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German Pages 204 Year 2019
Falk Seiler
Sprache, Philologie und Gesellschaft bei Vilfredo Pareto
Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprachund Übersetzungswissenschaft Bd. 5 HERAUSGEBER / EDITORS: Anne Koenen; Elmar Schenkel; Wolfgang F. Schwarz; Anita Steube; Ludwig Stockinger; Alfonso de Toro; Gerd Wotjak BEIRAT / ADVISORY BOARD: Angelika Hoffmann-Maxis; Karlheinz Kasper; Edgar Mass; Albrecht Neubert; Monika Ritzer; Ekkehard Stärk
Falk Seiler
Sprache, Philologie und Gesellschaft bei Vilfredo Pareto
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main • 1998
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seiler, Falk: Sprache, Philologie und Gesellschaft bei Vilfredo Pareto / Falk Seiler. - Frankfurt am Main : Vervuert, 1998 (Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft ; Bd. 5) Zugl.: Leipzig, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-89354-265-5
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1998 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann, unter Verwendung einer Kreidezeichnung von Katja Seiler Graphik: Hagen Neßler Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis 1.
Einleitung
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Teil I - Sprache und soziale Komplexität 2.
Grundlinien der Soziologie Paretos und die Darstellung seiner Sprachauffassung durch Francesco Aqueci 17 2.1. Die Philologie als epistemologisches Modell für die Soziologie (Theorie der Rèsiduen und Derivationen) 17 2.1.1. Die sprachlichen Interessen Paretos. Philologie als epistemologisches Modell 17 2.1.2. Die Theorie der Residuen und Derivationen 22 2.1.2.1. Residuen 24 2.1.2.2. Derivationen 27 2.2. Soziale Kommunikation 30 2.2.1. Zur Wirkung von sozialem Diskurs in der Gesellschaft 30 2.2.2. Sozialer Diskurs und Anpassung an die soziale Umwelt 33 2.2.3. Nicht-dialogische Kommunikation 34 2.3. Erweiterung der Perspektive: Philologie, Text und soziales Gleichgewicht 36
3.
Sprache und complesso sociale 3.1. Handlung, Instinkt und complesso sociale 3 .1.1. Sprache als Manifestation des complesso sociale . . . . 3.2. Paretos Organismus-Konzept 3.2.1. Mechanizismus und Organizismus in Paretos Gesellschaftstheorie: Vom Cours d'économie politique zum Trattato di sociologia generale 3.2.2. Organizismus in Paretos Sprachdenken 3.2.2.1. Arsène Darmesteter: Ein Sprachdarwinist beiPareto 3.2.3. Sozialer Diskurs im "Organismus der Gesellschaft" . . . 3.3. Naturobjekt oder Produkt menschlicher Tätigkeit - Paretos Sprachdenken im Kontext einer linguistischen Kontroverse 3.3 .1. Naturobjekt oder Produkt menschlicher Tätigkeit - Die Auflösung der Dichotomie in der Analyse Rudi Kellers 3.3.2. Paretos Organismus-Konzept vor dem Hintergrund der Kellerschen Analyse
49 49 53 60
62 67 71 74 78 78 82
Teil II - Zur Entwicklung der Sprachauffassung Paretos 4.
Pareto und der sprachwissenschaftliche Idealismus 4.1. Pareto und Croce
89 89
5.
Pareto und die italienischen Pragmatisten 5.1. Paretos Kontakte zum pragmatistischen Ambiente 5.2. Pareto und Prezzolini 5.3. Pareto und Vailati 5.3.1. Zu Vailatis Rezeption der Systèmes socialistes 5.4. Gramsci zu Pareto und den Pragmatisten
6.
Zum Anteil der Auseinandersetzung mit dem Marxismus an der Entwicklung von Paretos Sprachauffassung 135 6.1. Zur Kritik am Ökonomismus und zum Marxismus als Philologie 136 6.2. Sprache und Ideologie 140
102 102 108 114 118 121
Teil III - Philologie und Politologie 7.
Sprachpolitische Ansätze in Paretos Theorie des politischen Diskurses 7.1. Gramsci und die Schwierigkeiten soziolinguistischer ParetoRezeption 7.2. Der Sprachpolitik-Begriff Bochmanns 7.3. Politik und Sprachpolitik im Trattato di sociologia generale 7.3.1. Mechanismen der Diskursregelung 7.3.2. Die Presse als Agentur der Diskursregelung 7.3.3. Die Intellektuellen als Agenten von Diskursregelung 7.4. Politische Philologie
147 152 154 161 167 170 174
8.
Literaturverzeichnis
179
9.
Personenverzeichnis
199
147
7 "Écrire Xlliade est bien plus important que d'étudier la morphologie de sa langue; ne fût-ce que, si Ylliade n'existait pas, sa morphologie aussi ne pourrait pas exister. Mais ce n'en sont pas moins deux genres d'activités distincts. On ne saurait exiger du poète une étude de morphologie, et encore moins, du philologue, une création poétique. J'étudie la morphologie sociale, à d'autres d'agir sur la société et d'en composer la poésie." (Vilfredo Pareto an Adrien Naville, 9. Dezember 1919)
"Con l'estendersi dei partiti di massa e il loro aderire organicamente alla vita più intima (economico-produttiva) della massa stessa, il processo di standardizzazione dei sentimenti popolari da meccanico e casuale [.. .] diventa consapevole e critico. La conoscenza e il giudizio di importanza di tali sentimenti non avviene più da parte dei capi per intuizione sorretta dalla identificazione di leggi statistiche, cioè per via razionale e intellettuale, troppo spesso fallace, [...] ma avviene da parte dell'organismo collettivo per 'compartecipazione attiva e consapevole', per 'con-passionalità', per esperienza dei particolari immediati, per un sistema che si potrebbe dire di 'filologia vivente'". (Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, Heft 11, § 25)
1. Einleitung Die "philologische" Tiefendimension im soziologischen Werk Vilfredo Paretos beginnen wir erst seit wenigen Jahren zu ahnen. Pareto, der 1848 als Sohn eines Italieners und einer Französin geboren wurde, ist unter Linguisten kaum bekannt. Seine Karriere begann auf dem Gebiet der Ingenieurwissenschaften mit einer Dissertation zur Festkörperphysik. Zwanzig Jahre, von 1870 bis 1890, lebte er die größte Zeit über in Florenz, wo er lange Jahre hohe Posten in der Eisenindustrie bekleidete, die ihn zugleich ständig mit Fragen der Ökonomie und Politik in Berührung brachten. Eigene politische Gehversuche als Kandidat in seinem Wahlkreis scheiterten jedoch. Als Mitglied der Florentiner Accademia dei Georgofili, der Società Adamo Smith und mit polemischen Rezensionen im Giornale degli Economisti seines Freundes Maffeo Pantaleoni profilierte er sich als entschiedener Vertreter des Freihandels und des ökonomischen Liberalismus, mit dem er sich auch
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wissenschaftlich intensiv beschäftigte. Pantaleoni war es auch, der ihm Anfang der neunziger Jahre den Kontakt zum Lausanner Ökonomen Léon Walras vermittelte, dessen Lehrstuhl Pareto dann 1893 übernehmen sollte. In der Mitte der neunziger Jahre wandte er sich soziologischen Studien zu, die ihm mehr und mehr eine gesellschaftswissenschaftliche Perspektive eröffneten und einen Blick auf die Gesamtgesellschaft erschlossen. Den Höhepunkt seines soziologischen Werkes bildete der Trattato di sociologia generale (1916), während sich in den Schriften, die danach bis kurz vor seinem Tode 1923 erschienen (Faid e teorie [1920; heute in Pareto 1980], La trasformazione della democrazia [1921; heute in Pareto 1980]), das bereits lange Jahre gepflegte Interesse fiir die politischen Prozesse im Europa seiner Zeit bündelte. Von seiner Ausbildung und seinem wissenschaftlichen Werdegang her gesehen läge damit eine linguistische Prägung Paretos alles andere als nahe, wenn da nicht eine bereits auf die Jugendzeit zurückgehende profunde klassischhumanistische Bildung wäre und konkrete Kontakte zu den Florentiner Philologenkreisen mit Augusto Franchetti, Domenico Comparetti und vor allem zu Arturo Linaker, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. In unserem Zusammenhang bedeutet das auch, daß Paretos Interesse für sprachliche Erscheinungen, von dem hier die Rede sein wird, älter ist als die ökonomischen, soziologischen und politologischen Ausprägungen seines Denkens. Obwohl Pareto vor allem in seinen soziologischen Schriften auf diesen Fundus zurückgriff, läßt sich damit allein jedoch noch kein besonderes linguistisches Interesse belegen, zumal es sich häufig um bloßes Beispielmaterial handelt, das er zur Veranschaulichung und historischen Unterfutterung seiner soziologischen Thesen benutzt. Anders als ein Antonio Gramsci widmete sich Pareto weder solchen für die italienische Kultur fundamentalen und eminent praktischen Fragen wie der Questione della lingua noch den Eigenschaften einer bestimmten historischen Einzelsprache. Von einer ausformulierten Sprachtheorie kann im Falle Paretos überhaupt nicht die Rede sein. Dies mag neben den Besonderheiten der Pareto-Rezeption 1 erklären, weshalb die Wahrnehmung des
Für einen Überblick über die Rezeption Paretos ist unerläßlich Busino 1974. Daneben finden sich zum Teil sehr ausfuhrliche Darstellungen vor allem in den größeren Einführungen in sein Werk, so z.B. in Eisermann 1987, Valade 1990. Forum der "paretologischen" Forschung ist die seit 1963 unter der Leitung von Giovanni Busino in der
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Paretianischen Sprachdenkens lange Zeit erschwert war. Zwar spürten auch die ersten Interpreten seiner Soziologie, daß Pareto gewisse Eigenschaften sozialer und politischer Diskurse unter anderem in deren Distanz zum wissenschaftlichen Sprachgebrauch reflektiert; diese Reflexionen wurden aber nie in ihrem theoretischen Eigenwert wahrgenommen. Der erste, der diese sprachliche Seite in einem längeren Beitrag thematisierte, war Norberto Bobbio, der 1961 den Trattato di sociologia generale als einen "Trattato dell'argomentazione" las (Bobbio 1971c). Erst vor dem Hintergrund einer weiteren Entwicklung der Argumentationstheorie in vielfältigen Berührungen mit Logik, Pragmalinguistik, Diskursanalyse und Sprechakttheorie sind Instrumente geschaffen worden, die einer eingehenderen linguistisch orientierten Beschäftigung mit dem Sprachdenken Paretos den Weg bereiteten. In diesem wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang jedenfalls sieht Francesco Aqueci seine 1991 erschienene Monographie Le funzioni del linguaggio secondo Pareto, die erste Untersuchung, in der eine theoretische Bedeutung des Sprachdenkens im TSG aufgezeigt und überzeugend nachgewiesen wird.2 Desgleichen berücksichtigt Aqueci die Modellftinktion, die die "Philologie" für die Soziologie Paretos sowohl unter dem Aspekt ihrer "Wissenschaftlichkeit" als auch unter dem Gesichtspunkt einer bestimmten Ähnlichkeit der von beiden Wissenschaften untersuchten Gegenstände übernimmt. Gleich zu Beginn stellt Aqueci jedoch klar: "A scanso di equivoci, l'ambito di questa riflessione va certamente ben circoscritto e caratterizzato. Inanzitutto, Pareto non è né un sociologo del linguaggio, né un sociolinguista ante liUeram" (Aqueci 1991: 1).
Dieser Hinweis wird auch in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt. Darüber hinaus sei vorangeschickt, daß hier keinesfalls eine Reduktion der Paretianischen
Librairie Droz in Genf erscheinende Zeitschrift Revue européenne des sciences sociales et Cahiers Vilfredo Pareto. Dort, sowie im ersten Band der kritischen Ausgabe des Trattato di sociologia generale (im folgenden: TSG) von 1988, finden sich Bibliographien der Schriften von und über Pareto. Zur Einfuhrung in sein Werk sei daneben hingewiesen auf Freund 1974 und Fiorot 1975. Aus Aquecis Feder stammt neben den in den folgenden Kapiteln und in der Bibliographie erwähnten Texten auch der Beitrag zu Pareto im Lexicon Grammaticorum (Stammerjohann 1994); ein weiteres Indiz für das wachsende Interesse von Linguisten am Werk dieses Soziologen. Eine eigene erste Annäherung an Pareto liegt vor in Seiler 1996.
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Soziologie auf die linguistische Komponente angestrebt wird. Ein solches Vorgehen verbietet sich schon angesichts der außerordentlichen Vielgestaltigkeit des TSG und würde auch durch die immense Bibliographie von vornherein ad absurdum gefuhrt. Der Sprachwissenschaftsgeschichtler hat sich bei der Beschäftigung mit Pareto ständig die Besonderheiten seines Zugangs zu vergegenwärtigen, ohne in eine Einseitigkeit der Betrachtung zu verfallen. In diesem Sinne behält die Mahnung Aquecis ihre Gültigkeit. In dieser Arbeit wird an Aquecis Einsicht angeknüpft, daß sprachliche Reflexionen bei Pareto im wesentlichen in zwei Richtungen gehen: Zum einen sind es Prozesse der gesellschaftlichen Kommunikation, die diesen interessieren, und zum anderen hilft ihm linguistisch zu nennendes Wissen bei der Konstruktion seiner soziologischen Theorie: "Circola insomma nelle sue opere, e soprattutto nel Trattato di sociología generale, una cultura glottologica funzionale ora alia ricerca di modelli per la costruzione della teoría sociologica, ora a possibili esemplificazioni di teoremi sociologici generali" (a.a.O.: 2).
Paretos häufige Bezugnahmen auf die Sprache und auf die Sprachwissenschaft stehen nicht für ein analogisches Denken, das den soziologischen Ausführungen selbst letztlich äußerlich bliebe, sondern sind ein Ausdruck der epistemologischen Grundannahme, daß zwischen Sprache und Gesellschaft ein homologisches Verhältnis besteht und sich folglich soziologische Reflexionen nicht von linguistischen Reflexionen trennen lassen. Die vorliegende Arbeit wäre in dieser Gestalt ohne die bedeutende Vorleistung Aquecis nicht möglich. Eine Zusammenfassung seiner Ergebnisse scheint vor dem aufgerissenen Hintergrund einer engen Verbindung von Sprachdenken und soziologischem Denken unabdingbar und wird aus diesem Grunde der Darstellung vorangestellt. Während sich aber Aqueci in seiner Analyse des philologischen Modells für die Soziologie vorrangig auf die Theorie der Residuen und Derivationen konzentriert (s. 2.1.), soll in dieser Arbeit ein linguistisch-philologisch vermittelter Zugang auch in Paretos Auffassung des complesso sociale rekonstruiert werden. Die Theorie des complesso sociale als nicht systematischer Versuch, das Funktionieren der Gesellschaft in ihrer Ganzheit und über eine Untersuchung des Wirkens derjenigen Elemente zu verstehen, die das soziale Gleichgewicht determinieren, bildet den Schlußstein der
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Soziologie des TSG. Aqueci nimmt einige an diese Problematik gebundene Aspekte über die Moraltheorie Paretos und über die Rekonstruktion einer Auffassung vom sozialen Diskurs als evolutiver Adapter durchaus in den Blick, knüpft aber nicht an die in den letzten beiden Kapiteln des TSG entworfene Theorie der Gesamtgesellschaft und des sozialen Gleichgewichts an.3 Wie im dritten Kapitel gezeigt werden soll, entwickelt Pareto eine bestimmte Vorstellung der Gesamtgesellschaft als Organismus im Zusammenhang mit einer wahrscheinlich durch seine ökonomische Bildung abgemilderten darwinistischen Auffassung von der Sprache als Organismus, die zugleich auf die im TSG kursierende Diskurstheorie zurückwirkt. Sprache erscheint aus dieser Perspektive sowohl unter ihrem systematischen als auch unter ihrem diskursiven Aspekt als eine Manifestation des complesso sociale, mittels derer soziale Individuen ihre Teilhabe an globalen gesellschaftlichen Konstellationen äußern. Im zweiten Teil sollen die linguistischen Intuitionen Paretos stärker im Kontext der Sprachwissenschaftsgeschichte um die Jahrhundertwende gesehen werden, um genauer zu bestimmen, wodurch seine Kenntnisse der "Philologie" bzw. seine auch theoretische Reflexion über Sprache geprägt wurden. Dabei werden insbesondere Paretos Kontakte zu Benedetto Croce sowie zu den Pragmatisten Giuseppe Prezzolini und Giovanni Vailati betrachtet. Während Paretos soziologisches Werk auf den ersten Blick keine Spuren einer Auseinandersetzung mit deren im weitesten Sinne linguistisch orientierten Schriften hinterlassen hat, zeigt ein Blick auf seine Korrespondenz vor allem mit Croce und Prezzolini, daß er für ihre Äußerungen zum Phänomen der Sprache durchaus sensibel war. Es läßt sich zeigen, daß Pareto, eher als bei den philologisch oder positivistisch ausgerichteten Linguisten, im sprachwissenschaftlichen Idealismus Anregungen für seine Auffassung von Sprache als Manifestation des complesso sociale finden konnte. Dadurch gewinnt die im ersten Teil dieser Arbeit unternommene Rekonstruktion einer philologischen Dimension in der Theorie der Gesamt-
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Er weist lediglich in einer Anmerkung darauf hin, daß die Paretianische Handlungstheorie auf die Konstruktion eines Modells des sozialen Gleichgewichts gerichtet ist und daß die Theorie der Residuen und Derivationen demgegenüber sekundär ist. Dennoch komme dieser im Rahmen des TSG eine theoretische Autonomie zu. Ohne die Berechtigung dieser Bemerkung in Frage zu stellen, soll hier gerade nach einer philologischen Determination der Gleichgewichts- und Gesellschaftstheorie bei Pareto gefragt werden (vgl. Aqueci
1991:40").
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gesellschaft durch eine gewisse historisch-genetische Absicherung weiter an Tiefenschärfe. Ein unterschwelliger Anteil an der Entwicklung der Paretianischen Sprachauffassung kann auch im Zusammenhang mit der Marx- und Marxismuskritik Paretos angenommen werden. Letztere bildete eine Konstante, die sich in verschiedenen Variationen durch sein ökonomisches und soziologisches Werk zieht. Hier soll hervorgehoben werden, daß Pareto den Marxismus (in seiner "gelehrten" Form, s. 6.1.) bereits um die Jahrhundertwende als quasi philologische Disziplin rezipierte, die ihm in ihrer ideologiekritischen Stoßrichtung ein Modell für das im TSG zum Programm erhobene Anliegen dienen konnte, mittels einer Analyse von "Dokumenten" Gesellschaftsanalyse zu betreiben. Mit diesen kurzen Hinweisen sei angedeutet, daß Paretos Soziologie einen in seiner Art einmaligen Knotenpunkt bildet, in dem einerseits sehr unterschiedliche linguistische Stränge zusammenlaufen (klassische Philologie, positivistische Sprachwissenschaft, Sprachdarwinismus) und andererseits ursprünglich nicht-linguistische Strömungen für den "philologischen" Zugang zur Soziologie relevant werden (klassisch-liberale Ökonomie, Marxismus). Damit finden der Soziolinguist und der Sprachwissenschaftshistoriker bei Pareto ein linguistisches Denken vor, welches, nicht durch die Zwänge innerdisziplinärer oder institutioneller Art konditioniert, nicht an der in jenen Jahren stattfindenden Reduktion des linguistischen Objekts auf die Sprache als sich selbst tragendes System teilhatte, das sich aber auch nicht in einer sprachwissenschaftlichen Form niederschlagen konnte. Der TSG erschien 1916, im selben Jahr wie der Cours de linguistique générale Ferdinand de Saussures. Das Werk Saussures liefert vielleicht den bisher einzigen Anhaltspunkt für eine Wirkung Paretos auf die Linguistik dieses Jahrhunderts, deren Besonderheit aber darin liegt, daß sie nicht durch Paretos Sprachdenken, sondern durch seine Ökonomie vermittelt wurde. 4 Während sich
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Zu den Beziehungen zwischen der Theorie des Lausanner Ökonomen und dem Cours de linguistique générale des Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure vgl. Molino 1984, Ponzio 1977 (hier besonders das Kapitel "Linguistica saussuriana ed economia politica", 165-182) und Bierbach 1978. Ch. Bierbach verweist auf Pariente, J.-Cl. (ed.): Essais sur le langage. Paris 1969, als ersten linguistischen Hinweis auf eine Verwandtschaft Saussures mit Walras, ohne die Arbeit Molinos zur Kenntnis zu nehmen. Auch Ponzio berücksichtigt den Aufsatz Molinos nicht, wie dies z.B. bei Marcellesi/Gardin 1974
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Saussures System- und Synchroniegedanke an Pareto (und Walras) anlehnte, wird seine Konzeption von Sprache als fait social von einigen Forschern einer Beeinflussung durch die Soziologie Dürkheims zugeschrieben (vgl. dazu Bierbach 1978, Baggioni 1986: 346ff.). Die Affinitäten betreifen den fait social unter dem Aspekt seines Zwangscharakters und seiner Äußerlichkeit gegenüber dem Individuum, die ihn einem "objektiven" Studium zugänglich machen. Überdies bezieht sich Dürkheim auf ein stark homogenes soziales Ganzes, das kaum von Widersprüchen gestört wird. Während der Linguistik Meillets durch ihren Durkheimschen Bezugsrahmen gewisse Grenzen bei der Betrachtung sprachlicher Prozesse in ihrer sozial determinierten Komplexität gesetzt waren (vgl. auch Puech 1987a, 149), bietet Paretos Theorie des complesso sociale Perspektiven, die in unserem Zusammenhang nicht so sehr deshalb interessieren, weil sie damals von den Linguisten ungenutzt blieben, sondern weil Pareto seine Gedanken zur sozialen Komplexität ganz ausdrücklich im Zusammenhang mit Reflexionen über Sprache entwickelt.5 Obwohl Aqueci das Feld der Soziolinguistik bisweilen betritt, so z.B. in seiner Einschätzung des Wirkens von diskursiv operationalisierter Autorität in sozialen Beziehungen und in der Untersuchung einiger Analysen politischer Diskurse bei Pareto, ist sein Interesse nicht originär soziolinguistischer Art. Auch
geschieht: "J. Molino a montré que Saussure avait opéré un véritable transfert de l'économie politique à la linguistique pour la création du concept de valeur, à partir des travaux "parus récemment" des économistes de l'école de Lausanne. En effet, ceux-ci, et principalement Pareto et Walras, ont élaboré une théorie de la valeur en synchronie, dite "théorie de l'équilibre général", et selon laquelle toutes les valeurs économiques se déterminent mutuellement; ils mettent en valeur l'interdépendance générale des marchés des produits et des marchés des facteurs de production" (Marcellesi/Gardin 1974: 97). Vgl. zu dieser Problematik auch Aquecis (1990: 18' und 2216) Kritik an Freund 1974, welcher Paretos Bezugnahmen auf die Philologie mit einem Einfluß Saussures erklärt hatte. Anmerkungen zum Schweizer intellektuellen Ambiente um die Jahrhundertwende, zur Wahrscheinlichkeit einer gegenseitigen Kenntnis Paretos und Saussures und zu einer möglichen Mittlerrolle Adrien Navilles, finden sich in Busino 1974: 216f. An dieser Stelle sei daraufhingewiesen, daß die in dieser Arbeit vorgestellten Gedanken zum complesso sociale Pareto nicht als einen Vorläufer moderner Komplexitätstheorien präsentieren sollen. Es ist nicht meine Absicht, Konzepte der Gegenwart auf die Vergangenheit zu projizieren. Wenn eine solche Projektion im Falle Paretos möglich ist, wie ich vermute, dann kann es natürlich nicht Sache des Linguisten allein sein, diese vorzunehmen. Mir geht es lediglich darum, den Anteil linguistischer Reflexion auch an der Konstruktion der Theorie des complesso sociale aufzuweisen.
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die Beschäftigung von Soziolinguisten mit den sprachtheoretischen Reflexionen Antonio Gramscis, in denen dieser marginal auch auf Pareto eingeht, verschafften dem Tatbestand einer weitgehend fehlenden Beachtung Paretos seitens der Soziolinguistik keine Abhilfe; im Gegenteil, die wenigen Äußerungen Gramscis zu "Pareto und den Pragmatisten" konnten ihrer polemischen Ausrichtung wegen kein tieferes soziolinguistisches Interesse für die Sprachauffassung eines Gelehrten motivieren, dessen Neigung scheinbar allein der Sprache der Wissenschaft galt, losgelöst von den historischen und kulturellen Kontexten, an denen Gramsci interessiert war.6 Angesichts dieses Umstandes stellt sich die dringliche Aufgabe, Gramscis Bemerkungen über "Pareto und die Pragmatisten" vor dem Hintergrund der Paretianischen Sprachauffassung einer Einschätzung zu unterziehen. Wenn im dritten Teil das Sprachdenken Paretos zu seinem politischem Denken in Beziehung gesetzt werden soll, so geschieht das in Anbetracht der Tatsache, daß Pareto ähnlich wie Gramsci die Möglichkeiten und Grenzen verbaler Einflußnahme auf gesellschaftliche Prozesse zu bestimmen versuchte. Beide bemühten sich auf ihre Weise, der Einbindung diskursiver Praktiken in komplexe gesellschaftliche Vorgänge theoretisch Rechnung zu tragen und gelangten dabei zu verschiedenen Ergebnissen. Bei Pareto geschieht dies soziologisch im Rahmen seiner Theorie des complesso sociale. Deren politologische Komponente erstreckt sich nicht, wie oft angenommen, allein auf die vielbeachtete Theorie der Elitenzirkulation, sondern äußert sich auch in den Analysen, die Pareto den Wirkungsmechanismen sozialen Diskurses unterzieht. In der Optik der vom sprachtheoretischen Denken Gramscis angeregten SprachpolitikKonzeption Bochmanns und der Leipziger Forschungsgruppe zur Soziolinguistik ist es die Domäne der Diskursregelung, die Pareto studiert. Die sprachpolitischen Positionen, die sich bei Pareto finden lassen, werden hier in ihrem Bezug auf das in der Theorie des complesso sociale angelegte Politikverständnis betrachtet, um den theoretischen Rahmen abzustecken, auf den die Diskursanalysen Paretos bezogen sind. Vor dem Hintergrund der philologischen Determination des TSG
Einige Soziolinguisten, die Gramsci weiterdachten, hatten dennoch offensichtlich ein Gespür für das Unabgegoltene in Paretos Sprachauffassung. So gehen die Anregungen sowohl zu Aquecis Beschäftigung mit Pareto als auch zu den hier vorgestellten Gedanken - wenn auch unabhängig voneinander, so doch sicher nicht durch Zufall - von Franco Lo Piparo und Klaus Bochmann als zwei linguistisch orientierten Gramsci-Forschern aus.
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bedeutet das auch, daß in diesem Werk nicht nur Philologie und Soziologie Hand in Hand gehen, sondern auch Philologie und Politologie. Die Ergebnisse der Reflexionen über die Möglichkeit, Sprache unter ihrem systematischen Aspekt und in ihrem diskursiven Wirken zu beeinflussen und zu gestalten, sind gleichsam Indikatoren für die Einschätzung der Möglichkeiten von Beeinflußbarkeit und Gestaltbarkeit der Gesellschaft überhaupt. Dies zeigt der Konservative Pareto wie der Marxist Gramsci auf exemplarische Weise. Diese Arbeit stellt eine leicht geänderte und ergänzte Fassung einer Dissertation dar, die von der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig angenommen wurde. Mein besonderer Dank gebührt Prof. Klaus Bochmann (Leipzig), der mich zu meinen Studien über Pareto angeregt und mir dabei immer den Blick offen gehalten hat. Wieviel ich Prof. Francesco Aqueci (Messina) verdanke, geht aus der vorliegenden Arbeit unmittelbar hervor. Seine Anregungen, Ermutigungen und die fruchtbaren Gespräche mit ihm haben mich in vielfältiger Weise bereichert. Für die Mühe der Begutachtung danke ich neben diesen beiden Gelehrten auch Prof. Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig). Des weiteren danke ich denen, die diesen Text oder Teile davon gelesen haben, für ihre Hinweise und Kommentare, insbesondere Prof. Fabrizio Franceschini (Pisa), Prof. Jürgen Erfurt (Frankfurt/M.) und Barbara Söllner. Diese Dissertation wurde durch die Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert, der ich ebenso danken möchte wie den Herausgebern der Leipziger Schriften zur Kultur-, Literatur-, Sprach- und Übersetzungswissenschaft Aufnahme in ihre Reihe. Katja sei diese Arbeit in Dankbarkeit gewidmet.
für die
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TEIL I - SPRACHE UND SOZIALE KOMPLEXITÄT
2.
Grundlinien der Soziologie Paretos und die Darstellung seiner Sprachauffassung durch Francesco Aqueci
2.1.
Die Philologie als epistemologisches Modell für die Soziologie (Theorie der Residuen und Derivationen)
2.1.1. Die sprachlichen Interessen Paretos. Philologie als epistemologisches Modell Paretos Anliegen, eine allgemeine Soziologie zu begründen, fuhrt ihn auf doppelten Bahnen zum Phänomen der Sprache: Ausgehend von einer Beobachtung der Umgangssprache und der Sprache der Sozialwissenschaften in ihrem "vorwissenschaftlichen" Stadium, wo der Reflex der Dinge in der Sprache nur eine "figura interamente fantastica" (TSG, § 108) ergebe, strebt Pareto für seine Soziologie die Schaffung einer konventionellen Sprache an, deren Objektivität durch die Anwendung einer "logisch-erfahrungsmäßigen Methode" (metodo logico-sperimentale)
garantiert werde. Zum Zwecke einer eindeutigen Identi-
fizierung habe der Wissenschaftler die durch Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Dinge (fatti) gleichsam mit Etiketten zu versehen (Aqueci 1991: 6). Neben diesem wissenschaftssprachlichen Interesse ruht seine Aufmerksamkeit aber gerade auf der Umgangssprache, an der ihm zufolge einige Aspekte menschlichen Verhaltens überhaupt deutlich werden. Seine Interessen gelten dabei, wie Aqueci herausstreicht, insbesondere dem unbewußten Charakter der sprachlichen Phänomene und dem sprachlichen Wandel, wobei die Annahme des unbewußten Charakters der Sprachphänomene eng mit dem Gedanken einer instinktiven Logizität der grammatischen Strukturen normaler Sprache verbunden ist. So vergleicht Pareto die Bildung grammatischer Strukturen mit den instinktiven Handlungen der Insekten, welche wiederum ein Modell für die meisten menschlichen Handlungen abgeben: "La formazione del linguaggio umano non è meno meravigliosa delle azioni istintive degli insetti. Sarebbe assurdo pretendere che la teoria grammaticale abbia preceduto la pratica del linguaggio, mentre l'ha certamente seguita, ed è senza averne contezza che gli uomini
18 hanno creato sottili teorie grammaticali. [...] La concezione dell'aoristo e il suo ufficio nella sintassi sono un'invenzione che farebbe onore al logico più esperto " (TSG, § 158).
Es handelt sich bei der Sprache um eine natürliche Fähigkeit, die sich allein im Gebrauch äußert und von der die Sprecher keinerlei theoretische Vorstellung haben.1 Den sprachlichen Wandel faßt Pareto als speziellen Fall einer allgemeinen Theorie des sozialen Wandels mit Hilfe der Begriffe einer variablen "forma" (Mythen, Kulte, Institutionen, Ideologien) und des konstanteren Elements des "fondo", der einen Komplex instinktiven und gefuhlmäßigen Verhaltens bezeichnet: "Il fondo della lingua muta, ma lentissimamente, neologismi s'impongono, ma in piccolo numero; le forme grammaticali si modificano, ma la sostanza persiste nei secoli" (TSG, § 1719).
Eine wichtige Folge davon ist, daß sprachlicher Wandel nicht beherrschbar sei und Festschreibungen abstrakter grammatischer Modelle durch die konkrete Sprachentwicklung fortwährend durchbrochen werden (vgl. Aqueci 1991: 12, bezugnehmend auf TSG, § 469). In der im 19. Jahrhundert erfolgten Abkehr der Philologen von bestimmten Formen des Normativismus sieht Pareto zudem einen entscheidenden Schritt auf deren Weg zu einer Erfahrungswissenschaft und damit wissenschaftlichen Disziplin: "Cosi un tempo, la filologia sdegnava l'occuparsi dei dialetti, e solo badava alla lingua dei •buoni autori'; ma oramai quel tempo è trascorso per la filologia, e deve pure trascorrere per la sociologia " (TSG, § 896).
Dieser Bezug auf die Philologie stellt keinen Einzelfall im TSG dar, sondern kehrt an theoretisch entscheidenden Stellen wieder. Wie Aqueci gezeigt hat, stellt die Philologie für Pareto neben den Naturwissenschaften ein epistemo-
Aqueci bezieht den Gedanken der Sprache als instinktives Verhalten, welches in der sozialen Kommunikation Strukturen erzeugt, die den durch Logiker reflexiv erzeugten vergleichbar seien, auf das von Jean-Blaise Grize entwickelte Konzept der "logique naturelle" (vgl. Aqueci 1991: lOf. sowie das Kapitel "Pareto e la logica naturale"). Zu diesem Aspekt einer Verbindung von Diskurstheorie und Logik vgl. Borel u.a. 1992, Grize 1990 und 1992 sowie Aqueci 1984.
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logisches Modell dar, an dem sich sein soziologisches Vorgehen unter mehreren Aspekten ausrichtet: "è tempo oramai che la Sociologia progredisca e procuri di giungere al livello al quale già trovasi la filologia" (§ 883).
In einigen Untersuchungen wird die Anlehnung Paretos an die Philologie durchaus bemerkt, ihre Funktion im Rahmen des TSG jedoch keiner eingehenderen Betrachtung unterzogen (vgl. z.B. Aron im Vorwort zu Pareto 1968: XVf.; Zauels 1968: 21; Bobbio 1973: 161; Belohradsky 1973: 98f.; Tommissen 1976: 226). Erst Aqueci untersucht auch die theoretische Bedeutsamkeit dieses Bezuges auf die "Philologie" (zu einer Problematisierung des PhilologieVerständnisses Paretos s. 2.3.).2 Wie Aqueci herausarbeitet, ist der Appell an die Philologie nach Pareto von da an gerechtfertigt, wo diese die Methode der auf oberflächliche phonetischsemantische Ähnlichkeiten gestützten unwissenschaftlichen Etymologie ablegt und sich der Strenge von Lautgesetzen unterwirft (vgl. Aqueci 1991:27f.): "Gli antichi ricavavano le loro etimologie da somiglianze spesso assai superficiali dei termini, e sbagliavano quasi sempre. I moderni non accettano alcuna etimologia, cioè rifiutano di percorrere a ritroso la via percorsa, se non hanno la prova del percorso in via diretta" (TSG, § 659).
Die Beharrlichkeit, mit der Pareto die Philologie der Soziologie in ihrer Wissenschaftlichkeit vorhält, erklärt sich aber nicht nur aus solchen mehr oder weniger äußerlichen Momenten. Dies zeigt Aqueci überzeugend anhand des von der Kritik bisher kaum beachteten § 469 des TSG, in dem Pareto über die Bezie-
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Im Epilog zu Fatti e teorie von 1920 heißt es: "Fra le manifestazioni dell'attività umana, ci sono le lingue. Ora che la filologia è diventata, per la massima parte, una scienza sperimentale, giova chiedere ad essa analogie e modelli che ci giovano per lo studio delle altre manifestazioni dell'attività umana, al quale attende la sociologia" (Pareto 1980c: 862). Ein Jahr vor seinem Tode schreibt Pareto an Georges-Henri Bousquet: "L'étude des sciences naturelles par laquelle j'ai commencé, se résume dans la recherche des parties constantes des phénomènes variables. Idem pour la philologie. Impossible d'étudier le grec sans les radicaux, les racines - Sans m'en rendre compte d'abord, j'ai porté cette habitude dans l'étude des écrits de l'économie et de la sociologie" (Correspondance: 1092).
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hung zwischen Schrift, Sprache, Religion und Moral die folgenden Zeilen schreibt: "la lingua è un organismo vivente, anche ora nelle contrade nostre, in cui si cerca di irrigidirla in forme precise, che essa rompe ogni tanto, come le radici delle piante spezzano il macigno nelle fessure del quale nascono. In tempi remoti nasceva liberamente come le piante di una foresta vergine. Non vi è nessun motivo che ci conceda di credere che diversamente accade e sia accaduto per i prodotti simili dell'attività umana che hanno nome diritto, morale, religione; all'incontro, fatti numerosissimi ci costringono a tenere per fermo che in modo analogo a quello della lingua si siano sviluppati. Essi, in tempi remoti, si confondevanmo in una masse unica, come le parole che nelle antiche iscrizioni greche sono scritte senza essere separate [...]. Le iscrizioni greche, come la storia delle origini greco-latine, ci mostrano lingua, diritto, morale, religione, come una specie di protoplasma, da cui, per scissione, nascono parti che poi crescono, divengono distinte, si separono" (TSG, § 469).
Die Philologie weist demnach nicht nur bestimmte wissenschaftliche Requisiten auf, derer sich nach Pareto auch die Soziologie bedienen sollte, sondern die beide Disziplinen haben das Studium "di prodotti simili dell'attività umana" gemeinsam, da sie sich mit genetisch benachbarten Phänomenen befassen, die sich analog zueinander entwickeln (vgl. Aqueci 1991: 29). Anhand einer Betrachtung der Handlungstheorie Paretos nähert sich Aqueci auf einem zweiten Weg der philologischen Dimension in dessen Soziologie. Den Kern dieser Theorie bildet die fundamentale Unterscheidung von logischen und nicht-logischen Handlungen (azione logica/non-logicaf,
die Pareto im 2.
Kapitel des TSG einfuhrt: "daremo il nome di 'azioni logiche' alle azioni che uniscono logicamente le azioni al fine, non solo rispetto al soggetto che compie le azioni, ma anche rispetto a coloro che hanno cognizioni più estese, cioè alle azioni logiche aventi soggettivamente e oggettivamente il senso spiegato or ora" (TSG, § 151).
3
Diese Unterscheidung behandelt die menschlichen Handlungen nicht unter psychologischem Aspekt, wie es verschiedentlich, auch von Seiten der Psychologie, mißverstanden wurde: "Wir haben uns also nicht an die psychischen Prozesse - die uns zumeist unbekannt sind - zu halten, die hinter den Handlungen stehen mögen, auch nicht an die Oberfläche der Handlungen selbst, sondern wir müssen die Handlungen in ihre Bestandteile aufzulösen suchen und die damit in Zusammenhang stehenden psychischen Zustände einfach als Fakten nehmen" (Eisermann 1987:133).
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Wo solche Handlungen anzutreffen sind, schreibt Pareto im darauffolgenden Paragraphen: "Le operazioni delle arti e delle scienze, almeno per le persone che conoscono queste o quelle, appartengono a tale classe. [. ]Le azioni studiate dall'economia politica appartengono anch'esse, in grandissima parte, a quella classe. Vi si deve mettere inoltre un certo numero di operazioni militari, politiche, giuridiche, ecc." (TSG, § 152).
Im Gegensatz zu den logischen Handlungen, die subjektiv und objektiv dasselbe logische Ziel haben müssen, weichen bei nicht-logischen Handlungen subjektives und objektives Ziel voneinander ab. So unterscheidet Pareto vier Klassen von nicht-logischen Handlungen: 1) es gibt weder subjektiv noch objektiv ein Ziel, 2) es gibt subjektiv ein logisches Ziel, aber nicht objektiv, 3) es gibt objektiv ein logisches Ziel, aber nicht subjektiv, 4) es gibt sowohl objektiv als auch subjektiv logische Ziele, die aber nicht übereinstimmen (vgl. TSG, § 151). Pareto zufolge sind die meisten menschlichen Handlungen nicht-logischer Art, wobei am Anfang seiner Überlegungen die Auffassung steht, daß diese menschlichen Handlungen im allgemeinen von "espressioni di sentimenti" (Begründungen, Theorien, Glaubensvorstellungen) begleitet werden, die die Handlungen selbst betreffen, welche ihrerseits zu einem Großteil "Instinkten" bzw. "psychischen Zuständen" entspringen (vgl. TSG, § 162). Das Bestreben, ihre nicht-logischen Handlungen zumeist als logisch darzustellen, fuhrt die Menschen zu dem Irrtum, sie wären Resultate ihres Glaubens, bestimmter Theorien oder Doktrinen (vgl. a.a.O.). Diese Neigung zur rationalen Erklärung und Begründung eigentlich nicht-logischer Handlungen ist nach Pareto von enormer soziologischer Bedeutung, da hier jener Komplex moralischer, religiöser und ähnlicher Theorien seinen Ursprung findet, über deren Studium der Soziologe Aufschluß über die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte erhalten könne: " in gran parte [...] di queste teorie sta l'immagine dell'attività sociale, ed anzi è spesso solo mercé loro che possiamo avere contezza delle forze che operano sulla società, cioè delle disposizioni e delle inclinazioni degli uomini" (TSG, § 8).
Von daher und aus der Erkenntnis des verbalen Charakters dieser handlungsbegleitenden Gedankenäußerungen heraus läßt sich das bereits im The-
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menindex4 deklarierte philologische Anliegen des TSG rechtfertigen (vgl. Aqueci 1991: 22), in dessen viertem Abschnitt es heißt: "Tutta la presente opera è una ricerca della realtà che si cela sotto le derivazioni [verbalen Gefuhlsausdrücken] che si sono fatte note dai documenti."
Aqueci nimmt diesen Verweis auf das Studium von Texten als wichtigster Ansatzpunkt des Soziologen zum Anlaß, einer philologischen Determination der Paretianischen Soziologie nachzugehen, die ihren eigenwilligsten und originellsten Ausdruck in der Theorie der Residuen und Derivationen findet.
2.1.2. Die Theorie der Residuen und Derivationen Vor dem Hintergrund der oben erwähnten genetischen Nachbarschaft der soziologischen Studienobjekte zur menschlichen Sprache schreibt Pareto: "giunto a questo punto, il lettore si sarà forse già avveduto che le indagini che stiamo facendo hanno analogia con altre che sono solite in Filologia, cioè quelle dirette ad investigare le radici e le derivazioni delle quali hanno origine i vocaboli di una lingua" (TSG, § 879).
Diese Analogie sei nicht künstlicher Art, denn sie "nasce dall'esservi in un caso e nell'altro prodotti della mente umana i quali hanno comunanza di procedimenti" (a.a.O.). Nachdem er diese theoretische Voraussetzung herausgearbeitet
hat,
untersucht Aqueci die Natur dieser Analogie anhand der Unterscheidung von Residuen und Derivationen (residui, derivazioni). Um Irreführungen durch die Sprache zu vermeiden, gebraucht Pareto vor der Einführung dieser Begriffe Buchstaben:
4
Wie Busino in der Nota al lesto zu seiner kritischen Ausgabe des TSG bemerkt, ist die Ausarbeitung der dem TSG vorangestellten Indici delle materie von Luigi Amoroso begonnen und von Pareto selbst vollendet worden. Es kann also davon ausgegangen werden, daß sich in unserem Argumentationszusammenhang keine Schwierigkeiten aus der Besonderheit ihres Entstehens ergeben. Alle dort getroffenen Aussagen sind durch den Text mannigfaltig gedeckt.
23 "L'elemento (a) corrisponde forse a certi istinti dell'uomo, o diciamo meglio degli uomini, perché (a) non ha esistenza oggettiva ed è diversa secondo i diversi uomini, ed è probabilmente perché corrisponde a questi istinti che è quasi costante nei fenomeni. L'elemento (b) corrisponde al lavoro della mente per rendere ragione dell'elemento (a), ed è perciò che è molto variabile, poiché riflette il lavoro della fantasia" (TSG, § 850).
Die Elemente (a), die Residuen, entsprechen als relativ stabiler Teil den Wurzeln in der Philologie, während (b) als variabler Teil den Ableitungen (Derivationen) von den Wurzeln gleichgestellt wird.5 Pareto exemplifiziert dies weiter im § 879: "Vi sono delle derivazioni molto usuali, in greco; per esempio il suffisso mai, il quale, unito alle radici, dà un gran numero di vocaboli significanti l'effetto dell'azione indicata dalle radici Vi sono del pari, nei fatti sociali, derivazioni molto usuali, come ad esempio, il volere della divinità, che serve a giustificare infinite prescrizioni. Così, quel volere unito al residuo dell'amore pei genitori, dà il precetto: 'onora tuo padre e tua madre, perché ciò Dio ordina. "
Wie Aqueci festhält, scheint das Residuum damit wie die Wurzeln in der Sprache eine allgemeine Bedeutung zu implizieren, aber nicht von Lexemen, sondern von Diskursen; mit anderen Worten: ein Ordnungsprinzip diskursiver Bedeutungen. Bei den Derivationen handelt es sich um Klassen von Argumenten, die je nach Bedarf dazu dienen, das Residuum, also das "Gefühl", den "psychischen Zustand", dem eine Handlung entsprungen war, zu rechtfertigen, zu erklären oder einfach zu begleiten. Die auf dem Modell der Philologie aufgebaute Theorie der Residuen und Derivationen stellt sich nach Aqueci als eine "Grammatik sozialer Diskurse" dar, wobei die durch Pareto vorgenommene Klassifizierung der Residuen und Derivationen an eine Klassifizierung allgemeiner diskursiver Bedeutungen und Klassen von Argumenten denken ließe (vgl. Aqueci 1991: 31).
Daneben nimmt Pareto noch die Derivate (c) an (§ 879), die die verschiedenen existierenden Theorien und konkreten Diskurse bezeichnen und den von der Philologie untersuchten Wortfamilien entsprechen. Da im Trattato die Grenzen zu den Derivationen als durch den Soziologen geschaffene analytische Kategorien nicht klar bestimmt sind und Pareto mit "Derivation" faktisch beide Bedeutungen abdeckt, wird die Unterscheidung des § 879 auch im folgenden nicht weiter berücksichtigt (vgl. auch Aqueci 1991: 1183).
24 Während die Arbeit des Philologen im Lichte einer Anmerkung Paretos zum § 1690 als Rekonstruktion einer "Logik" der spontanen Sprechertätigkeit erscheint, die sich in verbalen Produkten (Texten) ausdrücke, versuche der Soziologe in Analogie dazu, durch eine Analyse von Residuen und Derivationen die "Logik" der spontanen diskursiven Handlungen zu rekonstruieren, mit deren Hilfe die Menschen ihre religiösen, moralischen, politischen u.a. Auffassungen produzieren (vgl. Aqueci 1991:33f.). 6
2.1.2.1.
Residuen
Der theoretische Status7 und die Klassifikation 8 der Residuen haben die Paretologen viel beschäftigt. Auf die gesamte Diskussion zu dieser Problematik kann hier nicht eingegangen werden 9 ; hier soll die Klassifikation der Residuen
6
Pareto hebt die Anlehnung seines Schemas Residuum-Derivation an ein philologisches Modell auch in einem nach der Veröffentlichung des TSG erschienenen Werk hervor. So schreibt er im Epilog zu Fatti e teorie. "Come si fa di un testo l'analisi grammaticale, se ne può fare l'analisi delle derivazioni. Perciò occorre astrarre dalla sostanza del ragionamento e fermarsi alla forma. [...] Molte derivazioni si riproducono indefinitamente dai tempi antichi ai nostri. Ci sono derivazioni di autori latini che somigliano a derivazioni di autori moderni più assai di quanto vocaboli latini somigliano a vocaboli italiani. C'è una morfologia delle derivazioni, come c'è una morfologia delle lingue" (Pareto 1980c: 876f).
7
Busino sieht in ihnen ganz allgemein "concetti analitici di cui fa uso il sociologo per comprendere il funzionamento della società" (Busino 1989: 533), während sie für Eisermann nichts anderes sind als "analytisch weiterhin unauflösbare empirische Fakten, abstrakte Entitäten innerhalb konkreter sozialer Handlungen" (Eisermann 1987: 146).
'
Bereits die Bezeichnungen der sechs Residuenklassen erwecken den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit (vgl. Raymond Aron im Vorwort zu Pareto 1968: XIX); ähnlich auch Piaget 1965: 42, Freund 1974: 84f. und Busino 1983d: 137f). Die sechs Hauptklassen lauten wie folgt: 1. Instinkt der Kombinationen (Istinto delle combinazioni); 2. Persistenz der Aggregate {Persistenza degli aggregati), 3. Bedürfnis, Gefühle mit äußeren Handlungen zu bekunden (Bisogno di manifestare con atti esterni i sentimenti), 4. Residuen in Beziehung zum gesellschaftlichen Zusammenleben (Residui in relazione con la socialità), 5.Integrität des Individuums und seiner Einbindungen (Integrità dell'individuo e delle sue dipendenze), 6. Sexuelle Residuen (Residui sessuali).
9
Die Spannweite der Interpretationen reicht vom Pareto als "Meister der tiefenpsychologischen Analyse" (Brinkmann 1950: 3) bis hin zur Feststellung einer
25
nur soweit behandelt werden, wie es für das Verständnis der Paretianischen Gesellschaftstheorie einschließlich der in ihr implizierten Kommunikationsauffassung unerläßlich und für eine Rekonstruktion der sprachlichen Interessen Paretos erforderlich ist. Nach Aqueci stellt die Theorie der Residuen und Derivationen eine anthropologisch fundierte Rhetorik dar, in deren Rahmen die Residuen den anthropologischen Begründungszusammenhang ausmachen und die Derivationen die Rhetorik, die daraus resultiert (vgl. Aqueci 1992, 189). Die Klassifikationen ergeben sich dabei aus den Mentalitäten des sozialen Individuums, die bei Pareto unter ihren kognitiven und "affektiv-moralischen" Aspekten erfaßt werden10: "La classificazione dei residui [...] appare come una categorizzazione di strutture cognitive ed affettivo-morali, manifestate dal discorso sociale, a tutti i livelli delle sue possibili unità d'analisi (dal termine singolo alla formazione discorsiva)" (Aqueci 1991: 40).
Bei der 1. Klasse - Instinkt der Kombinationen (§§ 889-990) - handelt es sich um eine Beschreibung des "sozialen Synkretismus", der aus einer "inclinazione sintetica" (TSG, § 966) resultiert, die in der Praxis unerläßlich sei und ein Charakteristikum der Umgangssprache und des Alltagsdenkens darstelle (Aqueci 1991:41-64). Dem synkretistischen Denken steht eine soziale Gedankenform gegenüber, die Pareto als "Persistenz der Aggregate" in der 2. Residuenklasse bezeichnet (TSG, §§ 991-1088). Anhand der Verteilung von Residuen dieser ersten beiden Klassen in den verschiedenen sozialen Schichten kann nach Pareto sowohl der
"eigenartigen Ähnlichkeit" mit dem marxistischen Interpretationsschema von Basis und Überbau (Berger/Berger 1976: 2 5 l f ). Zur Kritik der psychoanalytischen und überhaupt psychologischen Sicht vgl z.B. Eisermann 1987: 137ff. Zu Paretos Klassifikation und Freud vgl Busino 1983c und zu Pareto und Marx vgl Macchioro 1966 und Busino 1989a. 10
Aquecis Unterscheidung in "residui cognitivi" und "residui affettivo-morali" zur Beschreibung sozialer Mentalitäten erlangt ihre Originalität vor allem aus der Perspektive der durch Jean Piaget betriebenen Studien zur Psychogenese des Kindes. Um die zugrundeliegende Annahme mit Jean-Blaise Grize auszudrücken: "rien de ce qui est dans l'enfance n'est totalement perdu chez l'adulte. Sans en appeler ni à Freud, ni à Hegel, il faut reconnaître que l'adulte bien souvent se comporte - et en particulier raisonne comme il le faisait en ses stades dépassés" (Grize 1990: 5 9 f ) .
26
Zustand einer Gesellschaft beurteilt werden als auch die Dynamik ihrer Entwicklung. Während die Residuen der 1. Klasse Veränderung und Innovation bewirken, sind die Residuen der 2. Klasse für Konservation verantwortlich." Ein persistentes Aggregat umfaßt nach der Analyse Aquecis dreierlei: a) einen Erfahrungskontext, b) Sinneswahrnehmungen bzw. Gefühle der Individuen in diesen Erfahrungskontexten, und c) Bezeichnungen bzw. eine bezeichnende Tätigkeit, die diese Gefühlsaggregate herausfiltert und in Objekte oder kollektive symbolische Repräsentationen umwandelt (vgl. Aqueci 1991: 66). In den ("kognitiven") Residuen dieser beiden Klassen sieht Aqueci wesentliche Eigenschaften des nicht-logischen Denkens beschrieben, während er die Residuen der Klassen 4-6 als "affektiv-moralisch" bezeichnet. Diese Residuen erweisen sich für die Paretianische Kommunikationsauffassung als besonders relevant, weil sie jegliche Argumentationssituation mit prägen. Für Pareto ist es eine Beobachtungstatsache, daß Moral nichts weiter als ein Klasse von (allerdings der sozio-kognitiven Entwicklung entsprechenden) spontan-instinktiven Antrieben sei, die unter bestimmten konkreten Umständen als Handlungsnormen dienen (Aqueci 1991: 83f.). Aqueci faßt seine Analyse in fünf Punkten zusammen: a) In sozialen Ordnungen ist eine Beziehung zu beobachten, in der die Herrschenden Gefühle stolzen Wohlwollens für die Beherrschten nähren, während diese ihrerseits Gefühle der Furcht und des Respekts jenen gegenüber kultivieren. b) Handlungen und Glaubensvorstellungen werden durch eine Dialektik von innovativer Imitation und konservativer Neophobie regiert. Das soziale Individuum befindet sich dabei immer in einer Situation des Konformismus, die keine eigene Elaboration der auferlegten normativen Inhalte zuläßt. c) In einer ursprünglichen Form moralischer Verantwortlichkeit wird nicht den Intentionen Rechnung getragen, die zu einer bestimmten Handlung bewegen,
Pareto definiert persistente Aggregate folgendermaßen: "Certe combinazioni costituiscono un aggregato di parti strettamente congiunte, come in un sol corpo, il quale finisce, per tal modo, coll'acquistare una personalità simile a quella di altri esseri reali. Spesso si possono riconoscere queste combinazioni pel carattere di avere un nome proprio e distinto della semplice enumerazione delle parti" (TSG, § 991).
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sondern nur der materialen Entsprechung zwischen Handlung und autoritativ festgelegter Norm. d) Die Moral gründet sich auf Gefühle von Ehrsucht und Angst vor Scham und besteht daher nicht in einer uneigennützigen Tugendpraxis, sondern eher in der Befriedigung von Stolz und Eigenliebe. e) Rationale moralische Konstruktionen sind zerbrechlich und vor allem illusorisch. Gerechtigkeit als zu forderndes Ideal, Gleichheit als Reziprozität und Solidarität zwischen autonomen Individuen, Unvoreingenommenheit
und
Großzügigkeit als Fähigkeiten, interne Handlungsmotivationen einzuschätzen, scheitern vor Bedürfnissen wie der Bewahrung der bestehenden Ordnung und dem Streben nach Privilegien (vgl. Aqueci 1991: 107). Die soziale Moral trägt also wie das soziale Denken nicht-logischen Charakter. Die Ethizität sozialen Handelns fallt in der Gesellschaftstheorie Paretos mit dem Respekt jener Beziehung zusammen, die Aqueci "relazione affettiva unilaterale" zwischen Herrschenden und Beherrschten nennt und deren Bruch (z.B. durch eine rational begründete Moral) zu einer Zerstörung der ethischen Grundlagen sozialen Handelns und damit der Gesellschaft selbst führen würde (vgl. Aqueci 1991: 113). Der Verdeutlichung dieses Umstandes dient die Analyse der Paretianischen Konzeption von diskursiver Vernunft am Beispiel des sokratischen Diskurses (s. 2.2.1).
2.1.2.2.
Derivationen12
Der Begriff der Derivation bezeichnet im soziologischen System Paretos den - in bezug auf die Residuen als die eigentlichen Handlungsantriebe - abgeleiteten Charakter der verbalen Mittel, mit denen der Mensch seine (nicht-logischen) Handlungen begleitet oder rechtfertigt. Die 1. Klasse - Affermazione (TSG, §§ 1420-1433) - umfaßt einfache Behauptungen von "Fakten", "Gefühlen" oder auch Mischformen. Die Funktion der Fakten besteht in diesem Sinne zuerst darin, verbal zu erhellen, was dem
Zu einigen terminologischen Besonderheiten dieses Begriffes und Paretos Unterscheidung zwischen Derivationen im eigentlichen Sinne, Manifestationen und Sophismen vgl. Aqueci 1991: 116-122.
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Hörer durch Residuen vermittelt allein als konfuses Gedankenmaterial vorliegt (vgl. TSG, § 1747). In dieser "erhellenden" Funktion kann darüber hinaus eine allgemeine Eigenschaft von Derivationen gesehen werden (vgl. Aqueci 1991: 123f.). Was die Behauptungen von "Gefühlen" betrifft, so besteht ihre Funktion darin, Zustimmung zu Diskursinhalten zu erhöhen, die nicht alle Beteiligten gleichermaßen spontan geben können. Dies geschieht durch mehr oder weniger explizite Rechtfertigungen, die nach Pareto dann auftreten, wenn der Terminus "dovere" im Diskurs auftritt. So führt Pareto bei der Beschreibung des einfachsten Derivationstyps aus: "Esso è usato dal bambino e dall'ignorante, colla tautologia: 'Si fa così, perché si fa cosi', col che si esprimono semplicemente i residui della socialità, perché in sostanza si vuol dire: Taccio cosi, o altri fa cosi, perché nella nostra società si usa fare così' Poi viene una derivazione alquanto più complessa, che mira a dare ragione dell'uso, e si dice: 'Si fa così perché si deve fare così'. Queste derivazioni che sono semplici affermazioni costituiranno la classe I. Ma già nell'ultima delle derivazioni ora notate ha fatto capolino un'entità indeterminata e misteriosa, cioè il dovere, ed è il primo accenno di un modo generale col quale si estendono le derivazioni, le quali appunto crescono coll'invocare, sotto nomi vari, diversi generi di sentimenti" (TSG, § 1400).
Aqueci sieht in dieser Anwesenheit bzw. Nicht-Anwesenheit des Konzepts "dovere" ein allgemeines Kriterium zur Unterscheidung von "Fakten" und "Gefühlen" (Aqueci 1991: 124). Während in der 1. Klasse besprochen wird, wie (zumeist tautologische) Erklärungen durch "dovere" und seine Ableitungen normativ modalisiert werden, kann der normative Charakter vieler Derivationen in einem folgenden Schritt durch das in der 2. Klasse - Autorità (TSG, §§ 1434-1463) - behandelte Argument der Autorität weiter abgesichert werden. 13 Eine Komponente der Autorität scheint der argumentativen Situation quasi eingeschrieben, was offenbar mit der in der Theorie der Residuen (vor allem der Klassen 4 und 5) beschriebenen Mentalität des sozialen Individuums zusammenhängt. Dessen Möglichkeit, im sozialen Diskurs Autorität als Beweismittel einzusetzen, findet
Pareto unterscheidet in Unterklassen Autorität eines oder mehrerer Menschen, Autoritäten der Tradition und von Bräuchen sowie Autoritäten göttlicher Wesen und Personifizierungen.
29
eine Begründung in der Veranlagung, nach Prestige und Anerkennung durch seine Gemeinschaft zu trachten, wie sie durch die Residuen der 4. und 5. Klasse erfaßt wird. Damit schließt sich der Kreis: kognitive Charakteristika, soziales Verhalten und Klassen von Argumenten beschreiben Interaktionssituationen, die sich auf Beziehungen von Über- und Unterordnung zwischen Individuen und Gruppen gründen (Aqueci 1991: 129). Aqueci sieht in der 3. Klasse der Derivationen - Accordo con sentimenti, o con principi (§§ 1464-1542) - eine Bestätigung der eben skizzierten Auffassung von Autorität. Pareto definiert diese Klasse folgendermaßen: "L'accordo é spesso solo coi sentimenti di chi compone, o di chi accoglie la derivazione, e si gabella per un accordo coi sentimenti di tutti gli uomini, del maggior numero, degli onesti, ecc. Questi sentimenti poi si distaccono dal soggetto che Ii prova, e costituiscono principi" (TSG, § 1464).
In der Perspektive Aquecis stellen alle Äußerungen, die sich unter Vernachlässigung erfahrungsmäßiger Tatsachen auf einen mehr oder weniger allgemeinen Konsens beziehen, eine mißbräuchliche Erweiterung jeweils konkreter Gefühle zu einer angeblich allgemeinen Meinung dar. Dieser Meinung wird kraft dieser Prozedur ein Wahrheitswert zugewiesen, wobei das Argument der Autorität dank seiner pragmatischen Stärke das einzig wirksame Mittel darstellt, Propositionen aufrechtzuerhalten, die nicht mit der erfahrungsmäßig gegebenen Wirklichkeit übereinstimmen. Das soziale Individuum findet sich damit in argumentativen Situationen immer in dem Dilemma, entweder Zwang durch Autorität zu aktivieren, oder sich zur Konsenssicherung pseudo-logischer Argumentationen zu bedienen (vgl. Aqueci 1991: 133). Pareto selbst etabliert einen Parallelismus zwischen der Herstellung von Konsens durch Übereinstimmung in den Gefühlen und den Mechanismen der Autorität (vgl. TSG, §§ 1458 und 1466). Dieses Verfahren ist aber, wie Aqueci bemerkt, nur unter der Bedingung einer Reduktion des Konsenses auf öffentliche Meinung nachzuvollziehen, also auf eine dem Individuum äußerliche soziale Macht, die ebenso überwältigend wirkt wie der Zwang durch eine Autorität. Eine über die Übereinstimmung in den Gefühlen hinausgehende Übereinstimmung in den Begriffen ist in diesem theoretischen Rahmen nicht mög-
30
lieh. Weder die Erkenntnismodi (Residuen der 1. und 2. Klasse) noch die "relazione affettiva unilaterale" (s. oben zu den Residuen der 4. und 5. Klasse) ermöglichen einen Zugang zu logisch-erfahrungsmäßig begründeten und kritisch diskutierbaren Wahrheiten (vgl. Aqueci 1991: 133). Bei der 4. Klasse der Derivationen schließlich - Prove verbali (TSG, §§ 1543-1686) - handelt es sich weniger um eine in sich abgeschlossene Klasse von Derivationen unter soziologischem Vorzeichen, sondern um eine Zusammenstellung verschiedener sprachlicher Mittel, die in sozialen Diskursen verwendet werden. Pareto steigt hier gewissermaßen vom "molekularen" Niveau der Reflexionen auf das "atomare" Niveau der Wörter herab, aus denen sich die Reflexionen zusammensetzen (vgl. Aqueci 1991: 136). Die Unterklassifizierung (von den gewählten Bezeichnungen her nachvollziehbarer als die der meisten anderen Unterklassen von Residuen und Derivationen) sieht folgendermaßen aus: 4a) Termine indeterminato per indicare una cosa reale, e cosa indeterminata corrispondente ad un termine (§§ 1549-1551); 4b) Termine indicante una cosa che fa nascere sentimenti accessori, o sentimenti accessori che fanno scegliere un termine (§§ 1552-1555); 4c) Termine con più sensi, e varie cose con un sol termine (§§ 1556-1613); 4d) Metafore, allegorie, analogie (§§ 16141685); 4e) Termini dubbi, indeterminati, che non hanno corrispondenza nel concreto (§ 1686). Semantische Grundlage für das Funktionieren dieser Klasse bilden nach wie vor die Unbestimmtheit der Termini (4a) und deren "gefühlsmäßiger" Referent (vor allem 4b und 4c).
2.2.
Soziale Kommunikation
2.2.1. Zur Wirkung von sozialem Diskurs in der Gesellschaft Pareto untersucht nicht nur die formalen Charakteristika der Derivationen und ihre Funktionsweise innerhalb sozialer Diskurse, sondern darüber hinaus auch das Funktionieren sozialer Diskurse in der Gesellschaft selbst. Dieser Punkt ist es, der im Rahmen dieser Arbeit unter besonderer Berücksichtigung der Theorie des complesso
sociale und des sozialen Gleichgewichts weiter ausgeführt
31
werden soll. Aqueci nähert sich diesen Phänomenen (allerdings ohne Anknüpfung an Paretos Theorie der Gesamtgesellschaft) über eine Analyse der Einschätzung, die Pareto der Verurteilung des Sokrates einmal im Manuel d'économie
politique
(1906) und dann im TSG (1916) unterzieht. Pareto
beantwortet dabei die Frage nach der Wirkung rationalen Diskurses in einer im wesentlichen durch nicht-logische Handlungen konstituierten Gesellschaft in seinen beiden Werken auf unterschiedliche Weise. Im Manuel wird Sokrates, der wegen Mißachtung der Götter Athens und Korrumpierung der Jugend angeklagt worden war, dargestellt als "très respectueux des croyances religieuses populaires, très moral, soumis aux lois de sa patrie jusqu'à supporter la mort pour ne pas se soustraire à ces lois" (.Manuel, II, § 65: 91).
Von daher könnte seine Verurteilung eigentlich nur als Infamie gesehen werden. Und dennoch, fährt Pareto fort: "son oeuvre fut involontairement dirigée contre la religion, la morale, l'amour de la patrie; et cela parce que, par sa dialectique, en poussant les hommes à rechercher, en faisant usage de la raison, les motifs et la nature de ces sentiments, il les détruisait dans leurs bases" (a.a.O.).
Wenn auch die Anklage formal, d.h. in dem Sinne, in dem die Ankläger den Begriff "Korruption" gebrauchten, falsch war, so war sie doch "au fond et en général" gerechtfertigt. Denn: "discutant de tout avec tout le monde, il attaquait inconsciemment la croyance aux dieux de la cité et il corrompait les jeunes gens, en ce sens qu'il affaiblissait en eux la foi nécessaire pour agir conformément au bien de la cité" (a.a.O., § 66: 92).
Im Unterschied zu den Sophisten, die sich ihren Unterricht teuer bezahlen ließen und demzufolge nur wenige Schüler aus aristokratischen Schichten erreichten, wandte sich Sokrates "à l'artisan, à l'homme que les soucis de la vie journalière mettaient dans l'impossibilité de suivre avec fruit de longs raisonnements, subtils et abstraits, et il détruisait leur foi sans pouvoir en aucune façon la remplacer par des raisonnements scientifiques" (a.a.O.).
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Das Vergehen des Sokrates bestand also darin, diejenigen zum Gebrauch der eigenen Vernunft zu ermutigen, die sich den gesellschaftlichen Normen entsprechend mit dem Glauben an die Autorität der Oberen zufriedengeben sollten und die diesen oder den Göttern Liebe und Furcht entgegenzubringen hatten. Dieser Punkt ist es, in dem Sokrates die ethischen Grundlagen ihres Handelns zerstörte und so die soziale Stabilität bedrohte. Insofern bewertet Pareto das Urteil als gerecht und moralisch, denn es diente dem Erhalt der sozialen Ordnung. Der rationale Diskurs hat nach dieser Auffassung über seine Wirkungen auf die Handlungsmotivationen einen direkten Einfluß auf den Zustand der Gesellschaft (Aqueci 1991: 114f.). Im TSG wird diese Auffassung modifiziert. So nimmt Pareto den Fall des Sokrates im § 2348 wieder auf und beurteilt dessen Verurteilung an dieser Stelle als "inutile, sciocca, perversa, criminosa", denn: "non è già che siano le accennate dottrine che possano avere tale effeto; all'opposto sono esse effetto concomitante dell'altro di disgregazione sociale" (a.a.O.).
Während der rationale Diskurs im Manuel noch als direkte Ursache sozialer Auflösungserscheinungen angesehen wird, erscheint er im TSG als bloßes Symptom einer sozialen Krise. Deshalb betrachtet Pareto die Verurteilung als ungerecht und verbrecherisch (vgl. Aqueci 1991: 115). Während die diskursive Vernunft im Manuel als erkennend aber sozial schädlich dargestellt wird, präsentiert sie sich im TSG als kognitiv haltlos aber sozial unschädlich (vgl. Aqueci 1991: 154). Als unschädlich erweist sie sich allerdings nur solange, wie ihre Subjekte in der Minderheit sind. Das Schema Paretos ist deshalb dahingehend zu vervollständigen, daß vom Standpunkt der sozialen Stabilität Verletzungen der materiellen Ordnung der Gesellschaft - Pareto bezieht sich in einem engeren Sinne auf "i popoli civili moderni" - um so stärker unterdrückt werden, je individueller sie sind; und der Grad ihrer Repression mit dem kollektiven Charakter ihrer Verursachung abnimmt (vgl. TSG, §§ 2176, 2196). Im Falle der intellektuellen Ordnung der Gesellschaft sind die individuellen Störungen weniger gefährlich, so daß es kaum nötig sei, sie zu unterdrücken. Nach Pareto ist dies der Hauptgrund, der sich zugunsten einer "libertà di pensiero" ins Feld fuhren ließe (a.a.O., § 2196). Vor diesem im TSG entfalteten Hintergrund ist die Verurteilung des
33
Sokrates, wie jedes "häretischen" Diskurses, nur zu rechtfertigen im Sinne der Verteidigung vor einem Angriff auf ein symbolisches Gut - die Konformität zur bestehenden intellektuellen Ordnung
dessen Besitz die Herrschaftsposition
gegenüber der Mehrheit definiert: "Da questo punto di vista il discorso sociale, svuotato di ogni consistenza cognitiva, appare corae un mezzo simbolico privilegiato per imporre e ribadire il conformismo sociale" (Aqueci 1991: 155).
2.2.2. Sozialer Diskurs und Anpassung an die soziale Umwelt Wie wir gesehen haben, gehorchen derivational geprägte soziale Diskurse einer anderen Logik als wissenschaftliche Diskurse. Und doch, so stellt Pareto fest, zeige die alltägliche Erfahrung, daß viele soziale Diskurse zu Konsequenzen führen, die mit den Fakten im Einklang stehen (vgl. TSG, § 1768). Die Frage, wie es zu solchen Übereinstimmungen kommen könne, beantwortet er mit Hilfe eines ebenso methodologisch vorsichtigen wie theoretisch entschiedenen Darwinismus (vgl. Aqueci 1991: 158).14 Die Residuen, schreibt er, können nicht im Widerspruch zu den Bedingungen stehen, in denen sie produziert wurden (vgl. TSG, § 1768). So wie ein Tier, das nur Kiemen hat, nicht an der Luft leben könnte, wäre ein gesellschaftliches Zusammenleben von Menschen mit ausschließlich antisozialen Instinkten unmöglich (vgl. TSG, § 1770). Aus der daraus sich ergebenden Notwendigkeit einer Anpassung der Residuen an die Lebensbedingungen folgt, daß auch die in der sozialen Welt üblichen Reflexionen zu Ergebnissen führen, die sich nicht zu sehr von der Wirklichkeit entfernen (vgl. TSG, § 1771). Pareto argumentiert unter anderem mit dem Beispiel des christlichen Askesegedankens, der von einer instinktiven Tendenz zu einem armen Leben ausgehe (vgl. TSG, § 1802f.). Hätten die ihn rechtfertigenden Diskurse für die gesamte
Zu Paretos Einschätzung des Darwinismus und Sozialdarwinismus vgl. Aqueci 1991: 158" Dort wird diskutiert, was unter einer "besten Anpassung" zu verstehen sei. Diese muß nach Pareto für das Individuum nicht dasselbe bedeuten wie für die ganze Art. Er sieht im Sozialdarwinismus die Versuchung, die Nützlichkeit (für das Individuum wie für die Gesellschaft) über willkürliche und imaginäre Größen zu definieren.
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Gesellschaft Geltung erlangt, hätte der christliche Gedanke vermutlich nicht überleben können. So stellten die Kirchenväter ("uomini esperti delle necessità del vivere civile") den Interpretationen der Heiligen, Eremiten und Fanatiker ihre Auslegungen der heiligen Schriften gegenüber, die auf ausgeklügelte Weise den Wortsinn des Evangeliums mit den Notwendigkeiten des praktischen Lebens zu vereinen vermochten. Dieser Mechanismus, den Pareto "contrasto e la composizione delle molte derivazioni che esistono in una società" (TSG, § 1772) nennt, läßt den Diskurs zu einem evolutiven Adapter werden, der über lokale Neutralisierungen einen globalen Effekt der Anpassung der Gesellschaft an die Lebens- und Umweltbedingungen bewirkt (vgl. Aqueci 1991: 160).
2.2.3. Nicht-dialogische Kommunikation Aquecis Interpretation von Residuen und Derivationen sowie der in Paretos Soziologie implizierten Diskursauffassung fließen in einer Rekonstruktion der Kommunikationsauffassung Paretos zusammen. Den Hintergrund seiner Betrachtungen bildet der Umstand, daß sich unter Sprachtheoretikern seit etwa den sechziger Jahren eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von Aspekten der Sprachproduktion hin zu Phänomenen der Rezeption, Interpretation und des Verstehens sprachlicher Botschaften vollzogen hat. Der empirische Zugang zu kommunikativen Prozessen ließ deutlich werden, daß der Empfanger sprachliche Informationen nicht einfach nur passiv aufnimmt, sondern selbst aktiver Sinnproduzent ist. Zu diesen Orientierungen gesellte sich eine Richtung von Studien - von der Sprachphilosophie bis zur Semiotik, von der Rhetorik bis zur Soziologie -, die sprachlichen Austausch als ein kontraktiles, auf Kooperation und Dialog angelegtes Geschehen interpretierten. Exemplarisch wird hier Jürgen Habermas angeführt und dessen Auffassung von der "idealen Sprechsituation" kritisch beleuchtet (vgl. Aqueci 1991: 161ff.). Demgegenüber stellt Pareto den sozialen Diskurs durch die Bezugnahme auf das Prinzip der Autorität und eine "Übereinstimmung in den Gefühlen" als ein nicht-dialogisches Geschehen dar. Im Diskurs kann der Hörer zu bestimmten Handlungsdispositionen bewegt werden, ohne daß er es bemerkt (vgl. TSG, § 1552). Dieser "unsichtbare" persuasive Effekt verdankt sich dem besonderen
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Verhältnis zwischen den vom Sprecher verfolgten Handlungszielen und seinen Aussagen selbst: "La dimostrazione delle derivazioni è spessissimo diversa dalla ragione che fa accogliere le derivazioni. Alcune volte possono combaciare; ad esempio, un precetto è dimostrato coll'autorità, e ricevuto per l'autorità. Altre volte possono essere interamente diverse, ad esempio, chi dimostra alcuna cosa valendosi dell'ambiguità di un termine, non dice certo: "La mia dimostrazione è valida mercé l'inganno dell'ambiguità di un termine'; mentre chi accoglie tale derivazione è, senza avvedersene, tratto in inganno dal ragionamento verbale" (TSG, § 1418).
Pareto selbst unterstreicht, daß diese Asymmetrie zwischen produktivem und rezeptivem Pol der Kommunikation eine allgemeine Eigenschaft von Kommunikation mittels Derivationen sei: "Lo scopo della derivazione è quasi sempre presente alla coscienza, per chi vuole dimostrare cosa alcuna, ma è spesso inosservato, per chi assente alla conclusione dela derivazione" (TSG, § 1413).
Die Möglichkeit, die Ziele des Gesagten im Verborgenen zu lassen, erlaubt es dem Sprecher, sich den privilegierten Zugang zu den diskursiven Ressourcen und damit Handlungsmöglichkeiten zu bewahren, den ihm der Bezug auf das Autoritätsprinzip eröffnet. Die Möglichkeit eines rationalen kommunikativen Verstehens wird dabei nicht erwogen. In einer besonders klaren Form erscheint dieses Modell dort, wo es Pareto auf die ihm zufolge allgemeine Tatsache bezieht, daß sich jede Gesellschaft in eine zahlenmäßig kleine regierende Klasse (Elite) und eine größere regierte Klasse unterteilt (vgl. TSG, § 2244). Die Regierenden benutzen vor allem zwei Mittel, um ihre Macht zu erhalten, die Gewalt und den Konsens der Regierten (vgl. a.a.O.). Beide Klassen stehen sich dabei wie zwei fremde Nationen gegenüber (TSG, § 2227). Vor diesem Hintergrund bestätigt sich nun das im Zusammenhang mit den "affektiv-moralischen" Residuen zum Zwangscharakter der Sozialität Gesagte: "Konsens" bezieht sich bei Pareto auf jenen spontanen Nachahmungstrieb, den ein autoritätsorientiertes Verhalten motiviert. Insofern das Individuum außerstande ist, sein eigenes Ich von den Suggestionen und Imperativen zu trennen, die von außen an es herantreten, kann es ihm nicht gelingen, Formen sozialer Kooperation zu entwickeln. Dies würde eine Befreiung vom Denken und Wol-
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len anderer voraussetzen, die jedoch so lange nicht möglich ist, wie das Individuum sich selbst nicht bewußt ist und sich demzufolge auch nicht gegenüber anderen Individuen situieren kann. Dieser soziale "Egozentrismus" und damit die Neigung, normative Inhalte von "außen/oben" spontan zu übernehmen, wird nun seinerseits durch den sozialen Zwang nochmals verstärkt (vgl. Aqueci 1991: 165). In Paretos Kommunikationsmodell stehen Sprecher und Hörer unter verschiedenen Einflüssen, wobei sich durch ihre diskursive Tätigkeit das unterirdische Spiel der Instinkte ausdrückt, welches sie wie eine objektive Notwendigkeit überwältigt: "Ciò che nel paradigma dialogista è, dunque, la costruzione contrattuale del senso, in Pareto corrisponde ad una strategia collettiva ma inconscia di adattamento vitale" (a.a.O.: 167).
2.3.
Erweiterung der Perspektive: Philologie, Text und soziales Gleichgewicht
Die Arbeit Aquecis wurde von soziologischer (Busino 1991), logischsemiologischer (Grize 1992) und soziolinguistischer Seite (Lo Piparo 1992) sehr interessiert aufgenommen. Busino sieht in ihr "une contribution de première importance à une lecture de Pareto, à l'histoire de la sociologie du langage, à l'établissement d'une interface entre la sociologie, la sémiologie, la linguistique et la logique" (Busino 1991: 206).
Aus seiner Sicht füllt Aqueci eine wissenschaftsgeschichtliche Lücke, die in der Unkenntnis über die Ursprünge des soziologischen Interesses für Phänomene der Sprache bestand. Er sah bisher keine Arbeit, die sich der Frage gewidmet hätte, ob diese Aufmerksamkeit durch den Wunsch hervorgerufen wurde, durch sprachliche Gegebenheiten nichtsprachliche Gegebenheiten zu entdecken, ob der Glauben dahinterstand, daß Sprache unsere Kenntnisse bildet, bedingt und begrenzt, oder auch die Annahme der Existenz einer Korrelation zwischen sozialen Klassen und sozio-semantischen Kodes. Durch seine Analyse des Werkes einer der Gründerväter der Soziologie habe Aqueci einen ersten Abriß der
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Modalitäten gegeben, die es der Sprachsoziologie erlaubt haben, das Feld soziologischer Forschungen zu betreten (vgl. a.a.O.: 203). Lo Piparo sieht im Studium der Beziehungen zwischen sozialen und diskursiven Praktiken das "sujet passionant" der Arbeit Aquecis. Pareto, wie er hier vorgestellt wird, stehe in einer aristotelischen Tradition, nach der die Sprache und das gesellschaftliche Gemeinwesen die Instanzen sind, die den Menschen zum vernunftbegabten Tier werden lassen. Theoretische Konsequenzen dieser Auffassung seien evidenterweise: "une théorie de la société qui n'est pas en même temps une théorie du langage est impossible; et réciproquement est impossible une théorie du langage qui ne soit en même temps une théorie de la société. Le lôgos se réalisant dans les lôgoi, c'est-à-dire le langage se réalisant dans les discours, suivant cette conception la science du langage est surtout science de la rhétorique; la rhétorique bien entendu en tant qu'étude linguistique et cognitive de l'action sociale" (Lo Piparo 1992: 199).
Aquecis Arbeit nahm ihren Ausgang von Paretos Inanspruchnahme der Philologie als epistemologisches Modell für die Soziologie. Die Rechtfertigung der Anlehnung an die "Philologie" gründet sich nach Pareto auf die Annahme, daß es sich bei der Sprache wie bei den vom Soziologen untersuchten Gegenständen um Produkte der menschlichen Tätigkeit handelt und daß die theoretische Nähe von Soziologie und Philologie in eben dieser genetischen Nachbarschaft bestehe. Sowohl Philologie als auch Soziologie beschäftigen sich mit der Rekonstruktion
einer
"natürlichen"
Logik
der
von
ihnen
untersuchten
Gegebenheiten: der spontanen Spechertätigkeit und der verbalen Begleiter nichtlogischer Handlungen, die ihren Niederschlag beide in Texten finden. Eine theoretische Konkretion erlangt dieser Umstand insofern, als sich die linguistische Erforschung der Wurzeln und Ableitungen im Zusammenhang mit der Annahme von Lautgesetzen auf das soziologische Studium der Residuen und Derivationen anwenden ließ. Im folgenden soll dieser Leitgedanke vom Aufeinanderangewiesen-Sein linguistischer und sozialwissenschaftlicher Reflexion weiter auf seinen Niederschlag in Paretos Soziologie hin entwickelt werden. In diesem Sinne läßt besonders der von Pareto geäußerte Anspruch, mittels einer Untersuchung von Texten Aufschluß über die soziale Wirklichkeit zu erlangen, nach einer Begründung fragen, denn die Abhängigkeit von Sprache und den anderen sozialen
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Institutionen war ja zunächst aus historischer Perspektive heraus festgestellt worden. Woher aber Pareto die Zuversicht bezieht, aus den Texten nicht nur die Handlungen der Menschen zu verstehen, sondern die gesamte soziale Wirklichkeit zu jeweils bestimmten Zeitpunkten in der gesellschaftlichen Entwicklung rekonstruieren zu können, ist damit allein noch nicht geklärt. Den Schlußstein seiner Soziologie bildet erklärtermaßen eine Theorie der Gesamtgesellschaft, des complesso sociale, welchen Pareto unter dem Aspekt seines Gleichgewichts und seiner Determinanten untersucht. In dieser Arbeit soll nun herausgearbeitet werden, daß es einen Zusammenhang zwischen dem philologischen Anliegen Paretos und seiner Theorie der Gesamtgesellschaft gibt, ja daß auch diese Theorie15 entscheidend philologisch geprägt ist. Zu diesem Zweck sei jetzt, ausgehend von einigen Anregungen Aquecis, vorerst auf das Philologieverständnis Paretos eingegangen, um zu sehen, woher seine
philologischen
Kenntnisse
stammen
und
auf
welche
sprach-
wissenschaftlichen Strömungen er sich mit dem Begriff "Philologie" konkret beziehen könnte. In der ersten Fassung seiner Arbeit über Pareto geht Aqueci etwas expliziter auf diese Fragen ein und hält fest, daß sich Pareto auf die historische Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts bezieht, welche die Linguistik auf der Grundlage zweier Prinzipien erneuert hatte. Aqueci nennt: a) die "Spontaneität" des Sprachwandels, der damit nicht nur dem bewußten Willen der Sprecher zuzuschreiben sei, und b) die Regel, daß sich Sprachwandel mittels phonetisch und grammatisch analysierbarer Lautgesetze rekonstruieren
Es handelt sich dabei um keine systematisch aufgebaute und in sich kohärente Theorie mit einem konsequenten Begriffsgebrauch. Was schon für die Theorie der Residuen und Derivationen zutraf, eine gewisse Unbestimmtheit bis hin zur Widersprüchlichkeit, die Raum für verschiedene Interpretationen zuläßt, läßt sich auch für die Theorie des complesso sociale feststellen. Diese wird im 12. Kapitel des TSG - "Forma generale della società - entwickelt und ist auf das Studium der Gesellschaft in ihrer Totalität gerichtet. Der complesso sociale bezeichnet das soziale System (vgl. TSG, § 2066) nicht nur unter statischem, sondern auch unter seinem dynamischen Aspekt (vgl. TSG, § 2396). Von allen Faktoren, die die Form und das Gleichgewicht einer Gesellschaft bestimmen, untersucht Pareto insbesondere: a) die Residuen, b) die Interessen, c) die Derivationen, und d) die "Heterogenität und soziale Zirkulation". Diese Faktoren wirken, wie auch alle anderen Faktoren, wechselseitig aufeinander ein. Pareto nennt diese Wechselbeziehungen mutua dipendenza oder interdipendenze (vgl. TSG, § 2203ff).
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lasse. So zeige Pareto eine genaue Kenntnis der historischen Sprachwissenschaft (vgl. Aqueci 1990: 2014).16 Darüber hinaus beobachtet Aqueci, daß sich Pareto mit dem Terminus "Philologie" auch auf die klassische Philologie, verstanden als Studium griechischer und lateinischer Texte, bezieht. Er nimmt an, daß dieses philologische Interesse für die griechisch-römische Antike den ältesten Kern seiner linguistischen Kenntnisse bildet, der mit einiger Sicherheit auf die Florentiner Zeit seines Lebens zurückgehe (a.a.O.). Allein im Bezug auf diese beiden Elemente philologischer Kultur, die in der Geschichte der Sprachwissenschaft durchaus nicht immer so friedlich koexistierten wie in Paretos TSG, offenbart sich ein heterogenes Verständnis von "Philologie", das hervorgehoben zu werden verdient. Wenn auch bereits bei Aqueci deutlich wird, daß es sich hierbei eher um ein Konglomerat handelt, in dem verschiedene linguistischen Prägungen und Interessen Paretos zusammenfließen, sollte doch noch einmal akzentuiert werden, daß Pareto selbst eine begriffliche Klärung des Konzepts der "Philologie" nie versucht hat. Es zeichnen sich aber wenigstens 3 Aspekte in seinem Philologie-Verständnis ab. So handelt es sich dabei 1) um einen bisweilen nur vage und diffus wirkenden Leitgedanken, der aus der Annahme einer Homologie von Sprache und Gesellschaft resultiert, der 2) auch zum theoretisch-methodologischen Prinzip entwickelt werden kann und sich 3) als wissenschaftliche Analysetechnik konkretisiert. Dem Problem der "Philologie" bei Pareto nähert man sich, auch angesichts des relativ seltenen Vorkommens dieses Begriffes, weniger über die Frage nach dessen Umfang als über eine Analyse des Paretianischen Sprachdenkens in seiner Globalität, verstanden einerseits als Moment seiner allgemeinen intellektuellen Bildung und andererseits als theoriekonstituierendes Element. Ein relativ weites Verständnis dieser 3 Aspekte vermag nun über die bereits von Aqueci genannten Bezugspunkte hinaus auch weitere Momente sichtbar zu machen, die sich zwar nur schwer als philologisch im engeren Sinne 16
Wie konkret Paretos Kenntnisse der historischen Linguistik wirklich waren, ist dennoch schwer zu entscheiden. Fest steht, daß er die historische Methode in der Sprachwissenschaft als historisch-vergleichende Methode wahrgenommen hat (s. z.B. TSG, § 346 1 ), daß ihm deren Konzentration auf die historische Grammatik ebenso vertraut war (s. z.B. TSG, § 469) wie das Konzept des latino volgare (in der französischen Ausgabe aber latin populaire, s. TSG, § 556).
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charakterisieren lassen, die aber dennoch herangezogen werden müssen, um die Weite des linguistischen Horizonts und die Aufgeschlossenheit Paretos für sprachliche Fragen ermessen und verstehen zu können. Wie bereits angedeutet, sind die ersten Ansätze des Paretianischen Sprachdenkens höchstwahrscheinlich im Kontext seiner klassisch-philologischen Studien und seiner Kontakte zu den Florentiner Philologen zu suchen (vgl. Aqueci 1990: 1810 und 21 14 ). 17 Unter dem Vorbehalt, daß hier nur eine intellektuelle Biographie Paretos ein vollständigeres Bild geben könne, trägt Aqueci zumindest einige Indizien zusammen. So äußerte sich Pareto bisweilen selbst zu seinen philologischen Neigungen. Am 27. April 1886 schreibt er an den klassischen Philologen und seinen langjährigen treuen Korrespondenten Arturo Linaker, der neben Augusto Franchetti, Carlo Placci und den Peruzzi zum Kreis seiner illustren Florentiner Freunde zählte: "il greco è da me ora un poco trascurato perché sono in filone di scienze matematiche e sociali, ma ogni tanto alla sfuggita un poco me ne occupo, è un piacere al quale rinunzio difficilmente" (Lettres: 559).
Gegen Ende seines Lebens erinnert er sich im Epilog zu Fatti e teorie: "nei bei anni della gioventù feci, per istruirmi, uno studio per paragonare la lingua di San Paolo al dialetto attico" (Pareto 1980, 863).
Georges-Henri Bousquet, mit dem Pareto eng verbunden war, schrieb in seiner Darstellung von 1928: "II fit de solides études classiques, puis entra à l'Ecole Polytechnique de Turin. Toute son oeuvre devait subir l'empreinte de son double influence: les humanités gréco-latines et les mathématiques. [...] Il m'a raconté comment, sujet à des insomnies fréquentes, il passait ses nuits à lire et à étudier, commençant ainsi à accumuler une quantité extraordinaire de connaissances, et cultivant sans cesse plus son esprit. Sous l'influence du philologue D.
Zu Paretos philologischem Umgang mit der klassischen Antike bei aller Kürze aufschlußreich der Artikel von Rey, der Pareto in bezug auf die antike Welt als einen "dilletante éclairé" präsentiert, welcher die kritischen Methoden der Philologie ein wenig idealisiere, aber trotzdem ernsthaft anwende. - Zustimmen kann man der Aussage, daß Paretos Zugang zur Antike ein äußerlicher und funktional zur soziologischen Problematik bleibt (vgl. Rey 1983: 34).
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Comparetti, il s'intéresse spécialement à l'antiquité héllénique" (Bousquet 1928: 16 und
17f).
Der Besuch Florentiner Philologenkreise und damit auch Comparettis wird von Pareto selbst indirekt bestätigt, wenn er am 28. August 1886 an Linaker schreibt, daß er ihn einmal einen ganzen Abend vergebens im "circolo filologico" erwartet habe (vgl. Pareto, Lettres: 563). Eine gewisse Intensivierung seiner Beschäftigung mit im weitesten Sinne philologischen Problemen scheint ab etwa 1910 auszumachen zu sein. So schreibt er in der Zeit, in der das Projekt des TSG Gestalt anzunehmen beginnt, sehr persönlich und fast euphorisch an Linaker (3. Januar 1912): "Io sono sempre quello di un tempo, e darei tutti i tuoi Montedomini, tutti i tuoi palazzi Riccardi, tutte le tue biblioteche, tutta l'umanità, per una semplice ricerca filologica o scientifica" (Correspondance: 754).
Einige Monate später, am 1. Mai 1912, veröffentlicht er einen kleinen Beitrag mit dem Titel Un petit problème de philologie (heute in Pareto 1966d), dessen Enstehung vor dem Hintergrund der Äußerung Linaker gegenüber bestens motiviert ist und dessen Hauptthema eine Übersetzungskritik bildet. Weiterhin findet sich im TSG eine direkte Spur seiner Beschäftigung mit dem Werk Domenico Comparettis, die um so aufschlußreicher ist, als sie zu der Textauffassung hinfuhrt, die Aqueci für den TSG rekonstruiert hat. Aqueci kam durch eine Analyse des § 541 zu dem Schluß, daß nach Pareto der Wahrheitsgehalt eines Textes nicht das wichtigste Analysekriterium für den Soziologen sein könne (vgl. Aqueci 1991: 24). So schreibt Pareto: "Suppongasi di avere un testo o più testi di un autore; si possono considerare sotto tre aspetti, cioè: 1) Come la pensava l'autore, il suo stato psichico, e come è stato determinato. 2) Ciò che ha voluto dire in un passato determinato. 3) Ciò che hanno capito gli uomini di una determinata collettività, in un tempo determinato" (TSG, § 541).
Während nach Aquecis Interpretation die historisch-philologische Kritik den zweiten Aspekt zum Gegenstand hat, ist der erste für den Soziologen interessanter, denn:
42 ". ..il modo di pensare d'un autore è in relazione coi sentimenti esistenti nella collettività in cui vive, e perciò si può, entro certi limiti, da quello dedurre questi" (a.a.O.).
Von da aus unterscheidet Aqueci Paretos Textbegriff von dem der historischphilologischen Forschung. Während es der letzteren mit ihrer Quellenkritik um das Problem der Authentizität des Textes und um die Entsprechung der in ihm enthaltenen Behauptungen mit den Geschehnissen gehe, ist im Unterschied dazu ein Text im soziologischen Modell Paretos allein ein Indiz für die Gefühle der Gemeinschaft, in der er produziert wurde (vgl. Aqueci 1991: 25). Anhand der Ausfuhrungen Paretos zu einem Werk Comparettis (vgl. TSG, §§ 668-676) läßt sich nun die Verankerung dieser soziologischen Textauffassung in einem philologischen Diskurs aufzeigen. So behandelt Pareto am Beispiel der Rezeption Vergils als einerseits historischer und andererseits legendärer Gestalt das Verhältnis von Mythos und geschichtlicher Wahrheit, womit, anders als im § 541, der Autor eines Textes in den Hintergrund tritt und der 3. Punkt ("Ciò che hanno capito gli uomini di una determinata collettività, in un tempo determinato") an Relevanz gewinnt. Comparettis Virgilio nel Medio Evo (Seeber: Firenze, 2 1896) liefert ihm die Unterscheidung zweier Arten von Legenden: "1° Virgilio nella tradizione letteraria; 2° Virgilio nella leggenda popolare", von der ausgehend sich Paretos Aufmerksamkeit allein auf die "leggenda popolare" richtet (vgl. TSG, § 668), die Vergil als Magier behandelt. Pareto bringt in einem langen Zitat Beispiele von Comparetti, um im Anschluß zu fragen und lapidar zu antworten: "Supponiamo di non conoscere altro di Virgilio se non questa lunga leggenda; quale realtà storica potremmo ricavarne? Proprio nessuna" (TSG, § 669).
Er fügt hinzu, daß sich analoge Legenden nicht nur in der Antike und im Mittelalter fänden, sondern auch in der Neuzeit ("vediamo in modo certo il romanzo mescolarsi alla storia") (vgl. TSG, § 671), um im § 675 schließlich den Ansatz einer eigenen "Theorie der Mythenkonstitution" zu präsentieren: "Nella leggenda virgiliana testé ricordata, abbiamo un esempio del come in generale si costituiscono le narrazioni dei miti. Il qual modo somiglia a quello della formazione dei cristalli. Buttate in una soluzione satura di allume un granellino di sabbia, e vedrete formarsi intorno grossi e numerosi cristalli. Similmente, intorno ad un racconto che nulla ha di reale, ma che è semplice espressione concreta di un sentimento [kursiv von mir;
43 F.S.], si raccolgono e con esso si agglomerano altri racconti simili ed ornamenti vari. Talvolta i personaggi rimangono senza alcun carattere storico [...]. E evidente che tali personaggi e le avventure stesse sono parte accessoria del racconto, di cui invece la parte principale sta nei sentimenti che esprime".
Das einzig Reale und somit den Soziologen Interessierende, was sich in einem mythologischen Text bzw. einer mythologischen Diskurstradition wiederfinden lasse, seien die Gefühle, die zu deren Entstehung beigetragen haben. Der Zusammenhang mit der TextaufFassung des § 541 ist evident. Es ist Paretos Überzeugung, daß sich diese Gefühle unmittelbarer in der Volkskultur, in der Folklore ausdrücken als in der Kultur der Intellektuellen, in der logische Reflexionen einen größeren Raum einnehmen (vgl. TSG, § 541 und Aqueci 1991: 24). Im TSG zeugen unzählige Seiten von einem starken Interesse für Mythologie und Volkskultur in einem weiteren Sinne, aber auch von einer Aufmerksamkeit für ethnologische Studien. Bei einem so unsystematisch vorgehendem Wissenschaftler wie Pareto, der sein Material oft scheinbar zusammenhanglos und unmotiviert vor allem in den Fußnoten anhäuft, hat sich den Kritikern oft der Verdacht aufgedrängt, es handele sich dabei zumeist um bloße Exemplifizierungen einer ohnehin schon feststehenden Theorie des Nicht-Logischen, allein um ein unerschöpfliches Reservoir von Derivationen. Im Falle der hier dargestellten "folkloristischen" Einbindung der Paretianischen Textauffassung und ihres Bezuges auf das Werk eines Philologen, mit dem der Soziologe auch persönlich bekannt war, wirft sich die Frage auf, ob es sich damit nicht auch um das Resultat einer ganz spezifischen philologischen Prägung Paretos handeln könnte, die sich aus einem lebendigen Umgang mit Comparetti und dessen Werk ergeben hat. Wie Fabrizio Franceschini andeutet und an den Beispielen Antonio Gramscis und Ernesto De Martinos entwickelt (Franceschini 1989 und 1990), "il nesso tra demologia e filologia [...] caratterizza filoni importanti della tradizione italiana di studi e può tuttora produrre risultati di qualche interesse" (Franceschini 1989: 7). 18
"
Für Gramsci hatte schon Lo Piparo festgestellt, daß "geneticamente, gli interessi folkorici, nel giovane Gramsci, si innestano sugli interessi glottologici. Alla scuola di Battoli, l'apprendista glottologico fu anche un apprendista demologico" (Lo Piparo 1979: 179).
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Durch Comparetti war Pareto mit dieser Art von Philologie vertraut, die sich nicht nur der Erforschung der Antike, sondern auch des Mittelalters und diverser Volkskulturen widmete.19 Sicher geht er andere Wege als Comparetti selbst, andere Wege auch als Gramsci oder De Martino; seine konstante Aufmerksamkeit für diese Art von Studien mag jedoch in der Begegnung mit Comparetti eine ihrer Wurzeln haben.20 Im TSG finden wir darüber hinaus Zeugnisse, daß Pareto auch an andere komparativ arbeitende Linguisten anknüpfen konnte, die sich mythologischen Studien gewidmet hatten, so z.B. Max Müller oder Gaston Paris, dessen Légendes du Moyen Age (Paris, 1903) Pareto im Anschluß an seine Betrachtung Comparettis heranzieht. In jedem Falle und auch unabhängig vom Gewicht Comparettis für die philologische Prägung Paretos stellt die philologische Orientierung der Paretianischen Soziologie einen originellen Reflex der konfliktreichen und verworrenen Beziehungen zwischen einer um einen neuen wissenschaftlichen Standort bemühten klassischen Philologie und der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft um die Jahrhundertwende dar. Angesichts der zentralen Stellung der letzteren Disziplin in der Linguistik "la philologie classique s'est quelque peu cherchée une originalité en se frayant une place entre l'histoire, la grammaire e l'archéologie, voir l'anthropologie" (Baggioni 1986: 310).
Pareto, dem es seinerseits nicht um die Originalität der Philologie gegenüber der historisch-vergleichenden Grammatik ging, sondern um die Etablierung einer Soziologie als autonomer "logisch-erfahrungsmäßiger Wissenschaft", hat bei aller ungenauen Kenntnis dieser wissenschaftsgeschichtlichen Prozesse sehr genau gespürt, daß sich die Linguistik/Philologie mit der Anwendung einer eigenen, der historisch-vergleichenden Methode, soweit von der Philosophie emanzipiert hatte, daß sie als automome Wisenschaft wahrgenommen werden
19
Erinnert sei an Comparettis II Kalevala o la poesia tradizionale dei Finni, 1890. Heute in Poesia e pensiero del mondo antico, a c. di G. Pugliese Carratelli, Napoli, 1944.
20
Auch Paretos Beschäftigung mit den Ungenauigkeiten der Umgangssprache könnte u.a. daher rühren. Diese Möglichkeit wird indirekt durch Giovanni Vailati bestätigt: "L'influenza delle imperfezioni del linguaggio sulla formazione dei miti e delle leggende ha cominciato solo da poco ad attrarre l'attenzione dei filologi e dei folkloristì" (Vailati 1987b, 71).
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konnte. Diese zeitige Autonomisierung der Sprachwissenschaft begünstigte eine Modellwirkung für Nachbardisziplinen wie Psychologie, Phonetik, Ethnologie und eben Soziologie, die ebenfalls aus dem "philosophischen Zeitalter" heraustreten wollten. Angesichts dieser Konstellation ist um die Jahrhundertwende der Bezug auf die vergleichende Grammatik häufig anzutreffen und somit vorerst keine Spezialität Paretos (vgl. Baggioni 1986: 333). Die Besonderheit Paretos besteht, wie Aqueci überzeugend nachgewiesen hat, darin, daß der Bezug auf die Sprachwissenschaft nicht äußerlich bleibt, sondern im soziologischen System Paretos selbst tragend wird. Darüber hinaus gilt es aber noch stärker herauszuarbeiten, daß bei Pareto nicht nur einige Elemente der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft (Lautgesetz, Wurzel-Ableitung, unbewußter Charakter der sprachlichen Phänomene) auch theoretisch konstititiv wurden, sondern wahrscheinlich auch der durch Comparetti mit vermittelte philologische Zugang zu sozialen Phänomenen, selbst wenn er jenen mit seinem Hinweis auf die Wissenschaftlichkeit der Philologie nicht im Blick haben sollte. Die Originalität Paretos besteht vor diesem im engeren Sinne philologischen Hintergrund in der Weiterentwicklung einer bestimmten Auffassung von Mythos und Legende in Richtung einer Textauffassung, über welche Probleme der sozialen Kommunikation und letztlich auch des sozialen Gleichgewichts behandelt werden können. Aus dem Kontext seiner Behandlung Comparettis (TSG, § 673) heraus verweist Pareto auf den § 258, wo er die Unangemessenheit einer textanalytischen Methode betont, die eine Erzählung in zwei Teile trennt, in "una parte miracolosa, incredibile, che viene rigettata, ed un'altra naturale, credibile, che si conserva". Der akzeptable Teil ist nach Pareto abhängig vor allem von "probabilità estrinseche di verità, sia per le qualità conosciute dell'autore, sia per l'accordo con altre testimonianze" (a.a.O.). Von einer Legende jedoch sei keine historische Wahrheit zu erfahren, sondern nur Aufschluß über die psychischen Zustände und Gefühle der Personen zu gewinnen, "che l'hanno creata, o accettata [kursiv von mir, F.S.]" (vgl. § 259). Soweit noch kein neuer Gedanke zur Textauffassung Paretos. Auf der Bedeutsamkeit des rezeptiven Pols der sozialen Kommunikation wird, wie wir gesehen haben, auch im § 541 hingewiesen (vgl. auch Aqueci 1991: 166f.). Im folgenden § 260 wird nun aber
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das Moment der Rezeption einer Legende, eines Mythos etc. auch an die Problematik des gesellschaftlichen Gleichgewichts geknüpft: "L'interpretazione logica di azioni non-logiche diventa a sua volta una causa di azioni logiche, e qualche volta anche di non-logiche, quindi deve pure essere considerata per determinare l'equilibrio sociale. Sotto tale aspetto l'interpretazione del volgo ha generalmente più importanza di quella dei teorici. Preme assai più, per l'equilibrio sociale, sapere ciò che il volgo reputa essere virtù, che di conoscere ciò che ne pensano i filosofi".
Die Art und Weise der Rezeption eines "mythologischen" Textes wird also insofern selbst zu einem Moment bei der Bestimmung des gesellschaftlichen Gleichgewichts, als sie zu bestimmten gleichgewichtsrelevanten nicht-logischen Handlungen Anlaß geben kann. Auch die unterschiedliche soziologische Gewichtung einer Rezeption durch das Volk bzw. durch die Intellektuellen wird hier bereits mit reflektiert (vgl. TSG, § 541 und Aqueci 1991: 24). Unter dem Aspekt der direkten Verbindung zur Behandlung Comparettis werden diese Passagen um so signifikanter für die Art Paretos, mit Philologie umzugehen. Was im § 260 speziell zur Rezeption von Mythen und Legenden gesagt wird, verallgemeinert Pareto im § 541 auf die ihm soziologisch relevante Textproblematik. Dies geschieht aber auch hier unter explizitem Bezug auf die Thematik des sozialen Gleichgewichts. Diesen Aspekt, der in Aquecis Analyse ausgeklammert bleibt, erwähnt Pareto im unmittelbaren Anschluß an die oben zitierte Aufzählung der drei möglichen Kriterien bei der Interpretation von Texten: "Sotto l'aspetto dell'equilibrio sociale, l'importanza va crescendo dal 1° al 3°. [...]; il 3° aspetto riguarda le persone che prendono conoscenza del testo considerato".
In seiner Erläuterung eben dieses 3. Punktes wird deutlich, daß der rezeptivistische Charakter des im TSG entwickelten Modells sozialer Kommunikation untrennbar mit der Problematik des Gleichgewichts und der allgemeinen Form der Gesellschaft zusammenhängt: "Già abbiamo veduto [...] che i sentimenti, manifestati dalle credenze e dai pensamenti degli uomini, operano potentemente per determinare i fenomeni sociali, e da ciò segue che i sentimenti e le loro manifestazioni sono per la sociologia 'fatti' importanti quanto quelli che sono le azioni. [. . .] Dice Tucidide non essere vero che, come credeva il volgo ateniese, Ipparco fosse tiranno quando fu ucciso da Armodio e da Aristogitone; ma, per
47 la forma della società ateniese, e tra le forze che potentemente operavano per determinare tale forma vi era di certo il sentimento che si manifestava quando gli ateniesi cantavano le lodi di Armodio e di Aristogitone [...] Così si giunge alla conclusione seguente, [. . .]: per determinare la forma della società ateniese preme assai meno il sapere se veramente Ipparco era tiranno quando fu ucciso da Armodio e da Aristogitone, o anche se il fatto è interamente leggendario, che il conoscere degli ateniesi a questo proposito [kursiv von mir, FS.]" (a.a.O.).
Es ist also primär ein besseres Verständnis der Gesamtgesellschaft unter dem Aspekt ihres Gleichgewichts, das sich Pareto durch ein Studium der Mythenund Textrezeption verspricht. Damit geht er einen entscheidenden Schritt über ein im klassischen Sinne philologisches Textverständnis hinaus, ohne daß der Bezug auf ein solches gänzlich verloren ginge (vgl. Punkt 2 im § 541). Wir finden hier auf dieser Ebene der Textauffassung einen ersten und entscheidenden Hinweis auf eine philologische Prägung des soziologischen Interesses an der Gleichgewichtsthematik, die im 12. Kapitel des TSG entwickelt wird.21 Diese Interpretation wird durch den Umstand gestützt, daß Pareto in der theoretischen Ausformulierung seiner Theorie des complesso
sociale
die
Derivationen (und damit auch Derivationenkomplexe/Texte) zu den Elementen zählt, die die Form der Gesellschaft und ihr Gleichgewicht bestimmen. Aus diesem Grunde ist das diskursive Element menschlicher Handlungen nicht nur auf bestimmte soziale - kognitive und affektive - Mentalitäten zu beziehen, sondern auf die gesellschaftlichen Konstellationen selbst, in denen die sozialen Individuen agieren.22 Pareto leistet dies über eine Verbindung von Diskurstheorie und Theorie der sozialen Komplexität, die er wiederum, wie schon die Theorie der Residuen und Derivationen, "philologisch" absichert. Wenn Aqueci angesichts des Hand-in-Hand-Gehens von linguistischer und sozialwissenschaftlicher Reflexion im TSG schreibt, daß "il funzionamento della
Wie aber Aqueci kürzlich gezeigt hat, konnte Pareto den Ansatz, den Gebrauch der skeptischen Vernuft durch Sokrates in ihrem Einfluß auf die nicht-logischen ethischen Grundlagen der Gesellschaft und damit auf ihr Gleichgewicht zu betrachten, bereits bei Comparetti finden. Dies belegt Comparettis Vorwort zu Augusto Franchettis italienischer Übersetzung der Wolken des Aristophanes (vgl. Aqueci 1996, 54f ). Wie noch zu problematisieren sein wird (III. Teil), stellt Pareto das Gewicht der Derivationen bei der Bestimmung des sozialen Gleichgewichts als verhältnismäßig unbedeutend dar: "Le derivazioni operano poco o niente sui residui, poco sugli interessi, un poco sull'eterogeneità sociale [...] (TSG, § 2211).
48
lingua potrebbe essere, per Pareto, una rappresentazione miniaturizzata del funzionamento della società" (Aqueci 1991: 89), so bestätigt sich die Gültigkeit dieses Vergleichs ein weiteres Mal: Auch Paretos Auffassung von der Gesamtgesellschaft erwächst aus einem Prozeß des Nachdenkens über die Sprache. Die theoretische Tragweite dieses Schrittes wird daran deutlich, daß Pareto die Vorstellung vom instinktiven Charakter der Sprache und der Unbewußtheit der in ihr ablaufenden Prozesse als Modell für den sozialen Komplexitätsdruck benutzt, dem Individuen in ihren nicht-logischen, auch sprachlichen, Handlungen unterworfen sind (3.1.). In diesem Zusammenhang wird sich eine Kritik der Organismus-Auffassung Paretos als zentral erweisen (3.2.). Aqueci verweist allgemein auf dessen Gebrauch der Organismus-Metapher als Ausdruck einer Schuldigkeit "verso la linguistica ottocentesca che creò e diffuse simili metafore" (Aqueci 1990: 2116), ohne deren spezifische Konnotationen bei Pareto zu berücksichtigen. Wie zu sehen sein wird, besteht im TSG ein Zusammenhang zwischen der Anwendung der Organismus-Metapher zum einen auf die Sprache und zum anderen auf das soziale System. Das Bild der Sprache als Organismus übernimmt die Funktion, bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Systems hervorzuheben, die auch Konsequenzen für die Paretianische Diskursauffassung haben: Sie fuhren zu einer Relativierung des durch Aqueci stark betonten darwinistischen Aspekts der Anpassung mittels sozialen Diskurses zugunsten einer Konzeption des Diskurses als Manifestation des complesso
sociale.
In einem folgenden Schritt (3.3.) soll der Gebrauch der OrganismusMetapher bei Pareto vor dem Hintergrund einer linguistischen Debatte im 19. Jahrhundert und im Kontext der klassisch-liberalen ökonomischen Tradition interpretiert werden. Dieser Historisierungsversuch bietet sich nicht zuletzt angesichts der intellektuellen Biographie Paretos an. Er gestattet die Situierung Paretos auf einer linguistischen Traditionslinie, die in den letzten Jahren Rudi Keller unter dem Aspekt des Gedankens von Sprache als einem "Phänomen der dritten Art" zwischen Artefakten und natürlichen Phänomenen neu belebt hat.
49
3.
Sprache und complesso sociale
3.1.
Handlung, Instinkt und complesso sociale
Aqueci hat in seiner Darstellung der Paretianischen Handlungstheorie am Beispiel des Instinktbegriffs darauf hingewiesen, daß Pareto wie im Falle der Philologie so auch vom Feld der Biologie nicht nur Beispiele und Analogien, sondern auch theoretische Prinzipien übernimmt (vgl. Aqueci 1991: 18). Indem Pareto seine Instinktauffassung mit der sprachwissenschaftlichen Auffassung vom unbewußten Charakter der sprachlichen Phänomene in einen Zusammenhang bringt (vgl. TSG, § 158 und Anm ), stellt die im Verlaufe der Sprachgeschichte entstandene Grammatik nach Pareto eine spontane und natürliche Ordnung dar, die nicht den Konstrukten der Logiker entspricht, sondern Ausdruck einer eigenen und komplexen Logik ist, die sich unabhängig vom bewußten Zutun der Sprachträger entwickelt hat. Darüber hinaus ist es jedoch möglich, in Paretos Ausfuhrungen zu Instinkt, Handlung und Sprache eine zwar noch ungenaue, aber in der Grundrichtung doch schon klar erkennbare Hinfuhrung auf die Problematik der mutua dipendenza,
der wechselseitigen Abhängigkeit der sozialen Phänomene zu
sehen, die vor allem im 12. Kapitel des TSG in der Theorie des complesso sociale eine spezifische Ausformulierung finden wird. Dieser Umstand, erst einmal erkannt, fuhrt konsequenterweise zu der Frage, ob und in welchem Maße Pareto linguistische Reflexionen auch in die Theorisierung von Aspekten des complesso sociale einfließen läßt. Eine wichtige Quelle für Paretos Konzept des Instinkts23 sind die Souvenirs entomologiques von Jean-Henri Fabre (1823-1915), die in den §§ 155-157 ausfuhrlich zitiert werden. Er bezieht dabei die Handlungen der Insekten auf sein im § 150 erstelltes Handlungsschema und ordnet sie der 3. Klasse der nichtlogischen Handlungen zu, jenen Handlungen also, bei denen sich ein objektiv logisches mit einem subjektiv nicht-logischen Ziel verbindet. Dies sei nach Pareto "il tipo puro delle azioni non-logiche", so daß deren Studium am Beispiel Aqueci verweist auch auf Paretos Kenntnis der biologischen Evolutionstheorie, von denen nicht nur Passagen im TSG, sondern auch Bezugnahmen in anderen Werken zeugen, so im Cours (§§ 622ff.) oder im Manuel (Kap. II, §§ 76ff.) (Aqueci 1991: 184).
50 der Tiere zu einem besseren Verständnis der menschlichen nicht-logischen Handlungen fuhren könne ( T S G , § 155). Bei Fahre liest er: "Les divers actes instinctifs des insectes sont donc fatalement liés l'un à l'autre. Parce que telle chose vient de se faire, telle autre doit inévitablement se faire pour compléter la première ou pour préparer les voies à son complément [ciò segue pure per molte azioni degli uomini]; et les deux actes sont dans une telle dépendance l'un de l'autre, que l'exécution du premier entraîne celle du second, lors même que, par des circonstances fortuites, le second soit devenu non seulement inopportun, mais quelquefois même contraire aux intérêts de l'animal" (J.-H. Fabre: Souvenirs entomologiques, l re série, p. 174, zit. nach TSG, § 156). In der Feststellung, daß "les divers actes instinctifs des insectes sont donc fatalement liés l'un à l'autre" wird der fur die Soziologie Paretos kardinale Tatbestand einer mutua dipendenza24
sozialer Phänomene auf der Ebene der Hand-
lungen spezifiziert. Durch die Betonung der instinktiv fein aufeinander abgestimmten und miteinander verbundenen Handlungen der Insekten bietet sich Pareto in der Darstellung des Insektenkundlers ein Bild der handlungsvermittelten Einbindung von Individuen in komplexe soziale
Verbände.
Individuen sind durch eine Vielzahl von Rückkopplungen ("les actes [...] fatalement liés l'un à l'autre") derart in die soziale Welt eingebunden, daß die einzelnen Handlungsfolgen für die handelnden Insekten unabsehbar werden. Fabre liefert Pareto mit diesen Sätzen keine Theorie des Instinkts, sondern eher eine Beschreibung von Wirkungsmodalitäten von Instinkt. Damit trägt Paretos Gebrauch des Instinktbegriffs sicher biologistische Spuren, die aber nicht überbetont werden sollten. "Instinkt" oder "Gefühl" im
soziologischen
Sinne Paretos erscheinen eher als Metaphern für den sozialen Komplexitäts-
Bernard Valade hält fest, daß Pareto sowohl den Gedanken einer mutua dipendenza als auch den eines allgemeinen Gleichgewichtes bereits seit Ende 1893 in einer Art und Weise ausgearbeitet hat, die sich nicht mehr ändern würde. Die Idee der wechselseitigen Abhängigkeit sozialer Phänomene hat Pareto von Herbert Spencer (vor allem dessen Introduction à la science sociale), besonders aber von Léon Walras übernommen. Während aber Walras bei einer rein ökonomischen Fassung blieb, hat Pareto diesen Begriff auf die allgemeingesellschaftliche Ebene übertragen. Auch Croce, mit dem er später im Zusammenhang mit dem historischen Materialismus noch über dieses Problem diskutierte, bestätigte ihn in seiner Auffassung (vgl. Valade 1990: 96f. und Busino 1983b: 78f).
51
druck, dem alle menschlichen Handlungen unterworfen sind. Unter Umständen erwächst das Konzept der instinktiven/nicht-logischen Handlung selbst einem theoretischen Versuch, soziales Handeln als Handeln unter den Bedingungen sozialer Komplexität begrifflich zu fassen. Dem einzelnen handelnden Individuum ist nach Pareto eine globale Sicht seiner Integrationen nicht möglich, wobei es nahe liegt, an diesem Punkt eine Erklärung für die Abwesenheit subjektiv logischer Handlungsziele bei nicht-logischen Handlungen zu suchen: Die Komplexität des Sozialen verhindert eine Erkenntnis des "Ganzen", so daß die einzelnen instinktiven/nicht-logischen Handlungen lediglich als Momente des globalen Funktionierens von Gesellschaft erscheinen, welches allein die objektive Logizität von Handlungszielen garantieren kann. Ein Bezug auf das "Ganze" der Gesellschaft, der bei Pareto häufig eine Rolle spielt, wenn von der mutua dipendenza sozialer Phänomene die Rede ist, wird in den Ausfuhrungen zum complesso sociale vielfaltig hergestellt (s. 3.2.)25, so z.B. in einigen Passagen über die rhythmischen Bewegungen (andamento ritmico),
der die Gesellschaft durch ständige "Oszillationen" oder Krisen
unterworfen ist: "In realtà, le oscillazioni delle varie parti del fenomeno sociale sono in relazione di interdipendenza, al pari delle parti stesse, e sono semplicemente manifestazioni dei mutamenti di queste parti" (TSG, § 2338).
Pareto besteht auf diesen Interdependenzen auch deshalb, weil sie in den Theorien, die mit den Begriffen "Ursache" und "Wirkung" operieren, vernachlässigt würden26:
Auch in früheren Werken Paretos finden sich Äußerungen zur Gesellschaft als einem überdies heterogenen und hierarchisch organisierten "Ganzen", so im Programme et sommaire du Cours de sociologie . "En réalité, le phénomène social est un; c'est pour en faciliter l'étude que nous le divisons en phénomène économique, éthique, religieux, juridique, etc." (Pareto 1967: 3). In den Systèmes socialistes lesen wir: "La société humaine n'est pas une poussière d'atomes isolés, mais un tout organique où certaines règles doivent être nécessairement communes" (SS: I, 301). Zu Pareto als einem derjenigen Wissenschaftler, die das in der Tradition verwurzelte monokausale Denken in Frage stellten, vgl. z.B. Freund 1974: 34.
52 "Se si vuole proprio fare uso del termine ingannevole di causa, si può dire che il periodo discendente è causa del periodo ascendente che ad esso fa seguito, e viceversa; ma ciò deve intendersi solo nel senso che il periodo ascendente è indissolubilmente congiunto al periodo discendente che lo precede, e viceversa; dunque in generale: che i diversi periodi sono solo manifestazioni di un unico stato di cose [kursiv von mir, F.S.] e che l'osservazione ce li mostra succedentisi l'uno all'altro, per modo che il seguire tale succesione è un'uniformità sperimentale" (TSG, § 2338). Die erfahrungsmäßigen Gegebenheiten, w o z u auch die menschlichen Handlungen gehören, sind aus dieser Sicht Manifestationen einer anderen, unteilbaren und nicht direkt beobachtbaren Existenzform des complesso unico stato di cose").
sociale
("un
27
Pareto benutzt den Begriff des Instinkts, um eben diese empirische Unzugänglichkeit derjenigen Kräfte zu verdeutlichen, die soziale Individuen in letzter Instanz bewegen. Der Versuchung eines biologisierenden Verständnisses von Instinkt widersteht Pareto dabei durch die Theorie des complesso nämlich läßt die Theorie der Residuen
28
sociale.
Diese
als einen Versuch erscheinen, einige
elementare Vermittlungsmodi bzw. -kanäle zu individuieren, über die soziale Komplexität auf Handlungsebene zur Geltung kommt. In der Kategorie der Deri-
27
Dieser Aspekt der Paretianischen Ganzheitsauffassung wird in der Bestandsaufnahme, der Jean Piaget die soziologischen Totalitätsbegriffe unterzieht, anscheinend nicht reflektiert: "Lorsque Tarde ou Pareto expliquent la vie sociale par l'imitation ou par des compositions de 'résidus', ils se contentent ainsi d'une psychologie rudimentaire, en attribuant à l'individu une logique toute faite ou une collection d'instincts permanents, sans se douter que ces entités considérées par eux comme données dépendent ellesmêmes d'interactions plus profondes" (Piaget 1965, 29; vgl. auch Ali).
28
An dieser Stelle sei angemerkt, daß Residuen nicht nur unter dem abstrahierenden Aspekt ihres sozialen Wirkens, sondern auch infolge der Besonderheiten ihrer Konstruktion soziale Kategorien sind. Einige Hinweise darauf gibt Pareto im 11. Kapitel des TSG ("Proprietà dei residui e delle derivazioni") in der Sequenz von Paragraphen, die überschrieben ist mit "Relazioni tra i residui e le condizioni della vita" (§§ 1725ff ). Hier fuhrt er aus, wie die Struktur der Residuen in einem Individuum von der Art seiner Tätigkeit abhängt. Er geht dabei so weit, seine Residuentheorie mit der Theorie des ökonomischen Materialismus in Zusammenhang zu bringen: "in complesso si ammette che variano i sentimenti secondo il genere di occupazione. Per tale via, la teoria detta del materialismo economico potrebbe ricongiungersi alla teoria dei residui, osservando che questi dipendono dallo stato economico; e ciò è certamente vero. Ma l'errore sta nel volere disgiungere lo stato economico dagli altri fenomeni sociali, coi quali invero è interdipendente, ed inoltre nel sostituire un'unica relazione di causa ad effetto, alle molte relazioni analoghe che si intrecciano" (TSG, § 1727).
53
vationen ist dagegen der Gedanke angelegt, daß der Soziologe über sprachlich kristallisierte soziale Komplexität den aufschlußreichsten Zugang zu den in einer Gesellschaft wirkenden Kräften erlangen könne. Diese handlungstheoretischen Erwägungen hätten aber für den Linguisten keine weitere Bedeutung, wenn in den zitierten Paragraphen nicht die Sprache als Modell für die eben hervorgehobenen Eigenschaften nicht-logischer Handlungen herangezogen würde.
3.1.1. Sprache als Manifestation des complesso sociale In dem bereits zitierten § 158 (s. 2.1.1.) und im unmittelbaren Anschluß an seine Insekten-Analogie unterstreicht Pareto nicht nur die "natürliche Logizität" der Sprache, auf die sich Aqueci mit Blick auf die modernen Forschungen zur "logique naturelle" konzentriert (vgl. Aqueci 1991: 10), sondern gerade in diesem handlungstheoretischen Kontext auch den ganzheitlichen Charakter des Funktionierens von Sprache. Der Abschnitt sei hier in voller Länge wiedergegeben: "La formazione del linguaggio umano non è meno meravigliosa delle azioni istintive degli insetti. Sarebbe assurdo pretendere che la teoria grammaticale abbia preceduto la pratica del linguaggio, mentre l'ha certamente seguita, ed è senza averne contezza che gli uomini hanno creato sottili teorie grammaticali. Prendiamo come esempio la lingua greca. Se si volesse risalire più addietro, a qualche idioma indo-europeo, dal quale si facesse derivare il greco, le nostre osservazioni varrebbero a forterìori, perché le astrazioni grammaticali diverrebbero sempre meno probabili. Non si può ammettere che, un giorno, i greci si siano riuniti per decretare quale dovesse essere la coniugazione dei loro verbi; è soltanto l'uso che ne ha fatto un capolavoro. Presso gli attici, abbiamo l'aumento, che è il segno del passato dei tempi storici, e, per una sfumatura delicatissima, oltre l'aumento sillabico, l'aumento temporale, che consiste nell'allungamento della vocale iniziale. La concezione dell'aoristo e il suo ufficio nella sintassi sono un'invenzione che farebbe onore al logico più esperto. Il gran numero di forme del verbo, la precisione del loro ufficio nella sintassi, costituiscono un tutto ammirabile" [kursiv von mir, F.S.] (TSG, § 158)
Der entscheidende Ansatz, Sprache als typische Form menschlichen Verhaltens zu betrachten, steht auch in diesem Beispiel im Dienste soziologischer Theoriebildung, diesmal vermittelt über eine bestimmte Vorstellung von Syntax als
54 Modell iur die vielfach miteinander vernetzten nicht-logischen Handlungen. Die Theorie von einem totalitätsvermittelten sozialen Handeln wird hier durch eine Auffassung gestützt, die Sprache unter ihrem Systemaspekt als "un tutto ammirabile" konzipiert. Erst vor dem Hintergrund dieser Vorstellung von der Ganzheitlichkeit der Sprache werden auch Paretos folgende Betrachtungen über die Unbewußtheit sprachlicher Phänomene in ihrem Bezug auf die Handlungstheorie verständlich. In einer langen Fußnote zu diesem § 158 zitiert er einen längeren Abschnitt aus Albert Dauzat La langue française d'aujourd'hui auch Victor Henry mit seinen Antinomies dem Essai de sémantique
(1908: 238f.), in dem dieser
linguistiques
(1897: 307) zitiert.
29
und Michel Bréal mit
Während, wie Dauzat schreibt,
bei der Mehrzahl der Linguisten der unbewußte Charakter sprachlicher Phänomene unumstritten sei, "M. Bréal fait intervenir très nettement la volonté dans l'évolution sémantique". 30 Henry 1896 dagegen fordert unter der Zustimmung Paretos: "Toute explication d'un phénomène linguistique qui présuppose, à un degré quelconque, l'exercice de l'activité consciente d'un sujet parlant, doit à priori être écartée et tenue comme non avenue" (p.78). 31 Gegen diese Verabsolutierung wendet Pareto differenzierend ein, daß wissenschaftliche 29
Zu den Positionen von Bréal, Henry und dem außerdem in Paretos Anmerkung zitierten Arsène Darmesteter, vgl. Puech 1987b, Delesalle 1987 und 1988 sowie Bergounioux 1986.
30
Aqueci hebt hervor, daß die Anschauung Bréals in den von Pareto zitierten Passagen nur unvollständig wiedergegeben ist. So schreibt Dauzat in einem Abschnitt, den Pareto überspringt: "il est vrai qu'il [Bréal] se réclame parfois d'une 'volonté obscure1 qui est bien près de l'inconscient. Quand on parle, dit-on, on a un but, c'est d'être compris: donc, pour atteindre ce but, chacun, individuellement, modifie consciemment son langage pour le rapprocher de la perfection" (Dauzat 1908: 238). Aqueci räumt ein, daß Bréal bewußte Veränderungen an der Sprache zum Zweck des Sich-Verständlich-Machens nicht leugne, stellt aber klar, daß es diesem explizitermaßen nicht um eine simplifizierenden Opposition von bewußtem Willen und reinem Instinkt gehe (vgl. Bréal 1897: 6). So sei der Intellektualismus Bréals weit von einem naiven linguistischen Rationalismus entfernt, sondern nähere sich dem soziologischen Nicht-Logizismus Paretos, ohne sich freilich mit diesem zu treffen (vgl. Aqueci 1991: 9).
31
Damit ist auch Henrys Auffassung nur verzerrt wiedergegeben, denn der dem Zitat vorangehende Satz endet mit den Worten: "le langage est un fait conscient, les procédés du langage sont inconscientes". Und danach, im letzten Satz der Antinomies linguistiques heißt es: "volition identique et consciente, résultats inconsciemment différents, c'est tout le secret du langage". Vgl. dazu auch 3.3.2.
55 Terminologie trotzdem fast immer das Produkt einer bewußten Tätigkeit sei und einige Termini der Umgangssprache einen ähnlichen Ursprung hätten (vgl. auch TSG, § 883). Wichtig in unserem handlungstheoretischen Kontext ist aber, daß mit dem Prinzip der Unbewußtheit sprachlicher Phänomene "si esprime cosi in altri termini lo stesso concetto che esprimiamo colla denominazione delle azioni non-logiche" (TSG, § 1581) 32
Die Modellfunktion der Sprachwissenschaft für die Handlungstheorie wird also explizit hervorgehoben, woraus sich ein weiterer Einwand gegen Bréals "Intellektualismus" ergibt, "[...]un gran numero di fenomeni siano [sono] coscienti solo in apparenza, perché l'attività del soggetto si risolve in azioni non-logiche del 2° genere e principalmente del 4°." (a.a.O.)
Aqueci versucht, die vage formulierte und nicht weiter entwickelte Behauptung vom nur scheinbar bewußten Charakter der Phänomene mit Hilfe einer durch Pareto im folgenden zitierten Passage aus Arsène Darmesteters La vie des mots (1887: 86) zu erklären. So schreibt letzterer, daß bei der Veränderung eines Wortsinnes immer "deux éléments intellectuels coexistent: l'un principal, l'autre accessoire". Im Verlaufe der Zeit, "par un détour inconscient, l'esprit perd de vue le premier, et ne considère que le second", weshalb der Geist unter der Decke ein und desselben physiologischen Faktums - des Wortes -, von einer Idee zur anderen übergehe. Insofern sich der Bedeutungswandel hinter dem Bestehenbleiben der physiologischen Gegebenheit des Wortes vollzieht, welche dem bewußt angestrebten Handlungsziel entspreche, könne Pareto sagen, daß "i fenomeni siano coscienti solo in apparenza" (vgl. Aqueci 1991: 9f.). Was Pareto aber mit der Auflösung der menschlichen Tätigkeit in Handlungen der 2. und vor allem 4. Klasse meint, ist im Bezug auf die Parallelität von permanentem und damit bewußt wahrgenommenem Lautkörper und bewußt angestrebtem Handlungsziel höchstens angerissen. Wie gesehen (2.1.1.), handelt es sich bei der Klasse 2° um Handlungen, die zwar subjektiv, aber nicht objektiv
Bereits im Themenindex des TSG (III-l) war Sprache als "manifestazione di azioni nonlogiche" präsentiert worden, übrigens unter Verweis auf den § 158.
56
ein logisches Ziel aufweisen, während die Klasse 4° Handlungen umfaßt, die zwar sowohl subjektiv als auch objektiv ein logisches Ziel haben, wobei aber beide Ziele nicht identisch sind und das Subjekt keine - im Sinne der logischerfahrungsmäßigen Wissenschaft verifizierbare - adäquate Vorstellung vom Handlungsziel besitzt (vgl. TSG, §§ 151ÍF). Die Schwierigkeit, zu einer solchen Vorstellung zu gelangen, hängt, wie zu sehen war, im wesentlichen mit der sozialen Komplexität zusammen, die eine totalisierende Erfassung ihrer Gegebenheiten durch das sozial handelnde Individuum unmöglich macht. Diesen Grundgedanken entfaltet Pareto also nicht nur am Beispiel des ganzheitlichen Funktionierens von Sprache, sondern auch unter dem in der zeitgenössischen Linguistik heftig debattierten Aspekt der Unbewußtheit sprachlicher Phänomene. Damit zieht er gleichzeitig zwei linguistische Modelle zur Stützung der soziologischen Handlungstheorie heran. Stellt sich Bréal mit seinem "Intellektualismus" gegen eine gängige biologistische Auffassung vom blinden Automatismus des sprachlichen Funktionierens, differenziert Henry dahingehend, daß "le langage est un fait conscient, les procédés du langage sont inconscients" (Henry 1896: 78). Bei Pareto, der die Kluft zwischen den Auffassungen Bréals und der "Mehrheit der Linguisten" soziologisch auslotet, bezeichnet "Unbewußtheit" - auch sprachliche Unbewußtheit - zuerst einen Aspekt der sozialen Komplexität (hier gefaßt in Analogie zu Insektengesellschaften), welche die menschlichen Handlungen determiniert. Sprachliche Unbewußtheit stellt damit nur den Spezialfall einer allgemeinen "sozialen Unbewußtheit" dar, die eine Folge der durch die mutua dipendenza aller ihrere Elemente gekennzeichneten sozialen Komplexität ist. Konzentriert sich Pareto in seinen Aussagen zur Sprache im § 158 vor allem auf syntaktische Aspekte, so darf darüber nicht vergessen werden, daß in Paretos Theorie nicht nur der grammatische Bau ein Modell für ein Ergebnis menschlicher Handlungen darstellt, sondern daß die Sprache auch in ihrem diskursiven Vollzug selbst als Handlung angesehen wird. Paretos Gesellschaftsmodell entsprechend kann dabei nur nicht-logische Handlung gemeint sein (vgl. Aqueci 1991: 125). Über den complesso sociale müßten daher nicht nur alle nicht-logischen Handlungen, sondern auch diskursives Verhalten vermittelt sein. Wie elementar Pareto der Gedanke war, soziale Phänomene, Sprache inbegriffen, als Mani-
57
festationen sozialer Komplexität zu begreifen,33 zeigt sich auch an der Klassifizierung, die bereits im Themenindex des TSG vorgenommen wird. Dort unterteilt Pareto die in den menschlichen Gesellschaften beobachtbaren Fakten in zwei Kategorien: "M) manifestazioni, per atti o verbali [kursiv von mir, F.S.], degli istinti, dei sentimenti, delle inclinazioni, degli appettiti ecc., degli interessi, e le conseguenze logiche o pseudologiche che da tali manifestazioni sono tratte", sowie "N) tutti gli altri fatti del mondo nel quale stanno le società umane" (Themenindex, I-b).
Wenn man die hier verwendete Formulierung "Manifestationen von Instinkten, Gefühlen usw." auf den oben rekonstruierten Instinktbegriff bezieht, läßt sich nach Pareto auch die Sprache in ihren verschiedenen, den eher systematischen wie den diskursiven Erscheinungsformen als eine Manifestation der Globalgesellschaft ansehen. Dieser Gedanke wird dann auch explizit geäußert: "I ragionamenti (derivazioni), le teorie, le credenze che sono in corso in tale aggregato [gemeint ist die Gesellschaft] sono considerati come manifestazioni dello stato di esso e studiati come fatti, al pari di tutti gli altri fatti sociali" (Themenindex, I-n).
Während Sprache bei Karl Vossler in Gestalt einer historischen Einzelsprache Ausdruck der Kultur einer Sprachgemeinschaft ist, während der Soziolinguist oder linguistische Anthropologe Sprache als Ausdruck und Medium kollektiver Identität untersuchen kann, geht es Pareto mit dem Gedanken der Manifestation um den diskursiven Ausdruck globaler Gesellschaftszustände. Dieser Tatbestand vermag das philologisch-soziologische Projekt Paretos, nämlich durch eine Analyse der Derivationen Gesellschaftsanalyse zu betreiben ("una ricerca della realtà che si cela sotto le derivazioni che si sono fatte note dai documenti" [Themenindex-IV]), überhaupt erst zu rechtfertigen. Einem Text sind nur deshalb gleichsam holographisch Informationen über gesellschaftliche Zustände eingeschrieben, weil sich die Prozesse der mündlichen oder schriftlichen Textproduktion im sozialen Diskurs unter dem Druck des complesso sociale
Aquecis Rekonstruktion der Paretianischen Diskursauffassung weist auch ohne expliziten Bezug auf die Theorie des complesso sociale in diese Richtung, insofern dort im sozialen Diskurs der Ort einer kollektiven, unbewußten Strategie der Anpassung an die soziale Umwelt gesehen wird (vgl. 2.2.2. und zur Kritik 3.2.3).
58
vollziehen. Im sozialen Diskurs kommt es in in einer kollektiven und unbewußten Strategie zu Prozessen der Anpassung an die soziale Umwelt (vgl. Aqueci 1991: 167) gerade insofern, als es die soziale Komplexität selbst ist, die sich so auf diskursiver Ebene äußert. Kommunikation über einen autoregulativen Mechanismus derivationaler Diskurse wäre im System Paretos ein zumeist unbewußt gebrauchtes Mittel der Individuen, ihre Teilhabe an sozialen Totalitäten zu manifestieren, die im Studium des complesso sociale anvisiert werden. Eine Verständigung über Dinge und Sachverhalte, wie sie Pareto mit seinem Wissenschaftskonzept anstrebt, ist dem handelnden Individuum außerhalb ganzheitlich vermittelter und rational nicht beherrschbarer Prozesse der Anpassung an seine soziale Umwelt so gut wie unmöglich. Dem im wissenschaftlichen Diskurs angestrebten accordo coi fatti steht der sozial relevante accordo coi sentimenti gegenüber, der durch Derivationen konstituiert und gesichert wird (vgl. z.B. TSG, §§ 78, 491; dazu auch Bobbio 1971c, 128f.). Eine Befreiung aus dem Bannkreis des Nicht-Logischen kann der logisch-erfahrungsmäßigen Wissenschaft nur durch eine Lösung von der in solchen Kontexten üblichen Sprachverwendung gelingen. Auf der anderen Seite führt Pareto vor, wie Menschen durch Sprachhandlungen der sozialen Komplexität Rechnung tragen. Wenn man die derivational geprägte Alltagssprache benutzt, "si tiene conto, sebbene di raro e malamente [vom Standpunkt der logischerfahxungsmäßigen Wissenschaft aus], dell'interdipendenza dei fenomeni" (Themenindex, III-g). 34
Die Anpassung an die soziale Umwelt vollzieht sich damit im sozialen Diskurs dank einer mutua dipendenza zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umwelt. Das Konzept der "Manifestation des complesso sociale" im sozialen Diskurs bezeichnet damit mehr als nur einen symptomatischen Ausdruck: Sozialer Diskurs wird gleichzeitig zu einem Mittel zur Beschaffung von Information über den complesso sociale. Dieser Aspekt ist aus der spezifischen
So räumt Pareto auch der Intuition einen, wenn auch beschränkten, erkenntnistheoretischen Wert ein. Vgl. dazu z.B. TSG; §§ 108 1 , 1778 1 , 2340.
59 wissenssoziologischen Sicht von Belohradsky besonders hervorgehoben worden: "I residui contengono [...] un'informazione globale e dispersa35, riferibile alla società come un tutto che domina e regola l'accostamento alla realtà di ogni suo elemento. Si può dire che l'informazione inclusa nei residui è ciò che permette alla società di sopravvivere come una totalità" (Belohradsky 1973: 180). Die Derivationen sind dabei "le coscienzializzazioni della significatività profonda residuale, le cristallizzazioni coscienti dei contenuti inconsci dei residui, cioè delle informazioni disperse che includono" (a.a.O.: 172). Kraft der Derivationen wird diese "significatività profonda" in den Derivationen "una realtà conscia, comunicabile, individuabile e ricostituibile (a.a.O.: 128). 36 Im Unterschied zur wissenssoziologischen Betrachtungsweise sollte hier hervorgehoben werden, daß sich die Funktion der Derivationen, Manifestation des complesso
sociale zu sein, aus dem Charakter der Institution Sprache ergibt, die
unter den Aspekten ihrer unbewußten Konstitution und ihrer Ganzheitlichkeit ein Modell für das Funktionieren des complesso Handelns im complesso
sociale
sociale
und des (auch sprachlichen)
schlechthin darstellt.
Belohradsky definiert diese "informazione dispersa" als "essenzialmente irriducibile alla mente individuale, alla manipolazione razionale degli strumenti e dei segni da parte dell'attore singolo o del gruppo organizzato. [...] un'informazione senza soggetto, essenzialmente sociale, dispersa nella totalità dei costumi, delle tradizioni, sei sistemi simbolici ecc. che caratterizzano una data società. In questo senso l'informazione [. . .] è complessa, vincolata cioè alla totalità sociale e alle sue strutture inconscie" (a.a.O.: 177). Vgl. dazu auch Fiorot 1975 : 826. Dort wird überdies daruf hingewiesen, daß der Ausdruck "informazione dispersa" bei Belohradsky neben der kommunikativen Funktion der residualen Manifestationen auch die Unbestimmtheit der Referenz bezeichnet, die sich aus dem (sozialen) Unbewußten ergibt. Er impliziert aber noch nicht die Behauptung einer kognitiv konsistenten Beziehung zwischen Residuen und Derivationen.
60
3.2.
Paretos Organismus-Konzept
Im vorigen Abschnitt sollten unter anderem zwei Dinge aufgezeigt werden: 1. geht es Pareto mit seiner Behandlung der Unbewußtheit sozialer Phänomene um einen Aspekt sozialer Komplexität, der einen Ausdruck auch auf der Ebene der Sprache (als langue und als parole) findet; und 2. sieht Pareto in der Sprache (als langue und als parole) auf exemplarische Weise, daß sich soziale Phänomene auf eine ganzheitliche Art, unter dem Druck sozialer Komplexität organisieren. Beide Punkte offenbaren ein Verständnis, nach dem Sprache eine soziale Kategorie ist. Dem steht jedoch bei Pareto an einigen Stellen die in der Linguistik des 19. Jahrhundert häufig anzutreffende biologistisch gefärbte Organismus-Metapher gegenüber. Beide Sichtweisen kontrastieren in dem bereits (2.1.1.) zitierten § 469: "la lingua è un organismo vivente [kursiv von mir, F.S.], anche ora nelle contrade nostre, in cui si cerca di irrigidirla in forme precise, che essa rompe ogni tanto, come le radici delle piante spezzano il macigno nelle fessure del quale nascono. In tempi remoti nasceva liberamente come le piante di una foresta vergine. Non vi è nessun motivo che ci conceda di credere che diversamente accade e sia accaduto per i prodotti simili dell'attività umana [kursiv von mir, F S ] che hanno nome diritto, morale, religione, all'incontro, fatti numerosissimi ci costringono a tenere per fermo che in modo analogo a quello della lingua si siano sviluppati" (TSG, § 469).
Diese Koexistenz zweier gegensätzlicher Betrachtungsweisen ist erklärungsbedürftig. Wieso kann Pareto in einem Atemzug von Sprache als lebendem Organismus und gleichzeitig als einem Produkt menschlicher Tätigkeit sprechen? Gewiß, Pareto hütet sich vor Essentialisierungen, so daß gut davon ausgegangen werden kann, daß es sich in diesem Abschnitt um den Gebrauch von Modellen handelt, die entsprechende Aspekte von Sprache beleuchten sollen. Doch damit ist noch nicht geklärt, welche Aspekte Pareto jeweils meint. In jedem Falle situiert er sich mit dieser und anderen Aussagen auch in einer linguistischen Diskussion, welche die Geister im 19. Jahrhundert immer wieder voneinander schied und in der man sich darüber auseinandersetzte, ob die Sprache ein Naturphänomen oder ein Ergebnis menschlicher Handlungen sei (s. dazu 3.3.).
61
Bei Pareto könnte man es sich nun leicht machen und ihm mit Croce vorwerfen, er setze die Gegebenheiten menschlicher Tätigkeit mit denen der Natur gleich. In Wirklichkeit aber sind die Dinge komplizierter.37 Pareto sah in den Naturwissenschaften eine Methode angewandt, die er die der "sukzessiven Approximationen" nannte und die eine schrittweise Annäherung an die Vielgestaltigkeit des konkreten Objektes erlauben sollte.38 Der TSG zeugt von Paretos Bemühen, diese Methode auch in der Soziologie anzuwenden, wobei er immer wieder zu den verschiedensten Analogien griff, um bestimmte Aspekte des jeweils studierten Objekts besser zu fassen. Dabei haben wir bereits in Aquecis Analysen gesehen, daß Pareto durchaus bewußt mit diesen Analogien und Metaphern umging. Die Möglichkeit, das Funktionieren der Gesellschaft in Analogie zur Sprache zu begreifen, resultiert für Pareto aus dem wesentlich sozialen Charakter der Sprache, der sie zu einer gesellschaftlichen Institution par excellence werden läßt. So soll jetzt in einer Betrachtung der OrganismusMetapher nachgefragt werden, inwiefern diese - vorerst - zur Beschreibung der Gesellschaft im allgemeinen (3.2.1.) angewendet wird. Die Untersuchung ergibt, daß die im Cours d'economie politique von 1896 vertretenen Positionen zum Gebrauch der beiden Metaphern des Organismus und des mechanischen Systems später einige Modifikationen erfahren. Dies ist von der bisherigen soziologischen Forschung immer wieder konstatiert und verschieden interpretiert worden. Dabei ist aber übersehen worden, daß die Verwendung der Organismus-Metapher im TSG an eine bestimmte Vorstellung von Sprache als Organismus gebunden ist, die Pareto in den neunziger Jahren noch nicht entwickelt hatte. Vor dem Hintergrund dieser Sachlage soll im folgenden einer
37
Croce warf Pareto vor, in positivistischer Manier zu unterstellen, daß die Fakten menschlicher Tätigkeit derselben Natur wie physikalische Fakten seien (vgl. Croce 1961a, 244). Zur Diskussion vgl. Busino 1983b und Fiorot 1975: 43. Zum nicht szientistischen Positivismus Paretos in diesem Zusammenhang sehr erhellend Freund 1974: 61fT.
38
Zur Diskussion über die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in den Sozialwissenschaften um die Jahrhundertwende und darüber hinaus vgl. u.a. Valade 1990: 6 3 f f ; und insbesondere zum Sozialdarwinismus und Paretos Stellung zu diesem, a.a.O.: 164ff.
62
weiteren Verklammerung von soziologischer Theorie und Sprach- und Diskursauffassung bei Pareto nachgegangen werden (3.2.2. und 3.2.3.).
3.2.1. Mechanizismus und Organizismus in Paretos Gesellschaftstheorie: Vom Cours d'économie politique zum Trattato di sociologia generale In seiner Leçon d'ouverture d'économie politique hatte Pareto 1892 in Lausanne geäußert: "Nous venons de définir un phénomène idéal qui reproduit les grandes lignes du phénomène concret. Nous avons imité le physicien qui, en considérant un point matériel sollicité dans le vide par une force constante, définit un phénomène idéal qui se rapproche assez, dans certaines circonstances, du phénomène concret de la chute des corps" (Pareto 1966b: 84).
Bereits zu diesem Zeitpunkt beginnt sich also ein mechanistischer Zugang bei der Betrachtung sozialer Phänomene anzudeuten, die dann im Cours von 1896 weiter ausformuliert, aber auch einschränkend nur auf das Studium des ökonomischen und sozialen Gleichgewichts angewandt wird. So heißt es im 2. Band des Cours, daß eine Konzeption von Gesellschaft als "système de points matériels soumis à certaines forces [...] est la seule qui, à notre avis, puisse faire comprendre les actions et les réactions très compliquées des phénomènes sociaux, et qui puisse ainsi nous donner une idée nette de l'équilibre économique et social" (Cours, II § 619).
Demgegenüber lasse sich die Gesellschaft auch mit einem lebenden Organismus vergleichen, wobei sich beide Modelle nicht notwendigerweise ausschlössen. Während sich das mechanische Modell bei der Betrachtung virtueller Bewegungen anbiete, also solchen, die nur hypothetisch angenommen werden, um das Verhalten des ganzen Systems bei der Veränderung nur eines Punktes zu untersuchen, sei der Vergleich mit einem Organismus dann angebracht, "lorsqu'il s'agit de se former une idée de l'évolution des sociétés". Andere Modelle, so Pareto, "ne nous fournissent que peu ou point de lumière sur la croissance et l'évolution des organismes sociaux". Nach Pareto gibt es nur wenige Beispiele
63
fxir Differenzierungen, die solchen vergleichbar sind, die "nous donnent les organismes vivants et les organismes sociaux" (a.a.O., § 620). In einer Anmerkung zu diesem Paragraphen heißt es: "La mutuelle dépendance des phénomènes sociaux est analogue à la mutuelle dépendance des phénomènes de la vie Ce qu'on appelle la 'corrélation' n'est, au fond, qu'une manifestation de cette mutuelle dépendance, qui peut être plus ou moins cachée".
Der Gedanke der wechselseitigen Abhängigkeit läßt sich also nicht nur mit dem mechanischen Modell stützen, wie Valade nahelegt (Valade 1990: 63), sondern gleichermaßen mit dem Organismus-Konzept. Der Umstand, daß "l'agencement des organismes vivants est bien plus rigide, bien plus défini que celui d'un système de points matériels" {Cours, a.a.O.), setzt die wechselseitige Abhängigkeit aller Teile nicht außer Kraft, sondern hebt gegenüber den im mechanischen Modell betonten Aktionen und Reaktionen hervor, daß letztere durch die Organismen selbst bestimmt werden. In den Systèmes
socialistes
wird diese besondere Form der
mutua
dipendenza, die im Cours durch den allgemeinen Bezug auf die "phénomènes de la vie" und die "mehr oder weniger verborgenen" Interdependenzen erst intuitiv anklang, weiter präzisiert, wenn es heißt: "[...] le système économique et gouvernemental d'un peuple est, à proprement parler, la résultante des caractères de ce peuple. Mais cette manière de s'exprimer n'est pas parfaitement exacte, car ce système intervient à son tour pour modifier ces caractères. Il y a là une suite d'actions et de réactions, c'est-à-dire que nous avons un système d'équilibre entre différentes forces plutôt qu'un phénomène qui puisse se réduire à une cause et aux effets de cette cause" (SS, I: 81).
Eisermann erklärt die Anleihen Paretos bei der Biologie mit einem Einfluß Otto Ammons, dem er zur Zeit der Abfassung des Cours noch unterlegen habe. Inzwischen aber habe er sich "zu der entgegengesetzten Überzeugung bekehrt und Bewegung in sein soziales System mit Hilfe der Analogie eines mechanischen Systems hineingebracht" (vgl. Eisermann 1987: 122f.).39 Auch wenn so im TSG die Analogien, die der Mechanik entlehnt sind, ein gewisses Übergewicht haben (vgl. z.B. §§ 121ff.,496f„ 16831,16901, 1864ff., 2076, 2087), zeigt das Beispiel
"
Zum mechanistischen Ausgangspunkt im TSG vgl. auch Bobbio 1971e: 54.
64 der Sprache, daß Pareto die Organismus-Metapher auch im TSG nicht völlig beiseitegelegt hat; ja es scheint sogar, daß er diesen Gedanken in einer signifikanten Weise weiterentwickelt. 40 War im Cours
das Modell eines Systems
materieller Punkte, die verschiedenen Kräften unterliegen, das einzig mögliche, um eine klare Vorstellung vom ökonomischen und sozialen Gleichgewicht zu geben, verwendet Pareto im TSG, § 2068 1 (vgl. auch TSG, § 2072) auch das Bild des Organismus: "L'equilibrio di un sistema sociale e simile a quello di un organismo vivente, ed in questo si e osservato sino da tempi remoti il ristabilirsi dell'equilibrio occasionalmente e lievemente turbato".41 Dieser vom Cours abweichende Gebrauch der Organismus-Metapher darf nicht übergangen werden, sondern ist auf seine Funktion innerhalb der soziologischen Theorie hin zu befragen. Ein Zugang läßt sich dabei über den § 2061 finden, w o unter den die Elementen, die die allgemeine Gestalt einer Gesellschaft bestimmen, auch jene Kräfte aufgeführt werden,
40
Fiorot nimmt einen Übergang von der "physizistischen" zur organizistischen Konzeption wahr, der sich auf dem Niveau der Analyse historischer Zyklen abspielt, deren Dynamik durch die Eliten bestimmt wird (vgl. Fiorot 1975: 61 f.).
41
Im § 2066 definiert Pareto das soziale System, aus wieviel Elementen es auch zusamengesetzt sei, als ständig sich ändernd: "muta forma e carattere col tempo e, quando nominiamo il sistema sociale, intendiamo questo sistema considerato tanto in un momento determinato quanto nelle trasformazioni successive che subisce in uno spazio di tempo determinato". Das Gleichgewicht wird letztlich über seinen Bruch und dessen "organische Reparatur" definiert: "Supponiamo che artificialmente si operi qualche modificazione nella sua forma (movimenti virtuali, § 130), tosto seguirà una reazione nel senso di ricondurre la forma mutevole nel suo stato primitivo, tenuto conto della mutazione reale" (vgl. TSG, § 2067). Für Busino legt sich von Piaget her eine Lesart nahe, derzufolge "équilibration ne signifie pas marche obligatoire vers l'homogène, mai plutôt coordination entre des tendances différenciées, coordination qui produira un système de transformation Nous savons que les systèmes de transformation peuvent être parfaitement mobiles, parfaitement différenciés, et en même temps permanents, c'est-à-dire actifs dans le temps" (Busino 1983d, 141). Die Frage, inwieweit Pareto nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch Äquilibrationsprozesse in den Blick nimmt, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu beantworten.
65 "che si oppongono alla dissoluzione, alla rovina delle società che durano; quindi, quando una di queste è costituita sotto una certa forma determinata dagli altri elementi, opera a sua volta su questi elementi, i quali, in tal senso, debbonsi pure considerare in uno stato di interdipendenza con essa. Alcunché di simile si osserva per gli organismi degli animali: Ad esempio, la forma degli organi determina il genere di vita, ma questo, a sua volta, opera sugli organi" [kursiv von mir, F.S.] (TSG, § 2061).
Die Kräfte, die sich einer Auflösung der Gesellschaft entgegenstellen, werden an dieser Stelle nicht spezifiziert. Die Analyse der Residuen, vor allem jener der Klassen 3-6 hat aber gezeigt, wie Residuen die Funktion eines "sozialen Kitts" ausüben und die privilegierten Mechanismen darstellen, durch die sich im Konkreten Verhältnisse reproduzieren, die das Bestehen der relazione affettiva unilaterale
sichern. Die Untersuchung der Residuen in den folgenden
Abschnitten, vor allem zum Platz, den sie gemeinsam mit den Derivationen im ordinamento sociale einnehmen (vgl. TSG, §§ 2079ff.), unterstreicht diese Funktion. Daß dieser ordinamento sociale bei der Determination der einzelnen Handlungen über Interdependezen auch selbst eine aktive Rolle spielt, ist in der Literatur nur wenig beachtet worden.42 Dies mag damit zusammenhängen, daß er empirisch nur sehr schwer zu erfassen ist. Empirisch lassen sich immer nur Interdependenzen zwischen jeweils konkreten Gegebenheiten beobachten. Theoretisch aber liefert Pareto einen Ansatz zur Beschreibung ganzheitlich vermittelter sozialer Beziehungen. So verweist er vom § 2061 auf die §§ 2088ff., in denen er eine Differenzierung von Interdependenzen einfuhrt, die sich in unserem Zusammenhang als aufschlußreich erweist. Die entsprechenden Abschnitte reihen sich in die Gedankenfuhrung zur "Composizione dei residui e delle derivazioni" ein. Diese Kategorien werden im 12. Kapitel des TSG weniger auf ihre Eigenschaften, als auf ihre Funktion im complesso sociale hin untersucht. Pareto unterscheidet nun eine "dipendenza diretta fra i vari gruppi di residui", die er primo genere di dipendenza nennt, und "la dipendenza indiretta che ha
Am weitesten in dieser Richtung bewegt sich Dino Fiorot, der die Anregungen Belohradskys hinsichtlich einer Lesart der Derivationen als Existenzform globaler (residual vermittelter) Information, aufnimmt. Der Umstand, daß es diese Art von Information ist, die eine Existenz der Gesellschaft als Ganzer erlaubt, findet ihm zufolge gerade in der Theorie der mutua dipendenza und des sozialen Gleichgewichts eine Bestätigung: "L'interdipendenza si manifesta o rispetto ai rapporti tra detti elementi e la totalità della società, e cioè riguardo agli effetti di questa sugli elementi che ne determinano la forma" (Fiorot 1975: 124).
66
origine dalla condizione che l'equilibrio sia mantenuto, o da altre analoghe", die er als secondo genere di dipendenza bezeichnet (TSG, § 2088). Diese zweite Art von Interdependenzen ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis Paretos von sozialer Komplexität, da in ihr eine handlungsdeterminierende Kraft von sozialen Totalitäten theorisiert werden kann. Im § 2089 wird der Unterschied zwischen den beiden Arten präzisiert und erläutert: Im Falle einer gegebenen Gesellschaft ist ein Fakt die Existenz der Gesellschaft selbst, und ein anderer die Dinge, die in ihr geschehen. Wenn wir die letzteren für sich nehmen, können wir sagen, sie seien untereinander interdependent im ersten Sinne. Darüber hinaus sind sie aber im zweiten Sinne mit der Existenz der Gesellschaft selbst interdependent: "Inoltre potremo dire che il fatto dell'esistenza della società risulta dai fatti che si osservano nella società, cioè che questi determinano l'equilibrio sociale, e ancora che, se il fatto dell'esistenza della società è dato, non sono più interamente arbitrari i fatti che in essa seguono, ma che occorre che soddisfino a certe condizioni, cioè che, l'equilibrio essendo dato, non sono interamente arbitrari i fatti che lo determinano"
Die Interdependenzen der ersten Art sind nicht von denen der zweiten Art zu trennen; und vor allem: Der Gleichgewichtszustand der Gesamtgesellschaft wirkt indirekt auf die einzelnen sozialen Akteure zurück, auch wenn dies nicht direkt beobachtbar, weil oft erst im Zusammenhang mit längeren historischen Zyklen erkennbar ist (vgl. TSG, § 2290).45
Nach den langen theoretischen Ausfuhrungen bringt Pareto hier ein konkretes Beispiel: Die Neigung der Römer zum Formalismus im praktischen Leben äußere sich in einem ebensolchen Formalismus in der Religion, im Recht, in der Politik und umgekehrt. Dies stelle eine Interdependenz der ersten Art dar, während eine der zweiten Art darin zu sehen sei, daß sich bei den Römern dank dieses Formalismus ein Hang zur Unabhängigkeit erhalten konnte, welcher so die Gefahr von Anarchie abschwächte. Als gegen Ende der Republik, vor allem durch den Zustrom von Einwanderern, die Neigung zum politischen Formalismus geringer wurde, nahm auch der Hang zur Unabhängigkeit ab, wodurch dem kaiserlichen Despotismus als kleinerem Übel gegenüber einer Auflösung der Gesellschaft Vorschub geleistet wurde. In Paretianischen Termini haben wir hier keine direkte Abhängigkeit zwischen Residuen der 2. Klasse (Neigung zum politischen Formalismus) und solchen der 5. Klasse (Neigung zur Unabhängigkeit), sondern eine indirekte Abhängigkeit (2. Art), die daraus erwächst, daß sich die römische Gesellschaft in jener Zeit und unter jenen Bedingungen nicht in einem Gleichgewichtszustand befand, sondern in einem Zustand, in dem ein Index der Neigung zur Unabhängigkeit konstant blieb, während sich jener des politischen Formalismus
67
Um nun auf unseren Ausgangspunkt, den epistemologischen Wert der Organismus-Metapher, zurückzukommen, können wir die Akzentverschiebung vom Cours zum TSG dahingehend formulieren, daß sich die an dieses Konzept gebundene evolutionistische Perspektive des Cours im TSG in eine Sicht wandelt, die das globale Verhalten sozialer "Organismen" weniger unter dem Aspekt ihrer Entwicklung faßt, als unter dem einer komplexitäts- (gleichgewichts-) vermittelten Determination einzelner Elemente des complesso sociale. Während deren wechselseitige Verbindungen im Cours als im wesentlichen "rigide" dargestellt werden und damit eigentlich doch nichts anderes bezeichnet wird als die - bloß eben etwas festergefugten - Kräfteverhältnisse eines mechanischen Systems, läßt sich diese Rigididät, die einer "Auflösung" der Gesellschaft entgegenwirkt, im TSG als eine Folge von Interdependenzen der 2. Art interpretieren. Der soziale Organismus in seiner Ganzheit ist es, der einen Zerfall des "Körpers" verhindert. Die Organismus-Metapher wird dadurch im TSG in einer Weise umgedeutet, welche die im Cours hervorgehobenen evolutiven Aspekte in den Hintergrund treten läßt.
3.2.2. Organizismus in Paretos Sprachdenken Es fällt auf, daß Pareto an keiner Stelle zur Metapher des mechanischen Systems greift, um Phänomene der Sprache zu beschreiben. In dieser Richtung ließen sich höchstens die Passagen interpretieren, in denen die Derivationen zu den "Molekülen" gerechnet werden, die das soziale System bilden. Sicher sind die Bemerkungen zur Sprache als morphosyntaktisches Gebilde nur sehr verstreut
abschwächte (vgl. TSG, § 2089). Hier ist natürlich nicht der Ort, über die historische Fundiertheit dieser Analyse zu befinden; es sollte lediglich illustriert werden, wie Pareto mit seinem Konzept der Interdependenzen der zweiten Art Elemente des sozialen Systems und globale Gleichgewichtszustände korreliert. Die Tätigkeit von Spekulanten scheint Pareto prototypisch dafür zu sein, wie gesellschaftliche Globaldispositionen einzelne Handlungen beeinflussen, dafür, daß "i fatti sono conseguenza dell'ordinamento più che di deliberati voleri" (TSG, § 23281). Die Spekulanten, so z.B. diejenigen, die den 1. Weltkrieg mit vorbereiteten, werden in ihrem Bereicherungsstreben vor allem von Residuen der 1. Klasse angetrieben und "non hanno assemblee per deliberare su comuni disegni, [. . .] e seguiranno involontariamente la via che comporta il loro ordinamento" (TSG, § 2254).
68
und können nicht alle von vornherein theoretischen Status beanspruchen. Dort, wo Sprache aber als "miniaturisiertes Abbild der Gesellschaft" (vgl. Aqueci 1991: 89) gesehen wird, arbeitet Pareto eindeutig mit dem biologistischorganizistischen Modell. Auf diesen Zusammenhang möchte ich hinweisen, denn er stützt die These, daß das Modell von Sprache als Organismus zum Katalysator für die Weiterentwicklung seines Modells von Gesellschaft/Gleichgewicht als Organismus wird, wie sie vom Cours zum 12. Kapitel des TSG erfolgt. Bereits in Paretos Skepsis gegenüber Versuchen sprachlicher Normierung (vgl. TSG, §§ 469 und 1719) äußert sich ein Verständnis von Sprache als Gebilde, das dem gesellschaftlichen Organismus insofern vergleichbar ist, als es trotz Störungen des Gleichgewichts immer wieder einer Auflösung des Ganzen begegnet. Der Sprache gelinge es, wie wir im Zusammenhang mit den Konzepten der "forma" und des "fondo" gesehen haben (2.1.1.), ihre eigene Gestalt zu bewahren und verständlich zu bleiben (vgl. TSG, § 20681). Vor diesem Hintergrund seien z.B. die unregelmäßigen Verben als genauso normal anzusehen wie die regelmäßigen: "nella nostra fantasia appare un diritto naturale, di cui sono deviazioni i diritti positivi, come pure le coniugazioni dei verbi regolari, di cui sono deviazioni le coniugazioni dei verbi irregolari. Lo studio storico del diritto, la grammatica storica delle lingue dei nostri paesi, hanno rovinato sì bello e bene ordinato edifizio, man non tanto che ancora non serva di ricovero ai metafisici della sociologia" (TSG, § 469). 44
Vor allem aber sprechen die beiden bereits zitierten Schlüsselstellen für einen Zusammenhang zwischen Sprachorganismus-Auffassung und soziologischer Theorie: einmal der § 469, in dem die genetische Verwandtschaft sprachlicher 44
Analog dazu hält es Pareto für ein metaphysisches Unterfangen, Krisen als unnormal darzustellen und aus der Gesellschaft verbannen zu wollen. Der Gedanke der "Normalität" von Krisen ist ihm so wichtig, daß Pareto seit dem Cours immer wieder darauf zurückkommt. Er zitiert ihn noch im TSG, § 2338': "Il ne faut pas se figurer une crise comme un accident qui vient interrompre un état de choses normal. Au contraire, ce qui est normal c'est le mouvement ondulatoire" (Cours, II, § 926) (vgl. auch TSG, § 2316). Im § 2338 heißt es an der Stelle, von der aus auf die Regelmäßigkeit von Krisen hingewiesen wird, daß auf- und absteigende Linie in den sozialen Wellenbewegungen nur die wahrnehmbaren Manifestationen "di un unico stato di cose" seien. Es sieht so aus, als ob die Ganzheitlichkeit sozialer Systeme nach Pareto gerade in Krisensituationen zum Tragen käme.
69
und anderer sozialer Phänomene postuliert wird, und dann der § 158, wo Sprache ("un tutto ammirabile") als Modellfall eines Resultats nicht-logischer Handlungen und damit zur Definition des Konzepts der nicht-logischen Handlung herangezogen wird. Auch im § 883 stellt Pareto die (Sprach-) OrganismusMetapher in den Zusammenhang der Handlungstheorie, um von dort aus den Appell an die Soziologie, sich auf das Niveau der Philologie zu begeben, zu rechtfertigen: "La moderna filologia sa bene che ¡1 linguaggio è un organismo che si è sviluppato colle leggi proprie, che non è stato creato artificialmente; solo pochi termini tecnici, come ossigeno, metro, termometro ecc., sono il prodotto dell'attività logica dei dotti. Essi corrispondono alle azioni logiche nella società, mentre la formazione del maggior numero dei vocaboli usati dal volgo corrisponde alle azioni non-logiche. E tempo oramai che la sociologia progredisca e procuri di giungere al livello al quale già trovasi la filologia".
Die Organismus-Metapher, im Cours noch naiv-biologistisch verwendet, erhält im TSG erst über den Bezug auf einen entsprechenden Sprachbegriff jene spezifische Konnotation, die sie dann im 12. Kapitel durch die Einführung des Konzepts von Inderdependenzen der zweiten Art für die Theorisierung des sozialen Gleichgewichts verwendbar macht - eine Operation, die im Cours in Ermangelung des genannten "philologischen" Impulses noch unmöglich gewesen wäre. In gewisser Weise reproduziert Pareto damit eine Ambivalenz, die den Gebrauch der Organismus-Metapher in der Linguistik des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Nach Anna-Morpurgo Davies handelt es sich nämlich nicht einfach um eine stereotypisierte Metapher, die durch eine bloße Mode der Zeit auch in der Linguistik Fuß gefaßt hat. Sie wurde im Gegenteil immer mit verschiedenen konkreten Inhalten gefüllt und kannte über das ganze 19. Jahrhundert hinweg sowohl evolutionistische als auch strukturale Interpretationen, die sich teilweise auch überlappten. Dabei fielen mindestens 3 Bedeutungen ins Gewicht: 1. Die Sprache kann, wie Gesetz, Kunst oder Religion als organischer Ausdruck eines Volkes oder einer Nation aufgefaßt werden, wobei besonders ihr natürlicher und nicht-mechanischer Charakter im Vordergrund steht (Humboldt).
70
2. Der Akzent kann auf der Unmöglichkeit liegen, isolierte sprachliche Elemente ohne eine Betrachtung der ganzen Struktur zu studieren. In dieser Tradition neigt man dazu, Organismus mit Grammatik zu identifizieren (Bopp). 3. Der Akzent kann auf dem Aspekt der autonomen und durch interne Gesetze determinierten Entwicklung liegen (Schleicher) (vgl. Morpurgo Davies 1994, 96£). Pareto hat nun in seinem Werk alle diese 3 Aspekte aktualisiert, wenn auch mit verschiedenen Akzentsetzungen. Im Cours steht der 3. Aspekt im Vordergrund, ohne allerdings bereits auf die Sprache bezogen zu werden. Im TSG greift Pareto dann auch auf einen linguistischen Organizismus zurück, wobei auch Komponenten der Aspekte 1 und 2 zur Geltung kommen (Sprache als Manifestation des complesso
sociale,
Ganzheitlichkeit,
Resistenz
gegenüber
willentlichen
Versuchen der Beeinflussung). Stellte die Organismus-Metapher ein wichtiges Moment bei der Autonomisierung der Linguistik dar (vgl. z.B. a.a.O., 97), so hat sie, wie der § 833 andeutet, in Paretos Soziologie eine ähnliche Funktion übernommen. Die HandlungsaufFassung des § 158 und der Gleichgewichtsbegriff des 12. Kapitels sind so über einen Organismus-Begriff miteinander verbunden, den Pareto in Analogie zu einem linguistischen Organismus-Begriff entwickelt. Vor dem Hintergrund des homologischen Denkens Paretos hängt diese Interpretation der Organismus-Metapher und ihres unterschiedlichen Gebrauchs in Cours und TSG nicht allein von jenem tutto ammirabile ab. Paretos Bemerkung, das Ineinanderspielen der morphologischen Formen in der Syntax bilde ein bewunderungswürdiges Ganzes, stellt gewiß keine präzise sprachtheoretische Formulierung dar. Hier ging es deshalb nur darum zu zeigen, daß sie jedoch auch nicht losgelöst von seiner Sprachorganismus-Auffassung zu sehen ist, sondern erst von daher ihre theoretische Funktion erhält (vgl. dazu auch die schematische Darstellung am Ende dieses Kapitels). Gegenüber diesem Impuls, den die Soziologie Paretos aus linguistischen Reflexionen gewonnen hat, ist sogar der Umstand, daß Pareto seine beiden Kategorien der Residuen und Derivationen nach dem Beispiel der Wurzeln und Ableitungen in der Philologie einführt, sekundär. Die Begriffe der Wurzeln und Ableitungen waren es auch nicht, die die großen Errungenschaften der Linguistik
71
des 19. Jahrhunderts darstellten, eher schon die Abkehr von einer Suche nach den Ursprüngen der Sprache, und noch eher der Lautgesetz-Gedanke, der von Pareto auch explizit aufgenommen wurde (TSG, § 659, vgl. 2.1.1.). Aqueci stellt fest, daß diese Umstände zwar den Nachdruck erklären mögen, mit dem Pareto die Philologie unter dem Aspekt der Wissenschaftlichkeit gleichstellt, was aber ohne Berücksichtigung einer genetischen Nachbarschaft von Sprache und den anderen Produkten der menschlichen Tätigkeit rein äußerlich bliebe (Aqueci 1991: 28). Wir haben nun in Gestalt der Organismus-Auffassung eine weitere philologische Motivation der Paretianischen Soziologie zu rekonstruieren versucht, um die Funktion des Sprachdenkens für die soziologische Theoriebildung im TSG auch hinsichtlich der Theorie des complesso sociale und des sozialen Gleichgewichts in den Blick zu bekommen.
3.2.2.1.
Arsène Darmesteter: Ein Sprachdarwinist bei Pareto
Es ist nun weiterhin die Frage zu stellen, aus welchen linguistischen
Quellen
Pareto seine Vorstellung von Sprache als Organismus speist. Angesichts von Paretos Sparsamkeit im Zitieren von Autoren, die ihm nicht nur Beispiele für Derivationen liefern, sondern auch Eingang in seinen wissenschaftlichen Olymp erlangen, wäre zu seiner Verwendung dieser Metapher, die sich mit großer Beharrlichkeit durch die Sprachwissenschaftsgeschichte des vorigen Jahrhunderts zieht 45 , schwer etwas zu sagen, wenn er nicht mit Arsène Darmesteter einen hundertprozentigen Vertreter biologistisch-darwinistischer Linguistik46 als Gewährsmann anfuhren würde. Allerdings zitiert Pareto ihn nur zweimal im Zusammenhang mit Bemerkungen zur etymologischen Methode (TSG, §§ 1581 und 687'), wobei das "Leben der Wörter" nur an einer Stelle eher beiläufig erwähnt wird: 45
Vgl. dazu Iordan 1962: 28ff., Baggioni 1986: 89, Lepschy 1994: 95ff.
46
Um nur ein Beispiel zu geben, das von dessen "fanatisme darwinien" (vgl. Puech 1987b: 168) zeugt: "Le langage est une matière sonore que la pensée humaine transforme, insensiblement et sans fin, sous l'action inconsciente de la concurrence vitale et de la sélection naturelle" (Darmesteter 1887: 27).
72 "Ainsi malgré les liens de famille que le développement de la langue peut établir entre les mots, le plus souvent ils vivent chacun de leur vie propre, et suivent isolément leur destinée, parce que les hommes en parlant ne font point d'étymologie" (Darmesteter 1887: 133; zit. im § 158')
Bei Darmesteter findet sich aber auch die Idee, daß "le langage s'affermit avec la civilisation" (Darmesteter 1887: 15). Dieser Gedanke ist es auch, den Gaston Paris in seiner Besprechung des Darmesteterschen Buches aufnimmt und besonders betont, um gegenüber der in Darmesteters Buch dominierenden biologistischen Sprachkonzeption die innige Verbindung zwischen der Sprache und der geschichtlichen Entwicklung des Volkes, das sie spricht, hervorzuheben: "[...] l'histoire interne des mots ne peut être tout à fait isolée de leur histoire externe. Mais il [Darmesteter] a réduit au minimum strictement nécessaire l'usage qu'il a dû faire de la partie matérielle du langage..." (Paris 1909, 282).
Für Iordan kündigt sich hier bei Paris eine soziologische Sprachauffassung an, die später ein herausragendes Merkmal der französischen Sprachwissenschaft bilden sollte (vgl. Iordan 1962: 27f.). Bei Darmesteter stellt der zivilisatorische Fortschritt eine "natürliche Bewegung" dar, wie aus folgenden Zeilen ersichtlich ist: "Le progrès de la civilisation auquel on doit les littératures et les formes artistiques du langage qui les sauvent de l'oubli, est un mouvement aussi naturel et qui a des causes aussi inconscientes que les autres manifestations de l'activité humaine: art, religion, idées morales, institutions sociales, politiques etc." (Darmesteter 1887: 15).
Die frappierende Ähnlichkeit dieser Aussagen mit denen des TSG, § 46947 läßt vermuten, daß Pareto bei der Lektüre des Buches mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch auf diese Zeilen gestoßen ist. Auch die Tatsache, daß hier die Unbewußtheit sozialer Phänomene angesprochen wird, also jenes Thema, das Pareto im § 158 beschäftigt, in dem Darmesteter zitiert wird, stützt diese Vermutung. Sollte Pareto also beim Abfassen des § 469 diese konkrete "In tempi remoti [la lingua] nasceva liberamente come le piante di una foresta vergine. N o n vi è nessun motivo che ci conceda di credere che diversamente accade e sia accaduto per i prodotti simili dell'attività umana che hanno nome diritto, morale, religione; all'incontro, fatti numerosissimi ci costringono a tenere per fermo che in modo analogo a quello della lingua si siano sviluppati."
73
Äußerung vor Augen gehabt haben, so spräche dies nicht nur für eine gedankliche Klammer zum § 158, sondern vor allem für Darmesteter als Bezugspunkt in seiner Formulierung von der Sprache als "organismo vívente" im § 469. Das darwinistische Gedankengut eines Schleicher, das sich bei Darmesteter findet, hat Pareto, bei aller wenn auch nicht ungebrochenen Affinität zum Sozialdarwinismus nicht explizit reflektiert. Wenigstens aber wird er es über diesen zur Kenntnis genommen haben.48 Daß er die "fanatisch darwinistischen" Ansätze Darmesteters ausblendet und dafür den Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und Entwicklung der sozialen Institutionen betont, nähert seine Perspektive der soziologisch orientierten Gaston Paris' an, ohne freilich deren fachspezifische Interessen zu teilen. Unter Umständen ist Pareto durch Darmesteter auch noch unter einem anderen Aspekt angeregt worden. Den Parallelismus zwischen den verschiedenen sozialen Institutionen weiterentwickelnd schreibt dieser: "L'histoire des religions, des institutions sociales, politiques, juridiques, des idées morales, se ramène à ce mouvement lent qui fait oublier aux habitudes inconscientes de l'esprit le fait primordial, pour ne voir que le fait secondaire qui en est dérivé, et pour le changer en un fait primordial qui à son tour disparaîtra devant un successeur insensiblement grandissant" (Darmesteter 1887: 8 6 f ) .
In dieser Passage wird neben der Unbewußtheit der sozialen Phänomene auch das Verhältnis zwischen dem ursprünglich Unbewußten und "dem daraus Hervorgegangenen" angesprochen, welches einen ursprünglichen Fakt überlagere. Der Parallelismus zur Theorie der Residuen und Derivationen liegt auf der Hand. Pareto hat diese Stelle mit Sicherheit gelesen, denn sie folgt nahtlos einer derjenigen Passagen, die in der Anmerkung49 zu dem damit um noch einen
48
Es sei angemerkt, daß Pareto im TSG auch zwei Gelehrte mit ihren anthropologischethnologischen Werken zitiert, die als Exponenten eines französischen Schleicherismus gelten. Die Rede ist von Lucien Adam und Abel Hovelacque, den Herausgebern der Revue de linguistique et de philologie comparée (vgl. Baggioni 1986: 127ff., 291, 3 8 0 f f ) . Mir ist nicht bekannt, ob Pareto diese Zeitschrift kannte; auch habe ich die von Pareto zitierten Bücher nicht in der Hand gehabt. Es wäre also zu überprüfen, ob Pareto auch über diesen Weg Kenntnis von den Ideen Schleichers hatte.
49
"Or cette marche inconsciente [...] est la loi même des transformations dans le monde moral."
74
Bezug reicheren § 158 zitiert werden. Dies könnte die Attraktivität der Philologie für Pareto mit befördert haben, denn seine Theorie der Residuen und Derivationen fand damit neben dem Wurzel-Ableitungs-Schema noch eine weitere sprachwissenschaftliche Stütze.50
3.2.3. Sozialer Diskurs im "Organismus der Gesellschaft" Aqueci kam in seiner Analyse der Paretianischen Diskursauffassung zu dem Ergebnis, daß sich Sprecher und Hörer im Diskurs mittels einer in einer kollektiven, aber unbewußten Anpassungsstrategie an ihre soziale Umwelt anpassen (vgl. Aqueci 1991: 167). Er betont hier den Aspekt eines "methodologisch vorsichtigen und theoretisch entschiedenen Darwinismus" (vgl. a.a.O.: 158; vgl. 2.2.2.). So hält es Pareto für evident und übereinstimmend mit der darwinistischen Lösung, daß ein Tier, das nur Kiemen hat, nicht an der Luft leben könne, und daß analog dazu das Zusammenleben von Menschen mit ausschließlich antisozialen Instinkten unmöglich sei. Daher seien die Residuen an die Lebensbedingungen angepaßt und kämen der Realität insofern nahe. Ein Residuum, das der Wirklichkeit nicht entspricht, könne mit einer von der Logik abweichenden Derivation abgestimmt werden, so daß auch die "ragionamenti sociali danno risultameli che non si allontanano troppo dalla realtà" (vgl. TSG, § 1771). Der Mechanismus, der diese Annäherung ermöglicht, ist der "contrasto delle derivazioni", mittels dessen die Divergenz zwischen den Derivationen und der Realität korrigiert wird (§ 1772); nach Aqueci: "il mezzo per riapprossimare una determinata tendenza istintiva ai vincoli posti dalle condizioni di vita e dall'adattamento all'ambiente" (Aqueci 1991: 160).
Diese Interpretation ist schlüssig, insofern sie das von Pareto selbst an der darwinistischen Lösung als akzeptabel Hervorgehobene akzentuiert. Auf der anderen Seite aber deklariert Pareto sein Vorgehen lediglich als eine Verlegen-
50
Aqueci plädiert dafür, in der Theorie der Residuen und Derivationen einen Einfluß Pierre Bayles anzunehmen (Aqueci 1991: 20f ).
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heitslösung, zu der er greift, weil ihm an dieser Stelle noch ein adäquaterer Begriffsapparat fehlt. Diese Erwägung stellt er seinen in der Tat darwinistisch orientierten Betrachtungen im § 1770 voran: "Il problema di cui ragionamo è parte di un quesito ancora più generale, cioè del quesito del come sono determinate le forme degli esseri viventi e delle sociatà. Tali forme non sono prodotte a caso, dipendono dalle condizioni in cui vivono esseri e società; ma quale sia precisamente questa dipendenza non sappiamo, dopoché si è dovuta rigettare la soluzione darwiniana che ce lo avrebbe insegnata [kursiv von mir, F.S.]. Ma se non possiamo risolvere interamente il problema, possiamo almeno conoscere certe proprietà delle forme e dei residui".
Die allgemeinsoziologische Perspektive wird also auch hier nicht ganz aus dem Auge verloren. Wir haben nun bereits gesehen (3.2.1.), wie Pareto im 12. Kapitel die Frage nach den Faktoren, die die "Form der Gesellschaft" bestimmen, angeht und wie er mit Hilfe der Unterscheidung von zwei Arten von Interdependenzen eine begriffliche Klarheit sucht, die ihm im § 1770 zum Verständnis des Verhältnisses von Derivationen und Wirklichkeit noch fehlte. Die Interdependenzen der 2. Art wirken über den Gleichgewichtszustand der Globalgesellschaft, welche ihrerseits in den Reaktionen auf Gleichgewichtsstörungen mit einem Organismus verglichen wird (§§ 2061, 2068 1 , 2088). Mit Hilfe dieses soziologischen Organismus-Begriffs läßt sich die "darwinistische" Interpretation der Paretianischen Diskurs- und Kommunikationsauffassung im Zusammenhang mit den hier rekonstruierten Aspekten der Theorie des complesso sociale betrachten. Er erlaubt es, die durch den "Kontrast der Derivationen" realisierte Übereinstimmung von Derivationen und Realität so zu formulieren, wie wir es im Themenindex bereits gelesen haben (vgl. 3.1.): Bei der Benutzung der Sprache im Alltag "si tiene conto, sebbene di raro e malamente, dell'interdipendenza dei fenomeni" (Themenindex, III-g).
Pareto hat die Notwendigkeit, das Verhältnis von Derivationen und Wirklichkeit mittels eines allgemeinen Konzepts der mutua dipendenza zu fassen und demzufolge die darwinistische Perspektive zu korrigieren, sehr gut erkannt. Dafür spricht nicht nur die Bemerkung im § 1770, sondern auch ein Verweis vom § 1772, aus dem Kontext der Behandlung des "contrasto delle derivazioni"
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heraus, auf genau jene Stelle im 12. Kapitel, an der die Unterscheidung der beiden Arten von Interdependenzen eingeführt wird (§§ 2087ff.). Leider präzisiert Pareto diesen Punkt nicht weiter; soviel allerdings scheint klar: Er versteht einen gesellschaftlichen Organismus als einen ordinamento,
der seine Gestalt vor
allem durch Interdependenzen der 2. Art immer wieder neu herstellt, und der die sozialen Akteure in ihrem nicht-logischen Verhalten dorthin zieht, "dove il volere consapevole non li porterebbe" (TSG, § 2254). Wenn wir in diesem Sinne voraussetzen, daß auch sozialer Diskurs im wesentlichen nicht-logische Handlung, nicht bewußt gerichtet ist und daß dessen Eigenschaften mit denselben Kategorien wie Handlungen allgemein beschreibbar sind (vgl. Aqueci 1991: 125), dann spricht alles dafür, auch diese Diskursauffassung vor dem Hintergrund der im 12. Kapitel entworfenen Theorie zu betrachten. Pareto führt an einem Beispiel vor, wie der gesellschaftliche Organismus im oben dargestellten Sinne einzelne diskursive Handlungen beeinflußt: Wenn Hesiod empfiehlt: "Non insozzare con le tue feci le fontane" (vgl. TSG, § 154), dann liegt ein Sprechakt vor, dessen Ziel mit der wörtlichen Bedeutung der betreffenden Aussage zusammenfällt. In der Darstellung Paretos entgeht jedoch das objektive Ziel, nämlich ein Krankheiten vorbeugendes hygienisches Verhalten vorzuschreiben, sowohl dem Sender als auch dem Empfänger. Mit der Unkenntnis dieses objektiven Sprachhandlungsziels ist eine Situation angesprochen, "in cui un atto linguistico anziché costituire un mezzo d'azione, sembra agire i parlanti (Aqueci 1991: 125).
Zwar arbeitet Pareto an dieser Stelle noch nicht mit dem Begriff der 2. Art von Interdependenz, im konkreten Falle aber ließe sich damit sehr gut erfassen, daß gerade eine Vorschrift wie diese auf die Erhaltung des sozialen Gleichgewichts gerichtet ist, das durch eine Epidemie empfindlich gestört würde. Aqueci setzt den Akzent anders, wenn er zusammenfaßt: "egli [Pareto] può porre, su di un piano tutto cognitivo-biologico, che l'adeguatezza allo scopo dell'azione non-logica è determinata non dalla teoria esplicita che la regge, ma da una autoregolazione spontanea ed istintiva; dall'altro, può costituire una teoria nonconoscitiva del discorso sociale, che si intreccia strettamente con quella posizione morale
77 scettica che l'analisi della IV, V eVI classe dei residui ci ha rivelato" (Aqueci 1991: 157f).
Er nähert sich hier dem Phänomen des sozialen Gleichgewichts über die Moraltheorie Paretos, in der sozialer Zusammenhalt über die "relazione affettiva unilaterale" zwischen Herrschern und Beherrschten gesichert wird. Die Residuen, die hierbei zum Wirken kommen, stellen aber nur ein Moment unter den Kräften dar, die die Form der Gesellschaft und ihr Gleichgewicht bestimmen, wenn auch ein entscheidendes (TSG, § 2060). Während Aqueci die Darstellung des Verhältnisses von Derivationen und Wirklichkeit und des Verhältnisses von Handlung und Handlungsziel unter darwinistischem Vorzeichen interpretiert, sollte hier eine Lesart vorgeschlagen werden, die sozialen Diskurs im soziologischen System Paretos als Transmissionsriemen für Interdependenzen der 2. Art charakterisiert. Dabei sollte auf epistemologischem Niveau die "philologische" Konnotation des Organismus-Begriffs im 12. Kapitel herausgearbeitet werden, den Pareto zur Veranschaulichung des ganzheitlichen Verhaltens sozialer Einheiten benutzt. Auf eigentlich soziologischem Niveau lassen sich mit Hilfe dieses Organismus-Begriffs auch Eigenschaften sozialen Diskurses beschreiben, die Aqueci vor allem der darwinistischen Bildung Paretos zuschreibt. Der gesellschaftliche Organismus wird aber im 12. Kapitel des TSG nicht mehr biologistisch verstanden wie noch im Cours, sondern als ein ganzheitlich funktionierendes Aggregat, das über Interdependenzen der zweiten Art seine einzelnen Elemente bestimmt. Von daher erhält die oben (3.1.) rekonstruierte Idee von Sprache als Manifestation des complesso sociale hier ihre theoretische Verankerung. Es sollte deutlich werden, in welcher Weise sowohl Paretos Aussagen zur Sprache als morphologisch-syntaktisch-lexikalischer Apparat als auch seine Kommunikationsauffassung auf die Theorie des complesso sociale zu beziehen sind. Der Anteil von biologisch angeregtem Sprachdenken an deren Konstitution, wie auch ihr Rückwirken auf die Paretianische Diskurstheorie sollten gleichermaßen eingeschätzt werden.
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3.3.
Naturobjekt oder Produkt menschlicher Tätigkeit - Paretos Sprachdenken im Kontext einer linguistischen Kontroverse
Nachdem der epistemologische Wert der Organismus-Metapher und deren linguistische Prägung in Paretos TSG herausgearbeitet wurden, gilt es nun, Paretos Standort auch sprachwissenschaftsgeschichtlich genauer zu bestimmen. Das ist, wie bereits angedeutet, in bezug auf die linguistische Diskussion im 19. Jahrhundert über "Sprache als Naturobjekt" oder "Sprache als Produkt menschlicher Tätigkeit" möglich. Dies zum einen, weil in Paretos Auseinandersetzung mit Darmesteter, Dauzat, Breal und Henry auch eine Konzentration auf diese Problematik erkennbar ist, und zum anderen, weil gerade diese Debatte in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit von linguistischer Seite gefunden hat. So untersucht Rudi Keller (1994) diese beiden Optionen auf ihre Tauglichkeit für die Erklärung von Sprachwandel. Seine Analysen zu diesem Spezialproblem können aber auch als Anwendungen eines bestimmten Konzepts vom Funktionieren der Sprache generell gelesen werden. Als solche möchte ich sie für die Analyse des in 3.2. am Beispiel des § 469 aufgezeigten Widerspruchs benutzen und davon ausgehend einen Platz Paretos in der Geschichte der Sprachwissenschaft vorschlagen. Dieses Vorgehen fuhrt zu dem Ergebnis, daß Pareto mit der Eigenschaft der Sprache, ein "Phänomen der dritten Art" zwischen Naturprodukten und Artefakten zu sein - wahrscheinlich vor dem Hintergrund seiner ökonomischen Kultur - gerechnet hat.
3.3.1. Naturobjekt oder Produkt menschlicher Tätigkeit - Die Auflösung der Dichotomie in der Analyse Rudi Kellers Kommunikation über das Medium der Sprache heißt nach Keller, "konventionelle Mittel benutzen, um dem anderen verstehen zu geben, wozu man ihn bringen will" (Keller 1994: 51).
An einer erfundenen Geschichte über die Entstehung der Sprache in einer Horde von Affen zeigt er, daß dies nicht notwendigerweise Kooperation voraussetzt.
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Zur Erklärung bedient er sich einer Denkfigur, die als das "Mandevillesche Paradox" bezeichnet wird51 und welches darin besteht, daß jede Untugend, vom Suff über die Eitelkeit, die Faulheit bis hin zur Hurerei einen segensreichen Beitrag zum Wohlstand und zum Wohlergehen der Gemeinschaft leistet (vgl. a.a.O.: 56). Die Entdeckung, daß das Laster des Einzelnen einen Gewinn für das Ganze bedeuten kann, war so der Keim der Erkenntnis, daß es gesellschaftliche Phänomene gibt, die durch Handlungen der Individuen hervorgerufen werden, ohne von diesen intendiert zu sein. Dieser Gedanke wurde durch die Philosophen der sogenannten Schottischen Schule52 in sozialphilosophische Studien aufgenommen, die sich mit der Entstehung und Dynamik gesellschaftlicher Institutionen beschäftigten. So heißt es bei Smith über das Streben nach eigener Sicherheit und nach Eigennutz als das Gemeinwohl erzeugende Motive: "nachdem er [jedermann] die einheimische Erwerbstätigkeit der fremden vorzieht, hat er nur seine eigene Sicherheit im Auge, und indem er diese Erwerbstätigkeit so leitet, daß ihr Produkt den größten Wert erhalte, verfolgt er lediglich seinen eigenen Gewinn und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu fördern, den er in keiner Weise beabsichtigt hatte. Auch ist es nicht eben ein Unglück für die Gesellschaft, daß dies nicht der Fall war. Verfolgt er sein eigenes Interesse, so fordert er das der Gesellschaft weit wirksamer, als wenn er dieses wirklich zu fördern beabsichtigt" (Smith 1920: 23 5f ).
Solche Erklärungen wie die von Smith über Genese, Natur und Wesen des Volkswohlstandes werden in Anlehnung an die Smithsche Metapher als "Invisible-hand-Erklärungen" bzw. "Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand" bezeichnet. Keller bezieht sich in seinen Darlegungen auf das Werk Friedrich August von Hayeks, welcher den Gedanken der "unsichtbaren Hand" in der jüngeren Zeit neu in die sozialtheoretische Diskussion einbrachte (vgl. Hayek 1994a). Dieser hob dabei Ökonomie und Linguistik als die Wissenschaften hervor, die sich aufgrund der Komplexität ihrer Gegenstände Erklärungen mittels der unsichtbaren Hand bedienen können (vgl. z.B. Hayek 1994c: 150). Den Linguisten
Zur Person Mandevilles vgl. Hayek 1994b. Dugald Stewart, Adam Ferguson, Adam Smith.
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des 19. und 20. Jahrhunderts seien aber nach Kellers Einschätzung die Überlegungen der schottischen Moralphilosophen weithehend unbekannt geblieben, was um so befremdlicher sei, als kaum einer jener Philosophen versäumt hatte, die Sprache explizit beim Namen zu nennen (vgl. Keller 1994: 62f.). Eine Erklärung für dieses Versäumnis sieht er in Dichotomien wie "Natur vs. Kunst" und "Instinkt vs. Vernunft", die eine adäquate Vorstellung von kulturellen und sprachlichen Phänomenen behindert haben. Er belegt dies anhand der Sprachauffassungen August Schleichers, Max Müllers und William D. Whitneys. Alle drei waren sich, dem Zeitgeist entsprechend, einig in der Annahme, daß sich Sprachen entwickeln. Uneinig war man sich allerdings in der Frage, warum dem so sei. Schleicher nahm dabei die Metapher von der Sprache als Organismus wörtlich. Da aber ein Blick auf die Auffassung Humboldts zeigt, daß "Organismus" nicht von sich aus schon "Atowrorganismus" bedeutet, bediente sich Schleicher eines Kriteriums zur Unterscheidung von Natürlichkeit und Künstlichkeit, das von Befürwortern wie von Gegnern seiner Auffassung gleichermaßen akzeptiert war: die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit vom menschlichen Willen. Da sich Naturorganismen entwickeln, "ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein" (Schleicher 1863: 6f.), war für ihn ausgemacht, daß Sprache ein Naturorganismus sei und die Wissenschaft von der Sprache eine Naturwissenschaft (vgl. Keller 1994: 73ff ). Müller kam auf anderem Wege zum gleichen Ergebnis. Er machte geltend, daß die Sprache nur durch den Menschen bestehen könne und demzufolge nicht wie der Stoff aller anderen Naturwissenschaften zu behandeln sei. Allerdings beruhe dieser Einwand auf der begrifflichen Vermengung von historischen Veränderungen und natürlichem Wachstum. Die Sprache ließe nur Wachstum zu, wobei Müller bei der Unterscheidung von Geschichte und Wachstum wie schon Schleicher mit dem Kriterium der willentlichen
Beeinflußbarkeit
operierte. Also ist Sprache auch für ihn ein Naturprodukt (vgl. Müller 1892: 44f. und 37). Eine Gegenposition vertrat Whitney. Er betrachtete die Sprache als Kulturphänomen und kam der Auffassung, daß sie als Institution Ergebnis menschlicher Handlungen, nicht aber der Durchführung eines menschlichen Plans ist, sogar ziemlich nahe. Wenn er sie aber andererseits mit einer Sinfonie, einem Tempel oder einer Pyramide vergleicht, läßt er durchblicken, daß ihm dieser
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Punkt doch nicht so klar war, wie er vorgab (vgl. Keller 1994: 78f. in Auswertung von Whitney 1873: 301 ff.). Keller stellt daraufhin fest, daß sich sowohl bei Müller, als auch bei Whitney Ansätze finden, aus dem durch die Dichotomie "Natürlichkeit vs. Künstlichkeit" gegebenen Gefängnis auszubrechen. So konstatierte Müller ein Zusammenspiel von individuellem Willen und Notwendigkeit im Werden der Sprache, und Whitney stellte parallel fest, daß Sprache gleichzeitig bewußt und unbewußt arbeitet (vgl. Müller 1892: 40 und Whitney 1873: 355) (vgl. Keller 1994: 80f.). Keller stellt nun die Frage, wie bei weitgehend gleichen Ansichten über die Sprache einer der beiden Forscher zu dem Schluß kommen konnte, sie sei ein Naturphänomen, während der andere sie als von Menschen gemacht ansah. Den Grund dafür findet er in der Unklarheit des Prädikats "von Menschen gemacht", denn etwas kann insofern von Menschen gemacht sein, als es entweder A Ergebnis menschlicher Handlungen ist, oder aber daß es B in dem Sinne "von Menschen gemacht" ist, daß es "aufgrund menschlicher Intentionen entstanden ist" (Keller 1994: 83). Aus der Tatsache, daß B A impliziert, aber A nicht B, ergeben sich drei Arten von Dingen. " 1. Es gibt Dinge, die nicht Ziel menschlicher Intentionen sind und (somit auch) nicht Ergebnisse menschlicher Handlungen (der aufrechte Gang, die Bienensprache, das Wetter, die Alpen). 2. Es gibt Dinge, die Ergebnisse menschlicher Handlungen sind und Ziel ihrer Intentionen (der Kölner Dom, ein Kuchen, das Ghetto in Soweto, Esperanto). 3. Es gibt Dinge, die Ergebnisse menschlicher Handlungen, nicht aber Ziel ihrer Intentionen sind (die Inflation der DM, der Trampelpfad über den Rasen, das Ghetto in Harlem, unsere Sprache)" (Keller 1994: 8 4 f ) .
Insofern die Dinge der dritten Art mit den anderen jeweils ein Kriterium gemeinsam haben, befinden sich die Positionen Müllers und Whitneys nicht im Widerspruch. So konnte die Sprache je nach Gewichtung der beiden Kriterien wahlweise den Artefakten oder den Naturphänomenen zugeschlagen werden (vgl. a.a.O.).
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3.3.2. Paretos Organismus-Konzept vor dem Hintergrund der Kellerschen Analyse Wenn wir jetzt wieder auf das Sprachdenken Paretos zurückkommen, soll dabei nicht vergessen werden, daß sich dieser die Frage, ob Sprache Naturobjekt oder Kulturphänomen sei, als solche selbst nicht so zugespitzt stellte; ebensowenig können seine Bemerkungen als Beitrag zur Diskussion über den Status der Sprachwissenschaft angesehen werden. Da er aber die Sprache im § 469 einerseits als Produkt menschlicher Tätigkeit betrachtet und andererseits als lebenden Organismus, er somit die beiden Pole der durch Keller untersuchten Dichotomie anspricht, kann eine Betrachtung dieser Problematik durchaus weitere Aufschlüsse über Paretos SprachaufFassung geben. Dabei treten eigene Akzente und Differenzierungen im Vergleich zu den Reinformen der gegensätzlichen Positionen ans Licht. Als erwiesen kann angesehen werden, daß Pareto die Organismus-Metapher nicht nach Schleicherscher Art wörtlich nimmt. Wie Schleicher und Müller steht er aber auf einem Standpunkt, von dem aus eine Klärung nur über die Reflexion der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit willentlicher Beeinflußbarkeit von Sprache möglich ist. Sein Ansatz ist dabei differenzierter als jener der beiden erwähnten Linguisten. So räumt er in bezug auf die Grammatiker prinzipiell ein, daß Menschen auf die Idee kommen können, Einfluß auf die Sprache zu nehmen, stellt diesen Versuchen aber den organischen Charakter der Sprache entgegen (vgl. TSG, § 469, s. 2.1.1.). Solche normierenden Eingriffe seien der Sache gemäß willentlicher Art. Der "pedantismo dei grammatici" (TSG, § 1719f.), den er unter anderem bei den Akademikern der Crusca am Werke sieht, wird ihm zufolge durch die tatsächliche, "vielsprachige" Wirklichkeit der Sprache in Frage gestellt (vgl. TSG, § 469). Normierende Eingriffe seien zwar möglich, stießen aber an eine Grenze, die durch das Wirken von Eigengesetzlichkeiten innerhalb des Sprachorganismus gesetzt werde. Diese Eigengesetzlichkeiten wiederum hingen mit dem Ursprung der Sprache zusammen, denn diese: "é un organismo che si é sviluppato colle leggi proprie, che non é stato creato artificialmente" (TSG, § 883).
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Über den Gedanken eigengesetzlicher Prozesse in der Sprache werden die beiden Aspekte, lebender Organismus und Produkt menschlicher Tätigkeit zu sein, miteinander verbunden. Während Pareto im § 469 Sprache als Produkt menschlicher Tätigkeit betrachtet und insofern als vom Menschen geschaffen ansieht, spricht er ihr im § 883 ausdrücklich das Attribut ab, künstlich, also willentlich geschaffen worden zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt könne sie mit einem lebenden Organismus verglichen werden. Nur "pochi termini tecnici, come ossigeno, metro, termometro ecc., sono il prodotto dell'attività logica dei dotti. Essi corrispondono alle azioni logiche nella società, mentre la formazione del maggior numero dei vocaboli usati dal volgo corrisponde alle azioni non-logiche" (TSG, § 883).
Er differenziert also nochmals, und zwar in bezug auf die lexikalischen Aspekte der Sprache als Ganzer und einiger ihrer Teile. Wissenschaftliche Terminologie als Produkt bewußter Neubildungen habe jedoch in der Sprache ein ebenso geringes Gewicht wie die logischen Handlungen in der Gesellschaft. Hinsichtlich der Stellung Paretos zu den in der sprachwissenschaftlichen Diskussion umstrittenen Punkten läßt sich damit zweierlei sagen: 1. Pareto hat die Zweideutigkeit der Vorstellung von der Sprache als Produkt menschlicher Tätigkeit in Betracht gezogen und ihr in diesem Sinne die Organismus-Metapher korrigierend entgegengehalten, dabei besonders den Aspekt sprachinterner Eigengesetzlichkeiten betonend. Unter diesen Voraussetzungen kann man durchaus sagen, daß die Sprache für Pareto ein "Phänomen der dritten Art" darstellt. 2. In begrenztem Maße, vor allem auf dem Gebiet der Lexik, oder noch weiter eingeschränkt: insbesondere auf dem Feld der Fachterminologien, läßt sich nach Pareto auch die Sprache bewußt gestalten. Was aber die Sprache als im weitesten Sinne kulturelles Phänomen betrifft, reflektiert er diese Möglichkeit nicht. Zu den gerade in der italienischen Geschichte immer wieder virulenten Sprachfragen, zur sogenannten Questione della lingua äußert er sich nicht. Von dieser Position aus gewinnen auch Paretos Bemerkungen zu Dauzat, Bréal, Henry und Darmesteter ihre Kohärenz. In dem, was er bei diesen Linguisten nicht wahrnahm, was aber für eine angemessene Wertung ihrer Positionen zu betrachten unerläßlich gewesen wäre, zeigt sich zudem der Standpunkt eines
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Soziologen, dem die eigentlich linguistische Diskussion nebensächlich blieb. So interpretiert er Dauzats Behauptung der Unbewußtheit sprachlicher Phänomene primär als Ausdruck einer Erkenntnis, die auch der Theorie der nicht-logischen Handlungen zugrundeliege (s. 3.1.). Der Gedanke der Eigengesetzlichkeit von Sprache läßt sich aus Dauzats Bemerkung herleiten, daß "on a renoncé depuis longtemps à expliquer les transformations des sons par des fantaisies individuelles" (Dauzat 1908: 238, zit. nach TSG, § 158'). Indem Pareto die Darstellung der Bréalschen Auffassung vom Verhältnis des Willens zum Unbewußten nur verkürzt referiert (vgl. Aqueci 1991: 9, und 3 .1.), gibt er zu erkennen, daß es ihm nicht um eine dem Text gerecht werdende Rekonstruktion dieser Theorie geht. Er benutzt die These von der Willensabhängigkeit der Sprache in einer möglichst reinen Form, um sie so härter auf die Meinung Henrys prallen zu lassen ("Toute explication d'un phénomène linguistique qui présuppose, à un degré quelconque, l'exercice de l'activité consciente d'un sujet parlant, doit à priori être écartée et tenue comme non avenue"). Dieser wiederum stellt er die Argumente der wissenschaftlichen Terminologie und sogar einiger Termini der Umgangssprache gegenüber. Außerdem wirft er Bréal gegenüber ein, daß ein Großteil von Phänomenen nur scheinbar bewußt seien. An der linguistischen Debatte als solcher beteiligt sich Pareto trotz allem nicht eigentlich; er trifft zwar das dort behandelte Kernproblem, das Verhältnis von Bewußtheit und Unbewußtheit im Bereich der Sprache, benutzt aber die Schlußfolgerungen aus der Ablehnung der Bréalschen Position zuerst zur Exemplifizierung seiner Handlungstheorie. Infolge seiner wahrscheinlich mangelhaften Kenntnisse der Texte kann er nicht merken, wie sehr er sich den unverkürzten Auffassungen Bréals und Henrys doch annähert. Der Vorstoß Bréals zu den "lois intellectuelles du langage" war, bezugnehmend auf die idéologues des 18. Jahrhunderts und ihre Theorie vom Zeichencharakter der Sprache (vgl. dazu Puech 1987b: 168f.), primär gegen die vitalistische Idee einer blinden, die Sprache bewegenden natürlichen Kraft gerichtet. Von daher hätte Pareto keinen Grund gehabt, gegen Bréal zu polemisieren, denn auch dieser sah Sprache nicht als Naturorganismus im ontologischen Sinne." Wenn er am Ende der Anmerkung Darmesteter zitiert, ruht sein Augenmerk nicht auf dem biologistischen Akzent, daß die Wörter "vivent chacun de leur vie propre", sondern
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Während sich Bréals Intellektualismus mit dem genannten wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund erklären läßt, handelte es sich für Henry ("le langage est un fait conscient, les procédés du langage sont inconscientes" [Henry 1896: 78; vgl. 3.1.]) darum, sich einer doppelten Faszination zu entziehen, der darwinistischen und der intellektualistischen, der Darmesteters und jener Bréals (vgl. Puech 1987b: 173). Wenn Sprachen geschichtliche Fakten sind, "ce n'est pas parce qu'elles sont les produits d'une volonté consciente, mais les résultats de processus d'où la volonté et la conscience sont radicalemet exclues. Dans cette mesure, le débat qui organise les spéculations de Victor Henry oppose moins le paradigme historique au paradigme naturaliste, qu'il n'oppose, au sein du premier, deux représentations inconciliables de l'activité langagière" (a.a.O.: 174). 54
Henry kommt zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Pareto, der Sprache als Produkt menschlicher Tätigkeit, aber im wesentlichen nicht bewußter Tätigkeit, als Manifestation nicht-logischer Handlungen betrachtet. Die Einschränkung Paretos bezüglich der wissenschaftlichen Terminologie (logische Handlungen) stellt zwar eine Differenzierung gegenüber Henry dar, ändert aber nichts an der Tatsache, daß Sprache für beide ein Phänomen der dritten Art ist. Auch die nur "scheinbare Bewußtheit" sprachlicher Phänomene, auf der Pareto gegenüber Bréal und im Hinblick auf seine Handlungstheorie insistiert, kann dahingehend interpretiert werden, wenn man bedenkt, daß der angesprochene Begriff der nicht-logischen Handlungen die relative Unabhängigkeit von subjektivem und objektivem Handlungsziel impliziert (vgl. 3.1.). Unter diesem Vorzeichen ist etwas "vom Menschen Gemachtes" nicht so intendiert vom Menschen gemacht worden. Die Grammatik entstand als spontane Ordnung in der sprachlichen Praxis des Menschen, ohne intentional, so wie sie vorliegt, geschaffen worden zu sein. Ausgehend von der Erkenntnis, daß Pareto die Sprache als Phänomen der dritten Art sieht, haben wir über die linguistische Sensibilität eines Soziologen Aufschluß erhalten, der in bezug auf das Natürlichkeits-Künstlichkeits-Problem weiter sah als mancher seiner sprachwissenschaftlich spezialisierten Zeitgenosdarauf, daß "les hommes en parlant ne font point d'étymologie" : "Nulla di più vero..." Die beiden Sprachauffassungen innerhalb des "historischen Paradigmas" entsprechen genau den zwei Auslegungsarten des Prädikats "von Menschen gemacht".
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sen. Wenn sich Pareto in den betrachteten Passagen der Organismus-Metapher bedient, so macht er damit zwar von einem in der Linguistik des 19. Jahrhunderts weitverbreiteten Begriff Gebrauch, entkleidet diesen aber weitgehend der biologistischen Akzente, die ihm im Sprachdarwinismus anhaften. Es liegt sehr nahe, daß in diesem Denken seine ökonomische Bildung Pate gestanden hat. Pareto selbst spricht diesen Zusammenhang nicht explizit an, der Umstand aber, daß er in der klassischen ökonomischen Literatur einen Gemeinplatz darstellte, läßt diese Annahme nicht zu gewagt erscheinen. In seinen ökonomischen Hauptwerken, dem Cours und dem Manuel, läßt Pareto allerdings noch nicht erkennen, daß er auch die Sprache zu jenen gesellschaftlichen Institutionen zählt, die mit diesem der ökonomischen Tradition entlehnten Denkmodell zu beschreiben sind.55 Erst im Zuge einer weiteren Hinwendung zur Soziologie und im Zusammenhang mit der Schaffung eines neuen begrifflichen Apparats erlangt der "philologische" Zugang bei Pareto den auch theoretischen Stellenwert, den er dann im TSG einnimmt. Wie wir gesehen haben, erlaubt es die Verbindung der Gleichgewichtsauffassung mit dem Organismusgedanken und ausgehend davon die Unterscheidung von Interdependenzen zweier Arten, die zwei Aspekte der Sprachbetrachtung, die bei Pareto tragend sind, im Zusammenhang zu sehen: Sprache als Modell für das Funktionieren von Gesellschaft sowie das Funktionieren von Sprache als Diskurs in der Gesellschaft. Pareto hat damit auf eigene und unverwechselbare Weise die Intuitionen aufgenommen, die die Klassiker der Ökonomie, angefangen bei Smith, geäußert hatten. Zwar münden sie bei dem Soziologen nicht in eine eigenständige Sprachtheorie; sie werden aber in der Auseinandersetzung mit einigen sich ihrerseits nicht auf diese Ökonomie beziehenden zeitgenössischen Linguisten in einer Weise sprachbezogen elaboriert, die die sprachwissenschaftgeschichtliche Forschung durchaus zu berücksichtigen hat. Insofern die Paretianische Theorie auch eine Theorie der Funktionen von Sprache in der Gesellschaft enthält, stellt sie ein wichtiges Bindeglied in jener Tradition klassisch-liberaler Ökonomie und
Die Anwendung ökonomischer Metaphorik auf sprachliche Gegebenheiten stammt nicht erst aus dem 19. Jahrhundert. Sie steht in einer Tradition, die mindestens auf die Aufklärung zurückgeht. Vgl. z. B. Formigari 1988.
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Gesellschaftstheorie dar, die Keller (unter dem Aspekt der Erforschung von Sprachwandel) für die Linguistik neu zu beleben versucht. Paretos in der Bezugnahme auf Dauzat und Henry entwickelten soziologisch-linguistische Auffassungen von der Unbewußtheit sprachlicher Phänomene und der relativen Unabhängigkeit der Sprache von willensmäßigen Beeinflussungen entsprechen seinen wirtschaftsliberalen antiprotektionistischen Auffassungen und lassen sich als eine sprachwissenschaftlich vermittelte Aktualisierung dessen interpretieren, was die ökonomischen Klassiker bezüglich der sozialen Institution Sprache angeregt hatten. Zudem sprechen sie einmal mehr für eine "philologische" Abstützung seiner Gesellschaftstheorie. 56
Die in diesem Teil erfolgte Rekonstruktion ist auf der folgenden Seite noch einmal schematisch veranschaulicht.
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W O oJ oH H N O c/D h*