der Semantik räumlicher Präpositionen verwendet wird, findet sich in BuschbeckWolf (1995). Auf der Basis einer Raumpunktmenge Ρ definiert sie den Ort („Place") eines Objekts a zu einem Zeitpunkt t als die Menge der Raumpunkte, die a zu t einnimmt (6). (6)

P() = { ρ e Ρ I ρ ist zu t von a belegt}, wobei P() ς; Ρ

Buschbeck-Wolf nimmt weiterhin differenzierte Unterteilungen im Hinblick auf relevante Raumeigenschaften (z.B. eine Unterscheidung von materiell belegten Raumpunkten PMAT und nicht-materiell belegten Raumpunkten PNONMAT sowie von Rändern und Oberflächen) und - angelehnt an die Arbeiten von Lang - von Objekteigenschaften vor. Sie definiert daraufhin Regionen bzgl. eines Objekts, die den PRAEP-Regionen Wunderlichs entsprechen. Zentral ist dabei die Umgebung eines Objekts (REGION, externe Proximalregion), die als eine zusammenhängende Menge von Punkten des Komplements von dem Objektraum P(a) beschrieben wird, deren Abstand zu irgendeinem Punkt aus P(a) einen kontextuell zu bestimmenden Wert r a nicht überschreiten darf (7). (7)

? E X T ( a ) £ Komplement(P(a)) PEXT(a) = { P' e Ρ I ρ' e P(a) & 3 ρ e P(a), so daß d(p, p') < r a } P g X j ( a ) ist zusammenhängend in Ρ

31 Die Umgebung eines Objekts läßt sich weiter in Subregionen unterteilen, die über die Projizierbarkeit von Raumpunkten entlang der Raumachsen auf das Objekt definiert werden (Buschbeck-Wolf 1995:67). ΡτθΡ-ΕΧΤ( 3 ) ist danach ζ. B. die Menge der Raumpunkte, die entgegengesetzt zur Richtung der Vertikalen auf das Objekt a projiziert werden können. Als eine sehr allgemeine Teilumgebungscharakterisierung ergibt sich danach die Unterscheidung der Regionen ÜBER, UNTER und SEITLICHJVON dem Objekt (ΡτΟΡE X T . P B O T T O M - E X T . P H O R - E X T ; S. A b b . I I 1 5 ) .

Abb. 11: Mengentheoretisch definierte räumliche Regionen (Buschbeck-Wolf)

Mengentheoretisch basierte Ansätze bieten gemäß dieser Darstellung die Möglichkeit der Spezifizierung räumlicher Regionen, mithilfe derer eine räumliche Relation als Inklusion des Objektraums von χ in einer Region von y formal repräsentiert werden kann („Lokalisierungsansatz"). Allerdings ist diese Darstellung losgelöst von kognitiver Motivation und weist keine Bezüge zur mentalen Repräsentation von Raum auf. Auf weitere Aspekte dieses Ansatzes werde ich weiter unten näher eingehen.

2.1.3.1.2.2

Mereotopologisch basierte Ansätze

Basierend auf den Arbeiten von Clarke entwickelten Randell und Mitarbeiter (Randell et al. 1992)16 eine Raumlogik, in der eine Basismenge mereotopologischer räumlicher Relationen auf der Grundlage der reflexiven und symmetrischen Relation C(x, y) („x ist verbunden mit y") zwischen räumlichen Objekten (Regionen) definiert wird („Relationaler Ansatz"). Analog zu den Zeitrelationen Allens werden räumliche Relationen konstruiert, deren Definitionen in (8) aufgeführt und in Abb. 12 veranschaulicht sind.

15 16

Entspricht der Abbildung 14 in Buschbeck-Wolf (1995:68). Spezifischer ausgedrückt existiert mittlerweile ein umfangreiches Forschungsfeld, das sich mit der Beschreibung der räumlichen Welt befaßt und dafür theoretische Mittel jenseits der Mengentheorie betrachtet (z. B. im Rahmen einer Mereotopologie). Argumente hierfür, wie beispielsweise den direkteren Zugang zum Untersuchungsbereich räumlicher Objekte und ihrer Relationen, faßt Smith w i e folgt zusammen: „Our suggestion, then, is that mereotopology will yield more interesting research hypotheses, and in a more direct and straightforward fashion, than would be the case should we choose to work instead with set-theoretic instruments" (Smith 1994:10).

32 (8)

DC(x,y)^def P(x, y) =def PP(x, y) =def χ = y =def 0(x,y) =def PO(x,y) =def DR(x,y) =def TPP(x,y) =def EC(x,y) =def NTPP(x,y) sdef p ' c x . y ) =def PP (jc,y) =def TPP" (x,y)sdef NTPP (x,y)=def

- C ( x , y) V ζ [C(z, x) C(z, y)] P(x, y) & ->P(y, x) P(x, y) & P(y, x) 3 ζ [P(z, x) & P(z, y)] 0(x, y) & -iP(x, y) & ->P(y, x) "Ό(χ, y) PP(x, y) & 3 ζ [EC(z, χ) & EC(z, y)] C(x, y) & -t 0(x, y) PP(x, y) & ->3 ζ [EC(z, χ) & EC(z, y)] P(y, x) PP(y, x) TPP(y, x) NTPP(y, x)

„Disconnected" „Part o f „Proper Part o f „Identity" „Overlap" „Partial Overlap" „Discrete from" „Tangential Proper Part" „External Contact" „NonTangential Proper Part" „Has Part" „Has Proper Part" „Has Tangential Proper Part" „Has NonTangential Proper Part"

E A=Β

A

NTPP(A, B)

TPP(A, B)

NTPP-HA, B)

TPP-KA, B)

Β

PO(A, B)

Β EC(A, B)

Β DC(A, B)

Abb. 12: Mereologisch definierte Beziehungen zwischen Raumregionen

Die M e n g e d e r R e l a t i o n e n bildet - mit „ T " als d e m S y m b o l f ü r T a u t o l o g i e und J r l " als S y m b o l f ü r W i d e r s p r u c h - einen R e l a t i o n e n v e r b a n d , der in A b b . 13 a b g e b i l d e t ist (nach Randell et al. 1992:168).

Abb. 13: Verbandsstruktur mereologisch definierter Raumrelationen (nach Randell et al. 1992)

33 Durch die Hinzunahme des Konstrukts ,conv(x)' (der konvexen Hülle von x) läßt sich das Inventar der Relationen zwischen Objekten erweitern, indem Inklusions- oder Enthaltenseinsbeziehungen ausdrückbar werden (9). (9)

INSIDE(x,y) OUTSIDE(x,y)

aJef =def

DR(x, y) & P(x, conv(y)) DR(x, conv(y))

Hiermit sind die grundlegenden Aspekte der „Raumlogik" Randells et al. beschrieben. Es wird deutlich, daß sie keinesfalls den Anspruch erheben kann, alle relevanten Raumkonzepte formalisiert zu haben. Eine wesentliche Erweiterung, auch im Hinblick auf eine Formalisierbarkeit sprachlich-räumlicher Relationen findet sich in den Arbeiten von Vieu (1993) und Aurnague (1995) (vgl. auch Aurnague/Vieu 1993). Sie schlagen zunächst als weitere räumliche Relation die des „Schwachen Kontakts" (weak contact, (10)) vor. 17 Sie unterscheidet sich von EC dadurch, daß kein gemeinsamer Teil beider Objekte vorausgesetzt wird, und entspricht so eher dem intuitiven Verständnis von „Berühren". (10)

WCont(x, y) =def

(-> C(x, y) & Vz ((z * Us & P(x, z) & OP(z)) - » C(cz, y)))

Um Richtungs-, Anordnungs- und Distanzphänomene (besser) modellieren zu können, verweisen Aurnague/Vieu auf die Möglichkeit, abstrakte Raumpunkte einzuführen. Entgegen der üblichen Sichtweise, daß Mengen von Raumpunkten Objekte (Regionen) definieren, schlagen sie den konträren Weg, nämlich Raumpunkte über Mengen von Objekten zu definieren, vor („In this approach, the only points present in the representation are those we can ,talk about' given the specific situation described; they recover an ontological and cognitive justification", Vieu 1993:30). Ohne auf ihre Definition solcher Punkte (Pt(a)) einzugehen, wird deren Beziehung zu miteinander verbundenen Individuen an einem der Axiome ihrer Theorie deutlich (11). (11)

Vx Vy (C(x, y)

3 a (Pt(a) & χ e a & y e a ) )

Mithilfe von Punkten lassen sich die Relationen Κ(α, β, γ) („α ist näher zu β als zu γ"), Ε(α, β, t (,,α ist genauso weit entfernt von β wie von γ") sowie - Uber Κ und E Τ(α, β, ^ (,,α ist zwischen β und γ") axiomatisieren bzw. definieren. Damit wiederum kann ausgedrückt werden, daß drei Punkte (entlang einer Linie) ausgerichtet sind (12), so daß sowohl gerade Linien (als entsprechend ausgerichtete Mengen von Punkten: SLine(r)) als auch die Orthogonalität solcher Linien (ΡεΓ(Γ1,Γ2)) definierbar werden. 17

Hierfür werden die weiteren Definitionen und Axiomatisierungen benötigt: • y ist Inneres von χ (ix) Vx 3y Vu (C(u, y) 3v(NTP(v, x) & C(v, u))) • ζ ist Abschluß (closure) von χ (ex) Vx (3y iC(y, χ) - » 3z Vu (C(u, ζ) 3v (-. C(v,i(-x)) & C(v, u)))) • χ ist offen OP(x) =def χ =st ix • χ ist geschlossen CL(x) =def χ =st cx Us ist die Universale (All-)Sorte.

34

(12)

Α1(α, β, γ) sdef

Τ(α, β, γ) ν Τ(β, α, γ) ν Τ(γ, α, β)

Die Ausrichtungskonzepte sind wesentlich für die Charakterisierung der Orthogonalität von Richtungen (orientierter Linien) (15), die von Aurnague/Vieu als Primitiva eingeführt und als Funktion eines geordneten Paars von Individuen bestimmt sind (13,14). (13) (14)

Va Vß ((Pt(a) & Pt(ß) & -. ND(a, ß)) -> BD d(a, ß) = D)18 Va Vß ((Pt(a) & Pt(ß)) (d(a, ß) = D d(ß, a) = -D ))

(15)

OrthoÇD, D') =def 3 Dl, D2, al, bl, a2, b2 [SLine(Dl) & SLine(D2) & Per(Dl, D2) & ale Dl & b l e D1& a2 e D2 & b2 e D2 & ((d(al, bl) = D ν d(al, bl) = -D) & (d(a2, b2) = D' ν d(a2, b2) = -D'))]

Anhand der eingeführten Richtungen ist es schließlich möglich, die gerichtete, nicht-topologische Relation In-sp („y ist in dem von χ und der Richtung D begrenzten Raum enthalten") als Beziehung von Intervallen der jeweiligen spatiotemporalen Referenten 19 entlang einer Richtung zu definieren (16). (16)

In-sp(y, x, D) sdef

m¡ >(stref(y), stref(x), D))

Die Vorschläge Aumague/Vieus erweitern die Raumobjekt-basierten Ansätze um die Formalisierung zentraler räumlicher Konzepte (Orthogonalität, Richtung usw.) und erlauben so die Spezifizierung einer größeren Menge nicht-sprachlicher Relationen (ζ. B. UN ibR-/ÜBER-Relation). 20 Diese dienen den Autoren als formale Basis für die Charakterisierung sprachlich räumlicher Relationen, die ihrer Ansicht nach zusätzlich funktionale und pragmatische Aspekte enthalten (s. u.). Auch hier ist jedoch nicht klar, inwieweit die vorgeschlagenen Raumrepräsentationen mit den mentalen Repräsentationen von Raum kompatibel sind und in welcher Weise dem Unterschied implizit und explizit repräsentierter Relationen Rechnung getragen wird.

2.1.3.1.2.3

Über Relationen definierte Regionen

Asher/Sablayrolles (1995) unternehmen explizit den Versuch, den Lokalisierungsansatz und den relationalen Ansatz miteinander zu verknüpfen, und gelangen dabei zu sieben nicht-sprachlich räumlichen Relationen, auf die sie bei der Charakterisierung der Semantik räumlicher Präpositionen und Verben zurückgreifen (17).

18 19 20

ND ist die Relation der Null-Distanz. Die Funktion „stref" bildet ein Objekt auf seinen spatiotemporalen Referenten ab. Vgl. hierzu auch Aurnague (1995). Zu einem alternativen Ansatz s. Eschenbach/Kulik (1997).

35 (17)

inner-halo(x, y) s-jef contact(x, y) =def outer-halo(x, y, C) s y e f outer-most(x, y, C) s-jef inner-transit(x, y) = ¿ e f contact-transit(x, y) =def outer-transit(x, y) =def

PP(x, f-int(y, χ » PP(x, f-ext(y, Χ)) Λ weak-contact(x, PP(x, prox(y, x, C)) PP(x, f-ext(y, x)) A -> PP(x, prox(y, x, C)) EC(x, y) contact(x, y) Λ outer-halo(x, y) outer-halo(x, y) Λ outer-most(x, y)

Bei ihren Definitionen verwenden sie einige von Aurnague/Vieu eingeführte Konstrukte wie weak-contact (s. o.), f-int (das funktionale Innere eines Objekts y in bezug auf ein Objekt χ, d.h. ohne die Randpunkte), f-ext (das entsprechende funktionale Äußere) und prox (die kontextuell differierende externe Proximalregion). Die Verbindung zu dem auf Regionen basierenden Ansatz besteht darin, daß, wenn eine dieser Relationen R zwischen χ und y gilt, χ ein Teil der R-spezifischen Zone (Z-R) ist (18). Die verschiedenen Zonen sind in Abb. 14 veranschaulicht. (18)

R(x, y) P(x, Z-R(x, y)) Z-R(x, y) = u ζ: 0 (z = STref(x) Λ R(X, y))

"Nähe-Grenze" I

7-rnnfart-trancif Z-contact Referenz-Lokation

Z-outermost

Z-inner-halo

Z-inner-transit

Z-outer-halo ——| 7.-ontp;r-transit

[

Abb. 14: Mereotopologisch definierte Regionen (nach Asher/Sablayrolles 1995:178)

2.1.3.2 2.1.3.2.1

Primär Repräsentations-orientierte Ansätze Bildbasierte Ansätze

Die Untersuchungen im Bereich der Imagery haben seit dem Ende der 70er Jahre insbesondere aufgrund der Berücksichtigung der impliziten Enkodierung räumlicher Relationen- zu einer Reihe von Ansätzen geführt, die die Bedeutung bildhafter/depiktionaler Repräsentationen hervorheben (zu einem Überblick s. Pribbenow 1993:41f). Auch im LILOG-Projekt (Pribbenow 1993, Habel 1988) wurde eine depiktionale Komponente in ein hybrides System der Repräsentation und Verarbeitung räumlichen Wissens integriert, hier

36 diente sie in erster Linie zur „Abbildung" sprachlicher räumlicher Relationen und zur Ermöglichung nicht-propositionaler Inferenzen. Unter Verwendung der vorliegenden Erkenntnisse zur Imagery machen Glasgow/ Papadias (1992) einen im Rahmen der Künstlichen Intelligenz angesiedelten, pragmatischen Vorschlag zur Repräsentation räumlicher Relationen: „Thus, although our knowledge representation scheme attempts to preserve the most relevant properties of imagery, whenever possible we try to overcome the limitations of the human information-processing system" (S. 363). Sie übernehmen die von Kosslyn vorgenommene Unterscheidung eines Langzeitgedächtnisses (Speicherung der Tiefenrepräsentation), in dem propositionale Strukturen in der Form semantischer Netzwerke vorliegen, und eines Arbeitsspeichers, der analogische Eigenschaften aufweist. Das Langzeitgedächtnis enthält dabei taxonomische und partonomische Information, aber keine Raumrelationen (Abb. 15).

Tiefenrepräsentation Abb. 15: Taxonomisches und partonomisches Objektwissen (nach Glasgow/Papadias 1992:365)

Der Arbeitsspeicher wird in Anlehnung an die what-where-Unterscheidung in eine visuelle Repräsentation von Objekten und eine räumliche Repräsentation der Beziehung zwischen Objekten differenziert, die beide als dreidimensionale arrays (visuell und symbolisch) implementiert sind (Abb. 16, 17).

Abb. 16: Visuelle Repräsentation eines Objekts (nach GlasgowPapadias 1992:365)

37

Abb. 17: Intrinsisch-räumliche Szenen-Repräsentation (nach Glasgow/Papadias 1992:365)

Da auch Einbettungen eines arrays in einer Zelle möglich sind, stellt sich der Ansatz von Glasgow/Papadias als ein mächtiges Instrument zur Repräsentation von Raum dar, insbesondere weil die Strukturen sowohl mathematisch fundiert als auch durch eine eigene Programmiersprache konstruier- und manipulierbar sind. Allerdings ist aus ihrer Darstellung schwer zu ersehen, wo mögliche Schwachpunkte dieses Ansatz liegen könnten. Sicherlich ist es mithilfe der analogischen Darstellung (d. h., der Koordinateninformation in den Netz- oder Framestrukturen des Langzeitgedächtnisses) relativ einfach, statische Gegebenheiten in beliebiger Detailtiefe abzubilden und so alle entsprechenden räumlichen Relationen implizit zu kodieren. Es wird allerdings nicht deutlich, inwieweit auf explizite Kodierung verzichtet werden kann (und wie diese dann aussieht), wenn flexible Wahrnehmung einer komplexen, sich wandelnden Welt repräsentiert werden muß. Dies ist umso erstaunlicher, als die Autoren gerade den für die Selektivität der menschlichen Wahrnehmung und Repräsentation wesentlichen Mechanismus der Aufmerksamkeitszuwendung als eine zu überwindende (überwindbare?) Beschränkung menschlicher Informationsverarbeitung zählen. Obwohl in ihrem Ansatz eine primitive Funktion Focus existiert, dient diese nur als über dem Arbeitsspeicher definierte Zugriffsbzw. Manipulationsoperation (s. Kap. 4 zu einer ausführlichen Darstellung der Eigenschaften fokussierter Aufmerksamkeit). Fokussierung bedeutet in dem Rahmen das Ersetzen eines Symbols durch seine räumliche Repräsentation (was einem „Hineinzoomen" entspricht). Da aber diese Operation selbst nicht repräsentiert wird, führt dies dazu, daß Fokussieren und De-Fokussieren die Verwaltung eines Stacks von symbolischen arrays bedeuten: „In this case we need to represent working memory as a stack, where we push images onto the stack as we focus and pop images from the stack as we unfocus" (S. 379). Dies scheint kein technisches, sondern ein Adäquatheitsproblem zu sein, da Glasgow/ Papadias offenbar in einer allgemeinen Weise räumliche Relationen nicht-relational darstellen zu wollen (also auch im Langzeitgedächnis). Ihr Beispiel (S. 371f) ist die .inside'Relation, die sie wie in Abb. 18 darstellen (Abb. 19 zeigt die zugrundeliegende Framestruktur).

38 glass glass

water glass

glass glass

Abb. 18: Intrinsisch-räumliche Repräsentation der .inside'-Relation (Glasgow/Papadias 1992:372)

FRAME

INSIDE-Relation

A KO

SPATI AL-Relation

PARTS

glass (0 glass(0 glass(3 water(0

0) 2) x) 1)

Abb. 19: Repräsentationsstruktur der ,inside'-Relation (nach Glasgow/Papadias 1992:368)

Dies ist einerseits unverständlich im Hinblick auf die Repräsentation der Relation selbst (unabhängig von einer token-spezifischen Instantiierung). Andererseits widerspricht es anscheinend direkt der folgenden Annahme Paynes: „neither [the] mental models nor the verbal propositions from which they are constructed are remembered. Instead, subjects remember the mental operations that they must perform in order to construct the model. I call this remembered list of operations the episodic construction trace of the model" (Payne 1993:598)

Sollte dies auch für den Repräsentationsvorschlag von Glasgow/Papadias zutreffen, so stellt sich die Frage, wie die entsprechenden Konstruktionsoperationen für die .inside'Relation beschaffen sind. Anders ausgedrückt liegt in diesem Ansatz offenbar keine systematische Trennung implizit und explizit repräsentierter Information vor.

2.1.3.2.2

Modellierung konzeptuellen Objektwissens

Qualitative nicht-logische nicht-sprachliche (also konzeptuelle) Charakterisierungen räumlicher Relationen stellen, so sollte deutlich geworden sein, ein unterrepräsentiertes Forschungsfeld dar. Daß dies nicht notwendigerweise so sein muß, soll im folgenden am Beispiel der Charakterisierung konzeptuellen Objektwissens dargestellt werden. Lang (1987) bietet einen linguistisch motivierten Vorschlag zur Repräsentation der Struktur solchen Wissens in Form sogenannter Objektschemata. Diese sind im wesentlichen als Matrizen konzipiert, deren Spalten den auszeichenbaren Objektabmessungen (denen je nach Dimension und Desintegrierbarkeit die Achsen , a \ ,b', ,c' zugeordnet sind;) und deren Zeilen einerseits objektkonstitutive Gestalt- und Positionseigenschaften (1. Zeile) und andererseits kontextuell induzierte Positionseigenschaften (2. Zeile) enthalten. Per Konvention spiegelt die Abfolge der Achsen in der Matrix von links nach rechts ihre relative Salienz wider (und stellt so das objektspezifische Proportionsschema dar). Die Einträge einer Matrix sind symbolische Repräsentanten bestimmter Eigenschaften, die als Werte von Dimensionsauszeichnungsparametern (DAPs) in der Semantik ζ. B. von Dimensionsadjekiven fungieren können und daher Dimensionsauszeichnungswerte (DAWs)

39 genannt werden. Dies sind max (eine Achse ist die Maximale), sub (eine Achse ist die unsalienteste, nur durch ihre Substanzeigenschaft gekennzeichnete), dist (eine Achse entspricht einer inneren Distanz), vert (eine Achse ist an der Vertikalen ausgerichtet) und obs (eine Achse ist an der Betrachterachse ausgerichtet). Gemäß der Notation in der ursprünglichen Theorie Langs liefert (19) drei Beispiele für Objektschemata. (19)

Turm < a (b c) > max sub vert

.Stange' < a (b c) > max sub

.vertikal orientierte Stange' < a (b c)> max sub vert

Die eckigen Klammern denotieren dabei die Begrenztheit der in ihrem Bereich befindlichen Achsen. Die runden Klammern fassen integrierte Achsen zusammen und der Unterstrich trennt objektkonstitutive von kontextuell induzierten Eigenschaften. An den Beispielen wird deutlich, daß die Ausrichtung an der Vertikalen für einen Turm objektkonstitutiv ist (im Gegensatz zur Stange), daß eine Stange aber in einem bestimmten Kontext in der Maximalen vertikal orientiert sein kann. In bezug auf die qualitative Charakterisierung der Ausrichtung von Objekten an Achsen werden in Lang/Carstensen/Simmons (1991:20) weitere Unterscheidungen vorgenommen. Objekte können bzgl. der vertikalen Ausrichtung (Orientierung) fixiert sein (z. B. Berge, Flüsse; f-vert), sie können typischerweise orientiert sein (kanonische Orientierung, ζ. Β Türme, Schreibtische; objektkonstitutives vert) oder eine inhärente Orientierung aufweisen (ζ. B. Bücher, Bilder; i-vert). Bei den Betrachtereigenschaften ist in kanonische Perpektivierung (ζ. B. Flüsse, Schreibtische; objektkonstitutives obs) und inhärente Perspektivierung (ζ. B. Löcher, Wunden; i-obs) zu unterscheiden. Der DAW diam kennzeichnet integrierte Achsen, die nicht mit sub belegt sein können (entsprechend haben Schallplatten einen Durchmesser und eine Dicke), empty dient als Landeplatz für kontextuelle Spezifikationen. Anders als in der ursprünglichen Theorie werden seit Lang/Carstensen (1989) die Begrenzungspunkte der Objektabmessungen in den Objektschemata aufgeführt (z. B. vertfp 1, p2)). Dadurch konnten die Beziehungen der Abmessungen insbesondere zu den gerichteten Achsen adäquater repräsentiert sowie die auszeichnungsabhängige achsenspezifische Seitigkeit von Objekten (Ober-/Unterseite in bezug auf die VERT-Achse, Vorder-/Hinterseite in bezug auf die OBS-Achse, linke/rechte Seite in bezug auf die tertiäre QUER-Achse) reflektiert werden, so daß ein Inventar möglicher Positionseigenschaften (.stehen', .liegen' u. a.) und -Veränderungen (Drehungen, Kippungen) modellierbar wurde. Allgemeiner ausgedrückt werden also Dimensionseigenschaften seitdem explizit auf die räumlichen Relationen zwischen Objektachsenendpunkten bezogen.

2.1.3.3

Zusammenfassung/Kritik

Die in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze zur qualitativen Modellierung nicht-sprachlicher Relationen bilden insgesamt ein sehr heterogenes Forschungsfeld, was vor allem aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive sehr unzufriedendenstellend ist. Dies beruht z. B. darauf, daß bestimmte Ansätze direkt auf den Eigenschaften des physikalischen Raums basieren und somit von den Aspekten der Wahrnehmung des Raums abstrahieren (wie in

40 den logischen Ansätzen), die Frage nach der Anbindung an sprachliche Repräsentationen offenlassen (Freksa, Glasgow/Papadias), oder aber bereits sprachlich beeinflußt sind (Hernández) und so dem oben beschriebenen Zirkel der Charakterisierung räumlicher Relationen unterliegen. Zwar zeigen insbesondere die Arbeiten von Aurnague und Vieu, daß sich grundlegende räumliche Konstrukte (z. B. Achsen und ihre Orthogonalität) formalisieren lassen, jedoch handelt es sich dabei im wesentlichen, wie auch in dem Ansatz von Glasgow/Papadias, um die formale Darstellung implizit repräsentierten Raums. Die Unterscheidung impliziter und expliziter räumlicher Relationen, die, wie sich in Kapitel 6 zeigen wird, essentiell für eine adäquate Modellierung räumlicher Relationen ist, wird somit nicht systematisch vorgenommen.

2.2

2.2.1

Sprachliche räumliche Relationen

Referenzrahmen

So wie nicht-sprachliche räumliche Relationen relativ zu unterschiedlichen Referenz- oder Koordinatensystemen kodiert werden (s. o.), so sind auch für die Etablierung sprachlich räumlicher Relationen Referenzsysteme bzw. sog. „Referenzrahmen" zentral. Obwohl sich die linguistische und psychologische Terminologie hier stark unterscheiden, gibt es daher mit Sicherheit eine große Überschneidung im Gegenstandsbereich. Allerdings sind beide Typen von Referenzsystemen nicht (von vornherein) gleichzusetzen. „Indeed, the linguistic frames of reference potentially crosscut many of the distinctions in the philosophical, neurophysiological, linguistic, and psychological literatures [...]" (Levinson 1996:135, Hervorh. im Text). Ähnlich dem sprachlich variierenden Bezug auf konzeptuelle Gestalteigenschaften von Objekten (vgl. engl, wide vs. dtsch. breit/weit) lassen sich auch bei sprachlich räumlichen Objekt-Relationen erhebliche Unterschiede feststellen, die auf die verschiedenartigen Verwendungen von und Bezugnahmen auf mögliche Referenzsysteme zurückzuführen sind. Um diesen Bereich auszuloten, ist es daher notwendig, die Prinzipien der Etablierung von Referenzsystemen (Achsen und Richtungen) und ihre sprachspezifischen Ausprägungen näher zu betrachten. Im folgenden sollen einige wesentliche Aspekte sprachlicher Referenzrahmen angesprochen werden. In Kap. 6 wird diese Thematik dann im Rahmen der Modellierung sprachlich räumlicher Relationen wieder aufgegriffen. Generell können bestimmte Achsen oder Seiten dem Objektkonzept eines Referenzobjekts (RO) zugehörig (intrinsisch) sein, ansonsten müssen sie dem R O entweder in einem spezifischen Kontext durch einen Betrachter (deiktisch) bzw. durch andere situative Faktoren (extrinsisch) 21 auferlegt werden, oder es liegt ein absolutes Referenzsystem vor, 21

Die Termini .extrinsisch' und ,deiktisch' werden unterschiedlich allgemein bei der Klassifikation von Bezugssystemen verwendet. Während z. B. Pribbenow (1993:74f) Intrinsik und Extrinsik gegenüberstellt, erklärt Herskovits situative Faktoren durch eine imaginäre Betrachterperspektive und kontrastiert daher die Intrinsik mit der Deixis (vgl. Herskovits 1986:163). Wunderlich/Herweg (1990) subsummieren nur eine bestimmte deiktische Verwendung unter Extrinsik. Zu

41 anhand dessen die Position des zu lokalisierendem Objekt (LO) charakterisiert werden kann (z. B. nördlich von, bergab). Im intrinsischen System ist diese Ausrichtung entweder durch die typische Betrachtungsperspektive („die Vorderseite ist diejenige, die typischerweise betrachtet wird", z. B. bei Schränken, Häusern; vgl. die .encounter situation' bei Herskovits), durch Analogie (bei Puppen, Tieren, Kameras; vgl. Johnson-Laird 1976:403) bzw. Übertragung (bei Autos, Stühlen) der menschlichen Vorne-hinten-Ausrichtung (vgl. die .coincidence situation' bei Herskovits) oder durch die Bewegungsrichtung des Objekts (Torpedos, Pfeile) bestimmt.

Der Ball ist vor dem Baum (Hausa) Abb. 20: Ein Beispiel für das Tandem-Prinzip im Hausa

Im deiktischen System existiert eine analoge Unterscheidung: Entweder ist die Vorderseite eines Objekts dadurch bestimmt, daß sie dem Betrachter zugewandt ist (sog. „Spiegelprinzip"), oder dadurch, daß sie ihm abgewandt ist (sog. „Tandemprinzip"). Die Anwendung des Spiegelprinzips scheint dabei die am meisten verbreitete zu sein. Spezifische Ausnahmen existieren im Hausa, wo eine im Deutschen durch hinter ausgedrückte Konstellation (wie in Abb. 20) dann durch vor ausgedrückt werden kann, wenn es sich um eine statische Situation handelt und das LO (der Ball) sichtbar ist (Hill 1982). Ein anderes Beispiel findet sich im Russischen, wo man nicht „am (Essens-)Tisch", sondern „hinter dem Tisch" (Cienki 1989:116) sitzt. Daß die Etablierung von Bezugssystemen noch komplizierter sein kann, zeigt das in Abb. 21 abgebildete Beispiel aus dem Tamil (Pederson 1993), für das zusätzliche Operationen angenommen werden müssen (Positionierung eines imaginären Betrachters oder Übertragung der Bezugsachse des Elefanten auf den Baum).

Der Elefant ist hinter dem Baum (Tamilisch) Abb. 21: Eine mögliche Anwendung des Tandem-Prinzips im Tamil (nach Pederson 1993:305)

einer grundlegenden Kritik dieser Klassifikationen und zu Alternativvorschlägen s. Herrmann (1989) und Levinson (1996).

42 Herskovits (1986:171 f) gibt außerdem zu bedenken, daß selbst in einem aktualen Betrachterkontext nicht die Betrachterachse, sondern eine Achse des RO (oder eine Achse eines sekundären Referenzobjekts, in das das RO „eingebettet" ist) 22 , im Sinne einer virtuellen Betrachterachse die relevante Vorne-hinten-Ausrichtung herstellt (dies ist in einem ihrer Beispiele - das in der Abbildung 22 dargestellt ist - die über Orthogonalität zur Wand generierte Achse).

Tür Orthogonale *John is behind the door

Wand

Orthogonale John is behind the door

Abb. 22: Die Relevanz von Orthogonalität bei der Lokalisierung (nach Herskovits 1986:170)

Schließlich ist es für einen Sprecher möglich, den Ursprung des deiktischen Bezugssystems auf den Hörer (oder einen anderen Punkt) zu verlagern, was explizit ausgedrückt (Von Dir/da aus gesehen...) oder implizit bleiben kann. Für den Fall, daß das RO keine intrinsische Seitigkeit aufweist und kein aktualer Betrachter vorhanden ist, können andere Faktoren zur Herstellung eines extrinsischen Bezugsrahmens führen. Hierzu gehört vor allem die Identifizierung einer relevanten Vornehinten-Achse. Diese kann entweder der Längsachse eines sekundären Referenzobjekts entsprechen (vor/hinter mir in der Warteschlange/ im Rennen) oder durch die Bewegung des RO induziert werden (vor/hinter der rollenden Kugel). Ein Beispiel für die konsistente Verwendung eines absoluten Referenzsystems liefert das Guughu Yimidhirr, eine der Sprachen australischer Aborigines. 23 Ihre Sprecher verwenden grundsätzlich keine auf den Körperasymmetrien beruhenden sprachlichen Relationen, sondern lokalisieren Objekte relativ zu bestimmten in ihrer Kultur salienten Richtungen. So wird, um ein Beispiel zu geben, ein auf der rechten Schulter befindliches Objekt als auf der nördlichen Schulter beschrieben, entsprechend ändert sich die Lokalisierung bei einer 180°-Drehung (auf der südlichen Schulter). Klein (1994:180) weist außerdem auf eine andere extreme Art sprachlicher Lokalisierung hin. Anstatt ein Bezugssystem durch abstrakte Achsen oder Seiten zu etablieren, wird einem Referenzobjekt in manchen Sprachen die Teilstruktur des Körpers auferlegt (vgl. auch am Fuß des Berges im Deutschen). Auf diese Weise wird ζ. B. im Tzeltal ein auf einem Tisch befindliches Objekt in etwa als „lokalisiert bzgl. des Kopfes des Tisches" beschrieben. An diesen Beispielen wird der Unterschied der mentalen Repräsentation des Raums durch nicht-sprachliche räumliche Relationen zur Beschreibung des Raums durch 22 23

Zum Begriff des sekundären Referenzobjekts s. Talmy (1983:245f). S. C. Levinson (1992), „Language and Cognition: The cognitive consequences of spatial description in Guugu Yimithirr", Working Paper no. 13, Cognitive Anthropology Group, Max Planck Institute for Psycholinguistics, Nijmegen.

43 sprachliche räumliche Relationen besonders deutlich. Oder, reformuliert in bezug auf Referenzrahmen: „frames of reference at the perceptual or spatial conceptual level do not necessarily determine frames of reference at the linguistic level" (Levinson 1996:133). Die Objektschemata in Lang/Carstensen/Simmons (1991) weisen bereits aufgrund der repräsentierten Informationen zu typischer Orientierung und Perspektivierung wesentliche Referenzsystemeigenschaften auf: die Begrenzungspunkte in vert(pl, p2) charakterisieren die abstrakte Unter- und Oberseite eines Objekts, die Punkte in obs(pl, p2) charakterisieren die Vorder- und Rückseite. Die Existenz der Achsenendpunkte ermöglicht somit das Verzeichnen intrinsischer Seitigkeit in einem Objektschema, die auch bei aktuellen Positionsänderungen des Objekts erhalten bleibt. Gleichzeitig kann - wenn auch nur beschränkt (nämlich nur so weit wie diese Seiten den Symmetrie herstellenden Flächen der Objekte entsprechen) 24 - deiktische Seitigkeit in den Objektschemata repräsentiert werden. Hierdurch lassen sich Positionseigenschaften, die sich sprachlich in Ausdrücken wie steht/ liegt verkehrt herum, ist umgekippt usw. widerspiegeln, als ein spezifisches Mißverhältnis der intrinsischen und deiktischen Seitigkeit ausdrücken. Die Rolle dieser Information für die Semantik räumlicher Ausdrücke ist im Rahmen des PROLOG-Systems OSKAR (Lang/ Carstensen 1989) aufgezeigt worden. Sie wird allerdings vor dem Hintergrund der Unterscheidung impliziter und expliziter Relationen im Rahmen dieser Arbeit noch relativiert werden.

2.2.2

Repräsentationsebenen

Sprachlich räumliche Relationen lassen sich allgemein durch zwei grundlegende Eigenschaften charakterisieren: Erstens nehmen sie nicht direkt, sondern - vermittelt über konzeptuelle Kategorisierung - nur indirekt Bezug auf Raum und zweitens weisen sie zusätzliche, nicht-räumliche Aspekte (funktionale, pragmatische) auf, so daß insgesamt mehrere Repräsentationsebenen bei ihrer Beschreibung berücksichtigt werden müssen. Aumague/Vieu (1993) unterscheiden in diesem Zusammenhang die geometrische, die funktionale, und die pragmatische25 Ebene. Auf der geometrischen Ebene werden in ihrem Modell rein räumliche Eigenschaften dar- und Relationen zwischen räumlich(-zeitlichen)en Entitäten hergestellt. Wie erwähnt wird hier allerdings vorwiegend der „reale Raum" beschrieben oder zumindest nicht deutlich von „wahrgenommenem Raum", d. h. einer „projizierten Welt", unterschieden, wie ζ. B. Jackendoff fordert: „What the information is about - the reference of linguistic expressions - is not the real world, as in most semantic theories, but the projected world." (Jackendoff 1983:36). Diese Auffassung einer vermittelten Beziehung zwischen Sprache und Welt wird von der Mehrheit - wenn auch oft unterschiedlicher - kognitiver bzw. kognitiv-linguistischer Ansätze geteilt. 26 Talmy kennzeichnet den zentralen Kern dieser

24

25

26

Man erinnere sich, daß die Achsen eines Objekt(schema)s auf Symmetrie- und Ausgrenzungseigenschaften beruhen. Die pragmatische Ebene umfaßt zum einen allgemeine Aspekte der Sprachverwendung, zum anderen spezifischere raumbezogene Aspekte, die von den Autoren jedoch wenig ausgearbeitet sind. Ich werde auf diese Ebene daher nicht näher eingehen. Beispielsweise schreiben Garrod/Sanford in diesem Zusammenhang: „Our basic contention is that

44 Ansätze durch die Aussage, „[that] a fundamental character of the way that space is represented at language's fine structural level [ζ. B. durch Präpositionen ausgedrückte lokale Relationen] is that it is schematic" (Talmy 1983:258, Hervorh. im Text). Er nennt drei Aspekte dieser Schematizität: Erstens, Idealisierung, die Notwendigkeit, einen konkreten Referenten auf ein abstraktes Schema abzubilden. Dieser Aspekt entspricht dem Begriff der konzeptuellen Kategorisierung bei Lang (1987), durch die wahrgenommene Objekte bestimmten Objektschemata zugeordnet werden können. Beispielsweise kann man eine Straße entlanggehen und überqueren (aufgrund der vorhandenen, dem Schema entsprechenden maximalen bzw. lateralen Achse), allerdings kann man ζ. B. eine Linie nicht überqueren (nur überschreiten) und einen Teich nicht entlanggehen. Zweitens, Abstraktion, die Vernachlässigung der nicht im Schema enthaltenen Information. Hierzu gehört ζ. B. das Ausblenden von Substanzeigenschaften der beteiligten Objekte (Überqueren eines Flusses vs. Überqueren einer Straße). Drittens, Topologie, die Invarianz eines Schemas bzgl. unterschiedlicher aktualer Formen und Größen (Überqueren eines Teichs/ Flusses/Ozeans). Dieser Aspekt drückt unter anderem aus, daß in einem Schema geforderte Achsenkonstrukte bis zu einem gewissen Grad verformbar sind und somit nicht strikt den Beschränkungen der Euklidischen Geometrie (Achse als .Gerade') unterliegen (zu Verformungsaspekten linearer Konstrukte vgl. auch Habel 1989a). Herskovits (1986) wird dieser schematisierten Ebene räumlicher Geometrie dadurch gerecht, indem sie verschiedene geometrische Beschreibungsfunktionen spezifiziert, die eine räumliche Entität - zum Teil auf sehr spezielle Weise - auf eine idealisierte räumliche Entität abbilden. Neben der bekannten .Place'-Funktion, die einem Objekt den von ihm eingenommenen Raum zuordnet, gibt sie sechs Mengen solcher Funktionen an: TeilFunktionen bilden ein Objekt auf einen bestimmten Teil (dreidimensionaler Teil) oder Teilaspekt (Kante, Grundfläche, ganze Oberfläche, vertikal orientierte Oberfläche, Unter/Oberseite) ab. Idealisierungs-Funktionen liefern Approximationen an Punkte, Linien, Oberflächen, eine horizontale Ebene oder einen Streifen. ,Good form '-Funktionen erlauben es, den von der Form eines Objekts abhängigen Umriß, seine Hülle oder seine in bezug auf nicht-materielle Teile (Löcher, Risse usw.) „normalisierte" Region zu betrachten. ,Zugehörige Bereiche' (adjacent volumes)- Funktionen verweisen entweder auf das Innere eines Objekts (z. B. den Innenraum einer Vase), auf den mit einer Ecke assoziierten Raum (vgl. der Stuhl in der Ecke) oder eine mit einer Fläche assoziierte dünne Schicht (vgl. Riß in der Oberfläche). Referenzsystem-Funktionen erlauben die Darstellung von Achsen und Betrachterstandpunkt. Schließlich ermöglichen /Vo/e&fi'onä-Funktionen die Abbildung von Objekten der Welt auf die „mentale Leinwand" (der Nordstern ist links von der Bergspitze). Vereinfacht lassen sich lokale Relationen auf dieser Basis als präpositionsspezifische Relationen zwischen räumlichen Argumenten darstellen, die durch möglicherweise rekursive Anwendung dieser Funktionen auf Objekte gebildet werden (20). (21a-c) liefert drei Beispiele für solcherart konstruierte sprachlich räumliche Relationen. (20)

Präp(GDF(01), GDF(02))

language only relates to the world in a principled way through the mediation of mental models of that world" (Garrod/Sanford 1988:147).

45 (21)

a. b. c.

She is under the tree UNDER(Place(She), UnderSide(Outline(BranchPart(Place(Tree))))) The city on the road to London ON(PtApprox(Place(City)), LineApprox(Place(Road))) The North Star is to the left of the mountain peak LEFT(HorizonProj(InfinProj(Place(North Star))), PtApprox(InfinProj(Place(Peak))), PtofObs(Place(Observer)))

Pribbenow (1993) betrachtet die Aspekte sprachlich räumlicher Geometrie aus dem Blickwinkel der These, „daß es ein sprachunabhängiges Inventar zur Verarbeitung von Raum gibt, das ausreichend ist, um die räumlichen Ausdrücke einer konkreten Sprache mit einer Auswahl dieser Konzepte beschreiben zu können" (S. 58). Sie unterscheidet hierbei zunächst zwischen Konzepten, die sich auf ein einzelnes Objekt beziehen (,Objektkonzepte'), und Konzepten, die sich auf Relationen zwischen (mindestens) zwei Objekten beziehen (,Distanzkonzepte'). Innerhalb der Objektkonzepte differenziert sie die folgenden fünf Basiskonzepte: Dimensionalität (die n-dimensionale „Sichtweise" eines Objekts); Objektform (ζ. B. „Pfadförmigkeit" oder Behälter-Eigenschaften von Objekten); Relevanz von Objektteilen (unterschiedliche Relevanz von Teilen des Referenzobjekts (RO) je nach Objekttyp des zu lokalisierenden Objekts (LO), vgl. Das Wasser in der Vase vs. Der Riß in der Vase)·, Pluralität (einzelne Objekte vs. Mengen(objekte), vgl. §Der Tisch inmitten des Stuhls/der zwei Stühle vs. Der Tisch inmitten der Stühle)·, Ausrichtung von Objekten durch Referenzsysteme. Während Objektkonzepte nur die an einer lokalen Relation beteiligten Objekte näher spezifizieren, sind Distanzkonzepte relational und setzen entsprechende Konzeptualisierungen von Objekten miteinander in Beziehung. Pribbenow unterscheidet vier dieser Konzepte: Inklusion („definiert durch das Umschlossensein einer Entität in einer anderen", Pribbenow 1993:78); Kontakt/direkte Nähe („dadurch definiert, daß der Abstand zwischen den beiden an der Relation beteiligten Entitäten so klein ist, daß diese über die reine Lokalisierungsfunktion hinaus miteinander in Interaktion treten können", ibid.); Nähe (RO dient als Bezugspunkt für LO); Ferne („beschreibt weniger eine bestimmte Entfernung zwischen zwei Entitäten als vielmehr die Nichtexistenz einer relevanten räumlichen Beziehung", Pribbenow 1993:80). Insgesamt unterscheiden sich die Raumkonzepte Pribbenows von den .geometric descriptions' Herskovits'. Zum einen sind letztere oft sehr spezifisch (vgl. spezialisierte Abbildungen wie HorizonProj), zum anderen sind erstere teilweise funktional definiert und weisen somit auch - wie schon von Miller/Johnson-Laird gefordert - konzeptuelle Eigenschaften auf. Nach Aurnague/Vieu sind funktionale räumliche Aspekte auf der von ihnen als „funktionale" Ebene angesiedelt, wo „the entities themselves" behandelt und erst mithilfe der Funktion stref auf ihre räumlichen Referenten abgebildet werden. 27 Die Autoren motivieren diese Differenzierung dadurch, daß auf der räumlichen Ebene bestimmte sprachlich relevante Unterscheidungen nicht getroffen werden können: Würde die Präposition sur nur durch räumlichen Kontakt repräsentiert, so könnte der in den Sätzen (22a) und (22b) sichtbare Kontrast nicht behandelt werden.

27

Offensichtlich entspricht diese funktionale Ebene der konzeptuellen Ebene bei Pribbenow.

46 (22)

a. b.

L'affiche est sur le mur / §contre le mur ,The poster is on / §against the wall' La planche est contre / §sur le mur ,The board is against / §on the wall'

Dasselbe gilt für andere Präpositionen: Würde ζ. B. die Präposition dans nur durch eine räumliche Inklusionsbeziehung zwischen (der Hülle des) RO und L O dargestellt, so könnte die Inakzeptabilität der verschiedenen Beschreibungen in (23) in bezug auf Abb. 23, sowie von (24) in bezug auf Abb. 24 nicht erklärt werden. (23)

§ La mouche est dans le verre / The fly is in the glass /Die Fliege ist im Glas

Abb. 23: Fliege-Glas-Beziehung (Aurnague/Vieu 1993)

(24)

§The potato in the bowl

Abb. 24: Kartoffel-Schüssel-Beziehung (Herskovits 1986:16)

Dies deutet d a r a u f h i n , daß funktionale Beziehungen wie .Unterstützung' (SUPPORT) und ,Enthaltensein' (CONTAINMENT) eine wesentliche Rolle bei der Repräsentation sprachlich räumlicher Relationen spielen, und zeigt, daß rein räumliche Beziehungen nicht hinreichend sind, um sprachliche Raumkonzepte zu beschreiben. Untersuchungen zur Verwendung räumlicher Präpositionen ergaben außerdem, daß räumliche Bezüge offenbar nicht immer notwendig sind: Probanden verwendeten z. B. die Präposition in auch in bezug auf Konstellationen, in denen die Inklusionsbeziehung nicht galt ((25), Abb. 25., vgl. Coventry et al. 1994:295). (25)

The pear is in the bowl

Abb. 25: Birne-Schüssel-Beziehung (Coventry et al. 1994:295)

47 Funktionale Aspekte lassen sich nach Aurnague/Vieu in drei Gruppen gliedern. Die erste G r u p p e besteht aus d e n e r w ä h n t e n f u n k t i o n a l e n R e l a t i o n e n ( S U P P O R T , C O N T A I N M E N T ) . D i e z w e i t e G r u p p e setzt sich aus s o l c h e n A s p e k t e n z u s a m m e n , die die „Seitigkeit" eines O b j e k t s bestimmen (.Zugänglichkeit', .Typische Interaktion' usw.). Die dritte G r u p p e wird schließlich durch Strukturierungsaspekte gebildet, die sich ζ. B. in der „Sichtweise" eines O b j e k t s als begrenzt oder unbegrenzt (26a), oder in konzeptuellen TeilGanzes-Beziehungen - im G e g e n s a t z zur I n k l u s i o n als rein r ä u m l i c h e r Teil-GanzesRelation - (Element-Menge, Bestandteil-Komplex, s. Gerstl/ Pribbenow 1995, (26b)) ausdrücken. 2 8 (26)

a. b.

Der Baum zwischen den anderen Bäumen Der Baum in der Gruppe der anderen Bäume Die Bäume im Wald Der Glühdraht in der Lampe / Das Salz in der Suppe

Schematisierte räumliche Aspekte sowie funktionale Beziehungen können zu einem übereinzelsprachlich g e g e b e n e n konzeptuellen räumlichen W i s s e n z u s a m m e n g e f a ß t werden, das von den E i g e n s c h a f t e n einzelsprachlich r ä u m l i c h e r (semantischer) Relationen systematisch zu trennen ist. Diese Unterscheidung findet sich am explizitesten in der Differenzierung der konzeptuellen und der semantischen Repräsentationsebene bei Bierwisch (Bierwisch 1983, B i e r w i s c h / L a n g 1987a). Er f a ß t die s e m a n t i s c h e E b e n e als Schnittstelle zwischen d e m konzeptuellen Wissenssystem und System sprachlicher Strukturen auf (allerdings mit der kritischen A n n a h m e einer durch spezifische Operationen bedingten Eigenständigkeit dieser E b e n e ; s. hierzu die A u s f ü h r u n g e n unten). D i e A u f g a b e bei der Modellierung sprachlich r ä u m l i c h e r Relationen besteht somit darin, den spezifischen B e z u g einzelsprachlich r ä u m l i c h e r A u s d r ü c k e auf das konzeptuelle W i s s e n zu eruieren und auf der semantischen Ebene formal zu explizieren.

2.2.3

Modellierung sprachlich räumlicher Relationen

Miller/Johnson-Laird ( 1 9 7 6 : 3 7 9 ) geben mit (27) ein a l l g e m e i n e s S c h e m a f ü r sprachlich räumliche (lokale) Relationen an, wie sie ζ. B. durch räumliche Präpositionen ausgedrückt werden (vgl. hierzu auch Pribbenow 1993:6ff)· Danach ist das erste Argument der Referent oder das Thema der lokalen Relation, das zweite A r g u m e n t das Relatum, zu d e m das erste in Beziehung gesetzt wird. Diesem S c h e m a entspricht ein abstraktes semantisches Schema f ü r r ä u m l i c h e P r ä p o s i t i o n e n (28), das neben d e m s e m a n t i s c h e n G e h a l t a u ß e r d e m die Argumentstruktur als Bindeglied zwischen Semantik und Syntax aufweist.

28

(27)

R(x, y) mit

(28)

Xy λχ R(x, y)

R: lokale Relation x: Referent y: Relatum

Vgl. hierzu auch Buschbeck-Wolf (1995:950-

48 An diesem Eintrag wird deutlich, daß sprachlich räumliche Relationen inhärent asymmetrisch sind: Grundsätzlich wird das Relatum als internes Argument zuerst abgebunden, dann das Thema. Dies entspricht auf sprachlicher Ebene der Beobachtung, daß eine Aussage über das Thema gemacht wird („in einer Relation R zu einem Relatum y zu stehen"). Auf der konzeptuellen Ebene hat das zur Folge, daß zu einem gegebenen Thema üblicherweise nur bestimmte saliente Objekte als Relata infrage kommen („das Fahrrad bei dem Haus"), so daß die inverse Beschreibung („das Haus bei dem Fahrrad") als inadäquat empfunden wird. Nicht selten wird diese Asymmetrie daher in bezug zu der aus der Gestaltpsychologie bekannten Unterscheidung .Figur' vs. .Grund' gesetzt (vgl. Talmy 1983:230f). Diese abstrakte Struktur lokaler Relationen läßt sich inhaltlich näher spezifizieren. Um sprachlich räumliche Relationen zu etablieren, ist es zunächst „necessary to define a point of origin and to orient coordinate axes from that landmark" (Miller/Johnson-Laird 1976:405). Dabei dient entweder der Betrachterstandort oder das Relatum als Ursprung. Im Rahmen eines so determinierten Referenzrahmens gibt eine lokale Relation an, in welchem Bereich bzw. in welcher Region (die durch qualitative Richtungen oder Distanzen bestimmt werden kann) das Thema zu finden ist. Kurz: „the role of locative prepositions is to define a subdomain of search relative to the landmark that defines the point of origin" (ibid.). Die Charakterisierung einer lokalen Relation mithilfe des Konzepts der „Lokalisierung eines Objekts in einer Region bzgl. des Relatums" wird von Wunderlich (1982) übernommen und in der Semantik lokaler Präpositionen expliziert. Danach drückt eine lokale Relation das Enthaltensein des Ortes von χ (7t(x), π ist die ,,Place"-Funktion) in einer spezifischen Umgebungs- oder Nachbarschaftsregion von y (ujy), uj ist eine spezifische regionsgenerierende Funktion) aus (29). Eine mittlerweile verbreitetere notationelle Variante davon ist (30) (vgl. Wunderlich/Herweg 1990), in dem die Lokalisierungsrelation zwischen einem Objekt und einer präpositionsspezifischen Region (PRAEP*(y)) direkt repräsentiert ist. Das semantische Schema in (31) berücksichtigt schließlich mögliche durch eine Präposition ausgedrückte Constraints (C(x, y)) wie z. B. ,Contact(x, y)' oder ,Support(y, x)'. (29) (30) (31)

XyXx[n(x)cuj(y)] Xy λχ [ LOC(x, PRAEP*(y) ] Xy λχ [ LOC(x, PRAEP*(y)) & C(x, y)]

Charakteristisch für diesen Ansatz zur Repräsentation sprachlich räumlicher Relationen („Lokalisierungsansatz") ist also ihre Darstellung anhand einer Lokalisierungsrelation zwischen dem Thema (dem zu lokalisierenden Objekt, LO) und einer präpositionsspezifischen Region bzgl. des Relatums (Referenzobjekt, RO). (32)

a. b. c.

Die Kinder saßen um den Tisch §Das Kind saß um den Tisch Die Schlange lag um den Tisch

Klein (1991) weist auf ein Problem des Lokalisierungsansatzes hin. So müßten die Beispiele in (32) gemäß (30) als „LO ist lokalisiert in der UM*-Region des R O " analysiert werden. Geht man wie Klein davon aus, daß die UM*-Region „eine Art Torus ist, der den Tisch selbst einschließt" (Klein 1991:84), heißt dies, daß der jeweilige Ort der LOs in (32) nur als räumlicher Teil dieses Torus charakterisiert wird. Auf diese Weise läßt sich aller-

49 dings die Inakzeptabilität von (32b) sowie die spezifische Positionierung der L O s in (32a,c), die selbst einen solchen Torus bilden müssen, nicht erklären. Klein schlägt aus diesem Grund eine alternative Sichtweise von „Lokalisierung" vor: „Ein Objekt (oder eine Person) zu lokalisieren, heißt daher nicht anzugeben, daß das Objekt einen Teil des Raums füllt, sondern es heißt, den Ort, an dem sich das Objekt befindet, als einen Ort bestimmter Art zu kennzeichnen." (Klein 1991:85) Klein formalisiert diese Sichtweise dadurch, daß er die lokale Relation nicht als eine Teilmengenbeziehung des LO-Ortes und des U M - R a u m e s des R O darstellt, sondern als E l e m e n t - B e z i e h u n g zwischen d e m L O - O r t und der M e n g e der U M - O r t e des R O (UM + (RO)). Entsprechend ergibt sich (33) als semantisches Schema für lokale Relationen. (33)

a. b.

XyXx[7i(x)euj(y)] Xy λχ [ LOC(x, PRAEP+(y) ]

Der Ansatz Kleins zur semantischen Repräsentation lokaler Relationen ist offensichtlich durch die Auswahl eines präpositionsspezifischen LO-Ortes gekennzeichnet ( - » „Selektionsansatz"). Hierbei verschiebt sich allerdings das Problem der Charakterisierung von um auf die Spezifizierung der UM-Ort-Menge (UM + ) bzw. Den Eigenschaften eines UMOrtes. Außerdem ist fraglich, ob die von ihm vorgenommene Generalisierung (von der Behandlung der Beispiele in (35) auf alle lokalen Relationen) gerechtfertigt ist. Die Präposition um ist insofern untypisch, als es sich bei ihr auch um eine Wegpräposition handelt (vgl. Das Kind läuft um den Tisch). Entsprechend liegen in (32) möglicherweise nur indirekte oder abgeleitete lokale Relationen vor (vgl. Er ist über den Berg), deren Darstellung systematisch von der Behandlung lokaler Präpositionen (die im übrigen überwiegend den Dativ regieren) unterschieden werden muß. Ein nicht unwesentlicher Aspekt der Ansätze Wunderlichs und Kleins ist der, daß sprachlich räumliche Relationen in der Semantik einer lokalen Präposition relational repräsentiert werden (mit L O und RO als Argumenten). Dies hat zur Folge, daß lokale Präpositionalphrasen gleichermaßen in kanonischer Weise als lokale Komplemente eines Verbs (Das Kind sitzt am Tisch) und als Modifikatoren eines Nomens (Das Kind am Tisch) auftreten können, da sie semantisch als räumliche Eigenschaften (,in einer bestimmten Region lokalisiert zu sein') aufzufassen sind. Dieser Punkt kennzeichnet einen entscheidenden Unterschied zu dem Ansatz Jackendoffs (1983, 1990). Jackendoff faßt Regionen ebenfalls als zentrale räumliche Konstrukte auf. Er nimmt daher präpositionsspezifische „place functions" an, die angewandt auf ein R O eine Region liefern. Allerdings bilden Regionen bei Jackendoff die Denotate räumlicher Präpositionalphrasen (vgl. (34) als Bedeutung der Phrase on the table). Entsprechend werden sprachlich räumliche Relationen nicht als Lokalisierungsrelationen analysiert, sondern gegebenenfalls explizit durch eine allgemeine Relation , B E ' als Zuordnung eines Themas zu einer Region dargestellt (s. (35). Wie in diesem „Zuordnungsansatz" Modifikation behandelt wird (vgl. The book on the table) ist nicht direkt ersichtlich (s. auch Wunderlich/ Herweg 1990). 29

29

Modifikation scheint in diesem Bereich generell nicht-trivial zu sein. Gerade Beispiele mit direktionalen Präpositionen (die Tür in den Garten, das Fenster zum Hof) zeigen, daß auch in Wunderlichs Ansatz komplexere Analysen notwendig sind (vgl. auch Wunderlich 1990).

50 (34)

Place (35)

a. b.

The book is on the table

THE_BOOK~\

ON(

~THE_TABLE~\ ' Thing

J )

Place State Nicht alle Ansätze zur Charakterisierung sprachlich räumlicher Relationen basieren primär auf dem Regions- oder Lokalisierungsbegriff. Wie oben bereits beschrieben (vgl. (23, 24)) repräsentiert Herskovits lokale Relationen als präpositionsspezifische Relationen zwischen Objektkonzeptualisierungen. Auch Bierwisch (1988) verfolgt einen „relationalen Ansatz". Er stellt nur die Semantik des lokalen in als eine Teilmengenbeziehung des Ortes des LO im Ort des RO dar, andere lokale Präpositionen sind in ihrer Interpretation noch nicht weiter festgelegt als eine spezifische Relation zwischen Orten (vgl. Bierwisch 1988:37, s. in vereinfachter Darstellung (36)). (36)

/in/ /an/ /unter/

λy λ χ [ π(χ) c 7t(y) ] Xy λχ [ π(χ) AT π(γ) ] λy λχ [ π(χ) BELOW ji(y) ]

Logan (1994, 1995) verfolgt ebenfalls einen relationalen Ansatz, der auf Referenzrahmen als für die Repräsentation und Verarbeitung räumlicher Relationen relevante Konstrukte basiert („Spatial relations between objects are defined in terms of reference frames imposed on reference objects", Logan 1994:1016). Als Ort sprachlich räumlicher Relationen (d. h. z.B. durch Präpositionen ausdrückbarer Konzepte) nimmt er konzeptuelle (vs. perzeptuelle) Repräsentationen an, die die folgenden Eigenschaften aufweisen: „The conceptual representation is a 1-, 2-, or 3-place predicate that expresses a spatial relation. The conceptual representation identifies the relation (e. g., it distinguishes above from below), it individuates the arguments of the relation, distinguishing between the reference object and the located object; it identifies the relevant reference frame [...], and it identifies the relevant spatial template" (Logan/Sadler 1996:498). 3 0

Die bisher vorgestellten Ansätze zur Repräsentation sprachlich räumlicher Relationen lassen sich dadurch charakterisieren, daß sie räumliche Information als notwendig und primär und andere (funktionale) Information als sekundär (d. h., als zusätzliche Beschränkung) betrachten. Funktionale Ansätze schwächen diese Asymmetrie ab oder kehren das Verhältnis zugunsten funktionaler Relationen sogar um. Anhand von empirischen Untersuchungen zeigen Coventry et al. (1994), daß funktionale Bezüge zwischen LO und RO 30

Die „spatial templates" enthalten Informationen über die Anwendbarkeit einer Relation und entsprechen so der präpositionsspezifischen „Region der Akzeptabilität", in der sich das LO bei gegebener Relation befinden kann.

51 eine entscheidende Rolle bei der Verwendung bestimmter Präpositionen spielen. Hierfür werden vor allem Beispiele angeführt, die die Akzeptabilität des Gebrauchs von in trotz Nicht-Vorliegens einer geometrischen Inklusionsbeziehung aufzeigen. Entsprechend findet sich in ihrer Arbeit eine primär funktional ausgerichtete Bedeutungscharakterisierung der Präposition in (Coventry et al. 1994:291, s. (37)). (37)

2.2.4

in:

functional containment -in is appropriate if the ground is conceived of as fulfilling its containment function

Zusammenfassung/Kritik

Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, daß sprachlich räumliche Relationen auf weit mehr als nur die geometrisch-topologischen Eigenschaften einer Lagebeziehung verweisen, so daß für ihre Charakterisierung zusätzliche konzeptuelle Aspekte berücksichtigt werden müssen. Es zeigt sich allerdings, daß die Anbindung der Betrachtung konzeptueller Eigenschaften an die Untersuchungen zur kognitiven Raumrepräsentation noch nicht zufriedenstellend bewerkstelligt ist. Zum anderen ist, wie die unterschiedlichen Ansätze im Bereich sprachlich räumlicher Relationen deutlich machen, auch die Beziehung der konzeptuellen und semantischen Ebene weitgehend ungeklärt. Entsprechend ist eine genauere Betrachtung der verschiedenen Aspekte und Probleme der Semantik räumlicher Ausdrücke erforderlich, die im anschließenden Kapitel erfolgt.

3 Aspekte der Semantik räumlicher Ausdrücke ,Far is defined as four times near" (Denofsky 1976:9)

3.1

Die Semantik lokaler Präpositionen

3.1.1

Regionen

In den Ausführungen über die unterschiedlichen Ansätze zur Repräsentation sprachlich räumlicher Relationen zeigt sich, daß dem Terminus .Region' insgesamt eine zentrale Rolle beigemessen wird. Allerdings wird nicht immer deutlich, daß „Region" auf verschiedene Art interpretiert werden kann bzw. verwendet wird. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, die existierenden Interpretationen nebeneinanderzustellen und voneinander abzugrenzen. Die grundlegende Bedeutung von „Region" ist sicherlich die einer ontologischen Raumkategorie (ebenso wie mit „Zeitpunkt" oder „Zeitintervall" Zeitkategorien bezeichnet werden). Danach sind Regionen Teile des uns umgebenden Raums, die sich einerseits mit den Mitteln der Mengentheorie oder der Mereologie formalisieren und andererseits nach inhaltlichen Kriterien subklassifizieren lassen. Beispiele hierfür sind ,Innenregionen' als materiell nicht belegte innere Bereiche eines Objekts oder, komplementär dazu, die .Materiellen Teile' eines Objekts. Außerdem fällt die Kennzeichnung eines Raums als Objekte enthaltendes „Gebiet" (Innenstadt, Landschaft, Alpen) 1 unter diesen Terminus. Im Bereich der visuellen Wahrnehmung gebrauchen Palmer/Rock (1994) (vgl. auch Palmer 1992) „Region" als Bezeichnung für Bereiche im visuellen Feld, die sich durch das Vorliegen einer charakteristischen, einen Zusammenhang induzierenden Eigenschaft („uniform connectedness", UC) auszeichnen: „Simply stated, the proposed principle of U C is that a connected region of uniform visual properties -such as luminance or lightness, color, texture, motion, and possibly other properties as well -strongly tends to be organized as a single unit." (Palmer/Rock 1994:30).

Eine so definierte Basiseinheit in Theorien der visuellen Wahrnehmung unterscheidet sich allerdings von der .Region' Miller/Johnson-Lairds, die als ein spezifischer, im Ausmaß (10° visuellen Winkels) beschränkter (Aufmerksamkeits-)Bereich um ein Objekt herum aufgefaßt werden kann, innerhalb dessen ein funktionaler Zusammenhang auf der perzeptuellen Ebene hergestellt wird („Outside this 10-degree angle, χ is no longer functionally included in Reg(y)", Miller/Johnson-Laird 1976:91). Wie weiter oben beschrieben, verwenden diese Autoren den Regionsbegriff auch auf der von konkreten Wahrnehmungsaspekten losgelösten konzeptuellen Ebene als Beschreibung des typischen Interaktionsbereichs eines Objekts. Ein solcher abstrakterer Begriff wird ebenfalls von Landau/Jackendoff gefordert: 1

Vgl. auch den Begriff des .Districts' bei K. Lynch, Das Bild der Stadt 1965).

(Berlin et al.: Ullstein

53 „[...] there is nothing in the image (that we can think of, anyway) that would correspond to the spatial notion of region (or, in fact, to the principal axis of a nonrotating sphere). But each of these - whether or not it is mappable from the image - must be encoded in spatial representation." (Landau/Jackendoff 1993: 257). Allerdings ist die von Landau/Jackendoff intendierte Interpretation allgemeiner als der von Miller/Johnson-Laird angesprochene Interaktionsbereich und entspricht der konzeptuellontologischen .Place'-Kategorie Jackendoffs, die auf derselben Ebene wie die Kategorien , W e g ' , .Ereignis', .Räumliches Objekt' u. ä. anzusiedeln ist und die mit entsprechenden Raumkategorien seiner „projected world" korrespondieren: „[...] the level of conceptual structure must contain a rich range of ontological categories corresponding to different categories of projected #entities#" (Jackendoff 1983:56).2 Regionen dieser Art nehmen offenbar eine spezifische, definitorische Rolle in der Charakterisierung sprachlich räumlicher Relationen ein, die zentral für die Regionsansätze (Zuordnungsansatz, Lokalisierungsansatz) ist: „the relationship [between the figure and the reference object] is encoded as a spatial preposition that, with the reference object, defines a region in which the figure is located" (Landau/Jackendoff 1993:223). Strikt hiervon zu unterscheiden ist die Verwendung von „Region" als Bezeichnung für den Varianzbereich möglicher Befindlichkeit des L O in Abhängigkeit von einer präpositionsspezifischen Relation zum RO. Sie beruht darauf, daß in relationsbasierten Ansätzen, die nicht von einem ontologischen Grundtyp . R e g i o n ' ausgehen, dieser Bereich der Akzeptabilität der Verwendung einer jeweiligen Präposition (der „region of acceptability" bei Logan/Sadler 1995, „tolerance space" bei Herskovits 1986) bestimmt werden muß. Akzeptabilitätsregionen werden nach Logan/Sadler jeweils als ein spatial template repräsentiert, „[which] is a 2- or 3-dimensional field representing the degree to which objects appearing in each point in space are acceptable examples of the relation in question" (Logan/Sadler 1996:496). Offensichtlich erfüllen Regionen dieser Art eine charakteristische Funktion, indem sie keine notwendige, sondern hinreichende Information über die Position des L O liefern. Diese - nicht notwendigerweise vollständige - Liste von Interpretationen verdeutlicht zunächst einmal nur die allgemeine Problematik des Regionsbegriffs für die Charakterisierung sprachlich räumlicher Relationen. Sie zeigt, daß die unterschiedlichen Verwendungsweisen in den Annahmen über die (Spezifizität der) postulierten Regionstypen (Miller/Johnson-Laird vs. Wunderlich vs. Jackendoff) grundlegend verschieden sind. Ein weitaus spezifischeres Problem ergibt sich aus der Betrachtung der linguistischen Ansätze. Es besteht darin, daß in diesen Ansätzen die Charakterisierung der Semantik einer räumlichen Präposition auf die Charakterisierung einer entsprechenden Region verschoben wird, so daß sich die Frage nach der Spezifik einer sprachlich räumlichen Relation hin zur Frage nach den Eigenschaften entsprechender Regionen verlagert. Eine solche Verlagerung ist nicht a priori ungerechtfertigt. Sie ist sogar sinnvoll, wenn gezeigt werden kann, daß der Terminus .sprachlich räumliche Relation' auf Lokalisierung bzgl. bestimmter konzeptuell motivierter Regionen eines Objekts zurückgeführt werden kann. Allerdings ist der Status solcher Regionen nicht von vornherein ersichtlich. Handelt es sich um konzeptuell gegebene bzw. konstruierbare „Objekt-Regionen" (z. B. unter2

Die Markierungen ,##' kennzeichnen bei Jackendoff eine Entität als eine Entität der Welt.

54 schiedliche .Innenräume' eines Objekts) oder um anhand einer präpositionsspezifischen Eigenschaft konstituierte Regionen? Für Wunderlich liegt die Antwort auf der Hand: „Jeder Gegenstand hat charakteristische Umgebungen (die ihm teils inhärent zugehören, die wir teils durch unsere Perspektive auf den Gegenstand erzeugen). [...] Im Deutschen sind es bestimmte Präpositionen, mit deren Hilfe wir die Lokalisierung in einer dieser Umgebungen ausdrücken" (Wunderlich 1990:45). In einigen Fällen erscheint es tatsächlich plausibel, von (konzeptuell)-ontologischen Objekt-Regionen auszugehen, die durch entsprechende Präpositionen identifiziert werden können (vgl. die Abbildung von bei auf die Proximalregion des RO sowie die Abbildung von in auf unterschiedliche Innenregionen; s. (la,b)). Bestimmte Regionen könnten einem Objekt auch kontextspezifisch zugewiesen werden, wie im Falle formbarer Objekte, die nur in einer bestimmten Form einen ,Innenraum' aufweisen (s. (lc)). Trotzdem stellt sich grundsätzlich, im folgenden exemplarisch am Beispiel der Präposition in dargestellt, die ontologische Frage: Was ist eine präpositionsspezifische Objekt-Region? a. c. d. e. g· h. j1.

m. 0.

Studenten im Uni-Gebäude Praline im Papier Vogel im Geäst Bild im Spiegel Nagel in der Wand §Fuß im Bein Falten im Papier Knoten im Schnürsenkel Schmerz im Knie Fehler im Algorithmus

b.

Risse im Uni-Gebäude

f.

Mond im Fenster

i. k.

§Ohr im Kopf Krümmung im Rohr

n.

Wut im Bauch

KI-orientierte Arbeiten wie Pribbenow (1993) machen deutlich, daß regionsbasierte Ansätze eine Antwort hierauf geben müssen, damit Lokalisierungen eines LO modelliert werden können. Danach sind „negative Objekte" (Risse, Löcher etc.) in den ,Materiellen Teilen' und „normale Objekte" in ,Innenräumen' eines RO lokalisierbar. Dies sind offenbar ontologische Aussagen, die bestimmte Eigenschaften der Welt wiedergeben. Vielfach verwendete Beispiele wie (ld) deuten jedoch darauf hin, daß - ganz im Sinne Jackendoffs - weitere Innenregionen anzunehmen sind, die auf der Wahrnehmungsebene angesiedelt sind und durch Gestaltschließungsoperationen gebildet werden (vgl. die Kontur- und Hüllenoperationen bei Herskovits). Es ist aber bereits darauf hingewiesen worden, daß solcherart gebildete Regionen die Verwendung der Präposition nicht hinreichend erklären. Außerdem scheint dies zu einer Vielzahl konzeptuell zu unterscheidender „projektiver" Innenregionen zu führen (le,f). Buschbeck-Wolf (1995: lOOf) weist darauf hin, daß Lokalisierung im Sinne räumlicher Inklusion als „Verdrängung" eines Teils der Innenregion durch das LO verstanden werden muß (im Gegensatz zur strikt verstandenen räumlichen Teilmengenbeziehung, wonach zwei Objekte einen gemeinsamen Raumteil einnehmen könnten, vgl. auch (lg)). Ausnahmen dieses Prinzips bilden allerdings solche Fälle, in denen das LO ein Teil des RO ist. Entsprechend sollten alle Beispiele, die der einfachen räumlichen Teilmengenbeziehung entsprechen, ausgezeichnete Instanzen für die Verwendung von in sein. Dies trifft jedoch nicht unbedingt zu (lh,i). Obwohl sich für die Inakzeptabilität dieser Beispiele präg-

55 matische Faktoren verantwortlich machen lassen, ist sie aus rein räumlicher Sicht zumindest konterintuitiv. Formobjekte (.Falte', .Krümmung') als LOs charakterisieren eine weitere Klasse von inVerwendungen (lj,k). Von welchem Typ aber sind die Innenregionen, in denen solche Formobjekte „lokalisiert" sind? An Beispielen wie (11) läßt sich leicht veranschaulichen, daß dies nicht die kanonischen Objektregionen sein können. Knoten sind weder wie Löcher (negative Objekte), Fasern (Teile) oder Schmutz (Fremdkörper) in den .Materiellen Teilen' des RO zu suchen, noch weist dieses .Innenräume' auf. Aus diesem Grund muß die Annahme einer Knoten-spezifischen Innenregion als post-hoc angesehen werden, da sie einzig dazu dienen würde, das Postulat konzeptuell-ontologischer Regionen zu untermauern. Das zeigt, daß dieses Postulat zu einem erheblichen, ontologischen Problem für die Regionsansätze führt. Hierzu gehört auch die Frage danach, wie in-Verwendungen mit abstrakten LOs (lm.n) und ROs (lo) auf der Basis rein räumlicher Kategorien erklärt werden können. Objektregionen sind demnach nicht hinreichend für die semantische Charakterisierung räumlicher Präpositionen. So können deiktisch bestimmte Regionen ebenso wie andere, z.B. Zwischen-Regionen (vgl. Habel 1989a), kaum als Objektregionen aufgefaßt werden. Sie weisen keinen inhärenten Bezug zu ihren Referenzobjekten auf, sondern müssen stets generiert/konstruiert werden. Es bleibt daher unklar, wie Regionen als erklärende Konstrukte aufgefaßt werden können, die die angesprochene Verlagerung rechtfertigen. Diese Unklarheit betrifft nicht nur die Regionen selbst, sondern auch die postulierte Zuordnung von Präpositionen und Regionen. Beispielhaft hierfür ist die Frage, ob die Präpositionen an und bei auf dieselbe Region verweisen (Herweg 1989, 1991) oder auf verschiedene (z. B. Pribbenow 1993; zu einer ausführlichen Diskussion dieser Problematik s. u.). Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt, daß es sich bei der oben erwähnten Verlagerung nicht um eine sinnvolle Problemreduktion, sondern um eine Problemverschiebung handelt. Diese führt - soweit grundsätzlich kanonische oder konstruierbare Objektregionen angenommen werden - einerseits zu einem ontologischen Problem, andererseits kennzeichnet sie das Fehlen der eigentlichen Spezifika der Regionen (und somit der sprachlich räumlichen Relationen). Schließlich begünstigt sie das, was in Kapitel 1 als interdisziplinärer Zirkel in der Charakterisierung (sprachlich-) räumlicher Relationen bezeichnet worden ist.

3.1.2

Der Lokalisierungsansatz

Als Antwort auf den Vorschlag Kleins (1991) zur semantischen Beschreibung räumlicher Präpositionen liefert Wunderlich ein plausibles Argument für die Favorisierung des Lokalisierungsansatzes: Erstens sollte nur so viel Struktur in die semantische Form aufgenommen werden, „wie in irgendeiner Variante auch tatsächlich morphologisch sichtbar wird" (Wunderlich 1990:45). Zweitens ist die „wahre" Struktur sprachlich räumlicher Relationen offenbar in einigen Sprachen explizit sichtbar, wofür Wunderlich das Japanische heranführt und am Beispiel (2) veranschaulicht.

56 (2)

a. b. c.

über dem Berg ((yama no) ue) ni3 ((Berges des) ÜBER-RAUM) in

(3)

a. b.

Im Rücken des Feindes Im Bauch der Großstadt

Wunderlich weist außerdem darauf hin, daß auch im Deutschen Verwendungen vorliegen, die dieser Struktur entsprechen (3). In diesen Beispielen verweisen die funktionalen Nomina (Rücken, Bauch) auf eine einzige Region und nicht, wie im Selektionsansatz Kleins angenommen werden müßte, auf eine (strukturierte) Menge solcher Regionen. Ohne daß hier der Ansatz Kleins vertreten werden soll, muß allerdings auf ein paar Schwachpunkte der Sichtweise Wunderlichs hingewiesen werden. Erstens wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, daß ein schlichter Verweis auf anzunehmende konzeptuelle Regionen (wie in (2b)) nicht gerechtfertigt ist. Zweitens ist die Möglichkeit expliziter Regionslokalisierung tatsächlich gegeben, und zwar im Deutschen in sehr allgemeiner Form (4a). Werden hierfür in analoger Weise entsprechende Regionen postuliert (LANGm E F - / H O C H - R A U M usw.)? (4)

a. b.

im Inneren/ in der Länge/Höhe/Weite/Tiefe in front of

Drittens liegt die von Wunderlich postulierte Struktur ζ. B. im Englischen sogar lexikalisiert vor (4b). Es stellt sich aber die Frage, ob behind (als entsprechende konverse Präposition) implizit dieselbe Struktur aufweist. Wie kann aufgrund einer solchen Annahme prinzipiell die Form-Inhalt-Zuordnung festgelegt und zwischen Synonymie und Heteronymie verschiedener Formen unterschieden werden? Besonders deutlich zeigt sich dieses Problem an dem Verhältnis räumlicher Präpositionen und Adjektive und ihrer korrespondierenden Lokalisierungsformen in (4a). Entweder wird zwei entsprechenden Formen (5a,b) dieselbe zugrunde liegende semantische Struktur zugewiesen (5c). (5)

a. b. c. d.

in der Nähe nahe Xy λχ LOC(x, NAHE*(y)) Xc (Xy) λχ [QUANT (DIST (y, x)) = [v - c]] (nahe)

Dies konfligiert direkt mit der vorgeschlagenen Analyse für das Distanzadjektiv nahe (5d, vgl. Lang 1987). Oder aber, die aktuale semantische Distinktion zwischen den Formen in (5a,b) wird eingeräumt und entsprechenden Formen eine prinzipiell mögliche Unterschiedlichkeit zugebilligt. In diesem Fall ist der Argumentation Wunderlichs bzgl. (2) die Grundlage entzogen, indem es nicht möglich ist, der Struktur in (2c) einen kanonischen Status zuzuweisen bzw. von der - möglicherweise strukturell expliziten - Form in einer bestimmten Sprache auf die Struktur einer anderen Form (in derselben oder einer anderen Sprache) zu schließen.

3

ni wird von Wunderlich als allgemeiner Lokalisierungspartikel beschrieben, der „ungefähr die Bedeutung unserer Relation LOK" (ibid.) hat.

57 Als Ergänzung zu dieser mehr im empirischen Bereich angesiedelten Diskussion läßt sich auch auf der analytischen Ebene der Frage nachgehen, ob die Lokalisierungsrelation tatsächlich prinzipiell notwendig für die Semantik räumlicher Präpositionen ist. Einer der Gründe hierfür könnte die Bewältigung der Vagheit der räumlichen Angabe sein (wie sie vorwiegend durch eine räumliche PP ausgedrückt wird): Mit einer solchen Angabe kann grundsätzlich nicht die genaue Position des L O ausgedrückt werden, da sie nicht auf ein universelles Koordinatensystem bezogen ist, sondern die relative Lage eines Objekts charakterisiert. Danach wäre es sinnvoll, einen größeren Bereich (eben eine Region) aufzuspannen, in dem sich das L O befindet. Als Beleg für diese Sichtweise könnten Repliken auf eine lokale Angaben dienen, wie sie in (6) vorliegen. (6b) ist tatsächlich durch die Vagheit in (6a) motiviert und fragt nach einer Einschränkung der Theaterinnenregion. Dieses Argument ist jedoch nicht zwingend. Dieselben Phänomene zeigen sich auch im nichträumlichen Bereich (7). Wie in (6) ist der Ereignis-Ausdruck (7a) vage (s. 7b). (6)

a. b.

Peter ist im Theater O.k., aber w o ist er genau?

(7)

a. b.

Peter hat das Geschirr gespült O.k., aber was hat er genau getan?

Die Semantik räumlicher Präpositionen und die Semantik von Ereignisverben weisen interessanterweise drei wesentliche Unterschiede auf. Geht man erstens von der Vagheitsinterpretation der Regionen aus, so ist Vagheit nur in ersterer explizit repräsentiert, in letzterer bleibt sie bestenfalls implizit (s. 8). Entsprechend erweist sich dieser Aspekt der Semantik räumlicher Präpositionen als idiosynkratisch und insgesamt unplausibel. (8)

λχ λε [e INST [SPÜL(x, GESCHIRR)]] 4

Zweitens verfügen die Verben über referentielle Argumente, die vor allem auch eine adäquate Behandlung von Modifikation der Ereignisinformation ermöglichen. Entsprechendes ist in der Präpositionalsemantik nicht der Fall (zu Aspekten der Modifizierbarkeit lokaler Relationen s. u.). Drittens ist bereits oben darauf hingewiesen worden, daß sich die Unterscheidung LOR O aus der Argumentstruktur lokaler Relationen ergibt: Das L O ist stets das externe Argument der Relation, die ihm nach Abbindung des internen RO-Arguments als lokale Eigenschaft prädiziert wird. Durch die Lokalisierungsrelation wird dem externen Argument jedoch zusätzlich eine inhaltliche thematische Rolle zugewiesen, die angesichts weiterer Einwände gegen die Lokalisierungsrelation somit fragwürdig erscheint. W ü r d e man angesichts dieser drei Punkte die gegenwärtige Analyse der Präpositionalsemantik auf die der Verben übertragen, so ergäbe sich die (8) entsprechende imaginäre semantische Form in (9), in etwa: „x ist in einem dem Geschirr zugeordneten Spül-Situationskomplex thematisch verankert". Ich werde stattdessen weiter unten f ü r eine zur Verbsemantik 4

Das Beispiel orientiert sich an den Ausführungen in Bierwisch (1988:50f), der die Semantik von Verben grundlegend als eine Relation (,INST') zwischen einem Situationstoken (hier: e) und einem Situationstyp darstellt.

58 analog strukturierte Form wie in (10) plädieren, die nicht die Nachteile des Lokalisierungsansatzes, dafür aber weitere Vorteile aufweist. (9) (10)

λ χ [THEM(x, SPÜL°(GESCHIRR)]] λy λ χ λτ [r INST [ P R Ä P R E L A T I O N ( x , y)]] 5

Wunderlich gibt in seiner Replik auf Klein (1990) auch eine Antwort auf das in Kap. 2 veranschaulichte Puzzle der Präposition um. Sie lautet verkürzt folgendermaßen: Die Lokalisierungsrelation ist natürlich notwendig in der entsprechenden semantischen Repräsentation, aber zusätzlich können weitere Bedingungen (wie die erwähnten funktionalen Relationen) die Befindlichkeit des LO beschränken. Als entsprechenden Eintrag für um schlägt er daher ( I I a ) vor (vgl. dazu auch seine Vorschläge zu anderen Präpositionen in l l b , c ) , dessen weitere Bedingung als „eine relevante (die maximale) Dimension von χ verläuft parallel zum Umfang von y" zu lesen ist. Hiergegen läßt sich aber einwenden, daß, wenn ein spezifisches Parallelitätskonzept angenommen werden kann, das auf benachbarte Objekte beschränkt ist (wofür es unabhängige Argumente gibt, s. u. die Analyse von folgen), die Lokalisierungsrelation überflüssig und somit nicht notwendig ist. (11)

a. b. c.

um: längs: durch:

λ y λχ [LOC(x, P R O X ( y ) ) & DIM(x) / / UMF(y)] λ y λχ [LOC(x, P R O X ( y ) ) & DIM(x) / / M A X ( y ) ] λ y λχ [LOC(x, INT(y)) & DIM(x) / / SCHNITT(y)]

Die hiermit geübte Kritik am Lokalisierungsansatz reicht (noch) nicht aus, ihn zu falsifizieren. Sie trägt aber dazu bei, die Lokalisierungsrelation eher als Repräsentant einer im Auge des linguistischen Betrachters entstandenen Metaaussage aufzufassen denn als repräsentationell adäquate Darstellung sprachlich räumlicher Relationen oder eines Bestandteils davon.

3.1.3

Raumkonzepte und funktionale Relationen

Pribbenow (1993) schlägt in ihrer Arbeit eine Reihe von Raumkonzepten vor, die - im Gegensatz zu Regionen - relational aufzufassen sind (.Inklusion', .Kontakt/direkte Nähe', ,Nähe\ ,Ferne', ,Geodistanz'; s. o.). 6 Da diese Entitäten auf der konzeptuellen Ebene angesiedelt sind, repräsentieren sie nicht nur rein räumliche Eigenschaften, sondern es werden, wie schon im Falle der .REGION' bei Miller-Johnson-Laird, „für die Definition der räumlichen Distanzkonzepte funktionale Aspekte miteinbezogen" (Pribbenow 1993:77). 7 Diese Konzepte dienen in ihrem Ansatz unter anderem dazu, den Lokalisierungsbereich einer sprachlich räumlichen Relation entsprechend einzuschränken. Beispielsweise erstreckt sich die VOR-Region eines Hauses bzgl. der Phrase „vor dem Haus" im Normalfall nicht bis ins Unendliche, sondern ist auf den Nahbereich des Hauses beschränkt. In welcher Beziehung stehen diese Distanzkonzepte zu funktionalen Relationen?

5

6 7

, λ ΐ ' entspricht dabei der referentiellen Theta-Rolle der Präposition, die nach Bierwisch ( 1 9 8 8 : 4 3 ) die innerste Position in der Argumentstruktur einnehmen muß. Pribbenow faßt diese Konzepte (auch .Inklusion') unter dem Begriff .Distanzkonzept' zusammen. Sie schränkt diese Aussage später auf .Inklusion' und .Kontakt/ direkte Nähe' ein.

59 3.1.3.1

,Inklusion' und HALTEN

Das Inklusionskonzept ist bei Pribbenow zunächst durch die Umschlossenheit des LO durch das RO, und somit als räumliche Teil-von-Beziehung, definiert. Diese Definition reicht aber nicht aus, wie sich an Aurnague/Vieus Beispiel der Fliege im Glas zeigt. Um solche Fälle auszuschließen, assoziiert Pribbenow dieses Konzept außerdem mit dem funktionalen Konzept des .Haltens', nach dem das RO ein fie-hältnis (Container) für das LO sein (ζ. B. Schatz in der Kiste) bzw. es /erhalten (Speer in der Hand) oder enf-halten (Sauerstoff in der Luft) kann, wie es bei bestimmten Ganzes-Teil-Beziehungen der Fall ist. Obwohl von Pribbenow nicht so intendiert, deutet der Vorschlag darauf hin, daß die räumlichen Eigenschaften, wie von den funktionalen Ansätzen postuliert, eher eine untergeordnete Rolle spielen und daß funktionale Relationen somit notwendigerweise für die IN-Relation gegeben sein müssen. Damit würde dem Inklusionskonzept aber seine wesentliche Rolle in der Charakterisierung der Semantik von in verloren gehen. Es wäre nicht nur zu fragen, warum es als „Distanz"-Konzept betrachtet werden sollte (zu dem es eher in Opposition treten müßte), sondern auch, warum es überhaupt ein Konzept darstellt (da es jenseits einer .räumlicher Teil'-Beziehung keine abstrakte „in-Haftigkeit" mehr repräsentiert). Einer rein funktionalen Interpretation zufolge müßte die Präposition in demzufolge außerdem allein durch eine abstrakte funktionale .Halten'-Relation charakterisierbar sein. Daß das aber nicht zutreffen kann, läßt sich leicht daran zeigen, daß nicht in jeder Situation der Art „X hält Y (fest)" Y ebenfalls „in X" sein muß. Neben der räumlichen Inklusion und dem funktionalen Enthaltensein bietet sich mit einer abstrakten Teil-Ganzes-Beziehung eine weitere Möglichkeit der Charakterisierung der IN-Relation. Sie muß jedoch aufgrund der Beobachtung ausgeschlossen werden, daß der Gebrauch von in in (12) inakzeptabel ist, obwohl die LOs Teile der ROs sind. (12)

a. b.

Die Ohren §im/am Kopf Der Henkel §in/an der Flasche8

Auch angesichts der Vielfalt der Beispiele in (1) zeigt dies, daß keines der Kriterien .räumliche Inklusion', .funktionales Halten' oder .Teil-Ganzes-Beziehung' notwendig oder hinreichend für die Bedeutungsbeschreibnung von in ist. Es stellt sich die Frage, ob jenseits einer inhaltsleeren Lokalisierungsrelation ein semantischer Kern der unterschiedlichen Verwendungen von in existiert.

3.1.3.2

.Nähe' und KONTAKT

Das Konzept ,Kontakt/direkte Nähe' Pribbenows stellt eine Verallgemeinerung der üblicherweise angenommenen CONTACT-Relation dar und ist negativ durch einen vernachlässigbaren Abstand von LO und RO definiert. Dies ist notwendig, weil die typische Verwendung dieser Relation in der Semantik von an zu Schwierigkeiten führt, wenn kein direkter Kontakt zwischen den Objekten vorliegt (vgl. Pribbenows Beispiel (13)).

8

S. hierzu auch Buschbeck-Wolf (1995:122).

60 (13)

Die Graphikerin arbeitet am Reißbrett

Insofern entspricht es der ebenfalls negativ definierten IM_KONTAKT_MIT-Relation Kleins: „IM_KONTAKT_MIT heißt dabei, daß kein relevanter Ort dazwischen ist, beispielsweise kein möglicher Ort eines Themas gleicher Art" (Klein 1991: 87). Intuitiv ist auch einsichtig, wie sich dieses „Kontakt-Konzept" von dem ,Nähe '-Konzept bei Pribbenow unterscheidet: Liegt kein Kontakt zwischen RO und LO vor und besteht außerdem keine funktionale Beziehung zwischen ihnen, so kann aber „die Konzeptualisierung des Referenzobjektes [immerhin] als Bezugspunkt für die Lageangabe der zu lokalisierenden Entität bzw. deren Konzeptualisierung dienen" (Pribbenow 1993:79). Erst wenn dies nicht gegeben ist, liegt, wiederum negativ definiert, .Ferne' vor. Diese Unterscheidungen werden vorwiegend anhand der Verwendbarkeit von an, bei und weder an noch bei veranschaulicht und sind anhand der gegebenen Beispiele meistens einleuchtend. Es läßt sich jedoch zeigen, daß sowohl die Konzepte selbst wie auch die Zuordnung zu den sprachlichen Relationen in bezug auf ihre deskriptive Adäquatheit Schwierigkeiten bereiten. Erstens sind die Linien in Abb. 26 m. E. eher „aneinander" als „beieinander", obwohl kein direkter Kontakt und auch keine funktionale Beziehung vorliegt. Zweitens sind die Kreise in Abb. 26 eher „beieinander" als „aneinander", obwohl sie denselben Abstand wie die beiden Linien aufweisen und außerdem kein „relevanter Ort" interferiert. Drittens sind die Kreise in Abb. 27 kaum „beieinander", obwohl sie die einzigen füreinander in Betracht kommenden Bezugsobjekte darstellen. Da ansonsten keine funktionalen Relationen zwischen den Objekten bestehen, deuten die sprachlichen Differenzierungen der vorliegenden Konstellationen somit auf wahrnehmungsbedingte Unterschiede hin. Diese Unterschiede basieren allerdings nicht allein oder direkt auf den Abständen der Objekte, weil - wie an der Abbildung 26 verdeutlicht - gleiche Abstände zu unterschiedlichen Kategorisierungen führen können.

Abb. 26: Unterschied in der Wahrnehmung verschiedener Objekte bei gleichem Abstand

61

o

o

Abb. 27: Kleine Objekte mit relativ weitem Abstand

Weitere Probleme ergeben sich aus der Betrachtung möglicher Kombinationen von Distanz- und Lokationsangaben. Zwar läßt sich zunächst beobachten, daß weit als Ausdruck des Ferne-Konzepts in Abb. 27 (14) und nahe als Ausdruck eines der Nähe-Konzepte verwendet werden kann (15). (14) (15)

Der eine Kreis ist (relativ) weit von dem anderen entfernt Die Linien/ Kreise sind (relativ) nahe aneinander/beieinander

Allerdings verwundert es, daß ein .Kontakt'-Konzept gleichzeitig als .geringe Distanz' auffaßbar ist. Unklar ist auch, wie bzw. nach welchen Kriterien die Konzeptualisierung einer Beziehung (d. h. die Etablierung der Distanz-Konzepte) verläuft, da dieselben Konstellationen, die als Nähe- oder sogar Kontakt-Beziehungen kategorisiert werden, ebenfalls durch einen Ferne-Ausdruck beschrieben werden können (16). Gleichzeitig bleibt es rätselhaft, warum „absolute" metrische Angaben in bestimmten Fällen möglich sind, in anderen nicht (17). Das Mißtrauen gegenüber einem (funktionalen) Kontakt-Konzept wird schließlich durch die Beispiele in (12) verstärkt, in denen aufgrund der vorliegenden TeilGanzes-Beziehung gar nicht von „Kontakt" geredet werden kann. (16) (17)

3.1.3.3

Die Linien sind nur wenige Millimeter voneinander entfernt Die Linien sind drei Millimeter auseinander/§beieinander

.Kontakt' und SUPPORT

Interessant für die Untersuchung des Zusammenspiels räumlicher und funktionaler Aspekte ist die Präposition auf. Ihre Analyse erfordert nach Pribbenow einerseits das .Kontakt'Konzept und andererseits die funktionale Relation des Stützens (SUPPORT). Diese Relation ist am explizitesten bei Buschbeck-Wolf (bei ihr „Supp(b, a)" genannt) definiert: „Es wirkt vom Referenzobjekt b auf das lokalisierte Objekt a eine Kraft, welche das LO in einer Position bzgl. der Oberfläche des RO hält, die es aufgrund der Schwerkraftwirkung nicht haben

62 könnte. Diese Kraft ist der Gravitationskraft entgegengerichtet. Dabei gilt im allgemeinen, daß sich bei Bewegung des Objekts b das Objekt a mit ihm bewegt." (Buschbeck-Wolf 1995:113)

Nach beiden Autorinnen muß bei der Support-Relation weiter zwischen vertikaler Stützung (18) und lateralem Support durch Befestigung oder Adhäsion (vgl. Buschbeck-Wolfs ,Supp AD (b,a)'-Relation; (19)) unterschieden werden. Beide diskutieren auch Ausnahmen hiervon (s. 20), in denen das RO dem LO keine Unterstützung bietet. Ihre Erklärung ist allerdings unterschiedlich: Während Pribbenow von einer nicht-funktionalen Lokalisierung spricht, nimmt Buschbeck-Wolf eine indirekte Unterstützung durch ein drittes Objekt an. (18) ( 19) (20)

Der Kater auf dem Bett Das Etikett auf der Flasche Der Kater auf der Bettdecke

Meiner Ansicht nach stellen diese Fälle jedoch ein weiteres Beispiel für das Problem der Verwendung funktionaler Relationen in der Präpositionensemantik dar. Dies läßt sich zunächst anhand der „Projektionsbeispiele" in (21) zeigen (vgl. Buschbeck-Wolf 1995:117f). (21 )

Der Dinosaurier auf dem Titelblatt Die Frau auf dem Foto Die Reklame auf der Verpackung

Hier liegt keine Support-Relation vor, und auch die Kontaktlesart selbst reicht nicht zur Charakterisierung aus. Entsprechend scheinen diese Beispiele unter einem eigenen Verwendungstyp in der Präpositionensemantik aufgelistet werden zu müssen. Zudem ist die Analyse von Beispielen wie (19) problematisch. Was heißt es, daß ein RO ein LO stützt, wenn das LO an ihm befestigt ist? Auch die Beispiele in (22a) (vgl. Herskovits 1986:15) und (22b) (BuschbeckWolf 1995:117) lassen es fraglich erscheinen, ob bzgl. des LO überhaupt von einem „gestützten" Objekt gesprochen werden kann. Hier hilft auch nicht die Annahme einer polysemen sprachlichen Kategorie (d. h. unterschiedlicher Teilbedeutungen), da sie das Problem auf die Frage nach der Motivation für die Verwendung des sprachlichen Ausdrucks verschiebt. (22)

a. b.

the wrinkles on his forehead dyrka na tschurkje (,Loch im Strumpf') Loch-auf-Strumpf

Schließlich kann das Bemühen einer Support-Relation grundsätzlich, d. h. sogar in den prototypischen Fällen wie (18), infrage gestellt werden, und zwar aufgrund der folgenden Argumentation: Gegeben LO und RO, die in einer vertikalen Beziehung zueinander stehen und gegeben, daß das LO - als „höheres" Objekt - der Gravitationskraft keinen Widerstand leisten kann (z. B., nicht aufgehängt ist), so ist zu erwarten, daß das LO IN_KONTAKT_MIT dem RO gerät, wenn sich keine weiteren relevanten Objekte zwischen beiden befinden. Diese Auffassung wird offenbar von Klein vertreten, der die Semantik der Präpositionen auf und über wie in (23) definiert und unterscheidet. Dabei vernachlässigt er aber offensichtlich die Erklärung der Beispiele in (19, 21, 22) bzw. bleibt darüber im Unklaren, auf welche Weise HÖHER_ALS zu interpretieren oder interpretierbar ist.

63 (23)

[auf] [über]

HÖHER_ALS & IN_KONTAKT_MIT HÖHER_ALS & neg(IN_KONTAKT_MIT)

Herskovits diskutiert einige auf Boggess (1978) zurückgehende Beispiele (s. Abb. 28, vgl. Herskovits 1986:142f), die verdeutlichen, daß sowohl .Support' als auch .Kontakt' nicht hinreichend sind, um akzeptable von nicht-akzeptablen Verwendungen von auf abzugrenzen. An den Beispielen fällt zunächst auf, daß der Deckel in (b) nicht als auf dem Tisch charakterisiert werden kann, obwohl die Support-Relation vorliegt. Dies ist nicht auf eine verletzte Kontakt-Relation zurückzuführen, da die Auf-Beziehung sowohl bzgl. „Ulysses" in (a) als auch bzgl. des Deckels in (c) gilt, und zwar obwohl beide Objekte mindestens so weit vom Tisch entfernt sind wie der Deckel in (b).

lid I ÜLYSSEH~~| I Oft« I I ATLAS I

y

jar

y lid brick

(a)"Ulysses" is on the table, (b) *The lid is on the table (c) The lid is on the table Abb. 28: on-Relationen (Herskovits 1986:142)

Herskovits weist außerdem darauf hin, daß die Aussage ,Ulysses' is on the atlas weniger akzeptabel ist als die Aussage in (a). Gemäß dem Vorschlag von Boggess erklärt sie diese Phänomene durch den Einfluß der Salienz von Objekten. Dabei geht es nicht allein um perzeptuelle Auffälligkeit (in dieser Hinsicht sind „jar" und „brick" etwa gleichwertig), sondern um die Rolle eines Objekts als ,Landmarke' in einem bestimmten Kontext. In (b) nimmt das Gefäß diese Rolle für den Deckel ein, der ein Teil von ihm ist. Hierdurch ergibt sich eine Objekthierarchie der Salienz („lid" —> „jar" —> „table"), die zu der beobachtbaren Inakzeptabilität einer direkten Beziehung lid-table führt. In (a) könnte „Ulysses" dann on the atlas sein, wenn der Kontext der räumlichen Beschreibung auf den Tisch eingeschränkt wäre, oder wenn der Atlas eine allseits bekannte, typische Position einnehmen würde. Im Zusammenhang mit der Diskussion der HÖHER_ALS-Relation Kleins fällt im übrigen auf, daß die Ausrichtung zweier Objekte an der Vertikalen nicht durch die Raumkonzepte Pribbenows erfaßt wird, da die .Ausrichtung von Objekten durch Referenzsysteme' ein Objektkonzept ist. Sichtbar wird dieses Problem bei der Betrachtung spezifischer Verwendungen von über und unter (24). (24)

a. b.

Eine Tapete(nschicht) über der anderen [an der Wand] Unter dem Wams trug er ein rotes Leibchen

Klein (1991) erörtert Beispiele wie diese unter dem Aspekt einer funktionalen oder visuellen Umdeutung seiner postulierten Grundbedeutungen (nach denen unter durch die TIEFER_ALS-Relation charakterisiert ist):

64 „Im Falle von ,unter' ist die Funktion so etwas wie ,Verdecktsein, Schutz'. In diesem Fall ist es nicht ganz so einfach, Funktion und Position TIEFER_ALS in einen kanonischen Zusammenhang zu bringen. Aber es ist nicht undenkbar. Eine solche funktionale Deutung wird beispielsweise von Vandeloise (1986) vertreten, der noch einen Schritt weiter geht und die funktionale als die Grundbedeutung ansieht. Das mag aber ein Henne-Ei-Problem sein. Die visuelle Deutung [...] ergibt sich aus der Blickrichtung. Wenn das Relatum in Blickrichtung liegt, dann sind jene Themata A U F dem Relatum, die man sehen kann, und jene Themata UNTER dem Relatum, die man nicht sehen kann, weil sie vom Relatum verdeckt werden." Klein (1991:101)

Bei solchen Umdeutungen 9 stellt sich jedoch wiederum die Frage nach der Motivation für die Verwendung einer spezifischen Präposition (warum wird über/unter verwendet, wenn bereits mit vor/hinter ein sprachliches Inventar zur Verbalisierung der (visuellen) Verdeckungsrelation gegeben ist?) bzw. nach der Restriktion der Verwendbarkeit (warum ist bei frei im Raum schwebenden, sich verdeckenden (oder in Blickrichtung liegenden) Objekten über/unter nicht anwendbar?). Viel konsequenter und auch plausibler wäre es dagegen, von konkreten Aspekten (in diesem Fall von der Vertikalität als einer durch den Primären Orientierungsraum induzierten Eigenschaft) zu abstrahieren als sie umzudeuten oder durch funktionale Aspekte zu ersetzen. Allerdings existieren in dieser Hinsicht bislang keine Vorschläge (s. aber Kap. 7). Die Diskussion der Beziehung von Raumkonzepten und funktionalen Relationen zeigt, daß beiden theoretischen Konstrukten keine klare Rolle bei der Charakterisierung sprachlich räumlicher Relation zugewiesen werden kann. Offenbar werden Abstraktionen von räumlichen Gegebenheiten auf der konzeptuellen Ebene benötigt, die jedoch nicht mit funktionalen Relationen identisch sind. Eine Unterscheidung von „X-Konzepten" (mit „X" als Variable über vorgeschlagenen Raumkonzepten) erscheint außerdem nicht viel hilfreicher als die Unterscheidung der Präpositionen selbst. Ein spezifisches Beispiel für eine solche Unterscheidung zweier Präpositionen soll im folgenden Abschnitt betrachtet werden.

3.1.4

Differenzierung von an und bei

Herweg bemerkt zu Recht „[that a] notorious problem that pervades semantic analyses of the system of German spatial prepositions is the proper distinction between the topological prepositions an and bei" (Herweg 1991:2) . Wodurch unterscheiden sich die Sätze Das Haus steht an der Kirche und Das Haus steht bei der Kirche? Wie lassen sich diese Unterschiede qualitativ charakterisieren? Während projektive Präpositionen (vor, hinter, rechts von etc.) relativ systematisch anhand ihrer jeweiligen Bezüge auf Aspekte zugrunde liegender Referenzsysteme differenziert werden können, führt dieser Anspruch gerade bei an und bei zum Postulat räumlicher oder funktionaler Konzepte, die, wie der letzte Abschnitt gezeigt hat, nicht viel aussagekräftiger sind als die sprachlichen Unterscheidungen selbst. Insofern ist diese Fragestellung als zentral f ü r die Untersuchung sprachlich räumlicher Relationen anzusehen. Es lassen sich zunächst drei wesentliche, in (25) aufgeführte Ansätze identifizieren.

9

S. auch Becker (1994:29ff) zum Thema .Grundbedeutung und deren Umdeutungen' bzgl. räumlicher Präpositionen.

65 (25)

a. b. c.

(26)

a. b. c.

AN: Kontakt(LO, RO) BEI: neg(Kontakt(LO, RO)) & LOK(LO, PROX(RO)) AN: Kontakt(LO, RO) BEI: Nähe(LO, RO) AN: LOK(LO, PROX(RO)) BEI: LOK(LO, PROX(RO)) & neg(Kontakt(LO, RO)) Schnalskes Geburtshaus ist direkt am Fernsehturm. Schnalskes Geburtshaus ist zwar am Fernsehturm, aber nicht direkt am Fernsehturm. Er saß an seinem Schreibtisch, ohne ihn zu berühren.

Die A n s ä t z e s t i m m e n grundsätzlich in d e r A u f f a s s u n g d a r ü b e r überein, d a ß f ü r den Gebrauch von an aktualer Kontakt möglich, aber nicht notwendig ist. Dies zeigt sich einerseits an der Modifizierbarkeit der Präposition durch unmittelbar, direkt, nahe usw. (26a) und andererseits daran, daß Kontraste innerhalb des Bereichs von an möglich und sinnvoll sind (26b) und außerdem die explizite Negierung von Kontakt nicht zu semantischer Inkonsistenz führt (26c, vgl. Herweg 1991:6f)- Klein (25a) und Pribbenow (25b) verwenden deswegen die schon beschriebenen abgeschwächten Kontakt-Charakterisierungen. Dies führt d a z u , d a ß die f ü r an charakteristische N a c h b a r s c h a f t s r e g i o n g e g e n ü b e r der externen Proximalregion restringiert ist (was einer geringeren möglichen Distanz zwischen L O und R O entspricht), e n t w e d e r implizit durch die K o n t a k t - B e d i n g u n g bei Klein oder explizit d u r c h d a s v o m , N ä h e ' - K o n z e p t a b g e g r e n z t e , K o n t a k t / d i r e k t e N ä h e ' - K o n z e p t bei Pribbenow (Abb. 29).

AN-region

LO bei RO

LO an RO

Abb. 29: Unterschied von an und bei durch verschieden große AN- und BEI-Regionen

Diese Ansicht wird von H e r w e g (25c) nicht geteilt: „[...] some m a y claim that the use of bei [...] suggests a somewhat greater distance [between L O and RO] than the use of an [...], but I w o u l d rather consider this as irrelevant to the semantic d i f f e r e n c e between these prepositions" (Herweg 1991:3). Er begründet seinen Standpunkt damit, daß nur eine klare Unterscheidung (d. H., ein distinktives M e r k m a l ) als semantisches Kriterium gelten kann eine B e d i n g u n g , die f ü r die räumliche Distanz bzgl. an und bei und somit die Differenzierbarkeit der A N - und BEI-Regionen nicht zutrifft. Aus diesem Grund ordnet er an ebenfalls die externe Proximalregion zu. Einen charakteristischen Unterschied stellt er stattdessen an den Beispielen in (27) fest: (27a) ist so zu interpretieren, daß die Nachricht auf keinen Fall an der W a n d zu suchen ist und (27b) bedeutet, d a ß das Bild nicht gegen die W a n d gelehnt ist, sondern sich schräg (gegen ein anderes Objekt) gestellt in der N ä h e der W a n d b e f i n d e t . Die Fragezeichen f ü r Interpretationsschwierigkeiten ergeben sich nach Herweg aus der Beobachtung, daß die Präpositionalphrase nicht als A r g u m e n t von „lehnt"

66 fungiert (dieses ist ausgelassen), sondern als Modifikator der VP. Demnach schließt der Gebrauch von bei einen Kontakt von LO und RO aus (s. Abb. 30). (27)

a. b.

Die Nachricht für Sie ist bei der Wand rechts vom Kartenhaus, ??Schnalskes Bild lehnt bei der Wand.

Abb. 30: Unterschied von an und bei bei gleich großen AN- und BEI-Regionen

Herweg schließt aus diesen Beobachtungen, daß an als die gegenüber bei unmarkierte Präposition betrachtet werden muß: Während durch bei explizit Nicht-Kontakt ausgedrückt wird, bleibt an in dieser Hinsicht unspezifisch. 10 Die beiden Präpositionen bilden in dieser Hinsicht ein skalares Paar , in dem der Gebrauch des schwächeren Elements (an) das Nicht-Vorliegen der spezifischen Eigenschaften des anderen Elements konversationeil impliziert. Die Intuition, daß den Präpositionen verschieden große räumliche Distanzbereiche zugeordnet sind, ist danach auf ein pragmatisches Phänomen zurückzuführen: bei wird verwendet, wenn nicht-vorhandener Kontakt betont werden soll. Dies geschieht vorwiegend dann, wenn LO und RO eine größere Distanz aufweisen. Entsprechend wird durch an als Default-Relation eine geringere Distanz ausgedrückt. Herweg selbst räumt einige Probleme seines Vorschlags ein. Zunächst weist er auf die Beispiele in (28) hin, die offensichtlich Ausnahmen seiner Analyse darstellen. Obwohl in diesen Fällen unmittelbare Nähe von LO und RO vorliegt und sogar Kontakt nicht auszuschließen ist, muß, entgegen des Defaultstatus von an, bei verwendet werden. (28)

a. b.

Norderstedt ist bei/§an Hamburg Maria liegt bei/§an Peter

Außerdem beschreibt er eine Situation, in der mit einem Feuerzeug und einer Streichholzschachtel zwei kleinere Objekte dicht nebeneinander liegen. Hier scheint, entgegen seiner Annahmen, wieder bei angemessener zu sein als an (obwohl eine Betonung des Nicht-Kontakts unbegründet ist; (29)), zudem scheint an selbst bei Kontakt schlecht möglich: „Even if the matchbox and the lighter were in touch, one could hardly describe their relative locations by means of an, but would have to use something like neben" (Herweg 1991:13)." 10

11

Diese Aussage steht in direktem Kontrast zu Ansätzen, in denen bei als die neutrale Präposition angesehen, während an durch die Forderung des Kontakts zwischen LO und RO als spezifischer betrachtet wird (s. hierzu Herweg 1991:130Dieses Beispiel und die zugehörige Intuition bzgl. der Verwendung von an ist somit sehr ähnlich zu dem obigen grafischen Beispiel der nebeneinander liegenden Punkte.

67 (29)

Das Feuerzeug liegt ??an/?bei der Streichholzschachtel

Er deutet für diesen Fall die Möglichkeit einer Analyse an, die auf einer Figur-GrundAsymmetrie der beteiligten Objekte basiert. Eine solche Nicht-Etablierung der pragmatischen Opposition liegt ζ. B. auch dann vor, wenn eine Inlandbewohnerin sich explizit von Küstenbewohnern „am Meer" abgrenzen möchte, gleichzeitig aber noch im Nähe-Bereich des Meeres angesiedelt ist: Trotz intendierter Betonung des Nicht-Kontakts ist (30) fragwürdig. (30)

???Ich lebe nicht AM Meer, ich lebe BEIM Meer

Ein drittes, von Herweg diskutiertes Problem betrifft die Striktheit der Nicht-KontaktBedingung bei bei. Habel/Pribbenow (1988) gehen davon aus, daß eine Beschreibung Fahrrad bei der Kirche auch mit einer Situation kompatibel ist, in der das Fahrrad angelehnt an eine Kirche gefunden werden kann. Herweg merkt zu Recht an, daß auf dieser Grundlage die Inkompatibilität von lehnen und bei nicht erklärbar ist. Es existiert ein weiteres sprachliches Phänomen, das bisher kaum eine eingehende Berücksichtigung in der Diskussion um die Semantik von an und bei gefunden hat (vgl. aber Li 1994). Ausdrücke wie die in (31) zeigen, daß eine auffällige Korrelation des Gebrauchs von an mit räumlichen Nomina als ROs besteht, die einen Teil eines Objekts bezeichnen, der als Begrenzung des Objekts kategorisierbar ist. (31)

am /???beim Ende der Straße am/???beim Rand der Straße/des Flusses/des Sees/des Tisches an/???bei der Straßenecke an/???bei der Spitze des Zuges an/???bei der Küste/Wand

Obwohl diese Beispiele von der Analyse Herwegs erfaßt werden, weist die Durchgängigkeit dieses Phänomens, gerade auch wegen der angesprochenen Probleme, auf die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit einer alternativen Erklärung hin. Ein erster Ansatz hierzu findet sich in der Arbeit von Li (1994). Er unterscheidet zwar wie Pribbenow die Semantik der beiden Präpositionen anhand ihres unterschiedlichen Umgebungsbezugs (an bezieht sich danach auf den Seitenraum des RO und bei auf den (proximalen) Rundum-Außenraum) und tritt somit - auch in bezug auf die Rolle der .Kontakt'-Relation (die er bei der an-/feei-Unterscheidung für irrelevant hält) - in Opposition zu Herweg. Zusätzlich postuliert er aber eine Differenzierung in bezug auf die raumreferentiellen Eigenschaften des RO, deren Spezifikation in (Li 1994:89f) als (32) wiedergegeben ist. (32)

a. b.

RESTRIKTION Referenzobjekte RESTRIKTION Referenzobjekte

FÜR D A S REFERENZOBJEKT DER LP bei: müssen als Ganzes für das Objekt von außen zugänglich sein FÜR D A S REFERENZOBJEKT DER LP an [-Dir]: müssen eine klare räumliche Begrenzung haben

Zentral für seine Analyse ist die Annahme, daß die Eigenschaften der ,Begrenztheit' und .Außenabgegrenztheit' in den konzeptuellen Objektschemata der jeweiligen Nomina verankert sind. Demnach ist eine Stadt ,als Ganzes von außen zugänglich' (33a), und nicht ,außenbegrenzt' (33b), wobei die letztere Eigenschaft durch Nomina wie Rand induziert

68 werden können (33c). Die semantischen Eigenschaften der Präpositionen kontrastieren entsprechend in ihrem Bezug auf die Ganzumgebung (G, 34a) bzw. Oberfläche (OF, 34b). (33)

a. b. c.

Das Dorf ist bei der Stadt §Das Dorf ist an der Stadt Das Dorf ist am Rand der Stadt

(34)

a. b.

bei: Xy λχ LOC(x, G(y)) an: Xy λχ LOC(x, OF(y))

Abgesehen von einer gewissen Redundanz und Unscharfe in den terminologischen Distinktionen (Seiten- vs. Außenraumbezug, ganzheitliche Begrenztheit vs. nicht-ganzheitliche Begrenztheit, klare Begrenztheit vs. unklare Begrenztheit) ist Li zur Stipulation einiger fragwürdiger Thesen gezwungen. In Anbetracht der von ihm diskutierten Gegensatzpaare in (35) spricht er ζ. B. Objekten wie Straßen oder Flüssen eine - real immer vorliegende Begrenztheit ab: „Ähnlich wie ,Meer' und ,Wüste' sind Objekte wie 'Fluß' und 'Straße' zwar als begrenzte Objekte zu betrachten, aber sie sind konzeptuell nur hinsichtlich ihrer maximalen zwei Seiten begrenzt, allerdings ohne die beiden Enden der maximalen Achse. Anders ausgedrückt, Objekte wie ,Fluß' und ,Straße' sind im Alltagsleben nicht als Ganzes samt ihren Seiten und Enden zugänglich, sondern nur in ihren Teilen" (Li 1994:89). (35)

a. b. c. d.

Der Kiosk ist an der Straße §Der Kiosk ist bei der Straße Das Hotel liegt beim See §Das Hotel liegt beim Meer/bei der Wüste

Hier stellt sich die Frage, in welcher Beziehung die sprachlich-konzeptuellen Aspekte der Objektkenntnis zu unserem Weltwissen Uber Objekte (ζ. B. dem Wissen, daß Flüsse ganzheitlich begrenzt sind und sich nicht unendlich ausdehnen) und somit zu aktualen Lagebeziehungen stehen. Angesichts der Verschiedenheit des referentiellen Bezugs bei an (Flächenbezug bei an der Decke, linearer (Rand-)Bezug bei am Meer) muß Li außerdem einen heterogenen konzeptuellen Wertebereich für OF annehmen. Er bleibt daher - anders als ζ. B. Lang (1987) - eine (perzeptuelle) Fundierung seiner konzeptuellen Begrifflichkeiten schuldig. Interessanterweise ist er sich dieses Umstands bewußt und räumt in diesem Zusammenhang ein: „Es wäre sicherlich interessant zu wissen, was die kognitive, vor allem perzeptive Grundlage für die Verwendung der LP an in solchen Situationen ist [...]" (S. 97). Pribbenow widmet an und bei (und ihrer Distinktion) ebenfalls einige Aufmerksamkeit, indem sie einen vermuteten Einfluß von Barrierenobjekten auf ihre Verwendung diskutiert. 12 Dabei geht sie von der oben beschriebenen Zuordnung der Präpositionen jeweils zu den Distanzkonzepten .Kontakt/direkte Nähe' und ,Nähe' aus. Barrieren erfüllen dann die Funktion, ein anhand dieser Konzepte aufgespanntes Gebiet angemessen zu beschränken. Um dies zu belegen, betrachtet Pribbenow die Texte in (36).

12

Sie bezieht dabei auch Aspekte der Geodistanz ein (d. h. Ausdrücke wie südlich, östlich usw.), die im Kontext dieses Kapitels nicht relevant sind und die ich deshalb hier auslassen werde.

69 (36)

a. b. c.

Auf der Westseite des Flusses steht der chinesische Pavillon, links daneben eine Drachenskulptur. Auf der östlichen Flußseite befindet sich ein Café. Auf der Westseite der Straße steht der chinesische Pavillon, links daneben eine Drachenskulptur. Auf der östlichen Straßenseite befindet sich ein Café. Auf der Westseite des Bächleins steht der chinesische Pavillon, links daneben eine Drachenskulptur. Ein Steg führt zum Café auf der östlichen Seite.

Auf der Basis der von ihr entworfenen Fragen in (37) gelangt sie zu den Ergebnissen in (38). (37)

a. b.

Ist das Café am Pavillon? Ist das Café beim Pavillon?

(38)

Fragen an(Café,Pavillon) bei(Café,Pavillon)

Antworten zu Text (36a) Nein Nein

Text(36b) Nein Nein (?)

Text (36c) Nein Ja

Diese Ergebnisse zeigen, daß die unterschiedliche Größe von ,Fluß', .Straße' und ,Bächlein' einen differenzierten Einfluß ausübt (was an den Antworten zu (37b) deutlich wird), und belegen ihrer Ansicht nach einerseits die Unterscheidbarkeit der Distanzkonzepte und andererseits die Rolle und Relevanz des Barrierenkonzepts. Pribbenow erwähnt insbesondere den Aspekt der ,Zugänglichkeit' des RO (realisierbar durch die .Passierbarkeit' des Barrierenobjekts) als wesentlichen Faktor für die positive Beantwortung von (37b) in bezug auf (36c). Die Diskussion läßt allerdings sowohl offen, was unter den beiden Distanzkonzepten genau zu verstehen ist, so daß sie durch „Barrierenobjekte" gestört werden können, als auch, wie Barrierenobjekte genau charakterisiert bzw. definiert sind. Dies läßt sich zeigen, indem die in den Texten als LO und RO verwendeten Objekte durch andere ersetzt werden. Analog zu dem Vorgehen Pribbenows ergibt sich für das Paar Ameise (LO) - Rosenbusch (RO) die Tabelle in (39), für das Paar Hochhaus (LO) - Wolkenkratzer (RO) die Tabelle (40). (39)

Fragen an(Ameise,Rosenbusch) bei(Ameise,Rosenbusch)

Antworten zu Text (36a) Nein Nein

Text (36b) Nein Nein

Text (36c) Nein Nein

(40)

Antworten zu

Fragen an(Hochhaus, Wolkenkratzer) bei(Hochhaus, Wolkenkratzer)

Text (36a) Nein (?)

Text (36b) Ja

Text (36c) Ja

Ja (?)

Ja

Ja

70 An den Tabellen fällt zunächst die große Varianz in den Antworten auf. Gleichzeitig wird deutlich, daß selbst ein Bach als eine Barriere aufgefaßt werden kann (trotz .Passierbarkeit'), während diese Funktionalität bei Straßen (und sogar Flüssen?) vernachlässigbar sein kann. Hierbei ist wichtig zu beachten, daß die Distanz der Objekte zueinander annähernd konstant gehalten wird. Offenbar ist die Anwendbarkeit der Präpositionen also eher von den LO-RO-Konstellationen als von (funktionalen) Distanzkonzepten abhängig. Die Kontextabhängigkeit der Antworten zu den Texten wird auch von Pribbenow eingeräumt („In welchen Fällen einem zwischen RO und LE gelegenen Objekt der Status einer Barriere zugeordnet wird, hängt von den beteiligten Objekten, dem situativen Kontext und der Art des Nähe-Konzepts ab", S. 167). Allerdings sind die von ihr angesprochenen funktionalen Aspekte beim Herstellen bzw. Zerstören der LO-RO-Beziehung weder notwendig noch hinreichend, so daß die Zuordnung eines Barrierenstatus unklar bleibt. Hierbei sind auch Informationen über GrößenWassen bzw. O b j e k t i v e n von LO und RO nicht von Nutzen. Außerdem lassen sich keine Schlüsse über die Eigenschaften der Distanzkonzepte ziehen und keine weiteren Erkenntnisse über die Unterscheidung von an und bei gewinnen. Statt der Verwendung „absoluter" Kategorisierungen bietet sich als Alternative die Kategorisierung von Objekten und Relationen relativ zu einer Wahrnehmungssituation an. Danach müssen LO und RO - unabhängig von ihrer absoluten Größe - einerseits gleichzeitig „sichtbar" („vorstellbar") sein. 13 Dies schließt die Etablierung einer Relation z. B. zwischen Ameise und Rosenbusch aus, und zwar unabhängig von einer vorliegenden Barriere. Ansonsten werden gemäß einem solchen wahrnehmungsorientierten Erklärungsmodell Konstellationen mit intervenierenden Objekten (ähnlich dem Herskovits-Beispiel einer Tisch-Konstellation in Abb. 28) in eine Salienzhierarchie vorstrukturiert. ,Barrieren' können dann als solche Objekte aufgefaßt werden, die sich räumlich „zwischen" RO und LO befinden, die in der Hierarchie für beide einen Oberknoten darstellen und die daher eine direkte LO-RO-Beziehung verhindern. Diese Sicht ist grundlegend verschieden von der der „Beschränkung" eines AN-/BEI-Gebiets durch eine Barriere, indem sie nicht a priori als RO-zentriert und regionsbasiert konzipiert ist, sondern ganzheitlich perzeptionsbzw. konzeptionsbasiert und auf eine spezifische Wahrnehmungssituation bezogen ist. Ich werde hierauf in Kapitel 6 zurückkommen. Insgesamt ergibt sich aus der Diskussion der Differenzierung von an und bei, daß weder rein räumliche noch funktionale Aspekte (einzeln oder in Kombination) geeignet sind, die sprachlichen Daten hinreichend adäquat zu beschreiben. Stattdessen gibt es Hinweise darauf, daß Aspekte der Wahrnehmung räumlicher Relationen in die Analyse miteinbezogen werden müssen.

13

Im übrigen weist Li (1994:88) in einer Fußnote darauf hin, daß nach Moilanen der (perzeptionsbasierte) Aspekt der „Überschaubarkeit" für die BEI-Relation bezeichnend ist. Allerdings geht er hierauf nicht weiter ein.

71 3.2

Die Semantik von Dimensions- und Distanzadjektiven

Im Rahmen ihrer umfassenden, kognitionslinguistisch orientierten Analyse von Dimensionsadjektiven (lang, breit, schmal etc.) legen Bierwisch (1987) und Lang (1987) überzeugend dar, daß deren Semantik grundsätzlich durch das Schema in (41) beschrieben werden kann. (41)

Dimensionsadjektiv:

Xc λχ

[QUANT (DIM (χ)) = [ν ± c]]

DIM ist dabei ein Adjektiv-spezifischer Dimensionsauszeichnungsparameter, durch den eine bestimmte Objektachse (ζ. B. die an der Vertikalen ausgerichtete Objektachse bei hoch) als eine entsprechende Dimension des Objekts χ ausgezeichnet wird. QUANT stellt eine Funktorkonstante dar, die als Komponente für die Graduierung („quantitative Wertungfen] in Bezug auf Dimensionen oder Eigenschaftsausprägungen", Bierwisch 1987:91) einer dimensionalen Abmessung zu interpretieren ist und die als Abbildung dieser Abmessung auf eine entsprechende Skala aufgefaßt werden muß. Der komplexe Wert dieser Funktion entspricht der Verknüpfung eines Vergleichswertes ν und eines Differenzwertes c, wobei c als ein Argument für eine Gradphrase figuriert und ν entweder als Nullpunkt einer Vergleichsskala (42a) oder als ein situativ auszuwertender Normwert 14 (42b) instantiiert wird (zu Normen s. auch Kahneman/Miller 1986).15 (42)

a. b.

hundert Meter hoch sehr niedrig

λχ λχ

[QUANT (VERT (χ)) = [0 + 100m]] [QUANT (VERT (χ)) = [N c - SEHR']]

Grade werden in dem Ansatz von Bierwisch als Intervalle auf einer Skala aufgefaßt. Diese ontologische Annahme ist zentral für seine Semantik der Graduierung, die sich dadurch z. B. von Ansätzen unterscheidet, in denen Grade als nicht weiter analysierte, abstrakte Objekte betrachtet werden (vgl. Eschenbach 1995). Bierwisch nimmt an, daß Graduierung durch eine mentale Operation des Vergleichens konstituiert ist, die als Überlagerung zweier Intervalle mit gleichem Anfangspunkt realisiert wird (Abb. 31). vi

d2:[

v2

]

c:U Abb. 31: Graduierung = Vergleichen = Überlagerung von Intervallen (nach Bierwisch 1987:132)

14

15

Die Betrachtung von Normen bzw. Vergleichsklassen (bei hoch z.B. „für einen Kirchturm" oder „für einen Bücherstapel") ist eine Thematik, die im Rahmen dieser Arbeit vollständig ausgeblendet wird. Siehe hierzu z.B. Staab/Hahn (1997). Bierwisch gibt hierfür spezifische Prinzipien der Belegung an. Sein Vorschlag für diese dekompositionelle Semantik der Adjektive ist außerdem insofern interessant, als ν bei den KomparativFormen als explizites Argument auftritt und den Vergleichsausdruck (ζ. B. höher als v) abbindet.

72 χ

c:[J Abb. 32: Intervallbeziehungen bei negativ-polaren Adjektiven (Bierwisch)

In Abbildung 31 sind die Intervalle dl und d2 der Abmessungen vi und v2 so angeordnet, daß sich ein Differenzintervall c ergibt. Abbildung 32 zeigt den Fall, in dem der Grad einer Objektabmessung von χ gerade um den Differenzwert c kleiner ist als ein Vergleichswert ν (= [v-c]), eine Situation, die durch Adjektive wie niedrig, kurz, schmal (sog. negativ-polare Adjektive), ausgedrückt wird. Das Schema (41) weist somit drei wesentliche, hier relevante Aspekte auf: Die beteiligten Komponenten (QUANT, DIM), die durch die Komponenten gebildete semantische Struktur (und ihre zugrunde liegenden Prinzipien) sowie die durch die Abfolge der Lambda-Operatoren gebildete Argumentstruktur. Ein wesentliches Ergebnis einer solchen Analyse ist darin zu sehen, daß der in einem Antonymenpaar wie hoch/niedrig widergespiegelte Gegensatz nicht der Reflex eines bereits auf der konzeptuellen Ebene vorliegenden Kontrastes, sondern einer semantischen Parameterbelegung ist (d. i. die Belegung von ,±' in (41)), die zu einer ,+/-'-Polarität (positiven bzw. negativen Polarität) der Antonyme und einer entsprechenden Aufteilung in (+Pol)- und (-Pol)-Adjektive führt. Es müssen mit anderen Worten für hoch/niedrig nicht schon auf der konzeptuellen Ebene ,Höhe' und .Niedrigkeit' angenommen werden, die durch die Adjektive ausgedrückt werden. Auch die Kombinatorik mit Graduierungsphrasen (s. 43) ergibt sich nicht auf der konzeptuellen Ebene, sondern wird nach Bierwisch durch Bedingungen bestimmt, die die möglichen Belegungen von ν und c regeln. 16 Anders als eine einfache Eins-zu-Eins-Zuordnung stellt sich die Beziehung von Sprache und Wissen in diesem Fall also als eine komplexere Beziehung sprachlicher und konzeptueller Strukturen (d. h., das in Objektschemata kodierte Wissen über die Gestalt- und Positionseigenschaften von Objekten) dar. (43)

a. b.

100m lang § 100m kurz

c. d.

sehr lang sehr kurz

Im Rahmen ihrer Analyse von lokalen Verben und Präpositionen stellen Wunderlich/ Kaufmann (1990) Betrachtungen zur Semantik von Di'stanzadjektiven an, die auf den Arbeiten von Bierwisch/Lang (1987a) sowie Bierwisch (1988) basieren. Die semantischen Eigen-

16

So ist [Nc-100m] (ζ. B. bei 100m kurz) durch die Nc-Ausschlußbedingung (NAB) ausgeschlossen (Bierwisch 1987:151): Wenn c eine numerische Größe ist, dann darf ν nicht durch einen N o r m wert instantiiert sein. Umgekehrt sichert seine O-Ausschluß-Bedingung (0AB), daß, wenn ein Adjektiv ohne Maßangabe (d. h., mit existenzquantifiziertem c) auftritt (ζ. B., kurz), ν den Normwert Nc annimmt.

73 Schäften dieser Adjektive charakterisieren sie - am Beispiel von weit - wie folgt: „Dieses Adjektiv ist unserer Auffassung nach semantisch 3-stellig, weist aber nur 2 Theta-Rollen auf, eine interne für den Grad der Distanz und eine externe für einen der beiden Distanzpunkte. Der andere Distanzpunkt [...] ist ein freier Parameter, der kontextuell bzw. konzeptuell zu ergänzen ist; dafür muß die Situation eine geeignete räumliche Dimension zur Verfügung stellen" (S. 241). Hieraus ergibt sich die semantische Form (44). (44) (45)

weit: λο λχ [QUANT (DIST (y, x)) = [v + c]] Er ging einen km (weit/ hoch/ §lang)

Im Einklang mit der Erörterung von Problemen mit Maßphrasen in Bierwisch (1988:48f) kommen Wunderlich/Kaufmann zu dem Schluß, daß das Auftreten des Akkusativs in (45) nicht auf ein V- oder P-Regens zurückzuführen ist, sondern darauf, „daß in allen Fällen eine AP vorliegt, deren adjektivischer Kopf u. U. implizit bleibt" (S. 241). „Alle Verwendungen der Maßangabe Im [wie ζ. B. in (46)] betrachten wir im folgenden als AP mit der Repräsentation von Im weit." (S. 242). 17 Gemäß dieser Sichtweise, nach der eine lokale PP durch eine Distanz-AP modifiziert wird, ergibt sich für die Präpositionalphrase in (46) daher die semantische Repräsentation in (47). (46) (47)

Er steht Im vor dem Haus Im vor dem Haus: λχ [ QUANT (DIST' (y, χ)) = [0 + 1 m] & LOC(PLACE(x), EXT(FRONT(haus)))]

An dieser Analyse ist festzuhalten, daß Distanzausdrücke semantisch wie Lokalisierungsund Dimensionsausdrücke behandelt werden, nämlich als Eigenschaften von Objekten. Obwohl dies eine Distanzmodifikation von PPs erst ermöglicht (indem die jeweils externen Theta-Rollen unifiziert werden, s. (47)), wirft es Probleme auf, die weiter unten dargestellt werden.

3.3

3.3.1

Zur Kombination von Distanz- und Lokationsausdrücken

Problemstellung

Nachdem die grundlegenden Aspekte nicht-sprachlicher und sprachlicher Relationen angesprochen worden sind, können jetzt die Kombinierbarke it von Distanz- und Lokalisierungsausdrücken betrachtet und einige der damit verbundenen konzeptuellen, semantischen und syntaktischen Phänomene untersucht werden. Ausgangspunkt ist die schon angesprochene Beobachtung, daß beide Typen sprachlicher Ausdrücke nicht beliebig kombinierbar sind, wie an dem Beispiel (2) (Kap. 1 ) deutlich wird, das hier als (48) wiederholt ist. 17

Ein weiteres Zitat hierzu (eine Aussage, der ich ausdrücklich zustimme): „Bare MPs [Measure Phrases] would then have to be analyzed as governed by an empty adjective the SF of which is essentially that of weit, which is the most unspecified case of a distance adjective." (Bierwisch 1988:49).

74 (48)

[Situation: Die Distanz zwischen Peter und der Wand beträgt 10 cm] a. Peter steht nahe an der Wand b. §Peter steht 10 cm (weit) an der Wand c. Peter steht 10 cm (weit) von der Wand entfernt

Es zeigt sich, daß die semantische Komposition der Ausdrücke nicht-extensional ist, da die Gültigkeit der einzelnen Ausdrücke nicht die Gültigkeit ihrer Kombination nach sich zieht. Offenbar ist es außerdem grundsätzlich so, daß das Adjektiv weit nicht mit den Präpositionen an und bei kombiniert werden und nahe nicht (eindeutig akzeptabel) zusammen mit projektiven Präpositionen auftreten kann (49).17 Worauf dies zurückzuführen ist, ist die zentrale Frage dieser Arbeit und wird im folgenden näher erörtert. (49)

3.3.2

a. b.

weit/§?nahe weg/über/vor §weit/nahe bei/an

Der Ausschluß von Konzept-Unverträglichkeit

Eine Möglichkeit zur Erklärung der Kombinationsphänomene in (48) und (49) drängt sich leicht auf: Die Ausdrücke könnten jeweils auf konzeptuelle Eigenschaften bezogen sein, deren Kombinierbarkeit eingeschränkt ist und gegebenenfalls zur Inakzeptabilität der sprachlichen Formen führt. Insbesondere liegt es auf der Hand, das Adjektiv nahe mit dem Konzept der ,Nähe' und das Adjektiv weit mit dem der .Ferne' zu assoziieren. Eine entsprechende Sichtweise scheint z. B. Li (1994) zu vertreten, der diesen Phänomenbereich diskutiert. Er gelangt anhand von Beispielen wie in (49b) zu dem folgenden Ergebnis: „Dies [...] sind eindeutige syntaktische Belege dafür, daß an und bei semantisch eher die Nähe oder, wie in der Literatur oft genannt, die Nachbarschaft bezeichnen" (S.48)

Geht man jedoch von der Richtigkeit der gerade vorgestellten Analyse dimensionaler Adjektive aus, die insbesondere auf semantischer Polarität beruht, so ist dieser Vorschlag unzutreffend. Diese Analyse beruht gerade nicht auf einem Rückgriff auf Konzepte wie ,Nähe' oder .Ferne', sondern, wie beschrieben, auf einer semantischen Option für zwei verschiedene Intervalloperationen. Außerdem bleibt der referentielle Bezug unklar: Was ist unter einem Fernekonzept zu verstehen, das schon im Zentimeterbereich aktiviert werden kann und zu Äußerungen wie (48c) führt? Hier bietet die Polaritätsanalyse eindeutig die plausiblere Erklärung. Dieselbe Frage der Kombinierbarkeit von Präpositionen und Adjektiven sowie der Verwendbarkeit von Maßphasen wird auch von Zwarts (1995) gestellt und unter dem Aspekt der präpositionsspezifischen Regionseigenschaften untersucht. Er faßt Regionen nicht als Mengen von Raumpunkten auf, sondern als Mengen von am RO ansetzenden Vektoren (bzw. deren Endpunkten). Dies erlaubt es ihm, Aussagen über die Länge solcher (achsenspezifischer) Vektoren zu machen und räumliche Ausdrücke danach zu charakterisieren,

17

Ich verwende hier die allgemeinen Begriffe der Kombinierbarkeit und Kollokation, da an dieser Stelle über die syntaktisch-semantische Beziehung der jeweiligen Ausdrücke zueinander noch keine Aussage getroffen wird.

75 wie eine Längenangabe restringiert ist. Beispiele für seine Analysen sind in (50) aufgeführt (,Ivi' denotiert die Länge eines Vektors v, ,r' ist eine pragmatisch zu bestimmende Zahl). (50)

a. b. c. d.

«nearNP» = ( ν e space(«NP») I Ivlcr} «above NP» = { v e space(«NP») I IvvERT' > 0} «one meter PP» = (ν e «PP» I Ivi = Im} «far PP» = {v e «PP» I Ivi > r)

Zusätzlich unterscheidet er zwischen begrenzten und unbegrenzten Regionen. Danach sind die Regionen projektiver Präpositionen insofern unbegrenzt, als sie abgeschlossen unter Verlängerung sind (ein konstituierender Vektor kann beliebig gedehnt werden und liegt immer noch in der Region), eine Eigenschaft, die für die Regionen von an und bei nicht zutrifft. Maßangaben dienen schließlich dazu, eine unbegrenzte Region zu begrenzen und sind daher nicht mit AN- und BEI-Regionen kompatibel. Der Ansatz von Zwarts ist in seiner Kritik am raumpunktbasierten Lokalisierungsansatz („[...] if we want to interpret modifiers compositionally [...] then a denotation based on points is simply not adequate", Zwarts 1997:63) und in dem auf relativer Position basierendem Vektormodell kongenial zu den hier vorgenommenen Ausführungen. Mit (50a) und (50c) läuft er jedoch zunächst in dieselben Probleme wie bisherige Behandlungen der Modifikation. Die angebotene Lösung (eine Art formalisierter Konzept-Unverträglichkeit) wirkt stipuliert, da Zwarts eine direkte Modifikation von PPs durch Maßphrasen annimmt (entgegen begründeter gegenteiliger Annahmen, s.o., sowie weiteren Argumenten, s. z.B. den nächsten Abschnitt) und so eine systematische Behandlung der Kombinatorik von Adjektiven und Präpositionen verhindert. Damit werden auch Phänomene aus dem Bereich der Graduierung nicht behandelt. Dies betrifft insbesondere das Verhalten des Gradpartikels sehr (sehr weit, sehr nahe): Während sich bei Bierwisch/Lang die entsprechenden Bereiche (s. Abb. 33) kanonisch aus den durch die Polarität des Adjektivs bestimmten Skalenoperationen ergeben, läßt sich der Analyse von Zwarts kein Ansatz zur Behandlung dieses Phänomens entnehmen. Unidirektionale Vektoren und deren Längeneigenschaft bieten offensichtlich zu wenig Information, um allen Aspekten der Kombinierbarkeit von Präpositionen und Gradangaben, wie sie von Bierwisch umfassend behandelt worden sind, gerecht zu werden. Dies deutet daraufhin, daß Ansätze wie die von Li und Zwarts, die auf konzeptuell motivierter „Verträglichkeit" der beteiligten Ausdrücke basieren, keine einfache und vollständige Lösung der Probleme bieten.

'Nahe'-Bereich

'Weit'-Bereich

'Sehrnahe'Bereich

'Sehr weit'· Bereich Abb. 33: Charakteristik von sehr

76 3.3.3

Syntaktisch-semantische Aspekte

Die Untersuchung der syntaktischen Kombinatorik und semantischen Kompatibilität von Distanz- und Lokationsausdrücken läßt sich durch die Fragen in (51) leiten, die einerseits heuristisch hilfreich sind und deren Beantwortung andererseits bei der Entwicklung eines Erklärungsmodells unumgänglich ist. (51)

a. b.

c. d.

Welche Kombinationen sind ungrammatisch (d. h. entsprechen nicht den Mustern verwendbarer syntaktischer Strukturen)? Welche Kombinationen sind bzgl. einer bestimmten, syntaktisch wohlgeformten Struktur nicht interpretierbar und somit inakzeptabel (d. h. lassen sich nicht semantisch interpretieren, sind inkompatibel)? Welche von mehreren interpretierbaren syntaktischen Strukturen einer Kombination ist die präferierte? Welches sind die den Aspekten in a.-c. zugrundeliegenden Prinzipien?

Diese Fragen lassen sich anhand des in Abb. 34 abgebildeten Szenarios erörtern, in dem sich ein Objekt ariane (A) über dem Meer (M) und unter den Wolken (W) befindet, und zwar jeweils im Abstand von 100m (auch von einem Betrachter (O)). Anhand einer Formalisierung dieser Situation (s. (52)) lassen sich die semantischen Repräsentationen für 100m hoch/weit über dem Meer und 100 m tief/weit unter den Wolken entsprechend analog zu (47) auf einfache Weise angeben (s. (53), (54); die punktiert unterstrichenen Auszeichnungsparameter gelten jeweils nur für die Adjektive hoch und tief).

100 m

Abb. 34: Ein Szenario vertikal orientierter Objektbeziehungen

(52)

LOC(ariane, ÜBER*(meer)) & LOC(ariane, UNTER*(wolken)) & QUANT(VERT(DIST'(meer, ariane))) = [0+100] & QUANT(OBS(DIST'(wolken, ariane))) = [0+100]

(53) (54)

λ χ [LOC(x, ÜBER*(meer)) & QUANT(VERT(DIST'(meer, x))) = [0+100]] λχ [LOC(x, UNTER*(wolken)) & QUANT(QBS(DIST'(wolken, x))) = [0+100]]

Probleme treten jetzt bei der Behandlung der Unterschiede von Ausdrücken wie in (55) und (56) auf. Offenbar kann man für (55) eine Defaultinterpretation annehmen, die sich mit ,in

77 einer vertikalen Distanz von 100m über dem Meer' paraphrasieren läßt (im Gegensatz zu der Interpretation ,in einer Distanz von 100m, und über dem Meer'. 19 (55) (56)

100m weit über dem Meer 100m hoch unter den Wolken

Allerdings enthält die semantische Struktur von (55) (s. (57)) keine Informationen, die als Kriterien für eine solche Präferenz gelten könnten, so daß die Lesart ,über dem Meer, in einer Distanz von 100m von etwas (den Wolken, dem Betrachter...)' in gleichem Maße zugelassen ist. Umgekehrt stellen sich bezüglich (56) (s. (58)) Schwierigkeiten bei der Interpretation ,in einer vertikalen Distanz von 100m unter den Wolken' ein, während die Lesart ,unter den Wolken, in einer vertikalen Distanz von 100m (von etwas)' akzeptabel ist. Die gemäß (47) vorgenommenen Formalisierungen liefern jedoch keinen Hinweis auf die Ursache dieser Akzeptabilitätsunterschiede. (57) (58)

λχ [LOC(x, ÜBER*(meer)) & QUANT(DIST'(z, x)) = [0+100]] λ χ [LOC(x, UNTER*(wolken)) & QUANT(VERT(DIST'(z, x))) = [0+100]]

Es reicht dabei nicht aus, die Präferenz- und Akzeptabilitätsphänomene dem Bereich der Performanz zu überantworten (d.h. dem Bereich der Verarbeitung sprachlicher Strukturen), da gerade in jüngerer Zeit entsprechende Verarbeitungsmodelle semantisch orientiert sind und wiederum auf informationsreichen semantischen Strukturen basieren (vgl. die Prinzipien der lexical strength sowie des head- und theta-attachment in Hemforth et al. 1992). Stattdessen lassen diese Phänomene darauf schließen, daß - aus Sicht der Analyse in den semantischen Repräsentationen Informationen fehlen, die in den entsprechenden syntaktischen Strukturen noch vorhanden waren, und daß gleichzeitig - aus der Sicht der Generierung - die semantischen Formen entsprechend unterspezifiziert im Hinblick auf die Unterscheidung verschiedener syntaktischer Realisierungen sind. Die angesprochenen Probleme können anhand der den verschiedenen Interpretationen entsprechenden syntaktischen Strukturen verdeutlicht werden. So ist für die Defaultinterpretation von (55) die Struktur (59) anzusetzen, im Kontrast zu (60) für die weniger präferente Lesart. Analog ist (61) die für die inakzeptable, d.h. nicht interpretierbare, Lesart von (56) anzunehmende Struktur, während (62) der akzeptablen Interpretation zugeordnet werden kann (zur Motivation für diese Analyse vgl. (63)). Während diese Beispiele aber immerhin unter der Rubrik „grammatisch" verbucht werden können, zeigt (64), daß die bisherigen semantischen Analysen auch ungrammatische, d.h. nicht wohlgeformte, syntaktische Strukturen zulassen (man setze z.B. (63) als PP ein). (59) (60) (61) (62) (63) (64)

19

[pp 100m weit über dem Meer] [PP [PP 100m weit] [PP über dem Meer]] §[PP 100m hoch unter den Wolken] [PP [PP 100m hoch] [PP unter den Wolken]] [PP [PP hoch oben] [PP unter den Wolken]] *[PP [AP 100m tief] [PP ...]]

Dies läßt sich durch abstrakte Verwendungen dieser Adjektiv-Präposition-Konstellation (wie z. B. weit über 500 Jugendliche besuchten das Konzert) belegen.

78 Es zeigt sich, daß die Beziehung möglicher syntaktischer Strukturbildung und semantischer Interpretierbarkeit in diesem Bereich nicht geklärt ist und daher die Ursachen der Präferenz·, Akzeptabilitäts- und Grammatikalitätsunterschieden als dieser Beziehung zugrundeliegenden Prinzipien noch nicht entdeckt sind. Dies hat insbesondere das Nicht-Erkennen inakzeptabler Ausdrücke zur Folge: Fliegt ariane z.B. in die Nähe der Sonne, so trifft (65) zu, was wiederum den Ausdruck weit/hoch bei der Sonne sanktionieren würde. (65)

LOC(ariane, BEl*(sonne)) & QUANT(VERT(DIST'(meer, ariane))) = [v+c]

An dieser Stelle sei daran erinnert, daß die Eleganz der Behandlung der Dimensionsadjektive in dem Ansatz von Lang sich gerade in der Erklärung der (Un-)Interpretierbarkeit von Dimensionsadjektiv-Objekt-Kombinationen erweist. Es liegt daher meiner Ansicht nach auf der Hand, für die Kombinatorik von Distanzadjektiven und Präpositionen eine in analoger Weise konstruierte erklärungsadäquate Theorie zu fordern bzw. anzustreben. Die semantische Stelligkeit kennzeichnet eine weitere Fragestellung der Semantik der Distanzadjektive. So ist in (66) weit offensichtlich als ein Distanzadjektiv zu betrachten (vgl. §enger Weg). Trotzdem ist eine semantische Repräsentation von (66) mit der Umschreibung „ein χ, das ein Weg ist und entfernt ist von einem y" sicherlich ausgeschlossen. Stattdessen muß eine Interpretation „ein x, das ein Weg ist, der eine große Distanzausdehnung hat" angenommen werden. (66)

weiter Weg

Will man nicht eine eigene, ontologisch kaum zu rechtfertigende Adjektivklasse einführen ('Adjektive, die zugleich Dimensions- und Distanzeigenschaften auszeichnen') und eine entsprechend komplizierte Abbindung des internen Arguments y postulieren, so ist demnach eine Inadäquatheit sowohl der Argumentstruktur als auch der semantischen Form der Distanzadjektive festzustellen, die wesentlich auf der Annahme der Zweistelligkeit des Distanzauszeichnungsparameters beruht. Untermauert wird diese Beobachtung durch die Beispiele in (67), die Bierwisch/Lang (1987b:687ff) als gemäß ihrer Analyse zumindest nicht einfach zu behandelnde Problemfälle diskutieren. (67)

a. b. c. d.

Der Gummiball springt hoch/§niedrig/nicht hoch//weit/§nah/nicht weit Der Gummiball springt höher und weiter als der Plastikball Der Plastikball springt §niedriger/weniger hoch und §näher/weniger weit als der Gummiball Die Kugel drang tief/§flach ein

Hierbei handelt es sich um Konstruktionen, in denen Distanzausdrücke mit Bewegungsverben interagieren. (68) zeigt, daß entsprechende Phänomene bei der Kombinatorik von Adjektiven und direktionalen Positionsverben (hängen, ragen, s. Kaufmann 1995) auftreten. Der unmittelbare Bezug zu (66) läßt sich anhand der entsprechenden (-Pol)-Konstruktion in (69) veranschaulichen. (68)

a. b.

Die Stange ragt nicht weit / nur ein StUck / §nur nahe aus der Wand Die Leine hängt nicht weit / nur ein Stück / §nur nahe aus dem Fenster

79 (69)

§naher Weg

Die Zweistelligkeit selbst ist jedoch nicht unumstritten. Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen Vorschlag, den Anfangspunkt der Distanz semantisch als freie, auf der konzeptuellen Ebene abzubindende Variable zu behandeln, betrachtet Lang (1987) diesen Punkt als ein optionales Argument des Distanzadjektivs (70). In dieser Sichtweise wird ein Source-Ausdruck also als in die Bedeutung des Adjektivs inkorporierbar aufgefaßt (71). (70) (71)

Distanzadjektiv: Xc (Xy) λχ [QUANT (DIST' (y, χ)) = [ν ± c]] [pp 100m weit von hier]: λχ [QUANT (DIST' (VON_HIER, x)) = [0 + 100m]]

Entsprechend ist offenbar ungeklärt, ob bzw. wann eine lokale Präposition/PP durch ein Distanzadjektiv modifiziert wird und ob bzw. wann sie als Argument eines solchen Adjektivs fungiert. Allerdings zeigen die Beispiele in (72b,c), daß zwischen Adjektiv und PP weitere Elemente treten können, was die Argumentanalyse unplausibel erscheinen läßt. (72)

a. b. c.

Der Bahnhof ist nicht weit von hier Der Bahnhof ist nicht weit weg von hier Der Bahnhof ist nicht weit entfernt von hier

Die von Bierwisch gewählte ontologische Basis der Graduierung als über Intervallen operierende Vergleiche erweist sich angesichts der Beispiele in (66-69) als äußerst problematisch. Sie konstituiert in seinem Ansatz die für die Darstellung der Polaritätsunterschiede relevante Ebene, indem Abmessungen auf Intervalle projiziert und miteinander verglichen werden. Auf diese Weise ist es aber gerade nicht möglich, das Fehlen negativpolarer Ausdrücke bzgl. bestimmter Abmessungen bzw. die entsprechenden Inkompatibilitäten in (66-69) zu erklären, da qualitative oder konzeptuelle Aspekte (d. h., dimensionale vs. Distanz- Abmessung) auf dieser Ebene nicht „sichtbar" sind. Allerdings weisen andere Ansätze dieselben Probleme auf. So geht Eschenbach (1995) von abstrakten Gradobjekten aus, die durch die Relation ,>' in Beziehung gesetzt werden. ,gl > g2' heißt dann, daß der Grad gl bzgl. einer linearen Ordnung von Graden größer ist als der Grad g2. Auf dieser Grundlage lassen sich positiv- und negativ-polare Dimensionsadjektive wie in (73) charakterisieren. (73)

a.

+P0I-A

(Kg) λχ [QUANT (DIM (χ)) > g]

b.

-Pol-Α

(Kg) λχ [g > QUANT (DIM (χ))]

Dabei wird deutlich, daß auch hier keine prinzipiellen Gründe für den Ausschluß bestimmter Kombinationen vorliegen. Im Gegenteil, da diese Thematik nicht zum Kern des Interesses ihrer Arbeit zählt, fehlen die subtilen Prinzipien zur Regelung der Belegung von ν und c. Aus diesem Grund ist es nicht ausgeschlossen, daß auch das g in (73b) durch eine Maßangabe (realisiert als Prädikat über Graden) spezifiziert wird. Insgesamt muß die Behandlung der in (66-69) exemplifizierten Phänomene also offenbar ein Rätsel bleiben. Ich werde allerdings in Kap. 7 zu dieser Thematik zurückkehren und detailliert auf die Phänomene eingehen.

80 3.4

Räumliche Relationen ohne Lokalisierung: Aspekte der Semantik von

folgen

Nicht immer werden Lagebeziehungen zwischen Objekten durch Distanz- und/oder Lokalisierungsangaben versprachlicht. Wie die Beispiele in (74) zeigen,20 drückt das Verb folgen zwar typischerweise die Bewegung eines Subjekts in bezug auf ein Objekt aus (74a,b), kennzeichnet aber gleichzeitig eine charakteristische räumliche Relation zu diesem Objekt. Dies wird an (74c) deutlich, in dem beide Objekte unbeweglich sind, trotzdem aber eine gewisse „Parallelität" ihrer Verläufe ausgedrückt wird. Es stellt sich nun einerseits die Frage, wie die Semantik von folgen zu beschreiben ist, so daß so unterschiedliche Verwendungsweisen wie die in (74) erfaßt werden, und andererseits, wie die räumliche Relation zwischen den beiden Objekten beschaffen ist. Eine Möglichkeit besteht darin, eine Abstraktion über tatsächlichen Bewegungsverläufen eines beweglichen Objekts und über dem Verlauf eines stationären Objekts zu bilden, wie sie in einer ersten Annäherung an die Beschreibung dieses Phänomenbereichs in Habel (1989) vorgeschlagen wird. (74)

a. b. c.

Er folgte ihm nach Venedig Wir folgten dem Fluß Die Grenze folgt dem Rio Grande

Im Rahmen seiner Analyse von abstrakten Wegen geht Habel von zwei Basisdomänen aus: D, der Domäne räumlicher Objekte, und LR, der Domäne räumlicher Regionen. Auf dieser Grundlage lassen sich parametrisierte Wege als kontinuierliche Abbildungen φ: I —> LR (mit I als Intervall [0, 1]) beschreiben, mit Hilfe derer die Information über Geschwindigkeit, Anfangs- und Endpunkte sowie über die Spur eines zurückgelegten Weges dargestellt wird. Durch Äquivalenzklassenbildung ergeben sich zunächst Wege, bei denen von der Geschwindigkeit abstrahiert worden ist, bei denen die Richtung (Spezifikation von Anfang und Ende) aber noch erhalten ist, sowie Spuren, die ausschließlich die richtungsinvariante Information der traversierten Raumregionen enthalten. Auf diese Weise entsteht eine Hierarchie der beschriebenen Wegkonzepte: eine Spur ist immer ein Weg und ein Weg immer ein parametrisierter Weg, während die jeweils umgekehrte Relation nicht gilt. Das Grundinventar abstrakter Wege läßt sich, wie Habel zeigt, auf zwei unterschiedliche Arten für die Interpretation räumlicher Ausdrücke verwenden. Einerseits können durch topologische Deformationen (und Hüllenbildung) natürlicher Verbindungswege zwischen zwei Orten Zwischenregionen gebildet werden, mit denen sich die Unsicherheit einer sprachlichen Lokalisierung („A ist zwischen Β und C") repräsentieren läßt. Andererseits erlaubt es die rein räumliche Auffassung von Spuren, auch langgestreckte Objekte als solche aufzufassen und ermöglicht so eine einheitliche Behandlung von (74a-c). Betrachtet man die Spuren der beteiligten LO und RO,21 so zeigt sich, daß für sie die (wie auch immer einzuschränkende) Parallelität vorliegt. Diese Parallelität kann somit als abstrakte semantische Eigenschaft des Verbs folgen aufgefaßt werden (75), die je nach Kontext (d.h. je nach Typ der beteiligten Objekte) unterschiedlich instantiiert ist bzw. sein muß.

20 21

Vgl. Hays (1990). Hierzu gehören auch „induzierte" Spuren in Beispielen wie Die Bäume folgen der Straße.

81 (75)

folgen:

λ γ λχ [PARALLEL(spur(x), spur(y))]

Im Anschluß an diese Basisanalyse von folgen stellt Habel drei Fragen, die die Beschreibungsadäquatheit der direkten Anwendung des Spur-Konzepts betreffen: Warum fehlt der Fall „LO stationär und RO beweglich"? Für Sätze des Typs (74c), sind L O und R O vertauschbar, d.h. liegt Symmetrie vor? Kann j e d e s Paar von Objekten mit wegähnlicher Form durch folgen beschrieben werden? Warum ist die Beschreibung in (76) (Abb. 35) inakzeptabel? (76)

§Ein Streichholz folgt dem anderen

Abb. 35: Parallel angeordnete Streichhölzer und die Verwendbarkeit von folgen (nach Habel 1989b)

Als eine mögliche Antwort auf diese Fragen schlägt Habel vor, daß immer eine Konzeptualisierung des L O vorliegen muß, die ein bewegtes (oder bewegliches) Objekt induziert, „e.g. the moving focus [!] of vision in scanning a mental image" (Habel 1989b:22), und so das L O als „mindestens so beweglich" wie das R O auszeichnet. In diesem Zusammenhang hält er es für möglich, daß auch das Streichholz-Beispiel auf Konzeptualisierungsprobleme zurückzuführen ist, die durch Granularität und Größe einer mentalen Vorstellung bedingt sind: „the objects in question are so small that scanning along the object's shape is unnatural" (ibid.). Entsprechend fordert er, auch die Eigenschaften parametrisierter Wege bei der Analyse von folgen zu berücksichtigen. Seine Konklusio dieser Überlegungen lautet wie folgt : „A formal theory of cognitive processes in spatial reasoning will be based on the mathematical theories of topological, metrical and geometrical spaces, but has to respect the specific constraints of finite size and limited granularity of local regions in mental models" (Habel 1989b: 22). Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß die vorgeschlagenen Modifikationen einerseits nicht hinreichend explizit genug sind und andererseits insgesamt nicht ausreichen, um den Phänomenen gerecht zu werden. (77) ist zunächst ein weiteres Beispiel (ähnlich dem in (76)), das die Übergeneralisierung von (75) aufzeigt: obwohl die Spuren annähernd parallel zueinander sind (beide verlaufen in nord-südlicher Richtung), ist der Satz inakzeptabel. (77) (78)

§Die Bahnstrecke Marseille-Lyon folgt dem Nil Die Seefahrer folgten dem Nordstern, bis sie endlich die Küste Grönlands erreichten

Für Fälle wie (78) muß angenommen werden, daß bezüglich des R O eine Spur induziert wird. Diese Annahme führt aber offensichtlich zu einer Problemverschiebung (bzw. zur Aufdeckung des eigentlichen Problems): Was sind die Kriterien für die Induzierung einer Spur? An Beispielen wie (79) wird deutlich, daß selbst rein räumliche Verwendungen des Verbs folgen nicht ausschließlich mit Hilfe einer statischen räumlichen Konstellation erfaßt

82 werden können, wie sie in (75) repräsentiert ist: Nach einer Analyse von Wunderlich/ Kaufmann (1990) charakterisiert bis das Ende einer sich kontinuierlich verändernden Situation (d. h., eines Prozesses), die insbesondere durch eine zeitlich geordnete Vielheit eines Situationstyps gekennzeichnet ist. (79)

Die Straße folgt dem Fluß bis zum Rand der Hochebene

Prozesse können wiederum durch eine wiederholte Instantiierung eines nicht-homogenen Situationstyps (ζ. B. EINENJSTUHLJRGENDWOHIN_STELLEN, vgl. Moens/ Steedman 1988) charakterisiert sein. Entsprechend ergibt sich ein Kontrast in der Verwendbarkeit von bis, wie sich an den Beispielen in (80) zeigt. Während (80a) und (80c) einen einfachen Ortswechsel des LO (Einzel- bzw. Gruppenobjekt) ausdrücken, ist (80b) offensichtlich wegen einer Verletzung der Prozessbedingung inakzeptabel (nämlich, weil keine Wiederholung vorliegt). Für (80d) kann hingegen eine Interpretation generiert werden, nach der die Stühle derart nacheinander piaziert werden, daß sich der letzte in der Nähe des Fensters befindet. Im Hinblick auf (79) ist deswegen nicht ersichtlich, wie seine Akzeptabilität (die Erfüllung der Prozessbedingung von bis) anhand von (75) erklärt werden kann, das einen statischen Zustand (i. e. die Parallelität zweier Spuren) denotiert. (80)

a. b. c. d.

Sie stellte den Stuhl ans Fenster §Sie stellte den Stuhl bis ans Fenster Sie stellte die Stühle ans Fenster Sie stellte die Stühle bis ans Fenster

(81)

a. b.

Wir folgen der Straße nach Norden Die Straße führt uns nach Norden

Ein weiteres Problem ergibt sich schließlich aus dem Vergleich des Verbs folgen mit seinem konversen Lexem führen in (81). Zur Behandlung dieser Konversität würde es sich anbieten, beiden Verben dieselbe semantische Form in (75) zugrunde zu legen und den spezifischen Unterschied an der Argumentstruktur festzumachen (durch Vertauschung der Theta-Rollen). 22 Allerdings sollte die konzeptuelle Parallelitätsrelation symmetrisch sein, so daß eine Argümentvertauschung irrelevant wäre. Da auf diese Weise die Unterscheidbarkeit der Verben verloren geht, ist demnach eine asymmetrische konzeptuelle Relation in der Semantik beider Verben zu fordern. Die geschilderten Problembeispiele belegen, daß eine auf rein räumlichen Repräsentationen (Bewegungsspur, Objektformspur) basierende Analyse keine vollständige Erklärung für die auftretenden Phänomene bietet. Die kritischen Aspekte dieser Analyse sind in (82) zusammengestellt.

22

Wie die Beispiele zeigen, ist die Annahme der Konversität von folgen und führen plausibel und im Rahmen der vorliegenden Argumentation gerechtfertigt. Damit wird jedoch keineswegs behauptet, daß die Bildung der konversen Relation grundsätzlich konzeptuell legitimiert ist und der entsprechende Ausdruck somit akzeptabel sein muß (vgl. Der Weg folgt der Autobahn vs. IDie

Autobahn führt den Weg).

83 (82)

a.

Die Beziehung von Thema und R e k t u m wird indirekt über die Beziehung ihrer Spuren hergestellt (Problem der Übergeneralisierung, s. (76), (77); Kriterium der Spurinduzierung, s. (78))

b.

Der funktionale Unterschied von Thema und Relatum ist nicht repräsentiert, d.h., die Beziehung zwischen LO und RO ist symmetrisch (Problem der fehlenden stationär/ beweglich-Konstellation und der Konversität von folgen und führen, AsymmetrieProblem)

c.

Die inhärente Prozesshaftigkeit ist nicht repräsentiert (s. (79))

Was offensichtlich zusätzlich benötigt wird (darauf lassen auch die vorgeschlagenen Einschränkungen Habels schließen), sind Eigenschaften der Wahrnehmung bzw. Perspektivierung von Raum, d. h., der weiteren Verarbeitung von Raumrepräsentationen. Diese Eigenschaften müssen repräsentiert sein, um für eine Theorie der Repräsentation und Verarbeitung räumlichen Wissens zur Verfügung zu stehen. Als Kandidaten für in diesem Sinne wesentliche Eigenschaften für folgen ergeben sich im Kontrast zu (82) die in (83) aufgeführten Kriterien. (83)

a.

Es gibt eine Dimension, auf der direkt eine Beziehung zwischen Thema (LO) und Relatum (RO) hergestellt wird

b.

Die entsprechende Relation ist asymmetrisch und ermöglicht eine auch konzeptuell motivierte LO/RO-Unterscheidung

c.

D i e Eigenschaften a. und b. liegen in einer Weise mehrfach vor, die eine als homogen, unbegrenzt und dynamisch kategorisierte Situation charakterisieren

Es zeigt sich, daß die Untersuchung des Verbs folgen23 mit (83a) und (83b) zu zwei Anforderungen an konzeptuelle räumliche Relationen führt, die - wie schon die vorangegangene Diskussion nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen - die Notwendigkeit einer grundlegenderen Charakterisierung jenseits von Termini wie .Räumliches Konzept', .Lokalisierungsrelation' und .Funktionale Relation' aufzeigen.

3.5

Fazit

Die Betrachtung der Semantik räumlicher Ausdrücke hat gezeigt, daß die Behandlung der Kombinatorik von Distanzadjektiven und anderen räumlichen Ausdrücken im speziellen sowie die Modellierung der Beziehung von sprachlichen und nicht-sprachlichen Relationen im allgemeinen in den gegenwärtigen Ansätzen zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Anhand der Betrachtung unterschiedlicher linguistischer Phänomene ist deutlich geworden, daß selbst durch die Berücksichtigung funktionaler und konzeptueller Faktoren (zusätzlich zu rein räumlichen Aspekten) eine hinreichende Erklärung der Phänomene nicht gewährleistet wird. Mit Ausnahme der Arbeiten von Logan liegt nur selten eine klare Model23

S. hierzu auch Carstensen (1995c).

84 lierung der Aspekte ,Referenzrahmen(bezug)\ .Relation' und ,relationsspezifischer Variationsbereich des LO-Ortes' vor. Dies beruht auf vor allem darauf, daß die Unterscheidung expliziter und impliziter Raumrepräsentation nicht berücksichtigt und eine klare Trennung konzeptueller und sprachlicher Kategorisierung nicht vorgenommen wird. In diesem Zusammenhang ist zum Teil eine Problemverschiebung festzustellen (von der Erklärung linguistischer Distinktionen auf die konzeptueller Distinktionen; von konzeptuell-räumlichen Erklärungen auf funktionale Erklärungen). Mehrfach und unabhängig voneinander sind bei der Diskussion räumlicher Relationen Hinweise darauf gefunden worden, daß zusätzlich zu den Aspekten der Raumrepräsentation selbst auch die Wahrnehmung (bzw. Perspektivierung) dieser Repräsentation modelliert werden muß. Was hierunter zu verstehen ist, ist angesichts der vorgestellten Arbeiten grundsätzlich unklar. Das folgende Kapitel soll daher - zum Teil motiviert durch vereinzelte Hinweise auf die Relevanz fokussierter Aufmerksamkeit bei den vorangegangenen Erörterungen - Aufschluß über eine bislang nicht in Betracht gezogene, für die Charakterisierung räumlicher Relationen essentielle Repräsentationsebene liefern.

4 Aspekte fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit „[...] a useful, indeed perhaps a necessary strategy for understanding human behavior is first to try to discover some properties of the mechanisms which operate on knowledge and which bring the organism in contact with its environment" (Pylyshyn 1994:364)

4.1

Vorwort: Warum eine Betrachtung visueller Aufmerksamkeit? „While orienting to stimuli in visual space is a restricted sense of attention, I believe that its study is capable of providing us both with important tests of the adequacy of general models of human cognition and with new insights into the role of attention in more complex human activity." (Posner, 1980:4)

W i e läßt sich die Frage nach den E i g e n s c h a f t e n räumlichen W i s s e n s s o w i e nach der Beziehung von Sprache und R a u m beantworten, ohne in den interdisziplinären Zirkel der C h a r a k t e r i s i e r u n g r ä u m l i c h e r R e l a t i o n e n zu g e r a t e n und o h n e die U n t e r s c h e i d u n g impliziter und expliziter räumlicher Relationen zu mißachten? Ein Zugang zur Beantwortung dieser Frage, der in dieser Arbeit verfolgt wird, besteht darin, die Bildung räumlichen W i s s e n s einerseits unter d e m Gesichtspunkt der notwendigen Reduktion durch Selektion von Information zu betrachten, die beim A u f b a u mentaler Repräsentationen stattfindet, und andererseits unter d e m Gesichtspunkt der Konstruktion dieser Repräsentationen. W e d e r können alle Informationen repräsentiert, noch können sie alle gleichzeitig verarbeitet und f ü r die Auswahl verhaltensrelevanter Aktionen verwendet werden. 1 Z u d e m existiert keine vorgefertigte Welt, stattdessen müssen Interpretationen erst hergestellt (vgl. z u m Beispiel die Interpretation von Vexierbildern) und repräsentationeile Elemente gebildet werden (s. B e o b a c h t u n g B3). Der Aspekt der Reduktion selbst bedarf keiner weiteren Begründung und wird hier nicht weiter thematisiert. Die Aspekte der Selektion und Konstruktion sind hingegen zentral f ü r die vorliegende Arbeit. Sie sind eng mit d e m Begriff der A u f m e r k samkeit v e r k n ü p f t (hier überwiegend e i n g e s c h r ä n k t auf visuell-räumliche A u f m e r k s a m keit), von d e m gezeigt werden soll, d a ß er sowohl einen inhärenten Z u s a m m e n h a n g zu kognitiv-räumlichen als auch zu sprachlich räumlichen Relationen aufweist. Selbstverständlich nehmen wir unsere U m w e l t visuell allein deswegen ausschnittsweise wahr, weil in einem beschränkten Zeitraum nur eine beschränkte M e n g e an Informationen „The visual system cannot fully process all of its input. There is not enough room in the skull for all of the neural hardware that would be required to perform all visual functions at all locations in the visual field at the same time [...] The visual system has two basic approaches to this problem. The first is to discard input. [...] The second approach is to process information selectively" (Wolfe 1994:202).

86 durch die Augen geliefert wird (visuelles Feld). Experimente im Bereich visueller Aufmerksamkeit haben jedoch gezeigt, daß gerade auch bzgl. dieser Menge an Informationen Selektion stattfindet. Dies läßt sich anhand von Experimenten nachweisen, die im Paradigma der visuellen Suche durchgeführt wurden (Theeuwes 1993). Präsentiert man Versuchspersonen ein visuelles Feld, in dem ein einzelnes Element (Target) in einer Menge gleichartiger anderer Elemente (Distraktoren) gefunden werden soll, so ist diese Suche subjektiv einfach und - unabhängig von der Anzahl der Distraktoren - (relativ) gleichbleibend schnell (sogenanntes ,,Popout"-Phänomen). Ist das Target hingegen schwer von den Distraktoren unterscheidbar 2 (oder gar nicht vorhanden), so steigt die Reaktionszeit der Verifikation mit der Anzahl der Distraktoren. Diese Ergebnisse haben zu einer Unterscheidung zweier Verarbeitungstypen bzw. zweier Verarbeitungsebenen geführt: eine Ebene paralleler Verarbeitung von Merkmalen des visuellen Feldes einerseits und eine Ebene serieller Verarbeitung (bei schwierigen Diskriminationen oder komplexen Elementen) andererseits. Visueller Aufmerksamkeit wird dabei im allgemeinen die Rolle der selektiven Komponente zugesprochen, die die beschränkte und lokal begrenzte serielle Verarbeitung kontrolliert. Selektive Aufmerksamkeit ist offenbar außerdem mit der Konstruktion repräsentationeller Elemente assoziiert. Nach Kahneman/Treisman (1992) führt die Fokussierung von Aufmerksamkeit auf ein neues Element zur Bildung visuell-räumlich adressierter object files, die die subjektive Objektkonstanz perzeptueller Objekte gewährleisten, obwohl diese sowohl im Hinblick auf ihre Merkmale als auch auf ihre Typzuordnung erheblichen Änderungen ausgesetzt sein können: „Onlookers in the movie can exclaim 'It's a bird; it's a plane; it's superman!' without any change of referent for the pronoun. If the appropriate constraints of spatiotemporal continuity are observed, objects retain their perceptual integrity and unity. Since neither spatial location, sensory properties, nor even the most appropriate label need remain constant, we are forced to attribute any object-specific perceptual phenomena to some form of object-specific representation, addressed by its present location and by its continuous history of travel and change through space overtime" (Kahneman/Treisman 1992:217).

Aufmerksamkeit wird außerdem als notwendig für die Integration einzelner Merkmale zu einem Objekt angesehen (Treisman 1988) und übt einen wesentlichen Einfluß auf den Interpretationsprozess ambiguer perzeptueller Konstellationen (Peterson/Gibson 1991), den Übergang von orientierungsabhängigen zu orientierungsunabhängigen Repräsentationen bei der Identifikation disorientierter Objekte (Murray 1995) sowie die Modulation globaler vs. lokaler Verarbeitung hierarchisch strukturierter Objekte (Kosslyn 1994:96f) aus. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der den Kern der in dieser Arbeit geführten Argumentation darstellt, ist die Erkenntnis, daß visuelle räumliche Aufmerksamkeit nicht nur stimulus-abhängig („bottom-up") geleitet ist, sondern auch top-down gesteuert operieren kann. Üblicherweise wird hierfür eine entsprechende Komponente des kognitiven Systems angenommen („Aufmerksamkeitskontrolle"). Will man jedoch nicht einem HomunkulusFehlschluß anheimfallen, so muß diese Komponente grundsätzlich repräsentationsbasiert (d.h. letztendlich als (auch) durch den Input charakterisiert) konzipiert werden. Solche Repräsentationen bestimmter Aspekte der Wahrnehmung von Raum können - obgleich nur 2

Die Schwierigkeiten können dabei darauf zurückzuführen sein, daß Target und Distraktor gemeinsame Merkmale aufweisen oder daß das Target ein Merkmal entbehrt, das die Distraktoren aufweisen.

87 indirekt und somit nicht als Morphismen erster Ordnung - auch als Repräsentationen von Raum aufgefaßt werden. Von solchen Repräsentationen soll gezeigt werden, daß sie unmittelbar der Repräsentation sprachlicher Raumkonzepte zugrundeliegen.

4.2

Ein Wort der Vorsicht zum T h e m a „Aufmerksamkeit" „Everyone knows what attention is. It is the taking possession by the mind, in clear and vivid form, of one out of what seems several simultaneously possible objects or trains of thought". (William James) 3

Grundsätzlich stellt sich einer Arbeit, die einen Terminus als erklärendes Konstrukt verwenden will, die Aufgabe, diesen Terminus zunächst hinreichend genau zu charakterisieren bzw. zu definieren und dann seine Relevanz für die Theoriebildung zu motivieren. Eine Arbeit, die in dieser Weise auf .Aufmerksamkeit' rekurriert, muß allerdings die folgenden Beobachtungen Johnston/Darks zur Kenntnis nehmen, die als die Spitze des Eisbergs der Problematik seiner Verwendung angesehen werden können: „In reviewing the literature on attention we were struck by several observations. One was a widespread reluctance to define attention. Another was the ease with which competing theories can accommodate the same empirical phenomena. A third observation was the consistent appeal to some intelligent force or agent in explanations of attentional phenomena. [...] As a consequence, the more we read, the more bewildered we became" (Johnston/Dark 1986:43).

Die Untersuchung von Aufmerksamkeit stellt sich somit selbst in dem hier eingeschränkten Bereich als äußerst heterogenes Forschungsgebiet dar, das durch die Fragen nach dem „Ort" von Aufmerksamkeit und nach der Identifikation aufmerksamkeitsbestimmter Prozesse (gegenüber solchen, die ohne Aufmerksamkeit ablaufen) bestimmt ist. Trotzdem die experimentalpsychologische Forschung hierzu gerade in jüngerer Zeit durch Ergebnisse aus dem Bereich der Neuropsychologie/-physiologie (ζ. B. PET-Scans oder ERP-Aufnahmen 4 ) oder durch pathologische Studien (ζ. B. die Neglekt-Forschung) ständig bereichert wird, ist eine umfassende bzw. einheitliche Theorie der Aufmerksamkeit noch nicht in Sicht und sollte nach Allport auch nicht angestrebt werden: „The preeminence accorded to these two questions over the past twenty-five years rested [...] on the belief in the possibility of a unitary (and simple) 'theory of attention'. Indeed, answers to these questions were frequently put forward as just that—as a putative theory of attention. This belief rested, in turn, on the assumption (implicit or explicit) that attentional functions were all of one type [...]. The penalty for such wishful thinking is to be condemned forever to appeal, in one's theory, to ill-defined (or even completely undefined) causal mechanisms and constraints—attention, attentional resources, central processing system, (anterior) attentional system, central executive, further processing, and the like—whose explanatory horsepower is nil" (Allport 1993:206).

3 4

Zitiert in Posner/Raichle (1994:154). Positron Emission Tomography und Event Related Brain Potentials, vgl. Posner/Raichle (1994).

88 Allport zeigt allerdings einen Weg auf, diesen Mißstand zu vermeiden: „It is by taking seriously the idea that attentional functions are of very many different kinds, serving a great range of different computational purposes" (ibid.). 5 In diesem Sinne und vor diesem Hintergrund sollen in diesem Kapitel Aufmerksamkeitsphänomene soweit beleuchtet und bestehende Theorien und Begrifflichkeiten soweit betrachtet werden, wie sie dazu beitragen, Aussagen über die hier relevanten Aspekte von .Aufmerksamkeit' (d. h. zur Repräsentation räumlicher Relationen beitragende Funktionen) zu ermöglichen. Gerade weil Termini wie .Fokus', .Aufmerksamkeit', ,Fokussierte Aufmerksamkeit' im allgemeinen sehr unterbestimmt sind und daher äußerst unterschiedlich verwendet werden, 6 soll an dieser Stelle betont werden, daß sie nicht von vornherein in irgendeiner Beziehung zu dem in dieser Arbeit verwendeten Terminus der .selektiven räumlichen Aufmerksamkeit' stehen (allerdings ist es sicherlich eine interessante Aufgabe, etwaige Beziehungen im Nachhinein aufzuzeigen). Ich halte es daher mit Kratzer, die ihre Ausführungen zu .focus' wie folgt einschränkt: „The category focus is notoriously obscure, and we will not try to do justice to the many usages that survive in the literature" (Kratzer, op. cit., 804).

4.3

Aufmerksamkeit versus Augenbewegungen „The basic idea is that when sequentially fixating different objects, the change in fixation provides a direct encoding of the desired spatial relationship" (Ballard 1987:192).

Ohne nähere Kenntnis vorliegender Evidenz zu Aufmerksamkeitsphänomenen mag der Versuch, eine Verbindung von Aspekten visueller Aufmerksamkeit und Aspekten räumlicher Relationen zu etablieren, zunächst ein wenig erstaunen. Wenn schon eine Beziehung zwischen Raumrepräsentation und visueller Wahrnehmung hergestellt werden soll, wieso bildet nicht die Untersuchung von Augenbewegungen den primären Fokus des Interesses? Untersuchungen zeigen, daß Augenbewegungen in systematischer Weise dazu dienen, sukzessive die informativen Aspekte des betrachteten Bereichs zu erfassen: „Early work on this topic has indicated that fixations are not distributed randomly over a picture, but rather that a relatively large proportion of the fixations is allocated to a relatively small portion of the scene [...]. A number of more recent studies have demonstrated that the gaze is attracted to .informative areas' of a picture, where informative is defined in terms of subjective ,informativeness ratings' by independent observers", Loftus/Mackworth 1978:565).

5 6

vgl. auch Neumann (1992). Zu einem Überblick über den linguistischen .Fokus'-Begriff s. z. B. A. Kratzer (1991), „Current Issues in the Theory of Focus", in A. v. Stechow, D. Wunderlich (Hrsg.), Semantik: ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung (Berlin et al.: de Gruyter), 804-834; zu Verwendungen in der sprachorientierten Kiinstliche-Intelligenz-Forschung, Computerlinguistik, Psycholinguistik und P s y c h o l o g i e s. z.B. Grosz/Sidner 1986, McKeown 1985, Brennan 1995, Rinck/Bower 1995.

89 Relativ längere Phasen, in denen die Augen unbeweglich sind (—» Fixationen) und in denen offenbar die am fixierten Ort befindliche Information verarbeitet wird, werden dabei von kurzen Sprüngen der Augen (—» Sakkaden) getrennt. Die so entstehenden Augenbewegungspfade des Absuchens eines visuellen Bereichs („Scanpaths") werden anscheinend außerdem repräsentiert und dienen darauffolgend dazu, einen leitenden top-down-Einfluß auf aktuelle Augenbewegungen auszuüben (Groner 1988). Obwohl also Augenbewegungen offenbar Information über räumliche Beziehungen herstellen (s. das Zitat von Ballard), gibt es trotzdem mindestens drei Einwände gegen die primäre Relevanz dieses Phänomenbereichs für die Untersuchung der Beziehung von Wahrnehmung und Raumrepräsentation. Erstens wird zwar der Fokus der Verarbeitung durch Augenbewegungen verschoben, doch können räumliche Relationen auch ohne sie hergestellt werden („Directing the processing focus [...] may be achieved in part by moving the eyes [...]. But this is clearly insufficient: many relations [...] can be established without eye movements. A capacity to shift the processing focus internally is therefore required", Ullman 1984:561). Zweitens müssen Augenbewegungen aufgrund prinzipieller theoretischer Überlegungen von räumlicher Verarbeitung getrennt werden („Eye movements are an important component of behavior in visual space, but spatial behavior must be dissociable from eye movements, for otherwise we could never attend to and act on objects in our peripheral retina without making an eye movement to them", Goldberg 1982:284). Die Dissoziierbarkeit von Augenbewegungen und visuell-räumlicher Orientierung ist zudem empirisch anhand von Einzelzellableitungen im Gehirn von Affen (ibid.) und im Rahmen von Aufmerksamkeitsexperimenten (Posner 1980) nachgewiesen worden. Drittens stellt visuelle Wahrnehmung nur eine spezifische Modalität der Interaktion eines Subjekts mit seiner (räumlichen) Umwelt dar (neben der haptischen und auditiven). Aufmerksamkeit kann im Vergleich dazu als ein allgemeineres, intermodales Konstrukt angesehen werden, dem möglichweise eine entsprechende Rolle in einem umfassenden räumlichen Repräsentationssystem, wie es von Bryant (1992) vorgeschlagen wird, zukommt.

4.4

4.4.1

D e r funktionale Aspekt: Selektivität der A u f m e r k s a m k e i t

Selektion und Aufmerksamkeit

Es gibt mindestens drei grundlegende Auffassungen von .Aufmerksamkeit', die unterschieden werden können (vgl. Umiltà 1988). Unter Aufmerksamkeit kann zum einen ein Ressourcen-verwaltender Prozess verstanden werden, bei dem einer bestimmten Aufgabe Ressourcen zur Verfügung gestellt und dafür anderen Aufgaben entzogen werden. Zum anderen kann damit ein die Aufnahmefähigkeit regulierender Prozess gemeint sein, durch den z. B. die Wachsamkeit bzgl. sensorischer Information erhöht werden kann. Schließlich kann Aufmerksamkeit als ein selektiver Prozess verstanden werden, durch den bestimmte Information bewußter Verarbeitung zur Vefügung gestellt wird, so daß andere dafür nur unbewußt oder gar nicht verarbeitet („ausgefiltert") wird.

90 Selektion selbst ist keinesfalls ein einheitliches Phänomen. Sie kann auf die Auswahl bestimmter modalitätsspezifischer (ζ. B. auditiver vs. visueller) oder positionsspezifischer (z. B. an einen bestimmten visuell-räumlichen „Ort" gebundene) Information, oder auf die Auswahl von Elementen mit bestimmten Merkmalen (Farbe, Form etc.) bzw. von bestimmter Kategorienzugehörigkeit (Lebewesen, Artefakt, Mensch, Tier etc.) referieren. All diesen Erscheinungen ist gemeinsam, daß Information, die durch Aufmerksamkeitszuwendung „selegiert" worden ist, besser verarbeitet wird. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, welche Mechanismen der Selektion zugrunde liegen (wann, wie und wo sie stattfindet). Selektion kann einerseits als durch eine Verstärkung der attentierten Information oder als durch Filterung der nicht-attendierten Information hervorgerufen betrachtet werden. 7 Ebenfalls bleibt noch unklar, ob Selektion allgemein als Ursache (d. h. als spezifischer kausaler Auswahlmechanismus) oder als Effekt (d. h. Auswahl ist das Ergebnis nichtspezifischer Verarbeitung) aufgefaßt werden soll. 8 Dies entspricht zum Teil der plausibel scheinenden Frage, ob Aufmerksamkeit als Verwaltungsmechanismus einer begrenzten Ressource oder als die verwaltete Resource selber zu verstehen ist. Der dabei präsupponierte Ressourcenbegriff wird allerdings von einigen Autoren zugunsten einer als .selection for action'-Sichtweise infrage gestellt (Allport 1993, Neumann 1990).

4.4.2

Ausrichtung („orienting") der Aufmerksamkeit

Eine allgemeine Sicht der Funktionsweise selektiver Aufmerksamkeit sowie eine Reihe grundlegender Termini lassen sich auf Posner (1980) zurückführen. Er unterscheidet prinzipiell die Zuwendung oder Ausrichtung von Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Struktur („orienting") von der Tatsache, daß sich eine Person der attendierten Struktur bewußt ist („detecting"): „I will use the term orienting to mean the alignment of attention with a source of sensory input or an internal semantic structure stored in memory. [...] I distinguish orienting from another cognitive act that I call detecting. By detecting I will mean that a stimulus has reached a level of the nervous system at which it is now possible for the subject to report its presence[...]" (Posner 1980:4).

Weiterhin unterscheidet Posner zwischen externer (durch Stimuli determinierter) und interner (durch mental repräsentierte „search plans" determinierter) Kontrolle des orienting-Prozesses sowie zwischen offenen („overt"; mit Kopf- und Augenbewegungen gekoppelten) und verdeckten („covert"; eigenständig ablaufenden) Aufmerksamkeitswechseln. Insbesondere weist er in seinen als „speeded detection"- bzw. „cueing"-Paradigma bekannt gewordenen Untersuchungen die Existenz von covert orienting nach. Hierzu mußten Versuchspersonen auf links oder rechts von einem zentralen Fixationspunkt erscheinende 7

8

Die zweite Auffassung geht auf die „Filter-Theorie" Broadbents zurück. In den meisten Ansätzen überwiegt jedoch die erste Auffassung, in einigen neueren wird - insbesondere zur Erklärung des .inhibition effect' (s. Umiltà 1988:189ff) bzw. .negative Priming' (s. Fox 1995) - auch eine gemischte, duale Sichtweise vorgeschlagen. Nach Johnston/Dark (1986) und Allport (1993) sind die meisten gegenwärtigen Theorien selektiver Aufmerksamkeit kausale Theorien. Entsprechend finden sich bei den Autoren Anspielungen auf das Homunculus-Problem.

91 Stimuli so schnell wie möglich reagieren. Vor jedem Target erschien als Cue an der zentralen Position entweder ein neutrales Symbol (ein ,+', das die gleiche Wahrscheinlichkeit des Targets, links oder rechts aufzutauchen, anzeigte) oder ein Pfeil (bei dem das Target mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.8 in der angegebenen Richtung erschien). In den Ergebnissen zeigte sich deutlich ein Vorteil von validen (Target erscheint an der angezeigten Position) gegenüber neutralen und invaliden Durchläufen. Wesentlich hierbei war, daß die Augenbewegungen kontrolliert und nur solche Durchläufe verwendet wurden, in denen die Augen fixiert blieben. Auf diese Weise wurde der Nachweis der Existenz von covert orienting erbracht. Weitere Experimente in diesem Paradigma zeigten, daß Wissen über räumliche Position eines Targets bei komplexeren Aufgaben erst bei einem überfüllten visuellen Feld zum Tragen kommt, bei einfachen Aufgaben hingegen eher hinderlich ist: „when given a single key to press whenever they saw a digit, subjects could hardly avoid false alarms when a letter appeared at the correct spatial position" (Posner 1980:8). Es zeigte sich weiterhin, daß orienting nicht als statisches Konstrukt (z. B. räumlich positionierbarer Filter) aufgefaßt werden darf: Wurde eine bestimmte Position für eine ganze Reihe von Durchläufen als sehr wahrscheinlich ausgezeichnet, so ergaben sich keine Vorteile dieser Position im Vergleich zu Bedingungen, in denen alle Positionen gleich wahrscheinlich waren. Ein wesentliches Ergebnis von Posners Arbeit ist außerdem die Klärung der Beziehung von Aufmerksamkeit und Augenbewegungen: Einerseits läßt sich feststellen, daß bei durch einen peripheren Stimulus ausgelösten Augenbewegungen die Tendenz dazu besteht, daß Aufmerksamkeitszuwendung auf diesen Reiz vor den Bewegungen selbst stattfindet; andererseits lassen sich Bedingungen konstruieren, in denen sich Aufmerksamkeit und Augen entgegengesetzt bewegen. Nach Posner liegt somit (nur) eine funktionale Relation vor. Posner findet schließlich Hinweise auf einen Unterschied zwischen der Verarbeitung peripher und zentral vorgegebener Cues („Pull"- vs. „Push"-Cues), die auf eine notwendige Differenzierung exogener (stimulusabhängiger) und endogener (zentraler) bzw. automatischer und willentlicher Kontrolle hindeuten (s. hierzu auch Briand/Klein 1987).

4.4.3

„Frühe" vs. „Späte" Selektion

Es ist keineswegs von vornherein ersichtlich und entsprechend gegenwärtig noch nicht geklärt, wann Selektion im Verlauf der Verarbeitung visuellen Inputs stattfindet. Grundlegender Konsens besteht zunächst nur darüber, daß zwischen zwei relevanten Verarbeitungsebenen unterschieden werden muß (Theeuwes 1993): einer Ebene prä-attentiver Verarbeitung, die keine Kapazitätsbeschränkungen aufweist und auf der dementsprechend Merkmale des visuellen Feldes parallel verarbeitet werden können, und einer Ebene attentiver Verarbeitung, deren Resourcen beschränkt sind und auf der nur ein Element (bzw. in jedem Fall nur wenige) gleichzeitig berücksichtigt werden kann, was eine serielle Verarbeitung notwendig macht. Diese Ebenen stehen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, so daß „Selektion" als Übergang eines Elements von der ersten zur zweiten aufgefaßt werden kann. Unstrittig ist ebenfalls, daß das Entdecken eines Elements im visuellen Feld und seine Identifikation als Element von einem bestimmten Typ systematisch getrennt werden müssen.

92 U n e i n i g k e i t besteht allerdings d a r ü b e r , w e l c h e O p e r a t i o n e n attentiv d u r c h g e f ü h r t werden. „ F r ü h e " Selektion entspricht der A u f f a s s u n g , daß M e r k m a l e des visuellen Feldes zwar bereits entdeckt sein können, aber bei attentiver Z u w e n d u n g noch nicht identifiziert sind (Sagi/Julesz 1985). Sie kann außerdem bedeuten, daß auf der attentiven E b e n e noch perzeptuelle Operationen durchgeführt werden, z.B. die Integration visueller M e r k m a l e zu einem Objekt (Treisman 1988, Kahneman/Treisman 1992). 9 Mit „später" Selektion ist hingegen die A n n a h m e verbunden, daß A u f m e r k s a m k e i t s z u w e n d u n g keinen Einfluß mehr auf die p e r z e p t u e l l e V e r a r b e i t u n g hat und daß die E l e m e n t e des visuellen F e l d e s bereits parallel identifiziert worden sind. A u s diesem G r u n d sind Späte-Selektion-Ansätze eher objekt-basiert ( D u n c a n 1984), während in F r ü h e - S e l e k t i o n - A n s ä t z e n der B e z u g auf den visuellen Raum eine wesentliche Rolle spielt. Die Möglichkeit, mehrere Objekte des visuellen Feldes gleichzeitig verfolgen zu können („visual tracking", vgl. Yantis 1992), scheint dieser Z u o r d n u n g allerdings nicht zu entsprechen. In von Pylyshyn durchgeführten Experimenten (beschrieben in Pylyshyn 1994) mußten V e r s u c h s p e r s o n e n j e w e i l s z w i s c h e n drei und sechs T a r g e t s in einer g r ö ß e r e n M e n g e sich beliebig b e w e g e n d e r identischer anderer O b j e k t e ( , + ' - Z e i c h e n ) v e r f o l g e n . Hierzu w u r d e n die T a r g e t s z u n ä c h s t durch A u f l e u c h t e n identifiziert, b e w e g t e n sich d a r a u f h i n f ü r eine D a u e r von 7 bis 15 S e k u n d e n . N a c h d i e s e m Intervall leuchtete ein Quadrat auf und die V P s mußten entscheiden, ob dieses an einem Target-Objekt, e i n e m Distraktor-Objekt oder an einer anderen Stelle im Display geschehen war. Hierbei war die Erkennungsrate (obwohl mit steigender Anzahl der Targets abnehmend) außergewöhnlich hoch. Dieses P h ä n o m e n korrespondiert zu der als „Subitizing" bekannten Erscheinung, d a ß die Anzahl einer kleinen M e n g e visueller O b j e k t e sehr schnell b e s t i m m t werden kann (Trick/Pylyshyn 1993). Pylyshyn deutet diese Ergebnisse dahingehend, daß bereits auf der präattentiven E b e n e eine bestimmte Anzahl von Objekten räumlich indiziert werden kann (durch sogenannte „Fingers of Instantiation", FINSTs). Bundesen (1990) n i m m t eine Zwischenposition bzgl. der Früh/Spät-Dichotomie ein, die er g e m ä ß seiner „Selektion ist perzeptuelle K a t e g o r i s i e r u n g eines E l e m e n t s χ zu einer Kategorie I"-Sicht folgendermaßen charakterisiert: „In agreement with late-selection theories, it is assumed that strengths of sensory evidence for perceptual categorizations of the form "x belongs to i" are computed before selection takes place; because i need not be defined by a simple physical feature, intelligent selection is possible. On the other hand, in agreement with early-selection theories, the recognition problem is resolved for no elements except those that are selected" (Bundesen 1990:527).

9

Nach der FIT-Theorie Treismans dient Aufmerksamkeit insbesondere dazu, durch eine Konjunktion von Merkmalen definierte Objekte erkennen zu können. Sagi/Julesz zeigen, daß auch für die Identifizierung einfacher Merkmale Aufmerksamkeitszuwendung notwendig ist.

93 4.5

4.5.1

Der qualitative Aspekt: Raum-basierte vs. Objekt-basierte Ansätze fokussierter Aufmerksamkeit

Metaphern raum-basierter Aufmerksamkeit

Motiviert durch die Auffassung einer lokal begrenzten und verstärkend wirkenden Zuwendung von Aufmerksamkeit auf Information, die sich an einer bestimmten visuell-räumlichen Position befindet, ist die Vorstellung, daß visuell-räumliche Aufmerksamkeit wie ein Lichtspot auf das visuelle Feld scheint. Diese Metapher verkörpert mehrere angenommene Eigenschaften visuell-räumlicher Aufmerksamkeit. Zum einen ist sie primär und inhärent räumlich: Objekte oder Aspekte von Objekten werden stets an einem bestimmten Ort „erfaßt". Diese Vorrangigkeit der Lokationseigenschaft von Objekten wird von Johnston/ Dark konstatiert und gleichzeitig anhand von Untersuchungen belegt: „[...] location proved to be more fundamental than color and shape. That is, subjects could not know the color or the shape of an item without knowing its location, but they could know its color without knowing its shape or vice versa." (Johnston/Dark 1986:49f, vgl. auch Tsal/Lavie 1993)). Objekte werden entsprechend der Metapher erst dann „erkannt", wenn das Licht auf sie gerichtet ist. Außerdem ist der Lichtspot (scharf?) begrenzt, zusammenhängend und von einer bestimmten Form und Größe. Dies spiegelt die Beobachtung wider, daß Aufmerksamkeit nicht gleichzeitig auf mehrere „Orte" gerichtet sein kann (s. aber Castiello/Umiltá 1992). Schließlich muß der Lichtspot erst auf eine bestimmte Stelle gerichtet werden, bevor die dort befindlichen Objekte „zur Kenntnis genommen" werden können, was direkt dem Konzept des .orienting' entspricht. Allerdings stellt sich die Frage, ob, in der Terminologie der Metapher ausgedrückt, das Licht an einem Ort aus- und an einem anderen wieder angeschaltet wird (diskrete Aufmerksamkeitsverschiebung), oder ob sich der Lichtstrahl kontinuierlich über das visuelle Feld bewegt (analogische Aufmerksamkeitsverschiebung). Einige Untersuchungen scheinen letzteres zu bestätigen (vgl. Umiltà 1988:184f), wobei allerdings sowohl Hinweise auf Aufmerksamkeitsbewegungen in konstanter Zeit (bei variierender Geschwindigkeit) als auch auf Bewegungen mit konstanter Geschwindigkeit (in variierender Zeit) gefunden wurden. Im Kontrast dazu weisen Ergebnisse aus dem rapid serial visual presentation attention shift paradigm (Reeves/Sperling 1986) bzw. der allgemeineren episodischen Theorie räumlicher Aufmerksamkeit (Sperling/Weichselgartner 1995) auf einen diskreten Wechsel der Aufmerksamkeitszuwendung hin (s. auch Chastain 1991) und sind entsprechend als das Öffnen bzw. Schließen von Toren („attention gating") für den Zugang zu Information an einem bestimmten Ort konzeptualisiert worden. Die Vorstellung des attentionalen Lichtspot als von einer bestimmten, fixen Größe ist in den Arbeiten von Eriksen (z. B. Eriksen/Yeh 1985, Eriksen/James 1986) zugunsten der sogenannten „Zoom-lens"-Metapher aufgegeben worden. Danach operiert Aufmerksamkeit nicht in einem einzigen ,spotlight'-Modus, sondern kann sowohl verteilt als auch konzentriert (fokussiert) sein, mit der folgenden Qualifikation: „Although Jonides (1983) has distinguished these as two processes or modes of operation of visual attention, we do not believe they should be considered as two alternative modes, but rather as

94 two poles on a continuous range of attentional capacity distribution in the visual field" (Eriksen/Yeh 1985:595).

Die Größe des Aufmerksamkeitsbereichs hängt von den Aufgabenanforderungen ab. Je nachdem, wieviel Information ζ. B. zum Erreichen einer bestimmten Entscheidung benötigt wird, vergrößert oder verkleinert sich der Aufmerksamkeitsbereich. Dabei wird von einer gleichbleibenden Menge verteilter Resourcen ausgegangen, so daß die Ausdehnung des Bereichs und die Menge der für die an einem bestimmten Punkt zur Verfügung stehende Energie (die „Auflösung" der Linse) in einer reziproken Relation zueinander stehen. Entsprechend können bei distribuierter Aufmerksamkeitszuwendung zwar mehr Objekte verarbeitet werden, dafür aber mit schlechterer Qualität. Die Fokussierung von Aufmerksamkeit schränkt hingegen zwar die Anzahl der betrachteten Objekte ein, verbessert jedoch die Informationsverarbeitung. In dem Gradientenmodell LaBerge/Browns (1989) wird die Spotlight-Metapher zugunsten eines komplexeren Modells der Interaktion unterschiedlicher Domänen aufgegeben. Aufmerksamkeitszuwendung stellt sich in diesem Modell als das Öffnen eines Kanals („channels") zwischen einer Domäne der Merkmalsregistrierung und einer Filterdomäne dar. Die Verteilung von Resourcen ist dabei nicht durch die „Öffnungsweite" des Kanals, sondern durch einen räumlich organisierten Aktivationsgradienten einer dritten Domäne („location expectation domain") bestimmt (s. Abb. 36), der somit einem inhomogen leuchtenden und unscharf begrenzten Lichtfleck entspricht.

Gradientenplateau

Abb. 36: Gradient der Aufmerksamkeit nach LaBerge/Brown

Aus Sicht der Autoren macht diese Unterscheidung die Annahme einer (kontinuierlichen) Bewegung des Aufmerksamkeitsbereichs in zweierlei Hinsicht überflüssig: Einerseits können Reaktionszeitunterschiede, wie sie LaBerge/Brown für an verschiedenen Orten innerhalb des Gradienten, aber nicht im Bereich des Gradientenplateaus erscheinende Targets fanden, durch die zum Rand hin abnehmenden Resourcen erklärt werden. Mit steigender Entfernung vom Zentrum nimmt die Energie, die für das Öffnen eines Kanals bzw. für das Filtern eines Targets benötigt wird, ab („[...] nothing is moved across the visual field, but [...] a distribution of processing resources across the field affects the rate at which filtering will take place at a particular location." (LaBerge/Brown 1989:108). Andererseits können experimentelle Ergebnisse wie die von Posner (—» der Einfluß zentraler Cues auf das Erkennen peripherer Targets) durch die unterschiedliche Begünstigung der Etablierung eines sekundären Gradienten erklärt werden („the present theory accounts for the advantage of location precuing on reaction time by assuming that what the precue does is to provide time for a gradient to develop, not time for a channel to move", ibid: 119).

95 Aus den Unterschieden der skizzierten Modelltypen lassen sich die jeweils assoziierten Funktionen räumlich-basierter Aufmerksamkeit ableiten. Während auf der einen Seite (bei „gating" und ,,channeling"-Modellen) der Aspekt des Filterns, d.h. das Unterdrücken unerwünschter und „Durchlassen" erwünschter Information, im Vordergrund steht, wird auf der anderen Seite der Aspekt der Selektion durch Verstärkung an einem bestimmten Ort „sichtbarer" Information betont. 10 Im zweiten Fall kann damit sowohl eine neuronale Verstärkung („Spatial orienting of visual attention is accompanied by enhanced neuronal responsiveness to visual stimuli appearing in the attended location", Allport 1993:193) als auch eine allgemein verbesserte Verarbeitung attendierter Information („Attention can be likened to a spotlight that enhances the efficiency of detection of events within its beam", Posner zitiert in Briand/Klein 1987:229) verstanden werden. In der „Feature Integration Theory" (FIT) Treismans (z.B. Treisman 1988) wird eine andere Funktion räumlicher Aufmerksamkeit betont. Aufmerksamkeit dient hier dem „Verkleben" („Glueing") separat verarbeiteter visueller Merkmale zu einem Objekt, (s. u., vgl. hierzu auch Briand/Klein 1987).

4.5.2

Modelle Objekt-basierter Aufmerksamkeit

Objekt-basierte Aufmerksamkeitsmodelle gehen davon aus, daß Aufmerksamkeit nicht über einer „map of locations" (Treisman) operiert, sondern präattentiv identifizierten Objekten zugewandt wird. Diese Hypothese wird durch zwei verschiedene ExperimentTypen gestützt. Der eine basiert im Kern auf der Annahme, daß es grundsätzlich schwierig ist, Aufmerksamkeit gleichzeitig auf verschiedene Objekte zu richten und daß das Reaktionszeitverhalten von VPs bei Aufgaben bzgl. zweier beliebiger Aspekte des visuellen Feldes davon abhängen sollte, ob jeweils nur ein oder aber zwei Objekte betroffen sind. Der relevante Kontrast ergibt sich dadurch, daß im ersten Fall (bei fokussierter Aufmerksamkeitszuwendung auf ein Objekt) beide Aspekte gleichzeitig verfügbar sind, während im zweiten Fall ein zeitaufwendiger Wechsel der Aufmerksamkeit notwendig ist. Der andere Experiment-Typ ist durch das Bemühen gekennzeichnet, den Einfluß perzeptueller Gruppierung auf Target-Distraktor-Beziehungen nachzuweisen: Je nachdem, ob Target und Distraktor als zu unterschiedlichen perzeptuellen Objekten zugehörig oder nicht angesehen werden, sollten sich Unterschiede im Antwortverhalten zeigen. In bezug auf den ersten Experiment-Typ führte Duncan (1984) eine Reihe von Experimenten durch, in denen VPs Displays wie in Abb. 37 gezeigt wurden, wobei sie auf jeweils zwei Aspekte (Größe des Rechtecks, Ort der Lücke, Neigung der Linie, Textur der Linie) reagieren mußten. Tatsächlich ergab sich ein signifikanter Unterschied in der Korrektheit der Reaktionen, ob z.B. nach Neigung und Schraffur der Linie, oder aber nach Größe des Rechtecks und Schraffur der Linie gefragt wurde.

10

Die ebenfalls verwendete „Window"-Analogie (s. z.B. Kosslyn 1994) stellt eine Synthese dieser beiden Aspekte dar („Durchsichtigkeit") und wird aus diesem Grund von Treisman/Sato (1990) favorisiert.

96

I

I

Λ Abb. 37: Displays zum Test objektbasierter Aufmerksamkeit (Duncan 1984)

Duncan schlägt zwei mögliche Erklärungsansätze vor, um den beobachteten Phänomenen gerecht zu werden. Im ersten werden die unterschiedlichen Antwortzeiten auf die Beziehungen der beteiligten Aspekte entlang eines Kontinuums der Gruppierungsstärke (grouping strength) zurückgeführt. Innerobjektbeziehungen weisen danach eine größere Gruppierungsstärke auf als Zwischenobjektbeziehungen (vgl. Kramer/Jacobson 1991). Der zweite Erklärungsansatz basiert auf der Annahme einer hierarchischen Organisation visueller Informationen. Danach sind die Eigenschaften einer Gruppe von Objekten von den Eigenschaften einzelner Objekte 11 prinzipiell zu trennen, wobei der Wechsel fokussierter Aufmerksamkeit innerhalb einer Gruppe bestimmte Effekte (Interferenzen) zur Folge hat. Umgekehrt sind bei fokussierter Aufmerksamkeit alle Eigenschaften eines Objekts (auf seiner entsprechenden Ebene) verfügbar. Die Annahme einer hierarchischen Informationsorganisation, insbesondere der hierarchischen Kodierung von Positionsinformation, wird von Baylis/Driver (1993) aufgegriffen. Sie unterscheiden szenen-basierte Kodierung von Rauminformation, in der die Position von Objekten zueinander festgehalten wird, von objekt-basierter Kodierung von Rauminformation, in denen die relative Position von Objektteilen repräsentiert ist. 12 Der Erklärungsansatz der Gruppierungsstärke wird hingegen in Kramer/Jacobson (1991) favorisiert. Sie schlagen als Alternative zu rein objekt-basierten Modellen ein Modell der Gruppierungsstärke vor, in dem räumliche Distanz einen wesentlichen Einfluß auf die Organisation perzeptueller Elemente ausübt: „In the object-based model, the output is treated as a set of discrete groups of objects, whereas in the grouping-strength model, the output is treated in terms of elements organized along a continuum of grouping strength" (Kramer/Jacobson 1991:282).

11

12

Wobei auch einzelne Objekte rein räumlich als Gruppen von Teilobjekten aufgefaßt werden können: „Although the claim is that focal attention deals with whole objects, common sense strongly suggests that attention to a whole skyscraper would be inappropriate for determining whether there is a crack in the third window from the left on the 13th floor. What we need is an idea of the sorts of information likely to be coded in the .chunks' corresponding to .objects' at different levels of the hierarchy" (Duncan 1984:514). Die Autoren ordnen in diesem Zusammenhang den Begriffen „szenen-basiert" und „objektbasiert" die Begriffe „where" und „what" zu. Sie betonen dabei, daß die Identität eines Objekts wesentlich durch die Position seiner Teile zueinander bestimmt ist. What- und where-Informationen sind in dieser Sichtweise also nicht Typ-verschieden, sondern stellen nur unterschiedliche Ebenen der Repräsentation bzw. Verarbeitung visueller Information dar.

97 4.5.3

Synthese Raum- und Objekt-basierter Modelle

Vecera/Farah (1994) weisen darauf hin, daß logisch nicht zwischen zwei, sondern zwischen drei Mechanismen visueller Aufmerksamkeit unterschieden werden muß. Aufmerksamkeit kann möglicherweise rein räumlich operieren (wobei Objekt-Aspekte keine Rolle spielen) oder ausschließlich objekt-basiert (wobei nur positionsinvariante ObjektAspekte, z.B. Formrepräsentationen, relevant sind). Im Einklang mit grouping strengthModellen ist es aber auch vorstellbar, daß visuelle Objekte als gruppierte Lokationen betrachtet werden können, so daß die beobachtbaren Aufmerksamkeitseffekte gleichzeitig als objekt- und raum-basiert charakterisierbar sind. Mit ihren Experimenten zeigten Vecera/Farah zunächst, daß sowohl rein objekt-basierte als auch auf gruppierten Lokationen basierende Mechanismen nachgewiesen werden können. Hierzu replizierten sie einerseits Duncans Versuchsreihe und fanden Unterschiede zwischen Ein- und Zwei-Objekt-Bedingungen, die unabhängig von räumlichen Aspekten (der Distanz zwischen den Objekten) waren. Dabei konnte eine Erklärung durch gruppierte Lokationen ausgeschlossen werden. Andererseits verwendeten sie in weiteren Experimenten dieselben Stimuli für Posner'sehe Cuing-Aufgaben, in denen die Versuchspersonen auf den Onset eines Targets reagieren mußten, nachdem eines der Objekte als (valider oder invalider) Cue hervorgehoben worden war. Hier zeigte sich ein deutlicher Einfluß der Distanz zwischen den Objekten. Vecera/Farah folgern daraus, daß sowohl objekt- als auch lokations-basierte Aufmerksamkeitsmechanismen existieren, deren A n w e n d u n g jeweils von den aktuellen Anforderungen (einer Aufgabe) abhängt. Die Diskussion um verschiedene Mechanismen der Aufmerksamkeit hat eine Parallele in einem eng verwandten Forschungsgebiet, das sich mit der „Inhibition of Return" (IOR) von Aufmerksamkeit beschäftigt. Informell drückt IOR zunächst die Überlegung aus, daß visuelle Aufmerksamkeit gerade im Hinblick auf die Effizienz serieller visueller Suche nach Objekten möglichst redundanzfrei operieren sollte. D. h., um effektiv zu sein, sollte Aufmerksamkeit stets kontinuierlich auf neue Orte gerichtet werden und nicht häufig bereits attendierte Lokationen erneut „aufsuchen". Anhand von Reaktionszeiten innerhalb des Cuing-Paradigmas konnten Posner und Kollegen dieses Phänomen (d.h. einen Mechanismus mit entsprechender Verhaltensrelevanz) tatsächlich nachweisen: Während Reaktionen auf eine gereizte Position („cued location") anfänglich schneller sind als auf nicht gereizte Positionen (erklärt durch die Zuwendung von Aufmerksamkeit auf diesen Ort), so kehrt sich dieses Verhältnis ab einem Intervall von 300ms um und es stellt sich ein inhibitorischer Effekt ein. In Analogie zu raum-basierten Aufmerksamkeitsmodellen schien IOR zunächst ausschließlich über Umgebungskoordinaten definiert („environment-based") zu sein. Wird bei drei horizontal ausgerichteten Kästchen zunächst ein peripheres und danach wieder das zentrale gereizt, so zeigt sich, daß ab 300ms nach dem Onset des peripheren Reizes Antworten auf Targets in dem gereizten Kästchen langsamer sind als solche im ungereizten. Tipper und Kollegen (s. z.B. Tipper et al. 1994) wandelten dieses Experimentaldesign allerdings dahingehend ab, daß die peripheren Kästchen nach dem cuing um 90° gedreht wurden. Obwohl beide peripheren Kästchen jetzt gleichweit von der gereizten Stelle entfernt waren, ergab sich ein Inhibitionseffekt für das gereizte Kästchen, der in weiteren Versuchen erhärtet wurde und somit auf ein objekt-basiertes IOR hinweist. Tipper et al. Inter-

98 pretieren ihre Ergebnisse so, daß beide Mechanismen gleichzeitig existieren (abgeleitet aus Versuchen mit 180° Rotation der Kästchen) und in einer Hierarchie organisiert sind (mit dem environment-basierten Mechanismus als dem basalen und dem objekt-basierten als dem zusätzlichen, der insbesondere bei dem Verfolgen bewegter Objekte benötigt wird). In Entsprechung zu der von Vecera/Farah angesprochenen Dreiteilung von Aufmerksamkeitsmodellen stellen Gibson/Egeth (1994) die Dichotomie von environment- und objekt-basiertem IOR infrage. Sie argumentieren - ähnlich wie Baylis/Driver (1993) - , daß „objekt-basiert" nicht a priori mit „raum-invariant/-unabhängig" gleichzusetzen ist. Stattdessen weisen sie darauf hin, daß Objekte auch als eine „Mikroumgebung" aufgefaßt werden können, die durch die Repräsentation der objektkonstitutiven Lokationen gebildet wird.

4.5.4

Perzeptuelle Gruppen und Hierarchien

Einer der Bereiche, in denen das Verhältnis von qualitativ unterschiedlichen Mechanismen der visuell-räumlichen Aufmerksamkeit einerseits sowie Hierarchien in der perzeptuellen Organisation andererseits explizit untersucht wird, ist das durch das Global/Lokal-Paradigma gebildete Forschungsgebiet, in dem die Verarbeitung hierarchisch organisierter Stimuli den Gegenstand der Untersuchung darstellt. Abb. 38a zeigt ein Beispiel für einen solchen Stimulus, nämlich den Buchstaben M (globale Ebene), der aus einzelnen Ns (lokale Ebene) zusammengesetzt ist. In bezug auf solche visuellen Eindrücke stellt sich die Frage, ob der Gesamteindruck (das „M") aus den einzelnen Teilen konstruiert wird oder ob - ganz im Sinn der Gestaltpsychologie - dem Gesamteindruck als Gestalt eine eigenständige und von den Bestandteilen separate Verarbeitung zukommt. Insbesondere auf die Arbeiten von Navon geht die in dieser Hinsicht interessante Hypothese der globalen Präzedenz zurück, nach der der globalen Ebene eine temporale Priorität für die Verarbeitung zukommt. 13

Ν Ν N

Ν Ν

Ν Ν

Ν Ν

Ν

Ν Ν

Ν Ν

Ν

Ν

Ν

Ν

Ν

Ν

Ν

Ν

Ρ

Χ

a. b. Abb. 38: Hierarchisch organisierte Stimuli im Global/Lokal-Paradigma (Robertson et al. 1993)

Robertson et al. (1993) untersuchten die Rolle von Aufmerksamkeit bei der Identifikation globaler und lokaler Targets in hierarchisch organisierten Stimuli. Ähnlich dem Posner'sehen Cuing Paradigma gaben sie den Probanden durch Pfeile einen Hinweis auf 13

,,[P]erceptual processes are temporally organized so that they proceed from global structuring towards more and more fine-grained analysis. In other words, a scene is decomposed rather than built up." (Navon 1977:354, zitiert nach Kimchi 1992:26).

99 bestimmte Orte in einem Muster (s. Abb. 38b), wobei der Hinweis entweder das (jeweils mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit korrekte) Auftreten eines globalen oder eines lokalen Targets vorhersagte. Anhand der Auswirkungen der SOA fanden die Autoren Evidenz für zwei unterschiedliche Mechanismen der Aufmerksamkeit: Einerseits „regionale" Aufmerksamkeit, die sich in der Verstärkung der gereizten Region und entsprechend zunehmender Erleichterung der Reaktionen äußerte; andererseits „kategorische" Aufmerksamkeit, die dem Auftreten ebenenspezifischer Effekte zugrunde gelegt wird. Kategorische Aufmerksamkeit drückte sich darin aus, daß, wenn globale Targets erwartet wurden, die Reaktion auf lokale Targets verlangsamt war und umgekehrt. Experimente von Ward 1 4 zeigen, daß Aufmerksamkeit auf Targets einer Ebene in einem Durchgang η Erleichterung für Targets derselben Ebene in Durchgang n+1 mit sich bringt. Diese Beobachtungen entsprechen den folgenden Ergebnissen von Paquet/Merikle (1988) 15 : Wenn Versuchspersonen die Aufmerksamkeit auf die globale Information eines hierarchischen Musters an einer bestimmten Stelle im visuellen Feld richteten, so konnte die globale Information eines Musters an einer anderen Stelle nicht ignoriert werden. Wurde umgekehrt die lokale Information eines Musters attendiert, so konnte die lokale Information eines anderen Musters nicht ignoriert werden. Diese Beziehung ist jedoch asymmetrisch: Globale unattendierte Objekte werden automatisch einer semantischen Analyse unterzogen, während dies für lokale unattendierte Objekte nur dann der Fall ist, wenn die Aufmerksamkeit auf die lokale Ebene eingestellt ist (vgl. hierzu auch Briand 1994). Kimchi (1992), Robertson et al. (1993) und Kosslyn (1994:98) berichten von mehreren Arbeiten, die diese Effekte auf die Zuordnung unterschiedlicher räumlicher Frequenz (determiniert durch die Anzahl der Objekte in einem festgelegten Bereich) zu den beiden Hierarchieebenen zurückführen. Danach ist niedrige räumliche Frequenz mit der globalen Ebene assoziiert, hohe räumliche Frequenz mit der lokalen Ebene. Diese Analyse ist im Einklang mit ebenenspezifischen Unterschieden der Verarbeitung der beiden Gehirnhälften (sichtbar bei links- bzw. rechthemisphärischen Läsionen, s. Delis/Bihrle 1989). Jacobs/ Kosslyn (1994) mahnen allerdings zur Vorsicht in bezug auf die Interpretation dieser Beobachtungen: „However, it is worth noting that although the left hemisphere can categorize high spatial frequency gratings faster than the right, and the right can categorize low spatial frequency gratings faster than the left, both hemispheres can detect the two sorts of gratings equally well [...]. Such results suggest to us that attentional differences may lie at the heart of these hemispheric effects" (Jacobs/Kosslyn 1994:382).

Die beobachtete Asymmetrie der beiden Hierarchieebenen in bezug auf die semantische Analyse findet ihre Erklärung in der Arbeit von Boucart et al. (1995), die explizit der Frage nachgehen, welche Objektaspekte (Farbe, Form u.a.) attendiert werden müssen, damit ein Zugriff auf die Identität des Objekts stattfindet. Sie kommen zu dem Schluß, daß „[apparently, attention to global information, whatever the physical dimension processed, activates stored representations of objects" (S. 599).

14 15

Berichtet in Robertson et al. (1993). L. Paquet, P. M. Merikle, „Global precedence in attended and nonattended objects", Journal

Experimental Psychology 14, 89-100.

of

100 Kimchi (1992) weist auf ein Problem dieser im Global-/Lokal-Paradigma durchgeführten Analysen hin: Während in der Stimulus-Domäne zwischen zwei Ebenen der hierarchischen Organisation unterschieden wird, weist die perzeptuelle Domäne eine Dreiteilung auf (Ganzform, Teilfiguren, Textur). Demnach ist die Abbildung von der einen in die andere Domäne nicht eindeutig, sondern hängt von der Anzahl und relativen Größe der Teilelemente des Stimulus ab. Dies könnte somit zur Folge haben, daß der Vorteil der globalen Ebene hierarchisch organisierter Muster einen Vorteil der Ganzfigur gegenüber einer Textureinheit reflektiert, und nicht den Vorteil einer globalen gegenüber einer lokalen Eigenschaft. Die Argumentation Kimchis wird indirekt durch die Arbeit von Palmer/Rock (1994) unterstützt, die die (uneingeschränkte) Priorität von Gestaltbildungsprinzipien bei der perzeptuellen Organisation hinterfragen und somit auch die Hypothese der globalen Präzedenz im Global-/Lokal-Paradigma untergraben. Sie argumentieren gegen eine primäre frühe Anwendung von Gruppierungsprinzipien und plädieren stattdessen für den in Abb. 39 gezeigten Aufbau einer perzeptuellen Organisation. Daran wird ersichtlich, daß Gruppierung der Bildung von sogenannten „Entry-Level-Units" (nach Figur bzw. Grund unterschiedene zusammenhängende Regionen im visuellen Feld) nachfolgt. Entsprechend besteht in bezug auf den Verarbeitungsaufwand ein Unterschied zwischen einer Figur mit einer bestimmten Textur und einem Ganzobjekt, das sich aus einer Anzahl gruppierter Teilelemente zusammensetzt. Grouping

Parsing Abb. 39: Entry-Level in der Wahrnehmung (nach Palmer/Rock 1994:42)

4.6

D e r operationale Aspekt: Visuelle S u c h e

Wie bereits erwähnt kommt dem visuell-räumlichen System die für effektives Verhalten unumgängliche Aufgabe der Selektion relevanter Objekte aus dem visuellen Feld zu. Überwiegende Übereinstimmung herrscht in bezug auf dieses Phänomen darüber, daß hierfür zwischen einer präattentiven und einer attentiven Ebene der Verarbeitung unterschieden werden muß. Präattentive Verarbeitung ist durch die folgenden Eigenschaften charak-

101 terisiert (Theeuwes 1993:99). Erstens ist sie in der Verarbeitungskapazität unbegrenzt: In einem visuellen Feld gleicher Distraktor-Elemente wird ein einzelnes Target schnell erkannt (also ζ. B. ein Kreis mit einem Strich in einem Feld von Kreisen, s. Abb. 40), unabhängig von der Anzahl der Distraktoren (sogenannter ,,Pop-out"-Effekt). Zweitens operiert präattentive Verarbeitung räumlich parallel, da sie gleichzeitig an verschiedenen Stellen des visuellen Feldes stattfindet. 16 Drittens operiert sie unabhängig von strategischer Kontrolle, obwohl intentionale top-down Aspekte indirekt einen Einfluß haben können.

O ο ο

O Φ

O ο

°

ο

°

Abb. 40: Das ,Pop-out'-Phänomen

Attentive Verarbeitung ist dagegen in der Verarbeitungskapazität begrenzt (führt bestimmten Targets mit zunehmender Anzahl der Elemente im visuellen Feld zu einem stieg der Reaktionszeit). Bei fehlendem Pop-out des Targets (ζ. B. das „T" in Abb. 41a der Kreis in Abb. 38b) muß daher eine nacheinander ablaufende (serielle) Betrachtung visuellen Feldes stattfinden, um die entsprechende Auswahl treffen zu können.

'

i l

L ,



L

L· L

-I

v, L.I 1 L

T1

Q Φ

φ

·

% , » Φ τ Λ ^ η TP Φ Φ

φφ

bei Anund des

Φ ψ

Abb. 41: Beispiele für fehlendes ,Pop-out'

Attentive Verarbeitung ist an einen bestimmten räumlichen Ort gebunden (vgl. die Diskussion raum-basierter Aufmerksamkeitsmodelle) und kann außerdem strategisch kontrolliert werden (Ausdehnung und Bewegung des „Spotlights"). Uneinigkeit herrscht allerdings darüber, welche Operationen auf den beiden Ebenen durchgeführt werden (s. o. die „Early"- vs. ,,Late-Selection"-Debatte).

16

Theeuwes weist darauf hin, daß „präattentive" Verarbeitung nicht einheitlich als „vor der bzw. ohne Aufmerksamkeit ablaufend" interpretiert wird, sondern auch als durch den Zustand verteilter Aufmerksamkeit charakterisiert, im Gegensatz zum Zustand fokussierter Aufmerksamkeit bei attentiver Verarbeitung.

102 Die „Feature Integration Theorie" Treismans (FIT, Treisman 1988) bietet eines der eingängigsten Modelle visueller Suche. Treisman geht von der vorangegangen Ebenenunterscheidung und der Annahme aus, daß unterschiedliche Merkmale (Farbe, Orientierung etc.) in verschiedenen Subsystemen verarbeitet werden. Hieraus folgert sie, daß für das Erkennen eines bestimmten Objekts eine räumliche Zuordnung seiner separat und verteilt vorliegenden Eigenschaften - in Abgrenzung zu den Eigenschaften anderer Objekte - vorgenommen werden muß. Sie postuliert daher, daß das Spotlight der Aufmerksamkeit über einer „map of locations" operiert und den Zugriff auf die mit einem bestimmten Ort assoziierten Merkmale ermöglicht. Dabei werden diejenigen Merkmale betrachtet, die, weil sie sich auf ihren Karten am meisten von konkurrierenden Elementen unterscheiden, am stärksten aktiviert sind (sogenanntes „odd-man-out"-Prinzip, s. Ullman 1984). Diese Merkmale werden attendiert und in eine temporäre Objektrepräsentation integriert (miteinander „verklebt", s. Abb. 42).

Abb. 42: Das Modell der Feature Integration Theory (nach Treisman 1988:202)

Eine weitere wesentliche, der FIT zugrundeliegende Annahme ist die, daß Ortsinformation von Merkmalen erst durch fokussierte Aufmerksamkeit fixiert wird, daß also Merkmale auf der präattentiven Ebene „frei schweben". Dies zeigte sich in Experimenten mit verteilter Aufmerksamkeit, in denen Versuchspersonen die Farbe und die Form (Identität) gezeigter Buchstaben falsch zuordneten und so „trügerische Konjunktionen" („illusory conjunctions") dieser Aspekte bildeten. Cohen/Ivry (1989) fanden aber, daß illusory conjunctions nur bei benachbarten, außerhalb des Spotlights befindlichen Objekten gebildet wurden, so daß zumindest eine grobe Verortung einzelner Merkmale stattgefunden haben mußte. Tsal et al. (1994) und Navon/Ehrlich (1995) stellten ebenfalls einen weniger direkten Zusammenhang zwischen dem Mechanismus fokussierter Aufmerksamkeit und dem Auftreten falscher Merkmalskombinationen fest.

103 Eine explizite Gegenposition zu diesem Aspekt von FIT nimmt die FINST-Theorie Pylyshyns (1994) ein. Kern dieser Theorie ist die Annahme, daß visuell-räumliche Elemente bereits durch die präattentive Verarbeitung räumlich indexiert sind: „we have gathered converging evidence for the view that there is an early preattentive stage of vision in which the locations of properties in space are selected or individuated and indexed prior to any serial process being applied to the visual array - in fact even prior to assigning focal attention to places in the array" (S. 366). Ein Aspekt der frühen Version der FIT ist die enge Verbindung zwischen der Suche nach konjunktiv definierten Targets und Serialität. Da Merkmalskombinationen erst auf der attentiven Ebene verarbeitet werden, können sie offenbar nicht parallel verarbeitet werden. Entsprechend sollte nach der FIT ein qualitativer Unterschied zwischen der Suche nach einem einzelnen Merkmal (ζ. B. nach einem „blauen" Target unter roten und grünen NichtTargets) und der Suche nach einer Kombination von Merkmalen (nach einem roten „X" unter gemischt roten „ 0 " s und grünen ,,X"en). Zahlreiche Experimente zeigten allerdings, daß Versuchspersonen bestimmte konjunktiv definierte Targets sehr viel schneller in einem visuellen Feld entdecken können als hierdurch vorhergesagt. Aufgrund massiver Gegenevidenz änderten Treisman/Sato (1990) deswegen FIT dahingehend ab (—> „Revised FIT"), daß bei konjunktiver Suche zusätzlich zu dem Mechanismus des Fokus der Aufmerksamkeit ein Merkmalsunterdrückungsmechanismus angenommen wird. Dieser Mechanismus bewirkt, daß nicht-relevante (Distraktor-) Merkmale aktiv unterdrückt werden, so daß, bildlich gesprochen, die Suche auf der „map of locations" auf die relevanten Objekte eingeschränkt werden kann, was letztendlich eine schnellere Verarbeitung bewirkt. 17 Duncan/Humphreys (1992) argumentieren prinzipiell gegen eine strikte Abgrenzung paralleler Merkmalssuche und serieller Kombinationssuche. Sie stellten fest, daß die Reaktionszeiten der Probanden von der Unterscheidbarkeit der Targets und Non-Targets abhängig sind: Die Suche ist am einfachsten, wenn die Non-Targets in sich homogen und maximal unähnlich den Targets sind; sie ist schwieriger, wenn die Non-Targets unterschiedlich sind; sie wird zunehmend schwieriger, umso ähnlicher Targets und Non-Targets einander sind. Die Autoren (ebenso wie Wolfe 1994) betonen zusätzlich die Rolle kognitiver (top-down-) Kontrolle der Suche. Duncan/Humphreys nehmen ein sogenanntes Aufmerksamkeitsmuster („attentional template") an, das eine Beschreibung der gesuchten Information im visuellen Kurzzeitspeicher darstellt. Elemente des visuellen Feldes gewinnen oder verlieren nach ihrer Theorie an Aktivationsstärke (Gewicht), je nachdem ob sie diesem Template entsprechen oder nicht. Außerdem sind Elemente derselben perzeptuellen Gruppe verbunden („weight linkage"), so daß im Falle ähnlicher Non-Targets eine Verbreitung negativer Gewichte und somit deren Unterdrückung stattfindet („spreading suppression"). Diese Vorstellung kombinierter bottom-up und top-down-Aspekte und der Verrechnung der Aktivationsstärke unterschiedlicher Merkmalskarten entspricht den Modellen von Wolfe (1994) und Theeuwes (1993).

17

Die Suche wird außerdem durch eine flexible Anpassung des Aufmerksamkeitsfensters verbessert, so daß nicht nur einzelne, sondern mehrere Objekte gleichzeitig betrachtet werden können („group scanning hypothesis").

104 4.7

Der Repräsentationsaspekt: Object-Files

Es ist bereits erwähnt worden, daß Repräsentationsaspekte in der hier betrachteten Aufmerksamkeitsforschung eine eher marginale Rolle spielen. Dies wird daran deutlich, daß in den vorangegangenen Abschnitten vorwiegend Untersuchungen zu Mechanismen der Aufmerksamkeit bzw. zu entsprechenden Verarbeitungsaspekten vorgestellt worden sind. Es existieren allerdings bestimmte Bereiche, in denen der Repräsentationsaspekt visueller Aufmerksamkeit explizit diskutiert wird. Hierzu gehört die Frage, wodurch die anscheinende Leichtigkeit zu erklären ist, mit der wir trotz einer objektiv dynamischen Wahrnehmung der Welt (durch Bewegung der Objekte in der Welt, durch Eigenbewegung, oder durch unterschiedliche Informationsselektion während aufeinanderfolgender Fixationen) einen subjektiv stabilen Eindruck erhalten, der sich in dem Erkennen der „Statik" unbeweglicher Objekte und der „Kontinuität" sich bewegender Objekte äußert. Zur Untersuchung der Objektkontinuität existiert das sogenannte „Vorschau-Paradigma" („preview paradigm"), in dem den Probanden vor der Präsentation des Targets ein Display gezeigt wird, das das Target enhält oder nicht. Hierbei lassen sich Vorteile solcher previews beobachten, die auf mindestens zwei unterschiedliche Arten erklärt werden können (s. Henderson/Anes 1994). Einerseits könnten durch den preview entsprechende ObjekttypRepräsentationen im Langzeitgedächtnis aktiviert werden, so daß preview-Vorteile als auf allgemeinen Priming-Phänomenen beruhend charakterisierbar sind (Pollatsek et al. 1990). Andererseits könnten diese Vorteile darauf zurückzuführen sein, daß bei einem Preview des Targets eine temporäre Repräsentation gebildet wird, die der Integration von Information aufeinanderfolgender Sichten dient. Die Theorie der object files von Kahneman und Treisman (Kahneman/Treisman 1992) ist dem zweiten Erklärungstyp zuzuordnen. Sie basiert auf der grundlegenden Unterscheidung von „wahrnehmen" und „erkennen": Wir können einerseits Objekte wahrnehmen, ohne zu erkennen von welchem Typ diese Objekte sind; wir können andererseits ein wahrgenommenes Objekt aufgrund von Merkmalsveränderungen unterschiedlichen Typen zuordnen, ohne dabei die Kontinuität des Objekts selbst infrage zu stellen (Morphing-Beispiele; das Superman-Beispiel, s.o.). Sie betrifft außerdem das Phänomen anscheinender Bewegung (apparent motion): unter bestimmten zeitlich-räumlich beschränkten Bedingungen nehmen wir ein Objekt als sich von A nach Β bewegend wahr, auch wenn nur zwei „snapshots" des Objekts am Ort A und am Ort Β gesehen werden. Hierbei ist entscheidend, daß dieser Eindruck erst nach der Darbietung des Objekts am Ort Β entsteht. Zur Erklärung dieser Phänomene nehmen die Autoren an, daß das visuelle Feld in eine Menge perzeptueller Objekte (und einen undifferenzierten Hintergrund) geparst wird und daß die Verarbeitung dieser Objekte zur Erstellung episodischer Tokenrepräsentationen (sog. object files) führt, die primär durch ihre räumlichen und zeitlichen Charakteristika adressiert und somit variabel bzgl. anderer Merkmale sind. Drei Prozesse bewirken nach dieser Theorie die beschriebenen Phänomene: Ein Korrespondenzprozess, der bestimmt, ob ein bestimmtes Objekt „neu" ist oder einem vorher an einem anderen Ort wahrgenommenen entspricht; ein Nachschau- („reviewing") Prozess, der die Charakteristika des unmittelbar vorhergehenden Objektes bereitstellt; ein Vervollständigungs- („impletion") Prozess, der die aktuelle und vorhergehende Information so miteinander verrechnet, daß der Ein-

105 druck eines Ortswechsel oder anscheinender Bewegung entsteht. Eine wesentliche Rolle beim reviewing spielt die Zuwendung von Aufmerksamkeit auf das Target. Hierdurch wird einer der aktiven object files ausgewählt, was im Falle eines Matches mit dem Target zum beobachteten preview-Vorteil und im Falle eines Mismatches zu Interferenzen führt. Den Kern der Theorie Kahneman/Treismans bildet das Ergebnis, daß die räumlich-zeitliche Kontinuität ausschlaggebend f ü r die Erleichterung des Erkennes des Targets ist: Diese trat in den Experimenten z.B. dann ein, wenn das Target (ein Buchstabe) sowohl im preview-Display als auch im Target-Display an dasselbe perzeptuelle Objekt gebunden war (sich im selben Kästchen befand), im Gegensatz zu dessen Erscheinen an einer anderen Stelle im Target-Display. Diesen lokationsspezifischen Effekt konnten Pollatsek et al. (1990) gerade nicht finden, so daß sie die preview-Vorteile auf eine Aktivation sogenannter „Objekt-Detektoren" (abstrakten Objekttyp-Repräsentationen) zurückführten. In einem experimentellen Vergleich der Object-File-Theorie mit der Detektor-Priming-Theorie kommt Henderson (1994) allerdings zu dem Ergebnis, daß eine Synthese der beiden Erklärungsmodelle eine plausible Alternative darstellt, in der die object files neben der direkten Aktivation abstrakter Typinformation eine zentrale Rolle bei der Objekterkennung spielen. Die Annahme von object files wird unterstützt durch Untersuchungen zur „repetition blindness" (RB, s. Park/Kanwisher 1994) und zum „attentional blink" (AB, Chun 1997). RB bezeichnet den Effekt, daß Versuchspersonen bei schnell aufeinanderfolgender Präsentation zweier gleicher Stimuli (innerhalb des rapid serial visual presentation Paradigmas) das Vorkommen des zweiten Stimulus häufig nicht bewußt wird. Zur Erklärung dieses Phänomens nehmen Kanwisher/Park an, daß zwar ein „Erkennen" des zweiten Stimulus (Zuordnung visuellen Inputs zu abstrakten Repräsentationen), aber keine „Individuierung" (Bindung der aktivierten Typinformation an ein neues „token" oder object file) stattfindet. 1 8 Komplementär dazu bezeichnet AB den Effekt, daß das Berichten des Auftretens zweier unterschiedlicher Targets defizitär ist, wenn beide in einem Zeitfenster von 500ms auftreten. Dies läßt sich nach Chun (1997) dadurch erklären, daß die Bildung der für ein Berichten vorauszusetzenden object files Ressourcen in Anspruch nimmt, deren Wiederherstellung eine gewisse Zeit (refractory period) dauert und so die Bildung eines zweiten object files beeinträchtigt. Park/Kanwisher stellen vor diesem Hintergrund bzgl. der Rolle von Aufmerksamkeit eine interessante Hypothese auf, die als „Selection-for-report" bezeichnet werden kann: „Recognition itself is not capacity-limited, but the transfer of recognized items to a subsequent buffer necessary for report is a serial, attention-requiring process" (S. 516).

18

Allerdings bestehen Unterschiede zwischen den Theorien Kahneman/Treismans und Park/ Kanwishers in bezug auf die Eigenschaften bzw. die Funktion von object files/tokens. Kahneman/ Treisman betrachten object files als eine integrative Instanz („Whenever a change in visual input is detected, current information about changing or reappearing objects must be assigned to existing object files; if this fails, a new file must be set up.", S. 179). Park/ Kanwisher weisen explizit auf die Funktion eines Tokens als Individuierungskonstrukt eines Stimulus hin und erklären RB so als Bindungsproblem existierender Token zu Types: „[...] subjects evidently knew something was there; they just did not know what it was. This is consistent with the existence of a token but the lack of a type-to-token link for the repetition-suppressed item" (S. 516). Demnach sind die beiden Konstrukte nicht äquivalent. Stattdessen scheint eine größere Nähe des .Token'-Begriffs zu dem des ,FINST' in dem Ansatz Pylyshyns vorzuliegen, der gerade durch die Einschränkung auf Individuiertheit und räumliche Adressiertheit eines visuellen Objekts ausgezeichnet ist.

106 4.8

M e c h a n i s m e n der A u f m e r k s a m k e i t und Raumrepräsentation: D e r neuropsychologische A s p e k t „[The human hippocampus may] house the human cognitive map in the sense of storing the information from which it is constructed but the clinical evidence suggests that the neural equivalents of surveyor, cartographer and navigator are located in the right parietal lobe." (Ratcliff 1987:85)

Es besteht mittlerweile ein breiter Konsens darüber, daß ausgehend vom primären visuellen Cortex (Area V I ) neuronale Aktivierung entlang zweier unterschiedlicher Pfade weitergeleitet wird: Entlang der dorsalen Route, die im posterioren parietalen Cortex endet, und entlang der ventralen Route, die im inferotemporalen Cortex endet. Insbesondere anhand von Läsionsstudien konnte gezeigt werden (Ungerleider/Mishkin 1982), daß der dorsale Pfad mit der Verarbeitung räumlicher Funktionen (,,where"-Aspekt) und der ventrale Pfad mit der Verarbeitung von Objekteigenschaften (,,what"-Aspekt) assoziiert werden kann. Bzgl. des parietalen Cortex weist Paillard (1987) darauf hin, daß hier objekt-relative („allozentrische") räumliche Beziehungen repräsentiert werden, die einerseits von in retinotopischen Koordinaten organisierten visuellen Repräsentationen des visuellen Cortex, und andererseits von Betrachter-relativen („egozentrischen") Repräsentationen im frontalen Bereich abgegrenzt werden können. Einer der klassischen, für parietale Schädigungen typischen Fälle visueller Disorientierung (auch „Bálints Syndrom" genannt) wird von Holmes (zitiert in Ratcliff 1982:305) 19 geschildert, dessen Patienten beidseitige, durch Projektile hervorgerufene, Verletzungen der hinteren Hirnregionen aufwiesen und deren offensichtlichstes Symptom „the inability to determine the position in space, in relation to themselves, of objects which they saw distinctly" war, obwohl keine Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Bewegung der Augen selbst vorlag: „When I held up a knife in front of one man he said once That's a pocket-knife' but though his eyes were directed on it he stretched out his arm in a totally wrong direction when he was told to take hold of it. Another man struck my face with his hand as he attempted to point to a pencil which I held two or three feet to my right side"

Außer dieser Art visueller Mislokalisierung können sich parietale Schädigungen außerdem in konstruktioneller Apraxie (Unfähigkeit, räumliche Relationen in Form von Modellen oder durch Zeichnungen wiederzugeben), visueller Disorientierung (Unfähigkeit, relative Größen, Längen, oder Positionen von Objekten anzugeben), Verlust räumlichen Gedächtnisses (z.B. mit Beeinträchtigung der Fähigkeit, Routen zu finden) und Aufmerksamkeitsdefiziten ausdrücken (s. Andersen 1987). Neben verbesserten Techniken des „brain imaging" (s. Posner/Raichle 1994, Mangun et al. 1993), d. h. Verfahren zur Visualisierung der Gehirnaktivität, ist es insbesondere die Neglect-Forschung (Bisiach 1993), die zu einem Fortschritt in der Erforschung von Aufmerksamkeitsphänomenen sowie dem Verhältnis von Aufmerksamkeit und Raumrepräsentation geführt hat.

19

G. Holmes, „Disturbances of visual space perception", British Medical Journal2 (1919), 230-233.

107 4.8.1

Raum-basierter Neglekt

Seit mehr als einem Jahrhundert existieren Untersuchungen über Personen mit einer Schädigung des parietalen Bereichs, die als „Unilateraler Neglekt" bezeichnet wird. Solche Personen lassen Information über diejenige Seite des Raumes unberücksichtigt, die der Läsion gegenüberliegt - üblicherweise der rechten Gehirnhälfte („full-fledged neglect is usually the consequence of a lesion located in the right hemisphere", Bisiach/Valiar 1988: 195). Dieser Umstand wird daran sichtbar, daß sie bei vorgegebenen oder memorierten räumlichen Gegebenheiten nur die rechte Seite des Raumes wiedergeben, sei es durch Zeichnungen oder durch verbale Beschreibungen. 20 Entscheidend für den Zusammenhang von parietaler Schädigung, visuell-räumlicher Aufmerksamkeit und Raumrepräsentation ist die Tatsache, daß bei diesen Fällen anscheinender Beeinträchtigung räumlicher Repräsentation tatsächlich eine Störung der Aufmerksamkeit vorliegt („Unilateral neglect stands apart from the other spatial disorders in that the neglecting patient is not simply unable to integrate stimuli falling into one half of space into a coherent spatial framework but appears to be unaware of their existence", Ratcliff 1982:322). Dies wird durch Untersuchungen belegt (Goldberg 1982), in denen Einzelzellableitungen parietaler Neuronen im Gehirn von Affen vorgenommen wurden. Von solchen Neuronen konnte zunächst gezeigt werden, daß sie mit irgendeiner Reaktion des Tieres auf einen Stimulus in Verbindung stehen. Zusätzlich ergaben die Vergleiche elektrophysiologischer Aktivitäten von einfacher Fixation, von Aufmerksamkeitszuwendung auf einen entsprechenden peripheren Stimulus und von einer Augenbewegung zu diesem Stimulus, daß die jeweiligen Neuronen genau dann verstärkt feuerten, wenn ausschließlich Aufmerksamkeitszuwendung, aber keine Augenbewegung vorlag: „In the posterior parietal cortex this process of enhancement occurs whenever the animal attends to the stimulus, not merely when it makes an eye movement to it, and is therefore useful for the processing underlying selective visuospatial attention" (ibid., S. 297). Diese Ergebnisse entsprechen offenbar den von Posner untersuchten Zuwendungen visuell-räumlicher Aufmerksamkeit. Der parietale Cortex ist somit nicht in einfacher Weise als ein für die allozentrische Repräsentation von Raum funktionaler Bereich anzusehen, sondern kodiert außerdem einen spezifischen attentionalen Mechanismus. Räumlicher unilateraler Neglekt, der auf einer Schädigung parietaler Bereiche beruht, kann nach Allport wie folgt charakterisiert werden: „[It] is not restricted to a fixed region of egocentric space (e.g., the contralesional visual hemifield), but shows a left-to-right, continuous gradient or bias of attentional priority [...] In other words the disturbance appears to reflect an enhanced attentional priority, and stronger attentional engagement, in one direction, as much as a diminished priority towards the other" (Allport 1993:196f). Auffällig ist die Asymmetrie der als attentionale Defizite enttarnten Neglekt-Phänomene bezüglich der beiden Gehirnhälften. Sie treten vorwiegend bei Verletzungen der rechten (allgemein als der auf die Verarbeitung räumlicher Information spezialisiert angesehenen) Hälfte auf (Bisiach/Vallar 1988:198). Làdavas et al. (1994) vergleichen verschiedene Erklärungshypothesen für diese Asymmetrie. Nach einem Modell verfügt jede Gehirnhälfte 20

Hierbei handelt es sich um Neglekt des extrapersonalen Raumes. Es sind außerdem Fälle bekannt, in denen sich die Nichtbeachtung auf den intrapersonalen Raum (z. B. auf eine entsprechende Körperhälfte) bezieht (Bisiach/Vallar 1988:196).

108 über eigene Aktivationssysteme, die Zuwendungsreaktionen zum jeweils contralateralen Halbraum auslösen. Die Asymmetrie wird hier dadurch erklärt, daß die linke Hemisphäre nur Zuwendungen zur rechten kontrollieren kann, während die rechte Hemisphäre Zuwendungen auf Stimuli in beiden Halbräumen bewirken kann. Nach einem anderen Modell ist jede Gehirnhälfte für den Aufmerksamkeitswechsel in die Richtung der jeweils anderen Hälfte zuständig, wobei die rechte Gehirnhälfte schwächer in bezug auf die Generierung solcher Wechsel ist als die linke (daher eine Unterdrückung der linksgerichteten Aufmerksamkeitswechsel bei rechtshemisphärischen Läsionen). In eigenen Untersuchungen mit split-brain-Patienten (Patienten mit durchtrenntem Corpus Callosum), kommen die Autoren zu Ergebnissen, die eher das zweite Modell stützen. Sie fanden allerdings keine Unterschiede in der Stärke der Zuwendungsrichtungen von Aufmerksamkeit. Stattdessen ergab sich, daß die rechte Gehirnhälfte über einen relativ höheren Wachsamkeitszustand verfügt. In Experimenten, in denen Corbetta und Kollegen anhand von P E T scans die Gehirnaktivation bei A u f m e r k s a m k e i t s w e c h s e l n untersuchten (berichtet in Posner/ Raichle 1994:160f), wurde allerdings das erste Modell klar bestätigt: Beide Gehirnhälften (genauer: die parietalen Bereiche) waren aktiv, wenn Aufmerksamkeitswechsel im rechten visuellen Halbfeld stattfanden; hingegen war nur der rechtshemisphärische parietale Bereich aktiv, wenn entsprechende Wechsel im linken visuellen Halbfeld stattfanden. Insbesondere: „It did not seem to matter whether subjects were shifting [attention] in a rightward or leftward direction" (Posner/Raichle 1994:161). Obwohl die attentionale Verarbeitung räumlicher Repräsentationen bei parietalen Neglekt-Patienten also in spezifischer Weise gestört ist, bedeutet dies nicht unbedingt eine Beeinträchtigung der vorliegenden Raumrepräsentation. Bisiach/Luzatti (berichtet in Andersen 1987:485) baten solche Patienten, aus dem Gedächtnis bestimmte Landmarken zu beschreiben, die direkt am Piazza del Duomo in Mailand lagen. Hierzu sollten sie zunächst eine bestimmte Perspektive einnehmen (Blick auf den Eingang der Kathedrale). Wie erwartet, beschrieben die Patienten nur diejenigen Landmarken, die sich auf derselben Seite (ipsilateral) der vorliegenden Läsion befanden. Danach wurden sie gebeten, eine entgegengesetzte Perspektive (von den Stufen der Kathedrale aus) einzunehmen. Wieder beschrieben sie nur eine Seite des Platzes, dabei erwähnten sie aber Objekte, die sie vorher ignoriert hatten, und sie ignorierten Objekte, die sie vorher genannt hatten. Während die M e m o r i e r u n g bei diesen Personen vor den Gehirnverletzungen stattgefunden hatte, berichten Guariglia et al. (1993) von einem Patienten - allerdings mit rechts-frontaler Läsion - , der keine allgemeinen Beeinträchtigungen von Wahrnehmung oder Imagination aufwies. Dieser zeigte ebenfalls den contralateralen Neglekt von Landmarken an bekannten Plätzen. Zusätzlich zeigte er dasselbe Phänomen aber auch bzgl. der in einem ihm unbekannten Raum befindlichen Objekte: Nachdem er die Konstellation memoriert hatte, beschrieb er aus dem Gedächtnis jeweils nur die eine Seite des Raumes.

4.8.2

Die Verarbeitung hierarchischer Stimuli

Eine weitere frappierende Asymmetrie der beiden Gehirnhälften läßt sich bei der Wiedergabe hierarchisch organisierter Stimuli beobachten (s. hierzu Robertson/Lamb 1991, Delis/Bihrle 1989). Während Patienten mit linkshemisphärischen Läsionen in der Regel

109 nur Aspekte der globalen Ebene (Gestalt eines Objekts) zeichnerisch wiedergeben können, sind die Zeichnungen rechtshemisphärischer Patienten meistens in bezug auf die Gestalt der Figur verzerrt, weisen d a f ü r aber die Aspekte der lokalen Ebene (die Teile der Figur) auf (s. o., Abb. 38). R o b e r t s o n / L a m b zeigen, d a ß in beiden Hemisphären sowohl perzeptuelle als auch attentionale Faktoren bei der Verarbeitung hierarchischer Stimuli beteiligt sind und d a ß diese Stimuli gleichzeitig auf beiden E b e n e n (global, lokal) verarbeitet werden. Die Aufmerksamkeitsprozesse, die nach Ansicht der Autoren f ü r die Z u w e i s u n g von R e s o u r c e n auf die ebenenspezifischen M e c h a n i s m e n verantwortlich sind (vgl. die „kategorische" A u f m e r k s a m k e i t bei Robertson et al. 1993), lokalisieren sie im parietalen Bereich, eine A n n a h m e , die von Delis/Bihrle bestätigt wird: „The present study suggests that the inferior parietal region is critical for the controlled distribution of attention over the visual field and between hierarchical levels." (S. 29)

4.8.3

Neglekt in unterschiedlichen Referenzsystemen

Eine der erstaunlichsten E n t d e c k u n g e n der N e g l e k t - F o r s c h u n g ist die, d a ß unilateraler Neglekt nicht auf eine Vernachlässigung eines visuellen Halbfeldes beschränkt ist, sondern a u c h in b e z u g auf interne R e p r ä s e n t a t i o n e n auftritt ( „ r e p r e s e n t a t i o n a l n e g l e c t " , s. Bisiach/Vallar 1988:21 I f ) . Bisiach und Kollegen (berichtet in Bisiach 1993:438f) wiesen dies in einem Experiment nach, in d e m Patienten mit Links-Neglekt „gleich/unterschiedlich"-Bewertungen bzgl. Paaren bedeutungsloser Objekte abgeben mußten, wobei die Form der O b j e k t e identisch war oder aber sich die Unterschiede entweder auf der linken oder rechten Seite befanden. Die E n t d e c k u n g linksseitiger Unterschiede zeigte sich insgesamt als beeinträchtigt, und zwar insbesondere auch in einer B e d i n g u n g , in der die O b j e k t e jeweils nur partiell sichtbar waren. Partielle Sichtbarkeit wurde dadurch hergestellt, daß die Objekte hinter einer W a n d vorbeibewegt wurden und nur durch einen vertikalen Schlitz ausschnittsweise betrachtet w e r d e n k o n n t e n . D e r a u f t r e t e n d e N e g l e k t b e z o g sich d e m entsprechend nicht auf eine perzeptuelle, sondern visuell-räumliche Repräsentation. Allport gibt zwei weitere Beispiele: Ein Patient mit linksseitigem Neglekt könne Stimuli auf der bzgl. der Gravitationsachse definierten linken Seite mißachten, auch wenn der Kopf horizontal gekippt ist; andererseits könne ein solcher Neglekt auch in bezug auf die Hauptachse eines gekippten Objekts auftreten, trotz aufrechter Haltung (Kopfposition) des Betrachters. Den wohl eindrucksvollsten B e l e g liefert j e d o c h ein Fall von r ä u m l i c h e m Neglekt in einem orthographisch definierten Referenzsystem: „The patient studied in detail by Caramazza and Hillis failed to read the terminal (i.e., in canonical, alphabetic representation, the 'right') half of words, regardless of whether the word was presented visually in normal left-to-right orientation, or was mirror-reversed, or even if the words were orally spelled to the patient. Thus, hemineglect was manifested within what appears to be a word-centered, orthographic space, which is evidently not retinotopic." (Allport 1993:198) Einen ähnlichen Fall f ü r N e g l e k t auf einer spezifischen Repräsentationsebene schildern Marshall/Halligan (1995). Ihre Patientin k o n n t e zwar die g l o b a l e F i g u r eines hierarchischen Stimulus verbal und zeichnerisch wiedergeben, sie konnte j e d o c h nur die lokalen Elemente auf der rechten Seite der Figur „ausstreichen" (auch wenn sie vorher die Gesamtfigur korrekt gezeichnet hatte): „J.R. can perceive the whole forest but c a n n o t use that

110 percept to search for and cut down the trees on the left thereof (S. 523). Dies ist offenbar ein Beispiel dafür, daß scheinbar vorhandene Information nicht verwendet werden kann. Interessanterweise kann die konverse Konstellation (scheinbar nicht vorhandene Information kann verwendet werden) ebenfalls eintreten. Vallar et al. (1994) erwähnen den Fall einer Patientin, die zwei Zeichnungen eines Hauses als gleich beurteilte, obwohl das eine Haus auf der linken Seite Flammen (eingezeichnet) hatte. Wurde sie jedoch gefragt, in welchem Haus sie am liebsten wohnen würde, so wählte sie konsistent das nicht-brennende Haus. „This suggests that, at least in some neglect patients [...], overtly neglected left-sided information may undergo processing deep enough to allow the extraction of structural or even semantic features." (S. 377; vgl. hierzu auch Farah 1990).

4.8.4

Objekt-basierter Neglekt

Analog zur Unterscheidung raum-basierter und objekt-basierter Aufmerksamkeit gibt es neben der Evidenz für raum-basiertem Neglekt auch Hinweise auf objekt-basierten Neglekt (Behrmann/Tipper 1994, Humphreys et al. 1994). Ζ. Β. ist es für Patienten mit dem sogenannten „Bahnt's Syndrom" charakteristisch, daß sie nur das im Zentrum der Aufmerksamkeit befindliche Objekt „sehen" können. Humphreys/Riddoch (1993: 159) berichten von einem Patienten Lurias, der nur ein einziges Dreieck sah, wenn zwei Dreiecke unterschiedlicher Farbe übereinandergelegt waren. Waren die Dreiecke jedoch von gleicher Farbe, „sah" er einen Davidsstern. Ein anderer Patient hatte keine Schwierigkeiten, Muster mit sich überlappenden Objekten (wie die Olympischen Ringe) zu kopieren, im Gegensatz zu Mustern mit separaten Objekten (obwohl diese dengleichen Raum einnahmen). In ihrem Experiment präsentierten Humphreys/Riddoch zwei Patienten mit Balint's Syndrom Displays mit 32 farbigen Kreisen (entweder alle rot oder grün, oder zur Hälfte rot und zur anderen grün) und schwarzen Balken mit der Aufgabe zu entscheiden, ob Kreise unterschiedlicher Farbe vorhanden waren. Drei Bedingungen wurden unterschieden: gemischte Bedingung (verschiedenfarbige Kreise sind durch schwarze Balken verbunden), einzelne Bedingung (gleichfarbige Kreise sind durch Balken verbunden) und zufällige Bedingung (Kreise sind nicht verbunden). Es zeigte sich, daß die Performanz bei beiden Patienten in der gemischten Bedingung am besten war, und zwar mit signifikantem Abstand zu den etwa gleichen anderen Bedingungen. Mit anderen Worten, erst die Verbindung zweier Kreise zu einem perzeptuellen Objekt (vgl. das Prinzip der „uniform connectedness" bei Palmer/Rock 1994) bewirkte die Befindlichkeit zweier Kreise im Bereich der Aufmerksamkeit und die nachfolgende Entdeckung von Kreisen unterschiedlicher Farbe. Ein spezifische, auf die bilaterale Schädigung parietaler Regionen zurückführbares, sehr ähnliches Krankheitsbild ist die „dorsale Simultanagnosie". Entsprechende Patienten verfügen zwar Uber ein intaktes visuelles Feld, sie sind jedoch nicht in der Lage, andere Objekte als das gerade attendierte zu sehen, d.h. einen Aufmerksamkeitswechsel in irgendeine Richtung durchzuführen. Allport erwähnt den Fall eines Patienten, der beim Anzünden einer Zigarette die wenige Zentimeter entfernte angebotene Flamme nicht wahrnehmen konnte, da seine Augen auf die Zigarette fixiert waren (Allport 1993:199).

Ill 4.8.5

Mechanismen der Aufmerksamkeit und ihre Lokalisierung

Posner/Raichle (1994) präsentieren einen elaborierten Vorschlag dazu, durch welche Mechanismen die beschriebenen Aufmerksamkeitsphänomene erklärt werden können und durch welche neuralen Systeme die jeweils entsprechende Funktionalität implementiert ist. Sie unterscheiden drei Aufmerksamkeitsnetzwerke: Ein Netzwerk zur visuellen Orientierung (Aufmerksamkeitszuwendung), ein ausführendes (exekutives) Netzwerk, und ein Wachsamkeitsnetzwerk (vigilance network). Das Netzwerk der Aufmerksamkeitszuwendung wird durch das Zusammenspiel der drei Operationen DISENGAGE, MOVE und ENGAGE gebildet. Das Funktionieren visuell-räumlicher Aufmerksamkeit besteht danach in einem sich stetig wiederholenden Lösen der Aufmerksamkeitszuwendung von einem Ort (DISENGAGE), dem Bewegen (des attentionalen Spotlights) zu einem anderen Ort (MOVE) und der Zuwendung an diesem Ort (ENGAGE). Insbesondere vor dem Hintergrund der beschriebenen Neglekt-Phänomene schlagen die Autoren als Ort für die DISENGAGE-Operation den parietalen Cortex vor. Konvergierende Evidenz weist darauf hin, daß Schädigungen in diesem Bereich zu einer Beeinträchtigung contralateraler Orientierung führen. Anhand von normalen Reaktionen auf ein Target in beiden Halbfeldern konnte allerdings gezeigt werden, daß die Aufmerksam-keitswendung selbst nicht unbedingt gestört war. Wird zudem ein Cue vorgegeben, so erhöht sich die Reaktionszeit auf das Target erst dann, wenn die Aufmerksamkeit von der CuePosition in contraläsionaler Richtung zum Target gewandt werden muß (dabei ist es irrelevant, in welchem Halbfeld sich Cue und Target befinden) - eine Erscheinung, die von Posner/Raichle als Mißlingen des Loslösens von der Cueposition gedeutet wird. Als Ort für die MOVE- und die ENGAGE- Operation schlagen die Autoren jeweils entsprechend den Superior Colliculus im Mittelhirn und die Pulvinar im Thalamus vor. Das ausführende Netzwerk hat nach Posner/Raichle die Aufgabe, das Bewußtwerden über das Vorliegen eines Objekts zu bewirken und somit dessen Identifizierung zu ermöglichen. Hierbei werden auch top-down-Aspekte, d.h., ob das Objekt einer bestimmten Zielvorgabe entspricht, relevant. Insbesondere anhand von PET-Studien läßt sich nachweisen, daß bei aktiver Einwirkung auf einen wahrgenommenen Reiz der Bereich des anterior cingulate gyrus aktiviert wird. Dieser Bereich ist verbunden mit den vorderen Hirnregionen, denen die Funktionalität des Arbeitsgedächtnisses (sowohl räumliches als auch verbales) zugeschrieben wird. Aus den Effekten von Läsionen dieser Region läßt sich schließen, daß dort attentionale Kontrolle implementiert ist, die sowohl das Arbeitsgedächtnis als auch die visuelle Verarbeitung beeinflussen kann. Wiederum auf der Basis von PET Scans kommen die Autoren zu dem Schluß, daß im rechten vorderen und parietalen Bereich das Wachsamkeitsnetzwerk lokalisiert ist, das komplementär zum exekutiven Netzwerk operiert. Wenn sich also die Aktivität im Bereich des anterior cingulate gyrus verringert, erhöht sich entsprechend die Aktivität in den angesprochenen Regionen der rechten Gehirnhälfte. Dies dient dazu, eintreffende Reize besser zu verarbeiten, um möglichst schnell auf sie reagieren zu können. Humphreys/Riddoch (1994) bieten ein abstrakteres Modell des attentionalen Netzwerks visueller Orientierung an (Abb. 43), demgemäß die drei abgebildeten Mechanismen in jeweils gegenseitig hemmender Beziehung zueinander stehen. Die Operationen Posner/ Raichles ergeben sich nach diesem Modell als graduell ineinander übergehende Zustände

112 des Netzwerks. Außerdem ist eine feinere Analyse der Phänomene bei parietaler Läsion möglich: „Disengagement" kann sich einerseits als Defizit des Orientierungsmechanismus (keine „Attraktion" durch den contralateralen Stimulus möglich) oder durch übermäßige Inhibition durch den Mechanismus des Aufrechterhaltens der Aufmerksamkeit (abnormales „Verhalten" der Aufmerksamkeit an der ipsilateralen Position) ergeben. Zur Unterscheidung raumbasierten Orientierens und objektbasierter Selektion schlagen die Autoren die in Abb. 44 dargestellte schematische Beziehung eines Systems zur Objekterkennung und des Aufmerksamkeitssystems vor. Nach diesem Modell ergibt sich visuelle Orientierung aus einem stabilen Zustand der Beziehung. Tritt hingegen verstärkt Feedback vom Objekterkennungssystem auf, so führt dies zu objektbasierter Selektion.

Abb. 43: Attentionales Netzwerk sich gegenseitig hemmender Mechanismen (Humphreys/Riddoch)

Bildhafte Merkmale

Abb. 44: Modellierung räum- und objektbasierter Selektion durch variierenden Einfluß zweier Systeme (Humphreys/Riddoch)

4.9

Zusammenfassung

Die hier vorgestellten Untersuchungen und Experimente stellen Teile eines Puzzles dar, das bislang noch kein Gesamtbild einer Theorie der selektiven fokussierten visuell-räumlichen Aufmerksamkeit (im folgenden: SFA) ergibt. Trotzdem lassen sich einige wesentliche Aussagen ableiten, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit relevant sind, da sie als Grundlage

113 für die weiteren Betrachtungen räumlicher Relationen im Bereich höherer kognitiver Verarbeitung dienen können. Es zeigt sich zunächst, daß SFA eine zentrale Rolle in dem Zusammenspiel von Wahrnehmung, Repräsentation und Handeln spielt: Ihre Selektivität ermöglicht Beschränkungen im Informationsaustausch von Teilsystemen („selection for action", „selection for report"), die die Effizienz der Verarbeitung gewährleisten und die Effektivität des Gesamtsystems sichern. SFA ist dabei ein eigenständiges Phänomen, das sowohl in seiner abstrakten Struktur untersucht als auch an spezifischen neuronalen Korrelaten festgemacht werden kann. Dies impliziert jedoch nicht die A n n a h m e eines lokalisierbaren kausalen Homunkulus (oder eine „cause theory" im Sinne Johnston/Darks) und somit einer Instanz, die über Repräsentationen operiert, sondern ist, wie Bisiach vorschlägt, möglicherweise integraler Bestandteil von .Repräsentation': „[...] I claim that attention is a concept rooted in, and abstracted from, the intrinsic dynamics of representation and not a process acting upon it" (Bisiach 1993:456). Die Zuwendung visueller Aufmerksamkeit scheint auf noch nicht identifizierte saliente Merkmalscluster in/auf einem räumlichen Medium (der „map of locations") zu erfolgen („shape integration takes place within an attended region of space at the boundaries of an object [...] Once the attention is set to an object's boundary, the internal features of the object are integrated, and recognition processes begin", Boucart/Humphreys 1992:804). Dies können einzelne visuelle Elemente („Blobs"), aber auch Gruppen von Blobs oder markante Merkmalsunterschiede (Begrenzungen von Objekten) sein. Eine solche raumbasierte Aufmerksamkeit führt zur Etablierung räumlich-zeitlich adressierter „object files", deren phänomenale Inhalte (Merkmale) sowie kategoriale Zuordnung variieren können. Davon zu unterscheiden ist die objektbasierte Aufmerksamkeit, die über die rein räumlichen Eigenschaften einer attendierten Konstellation hinaus, die Beziehung der Entitäten zueinander (—» Gruppierungsstärke) und/oder die kategoriale Zuordnung (—> Objektkategorisierung) voraussetzt. Von dem präattentiven „Entdecken" visueller Objekte durch parallele Vorverarbeitung ist die serielle attentive Verarbeitung („Erkennung") zu unterscheiden, die den sequentiellen Aspekt von SFA deutlich macht. Fokussierte Aufmerksamkeit auf Objekte und deren Wechsel führen notwendigerweise zu einer Abfolge von Aufmerksamkeitszuwendungen und somit distinkten „attentional states" (Sperling/Weichselgartner). Vielfältige Evidenz (z. B. aus dem Bereich der „Scan paths") spricht dafür, daß diese Abfolgen im Gedächtnis abgelegt, d. h. repräsentiert, werden: „Orienting across a scene from memory need not be regarded as a two-stage-process: (i) representing, (ii) scanning. The representation itself could be directionally constructed [...]" (Kinsbourne 1988:247). Dies entspricht der Beobachtung, daß SFA neben bottom-up- auch top-down-Aspekte (vgl. den Begriff der 'attentional templates') involviert. Obwohl Objekt- und Rauminformation auf unterschiedlichen Wegen (dem ventralen und dem dorsalen Pfad) weiterverarbeitet werden, muß die mittlerweile weit verbreitete Unterscheidung eines temporalen What- und eines parietalen Where-Systems differenziert betrachtet werden, da auch Objekte/Formen durch räumliche Eigenschaften (implizite Relationen) charakterisiert sind und nicht nur als Mengen bzgl. Rauminformation unspezifizierter Merkmale betrachtet werden können. Ein inhärentes Problem von Ansätzen, die eine solche kategorische Objektrepräsentation-Raumrepräsentation-Distinktion durchfüh-

114 ren ist „that information about the spatial relationships of features within an object is lost" (Olshausen et al. 1995:45). Die Dichotomie What/Where ist daher ungenau und in dieser Interpretation letztlich unzutreffend. Stattdessen ist Objektrepräsentation durch die Kategorisierung eines qua Aufmerksamkeitszuwendung objektbezogenen, projizierten räumlichen Ausschnitts der „map of locations" im temporalen Bereich charakterisiert. Dabei zeigen die Untersuchungen zur Verarbeitung hierarchischer Stimuli, daß Objekterkennung gleichzeitig auf unterschiedlichen Granularitätsstufen stattfindet. Raumrepräsentation ist hingegen durch die Verarbeitung der nicht-fokussierten Information sowie der Aufmerksamkeitswechsel u. a. im parietalen Bereich gekennzeichnet. Aus diesem Grund ist die Verwendung der What/Where-Dichotomie in Landau/Jackendoff (1993) zu kritisieren. Es erscheint hochgradig plausibel, daß konzeptuelle räumliche Relationen nicht durch direkten Bezug auf Raum („Where")-Information zu charakterisieren, sondern als kategorisierte Aufmerksamkeitswechsel in unterschiedlichen räumlichen Koordinatensystemen zu betrachten sind. In jedem Fall zeigen die Erscheinungen des objektbasierten Neglekts, daß der Wechsel der Aufmerksamkeitszuwendung auf Objekte eine notwendige Bedingung für die Etablierung konzeptueller und für die Sprache zugänglicher räumlicher Relationen darstellt. Ontologisch ist in Anbetracht der Forschungsergebnisse zwischen „spatiotemporal tokens" („blobs", „boundaries" etc.), „object files" und „types" zu unterscheiden (s. auch Chun 1997). Object files weisen dabei jeweils einen oder mehrere „Indizes" auf räumliche Token auf und „individuieren" bzw. „instantiieren" ihre entsprechenden konzeptuellen (Objekt-) Types. Es zeigt sich, daß die in Kapitel 2 vorgestellten Raumlogiken überwiegend räumliche Token und ihre (impliziten) Beziehungen betrachten. Zusätzlich müssen aber die Aufmerksamkeitszustände bzgl. visuell-räumlicher und konzeptueller Objekte, sowie die Wechsel solcher Zustände, berücksichtigt werden.

5 Aufmerksamkeit und räumliche Relationen .Computing relations requires directing attention' (Logan 1995:163)

5.1

Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit für die Repräsentation räumlicher Relationen

Vor dem Hintergrund der neueren Aufmerksamkeitsforschung wird deutlich, daß es notwendig ist, die Verarbeitung von Objekteigenschaften und die Verarbeitung räumlicher Eigenschaften voneinander zu trennen, da im ventralen System räumliche Relationen nicht explizit repräsentiert/verarbeitet werden. Wäre dies der Fall, fragt Kosslyn (1994:209), warum würde die Entfernung parietaler Bereiche bei Tieren dann zu so schweren Beeinträchtigungen räumlicher Unterscheidungen und Urteile führen? Kosslyn weist allerdings ausdrücklich auf die Beachtung der explizit/implizit-Dichotomie hin: „Although the ventral system cannot represent explicit spatial relations, it must be able to represent implicit spatial relations; such relations are inherent in any pattern. For example, a representation of a face by necessity includes implicit information about the locations of the parts and the distances among them. However, such spatial representations are embedded in the pattern itself; they cannot be used in any other context" (Kosslyn 1994:421).

Abb. 45 zeigt, in einer vereinfachten Darstellung der Architektur der „visual mental imagery" nach Kosslyn, die Beziehung von Aufmerksamkeitszuwendung, Bildung expliziter räumlicher Relationen und Aufmerksamkeitswechseln (vgl. Kosslyn 1994: 383).

Assoziatives Gedäcl

Bildung von Koordinaten Relationen

Aufmerksamkeitswechsel

Spa tiotopi sehe Abbildung

Kopf- Körper-, Augenpositionen

• Objekterkennung

Abb. 45: Visuell-räumliche Wahrnehmung und Imagination (nach Kosslyn 1984:383)

116 An dieser Abbildung wird deutlich, daß explizite räumliche Relationen im assoziativen Gedächtnis abgelegt werden (wie auch das Ergebnis der Objekterkennung) und indirekt einen (Top-down-) Einfluß auf die Bewegung des Aufmerksamkeitsfensters ausüben können. Die prinzipielle, auf neurowissenschaftliche Befunde gestützte Verknüpfung explizit repräsentierter räumlicher Relationen und im parietalen Bereich angesiedelter Aufmerksamkeitsmechanismen wird durch Überlegungen Ullmans (1984) konkretisiert, der verhältnismäßig früh die neuere Aufmerksamkeitsforschung mit der Verarbeitung räumlicher Relationen in Beziehung gesetzt hat. Eines seiner zentralen Beispiele, an denen er die Essentialität sequentieller Verarbeitung für die Etablierung bzw. Explizierung bestimmter räumlicher Relationen aufzeigte, betrifft die Aufgabe, bzgl. eines Displays mit zwei Kurven und zwei „X" zu entscheiden ob die zwei „X" auf einer Kurve liegen. Das Resultat des entsprechenden von Jolicoeur und Kollegen durchgeführten Experiments beschreibt er wie folgt: „the time to detect that the two X's lay on the same curve increased monotonically, and roughly linearly, with the separation along the curve. This result suggests the use of a tracing operation, at an average speed of about 24 msec per degree of visual angle. The short presentation time (250 msec) precluded the tracing of the curve using eye movements, hence the tracing must be performed internally" (Ullman 1984: 569).

Ullman betont, daß die Aufgabe subjektiv ohne Aufwand zu bewältigen war. Als die Versuchspersonen befragt wurden, wie sie die Aufgabe durchgeführt hatten, wurde vorwiegend geantwortet, daß sie „einfach sahen", ob zwei „X" auf einer oder auf verschiedenen Kurve lagen. Keine der Personen berichtete von einem „scanning" entlang einer Kurve, um zur Entscheidung zu gelangen. Logan (1994, 1995) geht ebenfalls der Frage nach, welche Rolle räumliche Aufmerksamkeit bei der Wahrnehmung räumlicher Relationen spielt. Seine Untersuchungen zum Status expliziter kognitiver Relationen basieren auf zwei Beobachtungen, die sich aus der Betrachtung der Aufmerksamkeitsforschung ergeben. Erstens ist es grundsätzlich notwendig, den Zusammenhang räumlicher Aufmerksamkeit und räumlicher Relationen systematisch empirisch zu untersuchen („Logical necessity dictates that apprehension of spatial relations requires spatial attention. However, logical necessity does not guarantee experimental results, so it was important to determine empirically whether spatial attention is involved in the apprehension of spatial relations", Logan 1994:1016). Zweitens existieren kaum Arbeiten im Bereich der Aufmerksamkeitsforschung, die sich mit der spezifischen Beziehung perzeptueller und konzeptueller Repräsentationen und insbesondere mit dem Top-down-Aspekt (konzeptuell geleitete Kontrolle der Aufmerksamkeit) beschäftigen („Exactly how the control is accomplished is a mystery [...] current theories of attention cannot explain how attention is directed from a cue to a target", Logan 95:108f). Ein Charakteristikum der Experimente in Logan (1994) ist die Verwendung von Verifikationsaufgaben im Paradigma der visuellen Suche. Während in früheren Arbeiten für die Untersuchung der Eigenschaften räumlicher Relationen entweder cuing-Aufgaben („was ist hinter dem Stuhl?"), Relationsbeurteilungsaufgaben (relation judgement tasks) („Ist der Strich über oder unter dem Plus?") oder Verifikationsaufgaben („Ist ein Strich über einem Plus zu sehen?") in bezug auf Displays mit zwei Objekten verwendet wurden, mußten die Versuchspersonen jetzt räumliche Ausdrücke bzgl. komplexer Displays verifi-

117 zieren, die mehrere Paare von Strichen und Plus-Zeichen enthielten. Dieses Versuchsdesign erinnert an die Suche nach Objekten mit konjunktiv verknüpften Merkmalen, die durch ein bestimmtes Muster der Reaktionszeiten (längere Zeiten bei komplexerem Display) ausgezeichnet ist und nach Treisman notwendigerweise die sequentielle Zuwendung von Aufmerksamkeit erfordert. Es erlaubt ebenfalls, die Frage zu untersuchen, ob räumliche Relationen als „Ganzes" präattentiv verarbeitet werden können. In diesem Falle müßte das Vorliegen einer salienten Relation (größtmögliche Diskrepanz zu Distraktorrelationen) zu „Popout" führen (hinreichende Bedingung für die Zuwendung von Aufmerksamkeit). Logans Experimente zeigen, daß Aufmerksamkeitszuwendung zwar notwendig, aber nicht hinreichend für die Erfassung expliziter räumlicher Relationen ist. Räumliche Relationen erfahren kein „Popout", weswegen komplexere Mechanismen für ihre Verarbeitung zur Verfügung stehen müssen. Zusätzlich konnte nachgewiesen werden, daß diese Resultate unabhängig von sprachlichen Einflüssen sind, wie sie möglicherweise durch die sprachlich formulierten Aufgaben induziert worden sein könnten: Trotzdem der Fragesatz durch ein entsprechendes Bild der räumlichen Konfiguration ersetzt worden war, zeigten sich dieselben Reaktionszeitmuster. Offensichtlich wird unabhängig von der Inputmodalität eine amodale, konzeptuelle Beschreibung der Aufgabe erstellt, die bei der visuellen Suche verwendet werden kann (vgl. die „attentional templates" bei Duncan/Humphreys 1992).

5.2

Die Rolle fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit f ü r die Semantik räumlicher Ausdrücke

Es existieren bislang kaum Ansätze, die sich explizit mit der Beziehung räumlicher Aufmerksamkeit und räumlich-sprachlicher Ausdrücke befassen. Eine bemerkenswerte Ausnahme davon stellen die Arbeiten von Logan (Logan 1995, Logan/Sadler 1996) dar, in denen untersucht wird, anhand welcher Mechanismen Aufmerksamkeitstheorien und Theorien der Semantik räumlicher Ausdrücke in Beziehung gesetzt werden können. Obwohl sein Interesse dem Verhältnis perzeptueller und konzeptueller Repräsentationen gilt, betrachtet er insbesondere auch sprachlich räumliche Relationen, die er als konzeptuelle Relationen ansieht („Linguistic representations of space are conceptual", Logan 1995:111). Drei Mechanismen bilden die Grundlage seiner Arbeiten. Räumliches Indexieren dient dazu, die Argumente einer räumlichen Relation zu adressieren und so das zu lokalisierende Objekt (LO) von dem Referenzobjekt (RO) zu unterscheiden. Räumliche Referenzrahmen bestehend aus einem Ursprung, einer Orientierung, einer Richtung und einem Maßstab werden als diejenigen Konstrukte betrachtet, die der Lokalisierung des LO relativ zum RO zugrunde liegen. Relationsspezifische Muster (spatial templates) entsprechen den „Regionen der Akzeptabilität" einer sprachlichen Relation und dienen der Kategorisierung einer LO-RO-Konstellation als Instanz einer bestimmten sprachlichen Relation anhand der Berechnung eines „goodness of fit": „Roughly speaking, there are three main regions of acceptability: one reflecting good examples, one reflecting examples that are less than good but nevertheless acceptable, and one reflecting unacceptable examples" (Logan/Sadler 1996: 497).

118 Die ersten beiden Mechanismen nehmen nach Logan die Vermittlerrolle zwischen konzeptuellem und visuell vermitteltem externem Raum ein („Reference frames orient conceptual processes to space, just as spatial indexing processes orient conceptual processes to objects", Logan 1995:114). Sprachlich räumliche Relationen werden dann auf einen jeweiligen Referenzrahmen bezogen und dienen als Spezifikationen für auszuführende perzeptuelle Operationen. Logan nimmt hierfür an, daß die LO/RO-Unterscheidung in direktem Bezug zur Richtung des entsprechenden Aufmerksamkeitswechsel steht („The linguistic distinction between located and reference objects specifies a direction for attention to move—from the reference object to the located object", Logan 1995:115). Aus diesen Annahmen sind die drei Verarbeitungsschritte abgeleitet, die Logan für die Spezifikation seiner Theorie einer Top-down-Kontrolle visuell-räumlicher Aufmerksamkeit (d. h. der durch die Angabe von Hinweisreizen (Cues) geleiteten Suche nach Targets) angibt: Erstens die Lokalisierung des Cues; zweitens die Lokalisierung des Targets in bezug auf den Cue; drittens die Durchführung vorbestimmter Aktionen bzgl. des Targets. Der zweite Verarbeitungsschritt - die Etablierung der RO/LO-Beziehung - erfordert zunächst das Auferlegen (bei deiktischen Relationen) oder Ausrichten (bei intrinsischen Relationen) eines Referenzrahmens auf den Cue. Anschließend erfolgt die Applikation des entsprechenden, ebenfalls auf das RO ausgerichteten und zentrierten spatial templates. Logan betont, daß diese Applikation sowohl zum Zwecke der Spezifikation einer perzeptuellen Relation als auch zu deren Verifikation (bei entsprechenden Verifikationsaufgaben) verwendet werden kann. Die „Ausführung"/ Verifikation sprachlich räumlicher Relationen basiert somit inhärent auf attentionalen Mechanismen bzw. Operationen. Obwohl die Theorie Logans einen wesentlichen Schritt hin zu einer aufmerksamkeitsbasierten Semantik sprachlich räumlicher Relationen darstellt, weist sie einige (erhebliche) Schwachpunkte auf. Insbesondere wird nicht klar, welche Rolle den expliziten Relationen zukommt, wenn die spatial templates die Funktion der Kategorisierung übernehmen. So schreiben Logan/Sadler in bezug auf die Semantik von above: „any object below a horizontal plane aligned with the bottom of the reference object is a bad, unacceptable example" (1996:497). Dies müßte sich allerdings bereits aus den qualitativen konzeptuellen Relationen ergeben. Überdies reflektieren die Analysen der Autoren nur die Variation im Gebrauch der Präpositionen. Sie geben dadurch weder Aufschluß über die qualitativen Unterschiede expliziter räumlicher Relationen, noch erlauben sie eine Modellierung der übereinzelsprachlichen Unterschiede in der Semantik räumlicher Präpositionen. Sie sind, wie die Autoren selbst einräumen, aufgrund der rein räumlichen Eigenschaften der templates ausschließlich raumbasiert und lassen daher die üblicherweise durch funktionale Relationen modellierten Aspekte unberücksichtigt. Schließlich ist die Theorie Referenzobjekt-zentriert (d. h., das RO bildet immer den Ursprung des Aufmerksamkeitswechsels), eine Eigenschaft, deren Allgemeinheit in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich infrage gestellt wird. Es verwundert somit nicht, daß die Theorie Logans ebenfalls keine Antwort auf die Kompatibilitätsprobleme von Adjektiven und Präpositionen liefern kann.

119 5.3

Computermodellierung aufmerksamkeitsbasierter räumlicher Relationen

Kopp (1994) beschreibt ein auf neuronalen Netzen basierendes System, das die Aufmerksamkeitswechsel zwischen Objekten in einer visuellen Szene mit entsprechenden sprachlich räumlichen Ausdrücken verknüpft. Das System verwendet auf der einen Seite eine Repräsentation des zweidimensionalen visuellen Puffers („visuelle Szene"), in der, angelehnt an einige der oben beschriebenen Aspekte visuell-räumlicher Verarbeitung, Aufmerksamkeitswechsel zwischen fokussierten Objekten stattfinden können. Analog zur What/Where-Unterscheidung wird die Objekterkennung bzgl. attendierter Bereiche systematisch von der Klassifikation der Sakkaden, die zwischen den entsprechenden Blobs stattfinden (fünf Kategorien: left, right, up. down, zero), getrennt. Auf der anderen Seite werden Input-Zeichenketten der Art „dog right_of cat" in einzelne Wörter zerlegt und sukzessive einem Wort-Klassifikationsnetzwerk zugeführt. Die visuelle Inputschicht, bestehend aus den Knoten für die Objekt- und Sakkaden-Kodierung, wird mit der Textinputschicht zu einer Korrelationsmatrix verknüpft. Diese Matrix enthält die Wahrscheinlichkeiten, daß ein bestimmtes Wort im Kontext einer bestimmten visuellen Information verwendet wird. Kopp beschreibt zwei Phasen der Anwendung seines Systems: Die Trainingsphase, in der das System die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten der Korrelation von Wörtern und visuellen Informationen lernt (z. B. Pr(DOG/saccade:zero, shape:dog) und Pr(RIGHT_OF/saccade: right)), und die Testphase, in dem das System selbständig eine Zuordnung einer neuen Szene zu entprechenden Phasen durchführt und so eine Szene „beschreibt". Das System ist somit eines der wenigen, das die hier behandelte Thematik praktisch umsetzt und ihre Relevanz exemplifiziert. Allerdings wird an verschiedenen Stellen deutlich, daß die Realisierung eine extreme Vereinfachung der komplexen Beziehung visueller Szenen und sprachlich räumlicher Relationen darstellt (z. B. an dem Fehlen räumlicher, konzeptueller und semantischer Repräsentationen, an dem stark begrenzten Gegenstandsbereich usw.) und somit die Probleme in diesem Bereich eher verdeutlicht als generelle Lösungen aufzeigt. Regier (1995) stellt ein konnektionistisches Modell (im Paradigma des .adaptiven strukturierten Konnektionismus') des Lernens räumlicher Präpositionen vor, das in vier Hinsichten komplexer ist als das von Kopp. Erstens werden zusätzliche Merkmale einer LORO-Konstellation verarbeitet, einerseits Orientierungsmerkmale des RO und andererseits Merkmale wie Inklusion und Kontakt. Zweitens wird nicht nur eine einzige Szene modelliert, sondern Szenensequenzen, so daß unter Verwendung sogenannter „Motion buffers" auf Aspekte eines zurückgelegten Pfades des LO (.Source', ,Path', .Destination') zugegriffen werden kann. Drittens erweitert sich der Bereich lernbarer sprachlicher Ausdrücke dadurch um dynamische Präpositionen wie out of und through. Viertens wurde das System anhand der Lernbarkeit von Ausdrücken unterschiedlicher Sprachen erfolgreich getestet. Regier nimmt insbesondere den letzten Punkt als Evidenz dafür, grundlegende Prinzipien der Beziehung von visuellem Raum und dessen Beschreibung modelliert zu haben. Allerdings bestand die wesentliche Motivation für sein System darin, etwas zu zeigen, was in der vorliegenden Arbeit bereits eine Hintergrundannahme darstellt: „The primary intention here has been to indicate that nonlinguistic perceptual structures may affect linguistic

120 semantic structure, through constraints on what is and is not learnable" (Regier 1995:85). Wie so oft bei der Erstellung von Computermodellen, so stellt sich jedoch auch hier die Frage, inwieweit die erfolgreiche Performanz des Systems nicht auch das Produkt einer geeigneten Wahl von Repräsentationsstrukturen und Verarbeitungsprinzipien ist. Insbesondere die Verwendung von sechs (!) „motion buffers" gibt Anlaß zu dieser Annahme, außerdem sind die visuellen „input frames" der LO-RO-Konstellationen bereits hinsichtlich der LO-RO-Asymmetrie ausgezeichnet. Trotz der zusätzlichen Komplexität ist schließlich wie bei Kopp das Fehlen verschiedener Repräsentationen sowie die grundlegende Statik der Szenenanalyse (keine Berücksichtigung von fokussierter Aufmerksamkeit und deren Wechsel) zu bemängeln.

6

Aufmerksamkeitsbasierte Modellierung räumlicher Relationen

6.1

6.1.1

Nicht-sprachliche räumliche Relationen

Zur Unterscheidung expliziter und impliziter räumlicher Relationen

Die Arbeiten von Ullman und Logan zeigen, daß die in einem intrinsisch-räumlichen Repräsentationsmedium (wie dem visuellen Puffer) vorhandenen Relationen nicht unmittelbar internen Berechnungsprozessen zur Verfügung stehen und aus diesem Grund nur implizit in der Repräsentation gegeben sind. Erst ein Wechsel fokussierter Aufmerksamkeit von einem Objekt auf ein anderes in diesem Medium bewirkt die Etablierung einer expliziten Relation zwischen diesen Objekten. Die Verwendung des Terminus ,Fokussierte räumliche Aufmerksamkeit' in dieser Arbeit ist damit spezifischer, aber möglicherweise kompatibel, mit Talmys .Windowing of attention' (Talmy 1995). Vor allem sind explizite räumliche Relationen eng verwandt mit dem Begriff des ,scanning' als relationierender (Vergleichs-)Operation bei Langacker: „[...] we can isolate three functional components required for any act of comparison. Such an act has the schematic form S > T, where S can be called standard of comparison and Τ target. As these terms imply, the relation between them is asymmetrical. [...] The operation connecting them, i. e. '>', will be called scanning." (Langacker 1983:5)

Langacker sträubt sich allerdings explizit, .scanning' als Aufmerksamkeitswechsel aufzufassen: „In particular, the term should not be allowed to suggest the image of a homunculus [...]. Nor should scanning be equated with shifts in attention or the focal area of the visual field [... and] it is not required that an act of scanning or comparison be subject to conscious awareness, or for conscious events that it be the focus of attention" (Langacker 1983:13).

Diese Vorsicht ist, wie erwähnt, berechtigt, in Kapitel 4 ist jedoch gezeigt worden, daß theoretisch plausible und empirisch belegbare Aufmerksamkeitsmechanismen existieren, die non-homunkulös sind, von Augenbewegungen dissoziiert werden können und die zudem keine Bewußtheit erfordern. Ein weiterer wesentlicher Aspekt fokussierter Aufmerksamkeit läßt sich ebenfalls anhand Langackers Ausführungen verdeutlichen: „Though it is helpful and possibly appropriate to conceive of scanning as a directional operation that .moves' from S to Τ in some sense, one should be careful not to read into that term more than is implied by its characterization: an operation that asymmetrically relates S and Τ and registers any disparity between them" (Langacker 1983:5)

Hier stellt sich genau die Frage nach Art und kognitivem Status dieser Operation. Ansätze im Bereich der cognitive semantics bleiben in bezug auf die kognitive Realität der „kognitiven" Konstrukte oft sehr unspezifisch. Dies wird z.B. von Tomlin (1998) angemahnt: „Linguists routinely appeal to such notions - attention, memory, activation, learning, etc., - without connecting their informal conceptions with the details of cognitive theory and empirical practice." (Tomlin 1998, 8).

122 Will man für das .scanning' nicht eine aufgabenspezifische, maßgeschneiderte (und somit wieder homunkulöse) mentale Routine ansetzen, so muß für die Etablierung expliziter Relationen zwischen S und Τ ein allgemeines Konstrukt angenommen werden, wie es hier als Operation fokussierter (räumlicher) Aufmerksamkeit vorgeschlagen wurde. Ansonsten handelt es sich (und dies scheint bei Langacker überwiegend der Fall zu sein) um eine Darstellung impliziter Relationen. Die explizit/implizit-Dichotomie ist somit zentral für eine aufmerksamkeitsbasierte Modellierung räumlicher Relationen. Sie erweist sich in folgender Hinsicht als relevant für die Betrachtung räumlicher Relationen: Sie löst das angesprochene Problem der what/where-System-Dichotomie. Objektrepräsentationen können zwar implizite räumliche Relationen aufweisen, aber erst die expliziten Relationen im where-System bewirken eine Repräsentation von Raum in Form von Beziehungen zwischen (räumlichen) Objekten. Beide Systeme nehmen Bezug auf eine Repräsentation mit intrinsisch räumlichen Eigenschaften, wie sie im visuellen Bereich mit der ,map of locations' Treismans oder dem .visual buffer' Kosslyns gegeben ist. Ein von dem Aufmerksamkeitsspotlight „beleuchteter" Ausschnitt dieser Repräsentation wird jeweils über den ventralen Pfad zur Verarbeitung von Objektinformation (.Objekterkennung') in höhere kortikale Bereiche weitergeleitet (s. hierzu Olshausen et al. 1995). Aufgrund der Weiterleitungs-(,Routing-') Metapher bleiben die in der intrinsischen Raumrepräsentation impliziten Relationen auch im whatSystem erhalten. Dies erklärt diejenigen Neglektphänomene, bei denen offensichtlich eine visuell-räumliche Repräsentation vorhanden ist, so daß zwar eine bestimmte Figur als Objekt (mit ihren impliziten räumlichen Relationen), aber nicht als Konstellation (mit expliziten Relationen zwischen Objekten) wahrgenommen werden kann. Implizite Relationen stehen weiteren Verarbeitungsprozessen nicht zur Verfügung. Dies entspricht dem Prinzip der kognitiven Ökonomie, nach dem Berechnungen nur so weit durchgeführt und Strukturen nur so weit gebildet werden wie es für das Gesamtsystem notwendig und sinnvoll ist. Aufmerksamkeit bildet dabei das Regulativ, durch das die Granularität explizit repräsentierten Raumes bestimmt wird. Im Gegensatz zur Annahme Logans („The theory assumes that attention and intention are neccessary to compute spatial relations", Logan 1995: 163) ist allerdings zu vermuten, daß die Bildung expliziter räumlicher Relationen nicht notwendigerweise Intentionen voraussetzt (vgl. ζ. B. das Experiment Ullmans). Stattdessen ergibt sie sich aus den Eigenschaften der Aufmerksamkeit, die sowohl intentional (zielgesteuert/top-down) als auch datengesteuert/ bottom-up ablaufen kann (wobei anzunehmen ist, daß aktual immer ein bestimmtes Mischungsverhältnis beider Aspekte vorliegt). Sie weist eine Relevanz für die konzeptuelle Kategorisierung der wahrgenommenen Welt auf. Explizite Relationen stellen Beziehungen zwischen Objekten her. Hiermit unterscheiden sie sich von der räumlichen Repräsentation einer als Ganzes wahrgeGruppe, da die Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern nur implizit repräsentiert werden (wobei allerdings eine Gruppe selbst wieder ein Objekt darstellt). Dieser Aspekt ist eng verknüpft mit der Zeitlichkeit eines Aufmerksamkeitswechsels, im Gegensatz zur Gleichzeitigkeit einer Form-/ Gruppen-Wahrnehmung, was an den Erscheinungen des objektbasierten Neglekts deutlich wird.

123 Nur explizite räumliche Relationen bilden die Grundlage sprachlich räumlicher Relationen, da deren Argumente durch implizite Relationen nicht separat indiziert werden. Räumliche Indexierung perzeptueller Objekte ist jedoch notwendig für sprachliche Relationen („Spatial indexing is required to bind the arguments of the relation in the conceptual representation to objects in the perceptual representation", Logan/Sadler 1996:500), deren Argumente jeweils kategorisiert und i.d.R. als NPs ausgedrückt werden. Die Fundierung sprachlich räumlicher Relationen in expliziten nicht-sprachlichen räumlichen Relationen ist somit eine spezifischere Version des Resultats von Hayward/Tarr „that the structure of space as encoded by language may be determined by the structure of spatial relations in visual representations" (Hayward/Tarr 1995:39). Es ist davon auszugehen, daß explizite nicht-sprachliche räumliche Relationen in der neuronalen Hard- bzw. „Wet"-ware implementierten Relationen ein integriertes Netz expliziter Raumrepräsentation bilden 1 . Dieses Netz ist offenbar hierarchisch organisiert (McNamara 1986, Hirtle/Jonides 1985), wobei nach den Experimenten Kosslyns zwischen generelleren qualitativen (kategorischen) Relationen und spezifischen quantitativen Koordinatenxe\&ûontn zu unterscheiden ist. Dieser Dichotomie entsprach insbesondere in seinen früheren Arbeiten zu dieser Thematik eine strikt modulare Trennung entsprechender Subsysteme, die zum einen auf den in Lateralisationsexperimenten auftretenden Dissoziierungen basierte und zum anderen auf der Beobachtung beruhte, daß die Verarbeitung qualitativer, sprachnaher (oder sprachlicher) Relationen von der Verarbeitung quantitativer, nicht-sprachlicher Distanzinformation unterscheidbar und zu unterscheiden ist. Nach den Untersuchungen Sergents (1991) ist es jedoch unplausibel anzunehmen, daß getrennte (und sogar in unterschiedlichen Gehirnhälften angesiedelte) Module für kategorische und Koordinaten-Relationen vorliegen. Aus diesem Grund vertritt Kosslyn gegenwärtig keine absolute laterale Spezialisierung mehr und bemüht sich, diesen (neuen) Standpunkt deutlich zu machen: „[...] let me try to be absolutely unambiguous: The claim is not that the hemispheres have absolute specializations, with one encoding categorical and the other encoding coordinate spatial representations. Rather, the claim is that the hemispheres differ in their relative efficacy of encoding the different sorts of representations" (Kosslyn 1994:418). Auch die suggerierte „Sprachlichkeit" mußte angesichts der Lernbarkeit neuer kategorischer Relationen korrigiert werden: „The left hemisphere apparently developed a new categorical spatial relation during the course of the task. This representation is preverbal. Indeed, this kind of perceptual category logically must come before a label can be applied" (Kosslyn 1994:202). Nichtsdestotrotz existieren charakteristische Unterschiede kategorischer und Koordinaten-Relationen, die sich an ihrer Verwendbarkeit für aufgabenspezifische Verarbeitung orientieren: Während die Ausführung konkreter Handlungen im Raum (Navigieren, Greifen usw.) spezifische Rauminformation erforderlich macht, ist dieselbe Information für höhere kognitive Prozesse (Planung, sprachliche Beschreibung) unwichtig und sogar hinderlich. Dies zeigt sich an der Dissoziierbarkeit „kognitiver" und „motorischer" räumlicher Relationen (Bridgeman 1993). Im Rahmen dieser Arbeit sind vor allem die „kognitiven" expliziten räumlichen Relationen relevant.

1

Diese Metapher entspricht in Kosslyns Modell dem Zusammenspiel mehrerer Komponenten.

124 6.1.2

Mikroperspektivierung: Die Etablierung expliziter räumlicher Relationen

Abb. 46a zeigt zwei Objekte, die in einer spezifischen räumlichen Relation zueinander stehen. Ohne Frage sind wir (ist unser kognitives System) in der Lage, diese Relation zur Kenntnis zu nehmen.

O

o

-

o.Vo· b. c. Abb. 46: Räumliche Relationen und Mikroperspektiven

Das fehlende „Pop-out" derselben Relation in Abb. 46b macht jedoch deutlich, daß das Vorhandensein der impliziten Relation nicht hinreichend für eine kognitive Verfügbarkeit ist, sondern daß - resultierend aus den Ergebnissen der Aufmerksamkeits- und Neglektforschung - erst Wechsel der Aufmerksamkeitszuwendung zwischen zwei Objekten zur Bildung entsprechend verfügbarer (expliziter) Relationen führen („Computing relations requires directing attention", Logan 1995:163). Dieser Aspekt findet kaum einen Niederschlag in gegenwärtigen Ansätzen zur Repräsentation räumlicher Relationen. Er wird dann sichtbar, wenn Personen mit intakten visuellen Arealen (aber offensichtlich mit objektbasiertem Neglekt) selbst in bezug auf Abb. 46a nur eines der beiden Objekte wahrnehmen, da ihr Aufmerksamkeitsfokus an einem der beiden Objekte „haften" bleibt (Behrmann/ Tipper, 1994). Abb. 46c veranschaulicht außerdem einen weiteren Aspekt der Bildung expliziter Relationen: Indem jeweils ein Objekt den Ursprung bzw. das Ziel eines Aufmerksamkeitswechsel darstellt, existieren prinzipiell zwei verschiedene explizite Relationen für eine implizite Relation! Anders und abstrakt formuliert existieren zwei unterschiedliche „Betrachtungsweisen" (Perspektivierungen) einer impliziten Relation. Da der Terminus „Perspektive" im räumlichen Bereich im wesentlichen mit der Betrachterperspektive assoziiert ist, werde ich im folgenden in bezug auf die Etablierung der expliziten Relationen von „Mikroperspektivierung" und in bezug auf die expliziten Relationen selbst von „Mikroperspektiven" sprechen. Die Vorsilbe „Mikro" erinnert zudem an die Phase der Mikroplanung in der Generierung sprachlicher Äußerungen, in der u. a. bildhafte Repräsentationen (mit impliziten Relationen) in ein explizites, propositionales Format überführt werden: „An important aspect of microplanning is to translate these images into prepositional form. [...] this translation necessarily implies the assignment of perspective." (Levelt 1989:153). Im Unterschied zu Levelt wird hier nicht nur der Formatunterschied betont, sondern zusätzlich die Rolle der Aufmerksamkeit für die Etablierung linearen Repräsentationen hervorgehoben. Mikroperspektiven - die Verschiebungen des Aufmerksamkeitsfensters (s. Kosslyn 1994, Talmy 1995) - bilden den Kern expliziter kognitiver (konzeptueller) räumlicher Relationen, die letztendlich z.B. als Präpositionen versprachlicht werden können.

125 6.1.3

Eigenschaften von Mikroperspektiven

Mögliche Argumente expliziter Relationen sind durch die Wirkungsweise fokussierter Aufmerksamkeit determiniert (nämlich durch die sukzessive Zuwendung auf herausstechende Diskontinuitäten als „odd men") und können im Bereich visueller Wahrnehmung als Repräsentationen visueller Objekte identifiziert werden. Dabei kann es sich um einen ,Blob' handeln, d. h. um ein Ganzobjekt, das sich als Figur vom Hintergrund abhebt (Abb. 47a) und als solche eine eigenständige Form aufweist. Mehrere solcher Blobs können zudem als Gruppe die Aufmerksamkeit auf sich ziehen (Abb. 47b).

Spotlight

Spotlight

Gruppe von Blobs (Figur)

Blob

a.

\wm

Spotlight

Grenze der figuralen Substanz

b.

Spotlight

Bcsircn/ter Hintergrund (Figur)

c. d. Abb. 47: Verschiedene Aufmerksamkeitsattraktoren

Eine markante Unterschiedlichkeit wird auch durch eine Grenze zweier oder mehrerer Regionen (vor allem durch eine Grenze zwischen einem Hintergrund und einer figuralen Substanz (Abb. 47c), aber auch zwischen nicht-figuralen Regionen) gebildet. Blobs nehmen dabei Raum ein, was für Grenzen strenggenommen nicht gilt. Lochartige Aufmerksamkeitsattraktoren (Abb. 47d) stellen deshalb einen Zwischenfall dar, da sie zwar als begrenzte Entität eine Diskontinuität darstellen, diese aber über die Begrenzung des Hintergrundes definiert ist. Solche Elemente spielen allerdings weniger eine Rolle für die Diskriminierung räumlicher Argumente als vielmehr für die Differenzierungen innerhalb einer räumlichen Ontologie, die im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter thematisiert werden.

126 Explizite Relationen kodieren zwei Typen von Transformationen der Aufmerksamkeitszuwendung: Positionsvariation des Aufmerksamkeitsfokus (.Scanning') sowie Skalierungsvariation an der Position des Aufmerksamkeitsfokus (.Zooming'). Scanning ist dabei als die komplexere der beiden Transformationen anzusehen. So schreibt Kosslyn in bezug auf dessen Eigenschaften im Bereich der Imagery: „Scanning short distances can be achieved by shifting the attention window; scanning longer distances requires an image transformation. When longer distances are scanned, one visualizes what one would see if one shifted one's eyes, head, or body in a certain way" (Kosslyn 1994:386). Zooming hingegen besteht ausschließlich in einer Veränderung der „Auflösung" an einer modalitätsspezifischen Position. Räumliche Aufmerksamkeit wechselt zwischen auf in unterschiedlicher Weise (visuell, haptisch usw.) wahrgenommenen und in modalitätsspezifischen Kodes repräsentierten Objekten. Dies führt dazu, daß - wie von Bryant (1992) und anderen vorgeschlagen - das räumliche Repräsentationssystem als intermodal zugänglich oder multimodal aufgefaßt werden muß und somit als Teil des nicht-sprachlichen konzeptuellen Systems angesehen werden kann. Auf dieser konzeptuellen Ebene wirkt sich die inhärente Asymmetrie der Mikroperspektiven aus: eines der beiden Argumente (Ursprung/Source bzw. Ziel/Goal) einer expliziten Relation kann in einem spezifischen Verarbeitungskontext als das thematisierte Objekt ausgezeichnet sein, so daß das jeweils andere Argument die Rolle des Referenzobjekts annimmt. Aufgrund der Asymmetrie expliziter Relationen ergibt sich eine Subklassifizierung danach, welches der beiden Argumente welche Rolle annimmt. Ich werde diese Rollenverteilung im folgenden als die Referenzpolarität einer expliziten Relation bezeichnen: Eine Relation ist positiv-referenzpolar (+RefPol), wenn das Goal der Relation die thematische Rolle einnimmt, sie ist negativ-referenzpolar (-RefPol), wenn das SourceArgument thematisiert ist.

6.1.4

Formale Modellierung von Mikroperspektiven

Die formale Modellierung expliziter räumlicher Relationen basiert auf einer Formalisierung der Zuwendung räumlicher Aufmerksamkeit auf Bereiche der „map of locations", und zwar in Abhängigkeit von den Eigenschaften assoziierter Merkmalskarten. Für die Repräsentation der räumlichen Basisdomäne eignet sich der raumpunktbasierte Ansatz, der einer „Pixelisierung" eines zweidimensionalen Raumausschnitts entspricht (wie sie z.B. in konnektionistischen Modellierungen im Bereich visueller Kognition und Aufmerksamkeit vorgenommen wird, s. z.B. Mozer/Sitton 1998). Die Pixel sind jeweils in einem der (visuell-) räumlichen Koordinatensysteme verankert und konstituieren außerdem unterschiedliche Ebenen räumlicher Auflösung bzw. Granularität. Aufmerksamkeitsbereiche (regions of attention, ROA) lassen sich vor diesem Hintergrund als zusammenhängende Pixelmengen, d.h. als Elemente der Potenzmenge der Raumpunktmenge L, darstellen. Aus den in Kap. 4 diskutierten Phänomenen der Aufmerksamkeit folgt, daß relevante Aufmerksamkeitsbereiche prozedural über die Attraktion fokussierter räumlicher Aufmerksamkeit (focused spatial attention, fsa) auf Diskontinuitäten in der map of locations definiert

127 werden, jeweils zu einer Zeit t und abhängig von der Vorverarbeitung visueller Merkmale (aus einer Anzahl von mit L assoziierten Merkmalskarten (feature maps,_/m,), s. (1)). (1)

ROA:

{ l e ? ( L ) I 3t 1 = fsa(fm 1 (L,t),...,fm n (L,t))}

Gemäß der Theorie Palmer/Rocks besteht diese Vorverarbeitung einerseits aus der Bildung von Regionen uniformer visueller Eigenschaften und andererseits aus der Markierung dieser Regionen als zum Vordergrund oder Hintergrund gehörig. Objekttoken (object files) nach Kahneman et al. entsprechen dann episodischen Repräsentationen, die aus so vorverarbeiteter Information an der Stelle des jeweiligen Aufmerksamkeitsbereichs gebildet werden (2). (2)

OT: {x I 31 e ROA 3t [χ = tokenize(fm,(l,t)

fm„(l,t))])

Die Etablierung expliziter räumlicher Relationen durch Aufmerksamkeitswechsel (ATTENTIONAL_CHANGE) kann auf dieser Grundlage durch die Definition der Relationen shift, zoom_in und zoom_out (mit SHIFT, Z O O M J N , ZOOMJDUT C ROA X ROA) ausgedrückt werden ((4)-(6), basierend auf der Definition des „Ortes" eines Objekttokens in (3)). (3) (4)

place(x) =def shift(r, 11,12) =def

(5)

zoom_in(r, 11,12) =def

(6)

zoom_out(r, 11,12) =def

il [x = tokenize(fm,(l,t),.. .,fm„(l,t))] inst(r, SHIFT) & 11 = first(r) & 12 = second(r) & 11 * 12 inst(r, Z O O M J N ) & 11 = first(r) & 12 = second(r) & scale(ll) > scale(12) inst(r, ZOOM_OUT) & 11 = first(r) & 12 = second(r) & scale(ll) < scale(12)

Sie erfolgt in unterschiedlichen (retinabasierten, objektzentrierten, betrachterzentrierten etc.) Koordinatensystemen. Ähnlich den Abmessungen räumlicher Objekte werden explizite räumliche Relationen bzgl. ihres Verlaufs entlang salienter Achsen (der Vertikalen, der Betrachterachse und der lateralen Achse) kategorisiert (SPATIAL_CATEGORIZATION(r)). Unterschiede expliziter räumlicher Relationen ergeben sich aber nicht nur aus dem Typ der AufmerksamkeitsWechsel, sondern auch aus der räumlichen Kategorisierung der beteiligten Entitäten (SPATIAL_CATEGORY(x)). Wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt lassen sich die Objekttoken anhand ihrer Begrenztheitscharakteristika (und ohne Bezug auf konzeptuelle Repräsentationen) klassifizieren. Diese Klassifikation wird durch entsprechende sortale Prädikate (BLOB(x), BOUNDARY(x), BLOBS(x), HOLE(x)) dargestellt. Von besonderem Interesse sind dabei die Kategorien BLOB und BOUNDARY, deren Kontrast in der Literatur bislang kaum beachtet wurde, im weiteren aber als unterscheidendes Merkmal in der Semantik räumlicher Ausdrücke relevant werden wird. Im Zuge der Objekterkennung werden räumliche Objekte zudem konzeptuell kategorisiert. Insofern sich die Objekttoken einer räumlichen Relation unterscheiden, liegt auf der konzeptuellen Ebene ein objektbasierter Aufmerksamkeitswechsel vor (7).

128 (7)

ATTENTIONAL_CHANGE(r, 11,12) & place(x)=l 1 & place(y)=12 & x*y -> shift(cr,x,y)

J e nachdem, ob das Ziel (thema(x)) oder der Ursprung einer Mikroperspektive (thema(y)) thematisiert ist, handelt es sich j e w e i l s um eine positiv- oder negativ-referenzpolare Relation. (8) ist ein allgemeines S c h e m a für die Repräsentation expliziter räumlicher Relationen.

]

ATTENTIONAL_CHANGE(r, 11,12) & SPATIAL_CATEGORIZATION(r) & & place(x)=l 1 & place(y)=12 shift(cr, x, y) & & SPATIAL_CATEGORY(x) SPATIAL_CATEGORY(y) & (aRefPol) [ theme(x) ν theme(y) ]

Weiter unten werde ich zeigen, wie in der Semantik sprachlich räumlicher Relationen auf Instanzen dieses Schemas B e z u g genommen wird.

6.2

6.2.1

Sprachlich räumliche Relationen

Eigenschaften sprachlich räumlicher Relationen

Die in K a p . 2 und 3 vorgestellten Ansätze zur Charakterisierung sprachlich räumlicher Relationen zeichnen sich durch d a s Bestreben aus, der Semantik räumlicher Ausdrücke eine formale Grundlage zu verschaffen. 2 Dies ist wünschenswert, gleichzeitig aber kein Garant für korrekte Analysen, wie ich im folgenden anhand der Annahmen des Lokalisierungsansatzes zeigen werde. Erstens. Für die Darstellung der Beziehung sprachlicher Ausdrücke zu ihren Denotaten in der Welt sind formale Semantiken grundsätzlich als Abbildungen sprachlicher Formen in Strukturen der Mengentheorie charakterisierbar. Diese Abbildung erfolgt gemäß dem Vorschlag Bierwischs (1983, 1987) in doppelter Hinsicht zweistufig. Zum einen vermittelt eine nicht-sprachliche Ebene (die konzeptuelle Struktur, s. auch Bierwisch/Lang 1987a) zwischen Sprache und Welt. Z u m anderen erfolgt zunächst eine Überführung eines sprachlichen Ausdrucks in eine sprachspezifische semantische Repräsentation (dargestellt durch eine semantische Notation, s. (9)), danach eine Interpretation des semantischen Ausdrucks in modelltheoretisch konstruierten konzeptuellen Repräsentationen (d.h. in Ausdrücken der Mengentheorie, s. (10)). (9)

2

über -> Xy λχ [ LOC(x, ÜBER*(y)) ]

Dies war ein wesentliches Selektionskriterium angesichts der Vielzahl an Arbeiten zu dieser Thematik.

129 (10)

λy λ χ [ LOC(x, ÜBER*(y)) ] ->

Xy λχ [ π(χ) ç u ü b e r ( y ) ]

Eine solche Vorgehensweise zeigt insbesondere dann Vorteile und ist dann ausreichend, wenn die Modellierung der Kompositionalität sprachlicher Strukturen (im Rahmen von Satz- oder Diskurssemantiken) im Vordergrund steht. Die Semantik räumlicher Ausdrücke (als Teilbereich der lexikalischen Semantik) erfordert hier jedoch eine genauere Betrachtung: Werden die Entitäten des formalen Basisinventars (ζ. B.: Mengen von Raumpunkten) für die Modellierung einer kognitiv-räumlichen Domäne verwendet, so werden offensichtlich nur die Eigenschaften eines intrinsisch-räumlichen Formats modelliert. Dies wiederum ist nicht damit vereinbar, daß sprachlich räumliche Relationen auf expliziten nicht-sprachlichen räumlichen Relationen beruhen. Zweitens basiert der Lokalisierungsansatz wesentlich auf dem Regionsbegriff. Dieser ist zwar formal eindeutig interpretierbar, aber inhaltlich äußerst unterbestimmt. Wie in Kap. 3 ausgeführt, ist nicht geklärt, welche Regionen als kanonisch (konzeptuell primitiv, universal) anzusehen sind (ζ. B. die PROX- oder die DIST-Region) und welche als sprachlich induziert aufgefaßt werden müssen. Entsprechend läßt sich die Frage stellen, ob Regionen als Einheiten einer konzeptuellen oder sprachlichen Ontologie zu betrachten sind, oder ob sie jeweils den Akzeptabilitätsbereich3 einer sprachlichen Relation darstellen. In bezug auf kanonische Regionen (soweit sie existieren) bleibt offen, in welcher Weise sprachliche Ausdrücke auf sie bezogen werden. Soll entfernen ζ. B. einen Wechsel zur Lokalisierung des Themas in der DIST-Region ausdrücken, so ergeben sich Probleme mit Sätzen wie (11), wo das Thema eindeutig in der PROX-Region lokalisiert bleibt. (11)

Ich hatte mich erst 10m vom Haus entfernt, als plötzlich Flammen aus dem Dachfenster schössen

Genauso kann man sich einem Ziel „nähern", ohne ihm „nahe" zu kommen (bzw. in der PROX-Region lokalisiert zu werden). Bei der Betrachtung anderer Beispiele (Knoten im Schnürsenkel) wird deutlich, daß einem Objekt post hoc Regionen zugewiesen werden müssen, um der Lokalisierungsrelation gerecht zu werden. Die V e r w e n d u n g konstruierter Regionen in der Raumsemantik ist eine Problemverschiebung: Obwohl die inhaltliche Charakterisierung einer Region wesentlich f ü r die Semantik der entsprechenden sprachlichen Relation ist, wird sie nicht zufriedenstellend durchgeführt (auch deswegen, wie ich versucht habe zu zeigen, weil sie nicht durchgeführt werden kann). Dies läßt sich im Extremfall als eine moderne Form der Markerese ansehen, trotz oder gerade wegen der von W e r n e r (1985:503) geforderten Fundierung in einer „Sprache der Mathematik" (vgl. hierzu auch Carstensen 1995a). Drittens. Sprachlich räumliche Relationen dienen der Vermittlung von Lageinformation, durch die die räumliche Position eines Objekts durch dessen relative räumliche Beziehung zu anderen Objekten angegeben wird. Der Lokalisierungsansatz verwendet hierfür per nominem den Begriff der Lokalisierung (zu einer Alternative s. den folgenden Abschnitt). 3

Die Berücksichtigung eines solchen Akzeptabilitätsbereichs in der Semantik würde eine metatheoretische Formalisierung der Vagheit räumlicher Ausdrücke bedeuten, die ich an anderer Stelle bereits als ζ. B. im Vergleich zur Semantik von Ereignisausdrücken idiosynkratisch bezeichnet habe. Es würde außerdem ungerechtfertigterweise eine spezifische Formalisierung des allgemeinen Problems sprachlicher Kategorisierung darstellen.

130 In bezug darauf, und insbesondere vor dem Hintergrund weiterer hier angeführter kritischer Punkte, läßt sich jedoch die Frage stellen, warum sprachlich räumliche Relationen schematisch nicht wie in (12), sondern offenbar wie in (13) - und somit erheblich komplexer repräsentiert werden. (12) (13)

\ y λχ [RÄUMLICHE_RELATION(x, y)] λy λχ [ LOC(x, REG(RÄUMLICHE_RELATION(x, y))) ] 4

Eine Antwort hierauf könnte in der Notwendigkeit der inhaltlichen Kennzeichnung der Theta-Rollen bestehen, die durch die ,LOC'-Relation geleistet wird: Eines der beiden Objekte muß als das ,zu lokalisierende Objekt' (LO), das andere als das .Referenzobjekt' (RO) erkennbar sein. Diese Argumentation trifft jedoch aus folgendem Grund nicht zu. Semantisch werden diese Rollen bereits durch die Argumentstruktur vergeben: Aufgrund der funktionalen Schachtelung der Lambda-Operatoren ist das innere, .externe', Argument eindeutig als das Thema der lokalen Relation, das äußere, .interne', Argument entsprechend als das Referenzobjekt identifizierbar. Diese semantische Asymmetrie muß also nicht notwendigerweise inhaltlich charakterisiert und auf der konzeptuellen Ebene kodiert werden. Konzeptuell ist von einer in der räumlichen Domäne instantiierten Thema/Relatum-Asymmetrie auszugehen. Einer solche Auffassung scheint Pribbenow zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Eines der beiden Objekte wird als Referenzobjekt RO, das andere als zu lokalisierende Entität LE konzeptualisiert" (Pribbenow 1993:60). Auch wenn hier unklar bleibt, was unter der „Konzeptualisierung als LO/RO" zu verstehen ist, wird doch deutlich, daß eine solche Konzeptualisierung weder Regionenbildung noch LOC-Relation erfordert. Entsprechend ist das Vorliegen einer RÄUMLICHEN_RELATION sowie die Zuordnung der konzeptuellen und semantischen Rollen hinreichend für die Charakterisierung sprachlicher Lokalisierung. Notwendig ist die Wahl eines Themas, dessen Ort durch eine räumliche Prädikation charakterisiert wird. Dieses Thema ist entweder durch eine Frage vorgegeben („Wo ist x?") oder muß für die Beschreibung räumlicher Konstellationen angemessen bestimmt werden. Hier werden die oft zitierten konzeptuellen Unterschiede von Thema als „Figur" und Relatum als „Grund" relevant: Das Relatum sollte - um die Charakterisierung für den Hörer leicht nachvollziehbar zu machen 5 - bekannter oder prominenter als das Thema sein. Eine Spezifizierung des Prominenzunterschiedes findet sich bei Li (1994:116), die als (14) wiedergegeben ist. (14)

4 5

y ist a. b. c.

prominenter als x, gdw. y unbeweglich und χ beweglich; y größer als x, wenn y und χ beide unbeweglich; y größer als x, wenn y und χ beide beweglich.

Vgl. auch Asher/Sablayrolles (1995) und s. die Anmerkung zur Akzeptabilitätsregion. Die Nachvollziehbarkeit kann einerseits von kognitiven Aspekten wie der Einfachheit des Aufbaus eines mentalen Modells beim Hörer, aber auch durch sprachliche Kohärenzstrategien (dem Beibehalten eines Objekts als Thema oder der Alt-/Neu-Strategie (sukzessive Ersetzung des Themas als Relatum)) erreicht werden (vgl. Herrmann/Grabowski 1994:1170-

131 Viertens sind die meisten Ansätze zu sprachlich räumlichen Relationen interpretativ konzipiert (und lassen so Aspekte der Sprachgenerierung unberücksichtigt). Dies bedeutet, daß die LOK-Relationen aus Sicht der Verifizierbarkeit zwar hochgradig plausibel sind, da sie ein Entscheidungskriterium für die Gültigkeit der entsprechenden sprachlich räumlichen Relationen darstellen. Aus Sicht der Sprachgenerierung („Wie wird eine Lagebeziehung kategorisiert und verbalisiert?") bleibt allerdings die Frage nach den Auswahlkriterien für eine situationsangemessene Beschreibung offen. Fünftens. Die Argumentstruktur sprachlich räumlicher Relationen weist der gängigen Analyse nach zwei Argumente (für das LO und das RO) auf und verfügt somit nicht über ein eigenständiges referentielles Argument. Hierdurch wird die Beobachtung bestätigt, daß durch die Lokalisierungsrelation eine implizite räumliche Relation ausgedrückt wird, im Gegensatz zu einer expliziten Relation, für die ein eigenständiger (mentaler) Vertreter existiert. (15)

λ χ [ L(x) ] modifiziert durch Xy [ D(y) ]

->

λχ [[ L(x) ] : [ D(x) ]] 6

Dies erweist sich allerdings angesichts der Kombinatorik von Lokations- und Distanzausdrücken, in der letztere erstere modifizieren, als problematisch: Da die Modifikation einer sprachlich räumlichen Relation durch eine Distanzangabe nach dem Schema (15) erfolgt (s Bierwisch 1988) und die unifizierte Variable durch das Thema (LO) als externem Argument der semantischen Formen instantiiert wird, ergeben sich sich zwei separate Prädikationen bzgl. des Themas, so daß die spezifischen Kompatibilitätsphänomene (ζ. B. §weit bei) nicht erklärt werden. Da die Prädikationen einander extensional nicht ausschließen müssen (70 cm weit und bei), hilft auch die Annahme einer nicht-kompositionalen Interpretation (auf der konzeptuellen Ebene) nicht weiter.

6.2.2

Vermittlung von Lageinformation ohne explizite Lokalisierung

Für die Herleitung einer Alternative zum Lokalisierungsansatz ist es notwendig, die Möglichkeit einer Vermittlung räumlicher Lageinformation, die nicht auf der Lokalisierungsrelation beruht, zu betrachten. Wie erwähnt basiert der Lokalisierungsansatz darauf, daß der Ort des LO durch sein Enthaltensein in einer Region charakterisiert wird. Dabei besteht im Bereich der Raumsemantik einhelliger Konsens darüber, daß das RO als Referenz- oder Ankerpunkt bei der Lokalisierung dient, indem es bestimmte Regionen zur Verfügung stellt bzw. als Ansatzpunkt für deren Bildung dient. 7 Implizit enthält dieser Ansatz in bezug auf die Vermittlung von Lageinformation somit die Annahme, daß der Hörer die Lokalisierungsrelation als „Suchanweisung" auffassen kann. Eine solche Vorstellung von Regionen als „Suchdomänen" (für den Ort des LO) ist - in Anlehnung an Miller/Johnson-Laird (1976) - von Pribbenow expliziert worden, die zudem weitere Aspekte dieser Suche (Auswahl·, Abgrenzungs- und Priorisierungsfaktoren für die Einschränkung der Suchgebiete) spezifiziert und implementiert. Sowohl in dieser prozeduralen Interpretation (Suche nach 6

7

,:' entspricht nach Bierwisch (1988) einer restriktiven konjunktiven Verknüpfung mit der Bedeutung „so daß". Auch in den Arbeiten Logans wird das RO stets als das zentrale Objekt aufgefaßt.

132 LO erfordert die Bildung einer Region bzgl. des RO) als auch bzgl. der deklarativen Variante (Lokalisierung des LO setzt die Existenz einer Region bzgl. des RO voraus) liegt somit die bereits angesprochene inhaltlich determinierte LO/RO-Asymmetrie vor, die im Rahmen des Lokalisierungsansatzes motiviert und gerechtfertigt ist und insgesamt äußerst plausibel erscheint. Sie basiert jedoch wesentlich auf der Annahme einer uniformen, „absolut" gegebenen räumlichen Domäne, in der die Position des LO relativ zu einem Referenzobjekt bestimmt werden muß (da kein absolutes Referenzsystem gegeben ist), und weiterhin auf der Annahme, daß genau diese Information sprachlich vermittelt werden muß. „Kognitive" Versionen dieses Ansatzes gehen von Lokalisierung in einer mentalen intrinsisch-räumlichen Domäne (Depiktionen bei Pribbenow, „Situationsmodelle" bei Morrow/Clark 1988) aus. Die Vermittlung von Lageinformation dient hier der Etablierung einer aktualen mentalen Struktur beim Hörer und ist in den Kontext allgemeiner Annahmen und Prinzipien der Kommunikation eingebettet 8 . Allerdings beruhen auch diese Ansätze auf der LO/RO-Asymmetrie, so daß sie erhebliche Probleme in bezug auf die Skalierung der Strukturen (—» Welchen Maßstab muß der Hörer bei der Instantiierung ansetzen?) bzw. auf die Kriterien für die Regionenbildung (—» Welchen räumlichen Skopus weisen Regionen in einem bestimmten Maßstab auf?) oder die Unterscheidung spezifischer Regionen (vgl. oben die Probleme der Abgrenzung von AN- und BEI-Regionen) aufweisen. Morrow/Clark gehen in ihrer empirischen Untersuchung zum Verb approach (sich nähern) davon aus, daß dieses Verb das Eintreten des Themas in die ,region of interaction' des Relatums ausdrückt. Dabei stellten sie fest, daß die Größe dieser Region in Abhängigkeit der in (16) aufgezeigten Einflußgrößen variiert. (16)

Größe des Themas: Größe des Relatums: Schnelligkeit des Themas: Absicht:

A tractor (vs. a mouse) is approaching the fence A nun is approaching the cathedral (vs. a statue) The quarterback has just sprinted (vs. walked) onto the field from the goal line A game warden is just approaching a lion with a rifle (vs. with a hyperdermic needle)

Ihr Schluß hieraus in bezug auf die sprachliche Vermittlung von Lageinformation ist, wie sie selbst einräumen, einfach: „Our conclusion, then, is simple: The denotation of a word is what the listener infers it has to be in order to fit the situational model that the speaker intended the listener to create" (Morrow/Clark 1988:289). Prinzipiell läßt sich eine Alternative zum Lokalisierungsansatz konzipieren, die das Ergebnis Morrow/Clarks konkretisiert, indem neben allgemeinen Aspekten eines kognitiven Systems (Langzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit) die Unterscheidung impliziter und expliziter räumlicher Relationen sowie relevante (Kommunikations-)Prinzipien berücksichtigt werden. Eine erste und sehr allgemeine Konzeption dieser Alternative beruht auf der Annahme, daß die Präsentation einer Objektkonstellation im Arbeitsgedächtnis („working memory", spezifischer: im „visuo-spatial scratchpad", s. Baddeley 1992) die Grundlage für sprachliche Lokalisierung darstellt. An einem hypothetischen Beispiel für eine einfache räumliche Relation soll verdeutlicht werden, daß in dieser alternativen Konzeption - ich nenne sie im folgenden die .Lokalisierung als mentale Präsentation'

8

S. die .Uniqueness'-,,Contrastive'- und .Salience'- Annahmen bei Morrow/Clark (1988:277).

133 (LamP)-Konzeption - die Probleme des Lokalisierungsansatzes weitgehend vermieden werden. Wesentlich ist zunächst die Zuordnung der räumlichen Relationen zu den Systemkomponenten: Implizite Relationen existieren zwar, aber nur in dem räumlichen Medium des Arbeitsgedächtnisses. Explizite Relationen müssen im Kurzzeitspeicher instantiiert bzw. durch entsprechende Prozesse gebildet werden, wo ein Abgleich mit semantischen Spezifikationen vorgenommen werden kann . Hierdurch wird einerseits externer Raum nur lokal durch ein intrinsisch-räumliches Format repräsentiert. Andererseits verfügt das System über (explizites) räumliches Wissen. Wesentlich ist weiterhin, daß die Darstellung einer konkreten räumlichen Relation durch die Positionierung der beteiligten Objekte im Arbeitsgedächtnis geschieht, und zwar abhängig von der in der expliziten räumlichen Relation spezifizierten Art und Weise. Hierbei ist entscheidend, daß Menschen - wie Kosslyn (1978) gezeigt hat - Wissen über typische Objektgrößen (und dem entsprechenden Maßstab in mentalen Bildern) haben und dieses Wissen z.B. f ü r distanzabhängige Skalierungen flexibel einsetzen können (s. auch Cave/Kosslyn 1989). Die Vermittlung von Lageinformation ist in der LamP-Konzeption daher von zwei Prinzipien geleitet: Einem Konzeptualisierungsprinzip (17), das die Instantiierung einer Relation im Arbeitsgedächtnis regelt und so die Voraussetzung für die Konstruktion eines adäquaten (nicht-beliebigen) Modells beim Hörer schafft 9 und einem Lokalisierungsprinzip ((18), s. hierzu auch Li 1994:117), das die Auswahl eines geeigneten Relatums und somit einer angemessenen Relation regelt. (17)

Konzeptualisierungsprinzip: Beide Argumente einer im räumlichen Medium instantiierten Relation müssen gleichzeitig in dieses Medium passen und entsprechend „sichtbar" (d. h., als Instanzen ihres Typs kategorisierbar) sein. Hierfür ist gegebenenfalls das Medium angemessen zu skalieren. Die Positionierung der Objekte in dem Medium wird durch Wissen über die Objektgröße sowie typische Beziehungen zu anderen Objekten beeinflußt.

(18)

Lokalisierungsprinzip: Das LO ist nur in Relation zu dem am nächsten befindlichen prominenten (d. h. im jeweiligen Kontext relevanten) Objekt zu lokalisieren.

Auf diese Weise erfolgt die Charakterisierung räumlicher Lage größtenteils indirekt durch das Zusammenspiel qualitativ repräsentierter Aspekte von Raum und einem räumlichen M e d i u m mit metrischen E i g e n s c h a f t e n (intrinsisch-räumliche Repräsentation). Dies wiederum erlaubt den Verzicht auf den informationsreichen (durch direkte, intrinsischräumliche Darstellung realisierten) Lokalisierungsbegriff, und zwar auch deshalb, weil der Hörer die beiden Prinzipien bei der Konstruktion seines mentalen Modells der Relation verwenden kann. Der Sprecher selbst antizipiert die Eigenschaften des vom Hörer aufgebauten Modells im Rahmen des „monitoring" bei der Sprachproduktion (Selbstanalyse seines eigenen Modells, vgl. Levelt 1989). Dadurch reduziert sich die Vermittlung von

9

Sollte also die explizite Relation nicht schon hinreichend spezifische Information liefern, so stellt dieses Prinzip eine zentrale Beschränkung dar.

134 Lageinformation auf die sprachliche Übertragung der expliziten räumlichen Relation anhand ihrer Benennung (sowie auf die ihrer Argumente). Die LamP-Konzeption kann als „hybrid repräsentationalistisch" bezeichnet werden. „Hybrid" deshalb, da sowohl extrinsisch-räumliche als auch intrinsisch-räumliche Repräsentationsformate verwendet werden. „Repräsentationalistisch" deshalb, weil die expliziten Relationen im Langzeitspeicher nicht - wie ζ. B. in dem Ansatz Pribbenows - als Repräsentanten regionskonstituierender Funktionen aufzufassen sind und somit Lageinformation direkt kodieren, sondern Aspekte der im Arbeitsgedächtnis instantiierten Lageinformation darstellen, die sich wiederum erst aus dem Zusammenwirken der Komponenten des Repräsentationssystems ergibt. Die Wirkungsweise dieser Prinzipien läßt sich am Beispiel einer einfachen, hypothetischen sprachlichen Relation (nennen wir sie simplok) verdeutlichen. Gehen wir davon aus, daß simplok die explizite Relation (19) ausdrückt, durch die das Hinzufügen eines Objekts y zu einem Objekt χ im Arbeitsgedächtnis - wobei y vollständig sichtbar sein soll - charakterisiert ist. Mithilfe dieser sprachlichen Relation läßt sich jetzt die Frage in (20a) auf einfache Weise ζ. B. durch die Antworten (20b-d) beantworten. (19)

simplok·.

λy λχ [whol)y_visible(x) & add_to_WM(y) & wholly_visible(y)]

(20)

a. b. c. d.

ist die Lupe? Lupe ist simplok des Notebooks. Lupe ist simplok des Bleistifts Lupe ist simplok der Tanne

Wo Die Die Die

Abb. 48 zeigt beispielhaft den anzunehmenden Zustand des (visuell-)räumlichen Mediums bei dem Fragestellenden. Die Abbildungen 49a-c veranschaulichen die gemäß der in (19) beschriebenen sprachlichen Relation anhand des Konzeptualisierungsprinzips vorgenommenen Instantiierung der durch (20b-d) angegebenen Lageinformation in diesem Medium. Der Fragestellende geht dabei davon aus, daß der Antwortende sich kooperativ verhalten und das Lokalisierungsprinzip nicht verletzt hat. Entsprechend kann er erwarten, daß die Ausdrücke nicht Konstellationen beschreiben, in denen saliente Objekte - wie in Abb. 50ac dargestellt - intervenieren.

Abb. 48: Mentale Vorstellung eines Objekts in typischer Größe

135

a. b. c. Abb. 50: Beispiele für die Verletzung des Lokalisierungsprinzips

Die mit der hypothetischen sprachlichen Relation simplok gebildeten Beispiele verdeutlichen somit folgendes. Erstens kann räumliche Lageinformation sprachlich vermittelt werden, ohne daß, im Unterschied zur Lokalisierungsrelation, direkt räumliche Lageinformation spezifiziert wird (d. h., ohne daß die Konstrukte ,Region' und .Lokalisierung in einer Region' benötigt werden). Dem Hörer ist klar, daß die Lupe nicht (ζ. B.) „unter dem Schreibtisch", „auf dem Bücherbord" oder „in der Garage" ist, sondern in jedem Fall in der Nähe der angegebenen Referenzobjekte (wie sie ζ. B. durch bei ausgedrückt wird). Dieses beruht auf seinem Wissen über Objekteigenschaften und über typische (funktionale) Beziehungen zwischen Objekten. Ersteres ist u. a. Wissen darüber, daß Lupen aufgrund ihrer Substanzeigenschaften normalerweise nicht in der Luft schweben und so als auf der jeweiligen Grundlage befindlich vermutet werden können (Schreibtischoberfläche in Abb. 49a und 49b, Erdoberfläche in Abb. 49c). Letzteres läßt sich daran verdeutlichen, daß bei der Aussage „Die Lichterkette ist simplok der Tanne" das LO per default „ a u f der Tanne positioniert würde. Diese Aspekte indirekter Lageangabe zeigen, daß die Vermittlung von Lageinformation wesentlich auf dem Wirken gedächtnisintensiver Prozesse basiert, wodurch eine inhaltliche Überfrachtung sprachlich räumlicher Relationen vermieden werden kann.

136 Zweitens wird trotz der indirekten Lageangabe relativ spezifische räumliche Information vermittelt. Dies resultiert aus dem Zusammenspiel des Konzeptualisierungsprinzips mit dem Wissen über typische Objektgrößen, durch das eine wirksame Beschränkung der möglichen Distanz zwischen den Objekten erreicht wird. 10 Drittens muß in der LamP-Konzeption die Ungenauigkeit der Lageangabe nicht expliziert werden. Sie ist vielmehr eine grundlegende Eigenschaft mentaler Vorstellungen, die anhand kategorischer (vs. sensorischer) Informationen gebildet werden. Viertens ist eine durch die LOC-Relation hergestellte LO/RO-Asymmetrie kein notwendiger Bestandteil der Vermittlung von Lageinformation. Im Fall der Relation simplok wird die Position des LO nicht relativ zum RO angegeben, sie ergibt sich stattdessen aus der Hinzufügung des ROs zum LO im räumlichen Arbeitsgedächtnis. Fünftens wirkt das RO aufgrund des Lokalisierungsprinzips direkt auf die Beschränkung der Lokalisierung ein und dient so nicht nur als Zentrum/Ausgangspunkt eines Lokalisierungsgebiets, das im Hinblick auf den Einfluß möglicher anderer Referenzobjekte (als konkurrierender Objekte') nachfolgend begrenzt werden muß. Das Zusammenwirken des Lokalisierungs- und des Konzeptualisierungsprinzips verhindert daher die Verwendung von (20b-d) in bezug auf die in Abb. 50 dargestellten Konstellationen. Insgesamt zeigen die allgemeinen Erörterungen und konkreten Beispiele, daß die LamPKonzeption der Vermittlung von Lageinformation eine plausible Alternative zum Lokalisierungsansatz darstellt. Sie ist jedoch in mehrerer Hinsicht zu modifizieren: Zunächst basiert die zu Beispielzwecken verwendete hypothetische sprachlich räumliche Relation direkt auf Operationen über dem Arbeitsgedächtnis und veranschaulicht so nur die mögliche, möglicherweise aber nicht verallgemeinerbare, Repräsentierbarkeit räumlicher Konstellationen ohne den Lokalisierungsbegriff (ich werde weiter unten sprachlich räumliche Relationen als auf aufmerksamkeitsbasierten expliziten Relationen beruhend modellieren). Ebenso läßt sich fragen, wie von dieser hypothetischen Relation auf die Eigenschaften existierender, sicherlich spezifischerer, sprachlich räumlicher Relationen gefolgert werden kann. Tatsächlich verkörpert simplok den Fall einer sehr einfachen, allgemeinen Relation, die nur auf dem Wissen über die (relativen Lage-)Eigenschaften der beteiligten Objekte beruht. Allerdings weisen bestimmte natürliche Sprachen offenbar solche Relationen auf (wie ich weiter unten für die Präpositionen an und bei zeigen werde). Die Erörterung des Konzeptualisierungs- und Lokalisierungsprinzips macht deutlich, daß dies eine mögliche und sinnvolle Weise sprachlicher Lokalisierung ist.

6.2.3

Der LamP-Ansatz sprachlicher Lokalisierung

Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen sollen explizite räumliche Relationen als die Kerne sprachlich räumlicher Relationen betrachtet werden. Explizite Relationen sind, wie erwähnt, nicht auf eine LO/RO-Unterscheidung festgelegt (das heißt, das Ursprungsobjekt des Wechsels ist nicht notwendigerweise das Referenzobjekt der Relation). Eine solche Unterscheidung ergibt sich aber - und erst - , wenn, vor allem zum Zweck 10

Diese Spezifik wird insbesondere an den Unterschieden der zu den Abbildungen korrespondierenden Objektdistanzen deutlich: Die jeweiligen Beträge liegen bzgl. Abb. 49c im Meterbereich, bzgl. Abb. 49b im Zentimeterbereich.

137 sprachlicher Kommunikation, eines der Objekte konzeptuell als Thema ausgezeichnet wird, bezüglich dessen eine Aussage gemacht werden soll." Diese Eigenschaft spiegelt sich in den funktional geschachtelten semantischen Strukturen sprachlich räumlicher Relationen wider, in denen dem externen Argument die Rolle des Themas (d. h., des zu lokalisierenden Objekts LO) und dem zuerst abzubindenden internen Argument die Rolle des Relatums (d. h„ des Referenzobjekts RO) zukommt. Aus diesen analytischen Überlegungen folgt - und dies ist konträr zur Annahme des Lokalisierungsansatzes - die Existenz zweier genereller Typen sprachlich räumlicher Relationen, die vereinfacht in (21) dargestellt sind. (21)

a. b.

Xro λΐο [ATTENTIONAL_CHANGE(r, place(ro), place(lo)) & ...] Xro λΐο [ATTENTIONAL_CHANGE(r, place(lo), place(ro)) & ...]

(+RefPol) (-RefPol)

lo ist als externes Argument sowohl in (18a) als auch in (18b) das Thema, stellt im ersten Fall aber das Ziel, im zweiten Fall den Ursprung der expliziten Relation dar. Entsprechend repräsentiert (21a) eine positiv-referenzpolare sprachlich räumliche Relation, (21b) eine negativ-referenzpolare Relation. Während die Gerichtetheit des Aufmerksamkeitswechsel ein Charakteristikum einer nicht-sprachlichen Relation ist, markiert die LO/RO-Zuweisung also die Gerichtetheit einer sprachlich räumlichen Relation. Letzteres zeigt sich auf den ersten Blick und ohne Analyse zwar nicht in ihren Bezeichnern, den räumlichen Präpositionen (daher auch die „unidirektionale" Konzeption des Lokalisierungsansatzes). Ein sprachlicher Richtungsunterschied wird jedoch an den Distanzausdrücken (weit von, far from vs. §nahe von, close/near/next to usw.) sichtbar. Ich werde weiter unten zeigen, daß die Berücksichtigung der Referenzpolarität dazu verhilft, das Problem der Kombinatorik von Lokations- und Distanzausdrücken adäquat zu behandeln. Die Fundierung sprachlicher Relationen in aufmerksamkeitsbasierten expliziten Relationen hat nicht nur Folgen für ihre Repräsentation, sondern auch für ihre Verarbeitung. Entgegen der einfachen LamP-Konzeption werden die Argumente einer Relation nicht unbedingt als Ganzes und gleichzeitig im visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis positioniert, sondern es werden Aufmerksamkeitswechsel zwischen räumlichen Elementen angenommen, die weder als Ganzes (z.B. bei Fokus auf Begrenzung eines Objekts) noch gleichzeitig (z.B. im Falle des Zoomings) „sichtbar" sein müssen. Jenseits der Präsentation beider räumlichen Argumente während eines solchen „Views" lassen sich entsprechend sehr viel feinere Differenzierungen sprachlicher Relationen vornehmen. Der Aspekt der durch einen View gegebenen relativen „Gleichzeitigkeit" ist jedoch auch für eine erweiterte LamP-Konzeption wesentlich, da er die Aufmerksamkeitswechsel während einer Fixation erfaßt. 12 Weiter oben ist zwar die Existenz der unterschiedlichen Relationstypen in (21) prinzipiell aufgezeigt worden, ihre Relevanz für die Repräsentation und Verarbeitung sprachlich räumlicher Relationen blieb bislang jedoch im unklaren.

11

12

Mögliche thematische Objekte sowie eine Einschränkung möglicher Aussagen können wiederum durch im Kommunikationskontext gegebene Fragen („Quaestios") bestimmt sein, ζ. B. „Wo ist X?" (s. hierzu Klein/Stutterheim 1987). Es sei daran erinnert, daß Aufmerksamkeitswechsel nicht direkt an Fixationswechsel gekoppelt sind und insbesondere während einer Fixation stattfinden können.

138 N i m m t man aber an, d a ß das Ursprungsobjekt eines Aufmerksamkeitswechsels dasjenige ist, das fixiert wird und somit den M a ß s t a b des entsprechenden V i e w s bestimmt, so wird die Relevanz des qualitativen Unterschieds f ü r die LamP-Konzeption anhand der Skalierungsunterschiede deutlich: D a d a s R O typischerweise das größere (in j e d e m Fall das als Referenzobjekt funktional relevante) Objekt der Relation ist, bedingt eine positiv-referenzpolare Relation (initiale Fixierung des R O ) einen relativ großen M a ß s t a b (Abb. 51a). Dies kann bei einem erheblichen Größenunterschied von R O und L O dazu führen, daß das L O „nicht mehr sichtbar" b z w . „nicht maximal scharf gestellt" ist. Hierdurch würde aber die Rolle des L O als T h e m a der sprachlichen Relation sowie deren Funktionalität als lokale A n g a b e für das L O verletzt. Dies wird durch eine negativ-referenzpolare Relation vermieden, die eine initiale Fixierung des (kleineren) L O gefolgt von einem A u f m e r k s a m keitswechsel zum R O (auf dessen Teil/Begrenzung, s. Abb. 51b) repräsentiert. Abb. 51c stellt den Wechsel v o m L O z u m R O als Ganzobjekt dar, der bei annähernder Größengleichheit von L O und R O gegeben ist. Die Abbildungen 51b und 51c zeigen somit zwei Ausprägungen des „noticing" (d.h. hier die Fixierung des L O und die nachfolgende Z u r k e n n t n i s n a h m e des R O durch einen A u f m e r k s a m k e i t s w e c h s e l ) , die der Bildung einer positiv-referenzpolaren Lokalisierungsrelation prinzipiell vorangehen und die, repräsentiert als negativ-referenzpolare Relationen, selbst Lokalisierungsrelationen im Sinne der L a m P Konzeption darstellen.

BL

J

Bp «ß

a. b. c. Abb. 51: Einfluß des fokussierten Objekts auf die Skalierung der mentalen Vorstellung

Für die Aspekte der Skalierung des räumlichen M e d i u m s ist nach diesen Überlegungenein eigenes Prinzip anzusetzen, durch das geregelt wird, welcher initiale M a ß s t a b f ü r die räumliche Konzeptualisierung a u s g e w ä h l t werden m u ß (22). A u ß e r d e m ist das Konzeptualisierungsprinzip der e i n f a c h e n L a m P - K o n z e p t i o n bezüglich des R ü c k g r i f f s auf explizite räumliche R e l a t i o n e n s o w i e im H i n b l i c k auf die initiale M a ß s t a b s d e t e r m i n a t i o n zu revidieren (23). (22)

Prinzip der initialen Maßstabdetermination Der initiale Maßstab einer räumlichen Konzeptualisierung wird durch die typische Größe des Ursprungs-Arguments der expliziten räumlichen Relation im Zuge der Fixierung bzw. fokussierten Zuwendung von Aufmerksamkeit auf dieses Objekt bestimmt.

139 (23)

Revidiertes Konzeptualisierungsprinzip Die Argumente einer sprachlich räumlichen Relation werden gemäß der Vorgabe der entsprechenden expliziten Relation im räumlichen Medium instantiiert. Soweit nicht anders durch die explizite Relation festgelegt, müssen sie gleichzeitig in dieses Medium passen und entsprechend „sichtbar" (d. h., als Instanzen ihres Typs kategorisierbar) sein. Hierfür ist gegebenenfalls der initiale Maßstab zu verändern. Dabei ist zu gewährleisten, daß das LO als Thema der Relation maximal „scharf' gestellt ist (wiederum unter Bezug auf dessen typische Größe). D i e Positionierung der Objekte wird durch Wissen über typische Objektgrößen sowie über die typischen Beziehungen zu anderen Objekten beeinflußt.

Wie die Beispiele in Abb. 51 zeigen, ist es im Rahmen der LamP-Konzeption aufgrund der Interaktion von Repräsentations- und Verarbeitungsaspekten somit durch Angabe expliziter qualitativer Constraints möglich, quantitative Unterschiede auszudrücken, ohne auf hinterfragbare Regions- bzw. Distanzkonzepte zu rekurrieren. Fragen der Art „Wo ist x?" werden im Gegensatz zum Lokalisierungsansatz nicht durch die Charakterisierung eines Raumausschnitts (d. h., des „Orts" von x) beantwortet, sondern durch die Charakterisierung möglicher und sinnvoller Aufmerksamkeitswechsel bezüglich χ (von und zu relevanten Objekten y). Spezifischere räumliche Relationen ergeben sich dadurch, daß explizite Relationen einer bestimmten Achse eines Referenzsystems zugewiesen (d. h. entsprechend kategorisiert) sind. Hierauf werde ich im Rahmen der Vorstellung einer aufmerksamkeitsbasierten Semantik räumlicher Ausdrücke näher eingehen.

6.3

Die Beziehung nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen

Die vorangegangenen Erörterungen sollen jetzt in den Gesamtzusammenhang der Beziehung sprachlicher und nicht-sprachlicher räumlicher Relationen gebracht werden. In diesem Modell spielt Aufmerksamkeit eine wesentliche Rolle, und zwar in folgender Hinsicht: Räumliche Aufmerksamkeit liegt sowohl nicht-sprachlichen als auch sprachlichen räumlichen Relationen zugrunde. Wie oben erwähnt, lassen sich Aufmerksamkeitswechsel im Hinblick auf ihre Art (Shift, Zoom), ihren Bezug zu Referenzrahmen sowie die Art ihrer Argumente (Begrenzung, Ganzobjekt, Gruppe) kategorisieren. Die Charakterisierung räumlicher Relationen anhand dieser Parameter gibt somit eine Antwort auf Jackendoff/ Landau's Puzzle: Es existieren deswegen keine formspezifischen Relationen, weil aufmerksamkeitsbasierte räumliche Relationen „blind" bzgl. der Kategorisierung ihrer Argumente sind und gleichzeitig die Repräsentation von Objekteigenschaften getrennt und typverschiedenen von der der Relationeneigenschaften ist. Da Objekterkennung im Whatsystem stattfindet, weisen die Relationen im Where-System nur schematisierte Eigenschaften ihrer Argumente, der räumlichen Objekte, auf (s. Abb. 52).

140

Map of locations Abb. 52: Von visueller zu konzeptueller Repräsentation von Raum

Es ist ersichtlich, daß die spezifischen Eigenschaften eines Objekts (Farbe, Form) ebenso wie die seiner konzeptuellen Repräsentation f ü r die räumliche Repräsentation und Verarbeitung nicht direkt relevant sind. Dies ist im Einklang mit Ansätzen, die die Schematizität räumlicher Repräsentation betonen (Talmy 1983, Langacker 1983, Lakoff 1987). Dabei ergeben sich, j e nachdem, wie ein Objekt betrachtet wird, unterschiedliche schematisierte räumliche Repräsentationen des Objekts (Teilsicht, Ganzsicht, Teil einer Gruppe). Mögliche Kombinationen dieser Aspekte mit unterschiedlichen Referenzsystemen führen so zu den verschiedenen „Konzeptualisierungen", die durch räumlich-sprachliche Ausdrücke bezeichnet werden können. Somit wird deutlich, daß die in dieser Arbeit behandelten aufmerksamkeitsbasierten expliziten räumlichen Relationen im Grunde Repräsentationen der „Perspektivierung repräsentierten Raums" darstellen und daß daher sprachliche Relationen entsprechende Perspektivierungen und nicht etwa „direkt" repräsentierten Raum (d.h., in analogischen Raumrepräsentationen enthaltene implizite räumliche Relationen) ausdrücken. Das Spezifische der Perspektivierung ist dabei die Etablierung einer Ordnung der Argumente einer impliziten Relation, die durch den Aufmerksamkeitswechsel induziert wird. Räumliche Aufmerksamkeit stellt nur eine notwendige Bedingung für die Charakterisierung räumlicher Relationen dar. Explizite räumliche Relationen weisen zudem Informationen über den Verlauf eines Aufmerksamkeitswechsels bzgl. unterschiedlicher Referenzsysteme auf. Diese können einerseits abstrakter sein, indem sie von den speziellen Eigenschaften der retinotopisch organisierten Repräsentation und gleichzeitig von den Spezifika einer aktualen Betrachtungssituation absehen (hierzu zählen, als Abgrenzung zu solchen betrachterspezifischen oder egozentrischen Referenzsystemen, objektzentrierte (allozentrische) und umgebungsbezogene Referenzsysteme). Sie können andererseits informationsreicher sein, indem sie u. a. auf Informationen über die relative Lage des Organismus zur Umgebung wie ζ. B. bzgl. der Gravitationalen ( - » Umgebungsvertikalen) oder bzgl. bestimmter Orientierungen (Nord, Süd, bergab, berauf), oder auf Informationen über die

141

Lage der Körperteile zueinander beruhen. Wesentlich hieran ist die Existenz unterschiedlicher - und verschieden spezifischer- Referenzsysteme, relativ derer Aufmerksamkeitswechsel stattfinden und konzeptuell kategorisiert werden können. Anhand dieser Aussagen läßt sich die eingangs gestellte Frage nach der Beziehung von Raum und Sprache beantworten. Es zeigt sich zunächst, daß in der hier vertretenen Auffassung grundlegende weit verbreitete Annahmen über die Struktur des kognitiven Systems (mit unterschiedlichen modalitätsspezifischen und einem intermodalen, konzeptuellen System, s. Bierwisch/Lang, Bryant, Landau/Jackendoff) übernommen werden. Gleichzeitig findet sich in der implizit/explizit-Dichotomie die klassische Unterscheidung bildhafter und propositionaler Formate wieder. Dabei wird anerkannt, daß die Propositionalisierung räumlicher Information wesentlich ist, um räumliche Relationen sprachlich auszudrücken (hieraufhaben schon Olson/Bialystok 1983, insbesondere aber Levelt 1996 hingewiesen). Allerdings ist .propositionaP ein vieldeutiger und unterschiedlich verwendeter Terminus 13 , der außerdem dazu verleitet, den entsprechenden Einheiten vorurteilsbeladene und urteilsbelastende Kennungen zu geben (—> above, on etc). Demgegenüber wird hier weniger der Formatunterschied als vielmehr die Tatsache betont, daß bestimmte Informationen über räumliche Relationen im einen Fall nur implizit, im anderen Fall explizit gegeben sind. Mit der selektiven räumlichen Aufmerksamkeit wurde außerdem ein Mechanismus gefunden, der den expliziten räumlichen Relationen zugrunde liegt. Dies erlaubt einerseits feinere Aussagen über diese nicht-sprachlichen Relationen (im Gegensatz zu den monolithischen propositionalen Einheiten) und bietet zudem mit der Richtung der Aufmerksamkeitswechsel einen Parameter, der bislang noch nicht berücksichtigt wurde. Andererseits ergibt sich so ein begründeter ontologischer Unterschied zu Ansätzen, die auf Region(skonstruktion)en basieren. Vor allem aber werden die üblicherweise unter der Bezeichnung „räumliche Relation" geführten expliziten räumlichen Relationen als Perspektivierungen (implizit-) räumlicher Repräsentationen identifiziert. Eine solche Auffassung bedeutet einen klaren Standpunkt in der (räumliches) Denken/ (räumliche) Wahrnehmung - (räumliche) Sprache -Debatte. Danach scheint es so zu sein, daß - entgegen einer W h o r f sehen Verzahnung bzw. gegenseitiger Beeinflußbarkeit - die Beziehung beider Bereiche flexibel ist: „There is no .hardwired' mapping from spatial to semantic representations. What we pick out from a scene in terms of entities and spatial relations to be expressed in language is not subject to fixed laws." (Levelt 1996:102). Sprecher haben demnach grundsätzlich die Freiheit der Wahl einer räumlichen Perspektivierung, und die unterschiedlichen Inventare räumlicher Ausdrücke in verschiedenen Sprachen weisen nicht auf distinkte Raumwahrnehmung, sondern auf verschiedene bzw. verschieden lexikalisierte Sichtweisen, d.h. explizite räumliche Relationen, hin. Allerdings kann sich eine sprachliche Beschränkung auf bestimmte Perspektiven auch in nicht-sprachlichen Handlungen niederschlagen. Beispielsweise berichtet Levinson (1996) von Experimenten, in denen Probanden zunächst jeweils eine räumliche Konfiguration vor sich auf dem Tisch sahen und diese Konfiguration nach einer 180°-Drehung aus einer Menge gleicher oder ähnlicher Konfigurationen auf einem anderen Tisch identifizieren mußten (Abb. 53).

13

Ich bin hierauf in Carstensen (1995b) näher eingegangen.

142

180°Drehung

Abb. 53: Experiment zur Untersuchung des sprachlichen Einflusses auf nicht-sprachliche Handlungen (Levinson)

Dabei ergab sich, daß Sprecher des Tenejapan, die sprachliche Lokalisierung überwiegend in Termini absoluter Referenzrahmen (.nördlich', ,uphill', .downhill' usw.) vornehmen, signifikant häufig die Konstellation ABS angeben, im Gegensatz zur Angabe der Konfiguration REL bei europäischen Sprechern. Dieses Ergebnis scheint zunächst erstaunlich und als ein Gegenbeweis für die vorangegangene Aussage. Tatsächlich folgt es aus den Erörterungen zuvor und ist einmal mehr ein Hinweis auf die Inadäquatheit einer .Sprachlicher Raum'/.Nicht-sprachlicher Raum'-Dichotomie: Da Sprecher verschiedener Sprachen sicherlich Raum auf die gleiche Weise wahrnehmen und außerdem prinzipiell in der Lage sind, alle möglichen Perspektivierungen vorzunehmen, weisen die experimentell nachgewiesenen Unterschiede nur auf die sprachlich-induzierte und sozio-kulturell per Konvention determinierte Präferenz für die Verwendung von Referenzsystemen hin. Im Fall der Verwendung absoluter Referenzrahmen bedeutet dies die Etablierung und Memorierung einer implizit-räumlichen Konfiguration, die nicht nur zwei Objekte aufweist, sondern die zusätzlich einen Referenzpunkt inkorporiert, der nicht mit der Origo identisch ist. Diese Repräsentation ist nicht-sprachlich und beschränkt daher sowohl Perspektivierung („thinking for speaking" nach Levelt) als auch Handlungsentscheidungen („thinking for acting"). Die hier vertretene Sicht auf die Beziehung sprachlicher und nicht-sprachlicher räumlicher Relationen hat eine weitere, wesentliche Konsequenz für die Diskussion sprachlich relevanter Repräsentationsebenen. Es stellt sich heraus, daß bereits nicht-sprachlich eine Unterscheidung (zwischen impliziten und expliziten Repräsentationen) vorgenommen werden muß. Wie die spätere Diskussion der Graduierungsphänomene im Rahmen der semantischen Analyse von Distanzausdrücken zeigen wird, kann die Argumentation Bierwischs für eine entsprechende konzeptuell/semantisch-Distinktion (die auf ebendiesen Phänomenen basiert) aber nicht aufrecht erhalten werden, so daß auch einer sprachlich motivierten Begründung für die Annahme einer eigenständigen semantischen Ebene die Grundlage entzogen ist. Daher reduziert sich deren Funktion auf die eines Interfaces zwischen dem konzeptuellen und dem (jeweiligen) Sprachsystem, d.h. zwischen expliziten konzeptuellen Relationen und den sie bezeichnenden sprachlichen Strukturen. Eine solche semantische Ebene entspricht sehr viel eher der .lexical conceptual structure' Jackendoffs,

143 betont aber weiterhin die Trennung abstrakter, sprachlich fixierter semantischer Formen von dem konzeptuellen Wissen, das entsprechende Instanzen dieser Strukturen zur Verfügung stellt und aufgrund nicht-sprachlicher Prinzipien die Belegung der semantischen Parameter regelt. Es zeigt sich, daß das hier vorgestellte Modell der Beziehung nicht-sprachlicher und sprachlicher räumlicher Relationen (s. Abb. 54) eine detailliertere Beantwortung vieler in diesem Themenbereich angesiedelten Fragestellungen erlaubt. Dieses Ergebnis soll im folgenden anhand exemplarischer Analysen der Semantik räumlicher Ausdrücke vertieft und konkretisiert werden.

SPRACHE (Sprachsystem) Semantik i.e.S. I

I

I

1

(sprachliche räumliche Relationen)

Konzeptuelles System Katëgonsiëirtë explizite räumliche Relationen

I

Selektive Aufmerksamkeit Bildung expliziter räumlicher Relationen

explizite räumliche Relationen

Raumrepräsentation (visuell-räumliche Referenzsysteme) implizite räumliche Relationen







β

" WELT Abb. 54: Revidiertes Modell der Beziehung Sprache - Raum

! ¡

7 Aufmerksamkeitsbasierte Semantik räumlicher Ausdrücke

7.1

Lokale Präpositionen

7.1.1

Allgemeine Aspekte der Semantik lokaler Präpositionen

Wunderlich/Herweg (1990) nehmen eine Dreiteilung lokaler Präpositionen 1 in topologische (in, an, auf, bei), dimensionale (über, unter, vor, hinter, rechts, links) und WegPräpositionen (z. B. um, durch, längs) vor. Topologische Präpositionen sind dabei lediglich durch die Lokalisierung des Themas in einer bestimmten Nachbarschaftsregion des Relatums charakterisiert. Dimensionale Präpositionen hingegen involvieren einen zusätzlichen Richtungsparameter, während Wegpräpositionen den spezifischen Verlauf eines abstrakten W e g s des Themas in bezug auf das Relatum ausdrücken. Wie die Autoren einräumen, sind allerdings nicht alle lokalen Präpositionen in diese Klassifikation einzuordnen (Ausnahmen sind z. B. zwischen (vgl. hierzu Habel 1989a) und gegenüber). Pribbenow (1993, Fn. 4) merkt außerdem an, daß der Terminus ,topologisch' unglücklich ist, da er mehr Aspekte umfaßt als der entsprechende mathematische Terminus. 2 Betrachtet man die Kombinatorik von topologischen und dimensionalen Präpositionen mit Distanzangaben, so erweist sich die Klassifikation als wenig hilfreich. Zwar sind im wesentlichen nur die dimensionalen Präpositionen durch eine Maßangabe modifizierbar. Dies deswegen, da „[die] Verwendung einer Maßangabe [...] die Existenz einer Dimension [voraussetzt], auf der Abschnitte bestimmbar sind" (Wunderlich/Herweg 1990:780). Durch eine solche Beschränkung auf Maßangaben (wie sie überwiegend in der Literatur zu finden ist) wird aber zu leicht übersehen, daß Maßangaben nur einen Spezialfall von Distanzangaben darstellen, deren Betrachtung ein weniger einheitliches Bild ergibt. Einerseits sind dimensionale Präpositionen, je nach Intuition, nur schlecht oder gar nicht durch (-Pol)Adjektive modifizierbar Çinahe rechts von der Tür), obwohl, wie in Kap. 3 dargelegt, gemäß der modularen Modellierung sprachlicher Distanz nach Bierwisch hier kein Problem auftreten sollte. Andererseits lassen sich innerhalb der Klasse der topologischen Präpositionen Unterschiede feststellen: Während in (+Pol)-Adjektiv-Modifikation erlaubt (tief im Wald, weit im Aus, §nahe im Wald, §nahe im Aus), verbieten an und bei (+Pol)Adjektive, lassen aber Modifikation durch nahe zu (§weit an/bei der Tür, nahe an/bei der Tür).3 Aufgrund dieser Problematik schlage ich einen alternativen Ansatz vor, in dem sprachlich räumliche Relationen als bzgl. verschiedener Aspekte expliziter räumlicher Relationen parametrisiert charakterisiert werden, was eine feinere und kognitiv adäquatere semantische Modellierung erlaubt. Gemäß dem oben skizzierten LamP-Ansatz drücken

1

2

3

Lokale Präpositionen sind von direktionalen Präpositionen zu unterscheiden, die überwiegend den Akkusativ regieren. S. hierzu Kaufmann (1990). Beispielsweise beinhaltet auf einen Aspekt der Orientierung und die Unterscheidung von an und bei einen Aspekt der Distanz oder einen funktionalen Anteil (Kontakt, Nicht-Kontakt). Wie oben dargelegt, ist die Zuordnung dieser Präpositionen zu Subklassen eines allgemeinen Distanzkonzepts jedoch ebenfalls nicht hilfreich. Die Verwendung von ««/schließt jegliche Distanzmodifikation aus.

145 lokale Präpositionen nicht, wie in dem Lokalisierungsansatz, eine Lokalisierungsrelation aus, sondern charakterisieren die Position eines zu lokalisierenden Objekts durch seine konzeptuelle Rolle in einer im Arbeitsgedächtnis instantiierten explizit-räumlichen Relation. Die allgemeinste Subklassifizierung lokaler Präpositionen ergibt sich vor diesem Hintergrund aus dem binären Merkmal der Referenzpolarität. Im folgenden wird diese Unterscheidung im Rahmen einer aufmerksamkeitsbasierten Semantik lokaler Präpositionen näher spezifiziert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werde ich den semantischen Gehalt einer sprachlichen räumlichen Relation, dessen Schema in (Kap. 6.1.4) bereits angegeben worden ist, komprimiert darstellen. Anstelle von , ATTENTIONAL_CHANGE(r, place(ro), place(lo)) & SPATIAL_CATEGORY(ro) & SPATIAL_CATEGORY(lo)' werde ich , ATTENTIONAL_CHANGE(r, SC(ro), SC(lo))' notieren, mit ATTENTIONAL_CHANGE e BOUNDARY}.

7.1.2

{shift, z o o m j n } und SC e

(BLOB,

Dimensionale Präpositionen

Dimensionale Präpositionen sind grundsätzlich durch die Auszeichnung eines räumlichen Aufmerksamkeitswechsels vom ro zum lo charakterisiert (+RefPol-Eigenschaft). Diese unspezifizierte Eigenschaft eines positiv-referenzpolaren attention shift (1) ist in Abb. 55 dargestellt. (1)

Dimensionale Präposition: Xro λΐο [ shift(r, SC(ro), BLOB(lo)) & SPATIAL_CATEGORIZATION(r) ]

Abb. 55: Einfacher konzeptuell repräsentierter positiv-referenzpolarer Aufmerksamkeitswechsel

Während das Thema der Relation als Ganzes „scharf" gestellt sein muß, können die attendierten Aspekte des RO variieren, indem die Aufmerksamkeit entweder auf das RO als Ganzobjekt (BLOB) oder auf eine Begrenzung (BOUNDARY) gerichtet ist. Soweit keine räumliche Kategorisierung der Mikroperspektive vorliegt, wird ersteres im Deutschen durch die Präposition weg (von) ausgedrückt wird, letzteres z.B. durch die Präposition

146 abseits.4 Andernfalls sind im Arbeitsgedächtnis Repräsentanten der Vertikalen (VERTAchse), der Betrachterachse (OBS-Achse) bzw. der orthogonal zu mindestens einer dieser Achsen stehenden lateralen (QUER-) Achse präsent, und die Aufmerksamkeitswechsel werden als in spezifischer W e i s e auf eine der Achsen bezogen kategorisiert (SP ATIAL_CATEGORIZATION(r)) . Eine solche konzeptuelle Kategorisierung leistet die Abstraktion von dem konkreten Verlauf des Aufmerksamkeitswechsels und die Reduktion auf qualitative Eigenschaften wie die Kollinearität zu einer dieser Achsen und die Richtungskongruenz (dc(r,aDir(AXIS)), zu interpretieren als: „die Richtung von r ist kollinear zu AXIS und kongruent zur Richtung a D i r von AXIS "). 5 Bei dem Bezug auf Achsen sind zwei wesentliche Aspekte zu berücksichtigen. Erstens handelt es sich bei der Vertikalen und der Betrachterachse um gerichtete Achsen. Entsprechend drückt dc(r, VERT) aus, daß die Mikroperspektive entlang der Vertikalen in derselben Richtung verläuft, während dc(r, -VERT) einen Verlauf in entgegengesetzter Richtung repräsentiert. Die laterale Achse QUER ist hingegen sekundär und ungerichtet, worauf die bekannten Schwierigkeiten bei der rechts-/links-Zuweisung zurückgeführt werden können. Zweitens gibt es kein einheitliches bzw. universales Referenzsystem, das durch diese Achsen aufgespannt wird. Stattdessen existieren unterschiedliche Referenzsysteme, in denen V E R T und OBS realisiert sein können. So ergeben sich jeweils unterschiedliche Instanzen der VERT-Achse im retinalen, körperzentrierten und umgebungszentrierten Koordinatensystem. Zwar ist in normalen Kontexten, gerade auch bei Überlagerung dieser Systeme, überwiegend letzteres (und somit der Bezug auf die Gravitationsachse) relevant. Verschiedene Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß dies nicht immer der Fall sein muß (zur Dissoziierbarkeit der vertikalen Achsen s. Carlson-Radvansky/Irwin 1993, 1994; zur erhöhten Relevanz der retinalen Vertikale bei Wegfallen der Gravitationsachse im Weltraum s. Friederici/Levelt 1990). Bzgl. der OBS-Achse ergibt sich eine Unterscheidung durch Variation ihres Ursprungs, d.h. in dem Bezug auf egozentrische (betrachterzentrierte) bzw. allozentrische (objektzentrierte) Koordinaten (Abb. 56). 6 Als Vereinheitlichung der in diesem Bereich vorherrschenden Begriffsvielfalt und für die Generalisierung differierenden Referenzsystembezugs schlägt Levinson (1996) vor, von intrinsischen, absoluten und relativen Referenzrahmen zu sprechen.

RO

OBS

relativ

intrinsisch

Abb. 56: Relativer vs. intrinsischer Referenzrahmen 4 5

6

Hierfür liegt mir jedoch keine weitere Evidenz vor, so daß ich nicht näher darauf eingehen werde. Die Verwendung der dc-Relation ist somit verwandt mit der achsenbezogenen ,in-sp'-Relation Aurnagues (s.o., Kap. 2.1.3.1.2.2). V repräsentiert in dieser Abbildung den Betrachter (Viewer).

147 Bei dem intrinsischen Referenzrahmen befindet sich der Ursprung von OBS im Referenzobjekt (im ego- wie auch im allozentrischen System). Hiermit werden sowohl intrinsische Verwendung sprachlich räumlicher Relationen erfaßt, die eine Lokalisierung in bezug auf charakteristische Objektseiten ausdrücken (vor dem Haus), als auch solche Verwendungen, die Sprecher-relativ sind (vor mir) und somit in der üblichen Terminologie als „deiktisch" (d. h., Sprecher- oder Betrachter-bezogen) bezeichnet werden müßten. Bei dem relativen Referenzrahmen ist der Ursprung von OBS nicht mit dem Referenzobjekt identisch, sondern auf einen Betrachterstandpunkt bezogen, der wiederum mit dem Sprecher (,vor dem Haus, von mir aus gesehen') oder einem anderen Objekt (,vor dem Haus, von V aus gesehen') übereinstimmen kann. Der absolute Referenzrahmen bezeichnet den Referenzrahmen, der sich auf das Umgebungssystem bezieht. Achsendeskriptoren werden entsprechend bzgl. der sie konstituierenden Entitäten parametrisiert (VERT(X), OBS(X), QUER(X)): die Umgebung (die Vertikale als Gravitationale), Objekte (die Vertikale als objektinhärente oben/unten-Ausrichtung) und retinabasierte Koordinatensysteme (die Vertikale als betrachtungsspezifische Invariante). Argumente von OBS sind Objekte mit inhärenter (Sprecher, Hörer), intrinsischer (Fotoapparate etc.) oder extrinsischer Betrachterperspektive (rollender Ball, fliegender Pfeil etc.). Argumente von QUER sind generell andere Achsen (MAX, VERT, OBS, s. Lang/Carstensen/ Simmons 1991). Intrinsische Verwendung einer Präposition liegt in dieser Modellierung dann vor, wenn X durch ro instantiiert ist. Relative Verwendung liegt dann vor, wenn X durch den Sprecher, Hörer oder einen anderen Blickpunkt instantiiert ist, absolute Verwendung in allen anderen Fällen. (2) veranschaulicht die Charakterisierung der nicht-lateralen Präpositionen anhand der Parameterbelegungen für einen positiv-referenzpolaren Aufmerksamkeitswechsel mit Positionsveränderung des Spotlights (shift). Sie gibt die jeweiligen Optionen für die möglichen Verwendungen der Präpositionen im Deutschen an. (2)

über: unter: vor: vor: hinter: hinter:

Xro λΙο λΓΟ λΙο λΓΟ λΙο λΓΟ λΙο λΓΟ λΙο λΓΟ λΙο

shift(r, shift(r, shift(r, shift(r, shift(r, shift(r,

SC(ro), SC(ro), SC(ro), SC(ro), SC(ro), SC(ro),

BLOB(lo)) BLOB(lo)) BLOB(lo)) BLOB(lo)) BLOB(lo)) BLOB(lo))

& & & & & &

dc(r, dc(r, dc(r, dc(r, dc(r, dc(r,

VERT(X)) ] -VERT(X)) ] OBS(ro)) ] -OBS(viewer)) : -OBS(ro)) ] OBS(viewer)) ]

Man beachte, daß die hier vertretene Sichtweise achsenbezogener Relationen eine deklarative Spezifikation der Semantik dimensionaler Präpositionen erlaubt. Dies hat zwei Vorteile. Erstens kann die semantische Charakterisierung ohne Rückgriffe auf (Metaphern) räumliche(r) mentale(r) Operationen erfolgen, deren Existenz zwar plausibel, aber keineswegs abgesichert ist. Beispielsweise findet sich der Unterschied intrinsischer und relativer Verwendung oft in dem Kontrast der sog. „basic order" vs. „mirror order" wieder (vgl. ζ. Β. Herskovits 1986:159). Dies entspricht der Vorstellung, daß bestimmte Koordinaten gespiegelt, rotiert oder versetzt werden müssen, so daß z.B. Levinson schreibt: „Hausa (Hill 1982) and many other languages translate rather than rotate the coordinates, so that a sentence glossing ,The cat is in front of the tree' will mean what we would mean

148 in English by ,The cat is behind the tree'" (Levinson 1996:143, Hervorhebung im Text). 7 Dies ist hier nicht notwendig: Der entsprechende Gebrauch von vor (Hausa) kann deklarativ als (3) beschrieben werden (Aufmerksamkeitswechsel vom ro zum lo entlang der OBSAchse eines Betrachters). (3)

vor (Hausa):

λΐΌ λΐο [ shift(r, SC(ro), BLOB(lo)) & dc(r, OBS(viewer)) ]

Zweitens ist es möglich, den Achsenbezug der Präpositionen modular aufzufassen. Gerade die links-/rechts-Richtungen führen bei einer Koordinatensystem-Transformations-Sichtweise zu der Frage, warum bei relativem Gebrauch die Vor-Richtung gespiegelt, die lateralen Richtungen aber konstant bleiben („mirror view" ist ja nur eine Metapher für diesen Umstand). In bezug hierauf deutet Levinson die Möglichkeit an, daß die Richtungen voneinander unabhängig sind: „It may be that left and right are centered on V [dem Betrachter], while front and back are indeed rotated and have their origin on G [dem Referenzobjekt]" (Levinson 1996:162, Fußnote 42). Dies ließe sich hier dadurch ausdrücken, daß links, rechts und neben grundsätzlich allein durch den Bezug auf die jeweilige QUERAchse charakterisiert sind (4). 8 (4)

a. b. c.

7.1.3

rechts von: Xro λΐο [ shift(r, BLOB(ro), BLOB(lo)) & dc(r, aQUER(X)) & R(r)] links von: Xro λΐο [ shift(r, BLOB(ro), BLOB(lo)) & dc(r, aQUER(X)) & L(r)] neben: Xro Xlo [ shift(r, BLOB(ro), BLOB(lo)) & dc(r, aQUER(X)) ]

Vertikale Präpositionen

Vertikale Auszeichnungen erweisen sich als ein wesentlich komplexerer Bereich als bisher dargelegt. So kontrastieren im Deutschen die Präpositionen über und unter mit oberhalb und unterhalb, was im Englischen in etwa den Antonymenpaaren over und under bzw. above und below entspricht (s. 5 und 6).

7

8

(5)

a. b. c. d.

Das Objekt über/unter dem Tisch // oberhalb/unterhalb des Tisches Die Almhütte §über/oberhalb der Baumgrenze Schleier über/§oberhalb ihrem Gesicht Die übereinander an der Wand klebenden Tapetenschichten

(6)

a. b. c. d.

the object over/above/under/below the table the alpine hut §over/above the tree line veil over/§above her face the wallpapers on the wall, pasted one over/§above the other

Allerdings ist der Tandem-Gebrauch von vor im Hausa nur dann lizensiert, wenn eine statische Situation vorliegt und beide Objekte sichtbar sind (vgl. Hill 1982). Dabei gehe ich davon aus, daß sich diese Präpositionen in ihrem Achsenbezug nicht unterscheiden und daß links von und rechts von daher anhand zusätzlicher Bedingungen diskriminiert werden müssen.

149 Allein die Bedeutungsbeschreibung der Präposition over ist, wie B r u g m a n (1988) gezeigt hat, ein äußerst k o m p l e x e s Unterfangen (vgl. auch Lakoff 1987, W e g e 1991). Außerdem existieren sicherlich unzählige Arbeiten zu einzel- oder iibereinzelsprachlichen kontrastiven Analysen im Bereich der Semantik dieser Präpositionen, die wiederum eine Vielzahl von Parametern als relevant vorschlagen (was nicht selten zu extrem polysemen sprachlichen Kategorien führt). 9 Hierauf kann in dieser Arbeit nicht a n g e m e s s e n eingegangen werden. Trotzdem wird im folgenden ein Vorschlag f ü r ein allgemeines Unterscheidungskriterium dieser Präpositionen gemacht, das eine interessante und wesentliche Generalisierung darzustellen scheint. Becker (1994) gibt eine R e i h e von Kriterien f ü r die A b g r e n z u n g der V e r w e n d u n g e n sowohl der deutschen als auch der englischen Präpositionen an. Danach blenden unterhalb und oberhalb die gestaltlichen E i g e n s c h a f t e n des R e f e r e n z o b j e k t e s aus: Ζ. B. kann ein Objekt unter dem Tisch zwischen den Tischbeinen lokalisiert sein, was bei unterhalb des Tisches nicht möglich ist. Die Präpositionen drücken außerdem nicht, wie über und unter, eine direkte vertikale B e z i e h u n g des L O zum R O aus, sondern eine Lokalisierung bzgl. einer jeweiligen Grenzlinie/-ebene, so daß sich die Almhütte in (5b) auch .schräg über' der B a u m g r e n z e befinden kann. Die entsprechenden Lokalisierungsbereiche stellt Becker wie in Abb. 57 dar. \ 1

/ I I \

\

/

unter

/

\

unterhalb

/ /

über

oberhalb

/ /

1 j

/

\

/

/

—»•——

\

\

\

Abb. 57: Unterschiedliche Bereiche vertikaler Präpositionen (nach Becker 1994)

oberhalb und unterhalb müssen stets räumlich interpretiert werden, wobei eine räumliche Distanz zwischen L O und R O obligatorisch ist. Im Gegensatz dazu erlauben über und unter in Abhängigkeit von d e m Kontext und d e m Wissen über die beteiligten Objekte auch funktionale Interpretationen. Aus diesem Grund lassen sie auch Kontakt zwischen den beteiligten Objekten zu (5c). Bei vorliegendem Nicht-Kontakt darf, zumindest im Englischen, kein relevantes (.konkurrierendes') Objekt räumlich intervenieren: „Damit ist die V e r w e n d u n g von above ζ. Β. zwingend in the sixth floor is above the third floor" (Becker 1994:131). Gerade auch bzgl. Beispielen wie in (5d) wird daher oft von f u n k t i o n a l e r U m d e u t u n g gesprochen: „Im Falle von ,unter' ist die Funktion so etwas wie ,Verdecktsein, S c h u t z ' " (Klein 1991:101). Insgesamt entsprechen sich also above/below und oberhalb/ unterhalb, sowie over/under und über/unter ungefähr (ich werde im folgenden auf die erste Klasse mit „ABOVE-Präpositionen", auf die zweite mit „OVER-Präpositionen" referieren).

9

Es führt ebenfalls oft dazu, daß das Finden relevanter kognitiv fundierter und somit explanativer Generalisierungen in der Semantik einer sprachlichen Einheit zugunsten einer strukturierten deskriptiven Auflistung der Verwendungstypen dieser Einheit aufgegeben wird.

150 Diese Beschreibungen haben allerdings im wesentlichen deskriptiven Charakter und erklären beispielsweise nicht, warum eine Tapete überhaupt „unter" (und nicht, was der normalen Situation eher entspricht, „hinter") einer anderen an der Wand kleben kann (s. hierzu meine Anmerkungen in Kap. 3.1.3). Eine Alternative bietet sich in der hier verfolgten kognitionswissenschaftlichen Modellierung sprachlich räumlicher Relationen, in der, basierend auf der Mikroperspektivierung von Raum verschiedene Aspekte einer räumlichen Relation eine Rolle spielen (räumliche Kategorisierung der Objekte, Achsenbezug der Mikroperspektive und die Verankerung der Achsen). Hiermit sind Unterscheidungskriterien gegeben, die auch für die Unterscheidung der vertikalen Präpositionen einschlägig sind. In diesem Zusammenhang sind die Untersuchungen von Levelt (1986) und CarlsonRadvansky/Irwin (1993, 1994) interessant, in denen die Relevanz objekt-, umgebungs- und betrachterzentrierter Referenzrahmen für die Verwendung von above analysiert wurden. Neben dem Resultat, daß alle drei Rahmen gleichzeitig aktiviert sein können, notieren Carlson-Radvansky/Irwin (1994) das folgende Ergebnis: „Vertical axis alignment based on the environment-centered frame was most strongly preferred and was selected fastest, followed by a weaker preference and slower selection of the objectcentered reference frame. There was no evidence of significant activation within the viewercentered reference frame during spatial alignment of 'above'" (S. 668)

Dies zeigt zunächst, daß der relative Referenzrahmen tatsächlich einen Sonderstatus einnimmt und erst -aber immerhin, s. Friederici/Levelt 1990 - bei Wegfall der beiden anderen Rahmen relevant wird. Somit wird bestätigt, daß der Gebrauch von above bzgl. Abb. 58a,b (angelehnt an die Fliegenbeispiele in Levelt 1986, 1996) in Ausdrücken wie „There's a fly above John's head" mehr oder weniger akzeptabel ist.

0 λ

>- > 4 0 »

c.

Abb. 58: Beispiele für die Akzeptabilität vertikaler Lokalisierung

Die Inakzeptabilität derselben Ausdrücke bzgl. Abb. 58c macht deutlich, daß der aktuale räumliche Referenzrahmen, zu dem das LO als zugehörig konzeptualisiert wird, entscheidend für Kategorisierung der RO-LO-Beziehung ist: Bei der Etablierung einer Relation zwischen Kopf und Fliege ist es unvermeidlich, das Bett wahrzunehmen, so daß die Fliege nicht bzgl. des körperzentrierten intrinsischen Referenzsystems, sondern bzgl. des durch das Bett induzierten Umgebungssystems konzeptualisiert wird und entsprechend nur lateral (und nicht vertikal) zum Kopf lokalisiert werden kann.10 10

Dies ist eine prozedurale Interpretation des (deklarativen) „Prinzips der kanonischen Orientierung" von Levelt (vgl. Levelt 1996:89f).

151

ABOVE

• B L O B ( Ï O) BELOW

L¿i

Ρ

3

"

Abb. 59: Vertikaler betrachterunspezifischer Referenzrahmen

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß AB O VE-Präpositionen explizite Relationen auszeichnen, die als entlang der Vertikalen eines orientierten räumlichen Koordinatensystems kategorisiert und somit abgekoppelt von ihrer Repräsentation in einem retinabasierten Koordinatensystem sind. Da diese Kategorisierung gerade die Vernachlässigung aktualer Winkelabweichungen des RO-LO-Vektors von der Vertikalen bewirkt, resultiert die spezifische Form der Präpositionenbereiche einzig aus der Abgrenzung zu OBS- und QUERKategorisierungen (s. Abb. 59). Dies ergibt (7) als Spezifikation des semantischen Gehalts der ABOVE-Präpositionen. X ist hier zum einen auf eine räumliche Referenzentität eingeschränkt, zum anderen wird X als Variable durch das aktual salienteste Referenzsystem instantiiert (Umgebungssystem in Abb. 58c). (7)

ABOVE-Präposition: Xro λΐο [ shift(r, BLOB(ro), BLOB(lo)) & dc(r, aVERT(X)) & spatial(X) ]

Was sind nun betrachterzentrierte orientierte Referenzrahmen? Offenbar enthalten sie eine Vertikale, die unabhängig von der entsprechenden Achse Referenzobjekt-bezogener räumlicher Referenzsysteme existiert und sich aus einer spezifischen Betrachtungssituation ergibt. Im Gegensatz zu räumlichen Referenzrahmen, deren Vertikale sich vorwiegend aus der gravitationalen Information ableitet, konstituiert sich, wie ich annehme, eine betrachtungsabhängige Vertikale aus der wahrgenommenen Orthogonalität zu einer ausgedehnten Begrenzung (z.B. Erdboden oder Horizont) in Verbindung mit einer retinabasierten obenunten-Asymmetrie. Die Omnipräsenz solcher Konstellationen hat zu einem Schema geführt, das die folgenden Eigenschaften aufweist: Es ist Flächen- bzw. begrenzungsbezogen (Voraussetzung für die Bildung der Orthogonalen) und lokal (durch den begrenzten Ausschnitt einer wahrnehmungsbasierten Repräsentation) und es ist ist flexibel (da visuell und nicht an die Gravitation gekoppelt). Bzgl. der Vertikale dieses Schemas kategorisierte räumliche Relationen sind entsprechend begrenzungsbezogen und direkt (Ball unter dem/ *unterhalb des Tischfes], Schild über/?oberhalb der Tür) sowie projektivräumlich (Sonne über dem/?oberhalb des Horizont(s)). Dies erfaßt Fälle von Vertikalität, die nicht mit der Umgebungsvertikalen übereinstimmen (vgl. die Beispiele der angeblich funktionalen Interpretation als „Verdecken", s. (5c,d)). Abb. 60 veranschaulicht ein solches Schema eines vertikal orientierten Betrachterrahmens (VOFR) und die Bildung ent-

152 sprechender Mikroperspektiven. over und über können dementsprechend VOFR+, und under und unter VOFR- zugeordnet werden.

Abb. 60: Perspektivierangsschemata des betrachterzentrierten vertikalen Referenzrahmens

Die Berücksichtigung von Aspekten wahrnehmungsbezogener Vertikalität ermöglicht somit den Verzicht auf funktionale Konzepte bzw. Umdeutungen für die Semantik dieser Präpositionen (obwohl funktionale Aspekte konzeptuell vorliegen können). Die OVER-Präpositionen lassen sich entsprechend in einem aufmerksamkeitsbasierten Ansatz als (8) charakteriseren. (8)

7.1.4

OVER-Präposition: Xro λΐο [ shift(r, SC(ro), BLOB(lo)) & dc(r, aVERT(BOUNDARY(X))) ] {Präferenz: SC=BOUNDARY}

an, bei, auf und in

Im Gegensatz zu dimensionalen Präpositionen zeichnen topologische Präpositionen negativ-referenzpolare explizite Relationen aus (9). Auf diese Weise wird die Lokalisierung eines Themas anhand der mental präsentierten Zuordnung zu einem (Teil eines) Referenzobjekt(s) ausgedrückt (Abb. 61). (9)

Topologische Präposition: Xro λΐο [ shift(r, BLOB(lo), SC(ro)) & SPATIAL_CATEGORIZATION(r) ]

153

Abb. 61 : Konzeptuell repräsentierter negativ-referenzpolarer Aufmerksamkeitswechsel

Diese Eigenschaft stellt eine in der Literatur bisher nicht berücksichtigte Generalisierung bzgl. der Semantik dieser Präpositionen dar. Wie in Kap. 3 gezeigt, existieren dafür umso mehr verschiedene Ansätze zur Differenzierung von an und bei. Plausibel scheinen mir davon vor allem die Vorschläge von Li und Becker, die den relevanten Kontrast in dem Bezug der Lokalisierung auf die Randregion bzw. auf die Peripherie des RO sehen. Allerdings sind auch diese Vorschläge regionsbasiert und somit rein räumlich, wogegen ich bereits ausführlich argumentiert habe. Stattdessen schlage ich vor, dasjenige explizit zu modellieren, was Becker eher beiläufig und informal als Unterscheidungskriterium der beiden Präpositionen erwähnt: „Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß durch an der Rand fokussiert wird, der im Falle von bei nicht ,ins Blickfeld rückt'" (Becker 1994:113).

Topologische Präpositionen unterscheiden sich aber nicht nur in der Referenzpolarität von den dimensionalen Präpositionen. Wesentlich ist außerdem die Nicht-Konzeptualisierung eines RO-basierten Referenzsystems (und der damit assoziierten Achsen). Diese resultiert aus dem Umstand, daß das RO nicht den Ausgangspunkt des Aufmerksamkeitswechsels darstellt und somit kein mit ihm assoziierter räumlicher Referenzrahmen etabliert wird, bei läßt sich auf der Basis dieser Annahmen dadurch modellieren, daß der räumliche Referent des RO als Ganzes (BLOB(ro)) attendiert wird (Abb. 62a), an drückt dagegen die Aufmerksamkeitszuwendung auf eine Begrenzung des RO (BOUNDARY(ro)) aus (Abb. 62b). Die formalen Eigenschaften der bildhaften Darstellungen sind in (10) angegeben.

k

iiiiiiiiiiiiC? b. a. Abb. 62: Ganzobjekt- und BOUNDARY-bezogene negativ-referenzpolare Relationen

154 (10)

bei: an:

λτο λΐο [ shift(r, SC(lo), BLOB(ro)) ] Xro λΐο [ shift(r, SC(lo), BOUNDARY(ro)) ]

Diese Modellierung der Differentia specifica von bei und an anhand qualitativer Kriterien der Wahrnehmung von Raum verzichtet sowohl auf rein räumliche wie auch auf funktionale Aspekte (,Kontakt'). Die jeweilige Verwendung einer der beiden Präpositionen wird durch die LamP-Prinzipien determiniert: Ist die Aufmerksamkeit primär auf ein relativ kleines LO gerichtet, kann nur ein Teil des RO ins Blickfeld rücken; besteht Kontakt, wird der Sprecher eine Konzeptualisierung mit größerem Maßstab (Abb. 62b) vornehmen bzw. auf eine Begrenzung des RO fokussieren, was ebenfalls zur Kategorisierung von ,an' führt; in allen anderen Fällen nicht näher spezifizierter unmittelbarer Zuordnung zu einem RO als Ganzobjekt liegt eine konzeptuell kategorisierte, durch bei ausgedrückte explizite räumliche Relation vor. Das Kriterium ,BOUNDARY(ro)' bei an liefert außerdem eine Erklärung für die präferente Verwendung dieser Präposition im Zusammenhang mit Ecke, Rand etc.: Diese Nomina enthalten dieses Merkmal bereits als inhärente Eigenschaft und matchen so direkt die von der Präposition geforderte Spezifikation. Die Präposition auf ist ebenfalls der Klasse der topologischen Präpositionen zuzuordnen. Ihre Semantik unterscheidet sich in zweifacher Hinsicht von der der Präpositionen an und bei. Einerseits ist sie insofern spezifischer, als sie sich auf die Vertikale des Betrachterrahmens bezieht. Hierdurch wird der Anwendungsbereich von an und bei beschränkt und charakterisiert diese als „laterale" Präpositionen. 11 Andererseits ist die Semantik von auf im Hinblick auf die räumlichen Eigenschaften des RO unterspezifiziert. So kann ein Stein „auf dem anderen", aber auch „auf dem Boden" liegen, wobei das RO im ersten Fall als Ganzobjekt, im zweiten Fall als Fläche konzeptualisiert wird. Wieder ist es nicht notwendig, funktionale Beziehungen (in diesem Fall die Relation SUPPORT) in der Semantik anzunehmen. Stattdessen lassen sich, wie im Fall der OVERPräpositionen, die durch die Präposition ausgedrückten Aspekte der Perspektive (vertikale Zuordnung des LO zum RO) von dem Wissen über das Wirken von Gravitationskräften, Widerständen und Unterstützung trennen. Im Normalfall überlagern sich beide Aspekte, so daß die Verwendung von auf mit vorliegender Unterstützung korreliert. Liegt eine vertikale Beziehung, aber kein Support vor, so wird, nicht zuletzt aus Gründen der Kooperativität gegenüber dem Hörer, eine Umkonzeptualisierung vorgenommen. Zur Unterstützung dieser Argumentation sei an das oben aufgeführte Beispiel von Herskovits erinnert: Obwohl der Deckel („Lid") von dem Tisch unterstützt wird, ist er nicht als on the table charakterisierbar. Hierbei zeigt die Akzeptabilität des Ausdrucks bei einem anderen intervenierenden Objekt („brick"), daß Distanz für diesen Kontrast irrelevant ist. Diese Erscheinungen ergeben sich in dem hier vertretenen Rahmen aus allgemeinen LamPPrinzipien (Lokalisierungsprinzip) und der spezifischen ,auf-Charakteristika', die als (11) formal dargestellt sind. (11)

11

auf:

Xro λΐο

[ shift(r, SC(ro), SC(lo)) & dc(r, -VERT(BOUNDARY(X))) ] {Präferenz: SC = BOUNDARY}

Daß hierbei jedoch aktuale Vertikalität nicht direkt relevant ist, sondern die jeweilige Konzeptualisierung, zeigen Beispiele wie Oberlicht an der Zimmerdecke (an wird vertikal verwendet) oder Flecken auf der Fensterscheibe (auf wird nicht-vertikal verwendet).

155 Ein weiteres Argument für den Verzicht auf funktionale Relationen in der Semantik von auf liefern Verwendungen, in denen das Vorliegen einer Unterstützung in verschiedenem Maße fraglich (Ölfleck auf der Fensterscheibe, Leberfleck auf dem Rücken) oder faktisch nicht gegeben ist (Falten auf der Stirn). Betrachtungsschemata bieten hier eine Alternative, da sie konzeptuelle Interpretationen („Konzeptualisierungen") einer vorliegenden Gegebenheit ermöglichen. Funktionale Relationen sind ebenso wie der Bezug auf objektive Gegebenheiten oder die Verwendung rein räumlicher Konzepte nicht geeignet, als zentrale Bestandteile hinreichend abstrakter semantischer Spezifikationen zu dienen. Wie bei den topologischen Präpositionen wird auch für die semantische Charakterisierung der Präposition in in gängigen Analysen auf raumbasierte Konzepte (Lokalisierung des LO in einer Innenregion des RO) und/oder auf eine funktionale Relation (in diesem Fall: Containment) rekurriert. Ich habe bereits gezeigt, daß solche Analysen nicht alle Verwendungen erfassen (z. B. Knoten im Schnürsenkel), ohne daß die Termini .Lokalisierung', ,Innenregion' bzw. .Container' unangemessen überstrapaziert werden. Eine entsprechende aufmerksamkeitsbasierte Alternative der Semantik von in beruht auf einer Generalisierung der Verwendungen, die nicht einer Abstraktion räumlicher oder funktionaler Eigenschaften entstammt, sondern auf eine gemeinsame Eigenschaft bzgl. der jeweiligen Wahrnehmung von Raum zurückgeführt wird. Diese besteht darin, daß die explizite Relation zwischen RO und LO durch die zoomin-Operation hergestellt wird. Hierdurch werden einerseits die Fälle tatsächlichen Enthaltenseins des LO im RO erfaßt, aber auch solche, die allein aus der Projektivität einer Betrachtungssituation resultieren (s. Kap. 3.1.1). Ich habe bereits oben bemerkt, daß in aufgrund der andersartigen Kombinatorik mit Distanzadjektiven von den topologischen Präpositionen zu unterscheiden ist. Diesem Unterschied wird mit der Modellierung durch die zoom-Operation Rechnung getragen. Die Möglichkeit positiv-referenzpolarer Distanzmodifikation (weit im Aus, tief im Wald) ergibt sich aus der positiven Referenzpolarität der Relation und ist dadurch zu erklären, daß bei gleichbleibender Perspektive faktisch eine Distanz zwischen dem Rand des RO (Auftreffpunkt von OBS) und dem LO bestehen kann. Die Verwendung von in erfordert keine spezifische RO-Konzeptualisierung. Dies markiert einen wesentlichen Unterschied zur Präposition innerhalb, die keine Teil-Ganzes-Relation ausdrückt (Löcher im/§innerhalb des Käses), dafür aber die Begrenztheit des RO (§innerhalb des Nebels) und das vollständige Umschlossensein des LO im RO (§das Ei innerhalb des Eierbechers) voraussetzt (Beispiele nach Becker 1994:73). Dies deutet darauf hin, daß in mehr perspektivische, innerhalb viel direkter räumliche Aspekte ausdrückt. Da ich hierfür keine weitere Evidenz liefern kann, will ich den Unterschied in der Semantik der beiden Präpositionen daher provisorisch an der größeren Spezifik bzgl. der räumlichen Objektkategorisierungen bei innerhalb festmachen ((12)). (12)

in: innerhalb:

λΓ0λΐ0[ zoom_in(r, SC(ro), SC(lo)) ] λτο λΐο [ zoomJn(r, BLOB(ro), BLOB(lo)) ]

156 Die aufmerksamkeitsbasierte Modellierung von in hat a u ß e r d e m eine Konsequenz für die Erklärung variierender Transitivitätsschlüsse (13). 12 (13)

a. b.

interessante

Schlüssel im Schreibtisch, Schreibtisch im Zimmer —> Schlüssel im Zimmer Riß im Papier, Papier in der Schublade -/—> Riß in der Schublade

Ähnlich den Erscheinungen, wie sie Herskovits in bezug auf die Verwendbarkeit von AufRelationen diskutiert hat, ist die Transitivität von In-Relationen nicht immer gegeben. Die Nicht-Transitivität von Beispielen wie (13b) wird von Pribbenow (1993: 263f) anhand spezifischer Regeln inhaltlich behandelt (13b entspricht ihrem Beispiel auf Seite 264). Wie schon bei auf scheint dieses Phänomen aber auch abstrakter beschreibbar zu sein: Das Zulassen eines transitiven Schlusses erfordert danach die Etablierung einer direkten Relation zwischen R O und LO. Diese Beziehung ist nicht gegeben, wenn ein salientes oder relevantes Objekt interveniert (die Aufmerksamkeit auf sich zieht), was aus unterschiedlichen Gründen der Fall sein kann: Teil-Ganzes-Beziehung (,lid', ,jar') oder spezifische Figur-Grund-Beziehung ( , R i ß \ .Schublade'). Somit kann eine domänenspezifische Modellierung der Transitivitätsphänomene vermieden und durch die A n w e n d b a r k e i t eines domänenübergreifenden Prinzips in spezifischen Kontexten ersetzt werden.

7.1.5

Räumliche Präpositionen im Sprachvergleich

Ich habe zu Beginn der Arbeit auf die Problematik der Beziehung von Raumrepräsentation und der Semantik räumlicher Präpositionen hingewiesen, die vor allem im Sprachvergleich sichtbar wird (Tab. 1 ). Tasse(LO)-Tisch(RO) Deutsch

auf

Apfel(LO)-Schale(RO)

Griff(LO)-Tür(RO)

in

an

Holländisch

op

in

aan

Englisch

on

in

on

Finnisch

-Ila

-ssa

-ssa

Spanisch

en

en

en

Tab. 1: Präpositionen im Sprachvergleich (nach Bowerman 1996)

Hierbei geht es um die Frage, warum eine gegebene räumliche Konstellation in zwei Sprachen überhaupt durch verschiedene (d.h. nicht-äquivalente) Präpositionen - wie z.B. in (14) - ausgedrückt wird (trotz anzunehmender gleicher mentaler Repräsentation dieser Konstellation, gemessen an der interindividuellen Ähnlichkeit kognitiver Systeme), worauf die Unterschiede im speziellen zurückzuführen sind und wie die Semantik der Präpositionen jeweils zu konzipieren ist.

12

Vgl. auch Johnson-Lairds Argumentation gegen eine „blinde" Transitivität, die er am Beispiel der Nicht-Transitivität dimensionaler Relationen zwischen Objekten, die um einen runden Tisch herum piaziert sind, exemplifiziert hat (Johnson-Laird 1983:261).

157 (14) (15) (16)

a. b. a. b. a. b.

picture on the wall Bild §auf/an der Wand sun on the horizon Sonne §auf dem/am Horizont Loch auf Strumpf (russ.) Loch im Strumpf

Die Unterscheidung implizit repräsentierten Raums und explizit repräsentierter Mikroperspektivierung von Raum liefert hierfür eine Erklärung: Erstens existieren prinzipiell verschiedene Möglichkeiten der Mikroperspektivierung einer Konstellation, die sich neben der Festlegung der Referenzpolarität aus der räumlichen Kategorisierung der beteiligten Objekte, der Art des Aufmerksamkeitswechsels und der Kategorisierung des Wechsels in bezug auf Achsen unterschiedlicher Referenzsysteme ableiten. Dies führt jeweils zu bestimmten konzeptuellen Kategorisierungen (-> Konzeptualisierungen), deren sprachliche Ausdrücke einen Kontrast wie z.B. in (14-16) ergeben. Zweitens bedingen die Aspekte der Mikroperspektivierung ein Potential unterschiedlicher sprachlicher Kategorisierung: Es existieren prinzipiell begrenzt viele verschiedene Möglichkeiten der Versprachlichung konzeptuellen Materials (der Mikroperspektivierung von Raum), und Sprachen können in dieser Hinsicht mehr oder weniger stark differieren (Tab. 1). Drittens ist die Semantik räumlicher Präpositionen nicht mithilfe „objektiver" Kriterien (umgebungsbezogene Lateralität, Vertikalität einer Lagebeziehung usw.) zu charakterisieren (diese Ansicht wird ebenfalls im Rahmen der kognitiven Semantik vertreten, s. Lakoff 1987, Cienki 1989). 13 Ansonsten wären on und an äquivalent (beide bezeichnen jeweils eine laterale und eine vertikale Beziehung in (14) und (15)). Präpositionen bezeichnen stattdessen jeweils spezifische Mikroperspektivierungstypen, deren flexible Instantiierung die Unterschiedlichkeit der beschriebenen Konstellationen bedingt. Präpositionen drücken daher jeweils eine spezifische „Sicht" solcher Konstellationen aus (vgl. Kratzer in/auf/an der Wand), die für Objektpaare oftmals konventionell in einem Sprachsystem fixiert ist (17a,b), dabei aber nicht mehr unbedingt transparent sein muß (17c). Dies zeigt sich insbesondere auch an solchen Konstellationen, die nicht die räumlichen Eigenschaften der entsprechenden prototypischen Verwendungen aufweisen (16, 18). (17)

(18)

13

a. b. c. a. b.

Insel im Meer island on the sea children on the bus wrinkles on the forehead carving on a stone

Der weitgehende Verzicht auf funktionale Kriterien in der Semantik, wie auch auf direkten Bezug auf implizit räumliche Vorstellungsschemata (image schemata), unterscheidet die aufmerksamkeitsbasierte Semantik allerdings von Ansätzen der kognitiven Semantik.

158 7.2

Dimensions- und Distanzausdrücke

Es ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit bislang wenig darüber gesagt worden, in welchem Zusammenhang Distanzen/Distanzeigenschaften und räumliche Relationen stehen, obwohl die Kombinatorik der entsprechenden sprachlichen Ausdrücke durchweg als ein diagnostisches Kriterium verwendet werden. Dies hat seine Ursache darin, daß - abgesehen von den empirischen Untersuchungen zur Repräsentation und Verarbeitung von Distanzen wie ζ. B. in den Arbeiten von Sadalla et al. (1979), Sadalla/Staplin (1980) - die in verschiedenen Disziplinen vorgeschlagenen Distanzkonzepte und ihre Eigenschaften (prototypisch: „How near is near?", Denofsky 1976; s. auch Zernik/Vivier 1988) vorwiegend an dem sprachlichen Inventar zum Ausdruck von Distanzinformation orientiert sind (Hernández 1994, Pribbenow 1993) und der Bezug zu nicht-sprachlichen Aspekten sowie zu räumlichen Relationen kaum untersucht ist. Um den auch hier vorliegenden interdisziplinären Zirkel zu durchbrechen, ist es notwendig, die Beziehung räumlicher Relationen und Distanzen näher zu beleuchten. Dies soll im folgenden, zunächst anhand einer genaueren Betrachtung der semantischen und konzeptuellen Aspekte dimensionaler Adjektive (also Dimensions· und Distanzadjektive, kurz: D-Adjektive), geschehen.

7.2.1 7.2.1.1

Semantische und konzeptuelle Aspekte dimensionaler Adjektive Markiertheit

Wie bereits in Kap. 3 dargestellt, basiert die Theorie Bierwischs zur Semantik von DAdjektiven („Semantik der Graduierung", im folgenden SdG) auf zwei grundlegenden Annahmen. Erstens darauf, daß eine Adjektiv-spezifische Abmessung auf eine ihr entsprechende Skala abgebildet wird, die als Basis für Vergleichsoperationen verschiedener Abmessungen dient. Zweitens auf der Annahme, daß die Polarität der Adjektive (und somit die Trennung in unmarkierte (+Pol)-Adjektive wie lang und weit bzw. markierte (-Pol)Adjektive wie kurz und nahe) durch den relativen Bezug zu einem Vergleichswert ν repräsentiert wird, wobei der spezifische Skalenwert einer Abmessung durch Skalenwertaddition (von ν und einem Differenzwert c) bei (+Pol)-Adjektiven und Skalenwertsubtraktion (von einer Norm und c) bei (-Pol)-Adjektiven dargestellt wird. Skalenwertsubtraktion wird dabei als die komplexere der beiden Operationen aufgefaßt, da sie zusätzlich die Invertierung eines Skalenabschnitts involviert. Hieraus ergibt sich eine weniger komplexe semantische Repräsentation für (+Pol)-Adjektive, wodurch wiederum die allgemein attestierte semantische Unmarkiertheit dieser Adjektive erklärt werden kann. Es ist leicht ersichtlich, daß durch die erste Annahme beliebige Distanz-Abmessungen erfaßt werden (also auch solche, die unterhalb der jeweiligen Norm liegen). Entsprechend liefert diese Theorie keinen Hinweis darauf, wieso die mehrfach angeführten Beispiele mit (-Pol)-Distanzadjektiven inakzeptabel sind (§naher Weg usw.). Die Annahmen, die als „Modul" für die Behandlung von Graduierungseigenschaften aufgefaßt werden können, ermöglichen ebenfalls keinen Aufschluß darüber, wieso eine Interaktion mit anderen Ausdrücken auftreten sollte, wie sie an den Kompatibilitätsphänomenen sichtbar wird (§weit

159 bei, nahe bei). Erklärungsbedürftig bleibt aus demselben Grund die Motivation für die Bildung von sprachlichen Formen als „Ersatz" für fehlende (-Pol)-Adjektive (ζ. B. die Präposition unweit oder das Nomen Untiefe angesichts eines fehlenden Antonyms für tief, vgl. Lang 1987). Die zweite Annahme in SdG wird formal dem gerecht, was in der Psycholinguistik als Semantischer Markiertheitseffekt (semantic markedness effect) bekannt geworden ist (Schriefers 1985). Damit wird der Umstand bezeichnet, daß bei Vorgabe zweier sich entlang einer Dimension unterscheidender Stimuli (und einem Kreuz als Topik-Markierung) das „größere" Objekt stets schneller durch das entsprechende - unmarkierte - Adjektiv (taller, bigger) benannt wird als das „kleinere" durch das - markierte - antonyme Adjektiv (shorter, smaller) (s. Abb. 63) 14 .

1-1

-

-

-

+ VP: "shorter"

+ VP: 'taller"

Abb. 63: Untersuchung von Markiertheitsphänomenen (Schriefers)

Wesentlich bei den Experimenten, die Schriefers hierzu durchführte (s. auch die Zusammenfassung in Levelt 1989:229), war der Kontrast zu nicht-sprachlichen Reaktionen: Mußten die Versuchspersonen per Tastendruck reagieren, so verschwand der charakteristische Unterschied. Wie erwähnt wird dieser Effekt in SdG als Resultat einer spezifisch semantischen Verarbeitung aufgefaßt, die sich für den Skalenwert des markierten (-Pol)Adjektivs ([v - c]) komplexer gestaltet als für den Wert des unmarkierten Adjektivs. Diese repräsentationale Auffassung wird von Schriefers explizit unterstützt, eine mögliche prozedurale Umsetzung skizziert er wie folgt: „A translation of Bierwisch's conception in a more process-oriented psychological theory could be achieved in the framework of procedural semantics where the meaning of dimensional adjectives would be conceived of as a sequence of test procedures on, among others, the values of ç and ν and the polarity of their concatenation." (Schriefers 1985:133) 14

Die bildliche Darstellung der entsprechenden Versuchsitems ist Levelt (1989:228) entlehnt. Dabei ist zu beachten, daß Schriefers in seinen Versuchen die holländischen Pendants der Relationen größer, kleiner, länger und kürzer verwendet hat. In bezug auf die Längenvergleiche der vertikal orientierten Balken weist Schriefers (auf der Grundlage von Voruntersuchungen) darauf hin, daß die Versuchspersonen diese Items anhand von Längenunterschieden (d. h., anhand der Dimension ,max') charakterisieren (Schriefers 1985:74). Streng genommen ist Levelt's Darstellung daher insofern nicht vollständig korrekt, als er durch die Verwendung von taller eine konzeptuelle Kategorisierung der Balken als vertikal orientiert (,max vert') voraussetzt/suggeriert (zur Modellierung der konzeptuellen Repräsentation solcher unterschiedlicher Bezüge auf den Umgebungsraum s. Lang/Carstensen/Simmons 1991).

160 Liegen auf der konzeptuellen Ebene wirklich nur uniforme Abmessungen vor, die erst auf der sprachlichen (d. h„ semantischen) Ebene unterschiedlich kategorisiert werden? Und ist die Modellierung der Markiertheitsunterschieds anhand von Operationen auf Intervallskalen angemessen?

7.2.1.2

Kongruität

Einschlägig für die Beantwortung der ersten Frage sind Untersuchungen zum sogenannten Kongruitätseffekt (congruity effect), der eine spezifische Beziehung der relativen Ausdehnung zweier Objekte in einer Dimension und der absoluten Ausdehnung dieser Objekte in dieser Dimension sichtbar macht (Banks et al. 1975, Schriefers 1985): Wurden Versuchspersonen z. B. Paare langer Objekte präsentiert, so reagierten sie schneller mit der Antwort „taller" als mit „shorter", waren beide Objekte insgesamt eher kurz, so kam die Antwort „shorter" schneller als die Antwort „taller" (s. Abb. 64).

-

-

+ VP: "shorter"

+

D

VP: "taller"

Abb. 64: Untersuchung von Kongruitätsphänomenen (Schriefers)

Entscheidend hierbei war wiederum der Test mit einer nicht-sprachlichen Tastenreaktion: Im Gegensatz zum Semantischen Markiertheitseffekt verschwand der Unterschied nicht. Offensichtlich muß also schon auf der konzeptuellen, sprachunabhängigen Ebene eine Aufteilung der Werte entlang einer Dimension in zwei Bereiche angenommen werden, ähnlich der Aufteilung, die sich auf der sprachlichen Ebene in der Antonyme der entsprechenden Adjektive niederschlägt. Schriefers erklärt diese Ergebnisse anhand einer Interferenz auf der Entscheidungs- oder Kategorisierungsebene, die durch das Vorliegen zweier unterschiedlicher, separat kodierter Informationstypen entsteht. Danach wird sowohl die absolute Größe eines Items relativ zu einer entsprechenden Norm (,x > N ' oder ,x < N') als auch seine relative Größe relativ zu dem anderen Item kodiert. Entsprechend ist eine Reaktionszeitverzögerung zu erwarten, wenn sich beide Codes widersprechen, bzw. eine Reaktionszeitverkürzung, wenn beide übereinstimmen. Das erwartete Ergebnis zeigte sich in den Experimenten unter der sogenannten PREBedingung, bei der zunächst das Kreuz, dann die beiden Items präsentiert wurden. Es zeigte sich hingegen nicht in der sogenannten POST-Bedingung, in der diese Reihenfolge umgekehrt war (erst die Präsentation der Items, dann das Erscheinen des Kreuzes). Dies

161 läßt sich nach Schriefers darauf zurückführen, daß in der PRE-Bedingung die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Item gelenkt wird und das andere „from the point of view" dieses attendierten Items, also in spezifischer Weise, relativ kodiert wird (ζ. Β. ,a < b' oder ,b > a': „a ist kleiner als b" oder „b ist größer als a"). Für die POST-Bedingung nimmt er hingegen an, daß die VPs ausreichend Zeit für die Anwendung einer „optimal preparation strategy" haben, so daß die relative Beziehung der Items unspezifisch repräsentiert wird (z. B. ,a ': „a ist das kleinere Objekt und b ist das größere Objekt"). Die in der Tradition extrinsisch-propositionaler Repräsentationen verwurzelten Darstellungen relativer Größe verdecken die Ähnlichkeit und Kompatibilität der Analyse von Schriefers mit dem Intervall-Ansatz in SdG. Um dies zu zeigen, werde ich sein Modell in ein äquivalentes, auf impliziten Repräsentationen von Größenrelationen basierendes Modell überführen. Hierfür ist zunächst davon auszugehen, daß die Items für einen Vergleich auf eine Weise „überlagert" werden, die der in SdG beschriebenen .Projektion auf eine Skala' entspricht (Überlappung der Grade da und db bei gleichem Anfangspunkt, s. Abb. 65). Weiterhin nehme ich an, daß der Überlagerungsprozeß in dem visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis operiert und in einer analogischen, impliziten Repräsentation der Größenrelation resultiert. Diese Repräsentation, in der ,da c db' gilt, macht somit die Annahme der unspezifischen, propositionalen Relationsdarstellung ,a ' überflüssig. Geht man außerdem für die Beschreibung der Tastenreaktionen von internalisierten Regeln der Form (19) aus, ergibt sich die Symmetrie der nicht-sprachlichen Reaktionen direkt aus der Anwendung dieser Regeln. b

da:[

a

]

Abb. 65: Überlappung von Intervallen bei der Graduierung

(19)

a b.

WENN dx c dy und TOPIC(x) D A N N drücke , Kleiner'-Taste WENN dx c dy und TOPIC(y) D A N N drücke ,Größer'-Taste

Der Kongruitätseffekt läßt sich auf dieser Basis ohne spezifische propositionale Größenrelationen erklären. Nimmt man mit Schriefers an, daß in der PRE-Bedingung die Aufmerksamkeitszuwendung auf ein Item zunächst zur Kodierung der absoluten Größe führt (,dx c N ' oder ,N c dx'), so hat dies bereits eine Regelaktivierung zur Folge, die in entsprechender Weise mit der Reaktion auf die relative Größe (,da c db', ,db c da') interferiert. Hierbei bleibt allerdings die Größenrelation implizit und wird nicht auf unterschiedliche Weise expliziert. Für die POST-Bedingung wäre von einer „Verblassung" (d.h., einem Wegfall) des norm-bezogenen Größencodes auszugehen, so daß Entscheidungen ohne Interferenz stattfinden. Für den Markiertheitseffekt, der, wie Schriefers gezeigt hat, im Rahmen der Versprachlichung konzeptueller Größenrelationen angesiedelt ist, bietet sich direkt die in SdG vorgeschlagene, auf Verarbeitungsunterschiede von Skalenintervallen zurückzuführende Polaritätsasymmetrie an.

162 Akzeptiert man diese Interpretation der Ergebnisse von Schriefers, so müssen die oben gestellten Fragen positiv beantwortet werden: Einerseits läßt sich offenbar selbst der Kongruitätseffekt anhand einer uniformen (extrinsischen oder intrinsischen) konzeptuellen Repräsentation in Form von Intervallen auf einer Skala erklären; Andererseits bieten sich Spezifika der Intervallarithmetik auf der semantischen Ebene als Erklärung für den Markiertheitseffekt an. Ein Experiment, das diese Schlußfolgerungen infrage stellt, wird von Banks et al. (1975) geschildert. Sie präsentierten Versuchspersonen Stimuli der in Abb. 66a dargestellten Art und fragten „Which balloon is higher/lower?" (A) bzw. „Which yoyo is higher/lower?" (B), wobei die Länge der Striche und somit die Diskriminierbarkeit des Unterschieds in einem Paar variiert wurde. Außerdem untersuchten sie (bzgl. derselben Displays) die Reaktionen auf die Frage „Which string is longer/shorter?". Bzgl. der Länge der Leinen und der Höhe der Ballons ergab sich in Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Schriefers deutlich der Semantische Markiertheitseffekt: Die Reaktion auf die Frage nach dem markierten Adjektiv dauerte stets länger (s. Abb. 66b).

Ballons

Jo-jos

a. b. Abb. 66: Einfluß des Kontexts auf die Graduierung (nach Banks et al. 1975:38,40)

Von den Autoren erwartet, aber vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung überraschend, ist jedoch das Ergebnis bzgl. der Fragen nach der Höhe der Jojos. Hier zeigte sich ein von den Autoren als Kongruitätseffekt gedeuteter crossover effect in markanter Ausprägung (s. Abb. 66b): Die entsprechenden Reaktionen bei markiertem Adjektiv kamen diesmal schneller als die bei unmarkiertem Adjektiv (wenn auch, was zu beachten ist, die Reaktionszeiten insgesamt länger waren)! Hierbei liegt augenscheinlich kein Normbezug vor, durch den die unterschiedlichen Reaktionen anhand der Interferenz absoluter und relativer Codes erklärt werden könnten. Offenbar ist bei Entscheidungen bzgl. vertikal orientierter Abmessungen also mehr involviert als die nicht-sprachliche Abbildung auf eine

163 Skala und sprachliche Intervallarithmetik, da die Abmessungen vom Boden (ground) zum jeweiligen Objekt für die Ballons und Jojos gleich ausfallen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erklärung der Autoren für das Resultat, daß die Höhenbeurteilungen bzgl. der Ballons grundsätzlich schneller erfolgen als bei Jojos: „[...] it may be that subjects have visual scanning strategies or expectations that favor the balloons" (op. cit., S. 43, Hervorhebung von mir). Allgemein gehen Banks et al. von den folgenden Annahmen aus, die auf der Diversität prä-linguistischer Codes beruhen (S. 38): „When asked to judge relative height, we assumed, the subjects would see the ballons as 'going up' from the bottom and would ordinarily code them as HIGH and HIGH+. In contrast, we assumed, they would see the yo-yos as 'going down' from the top and would ordinarily code them as LOW and LOW+. [...] But when asked to judge the relative length of the strings, we assumed, subjects would code the ballons and yo-yos in the same way. This is so because the length of a string does not depend on whether it .points' up or down. For both ballons and yo-yos subjects should code the strings as LONG and LONG+."

Auf der Grundlage dieser Annahmen, die durch die Experimente bestätigt wurden, schlagen die Autoren ihr „semantic congruity model" vor, in dem die Phänomene anhand des differenzierten Erfolgs der Übereinstimmung dieser auf der perzeptuellen Ebene gebildeten Codes mit den linguistischen Instruktionscodes der jeweiligen Fragen erklärt werden. Dieses Modell weist aber zwei wesentliche Schwachpunkte auf. Zum einen ist nicht geklärt, was unter den perzeptuellen dichotomen Kategorien (HIGH vs. LOW usw.) zu verstehen ist. Dabei sind die Aspekte der Graduierung und Komparation lange nicht so detailliert analysiert wie es in SdG versucht wird. Zum anderen verwenden Banks et al. den Markiertheitsterminus auf der perzeptuellen Ebene, wenn sie schreiben, daß „subjects coded the balloons as the unmarked, and easier, HIGH/HIGH+, and the yo-yos as the marked, and harder, LOW/LOW+" (S. 43). Dies ist zumindest auf den ersten Blick nicht mit den Ergebnissen von Schriefers vereinbar und erfordert somit eine genauere Charakterisierung der konzeptuellen Repräsentation und Verarbeitung sowie deren Bezug zu sprachlichen Repräsentationen.

7.2.1.3 7.2.1.3.1

Graduierung Situiertheit von Skalen

An den Ergebnissen von Banks et al. läßt sich zum einen ablesen, daß die Schlüsse, zu denen Schriefers anhand der Betrachtung der Längendimension gelangt, nicht auf einfache Weise verallgemeinert werden können: Der Kongruitätseffekt bei higher und lower in ihrem Experiment weist deutlich darauf hin, daß die Richtung des Scannens - induziert durch den visuellen Kontext - der Richtung der zugrunde liegenden Dimension entgegengesetzt sein kann. Die Ergebnisse zeigen außerdem, daß die konzeptualisierte Ausrichtung der Objekte mit den Adjektiven korreliert (z. B. „Hängerichtung" der Jojos und lower). Dies bedeutet, daß eine aktuale Skala bei kontextueller Spezifikation situiert sein kann, d. h., daß sie in einen Referenzrahmen eingebettet ist. Es ist daher auszuschließen, daß die Repräsentation und Verarbeitung von Skalen ein eigenständiges und undurchlässiges Modul darstellt. Auftre-

164 tende Richtungseffekte und -aspekte dürfen somit weder als Randerscheinungen einer Intervalldarstellung betrachtet noch durch entsprechende Intervall-Operationen modelliert werden. Dies impliziert die relative Eigenständigkeit dieser Aspekte bzw. kennzeichnet sie als Instanzen eines allgemeineren Mechanismus, den ich weiter unten als aufmerksamkeitsbasierten Perspektivierungsmechanismus rekonstruieren werde. Diese Hypothese, daß DAdjektive nicht ausschließlich intervallbasiert analysiert werden können, läßt sich anhand des von Lang (1987) und Bierwisch/Lang (1987b) diskutierten und über rein semantischen Prinzipien behandelten Problembereichs der Antonymlücken näher untersuchen. Lang (1987:362f) nennt Beispiele wie (20), die belegen, daß bei kontextuell induzierter Spezifizierung einer Objektabmessung die entsprechenden (-Pol)-D-Adjektive nicht akzeptabel sind (zu unterscheiden von Beispielen wie in (21), in denen objektkonstitutive, also intrinsische, Vertikalität vorliegt). Aus diesem Grund führt er das Prinzip PKS+ (22) ein, um dieses Phänomen zu erfassen. (20)

a. b.

Die Stange A ist höher als die Stange Β Die Stange Β ist §niedriger/weniger hoch als die Stange A

(21)

a. b.

Der Eiffelturm ist höher als der Münsterturm Der Münsterturm ist niedriger als der Eiffelturm

(22)

PKS+ (Lang): Kontextuell induzierte spezifikatorische Auszeichnungen (+Pol)-Dimensionsadjektive vorgenommen werden

eines Objekts χ können nur durch

Gegen dieses Prinzip läßt sich jedoch einwenden, daß auch bei Objekten mit objektkonstitutivem (d. h., nicht durch den Kontext induzierter) Bezug auf den Umgebungsraum Antonymlücken vorliegen können (23). Im Fall von tief existiert nach Lang sogar kein echtes Antonym, da flach als eigenständiges Gestaltadjektiv zu betrachten ist (Lang 1987:322ff). Ähnliches gilt für das englische tall (Auszeichnung einer vertikalen maximalen Abmessung), für das short als Antonym verwendet wird. Andererseits lassen sich kontextuell spezifizierte Auszeichnungen auch durch (-Pol)-Adjektive durchführen, wenn die Objekte groß genug sind (s. (24)). (23)

a. b.

Brunnen sind §flacher/weniger tief als Erdöl-Bohrlöcher Der Grashalm ist §niedriger/weniger hoch als das Blümchen

(24)

Der Granitblock ist niedriger als der Betonklotz

Das Prinzip PKS+ ist deshalb unzureichend und als ebenso provisorisch zu betrachten wie der nachfolgende Vorschlag von Bierwisch/Lang (1987b:688), nur bei (+Pol)-Adjektiven aktuale situative Skalierung zuzulassen. Dies wiederum läßt sich als ein weiterer Hinweis auf eine grundlegende Inadäquatheit einer ausschließlich intervallbasierten Behandlung von Graduierung ansehen, was von Bierwisch/Lang selbst eingeräumt wird: „Die bisher vorgeschlagenen SF und CS sind für die Lösung dieses [...] Problems nicht eingerichtet" (Bierwisch/Lang 1987b:688). Ist die Verwendung eines (-Pol)-Adjektivs (aus welchen Gründen auch immer) nicht möglich, kann die Skalierung bzgl. der dekontextualisierten Objektdimension vorgenommen (der Maximalen im Fall des Antonymenpaares tall/short), eine abstrakte Graduierung

165 durchgeführt (weniger tief, less tall), oder eine negative U m s c h r e i b u n g (nicht so wie) verwendet werden.

7.2.1.3.2

hoch/tief

Abstrakte Graduierung

Die Versprachlichung von Graduierungsoperationen erfordert nicht notwendigerweise eine dimensional spezifizierte Skala. E i n e solche abstrakte Graduierung wird ζ. B. durch die sprachlichen Einheiten in (25a) ausgedrückt. Dies hat einerseits zur Folge, d a ß diese Ausdrücke z w a r ebenfalls r ä u m l i c h e A s p e k t e charakterisieren (25b), aber auch in anderen D o m ä n e n ( - » Quantifizierung von M e n g e n und Massen, s. (25c)) und bzgl. anderer als den räumlichen Dimensionen (25d) auftreten können. Andererseits führt es dazu, d a ß in bezug auf eine einzelne A b m e s s u n g äußerst k o m p l e x e Graduierungsausdrücke möglich werden, so d a ß abstrakte G r a d u i e r u n g s c h e i n b a r auf u n t e r s c h i e d l i c h e n (Abstraktions-)Ebenen ablaufen kann (26a). (25)

a. b. c. d.

viel/ mehr/ am meisten, wenig/ weniger/ am wenigsten viel höher, wenig länger, weniger weit als viele Leute, viel Geld viel früher, wenig wärmer, mehr als 5

(26)

a. b.

sehr viel mehr als 10cm weniger lang Hans ist viel kleiner als Eva

Bierwisch argumentiert plausibel dafür, daß das Vorliegen abstrakter Graduierung zu einer Skalenstapelung („in gewissem Sinn: die Ausstattung eines Skalenabschnitts einer Skala mit den Eigenschaften einer eigenen Skala", Bierwisch 1987:196) führt. Für den von ihm als Beispiel verwendeten A u s d r u c k (26b) bedeutet dies die Existenz zweier Skalen (vgl. A b b . 67): Einer QD-Skala f ü r die D i m e n s i o n D (hier: M A X V E R T ) und einer reinen QSkala f ü r das durch viel ausgedrückte Q u a n t u m . Der Differenzbetrag χ der Komparation ist, determiniert durch die +Polarität von viel und die B e d i n g u n g e n der Variablenbelegungen, ein Grad oberhalb von N c auf der Q-Skala. In analoger W e i s e ergibt sich eine Skalenstapelung f ü r den Gradpartikel sehr (sehr klein, sehr viel kleiner).15 D i e s e auf Objektdimensionen bezogenen Aspekte der Graduierung gelten analog f ü r die Dimension der Distanz zwischen Objekten (vgl. sehr viel weiter/näher u. ä.).

15

Hierzu paßt auch die von Bierwisch beobachtete Entsprechung von sehr klein und viel kleiner (Bierwisch 1987:195): Im ersten Fall ist der Wert von ν der konzeptuelle Normwert N c , im zweiten Fall wird er durch das interne Argument der Komparation lexikalisch spezifiziert. Syntaktisch nimmt Bierwisch hierfür zwei Ebenen der Repräsentation an: GP (2 Meter, sehr) und GP' mit GRAD' (viel) als Kopf, der eine GP theta-markiert.

166 D(Eva)

χ Abb. 67: Skalenstapelung (nach Bierwisch 1987:195)

Allerdings ist auch dieser Aspekt der intervallbasierten Graduierungstheorie nicht ohne Probleme. So schreibt Eschenbach in einer Fußnote: „Die Analyse von Bierwisch und Lang bietet keine Basis, die Verteilung von sehr und viel in bezug auf die Adjektivformen zu erklären [...] und liefert bei der Äquativkonstruktion mit negativpolaren Dimensionsadjektiven ein inkorrektes Ergebnis: Der Elefant ist so klein wie die Maus groß ist ergibt eine semantische Repräsentation, die sich wie folgt paraphrasieren läßt: Der Elefant ist um so viel kleiner als ein Normwert wie die Maus größer als ein Normwert ist" (Eschenbach 1995:216).

Dieser Bemerkung läßt sich hinzufügen, daß Ausdrücke wie §v/e/ lang und §sehr länger in SdG nur durch ein äußerst komplexes Zusammenspiel von Prinzipien und Regeln als semantische Inkompatibilitäten erklärt werden (können). Auch sind die Elemente mehr und weniger explizit provisorisch (Bierwisch 1987:197) behandelt: Ihre Formen werden uneinheitlich repräsentiert (als M und als GRAD), dadurch werden nicht alle ihrer Verwendungsinstanzen erfaßt (ζ. B. sehr viel mehr als 5 m lang). Die Aussagen Bierwischs an dieser Stelle legen nahe, daß die Analyse auch für mögliche Verwendungsweisen anderer Elemente wie beinahe zu eng gefaßt ist (z.B. für beinahe so lang wie die Stange). Ich werde unten für einige dieser Probleme, die meiner Ansicht nach grundlegend auf der Intervallbasiertheit des Ansatzes beruhen, einen alternativen Vorschlag machen.

7.2.1.4

Zwischenresümee

Die vorangegangenen Betrachtungen zu semantischen und konzeptuellen Aspekten dimensionaler Adjektive zeigen, daß die gegenwärtigen Analysen dieser Adjektive eine Reihe wesentlicher Punkte unerklärt lassen. Dies betrifft erstens das Phänomen der Kombinatorik von Distanzadjektiven und räumlichen Relationen. So ist nahe nur mit proximalen Präpositionen (an, bei) klar kompatibel, weit nur mit bestimmten anderen Präpositionen (vor, hinter, neben usw.), Partikeln (weg usw.) und Verben (laufen, ragen usw.). Solche Restriktionen bzgl. der Kombinationsmög-

167 lichkeiten sind nicht zu erwarten, wenn den räumlichen Adjektiven eine Einordnung eines linear räumlichen Quantums auf einer Skala (ober-/unterhalb einer Norm im Normbezug) zugeschrieben wird. Auf diese Weise müßte jede .große Distanz' als weit, jede .geringe Distanz' als nahe verbalisiert werden können, was nicht der Fall ist. Dies stellt die ontologische Basis eines intervallbasierten Ansatzes infrage, ein Kritikpunkt, der durch den Ansatz Eschenbachs mit Graden als primitiven Objekten unterstützt wird. 16 Außerdem wird den in Kap. 3.3.3 aufgeführten Präferenz, Akzeptabilitäts- und Grammatikalitätsphänomenen bei der Kombinatorik von Distanzphrasen und lokalen PPs nicht gerecht. Zweitens zeigen die Experimente von Banks et al. anhand der Reaktionszeitunterschiede bei extensional gleichen Distanzabmessungen, daß bereits auf der konzeptuellen Ebene unterschiedliche Kategorisierungen einer bestimmten Abmessung existieren (die nicht durch die Kongruität von absoluten und relativen Codes erklärt werden können), so daß der Markiertheitseffekt nicht als rein semantisches Phänomen angesehen werden darf, sondern über die Kongruität semantischer und entsprechend unterschiedlicher konzeptueller Codes rekonstruiert werden muß. Dies entspricht grundlegend einer deklarativen Auffassung, wonach die der Antonymie zugrundeliegenden Oppositionen sowohl auf der konzeptuellen als auch auf der semantischen Ebene repräsentiert sind und prozedurale Aspekte ausschließlich durch Um- oder Rekodierungsprozesse auf der konzeptuellen Ebene ins Spiel kommen. Bierwisch und Schriefers - beide geleitet durch die jeweils eingenommene (Interpretations- bzw. Produktions-) Perspektive - vertreten hingegen eine prozedurale Auffassung der Semantik der Graduierung, indem sie den Markiertheitseffekt auf die Spezifik bestimmter Intervalloperationen auf der semantischen (nach Bierwisch rein sprachlichen) Ebene zurückführen. Hierbei bleibt aber offen, wieso Invertierungsoperationen von Skalenabschnitten auf der dem Sprachsystem zugeordneten semantischen Ebene angesiedelt sein sollen. Drittens bleibt die Antonymlücke bzgl. des Dimensionsadjektivs tief ungeklärt: Zwar existiert das Adjektiv flach, jedoch ist seine Anwendbarkeit abhängig von der Gestalt des Objekts und nicht allgemein auf die Betrachterachse bezogen (vgl. flacher See/Graben, §flaches Bohrloch, s. hierzu Lang 1987).17 Ebenfalls ist nicht ersichtlich, wie die DistanzKombination §tief hinter ausgeschlossen werden kann. Sie ist inakzeptabel, obwohl mit hinter sowohl eine zu tief kompatible (Richtungs-)Präposition und gleichzeitig konzeptuell eine entlang der Betrachterachse verlaufende Richtung angesprochen wird. Viertens wird die Semantik der D-Adjektive als Eigenschaft eines Objekts (und nicht, z. B„ als Eigenschaft einer Objektrelation) konzipiert. Aus diesem Grund erhalten zudem

16

17

Allerdings bleibt Eschenbach in ihrer Arbeit den Nachweis einer ebenso detailreichen Analyse sprachlicher Graduierungsphänomene, wie Bierwisch sie vorstellt, schuldig. Beispielsweise formalisiert sie die Antonymität der Adjektive schwer und leicht und ihre Kombination mit Maßangaben wie folgt: schwer: (Xg) λχ [amount(gew_f(x)) > g] leicht: (Kg) λχ [g > amount(gew_f(x))] drei Gramm schwer: λχ [amount(gew_f(x)) > g A q(3)(gram')(g)] Hierbei ist jedoch unersichtlich, in welcher Weise die Polarität der Adjektive mit dem Gebrauch von Maßphrasen interagiert, d. h., wie die Markiertheit von §drei Gramm leicht zu erklären ist. Interessanterweise lassen sich auch die angesprochenen Inkompatibilitäten prinzipiell als das Fehlen der jeweiligen Antonyme interpretieren.

168 Ausdrücke wie weiter Weg eine falsche Interpretation (,Weg, der weit von einem y entfernt ist' statt ,Weg, der eine große Distanzausdehnung aufweist'). All diesen Kritikpunkten ist gemeinsam, daß sie auf das Fehlen eines Parameters hindeuten, der eine für die Lösung der angesprochenen Probleme benötigte feinere Differenzierung ermöglicht.

7.2.2 7.2.2.1

Graduierung und Aufmerksamkeit Die Unterscheidung impliziter und expliziter Distanzrepräsentationen

An diesen Erörterungen wird deutlich, daß sprachliche Distanzen, so wie sie durch entsprechende Distanzphrasen ausgedrückt werden, keinesfalls von der nicht-sprachlichen, konzeptuellen Verarbeitung zu trennen sind und daher nicht auf die in SdG vorgeschlagene Weise erst auf der semantischen Ebene unterschieden werden dürfen. Die Kongruitätsphänomene zeigen, daß bereits auf der nicht-sprachlichen Ebene entsprechende Distinktionen vorgenommen werden, die wiederum mit der sprachlichen Antonymie korrelieren. Allerdings wäre es unberechtigt, die Allgemeinheit des semantischen Markiertheitseffekts zu mißachten und die Antonymie in Form normbezogener Kategorien (HIGH/LOW, BIG/SMALL usw.) auf die konzeptuelle Ebene zu verlagern: Würden sich die Adjektive direkt auf konzeptuelle Kategorien dieser Art beziehen, so ließe sich nicht die unmarkierte Auszeichnung (ζ. B. Wie lang ist die Stange? Nur 2cm lang!) erklären, bei der gerade kein Normbezug vorliegt. Stattdessen müssen offenbar gerade solche Unterschiede angenommen werden, wie sie von Bierwisch in SdG vorgeschlagen worden sind. Auf welche Weise läßt sich dieses Dilemma auflösen? Der Vorschlag hierzu, den ich im folgenden vorstellen werde, stellt eine Synthese der vorgestellten Ansätze dar, die sowohl konzeptuelle Unterschiede berücksichtigt als auch spezifisch semantische Eigenschaften respektiert. Sie basiert einerseits auf dem Zusammenspiel impliziter und expliziter Aspekte der Distanzrepräsentation und -Verarbeitung und andererseits auf der Spezifik der Abbildung der konzeptuellen und semantischen Ebenen aufeinander. Anhand der Abbildungen 68a und 68b läßt sich zeigen, warum und in welcher Weise die Explizit/Implizit-Dichotomie auch im Bereich der Dimensions- und Distanzauszeichnung relevant ist. Betrachten wir zunächst den dimensionalen Fall (Abb. 68a).

H b.

Abb. 68: Dimensionale vs. Distanz-Abmessung

169 So wie in einem visuellen Feld voller Objekte eine Vielzahl impliziter Relationen zwischen diesen Objekten gegeben ist, weist das abgebildete Rechteck eine Vielzahl an impliziten Objektabmessungen als Strecken zwischen Objektbegrenzungspunkten auf. Die Theorie Langs sieht in diesem Zusammenhang Objektausgliederungsprinzipien vor, durch welche eine Einschränkung auf die wenigen, konzeptuell und sprachlich relevanten Abmessungen möglich ist, die als Dimensionen des Objekts ausgezeichnet werden können. Korrespondierende Prinzipien zur Reduktion auf Distanzen lassen sich für die Abmessungen zwischen zwei Objekten (Abb. 68b) annehmen (Wahl des kürzesten Abstands). Allerdings sind die so beschriebenen Dimensionen und Distanzen nur implizit gegeben. Dimensionsauszeichnung erfordert daher zunächst einen Akt der Selektion (in diesem Fall: Länge vs. Breite des Rechtecks). Gleichzeitig gibt es keine zwingende Evidenz dafür, daß Instanzen des Typs .Strecke' diejenigen kognitiven Basiseinheiten darstellen, die selegiert und dem Skalenabbildungsprozeß zur Verfügung gestellt werden können. Vielmehr müssen Abmessungen für eine Graduierung erst konstruiert werden. Dies läßt sich an dem in Abb. 69 abgebildeten Objekt veranschaulichen: Es weist mindestens drei verschiedene Längenabmessungen auf, j e nachdem welches Referenzsystem als relevant betrachtet wird (Objektreferenzsystem: Abmessung a; funktional determiniertes Referenzsystem 1 8 : Abmessung b; Umgebungsreferenzsystem: Abmessung c). Die Vernachlässigung des Konstruktionsaspekts und die Verwendung von .Strecken' als explizit repräsentierte Referenten der jeweiligen Auszeichnung zählen m. E. zu den Ursachen für die beschriebenen Probleme der Semantik von Distanzadjektiven.

Abb. 69: Notwendigkeit der Konstruktion von Abmessungen durch Scanning

Es ist daher plausibel anzunehmen, daß explizite Repräsentationen dimensionaler Abmessungen - analog zur Herstellung expliziter Objektrelationen - durch Aufmerksamkeitswechsel bzw. -pfade (d. h., durch den Prozess des „Scannings") zwischen Objektbegrenzungen etabliert werden (sog. dimensionale Mikroperspektiven). Hieraus folgt, daß nur die Begrenzungsprinzipien Langs zu seinen Objektausgliederungsprinzipien zu zählen sind. Die S y m m e t r i e - und Desintegrationsprinzipien wirken hingegen beschränkend als Dimensionsausgrenzungsprinzipien auf die Bildung expliziter Repräsentationen für die entsprechenden, implizit gegebenen Abmessungen ein. 18

Ein funktional determiniertes Referenzsystem wäre z. B. dann gegeben, wenn das abgebildete Objekt als eine ,Kurbel' mit einer einer entsprechend festgelegten Vorne-Hinten-Ausrichtung kategorisiert wird.

170 Entscheidend ist nun, daß auch auf der Ebene der Skalenrepräsentation eine Unterscheidung impliziter und expliziter Aspekte vorgenommen werden kann und muß. Betrachtet man die Intervallskalendarstellung, so wird deutlich, daß sie die Verhältnisse der projizierten Abmessungen nur implizit repräsentiert. Die Intervall-Relationen allein ermöglichen somit keine Behandlung der Markiertheitsasymmetrie, weswegen in SdG eine solche Asymmetrie durch Spezifika zusätzlicher Intervalloperationen induziert wird. Allerdings ist weder der kognitive Status dieser Operationen gesichert, noch ist ihre Rolle als spezifisch sprachlich-semantische Entitäten glaubhaft bzw. als Erklärung für die psycholinguistischen Phänomene (vgl. den von Banks et al. beobachteten Kongruitätseffekt bei gleichen Distanz-Intervallen) und linguistischen Phänomene (z. B. §Der Weg ist nahe) ausreichend.

7.2.2.2

Mikroperspektivierung in aktualen Skalen

Angesichts der vorangegangenen Erörterungen ist es sinnvoll und notwendig, die implizit/explizit-Dichotomie, die sich im Bereich räumlicher Relationen als essentiell erwiesen hat, auch im Bereich der Graduierung konsequent anzuwenden. Hierfür nehme ich zunächst an, daß eine aktuale Intervall-Skala als ein - wenn auch abstraktes - eindimensionales analogisches Format und als Bestandteil des Arbeitsgedächtnisses aufgefaßt wird, in dem Größenverhältnisse von Objekten implizit repräsentiert sind (diese Annahme ergibt sich zwingend aus der SdG). Intervalle teilen in dieser aktualen Skala (im folgenden: SKALA) einen gemeinsamen Begrenzungspunkt (was dem Nullpunkt einer D-Skala entspricht). Nach Clark (zu einem Überblick s. Schriefers 1985:25f) dient dieser Nullpunkt als Primärer Referenzpunkt einer Skala. Geht man außerdem davon aus, daß SKALA einseitig begrenzt ist, so ergibt sich eine Richtung und die Intervalle unterscheiden sich anhand ihrer Endpunkte. Der Skalenwert eines Intervalls ist durch den jeweiligen Endpunkt festgelegt, der wiederum den Grad des Objekts in der entsprechenden Dimension D darstellt (g D (x)). Auf diese Weise wird zwischen den Intervallen und ihren entsprechenden Graden unterschieden (s. Abb. 70a) - eine Unterscheidung, die in SdG nicht konsistent vorgenommen wird, die aber verträglich mit der Auffassung von Graden als (abstrakten) Objekten ist (vgl. Eschenbach 1995).

0

g(B)

db

da

g(A)

D

g(B)

g(A)

1 1

c —-— 1

a. b. Abb. 70: Intervall- vs. Mikroperspektivierungsanalyse der Graduierung

171 Die Endpunkte der Intervalle bilden diejenigen Differenzsignale in dem eindimensionalen Medium, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt werden kann. In Analogie zu den Aufmerksamkeitsphänomenen in mehrdimensionalen räumlichen Repräsentationen ergibt sich, daß hierdurch Objekte (d. h., Grade) gebildet werden, zwischen denen Aufmerksamkeitswechsel stattfinden, die jeweils eine explizite Relation zwischen Graden herstellen (im Gegensatz zu den impliziten Relationen von Intervallen bzw. Graden; s. Abb. 70b). Es ergeben sich offenbar zwei mögliche Richtungen für solche Aufmerksamkeitswechsel, die jeweils entweder mit der Richtung der Skala kongruieren oder nicht. Nimmt man, was plausibel erscheint, Kongruenz zweier Aspekte als Default an, so sollte sich die Etablierung einer expliziten Gradrelation als Aufmerksamkeitswechsel vom kleineren Objekt zum größeren, d. h. weg von dem Nullpunkt der Skala, niederschlagen. Tatsächlich berichten Clark et al. (1973) über ein Experiment, in dem die VPs beurteilen mußten, welche von zwei gleichzeitig dargebotenen Linien die längere oder kürzere war. Es ergab sich eine Abhängigkeit der Reaktionszeiten von der Länge der kürzeren Linie, wofür die Autoren das folgende Interpretationsmodell anbieten: „this model postulates that people scan a dimension outwards from the primary reference point of that dimension to locate the proximal object. The proximal object (say, B) then becomes a secondary reference point, and the position of the other object (say, A) is established with respect to this secondary reference point." (Clark et al. 1973:341, Hervorhebung von mir)

Bereits in SdG finden sich Andeutungen einer solchen dynamischen Sicht auf Skalen und Skalenwerte: „Man kann sich die Bestimmung des Wertes von d als einen Weg auf der Skala vorstellen. Dann ergibt sich [...], daß stets zuerst der Weg von [db] zu durchlaufen ist und von dessen Ende der Weg zu [da], das damit durch [db] und eine Differenz c bestimmt ist." (Bierwisch 1987:132)

Hier wird jedoch zum einen nicht durchgängig zwischen Intervallen und ihren Skalenwerten („der Weg zu [da]") unterschieden, zum anderen werden die vorgängig als explizite Durchlaufensaspekte angesprochenen Richtungen im nachhinein auf der impliziten Ebene als Richtungen von Intervallen modelliert. Im Mikroperspektivierungsansatz wird die Charakterisierung von Graden als Etablierung von Gradrelationen durch Mikroperspektivierung enthüllt. Hierdurch werden nicht nur implizite Aspekte expliziert (Durchlaufensrichtung als „Scanning", Richtungen (von Mikroperspektiven) und ihre Kongruenz mit der Skalenrichtung), sondern diese vor allem als konzeptuelle (d.h., nicht-semantische) Operationen sichtbar gemacht. Somit können konzeptuelle Kategorien wie ,HIGH' und ,LOW' bei Banks et al. nun als Klassifikatoren solcher Mikroperspektivierungen verstanden werden. Markiertheitsunterschiede auf der sprachlichen Ebene basieren in dieser Sichtweise somit auf konzeptuell ausbuchstabierbaren Unterschieden. Markierte Adjektive sind demnach solche, die eine komplexe Mikroperspektivierungsstruktur (s.u.) auszeichnen, in dem eine Richtungsinkongruenz von Norm-bezogener Mikroperspektive und der Skalenrichtung vorliegt (dem [v-c] in SdG entsprechend). Entsprechend zeichnen unmarkierte Adjektive entweder ausschließlich die dimensionale Mikroperspektive aus (und zwar unabhängig von der Ausdehnung der betreffenden Objektabmessung) oder zusätzlich eine Norm-bezogene Mikroperspektive in kongruenter Richtung mit der Skalenrichtung.

172 Danach ergeben sich zum einen die charakteristischen Reaktionszeitunterschiede für sprachliche Kategorisierungen (unmarkiert —» schneller; markiert —> langsamer), indem der Semantische Markiertheitseffekt auf ein (Mis-)Match einer perzeptuell-basierten konzeptuellen Repräsentation und einer in einer Frage vorgegebenen semantischen Form eines Adjektivs (lexikalisch kodierten Mikroperspektiven) zurückgeführt wird. Im Fall eines solchen Mismatches ist es notwendig (gerade auch weil die semantische Form des Adjektivs fixiert ist), eine Reperspektivierung vorzunehmen, so daß eine Reaktion auf ein markiertes Adjektiv mehr Zeit in Anspruch nimmt. Zum anderen wird der Cross-overEffekt (—» für unmarkierte Adjektive untypisch lange Reaktionszeiten) durch Rekurs auf eine konzeptuell motivierte Richtungspräferenz (hervorgerufen durch die Situiertheit der Skalenbildung) bei der Etablierung einer Mikroperspektive erklärbar. Im Unterschied zu dimensionalen Mikroperspektiven, die grundsätzlich positivreferenzpolar sind (mit dem Ansatzpunkt des Scannings als Referenzpunkt) weisen Mikroperspektiven in SKALA - wie Relationen zwischen räumlichen Objekten - eine Referenzpolarität auf (s. hierzu weiter unten). Es zeigt sich auch in der Semantik der Graduierung, daß Mikroperspektivierung als Explizierung implizit gegebener Intervallbeziehungen hochgradig kompatibel mit (und faktisch ein Subkonzept von) Levelts ,Perspektivierung' ist, die im Rahmen der Mikroplanung einer Äußerung stattfindet (Levelt 1989). 19 Die Tatsache, daß Mikroplanung eine konzeptuelle Komponente ist, macht einmal mehr deutlich, daß die hier untersuchten Aspekte nicht auf einer dem Sprachsystem zugeordneten semantischen Ebene angesiedelt, sondern dem nicht-sprachlichen Bereich zuzuordnen sind. Aus diesem Grund stellt Mikroperspektivierung einen Aspekt des kognitiven Systems dar, dessen Berücksichtigung insbesondere auch im Rahmen der maschinellen Sprachgenerierung relevant ist und zur Überbrückung der sogenannten „generation gap" (der Lücke zwischen gegebenem Wissen und der Vielfalt sprachlicher Varianten für dessen Versprachlichung; s. Meteer 1990) beitragen kann.

7.2.3 7.2.3.1

Aufmerksamkeitsbasierte Semantik der Graduierung Allgemeine Aspekte

Die Rolle der Mikroperspektivierung im Rahmen eines Modells kognitiver Graduierung ist in Abb. 71 vereinfacht dargestellt. Die Grafik veranschaulicht zunächst, daß unterschiedliche, jeweils durch verschiedene Wahrnehmungssysteme erfaßte, quantitative Aspekte der Welt auf mentale Skalen abgebildet werden.

19

Der Unterschied besteht darin, daß die räumlichen Aspekte der Perspektivierung bei Levelt als Bildung propositionaler Relationen auf die Wahl eines Referenzrahmens beschränkt sind. Mikroperspektivierung fügt diesem die Bildung aufmerksamkeitsbasierter expliziter Relationen (und ihrer Asymmetrieeigenschaften) hinzu.

173 Konzeptuelles System

Wahrnehmungs-

systeme RAUM

S MikroVoerspektivieruns/

MAX

Sprachsystem

"Wie lang ist...?" "10 cm lang" "sehr kurz" 'Sveniger lang als

Q υ


~

d3 Q

1 0 * o 3 : cm

I U

I

r

A

N

T

^ SPACE D MAX

199

Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Kombinatorik von Distanz- und Lokalisierungsausdrücken zu untersuchen und ihre jeweiligen Kompatibilitäten zu modellieren. Es wurde gezeigt, daß dies über die Kongruenz der Aspekte der jeweiligen Mikroperspektiven möglich ist. Die nächsten beiden Abbildungen belegen zunächst, daß kompatible Ausdrücke von GROBI verarbeitet werden.

das bild

1

07:tuer

ist

->

10 cm weit über der

oOibild

tuer

1 SPACE D VERT

1

10*o5 : cm

1 SPAÏE D MAX

200 Im Gegensatz zu der Ausgabe von GROBI in (83) für den Satz Der Baum ist nahe bei dem Haus zeigt die Ausgabe in (84) - wie zu erwarten ist - , daß der Satz Der Baum ist weit bei dem Haus syntaktisch-semantisch in seiner Struktur zwar korrekt, konzeptuell jedoch nicht interpretierbar ist. (83) [der, bäum, ist, nahe, bei, dem, haus]

SYNTAKTISCHE ANALYSE ... *****SYNT AKTISCHE ANALYSE OK*»*** ERGEBNIS: [inst(o2, haus), inst(ol, [scan(shift, BLOB(o2:haus), _34149(o0:baum), -1, dc([[SPACE, D, DISTT], ol:BEI], -1))]), inst(s3, [scan(shift, norm(dl), degree(dl), 1, dc([[QUANT], norm(dl), degree(dl)], -1))]), inst(s2, [scan(shift, _33468(_33471), _33477(_33480), -1, dc([[SPACE, D, DISTT], ol:BEI], -1))]), degree(quant(s2), 0)=dl, inst(o0, bäum)] KONZEPTUELLE INTEPRETATION ... *****KONZEPTUELLE INTERPRETATION OK***** ERGEBNIS: degree(quant(s2), 0)=dl inst(ol, [scan(shift, BLOB(o2:haus), BLOB(oO:baum), -1, dc([[SPACE, D, DISTT], ol:BEI], -1))]) inst(s2, [scan(shift, BLOB(o2:haus), BLOB(oO:baum), -1, dc([[SPACE, D, DISTT], ol:BEI], -1))]) inst(s3, [scan(shift, norm(dl), degree(dl), 1, dc([[QUANT], norm(dl), degree(dl)], -1))]) inst(o2, haus) inst(o0, bäum) VISUALISIERUNG ... »••»»VISUALISIERUNG OK****» ERGEBNIS: [[[QUANT], N(dl)], [[SPACE, D, DISTT], o2:haus, norm(dl), degree(dl)], 1,-1]