spielend denken: Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens [1. Aufl.] 9783839416846

Probenprozesse bedingen ein Wechselverhältnis zwischen konzeptionellen Überlegungen und spielerischer Suche. Theaterpäda

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German Pages 368 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Problemhorizont
1 Suchbewegungen
2 Das Spiel der Probe
3 Spielen lehren
4 Darstellungslogik
5 Spielend denken I
II Didaktische Wegmarken
1 Forschungstopoi
1.1 Didaktik
1.2 Bildung
1.3 Subjektverständnis
1.4 Lehr-Lern-Verständnis
1.5 Zwischenstopp
2 Passagen zur Fachdidaktik
2.1 Passagen zur Kunstdidaktik
2.2 Verbindungen von Poiesis und Praxis
2.3 Lehr-Lern-Verständnis in der Kunstdidaktik
2.4 Zwischenstopp
3 Spielend denken II
III Fachdidaktische Spielräume
1 Bildungstheoretische Spielräume
1.1 Vom Gleichgewicht der Kräfte
1.2 Pendeln in Zwischenräumen
1.3 Subjekt-, Sozial- und Kunstbezug
1.4 Spiel als Basisstation
1.5 Konstruktion von Gegenwelten
1.6 Relation von Wirklichkeitskonstruktionen
1.7 Zwischenstopp
2 Handlungsspielräume
2.1 Unterrichten
2.2 Proben
2.3 Situative und konzeptionelle Regie
2.4 Intervention
2.5 Interaktion
2.6 Zwischenstopp
3 Spielend denken III
IV Kartierung der Spielfelder
1 Das Spiel
1.1 Ein Spiel von Phänomenen
1.2 Transformationen des Subjekts im Spiel
1.3 Lehr-lern-theoretische Schlussfolgerungen
1.4 Zwischenstopp
2 Spielsysteme künstlerischer Praxis
2.1 Kunst als Sonderform des Spiels
2.2 Ästhetisches Experiment
2.3 Material der Kunst
2.4 Zwischenstopp
3 Theater ins Spiel bringen
3.1 Zwischen Spiel und Nicht-Spiel
3.2 Zwischen Spiel und Spiel
3.3 Regie als Spiel
3.4 Zusammenfassung
4 Spielend denken IV
V PraxisHaltungen
1 Zwischen Nicht-Spiel und Spiel
1.1 Kartografie I: George Tabori
1.2 Kartografie II: Robert Wilson
1.3 Kartografie III: Peter Brook
2 Zwischen Spiel und Spiel
2.1 Spiele um Sprache
2.2 Spiele um Körper
2.3 Spiele um Imagination
3 Regie als Spiel
3.1 Grenzgänger
3.2 Solidaritäten
3.3 Ensemblegeist
3.4 Zwischenstopp
4 Spielend denken V
VI Schluss
1 Zusammenfassung der Ergebnisse
2 Konsequenzen
Bibliografie
Videografie
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spielend denken: Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens [1. Aufl.]
 9783839416846

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Mira Sack spielend denken

Theater | Band 29

Mira Sack (Prof. Dr. phil.), Erziehungswissenschaftlerin und Theaterpädagogin, lehrt im Departement Darstellende Künste und Film der Zürcher Hochschule der Künste und leitet dort den Bachelor of Arts in Theater.

Mira Sack

spielend denken Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Warnung vor dem Hunde«, Jugendproduktion Theater der Künste 1997. Foto: Bernhard Fuchs Lektorat: Mira Sack Satz: Katharina Lang, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1684-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort | 7 I

Problemhorizont | 9

1 2 3 4 5

Suchbewegungen | 13 Das Spiel der Probe | 16 Spielen lehren | 20 Darstellungslogik | 24 Spielend denken I | 30

II Didaktische Wegmarken | 33 1

2

3

Forschungstopoi | 34 1.1 Didaktik | 37 1.2 Bildung | 39 1.3 Subjektverständnis | 44 1.4 Lehr-Lern-Verständnis | 52 1.5 Zwischenstopp | 55 Passagen zur Fachdidaktik | 57 2.1 Passagen zur Kunstdidaktik | 60 2.2 Verbindungen von Poiesis und Praxis | 62 2.3 Lehr-Lern-Verständnis in der Kunstdidaktik | 65 2.4 Zwischenstopp | 68 Spielend denken II | 69

III Fachdidaktische Spielräume | 73 1

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Bildungstheoretische Spielräume | 75 1.1 Vom Gleichgewicht der Kräfte | 76 1.2 Pendeln in Zwischenräumen | 77 1.3 Subjekt-, Sozial- und Kunstbezug | 82 1.4 Spiel als Basisstation | 83 1.5 Konstruktion von Gegenwelten | 85 1.6 Relation von Wirklichkeitskonstruktionen | 87 1.7 Zwischenstopp | 89 Handlungsspielräume | 92 2.1 Unterrichten | 93 2.2 Proben | 96 2.3 Situative und konzeptionelle Regie | 98

3

2.4 Intervention | 101 2.5 Interaktion | 104 2.6 Zwischenstopp | 109 Spielend denken III | 111

IV Kartierung der Spielfelder | 115 1

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V 1

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Das Spiel | 116 1.1 Ein Spiel von Phänomenen | 117 1.2 Transformationen des Subjekts im Spiel | 139 1.3 Lehr-lern-theoretische Schlussfolgerungen | 142 1.4 Zwischenstopp | 147 Spielsysteme künstlerischer Praxis | 149 2.1 Kunst als Sonderform des Spiels | 151 2.2 Ästhetisches Experiment | 157 2.3 Material der Kunst | 161 2.4 Zwischenstopp | 165 Theater ins Spiel bringen | 166 3.1 Zwischen Spiel und Nicht-Spiel | 171 3.2 Zwischen Spiel und Spiel | 182 3.3 Regie als Spiel | 192 3.4 Zusammenfassung | 195 Spielend denken IV | 197

PraxisHaltungen | 201 Zwischen Nicht-Spiel und Spiel | 206 1.1 Kartografie I: George Tabori | 207 1.2 Kartografie II: Robert Wilson | 226 1.3 Kartografie III: Peter Brook | 242 Zwischen Spiel und Spiel | 262 2.1 Spiele um Sprache | 263 2.2 Spiele um Körper | 279 2.3 Spiele um Imagination | 296 Regie als Spiel | 309 3.1 Grenzgänger | 310 3.2 Solidaritäten | 314 3.3 Ensemblegeist | 320 3.4 Zwischenstopp | 327 Spielend denken V | 329

VI Schluss | 335 1 2

Zusammenfassung der Ergebnisse | 337 Konsequenzen | 345

Bibliografie | 349 Videografie | 364

Vorwort

In den Jahren meiner Tätigkeit als Theaterpädagogin hat mich die Probe immer wieder fasziniert, beschäftigt, bewegt. Sie ist zu einer festen Begleiterin, zum Zenit meines beruflichen Denkens und Handelns geworden. Die konzentrierte Exploration und Verdichtung von Spielräumen, das Reflektieren von Bildungs- oder Theaterideen innerhalb theaterpädagogischer Praxis und die Dynamiken eines sich entwickelnden Ensembles haben dabei immer wieder mein Wissen in Frage gestellt und suchendes Handeln gefordert. In der eigenen Inszenierungspraxis wie in der Arbeit mit Schulklassen und der Begleitung von Proben im Rahmen der Ausbildung von zukünftigen Theaterpädagogen sind die Augenblicke, in denen das Spiel einen einholt und über sich hinauswachsen lässt, von besonderer Intensität. Die eindrücklichsten, schaurigsten, erbaulichsten, frivolsten, wagemutigsten Theatermomente sind mir von dort in Erinnerung. Immer wieder basierten diese Ereignisse auf Neugier, Mut, Risikobereitschaft, Verausgabung der Fantasie von unterschiedlichsten Menschen, die miteinander eine Suche vorangetrieben haben, ausgehend von und mündend in einem Spiel um Wahrheiten und Möglichkeiten, die abwegig sein dürfen, pure Behauptung sind oder des ›Pudels Kern‹ umkreisen. Vorliegende Arbeit ist in erster Linie diesen Erfahrungen geschuldet. Proben fordert die Entdeckungslust heraus und schaffen einen Freiraum, in dem andere Gesetze nach Gültigkeit streben. Diese in einer wissenschaftlichen Betrachtung stillzustellen, ist so wenig hilfreich wie möglich. Der fundierten und reflektierenden Auseinandersetzung mit den Eigengesetzlichkeiten des Probens aus diesem Grund auszuweichen, wäre jedoch fahrlässig. Die vorliegende Arbeit unternimmt den Versuch, einen didaktischen Blick auf die Dramaturgie von Proben zu werfen in der Hoffnung, dass das Geschriebene dem Leser Anlass und Anregung gibt, weiterzudenken und neue Perspektiven auf das Spiel der Probe und die mit ihr verbundenen Denkbewegungen zu richten. Wie keine Probe aus sich selbst heraus denkbar ist, steht auch das Schreiben in einem Kontext. Besonderer Dank gilt daher der DFG für ein Forschungsstipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs Ästhetische Bildung an der Universität Hamburg und Ulrike Hentschel für sachliche

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Kritik, wertvolle Literaturhinweise und die kontinuierliche Bereitschaft, sich immer wieder neu einzulassen auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Untersuchung. Dank gilt darüber hinaus Kristin Wardetzky, Ute Pinkert, Mieke Matzke und Gerd Koch für ihre spontane Hilfsbereitschaft und die konstruktive Unterstützung. Des Weiteren möchte ich mich bedanken bei meinen ›Erstlesern‹ Doris Geiger, Mathis Kramer-Länger, Olaf Neumann und Frederike Dengler. Deren fragende Neugier und sinnstiftendes Mitdenken hat mehr als geholfen, die eigenen Gedanken zu sortieren und vieles noch einmal neu zu denken. Ein ganz herzliches Dankeschön gebührt Dorothea und Andrea Malär, die mir im rechten Moment den richtigen Ort für die Fertigstellung der Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Meinen Eltern, die mir mit großer Selbstverständlichkeit das Theater zugänglich gemacht haben und Urte von Reckowsky für ihre bedingungslose Unterstützung in allen Etappen auf dem Weg zu diesem Buch sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Dank jener Menschen, mit denen gemeinsame Proben als inspirierende Herausforderung erfahren werden konnten, ist der Verbund von Spielen und Denken Praxis geworden.

I Problemhorizont

Bereits vor der ersten Begegnung mit einer Gruppe trifft der Theaterpädagoge Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen. Seine Vorstellungen von dem, was Theater ist, mit welchen Verfahrensweisen man interessante Ergebnisse erzeugen kann und wie eine Inszenierung entsteht, bestimmen ihn ebenso wie seine Ideen und Ideale von Bildungsund Vermittlungsprozessen. Wie er, selbst in der Absicht größter Offenheit und Öffnung für das Gegenüber, in der Interaktion mit den Spielern den ersten Impuls des Anfangs setzt – und er setzt ihn selbst dann, wenn er nichts tut und schweigt –, entspringt einer bestimmten Haltung zu einer vorgestellten Praxis. Bei jedem weiteren Planungs- oder Praxisschritt kommt er nicht umhin, das von ihm etablierte Beziehungsgefüge aufzugreifen und weiterzuentwickeln. In Folge verantwortet der Theaterpädagoge eine Kette von Interaktionsereignissen, in deren Rahmen er die Qualität theaterpädagogischer Prozesse verwirklichen soll. Dazu muss er immer wieder neu die eigenen Haltungen zur Praxis und die konkreten Vorgänge innerhalb der praktischen Arbeit aufeinander abstimmen und produktiv in Beziehung zueinander setzen, um im Hinblick auf die Spieler und auf das theatrale Geschehen konstruktiv handlungsfähig zu bleiben. Die Handlungslogik der theaterpädagogischen Praxis ist entsprechend begründet zwischen gedanklichen Entwürfen und konkreten Prozessen, zwischen Konzept und Spiel. Zugleich ist der Theaterpädagoge immer auch kraft seiner Person Reibungsfläche und Anlass für die produktive Begegnung im Medium Theater. Er bringt seine spezifische Praxismentalität und die eigenen Sichtweisen auf das theatrale und das soziale Geschehen handelnd in den Interaktionszusammenhang ein, bezieht sich auf sich und die anderen durch seine theaterpädagogische(n) Haltung(en). Als dominante Größe an der Schnittstelle zwischen Subjekt und Verfahrensweise sind die Zielvorstellungen des Theaterpädagogen für die theatrale Praxis und den darin situierten Bildungsprozess maßgebend an den »prinzipiellen und speziellen Möglichkeiten für die Transformation des theaterspielenden Subjekts« beteiligt (vgl. Pinkert 2005; 35). Das setzt die Annahme voraus, dass sich die Spieler in der Art ihrer Auseinandersetzung mit der Sache

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und sich selbst wesentlich an dem Theaterpädagogen und seiner Art, sich und die Sache zu vermitteln, reiben. Entlang dieser These eröffnet die vorliegende Untersuchung ihr Forschungsfeld. Sie fragt nach den Anhaltspunkten für das Zusammenspiel von Theaterpädagogen und Spielern und will Haltungen zur Praxis im Verbund mit Optionen des Handelns und Vermittelns innerhalb dieser Praxis sondieren. Mit  dieser Setzung geht sie über die bislang im wissenschaftlichen Kontext erörterten Dispositionen zu Bildungsprozessen in der Theaterpädagogik hinaus. Sie nimmt einerseits in Anspruch, den Bildungsgehalt des Theaterspielens nicht allein vom Sachgegenstand Theater ableiten zu können, und hebt andererseits die Bedeutung von transsubjektiven Prozessen in Lehr-Lern-Situationen hervor, die für die Bildungsrelevanz des Theaterspielens entscheidend sind. Damit einher geht ein erweiterter Verständigungsversuch über das theaterpädagogische Selbstverständnis. Beklagt Gitta Martens das mangelnde Fundament einer von gründlichen Reflexionen durchdrungenen Handlungskompetenz, was dazu führe, dass »die Theaterpädagogen heute mit den verschiedensten Zielgruppen ad hoc auf die jeweiligen Problemlagen mit einer Vielfalt ausgewiesener Methoden reagieren [...], ihr theatrales und pädagogisches Vorgehen [...] aber dennoch häufig unverbunden und unreflektiert« bleibt (Martens 2008; 23; Hervorhebung im Original), reklamieren Ulrike Hentschel und Ute Pinkert, »dass das theaterpädagogische Feld als Anwendungsfeld spezifischer Praxen des Handelns und Reflektierens bislang wenig ausgebildet und etabliert ist. Es gibt nur wenig anerkannte Rollenvorbilder und kaum allgemeine Begrifflichkeiten, so dass sich Akteure schwertun, ein spezifisch theaterpädagogisches Selbstverständnis auszubilden« (Hentschel/Pinkert 2008; 20). Das im Zuge dessen einsetzende fachliche »Begründungsschlingern« beobachtet Constanze Kirchner im kunstpädagogischen Kontext nicht nur in Unterrichtsreflexionen, sondern weiß die Praxis selbst davon tangiert, da die beiden Bezugsfelder Kunst und Pädagogik den Arbeitskontext permanent durchkreuzen (vgl. Kirchner 2007; 102). Diese Bestandsaufnahme wird andernorts ergänzt um aktuelle Anforderungen an eine theaterpädagogische Fachwissenschaft, die der Forschung im Didaktischen nachzugehen habe: Insbesondere ein Bedarf an systematischer Praxisreflexion und die differenziertere Evaluation von Lehr-Lern-Prozessen treten dabei als wesentliche Forschungsdesiderate hervor (Koch/Vaßen 2008; 9; Pinkert/ Meyer 2006; 42ff; Liebau/Klepacki/Zirfas 2009; 162). Die vorliegende Arbeit möchte einen Vorstoß in diese Richtung unternehmen, indem sie das Handeln des Theaterpädagogen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, es aus didaktischer Perspektive befragt und bewertet. Legt man den Fokus auf die Interaktionsspielräume des Theaterpädagogen, stehen sein künstlerisches und pädagogisches Handeln im Mittelpunkt. Unberücksichtigt bleibt dabei die von Lehr-Lern-Prozessen unabhängige Auseinandersetzung der Spieler mit sich selbst, weite Teile ästhetischer Bildung im Medium Theater werden somit nicht eruiert.

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Außerdem treten Verfahrensdiskussionen entlang spezifischer Methoden in den Hintergrund, die darauf abzielen, deren besonderen Bildungswert auszuloten. Stattdessen sollen Beziehungsstrukturen und Interferenzen zwischen dem Gegenstand Theater und den Spielern anhand von möglichen PraxisHaltungen1 des Theaterpädagogen sichtbar gemacht und ihr Potenzial für das Konglomerat aus künstlerischen und pädagogischen, theatralen und transsubjektiven Prozessen forschend erkundet werden. Eine weitere Eingrenzung betrifft den Aktionsradius des Theaterpädagogen. Im Rahmen der  hier vorliegenden Untersuchung wird ausschließlich eine theaterpädagogische Inszenierungspraxis in den Blick genommen, die sich auf schauspielanaloge Verfahrensweisen mit nichtprofessionellen Spielern konzentriert.2 Theaterpädagogik, die schauspielerisches Handeln zum Inhalt erklärt, kann mit Ulrike Hentschel »in einem engeren Sinne verstanden (werden) als eine Disziplin der ästhetischen Bildung, die sich mit der Vermittlung von wahrnehmenden und gestaltenden Prozessen im künstlerischen Medium Theater befasst« (Hentschel 2001; o.S.). Das spezifische Interesse vorliegender Untersuchung gilt dabei den lehr-lern-theoretischen Implikationen solchen Vermittlungshandelns. Der didaktische Fokus verschiebt sich somit von den Erfahrungen, die das Subjekt im Rahmen theatraler Praxis machen kann (Hentschel 1996), hin zu Handlungsstrategien, mit deren Hilfe ein Theaterpädagoge Vermittlungsakte einleiten und in sie eingreifen kann. Gehandelt wird im Sinne der ästhetischen Bildung entlang der künstlerischen und pädagogischen Besonderheiten eines jeweils konkreten Kontexts mit dem Ziel, Theater- und Bildungsprozesse miteinander hervorzubringen. Die Verantwortung für das Gelingen trägt der Theaterpädagoge, der theatrale Wahrnehmungs- und Gestaltungsweisen zum Anlass für das Erzeugen ästhetischer Bildungsprozesse nimmt. Nicht das Theaterspielen an sich, so meine Behauptung, ist Garant für Prozesse ästhetischer Bildung, sondern erst im Verbund mit den jeweils konkreten Akten der Vermittlung bekommen ästhetische Bildungsprozesse ihr spezifisches Gewicht. In den PraxisHaltungen des Theaterpädagogen wird die theaterpädagogische Vermittlungsqualität sichergestellt. Ein Indiz für die Bildungsrelevanz des theaterpädagogischen Selbstverständnisses, aus dem heraus PraxisHaltungen in die Prozesse des 1 | Die Schreibweise in Binnenmajuskel soll die Verflochtenheit beider Komponenten sinnfällig machen und gleichzeitig die bipolare Spannung von PraxisHaltungen zum Ausdruck bringen. 2 | Andere Tätigkeitsfelder von Theaterpädagogen – von inszenierungsbegleitenden Angeboten für Zuschauer über Kurs- und Seminarpraxis verschiedenster Couleur bis hin zu den Alltagstransformationen der ästhetischen Forschung – werden in den Überlegungen komplett ausgeklammert. Denkanstöße und Argumentationsfäden für diese Kontexte sind in den folgenden Ausführungen zwar enthalten, müssen aber an anderer Stelle aus- und weitergeführt werden.

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Produzierens von Theater einfließen, benennt Ute Pinkert: »In der Rolle der Lehrenden sehe ich meine Herausforderung eher in der Art und Weise, wie ich der jeweils konkreten Gruppe und den einzelnen Individuen unter bestimmten Bedingungen Erfahrungsräume ermögliche und welche Formen ich dafür finde« (Pinkert 2008; 69). Die eigene Herausforderung konkretisiert sie in der dazu notwendigen Bewusstmachung der »experimentellen Haltung«. »Da ich vermute«, so Pinkert weiter, »dass es wesentlich meine Haltung ist, an der sich die Studierenden mimetisch ›abarbeiten‹, sehe ich die Art und Weise, in der ich mir als Lehrende Aufgaben stelle und an diese herangehe, als immer wesentlicher werdenden Bestandteil meiner Lehre« (ebd.). Gerd Koch nimmt Bezug auf Bertolt Brecht, um darauf hinzuweisen, dass es beim Lehren nicht das Entscheidende sei, »einem Lehrer und seiner Lehre zu folgen, sondern entscheidend sei, ihm oder ihr begegnet zu sein«, und ergänzt, dass wir angehalten sind, im Terminus Begegnung »nicht nur das Zusammenkommen, sondern auch das Gegnerische« immer mitzuhören (vgl. Koch 2008; 29). Wo Reibung und Widerstand Handeln auslösen – bei Lehrenden wie Lernenden –, wird Begegnung wahrnehmbar. Hebt man den Zeichencharakter dieser Begegnung hervor, kann die Interaktion zwischen Spielleitern und Spielern als Kommunikationsprozess verstanden werden, bei dem Lehrende über Zeichenhandlungen Suchprozesse auslösen, die in theatrale Ereignisse münden. Maset  charakterisiert solche Lernprozesse strukturell als transsubjektive Akte, bei denen eine Lehrperson Zeichen kommuniziert, die nicht reale Abbilder der Realität sind, sondern zum Anlass der Auseinandersetzung mit etwas Fremdem werden (vgl. Maset 1995; 159). Für  das Lehr-Lern-Verständnis erläutert er dies mit dem Verweis auf Deleuze: »Schwimmen lernen, eine Fremdsprache lernen heißt, die singulären Punkte seines eigenen Körpers oder seiner eigenen Sprache mit denen einer anderen Gestalt, eines anderen Elements zusammenzusetzen, das uns zerstückelt, uns aber in eine Welt von bisher unbekannten, unerhörten Problemen eindringen lässt« (Deleuze, zit.n. Maset 1995; 160). Abermals auf Deleuze zurückgreifend skizziert Maset ein Vermittlungsprofil, das ein performatives Handlungsverständnis voraussetzt, denn »wir lernen nichts von dem, der uns sagt: ›Mach es wie ich.‹ Unsere Lehrer sind einzig diejenigen, die sagen: ›Mach es mit mir zusammen‹, und die, anstatt uns bloß die Reproduktion von Gesten abzuverlangen, Zeichen auszusenden vermochten, die man im Heterogenen zu entfalten hat« (Deleuze, zit.n. Maset 1995; 159). Auf diesem Weg bringt der Lehrende das Fremde/Andere als neues Gegenüber bewusst in das Zusammenspiel ein und macht es zum Anlass der Auseinandersetzung. Wenn wir Lehrhandlungen als eine Folge von Zeichen – nicht ein Zeichenverfahren, sondern (vorsichtiger) einen Zeichengebungsprozess – betrachten, öffnen sich Spielräume für Lesarten dieser Zeichen. Die Beschreibung von generativen Verfahren, die in theaterpädagogischen Lehr-Lern-Situationen eine solche zeichenvermittelte

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Heterogenität produktiv machen, kann, so die hier geäußerte Vermutung, bildungswirksame PraxisHaltungen befördern. Der daraus resultierende Fragekomplex lässt sich nun folgendermaßen präzisieren: Wie werden Interaktionen zwischen Spielern und Theaterpädagogen in theatraler Praxis bildungswirksam? Welche  PraxisHaltungen dienen dieser Absicht und unter welchen Gesichtspunkten kann der Theaterpädagoge diese in den konkreten Vermittlungssituationen handelnd realisieren? Für die Beantwortung dieser Fragen werden Begrifflichkeiten notwendig, die das fachdidaktische Selbstverständnis über transsubjektive Prozesse zwischen Praxis und Theorie, Kunst und Pädagogik in Form von generativen Verfahren leitmotivisch bündeln.

1 S UCHBE WEGUNGEN Theaterpädagogische Ambivalenzverhältnisse. »Die Arbeit mit nicht-professionellen Darstellern«, so ein Fazit im Rückblick auf die Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft 2006, ist »nicht allein durch die Veränderung von Erarbeitungsstrukturen und Probenprozessen eine Herausforderung«, Besonderheiten in der Arbeit mit nichtprofessionellen Darstellern haben »nachhaltige Auswirkungen auf das theatralische Ergebnis« und implizieren eine weitaus »größere Verantwortung den Darstellern gegenüber« (Arioli 2006).3 In der Wahrnehmung dieser Verantwortung vermeidet man, dass der ›Laie‹ einfach den ›Profi‹ mimt und damit vorschnell als Dilettant diskreditiert wird, und bringt zugleich alternative Arbeitsweisen und -wege hervor, die das Bildungs- und Vermittlungsanliegen der Theaterpädagogik prononcieren. Vorliegende Untersuchung knüpft an diese beiden Grundsätze – der Differenz zwischen professionellen und nichtprofessionellen Darstellern und der Behauptung einer originär theaterpädagogischen Proben- und Inszenierungspraxis – eine erste These an: Theaterpädagogische PraxisHaltungen erschließen sich entlang der Schnittstellen von künstlerischen und pädagogischen Handlungsstrategien. Nur in der Überschneidung beider Aspekte ist theaterpädagogische Qualität zu formulieren und der 3 | Mit der immer breiteren Aufmerksamkeit für Theaterformate mit nichtprofessionellen Darstellern, wie sie beispielsweise von Christoph Schlingensief oder Rimini Protokoll produziert werden (vgl. u.a.: Lochte/Schulz [Hg.] 1998; Dreysse/Malzacher [Hg.] 2007), um nur zwei populäre, sehr unterschiedliche Vertreter zu benennen, dringen theaterpädagogische Fragestellungen in die Diskurse von Theaterwissenschaft und Theatertheorie ein. Insbesondere die Dramaturgische Gesellschaft, deren Jahrestagungen 2006 und 2007 thematisch den Trend, mit nichtprofessionellen Darstellern auf den Bühnen der Stadt- und Staatstheater Erfolge zu feiern, aufgegriffen haben, schafft ein öffentliches Bewusstsein für die Erforschung sozialer Realitäten und pädagogischer Implikationen der Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Akteuren.

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spezifische Wert gewählter Arbeitsverfahren auszumachen. Dies hat zur Folge, dass allein das Prädikat künstlerischer Stärke nicht zwingend die pädagogische Signifikanz einer jeweils besonderen Praxis rechtfertigt. Nur aus der Kunst heraus zu argumentieren genügt darüber hinaus weder für den Nachweis pädagogischer Relevanz noch für eine nachhaltige Konsolidierung der Theaterpädagogik als eigenständiger Disziplin. Umgekehrt beansprucht die These, gültige pädagogische Prozesse als den gewählten künstlerischen Strategien implizit zu verstehen. Eine Indienstnahme der Theaterpädagogik für Ziele und Zwecke außerhalb der ihr eingeschriebenen spezifischen Praxis weist entsprechend keine legitimen Orientierungspunkte aus. Der einseitige Einsatz theaterpädagogischer Verfahrensweisen für rein künstlerische oder allein pädagogische Anliegen entzieht sich dieser Schnittstelle und ist von der substanziellen theaterpädagogischen Proben- und Inszenierungspraxis zu unterscheiden. Als zentrale Herausforderung für die vorliegende Untersuchung umreißt dieses Grundverständnis zugleich den inhaltlichen Kern der Theaterpädagogik, der sich in der »Art und Weise, wie Spiel und Theater gedacht, geprobt, gemacht und vermittelt wird«, entscheidet (Müller 1972; V). Stellt in der Pädagogik das Subjekt den Dreh- und Angelpunkt des Handelns dar, befasst sich Theater mit besonderen ästhetischen Phänomenen und Prozessen. »Im Unterschied zur Pädagogik«, betont Christel Hoffmann, »erzeugt das Theater ein Kommunikationsfeld, das es ermöglicht, sich zu einer Sache, gewissermaßen in ihr, zu verhalten. Die Vermittlung von Inhalten und Verhalten zum Ganzen erfolgt durch die unmittelbare Beziehung und in der Begegnung gleichwertiger Subjekte. Die Pädagogik hingegen erwartet, dass sich die Schüler ein Verhalten zum Gegenstand, zur Sache aneignen, gewissermaßen über der Sache stehen lernen. Hier dominiert also die Vermittlung von Lern- und Erziehungsinhalten auf der Basis von Autoritäts-, man kann auch sagen Machtbeziehungen zwischen den Subjekten« (Hoffmann 1999; 16). Mit nichtprofessionellen Darstellern theatrale Ereignisse hervorzubringen heißt folglich, in einer theaterpädagogischen Wirklichkeit beheimatet zu sein, die ein anderes Handeln und andere Haltungen erfordert als rein künstlerische oder allein pädagogische Kontexte. Ein Theaterpädagoge muss in seinem Arbeitsfeld die Eigenheiten beider Bereiche berücksichtigen und gleichzeitig künstlerische und pädagogische Zielvorstellungen miteinander in eine produktive Beziehung setzen. Die Didaktik der Theaterpädagogik basiert auf diesem Verbund von pädagogischer Reflexion und künstlerischer Praxis, die den eigenen Spielund Denkprozessen Pate stehen. Aus der besonderen Disposition der Spieler und dem Anliegen der Theaterpädagogik, Differenzerfahrungen zu fokussieren, erwachsen Herausforderungen, die weder in der theaterwissenschaftlichen Beschreibung von Regiepraxen noch in Künstlertheorien umfassend berücksichtigt werden. Der Theaterpädagoge bleibt gezwungen, das eigene Handeln in Distanz zu Regievorbildern oder schauspielpädagogischen Lehren zu reflektieren und immer wieder neu

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eigene didaktische Wegmarken für seine Arbeit zu formulieren. In der Konsequenz beinhalten solche Positionsbestimmungen ein Lehr-LernVerständnis, das zwischen Kunst und Pädagogik, zwischen Haltungen und Handlungen, zwischen Spielen und Denken vermittelt. Die korrespondierende didaktische Fachtheorie der Theaterpädagogik sollte darüber hinaus an den je gegenwärtigen Stand der Diskussionen kunstpädagogischer Vermittlungsfragen anknüpfen und diesen mit dem spezifischen Kontext Theater in eine Verbindung bringen, sodass ein wissenschaftlicher Diskurs zwischen der Theaterkunst und der Kunstpädagogik verankert ist. Eine theaterpädagogische Fachdidaktik zu entwerfen, die anschlussfähig für theoretische und praktische Arbeitskontexte der Theaterpädagogik ist, ist Anliegen der hier dargelegten Überlegungen. Die Probe als Bewegungsmelder. Nach Ute Pinkert sind theaterpädagogische Handlungsmodi in einer engen Korrespondenz zu Verfahrensweisen des professionellen Theaters zu generieren, denn »qualitätsvolles Theater mit Amateuren« zeichne sich dadurch aus, so Pinkert, »dass es sich mit den Verfahren des professionellen Theaters auseinandersetzt und daraus vor dem Hintergrund der eignen Kontexte seine spezifischen Formen theatraler Weltaneignung entwickelt« (Pinkert 2007; 15). In der Theaterarbeit mit nichtprofessionellen Spielern können, so die Vermutung, die Probenverfahren und Gesetzmäßigkeiten des Theaters Pate stehen für die Entwicklung eines anders gelagerten, erweiterten Repertoires an theaterpädagogischen Spielstrategien. Davon ausgehend wären theaterpädagogische Haltungen und Handlungen zu formulieren, sofern in den Probenanalysen das Spiel im Spiel der Regiepraxis herausgehoben und für die theaterpädagogische Didaktik anschlussfähig gemacht werden kann. In der Probe prallen Kunst und Pädagogik, Planung und Ereignis aufeinander. Spannungsvoll und damit bedeutend für die theaterpädagogische Praxis sind Probenprozesse, wenn das Unvorhersehbare und Überraschende in ihnen Platz haben, wenn Unerwartetes auftauchen und sich ein Spiel über die Grenzen bekannter Selbst- und Weltbilder hinweg ereignen kann. Wenn dem eine »Befreiung von der frag-losen Gefangenheit im Gewohnten« durch einen Überschuss an Wahrnehmung, die nicht auf gewohnte Weise zu verarbeiten ist, hinzugefügt werden kann, sind Erfahrungen möglich, die uns so noch nicht begegnet sind (vgl. Schulz 1993; 17). Theaterpädagogische Probenpraxis muss entsprechend Kontexte schaffen, »die eine Selbstbewegung in Gang setzen; sie muss Erlebnisse provozieren, in Suchbewegungen verwickeln, zu Erfahrungen anstacheln, die in der Begegnung mit dem Gegenüber, mit Fremdheit und Andersartigkeit zu Differenzierungsvermögen gelangen« (Seitz 1996; 62; Hervorhebung im Original). Welche Strategien der Theaterpädagoge sich für eine Probe zurechtlegt und wie die Realisierung aussieht, bildet den Kern seiner Vermittlungsleistungen. Er entwickelt anhand der Probenpraxis notwendig eine dramaturgische Handschrift, in der theatrale Praxis und experimentelles Handeln verschmelzen. Wie dem Theaterpädagogen dies

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im Verlauf des Probenprozesses gelingt, prägt sowohl das hergestellte theatrale Ereignis wie auch die Bildungsrelevanz der für die Spieler eingesetzten Vorgehensweisen. Begleitet von den reflexiven Auseinandersetzungen mit fremder und eigener Praxis kann der Theaterpädagoge seine Haltungen und Handlungen überprüfen und kritisch befragen. Sie gegebenenfalls im Verlauf eines Projekts zu revidieren, zu verwerfen oder neue zu etablieren, erfordert Mut und ein Wissen, auf das das eigene Vorgehen bezogen werden kann. Meine Untersuchung will hierzu einen Beitrag leisten und theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens zu generieren. Sie widmet sich dem Spiel der Probe und versucht, Verfahrensweisen ausgewählter Regisseure aus theaterpädagogischen Blickwinkeln zu evaluieren.

2 D AS S PIEL DER P ROBE Wie der Theaterpädagoge mit den Spielern eine Inszenierung hervorbringt, zeigt sich in der konkreten Probensituation. Hier treffen Idee und Arbeitskonzept der Leitung auf Eigensinn und Besonderheiten der Darsteller. Visionen und Absichten beider Parteien müssen in Übereinstimmung gebracht und in szenischen Ereignissen realisiert werden. In didaktischer Hinsicht behauptet der Theaterpädagoge in der Probe seine PraxisHaltung und konstruiert sie zugleich neu, indem er in der Interaktion mit den Spielern »mit den verschiedensten Mitteln auf unterschiedlichen Ebenen nach künstlerischen Lösungen« sucht (vgl. Hoffmann 1999; 25). Die »Kunst des Spielleiters«, so der Aufsatztitel von Christel Hoffmann, basiert auf einer »Kultur des sozialen Verkehrs in der Gruppe«, die nicht nur eine pädagogische Rahmenbedingung des gemeinsamen Arbeitens umfasst, sondern »einen der entscheidenden Aspekte für die ästhetische Ausstrahlungskraft und die Wirkung auf das Publikum« darstellt (vgl. ebd.; 21). Dabei kommen dem Theaterpädagogen im Verbund von Planung und Probe einerseits Aufgaben zu, die sich aus dem künstlerischen Kontext Theater ergeben und am ehesten mit der Tätigkeit eines Regisseurs vergleichbar sind. Andererseits erwachsen aus der besonderen Disposition der Spieler Herausforderungen, die in gängigen Theaterformen und Probenkonventionen kaum Berücksichtigung finden. Anhand welcher Kriterien will man aber gültige theaterpädagogische Probenpraxis von jener der Regie unterscheiden? Welche Parameter sind aus theaterpädagogischen Gesichtspunkten für die Analyse von Proben entscheidend? Und wie kann der Transfer von Analyseergebnissen des professionellen Schauspiels in den theaterpädagogischen Kontext sinnstiftend für eine theaterpädagogische Fachdidaktik werden? Eine Anekdote zur Vermittlung von Probenstrategien soll mögliche Zugänge zu diesem Themenkomplex aufschlüsseln. In seinem autobiografischen Bericht »Zwischen den Welten« zeichnet Oida seine künstlerische Laufbahn auf dem Weg von Japan nach Europa

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nach. Der Schauspieler, in der Lehre zum angehenden Regisseur bei Peter Brook, bekommt von seinem Mentor folgenden Hinweis: »Angenommen, ein Regisseur würde einen Schauspieler bitten, bei der Szene, die man gerade probt, oben an der Zimmerdecke entlangzulaufen, würde der ihn wahrscheinlich für total verrückt halten. Deshalb verzichte ich darauf, dem Schauspieler etwas vorzuschreiben, und sage nur: Mach es so, wie du denkst. – Nun kann es sein, dass er die Szene spielt, indem er sich auf einen Stuhl setzt. Der Stuhl geht aber kaputt, weil er entsprechend präpariert worden ist, sodass der Schauspieler anfängt, auf der Bühne herumzulaufen. Wenn die Bühne mit Öl begossen und in Brand gesetzt wird, ist er gezwungen, auf den Tisch zu steigen, um von dort aus zu spielen, und wenn auch der Tisch so gemacht ist, dass er nicht hält, sieht der Schauspieler, dass nichts mehr geht. Weder Stuhl noch Fußboden noch Tisch sind zu gebrauchen. Was soll er machen? Er weiß es nicht und wendet sich ratsuchend an den Regisseur. Der hat jetzt nichts weiter zu tun, als wortlos nach oben zu deuten. Worauf der Schauspieler, begeistert von dem großartigen Einfall des Regisseurs, alles versuchen wird, um an der Decke entlangzulaufen« (Oida 1993; 55f.). Nüchtern übersetzt, beschreibt Oidas Zitat die Charakteristik theatraler Herstellungspraxis: Im Verlauf der Probe entwickelt der Regisseur in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler konkrete darstellerische Aktionen, die als theatrales Ereignis bedeutsam sind. Dies kann als die formale Funktion der Probe angesehen werden, die darauf abzielt, Regievorgaben zu realisieren. Das beschriebene Beispiel geht jedoch weit darüber hinaus. In seiner Gleichnishaftigkeit spiegelt es die Krux des Inszenierens, denn die direkte Aufforderung, »an der Zimmerdecke entlangzulaufen«, führt nicht zum angestrebten Ziel und erweist sich für die Probenpraxis als ungeeignet. Erst über subtil geplante Umwege gelangt der Regisseur mit dem Darsteller an den gesuchten Spielvorgang und kann dessen weitere Erprobung beginnen. Ein lineares Handlungsmodell mit stabilen Regelwerken ist also kaum zu erwarten und theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens können nur in der grundsätzlichen Akzeptanz einkreisender Suchbewegungen tragfähige Strategien generieren. Das Beispiel zeigt einen Weg, auf welchem der Regisseur die Darsteller zu seinen Visionen möglicher szenischer Vorgänge verführen kann. Mit dieser Vorgehensweise verknüpft ist die pädagogische Einflussnahme auf den Spieler: Wie der Regisseur seine Anliegen innerhalb der Probe entwickeln kann, welchen Umgang er mit den Schauspielern pflegt und wie er die schauspielerischen Angebote aufgreift und weiterführt, prägt den Suchprozess und ergibt eine eigene, eigenwillige Probendramaturgie. Dass er den Spieler unterwegs absichtlich ins Leere laufen lässt, ihm Hindernisse und Barrikaden in den Weg legt, ist Teil seiner Strategie. Künstlerische Vorstellungen des Regisseurs sind im Probenprozess demnach zwingend mit pädagogischen Überlegungen verknüpft, die den schauspielerischen Arbeitsprozess beeinflussen und steuern. In jeder Situation kann der Kontakt zum Spieler neu gestaltet, kann neu ab-

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gewogen werden, mit welcher Aufforderung, welchen Hilfsmitteln oder welcher Aktion die Suche nach theatraler Qualität verdichtet und intensiviert werden soll. Der bewusste Einsatz von spielerischen Verfahrensweisen, strategischem Geschick und die gezielten Interventionen, die eine spannungsvolle Eigendynamik des Geschehens verursachen, scheinen für eine fruchtbare Probe entscheidend. Gelingt es dem Regisseur, den Spieler zum Komplizen einer gemeinsamen Suche zu machen, kann eine gemeinsame Arbeitssprache generiert werden, die zu einem für beide Seiten spannungsreichen Inszenierungsprozess beiträgt. Folgt man diesem Gedankengang, wird deutlich, wie sehr pädagogische und künstlerische Aufgaben sich in der Probenpraxis überlagern und durchdringen, teilweise ununterscheidbar werden. Das sichtbare ästhetische Ereignis und die Vermittlung einer Praxisform sind in theatralen Gefügen inter- und transsubjektiver Natur. Hervor tritt aber auch, dass die Verantwortung für das Gelingen unzweifelhaft auf der Regieseite liegt und bereits bei der Konzeption der Proben beginnt. Die Notwendigkeit einer produktiven Verknüpfung von künstlerischen und pädagogischen Aspekten verschwistert die Theaterregie mit der Theaterpädagogik und leicht ließe sich demnach behaupten, dass es zwischen theaterpädagogischen Handlungsstrategien und Methoden der Regie keinen Unterschied gibt. Theoretisch abstützen könnte man eine solche Argumentationsfigur mit der strukturellen Gleichheit von Theater und Theaterpädagogik: In beiden Fällen findet ausgehend von einem Thema oder einem Text eine theatrale Form der Auseinandersetzung statt, die in der Veröffentlichung eines szenischen Geschehens vor Publikum münden soll. Als vermittelnde Instanz zwischen Darstellern und Inszenierung wäre der Theaterpädagoge dem Regisseur gleichgestellt und einer direkten, kritiklosen Übernahme von Regiestrategien in theaterpädagogische Praxis – und vice versa – stünde nichts im Weg. Die Behauptung von spezifisch theaterpädagogischen Handlungen und Haltungen wäre überflüssig. Problematisch wird die direkte Übertragung künstlerischer Produktionsweisen in das theaterpädagogische Feld tatsächlich erst, wenn die spezifische Qualität unterschiedlicher Vorgehensweisen zur Diskussion gestellt wird. Im Gegensatz zur Theaterregie ist im Fall der Theaterpädagogik der pädagogische Rahmen für das Produzieren offensichtlich und verlangt eine differenzierte Betrachtung des Flechtwerks aus Pädagogik und Theater. Allein die Tatsache, dass die Darsteller nicht über professionelles Schauspielhandwerk verfügen, verändert die Probenstruktur: Die Ausbildung von Darstellungsmitteln und die Suche nach Darstellungsregeln gehen in theaterpädagogischen Kontexten Hand in Hand; Eigenarten der Spieler werden aufgegriffen und in inhaltsadäquate Spielformen überführt; Erzählweisen werden gesucht, in welchen die Akteure ihre Erfahrungen und Imaginationen mit einer theatralen Idee verknüpfen und sichtbar machen können. Wenn der Theaterpädagoge dabei die Bühne auf die gleiche Art und Weise »in Brand setzt« wie der Regisseur, läuft

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der Spieler unter Umständen erschrocken davon und kehrt nicht wieder. Theaterpädagogische Arbeit schließt mit ein, ihm die Angst vor dem Feuer zu nehmen und nach Wegen zu suchen, die das Spiel mit den Flammen reizvoll machen. Um die Überschneidungen und Parallelitäten von pädagogischen und künstlerischen Aspekten der Praxis deutlich zu machen, werden im Folgenden die Termini Theaterpädagoge, Regisseur und Spielleiter synonym verwendet. Damit soll angezeigt werden, dass die spezifischen Ausgangslagen nur graduell voneinander abweichen und von Kontext zu Kontext variieren. Es geht weniger um begriffliche Separation als vielmehr darum, dass in allen Feldern der Theater- und Probenpraxis die fließenden Übergänge zwischen künstlerischen und pädagogischen Aufgabenbereichen von einer verantwortlichen Leitung wahrgenommen werden müssen. Nuanciert werden die beiden Bereiche Theaterpädagogik und Regie nur über die abweichend gewichteten Zielformulierungen: In der Regiearbeit ist das künstlerische Produkt wichtiger als die den Spielern ermöglichte Differenzerfahrung, in der Theaterpädagogik ist es umgekehrt. Die Arbeitsfelder abzugrenzen, ohne dass den darin agierenden Personen enge Handlungs- und Haltungsetiketten aufgedrückt werden, soll anzeigen, dass es durchaus Spielräume gibt, auch im Regiekontext den Darsteller ins Zentrum eigener Denkbewegungen zu rücken, wie in der Theaterpädagogik künstlerischen Impulse entschieden verfolgt und inszenatorisch gestaltet werden können. In Oidas anekdotischer Erinnerung fordert der Regisseur durch einen einzigen, alles ermöglichenden Satz den Schauspieler zum Handeln auf: »Mach es so, wie du denkst«, lautet die Zauberformel, mit der er auf den Spieler Einfluss nimmt. Betrachtet man diese Vorgabe aus didaktischem Blickwinkel, so scheint der Regisseur sich dem Schauspieler sorglos unterzuordnen und dessen darstellerischer Lösungskompetenz komplett zu vertrauen. Zuvor hat allerdings eine Präparation des Spielraums stattgefunden, denn »weder Stuhl noch Fußboden noch Tisch sind zu gebrauchen«. Der Regisseur hatte demnach seine Finger bereits im Spiel, bevor es überhaupt zu einer Begegnung in der Probensituation gekommen ist. Das Spielfeld wurde präpariert, um durch überraschende Zwischenfälle die dem Darsteller naheliegenden und vertrauten Lösungsstrategien zu durchkreuzen. Die Probe beginnt für den Regisseur also bereits vor der konkreten szenischen Interaktion mit den Darstellern. Sein Spiel mit vorgestellten Situationen und Interventionen ist Bestandteil der dann realisierten Interaktion. Unter Probe werden nachfolgend jene Arbeitsprozesse subsumiert, die direkten Einfluss auf das Interaktionsgefüge mit den Spielern nehmen. Ein Wesenszug für gelingende Proben ist aus dieser Perspektive das der situativen Praxis vorausgehende Spiel mit vorgestellten Vorgehensund Verfahrensweisen durch den Regisseur, Theaterpädagogen oder Spielleiter, ein Denkvorgang, der mögliche Spielangebote der Darsteller antizipiert und mit eigenen Spielzügen kombiniert. Dieses mit-spielende

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Denken wird hier als das Handwerk und als die Kunst der Theatervermittlung angesehen und steuert die Proben unter inszenatorischen Gesichtspunkten. Gezielte Manipulationen, Interventionen oder Interaktionen schaffen in der Theaterpädagogik wie in der Regie jeweils spezifische Bedingungen für den Suchprozess innerhalb der Probe. Theaterpädagogische Probenpraxis hat aber immer zu berücksichtigen, dass der künstlerischen Suche ein pädagogisches Anliegen beigestellt ist und der Probenverlauf an diese hybride Struktur angelehnt bleibt. In der Auseinandersetzung mit theatralen Prozessen, die die soziale Realität der Spieler aufgreifen und transformieren, »werden den Akteuren Differenzerfahrungen vermittelt, die neue Selbstwahrnehmungen stimulieren sollen« (Wartemann 2002; 158). Die künstlerische Praxis in pädagogischen Kontexten will Erfahrungen ermöglichen, die neue Sichtweisen auf das eigene Ich-Welt-Verhältnis erzeugen. Die ergebnisoffene Suche nach szenischen Lösungen ist daher zwingend mit einem erfahrungsoffenen, differenziellen Spielerlebnis zu kombinieren. Voraussetzung ist wiederum ein Denkprozess, der Probenstrategie und Spielpraxis miteinander in Beziehung setzt. Jeweils neu ist dabei zu überlegen, wie die aktuell anwesenden Spieler und deren Potenzial herausgefordert werden können. Der Theaterpädagoge muss über gezielte Vermittlungsformen und -ideen nachdenken, die das Spiel dieses Ensembles konzentrieren und der gemeinsamen Suche eine Intensität geben, die in theatralen Ereignissen zum Ausdruck kommt. Die Aufforderung an den Spieler »Mach es so, wie du denkst« kann aber auch im übertragenen Sinne gedeutet werden: Hier gibt der erfahrene, bewährte Regisseur seinem Schüler Oida die Zügel in die Hand und tritt bescheiden hinter eigenes Erfahrungswissen zurück. Nicht seine Strategie soll der Schüler kopieren, sondern eigene Entwürfe und Versuche wagen. Allerdings ist dabei im Auge zu behalten, dass sich etwas Außerordentliches für den Spieler und die Bühne ereignet, dass die Idee, an der Decke entlangzulaufen, Ausgangspunkt und treibende Kraft dieser Versuche ist. Das Spiel der Probe lässt sich nur mit eigenen Konzepten und Fantasien, einer individuellen PraxisHaltung spielen. Die konstante Dominante ist der subjektive Zugang, entscheidend das Auffinden des eigenen Wegs. Dieser sollte weder unüberlegt noch risikolos sein.

3 S PIELEN LEHREN Erhebt man das Spiel der Probe zur zentralen Instanz theaterpädagogischer Praxis, findet man in der Spieltheorie die notwendigen inhaltlichen Voraussetzungen für eine Didaktik der Theaterpädagogik. Zugleich ist es die Schnittstelle für deren methodische Klärung: »[...] zwischen dem Spiel und der Schauspielkunst findet die Theaterpädagogik ihren Ort, auf den sie ihr theoretisches Fundament bauen kann. Hier findet sie auch ihren praktischen und methodischen Ansatz [...]« (Hoffmann 2003; 110). Hentschels Leitidee ästhetischer Bildung wurzelt im Kern ebenfalls in den im

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Spiel zu lokalisierenden Erfahrungen, die konstitutiv für Subjektprozesse im Theaterkontext sind: »Erst die Bedingung, dass im Spiel eine eigenständige theatrale Wirklichkeit erzeugt wird, führt zu der Erfahrung des ›Dazwischenstehens‹« (Hentschel 1996; 244). Die Ambiguität der Spielerfahrung wird zum unentbehrlichen Motor für einen qualitativen Sprung in der Erfahrungswirklichkeit des Subjekts und setzt differenzielle Selbstbewegungen in Gang. Im Spiel der Probe muss der Theaterpädagoge »Erlebnisse provozieren, in Suchbewegungen verwickeln, zu Erfahrungen anstacheln, die in der Begegnung mit dem Gegenüber, mit Fremdheit und Andersartigkeit zu Differenzierungsvermögen veranlassen« (Seitz 1996; 62). Das Nachdenken über theaterpädagogische Fachdidaktik bewegt sich zwischen dem Theater als Gegenstand und dem Spiel als Basisstation des Handelns. In der Art des Lehrens in diesem Spannungsfeld manifestieren sich Bildungsanlässe. Die Werkzeuge des Theaterpädagogen in der Interaktion mit dem Darsteller beruhen im Wesentlichen auf unterschiedlichen Strategien, reizvolle Spielsituationen zu schaffen, und der Kompetenz, an den entscheidenden Stellen in die sich ereignenden Vorgänge verändernd eingreifen zu können. Hier offenbart sich der Kern des probendramaturgischen Handwerks, denn es »gehört zur Kunst des Arrangierens von Spielen, die Entgegensetzung der beteiligten Kräfte so zu regeln [...], dass der Ausgang so lange wie möglich offenbleibt« (Scheuerl 1990; Band 1; 205). Die Kunst des Theaterpädagogen bestünde nun darin, unvorhersehbare und überraschende theatrale Ereignisräume zu öffnen und so lange wie möglich in der Schwebe zu halten. Verfügt ein Theaterpädagoge über solide didaktisch-methodische Fertigkeiten der geschickten Hervorbringung und Verkettung von theatralen Spielen, kann er künstlerische und pädagogische Aspekte in der theaterpädagogischen Praxis für beide Seiten gewinnbringend vereinigen. Je gezielter und versierter er Spiele und Spielverläufe arrangieren, variieren und zu szenischen Vorgängen verdichten kann, desto ausgeprägter wird seine Kompetenz sein, den Spieler aus seinen Gewohnheiten herauszuholen und in neue Wahrnehmungsprozesse einzubinden. Existierende Ausführungen zur Vermittlungshaltung. Den Vermittlungsbesonderheiten des Spiels wird in der theaterpädagogischen Theorie bislang nur marginal Rechnung getragen. Wo lehr-lern-theoretische Implikationen der Vermittlung explizit gemacht werden, bleiben sie meist im Methodischen verhaftet und neigen dazu, pauschale Selbstverständlichkeiten als didaktische Begründungsfiguren anzubieten. Gabriele Czerny, deren Arbeit ein Phasenmodell für die Ausbildung von Theaterlehrern entwickelt und entsprechend methodisch akzentuiert ist, konkretisiert die didaktische Kompetenz immerhin in Richtung einer ästhetischen Grundhaltung, aus der heraus theatrale Wahrnehmungssituationen, die das Interesse der Schüler wecken und zum Austausch mit anderen anregen, zu inszenieren sind (vgl. Czerny 2004; 269). Ihr

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ansonsten sorgfältig dargelegtes Konzept lässt durch die idealtypischen Entwicklungsphasen im Rahmen von Inszenierungsprojekten allerdings wenig Spielraum für die didaktische Begründung nichtlinearer Probenprozesse, die durch die »eigene Spielfreude, Gestaltungsfähigkeit von Lernumgebungen, ästhetische Verantwortung und eine differenzierte Beobachtungsfähigkeit für die Gruppe« des Theaterpädagogen abgegolten ist (ebd.). Als Spielmotor dient in ihrer Argumentation allein die stoffliche Basis: »Der Stoff gibt den Rahmen für Spielimpulse, die die Spielenden aktivieren und herausfordern, ihre eigenen Sichtweisen nicht nur auszudrücken, sondern auch zu vertreten. Jedoch muss die TheaterlehrerIn sich die Offenheit bewahren, den Rahmen im Sinne der Spielenden zu dehnen und zu verändern« (ebd.). Auch Hans-Wolfgang Nickels Phasenmodell, das die spielerische Themenerkundung als wesentliche Komponente beinhaltet, schreibt dem Spielleiter in erster Linie eine ausgleichende Funktion zu, in der pädagogische Aspekte die künstlerischen dominieren. Seine Aufgabe besteht nach Nickel darin, während der Proben die Aufmerksamkeit auf die Mitspieler, das Stück und die zukünftigen Zuschauer zu richten, die Ansprüche aller Seiten immer wieder in eine Balance zu bringen, um schließlich das Gelingen der Aufführung zu garantieren (vgl. Nickel 1990; 25). Norma Köhlers Anliegen, eine Handlungsorientierung für den Spielleiter im Rahmen biografischer Theaterarbeit auszuarbeiten, führt zu einem tendenziell normativen Kompetenzkatalog von kommunikativen, motivationalen und sozialen Fertigkeiten, die danach streben, den Spieler als mündiges Gegenüber anzuerkennen und wertzuschätzen. Eine von den Eigengesetzlichkeiten des Spiels und Schauspielens getragene Selbstbewegung des Theaterpädagogen bleibt in dieser didaktischen Selbstverständigung allerdings aus (vgl. Köhler 2010). Jürgen Weintz, darum bemüht, Anforderungen an den Theaterpädagogen von jenen der Regie zu unterscheiden, verdoppelt durch die Art seiner Differenzierung ein dichotomes Denken, das eigentlich überholt sein sollte. Als verschiedenartig beschreibt er die beiden Berufsfelder aus folgenden Gründen: »Während sich im nicht-professionellen, pädagogischen Kontext der Spielleiter mit der Doppelaufgabe konfrontiert sieht, ästhetisch-künstlerische Problemstellungen zu lösen und zugleich psychosoziale Voraussetzungen und Folgen des Spiels zu bedenken, konzentriert sich der Regisseur im professionellen Theater vorwiegend auf die Realisierung (s)eines künstlerischen Konzeptes und ist an den persönlichen, gruppenbezogenen Begleitumständen der Probenarbeit in der Regel weniger interessiert« (Weintz 1998; 232). In der weiteren Ausführung unterscheidet Weintz zwischen Spielleitungskompetenzen in ästhetischer und psychosozialer Hinsicht, legt sowohl die regiehandwerklichen Aufgaben als auch den gruppen- und subjektbezogenen Verantwortungsbereich des Theaterpädagogen dar. Dass Weintz sich nachfolgend bezüglich der methodisch-didaktischen Kompetenz des Spielleiters dezidiert für die »Vermeidung von Extremen« und den »Wechsel von Methoden« ausspricht

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und kurz darauf die themenzentrierte Interaktion als Ideal repräsentiert, negiert den künstlerischen Zugriff auf das Spiel der Probe (vgl. ebd.; 366; Hervorhebung im Original). Er beschneidet damit ohne erkennbare Notwendigkeit den Handlungsspielraum des Theaterpädagogen innerhalb des Inszenierungsprozesses und ordnet Strategien und Verfahren künstlerischen Wahrnehmens und Gestaltens einer im Pädagogischen verhafteten Methode unter. Die Option, Inszenieren im theaterpädagogischen Kontext als einen Vorgang zu verstehen, der sowohl ästhetisch-künstlerische wie psychosoziale Entscheidungen beinhaltet und gerade deshalb methodisch vielfältig gelöst werden könnte – also auch mit ›Extremen‹ oder sehr beständigem, abwechslungsarmem Vorgehen –, schließt Weintz damit von vornherein aus. Modus des Spiels. Hält man an dem Spiel als Lerngegenstand und Lehrmodus fest, lassen sich didaktische Grundzüge theaterpädagogischer PraxisHaltungen skizzieren, die die Vermittlungstätigkeit schon in ihren allgemeinen Grundzügen anders charakterisieren als gemeinhin vorgenommen. Dorothea Hilliger gibt einen Hinweis auf die durch das Spiel bedingten Unwägbarkeiten innerhalb theaterpädagogischer Inszenierungspraxis, bei denen der Theaterpädagoge, gerade weil er »in die Suchbewegung nach einem künstlerischen Ausdruck eingeschlossen ist [...], ein methodisch-didaktisches Handwerkszeug (braucht), auf dessen Basis die Bewegung so vorangetrieben werden kann, dass notwendige Umwege und vielleicht sogar die ein oder andere Sackgasse Teil des kreativen Weges zur Ausdrucksfindung einer Gruppe werden« (Hilliger 2006; 10). Die pädagogische Haltung eines Theaterpädagogen in der Freiheit des Spiels anzusiedeln, entlastet zwar nicht von der Pflicht, ein solidarisches, emphatisches und demokratisches Miteinander zu erzeugen, erlaubt aber, die Machtverhältnisse zwischen Spielleiter und Spielgruppe neu auszutarieren. »Die Freiheit des Spiels ist nicht eine Freiheit der Spieltätigkeit, sondern eine Freiheit des Spielgeschehens«, vermerkt Hans Scheuerl und weist darauf hin, dass derjenige, der eine Spielaufgabe stellt, »nicht schrankenlos Herr (ist) über das, was er fordert« (Scheuerl 1990; Band 1; 191). Diese Sichtweise legt nahe, die Autorität des Theaterpädagogen an die Spielidee selbst abzugeben, die zwar fordern und herausfordernd gestellt sein muss, sobald aber »gespielt wird, ist nicht mehr er die Autorität, sondern das Spiel. Dieses ist niemals ›Bildungsmittel‹ in seiner Hand, sondern es ist ›Bildungswert‹, ›Kulturgut‹. Bildung durch Spiel gibt es nur als Bildung zum Spiel« (vgl. ebd.; 192; Hervorhebung im Original). Zielt man darauf ab, das Spiel als Spiel bildungswirksam zu machen, braucht es teilweise eine starke Führung, die nicht nur um die Spielbewegung der Spieler, sondern auch um die jeweilige Spielidee ringt. Die souveräne eigene Spielhaltung ist dabei ausschlaggebend, denn »gerade die Verknüpfung des Gegensätzlichen, der Entspanntheit des Feldes als Ganzen, der relativen Ausgrenzung aus dem gewöhnlichen Alltag und Lebenskampf einerseits, mit einer Spannung, die innerhalb dieses Fel-

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des nun geradezu gesucht wird, macht die Variationsbreite der Spiele und Spielhaltungen in unterschiedlichen Situationen und Kombinationsmöglichkeiten aus« (ebd.; Band 2; 196). Da die Souveränität der Spielhaltung gerade in der Freiheit für das Spielgeschehen liegt, darf der Theaterpädagoge dieses ambivalente Gleichgewicht nicht verlieren, das ihn zugleich bindet, obwohl es Festlegungen negiert. »Wieder stehen wir vor dem Faktum«, schreibt Scheuerl, »dass es auch angesichts der Inkongruenz von Binnen- und Außenspannung beim Spiel offenbar nicht nur eine einzige, vielleicht nicht einmal nur eine optimale Spielhaltung gibt, sondern dass man den Spielen, an denen man sich beteiligt oder die man für sich selber spielt, in einem breiten Spektrum verschiedener Haltungen und Einstellungen gegenübertreten kann« (ebd.; 197). Diesen Vermittlungsbesonderheiten hat theaterpädagogische Praxis Rechnung zu tragen. Sie können weder auf einer Basis allgemeingültiger Methoden noch in Form von spezifischen Verfahrensweisen gesichert werden. Da der Theaterpädagoge Teil der Rahmenbedingung jedes Spiels ist, kommt seine Spielhaltung nur zum Tragen, wenn er der eigenen Verausgabung und Selbstüberschreitung vertraut und spielend denkend in den Prozess des Produzierens eintritt. Vermittlung im Kontext Theater muss demzufolge, will sie »ihren ›Gegenstand‹ nicht verdinglichen [...], eine ihm ähnliche Logik annehmen« und »sich entsprechend selbst in Frage stellen, das heißt aufs Spiel setzen« können (Wetzel 2005; 15), ohne den spielerischen Charakter in Gänze zu unterlaufen. Die Praxis und der Prozess der Vermittlung sind demzufolge von einer systematischen Diskontinuität geprägt, die eine dem Spiel äquivalente, alogische Konfrontation der Materialien im heterogenen Feld der Spiel habenden Kräfte befördert. Obwohl solchermaßen unkalkulierbar, bleiben auch die Spielweisen der künstlerischen Praxis bezogen auf ein Geflecht aus Rahmen und Regeln, die im Verlauf der Praxis entworfen und entwickelt werden. Sie dienen der Einschränkung auf eine bestimmte Art von Spielzügen, die im Kontext anvisierter Darstellungs- und Erzeugungsstrategien liegen. »Spiele des Ästhetischen sind geregelt«, resümiert auch Tanja Wetzel und hebt die »geregelte Grenzüberschreitung« als Leitmotiv einer souveränen Vermittlung im Kontext ästhetischer Bildung hervor (vgl. ebd.; 249f.). Welche Grenzüberschreitungen die theatrale Praxis regeln, soll im Verlauf der Untersuchung herausgeschält werden.

4 D ARSTELLUNGSLOGIK Wurde in diesem ersten Kapitel in die Suche nach bildungswirksamen Interaktionen in theatralen Probenprozessen eingeführt, ist als Nächstes eine Auseinandersetzung mit didaktischen Wegmarken erforderlich, die der künstlerischen Praxis ein pädagogisches Fundament zur Seite stellen. Im zweiten Kapitel der Arbeit wird nach solchen didaktischen Wegmar-

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ken gefragt, die dem theaterpädagogischen Selbstverständnis eine Orientierung geben können. Anhand der exemplarischen Diskussion aktueller Überlegungen zum Bildungs- und Subjektverständnis wird vor diesem Hintergrund eine didaktische Positionsbestimmung vollzogen, die den gedanklichen Tiefenraum dieser Untersuchung absteckt. Sie bereitet zugleich den Transfer dieser Grundlagen in ein bildungstheoretisch fundiertes Lehr-Lern-Verständnis vor (Kapitel II.1). Die Kunstdidaktik mit ihrer Ausrichtung auf das produktive und reflexive Spiel mit Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungen bringt Differenzerfahrungen in einen spezifischen Sinnzusammenhang. Ihr Anliegen, ästhetische Erfahrungen zu vermitteln, verankert sie in einem Feld, in dem sich künstlerisches und pädagogisches Anliegen überschneiden. Die theaterpädagogische Argumentation muss ihr originäres Selbstverständnis mit den kunstpädagogischen Positionen abgleichen und kann zugleich das eigene fachdidaktische Profil im Austausch mit der Nachbardisziplin schärfen. Sie entgeht so der Gefahr vorschneller Inanspruchnahme bildungsrelevanter Praxis und verfügt über ein breiter abgesichertes Theoriefundament gemeinsamer ästhetischer und individueller theatraler Handlungs- und Begründungszusammenhänge. In den Passagen zur Kunstdidaktik (Kapitel II.2) werden diese Bezüge herausgestellt. Sie grundieren das Lehr-Lern-Verständis in ästhetischer Praxis. Das dritte Kapitel der Untersuchung wendet sich der bestehenden theaterpädagogischen Fachtheorie zu. Die besondere Aufmerksamkeit gilt hier dem »state of the art« didaktischer Positionen und den ihnen impliziten Haltungen zur Praxis. Im Rahmen der Analyse des vorhandenen Theorieangebots werden die Fragen der Vermittlung ästhetischer Bildung anhand theatraler Praxis bezüglich ihres Gehalts für eine fachdidaktische Lehr-Lern-Theorie erörtert. Es werden dabei sowohl der besondere Bildungsgehalt theatraler Praxis reflektiert als auch Interaktionsmöglichkeiten für die Prozesse des Produzierens. In einem ersten Schritt werden Bildungsspielräume beschrieben, die in Lehr-Lern-Prozessen eröffnet werden (Kapitel III.1). Von dort aus werden Handlungsspielräume im Rahmen von theaterpädagogischen Proben lokalisiert, die diese Bildungsräume öffnen. Anstatt auf einzelne methodische Modelle auszuweichen, wird die didaktische Substanz des Handelns eruiert, die das Rückgrat theaterpädagogischer PraxisHaltungen darstellt und von der aus unterschiedliche Verfahrensweisen für Bildungsprozesse im Medium Theater produktiv gemacht werden können (Kapitel III.2). Das Spiel als essenzielle Bezugsgröße für didaktische Konzeptionen wird im vierten Kapitel ausführlicher grundiert. Garantiert das Spiel, transformatorische Bildungsprozesse in ihrer Besonderheit zu befördern, sind eine theaterpädagogische Praxis und Theorie von dort aus zu entwerfen. Verfassung und Strukturmerkmale des Spiels darzulegen ist die Voraussetzung, um subjekttheoretische Implikationen des Spiels auszuweisen und Konsequenzen für Lehr-Lern-Situationen zu formulieren. Die phänomenologischen und strukturellen Aspekte einer handlungstheoretisch

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ausgerichteten Spieltheorie bieten den metatheoretischen Reflexionsrahmen für die Überprüfung theaterpädagogischer Handlungsstrategien. Eine didaktische Analyse darf entsprechend nicht dahinter zurückfallen. Daneben muss das Spiel als treibende Kraft für transformative Subjektprozesse im Kontext des Theaters konkretisiert und für Interaktionsprozesse der Vermittlung bewusst gemacht werden (Kapitel IV.1). Eine Bestimmungsform des Spiels, das Experiment der Kunst, gilt es genauer zu betrachten, da hier die Offenheit künstlerischer Suchprozesse mit spezifischen Bewegungsdynamiken bildungsrelevanter theatraler Praxis korreliert. Lehr-Lern-Konstellationen im Rahmen solcher experimenteller Prozesse bilden das Fundament für die Präzision geeigneter theaterpädagogischer Zugänge zur Dramaturgie des Probens (Kapitel IV.2). Ausgehend von dieser Verortung kann das Theater als Spielprozess im Hinblick auf theaterpädagogische Interaktionsfelder sondiert und es können Kategorien und Kriterien für die systematische Analyse von Proben gewonnen werden (Kapitel IV.3). Pluralisierung von Denk- und Handlungsansätzen, die Autonomieentwicklung der Theaterkunst und das Experiment als generatives Verfahren setzen die Behauptung von Allgemeinplätzen außer Kraft und verlangen dezidiert die Betrachtung von Einzelphänomenen. Im fünften Kapitel werden deshalb Probendokumente von George Tabori, Robert Wilson und Peter Brook für die Analyse von PraxisHaltungen herangezogen. Die in Laborsituationen entwickelte probendramaturgische Handschrift der drei Regisseure und ihr nachhaltiger Einfluss auf zeitgenössisches Theater und theaterpädagogische Überlegungen gewährleisten einerseits, dass bei ihnen das theatrale Spiel als Experiment betrieben wird. Andererseits sind bei Tabori, Wilson und Brook begleitende Praxistheorien Teil des zugänglichen Materials. In ihr kommt das einer Arbeitsmethode zugrunde liegende Gedankengebäude des Urhebers zum Ausdruck, sodass Praxistheorien bereits einen nachweisbaren didaktischen Ansatz enthalten. »An solchen Theorien«, befindet Ulrike  Hentschel, »kann der fachlich-sachliche Zusammenhang mit einer Didaktik des Darstellenden Spiels/Theaters hergestellt werden. Die didaktische ›Sachanalyse‹ müsste dann vom Erfahrungs- und Sachbezug der Künstlertheorien her gedacht werden« (Hentschel 2001; o. S.). In der Verbindung von Probendokumenten und Praxistheorien können nicht nur Handlungen reflektiert, sondern grundsätzliche Haltungen gegenüber der Inszenierungspraxis und den Darstellern deutlich werden, sodass der künstlerische Schaffensprozess phänomenologisch und hermeneutisch zugänglich wird (Kapitel V). Der Vorteil von so rekonstruierten Lehr-Lern-Kulturen könnte in dem Gewinn didaktischer Prinzipien liegen. Als diese würden sie gelten, sofern in ihren Grundsätzen ein Anspruch auf übersituative Geltung erkennbar ist und zugleich den jeweils unterschiedlichen Gegebenheiten konkreter Praxen genug Interpretationsspielraum gelassen wird, um didaktische Fantasie wirksam anzuregen (vgl. Heursen 1997; 25). Didaktische Prinzipien zielen darauf ab, über bestehende Vorstellungen zur Interaktion

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zwischen Theaterpädagogen und Spielern hinauszugehen, neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen und eigene Standpunkte zu reflektieren. Sie spiegeln grundlegende Strukturmomente des Unterrichts und gestatten eine offene Planung und situationsgebundene Entscheidungen (vgl. ebd.; 27f.). Eine systematisierte Vergleichsanalyse bietet die Chance, Handlungsorientierungen der Theaterpraxis in Reflexionsspielräume zu überführen. Praxistheorie und Theoriebildung greifen dabei ineinander, sie setzen Akzente für bildungswirksame Interaktionen, an denen sich didaktische Fantasie reiben kann. Eine Zusammenführung der Untersuchungsergebnisse soll diesem Anspruch nachkommen und didaktische Prinzipien als Resonanzräume für theaterpädagogische PraxisHaltungen und die Dramaturgie des Probens beschreiben (Kapitel VI). Zur Forschungslogik. Mit dem Anliegen, der »Kunst des Spiels, den Verfahren, es zu organisieren, vorzubereiten, in Szene zu setzen und zu spielen« im Kontext theaterpädagogischer Probenarbeit nachzugehen, leistet vorliegende Arbeit einen Beitrag zu einer »praktischen Theaterwissenschaft« (Kurzenberger 1998; 15). Mit Hans-Thies Lehmann kann man das »Theater als Paradigma ästhetischer Erfahrung« und die Bühne als den Ort behaupten, »an dem der Schiffbruch des Verstehens erfahren wird« (Lehmann 1994; 427, 431). Diesem Umstand, so Lehmann, wird nur eine Kunst des Nichtverstehens gerecht, die auch in der Theorie über Kunst die Relativität des Verstehens fortzusetzen sich verpflichtet (vgl. ebd.). Der wissenschaftliche Umgang mit künstlerischer Praxis ist entsprechend problematisch, soll Wissenschaft doch ein Verstehen befördern, das auf gültigen Erkenntnissen fußt. Wie kann die von Lehmann formulierte »Relativität des Verstehens« für wissenschaftliche Zusammenhänge näher erläutert werden? Verstehen im Kontext von Kunst und Ästhetik wird schon bei Theodor W. Adorno zu einer problematischen Kategorie. In seiner ›ästhetischen Theorie‹ wendet sich Adorno gegen ein der kantschen Vernunft oder der freudschen Analyse verpflichtetes Denkmodell, um theoretische Aspekte von Kunst und Kunstschaffen auszuloten. Schwierigkeiten im Reden über Kunst liegen seiner Ansicht nach in deren Rätselcharakter begründet. Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt er den »Rätselcharakter unter dem Aspekt der Sprache« (Adorno 1970; 182). Diskurse im Feld der Kunst müssen sich davor hüten, deren spezifische Eigenart in allgemeingültige Bestimmungen zu zerlegen. Dennoch hält Adorno an einem Verstehensversuch fest, mit der Einschränkung, dass dieser den Rätselcharakter nicht auslöscht, sondern ihn in der Auflösung zugleich erhält gegenüber einem nur verständnisvoll in der Kunst sich bewegenden Verstehen, welches diese zu etwas Selbstverständlichem macht und ihr damit nicht entspricht (vgl. ebd.; 185). Statt festzulegen, was Kunst oder künstlerische Praxis allgemeingültig definiert, kann nach Zugängen gesucht werden, die die Komplexität der Vorgänge zur Anschauung bringt, »indem sie den Rätselcharakter konkreti-

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siert« (ebd.). Wenn entsprechend kunstpädagogisches Handeln generell nur in Form des Rätsels angemessen dargelegt werden kann, bleibt ein eklatantes Vakuum: Vermittlung wird zur Kunst und gleichzeitig zum Mysterium, für das es – außer im künstlerischen Denken selbst – keine produktiven Lösungsstrategien gibt. Vermittlungshandeln im kunstpädagogischen Kontext ist aber notwendig auf Transparenz angewiesen, um eine fachliche Selbstverständigung zu ermöglichen und didaktische Reflexionen handlungsrelevant werden zu lassen. Eine Lösung, die sowohl der künstlerischen Praxis als auch der pädagogischen Verständigung über dieselbe entgegenkommt, liegt in dem Verzicht von normativen Setzungen und verlangt stattdessen den Versuch, Auffälligkeiten der Praxis zu erkennen und Besonderheiten des Handelns zu exemplifizieren. Im Verbund mit einer fragenden Reflexion, die die Spielbewegung des Denkens offenlegt und Inseln der Verknüpfung von Praxiswissen und Wissenspraxis schafft, können sinnstiftende Bezüge hergestellt und das Nachdenken über mögliches Handeln, mögliche PraxisHaltungen transparent gemacht werden. Performative Forschungsorientierung. Ein jüngerer Forschungsfokus, der von Teilen der Erziehungswissenschaften protegiert wird und der qualitativen Bildungsforschung zuzurechnen ist, verschiebt den Blickwinkel in Richtung performativer Prozesse. Für den dargelegten Untersuchungskontext ist die dort postulierte Absicht, »Prozesse der Interaktion und dramaturgische Handlungsvollzüge sowie die Körperlichkeit und Materialität von Gemeinschaften und pädagogischen Prozessen in den Mittelpunkt zu rücken« (vgl. Wulf/Zirfas 2007; 9), ein Anknüpfungspunkt. Ohne streng induktiv oder deduktiv vorzugehen, orientiert sich die an phänomenologischen und hermeneutischen Vorgehensweisen ausgerichtete Methode an der Erschließung von Handlungsmustern. »Eine performative Sichtweise«, so Christoph Wulf und Jörg Zirfas, »verwirft eine allgemeine und totale Methode und Lesart von Realität zugunsten einer relativierenden, den Kontexten angepassten Interpretation, die eine Pluralität von ideomatischen Gesten und kontextuierenden Phänomenologien zeitigt« (ebd.). In der Forschungspraxis soll nach beobachtbaren Regelmäßigkeiten gesucht werden, die dann allerdings nicht auf eine Begründung oder ein Prinzip rückgeführt werden sollen, sondern mögliche PraxisHaltungen in einem spielenden Denken entlang der beobachteten Phänomene bündeln und beschreiben. »Die Perspektive des Performativen rückt die Inszenierungsund Aufführungspraktiken sozialen bzw. pädagogischen Handelns, deren wirklichkeitskonstituierende Prozesse sowie den Zusammenhang von körperlichem und sprachlichem Handeln, Macht und Kreativität in den Mittelpunkt. Mit der Idee, Prozesse der Interaktion und dramaturgische Sprach- und Handlungsvollzüge sowie Körperlichkeit und Materialität der Erziehungs- und Bildungssituation in den Mittelpunkt zu rücken, fokussiert der Blickwinkel des Performativen auf Rahmung, Szenarien, mimetische Zirkulationsformen, (theatrale) Präsentationspraktiken und

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Darstellungssituationen« (ebd.; 10). Die dem pädagogischen Handeln eingeschriebene Komplexität soll auf diesem Weg deutlicher berücksichtigt werden. Die performative Forschung erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern sucht bewusst nach möglichen Lesarten der Handlungspraxis, die aus veränderten Blickwinkeln neue Konstellationen zum Vorschein bringen. Die Ergebnisse sind entsprechend von diesen Blickwinkeln geprägt: Sie bleiben Konstruktionen über die Wirklichkeit und das tatsächliche Handeln im Untersuchungsfeld. In einer performativen Bildungsprozesstheorie kommt es in Folge zu einem Orientierungswechsel, denn anstelle von Qualifikationsprofilen und entsprechenden Funktionalisierungen wird der Bildungsbegriff an körper- und sozialreferenzielle Subjektstrukturen angebunden: »Wir verwenden [...] den Begriff der Bildung in einem erweiterten Sinne, der das reflexive Potential der traditionellen Bestimmung des Begriffs beibehält, aber Bildungsprozesse nicht nur als kognitive und evaluative, sondern auch als körperliche und soziale Vollzüge versteht« (ebd.; 11f.).4 Nicht was Bildung ist und wie sie hervorgerufen werden kann, besetzt das engere 4 | Wo diese erweiterte Perspektive auf Begriffe selbst angewandt wird, droht den einigermaßen klar umrissenen Verständigungsparametern eine jähe Entdifferenzierung. So wird beispielsweise von den Autoren das Verständnis ästhetischer Bildung sehr weit gefasst: »Sie umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der Bildung durch kulturelle Aktivitäten und Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst und Kultur und die Reflexion künstlerischer und kultureller Prozesse und Resultate. Damit sind diverse, recht unterschiedliche Sachverhalte angesprochen« (ebd.; 29). Für die Betonung der »Veränderung« innerhalb von Selbst-, Sozial- und Weltverhältnissen scheint mir eine Öffnung des in der Forschung tragfähigen Bildungsbegriffs in Richtung auf Lern- und Handlungsprozesse schlüssig. Wird der Modus ästhetischer Bildung in dieser Breite veranschlagt – was ja durchaus zulässig und für viele Praxisfelder einsichtig ist –, geht er nahtlos in Bereiche kultureller Bildung über. Eine weitere Abgrenzung gegenüber dem skizzierten performativen Forschungsansatz soll für die vorliegende Studie geltend gemacht werden: Der alltagsmetaphorische Gebrauch von theaternahen Begriffen, wie es in der Theatralitätsdiskussion üblich ist und auch innerhalb einer Didaktik exemplarisch in der »Inszenierung« oder »Dramaturgie« des Unterrichts praktiziert wird, ist für eine Anwendung im Untersuchungsfeld Theater einzugrenzen, um nicht mit begrifflicher Unschärfe zu operieren. So wird an dieser Stelle nach »Inszenierung« und »Dramaturgie« in Vermittlungsprozessen gefragt, werden Herstellungsprozesse auf dieser Folie beobachtet, ohne von einer bereits existierenden Notwendigkeit dessen auszugehen. Man könnte auch sagen: Gerade weil jeder Unterricht und jede Vermittlung bereits inszenatorische Entscheidungen beherbergen, ist nach deren Qualität zu fragen – allerdings innerhalb eines theatralen Prozesses und nicht allgemeingültig für Interaktionen im pädagogischen Kontext. Die Vokabeln dürfen hier nicht als Allgemeinplätze missverstanden werden, sie unterstehen vielmehr einem konkreten historisch und kunstspezifisch gewachsenen Diskurs.

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Fragefeld, sondern wie bildend gearbeitet werden kann, welche performativen Vollzüge sich im Handeln in bildender Absicht zeigen und zu welchen Ergebnissen – verstanden als beobachtbare Veränderungen – sie führen. Prononciert man das Anliegen der performativen Forschungsorientierung dahingehend, dass es weniger darum geht, »was eine (pädagogische) Handlung bedeutet und von welchen Intentionen, Hoffnungen oder Befürchtungen sie getragen ist, noch darum, was eine Handlung eigentlich ist, als vielmehr darum, was sie zeigt, wie sie sich vollzieht, wie sie in die Wirklichkeit eingreift und diese verändert und welche Spuren und Konsequenzen sie hinterlässt« (ebd.; 31; Hervorhebung im Original), und verdichtet diese Anliegen in eine Suche nach »Ereignissen der Konzentration« (ebd.; 33), die es in ihrem Kontext zu verstehen gilt, »einem Kontext, der von diesem Ereignis zugleich überschritten wird« (ebd.), lehnt sich der vorliegende Versuch daran an. Diese Forschungshaltung impliziert zum einen die Verwendung qualitativer Methoden, zum anderen können die Ergebnisse konkrete Handlungsspielräume nur spekulativ vorentwerfen und im gedanklichen Experiment erweitern (vgl. Merkens 2004; 615f.). Lesbarkeit und Nutzen der Erkenntnisse für die Praxis hängen deshalb entscheidend vom Respons des Lesers dieser Untersuchung ab, der die Gedanken selbstständig reflektieren und in Verbindung mit seiner Fantasie zur Evaluation eigener PraxisHaltungen nutzen muss. Mit Paul Klees Vorbemerkung zum Motiv und Beweggrund seiner Vorlesungen über die Formenlehre in der Kunst soll die Haltung der Autorin deutlich werden, die sie sich auch für den Leser wünscht. Er sagt: »Wir machen keine Analyse von Werken, die wir kopieren möchten oder denen wir misstrauen. Wir untersuchen die Wege, die ein anderer bei Schaffen seines Werkes ging, um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen. [...] Wir werden durch solche Übungen uns davor bewahren können, uns an Werkresultate heranzuschleichen, um schnell das vorderste abzupflücken und damit wegzulaufen. Nach diesen Vorüberlegungen beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim Punkt, der sich in Bewegung setzt« (Klee 1921; 13).

5 S PIELEND DENKEN I Spielen und Denken sind zwei Tätigkeiten, die den Theaterpädagogen ständig begleiten. Er  denkt sich neue Spiele aus, greift spielend in das theatrale Denken ein und denkt über Spielereignisse nach. Er spielt denkend mit. Er denkt spielend mit. Er braucht Bedenkzeit für Gedankenspiele, den nächsten Schritt, dramaturgische Arrangements. Theaterpädagogik ist ein Denkspiel im Hochleistungsbereich. Das Denken kreist in der Regel um Spiele und Spielereien, die das berufliche Handeln gestaltet, Gedanken, die der nächsten Probe, der Inszenierung Gestalt geben können. Diese beiden Angelpunkte der Theaterpädagogik haben, so meine

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Behauptung, einen gemeinsamen Aufhänger: Denken und Spielen sind über das Motiv des suchenden Befragens verkoppelt. Die Ungewissheit, wo das Spiel ebenso wie das Denken hinführt, Momente der Spannung und der Neugier, die den Theaterpädagogen fordern, auffordern zu handeln – oder eben nicht zu handeln, sondern auszuhalten, abzuwarten, zuzulassen –, führen immer in einen krisenhaften Zustand. Sein Titel: »Was tun?«, wahlweise auch »Wie weiter?«. Exemplarisch erlebt der Theaterpädagoge solche Momente der Krise innerhalb von Probensituationen, in denen ein Spielprozess sich nur schleppend entfaltet oder womöglich gar nicht erst in Gang kommt. Soll er nun schnell auf die Bühne springen und etwas Dynamik in den Raum bringen? Oder wäre es diesmal besser, den eingeschlagenen Weg abzubrechen und eine neue Spielidee vorzuschlagen? Manchmal kann es ja lohnend sein, sich in der Beobachterposition zu gedulden. Aber wann ist dieses ›Manchmal‹ – und was ist es jetzt? In der Regel verfolgen ihn weitere Fragen, übergeordnete Denk- und Spielnotwendigkeiten. Denn mit welchen Strategien lässt sich ein turbulentes Treiben, das Chaos auf der Bühne, steuern oder verdichten? Wo soll er ansetzen, um einem Dialog eine andere Färbung und Substanz zu geben? Wann gilt es, die Inhalte des Spiels zu vertiefen, wann, bereits gefundene Darstellungsmöglichkeiten zu präzisieren? Und wie bringt der Theaterpädagoge eine Gruppe von 20 Menschen dazu, sich miteinander auf eine individuelle Suche zu machen? Von der Konzeption eines Workshops oder einer Inszenierung über die Planung und Durchführung der Proben bis hin zur letzten Aufführung, dem Kursabschluss oder dem gemeinsamen Try-out gehören solche Fragen als treibende Kraft zum professionellen Alltag der Theatervermittlung. So vorläufig Antworten und Lösungsansätze in der Praxis jeweils sein mögen, sie führen zu einer je eigenen Dynamik des Geschehens, die einflussreich ist für die Spieler und das Arbeitsergebnis. Der Einfluss des Theaterpädagogen setzt sich fort in der Suche nach geeigneten Improvisationsaufgaben, Erzählweisen und Darstellungsformen bis hin zu der dramaturgischen Konzeption einer Unterrichtsstunde oder einer abendfüllenden Inszenierung. Lösungen und Entscheidungen können mal mehr pädagogisch motiviert sein, mal stärker künstlerischen Notwendigkeiten folgen. Beide Aspekte müssen immer wieder in ein Wechselspiel gebracht werden, das sie aufeinander bezieht und miteinander verkreuzt. Knüpft der Theaterpädagoge daraus spielend und denkend ein tragfähiges, flexibles Netz, können krisenhafte Situationen zwar nicht verhindert, aber Krisenfestigkeit erworben werden.

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II Didaktische Wegmarken

Die Didaktik als der »Lehrkunst« zugeordnetes Reflektieren über Unterrichts- und Vermittlungspraxis scheint schon von der Begrifflichkeit her geeignet, die fragilen Zusammenhänge künstlerischer und pädagogischer Lehr-Lern-Situationen behutsam zu durchleuchten.1 Zum Einstieg in das Untersuchungsfeld gilt die Aufmerksamkeit der didaktischen Perspektivbildung, denn »wer sich ohne Umschweife auf die Frage nach dem Wie? konzentriert«, so Wolfgang Schulz, »verdrängt, dass die Frage nach dem Wie? nicht angemessen zu beantworten ist, wenn nicht andere Fragen vorher gestellt worden sind, wie diese: Was soll denn im Unterricht vermittelt werden? Warum gerade das? Was ist daran so wichtig? Warum? Was kann Lernenden daran wichtig sein? Was bedeutet es den Lehrenden? Was können sie daran, was nicht so gut? Aus der Zielvorstellung ergäben sich viele Anregungen für das methodische Vorgehen! Eine komplexere Sichtweise hülfe auch bei der Wegfindung« (Schulz 1996; 90; Hervorhebung im Original). Ausgehend von Strömungen innerhalb der allgemeinen Didaktik werden übergeordnete Legitimationsstrategien im Sinne wegweisender Forschungstopoi für theaterpädagogische PraxisHaltungen eruiert (Kapitel II.1). Wenn in der Kunstpädagogik Didaktik auf »Ansteckung« gerichtet ist, an der sich »so eine Art Brand entzünden soll«, der den Menschen auch gefährden, ihm wehtun oder ihn verbrennen kann (vgl. Kamper 1993; 44), sind Lehr-Lern-Situationen und Handlungsweisen, die von einem pädagogisch abgesicherten Gelände abweichen, Teil solcher Geschehnisse. Die Didaktik führt in diesen Fällen einmal mehr zu einer »paradoxalen Situation«, denn »sie ist der Ort des Austausches zwischen Diskursinseln, nicht nur wie in unserem Fall zwischen Kunst und Pädagogik, sondern immer auch zwischen Lehrenden und Lernenden« (Pazzini 2005; 20). Die Passagen zur Kunstdidaktik knüpfen an die allgemeine Didaktik an 1 | Als »Lehrkunst« kann ein Didaktikverständnis im Sinne J. A. Comenius’ fortgesetzt werden, dessen Überlegungen sich dadurch auszeichneten, dass sie die vielfältigen Erscheinungen und Voraussetzungen des Lehrens und Lernens ansprachen (vgl. Heursen 2004; 307).

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und heben erste fachdidaktische Besonderheiten Kunst vermittelnder Interaktionen hervor (Kapitel II.2). Die didaktischen Wegmarken sind in diesem Sinne darauf gerichtet, Haltung(en) zur Praxis als wichtigste Basis für theaterpädagogisches Handeln auszubilden und Handlungsreflexion theoretisch zu exponieren. In der Konzentration auf ein Bildungs- und Subjektverständnis sollen didaktische Haltungen als Teil der Beziehungsarbeit in Lehr-Lern-Prozessen für den Bildungsauftrag der Theaterpädagogik mitteilbar gemacht werden.

1 F ORSCHUNGSTOPOI Als derjenige, der theatrale Praxis initiiert, anleitet und ihre Qualität verantwortet, steht der Theaterpädagoge vor der Herausforderung, ästhetische Bildungsprozesse anzuregen. Für das Gelingen dieser Aufgabe sind didaktisches Denken und die kritische Reflexion eigenen Handelns unabdingbar. Eine immer wieder neu zu leistende Selbstverständigung über Zielsetzungen und Vorgehensweisen in der praktischen Arbeit bildet die Basis für bewusste Entscheidungen und erfordert die Distanznahme zu dem unmittelbaren Handeln in der konkreten Probe. In der didaktischen Reflexion müssen pädagogische und künstlerische Intentionen miteinander verhandelt und gesammelte Erfahrungen unter der Folie des damit Erreichten evaluiert werden. Finden diese Reflexionsflächen keinen Raum, verödet die Praxis in mechanischer Anwendung stereotyper Methoden oder in beliebigen Handlungschoreografien eines Theaterpädagogen und die Bildungsrelevanz von Probenprozessen wird zum Vabanquespiel. Verortet man die Theaterpädagogik im Kontext ästhetischer Praxis,2 sind einige Vorüberlegungen angebracht, die den Status und das Verständnis der Disziplin klären, deren Ziele und Vermittlungsanliegen transparent machen und ein schlüssiges Lehr-Lern-Verständnis situieren. Status und Verständnis der Disziplin. Will man die Theaterpädagogik weder auf ein bestehendes methodisches Repertoire oder gar eine favorisierte Methode reduzieren noch in ihr ein Instrumentarium zur Ausbildung von Sekundärtugenden sehen, ist eine eigenständige pädagogische Positionsbestimmung für fachdidaktische Überlegungen unerlässlich. Geht man davon aus, dass methodische und instrumentelle Verkürzungen die künstlerischen Eigengesetzlichkeiten des Theaters untergraben, deutet alles darauf hin, dass theaterpädagogische Praxis zu arglos behaupteten 2 | Ästhetische Praxis macht Prozesse einer vollzugsorientierten Sinneswahrnehmung zum Ausgangspunkt für ebendiese Weisen der Selbst- und Weltwahrnehmung. Sie kann sich deshalb gegenüber anderen Funktionalisierungen indifferent verhalten (vgl. Seel 1993; 400). Andere Kontexte theaterpädagogischer Praxis wären zum Beispiel Fremdsprachenunterricht oder Therapie, die theaterpädagogische Elemente für nicht im ästhetischen Feld liegende Zielsetzung nutzen.

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Lernfunktionen in einem Widerspruch steht. Die Vereinnahmungen der Theaterpädagogik für gezielten Kompetenzerwerb beinhalten eine eklatante Kurzsichtigkeit, denn »eine instrumentalisierende, Kunst heruntervermittelnde und pädagogisierende Sicht auf Theater beschneidet unweigerlich dessen Potential, entmündigt das Gegenüber und bringt die Disziplin in Verruf« (dramaturgie Heft 2/2005; 3). Nur mahnend an den künstlerischen Eigenwert theatraler Praxis zu appellieren übergeht indessen deren Gegenpart, denn die Theaterpädagogik als kunstpädagogische Disziplin will mehr als nur künstlerische Arbeitsprozesse simulieren. Sie will bei den Beteiligten ästhetische Erfahrungen im Medium der Kunst initiieren und Selbstbildungsprozesse anregen (vgl. Hentschel 1996). Ein unreflektiertes Imitieren künstlerischer Praxis verläuft sich somit gefährlich schnell in wirkungslosen Arbeitsstrategien, die weder den Spielern noch anderen Beteiligten Zugänge zur Kunst öffnen – im schlimmsten Falle sogar die Neugier und Offenheit für einen Umgang damit verschließen. Zu fragen ist, wie der Drahtseilakt zwischen Kunst und Pädagogik konstruktiv bewältigt werden kann und welche theaterpädagogischen Handlungsstrategien unter didaktischen Gesichtspunkten sinnvoll erscheinen. Voraussetzung dafür ist die Einordnung der Theaterpädagogik in den Horizont und die Strömungen einer allgemeinen Didaktik (Kapitel II.1.1). Ziele und Vermittlungsanliegen. Auf der Suche nach Erfolg versprechenden Vermittlungswegen für ästhetische Bildung wird in theaterpädagogischen Theorien einerseits die Analyse von Vorgängen im spielenden Subjekt zum Dreh- und Angelpunkt für eine Bestimmung bildungsrelevanter theatraler Situationen, andererseits stehen künstlerische Verfahrensweisen und die ihnen immanenten Subjektbildungspotenziale im Mittelpunkt. Ist in der Theaterpädagogik das Theater der Gegenstand und das spielende Subjekt der Adressat von Vermittlungsprozessen, stellt sich die Frage, wie in diesem Konglomerat bildungsspezifisch gehandelt werden kann. Im Gegensatz zu den theaterwissenschaftlichen Definitionen des theatralen Gefüges3 ist die Theaterpädagogik auf eine Gegenstandsbe3 | Handlungstheoretische, zeichentheoretische oder rollentheoretische Definitionen des theatralen Gefüges, wie die Theaterwissenschaften sie anwenden, akzentuieren Kommunikationsprozesse zwischen Bühne und Zuschauerraum und dienen in der Regel der Theorie und Analyse von Inszenierungen. Selbst der in der Theaterwissenschaft prominente ›performative turn‹ richtet sein Augenmerk auf die ›Feedbackschlaufe‹ zwischen Zuschauer und Schauspieler und versucht Darstellungs- und Erzeugungsstrategien in Aufführungssituationen zu begutachten. Die inter- und intrasubjektiven Vorgänge und Vollzüge des darstellerischen, spielerischen Handelns der Akteure werden im Rahmen solcher definitorischer Setzungen nicht abgebildet (vgl. Fischer-Lichte 1983; Fischer-Lichte 2004; Bentley 1964; Brauneck 1998; Kotte 2005).

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schreibung angewiesen, die den Spieler ins Zentrum rückt. Die besondere Aufmerksamkeit für inter- und intrasubjektive Prozesse in theatralen Verfahren und schauspielerischem Handeln prägt das Theaterverständnis im pädagogischen Kontext. Je genauer aufgezeigt ist, welche Arten von Lern-, Erfahrungs- und Bildungsprozessen durch das Theaterspielen angestrebt und ausgelöst werden sollen, desto klarer lässt sich für das Vermittlungsanliegen ein Subjektbegriff formulieren, der das zugrunde liegende Menschenbild umreißt und mit der Prozesshaftigkeit theatraler Bildung vernäht. Da beide Komponenten, das Bildungsverständnis und der Subjektbegriff, keine statischen Bezugsgrößen darstellen, sondern von dem permanenten Wandel unserer Vorstellungen davon und deren inhaltlicher Charakterisierung begleitet sind, geht die Evaluierung didaktischer Denkweisen einher mit der immer wieder neu zu leistenden kritischen Reflexion elementarer Begründungszusammenhänge, denn nicht nur konkrete Praxiszugänge verändern sich, »sondern auch die politischen und bildungstheoretischen Legitimationen unseres Tuns sind unter dem Einfluss veränderter bildungstheoretischer Diskurse neu zu befragen« (Hentschel/Pinkert 2008; 22). Um Zielbestimmungen und Vermittlungsanliegen der Theaterpädagogik vor dem Hintergrund aktueller Begründungszusammenhänge vorzunehmen, ist als weitere didaktische Wegmarke dem Bildungsverständnis (Kapitel II.1.2) und der damit korrespondierenden Subjektvorstellung nachzugehen (Kapitel II.1.3). Lehr-Lern-Verständnis. Durch die Zielvorgabe ästhetischer Erfahrung und Bildung stellt die Theaterpädagogik das Theater in einen pädagogischen Funktionszusammenhang. Alle Beteuerungen der Eigengesetzlichkeiten theatraler Praxis können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Theaterspielen in der Theaterpädagogik auf das Subjekt nachhaltig wirken, es verändern soll. Gleichzeitig gründet das theaterpädagogische Credo auf der Überzeugung, dass Theater wirkt, indem es Theater ist. In der Vermittlungsverantwortung steckt der Theaterpädagoge zwangsweise in einer Ambivalenz, in der Ziele und Prozesse sich überschneiden, ohne ineinander aufzugehen. Dieser ambivalenten Haltung wäre nur zu entkommen, wenn nichts weiter angestrebt wird, als Theater zu machen – egal in welcher Form und mit welchen Implikationen. Die Freiheit der Kunst wiederum wird gebrochen durch den edukativen Prozess, der in Gang gesetzt werden will. Theaterpädagogische Praxis erfordert, dass beide Seiten gleichberechtigt miteinander ins Spiel treten und die Qualität dieser Verbindung gesichert werden kann. Wo und wie positioniert man in diesem Widerspruch ein stringentes Lehr-Lern-Verständnis? Eine fachdidaktische Untersuchung, die das Zusammenspiel von Theaterpädagogen und Spielern diskutieren und qualifizieren will, muss eine Ausgangsbasis definieren, von der aus Interaktionen und Interventionen in theaterpädagogischen Kontexten theoretisch abgestützt und

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begründet werden können. Ausgewählte Vermittlungstheorien sollen helfen, Handeln in theatralen Situationen unter lehr-lern-theoretischen Blickwinkeln zu thematisieren und zukunftsfähige Entwürfe theaterpädagogischer Lehre zu entwickeln (Kapitel II.1.4). Zusammenfassung. Die folgenden Forschungstopoi grenzen den Untersuchungsrahmen ein und machen deutlich, wo die Schwerpunkte dieser Arbeit verortet werden. Referenzen in der allgemeinen Didaktik und die Ausdifferenzierung in fachdidaktische Problemlagen bilden den ersten Topos (Kapitel II.1.1). Anschließend werden Bildungsverständnis und der Subjektbegriff dargelegt, sodass der gedankliche Kontext bildungstheoretisch lokalisiert werden kann (Kapitel II.1.2 und II.1.3). Im letzten Kapitel wird eine Auslegeordnung zum Verständnis der Vermittlungstätigkeit in kunstpädagogischen Zusammenhängen vorgenommen. Ein allgemeines Lehrverständnis wird begrifflich fundiert und die Bedingungen von LehrLern-Prozessen werden offengelegt (Kapitel II.1.4).4 Ausgehend von den drei genannten Forschungstopoi wird ein didaktisches Skript in Form von Passagen zur Fachdidaktik skizziert (Kapitel II.2), das eine Einordnung und Bewertung theaterpädagogischer Fachtheorie ermöglicht (Kapitel III).

1.1 Didaktik Der Terminus Didaktik gilt als ein schillernder Begriff, der dem Kunstcharakter des Lehrens ein theoretisches Äquivalent bietet. Sprachlich verweist er auf das vielschichtige Feld von Lehr-Lern-Zusammenhängen und ihrer wissenschaftlichen Reflexion: Die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Worts didáskein umfasst sowohl die aktive wie die passive Lernbewegung, Lernen und Unterrichten sind ebenso gemeint wie der Vorgang des Lehrens oder Unterrichtetwerdens. Als Technik wie als Medium führt die Didaktik weg von einem rein funktionalen Lehr-Lern-Verständnis und verweist auf die Interferenzen zwischen Gegenstand, Subjekt und Vermittlung (vgl. Heursen 2004; 307). Der didaktische Diskurs schafft darüber hinaus einen Abstand zur unmittelbaren Handlungs- und Entscheidungsnotwendigkeit der Praxis sowie der Prozessstruktur des Unterrichts. Didaktik erschließt sich dabei weniger anhand von Theorien als vielmehr über das »Theoretisieren der Praxis«, die jeder Unterrichts4 | In aller Ausführlichkeit eine vergleichende Analyse didaktischer Ansätze, herrschender Bildungs- und Subjektbegriffe und wirksamer Lehr-Lern-Verständnisse vorzunehmen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Dies führt zwangsläufig zu einer holzschnittartigen Positionsbestimmung der hier vorangestellten Forschungstopoi. Ein Verständnis für die Beschaffenheit und Veränderbarkeit von Vermittlungshandeln herzustellen setzt aber voraus, dass der Gebrauch dieser Vokabeln – die immer zeitgeschichtlich konnotierte, theoretische Konstrukte bleiben – vorab bestimmt wird.

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situation ein spezifisches »theoretisches Äquivalent« einschreibt und deshalb »nur aus einem prinzipiell experimentellen Verhalten zu begreifen« ist (Heimann, zit.n. Otto 1995; 20). Durch die Loslösung von der alltäglichen Situation kann in der Didaktik ein erweitertes Nachdenken über Motive und Ziele des Handelns in Lehr-Lern-Situationen und entsprechende Vorgehensweisen erfolgen, das sich dem vorschnellen Erstellen von rein anwendungsorientierten Arbeitsleitfäden entzieht. Mit Wolfgang Schulz darf analog das Denken über didaktische Prozesse verstanden werden als »inneres Handeln zur Verbesserung des äußeren Handelns«, in dem dank »kritischer Distanznahme« die »eigene Disziplin tiefer zu verstehen« ist (Schulz 1996; 12ff.). Didaktische Theorien befragen Einstellungen und Überzeugungen, suchen nach den Bedeutungen von Handlungsweisen der Praxis, statt Unterrichtskonzepte und Lehrtechniken aufzulisten; sie bieten idealerweise fundierte Denkmodelle über die Praxis. Allgemeine Didaktik. In der allgemeinen Didaktik, die sich mit den allgemeinen Prinzipien und Strukturmomenten von Lehr-Lern-Prozessen befasst, werden drei traditionelle Strömungen unterschieden: bildungstheoretische, lehrtheoretische und kommunikative Didaktik (vgl. Terhart 2008). Bildungstheoretische Ansätze gehen von der bildenden Begegnung zwischen Lehrgegenstand und Schüler aus und fokussieren Unterrichtsprozesse, in denen es »um die Anbahnung von Bildung durch Begegnung der jungen Menschen mit Kultur« geht (vgl. ebd.; 15; Hervorhebung im Original). Der Vermittlungsakt wird zu einer »moralisch-praktischen Kunst des Lehrens«, deren übergeordnetes Ziel in der Entwicklung von »Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit« liegt (vgl.  ebd.). Über das Bildungspostulat bekommen Lehr-Lern-Prozesse eine zentrale, sinnstiftende Kategorie und Unterricht wird »mit der Entwicklung des Einzelnen wie mit der Weiterentwicklung von Kultur und Gesellschaft verbunden« (vgl. ebd.; 17). In der lehrtheoretischen Didaktik stehen die Analyse und Planung von Lehrprozessen im Vordergrund. Die Unterrichtsgestaltung wird anhand der Interdependenzen von vier Faktoren (Ziele, Inhalte, Methoden und Medien) betrachtet, deren Wirkungsweisen in der Planung berücksichtigt und wissenschaftlich nachgewiesen werden sollen. »Unterricht«, so die kritische Einschätzung Ewald Terharts, »ist dann nicht länger bildende Begegnung wie bei der bildungstheoretischen Didaktik, sondern zweckrationale und erfolgskontrollierte Organisation von Lehr-Lern-Prozessen« (ebd.; 16). In der kommunikativen Didaktik stehen die sozialen Interaktionen im Vordergrund, in die »die Beteiligten ihre je persönlichen Vorerfahrungen, Sichtweisen und Definitionen einbringen« (ebd.; 20). Die gesuchte Etablierung einer herrschaftsfreien, symmetrischen Kommunikation im Klassenzimmer geht auf die emanzipatorischen Ansätze der 1970er-Jahre zurück und hat auf der Ebene der Praxis einen »bunten Strauß von

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Methodismen und methodischen Gestaltungsformen« zum Explodieren gebracht, den theoretischen Ansatz aber nicht weiter fundiert; die »zentrale Frage, warum Schüler was lernen sollen, wird durch eine Hypertrophie des Methodischen stillgestellt« (ebd.; 20; Hervorhebung im Original). Im Vergleich dieser drei traditionellen didaktischen Ansätze wird deutlich, dass nur in der bildungstheoretischen Didaktik Lerngegenstand und -inhalt sowohl aus der Sicht des Lehrens als auch hinsichtlich des kulturellen Bildungsgedankens prominent positioniert werden. Die reduktionistische Perspektive auf Organisationsformen des Lehrens oder den Aspekt sozialer Interaktion vernachlässigt jeweils den Kontext gesellschaftlich relevanter Bildungsziele zugunsten von operativen Beschreibungen und Modellen von Unterrichtspraxis. Didaktische Positionsbestimmung. Will man in theatralen Produktionsprozessen die der Vermittlungstätigkeit immanente Bildungsoption untersuchen – und darin liegt das Bestreben vorliegender Arbeit – und Qualitätskriterien für Interaktionen zwischen Gegenstand, Theaterpädagoge und Spieler hinsichtlich ihres Bildungswerts evaluieren, verspricht die Anknüpfung an die Tradition bildungstheoretischer Didaktik am deutlichsten eine gewinnbringende Orientierung. Für eine solche Ausrichtung bieten auch neuere didaktische Konzepte keine Alternative, da hier entweder konstruktivistische Modelle die Verbindung zwischen Lehren und Lernen entkoppeln, die Unterrichtstätigkeit über dem Interesse für biografische Bildungsgänge vernachlässigen oder die hirnphysiologischen Erkenntnisse einseitig in eine neurodidaktische Lerntheorie transformieren (vgl. ebd.; 22ff.). Die Komplexität von Bildungsprozessen in Situationen der Vermittlung, die Inhalte und Interaktionen, Lernen und Lehren miteinander hervorbringt, kann nur in der Verknüpfung eines bildungstheoretischen Ansatzes mit dem Augenmerk auf besondere Lehr-LernKonstellationen innerhalb von Praxisreflexionen gewährleistet werden. Welche Implikationen sind theaterpädagogischem Handeln aber unter der Zielvorgabe von Bildung heute eingeschrieben? Wo wird die Anbahnung der Begegnung junger Menschen mit Kultur auf wissenschaftlicher Ebene begreifbar? Mit der Festlegung auf eine bildungstheoretische Didaktik stellt sich die Frage, wie der Bildungsbegriff aktuell gefüllt und unterfüttert wird. In einem nächsten Schritt ist zu klären, von welchem Bildungsverständnis ausgegangen wird und welche Prozesse in der Vermittlung hierfür von qualitativer Bedeutung sind.

1.2 Bildung Landläufig werden unter Bildung all jene Aktivitäten und Ergebnisse subsumiert, die der Mensch in der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen und kulturellen Gütern gewinnt und die seinen Horizont erweitern. Gesellschaftliche und individuelle Entwicklung sind von solchen Bildungsprozessen abhängig, denn »die Gesellschaft reicht die kulturellen

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Güter, die sie erzeugt hat und in denen sie sich repräsentiert, als Bildungsgüter den Individuen zu. So entsteht, vermittelt über das Bildungswesen, ein Kreislauf, mittels dessen die Gesellschaft sich den Nachwuchs assimiliert, wodurch sie sich zugleich erneuert« (Schwenk 2004; 219). Damit einher geht die Notwendigkeit, Bildung vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Umstände immer wieder neu zu reflektieren und Bildungsaufträge für die nachwachsende Generation zu reformulieren.5 Da diese jeweils in Auseinandersetzung mit der überlieferten Kultur zu einer eigenen Lebensform und neuen gesellschaftlichen Selbstverständnissen finden muss, markieren »Bildungsprozesse die Sollbruchstellen bei der  Weitergabe einer Kultur« (vgl.  Peukert 1998; 17). Die konfliktreiche Beziehung zwischen Individuen und der jeweiligen Gesellschaft führt entsprechend zu Erfahrungen der Entfremdung, in der die aktuell gelebte Kultur widersprüchlich erscheint und nach Transformationen gesellschaftlicher Strukturen und individueller Selbst- und Weltbilder verlangt. In solchen Neuordnungen von Selbst- und Wirklichkeitsverhältnissen bedeuten Bildungsprozesse »immer Dekonstruktion, Rekonstruktion und Neukonstruktion zugleich, und zwar aus der Lebensperspektive von Individuen, die mit der Perspektive von Gruppen und von ganzen Gesellschaften verschränkt ist« (ebd.). Im Unterschied zum Lernbegriff, der ebenso erfahrungsbezogen koloriert, aber stärker auf Veränderung individueller Wahrnehmungs-, Deutungs- und Symbolisierungsweisen ausgerichtet ist (vgl. Weidenmann 2004; 996), entwirft und modifiziert der Bildungsbegriff das Subjekt in seiner Konstellation zu Welt und Gesellschaft neu. »Diese Auffassung schließt ein«, so Rainer Kokemohr, »dass ein Bildungsprozess ›Subjekt‹ und ›Welt‹ in ihrer je gegebenen symbolisch typisierenden Konfiguration aufbricht und anders refiguriert. Dieser  Bildungsbegriff«, heißt es bei ihm weiter, »hat den Vorteil, das Krisenhafte von Bildungsprozessen in den Blick zu bringen und das grundsätzlich Prekäre eines jeden Welt- und 5 | Die Frage, was Bildung wirklich ist und welche Bildungsinhalte dauerhaft gültig sind, stößt insofern ins Leere, als beides sich direkten, anthropologischen Begründungsversuchen entzieht (vgl. Schwenk 2004; 218). »Infolgedessen ist die Bildungsarbeit des Bildungswesens beständig in Gefahr, die Menschen gerade in ihrem ureigensten Streben nach ›Bildung‹ zu verfehlen; denn dieses Bildungsstreben lässt sich aus der Natur des Begriffes heraus nur als prinzipiell unkalkulierbar verstehen, ist nur annäherungsweise identifizierbar« (ebd.). Zudem entzieht sich das Subjekt im Rahmen von Bildungsveranstaltungen immer wieder dem Versuch, den politisch-ökonomisch vorgegebenen Bildungsanforderungen unkritisch zu entsprechen, und setzt den Objektivierungsansprüchen subjektiver Bildungsprozesse Widerstand entgegen. In einem pädagogischen Bildungsbegriff wird dieser Grundkonflikt auch durch die Erinnerung bewahrt, »dass der Mensch dem Menschen nicht voll verfügbar ist, nicht einmal sich selbst« (ebd.; 220f.). Für den hier dargelegten Untersuchungskontext wird, in Übereinstimmung mit Schwenk, die anthropologische Fundierung des Bildungsbegriffs für wenig produktiv gehalten.

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Selbstverhältnisses gegenwärtig zu halten« (Kokemohr 2007; 16). Bildung wird damit zu einem Prozess, der abhängig von zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen ist, in die das Individuum sich verstrickt. Ohne das gegenwärtige Bedingungsgefüge im Einzelnen nachzuzeichnen, sollen wesentliche Komponenten der Neubestimmung des Bildungsbegriffs den didaktischen Horizont der vorliegenden Untersuchung bildungstheoretisch umreißen. Aktualisiert und an die gegenwärtige Situation angepasst wird das Bildungsverständnis unter anderem durch den Bildungstheoretiker Helmut Peukert, der die Erfahrung der Kontingenz und den Aspekt der Differenz im Rahmen transformatorischer Prozesse der Begegnung und Anbahnungen junger Menschen mit Gegenwartskultur fokussiert. Seine Perspektive wird punktuell ergänzt um weitere Referenzen, welche die Differenzerfahrung auf den gleichen Grundlagen bildungs- und subjekttheoretisch präzisieren. Bildung als Kontingenzerfahrung. Davon ausgehend, dass in der gegenwärtigen Situation die modernen Wissenschaften, die kapitalistische Marktwirtschaft und der demokratische Verfassungsstaat drei zentrale Bereiche darstellen, die von Widersprüchen und Ambivalenzen für unsere kulturelle Weiterentwicklung gekennzeichnet sind und die nachwachsende Generation mit einer neuen Fülle an Herausforderungen konfrontieren, in denen das Überleben der Kultur ihnen als ungesichert entgegentritt, spricht Peukert von einer elementaren Kontingenzerfahrung des Subjekts. Diesen Status der Ungewissheit setzt er in Analogie zu der damit einhergehenden inneren Verfassung des Subjekts: »Die nachwachsende Generation steht jedoch nicht nur in Bezug auf die Bewahrung der Natur und in Bezug auf die Neuorganisation einer globalen Gesellschaft vor Aufgaben wie keine Generation vor ihr. Auch die Aufgabe der Konstruktion ihrer inneren Welt, des Erwerbs eines individuellen Selbstverständnisses hat neue Dimensionen. Es geht darum, als ein Selbst zu existieren, das angesichts radikaler Kontingenz- und Widerspruchserfahrungen nicht in sich zerfällt, sondern fähig ist, die Belastung durch globale Probleme, die in den Alltag hineinreichen, nicht zu verdrängen, sondern auszuhalten und sogar produktiv und gemeinsam mit anderen nach Lösungen zu suchen« (Peukert 1998; 22). Verschärft und verstärkt wird diese Bildungsaufgabe durch die zunehmende Pluralisierung und Relativierung von Wirklichkeitskonstruktionen in den Wissenschaften, die in der Erfahrung der Partikularität und Beliebigkeit des eigenen kulturellen Hintergrunds individuelle Lebensform zum Zufallsprodukt machen, das Züge der Absurdität enthält (vgl. ebd.; 23f.). Die eigene Existenz wird als vertraut und zugleich fremd erfahren, sie oszilliert in der alltäglichen Kommunikation wie in den Reflexionen der Wissenschaften zwischen einem subjektiven und einem objektivierenden Blick auf das vermeinte Selbst, das keine stabilen Orientierungssysteme mehr zur sicheren Verfügung hat. »Die Erfahrung, dass nicht nur die sich beschleunigenden dilemmatischen Handlungssysteme moderner Gesellschaften sich selbst bedrohen«, formuliert

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Peukert, »sondern dass auch geschichtlich erarbeitete kulturelle Hintergrundorientierungen ihre Selbstverständlichkeit ebenso verlieren wie die verfügbaren Sprachen der Wirklichkeitsinterpretation ihre innere Konsistenz und dass die Selbsterfahrung des Subjekts ebenso wie die Wahrnehmung des anderen zwischen Vertrautheit und Fremdheit schwankt, schafft neuartige Bedingungen für Entwicklungs- und Bildungsprozesse und damit zugleich auch theoretisch eine neue Situation« (ebd.; 24). Die Selbstverortung in einer solchen Kultur kann nur vorübergehend stabil erlebt werden, sie bleibt ein permanenter Findungs- und Erfindungsprozess eines möglichen Selbst, das immer nur relativ erscheint. Vor dem Hintergrund dieser Kontingenzerfahrungen werden allgemeingültige Bildungsinhalte und Kulturentwicklung unkalkulierbar, verliert die ausgleichende Synthese von gesellschaftlich Abstraktem und subjektiv Konkretem ihre verlässliche Zielbestimmung. Bildung als Differenzerfahrung. »Die Differenz konstituiert das, was sowohl an der Fremdheit als fremd als auch an der Andersartigkeit als andersartig wahrgenommen werden kann und was diese erst hervorbringt« (Maset 1995; 122). Bleibt das Fremde immer ein »allgemeines Phänomen der Fremdheit« und damit an die Vorstellung derselben gebunden (vgl. ebd.), lässt die Andersartigkeit sich in drei strukturell differente Bereiche untergliedern: die Erfahrung der eigenen Individualität, des Gegenübers und der Unerreichbarkeit einer stabilen Identität. Jeder Mensch stellt in seiner Individualität ein »schlechthin Anderes, das als Anderes anerkannt werden will«, dar (vgl. Peukert 1998; 24). Er ist in dieser Andersheit wahrzunehmen und zu schützen und zugleich verletzlich und zerstörbar. Um Individualität anzuerkennen, muss die Andersartigkeit geachtet und gefördert werden und zugleich in Kommunikation und Austausch mit dem wiederum Anderen treten. Die Erfahrung der Differenz setzt in dieser Begegnung ein, denn »was die Menschen verbindet, ist ihre Unterschiedlichkeit und die Unmöglichkeit, einem identischen Exemplar der Gattung zu begegnen« (vgl. Maset 1995; 124f.; Hervorhebung im Original). Dem eigenen Anderen Spielräume zu öffnen, in denen Differenzen entfaltet werden können, anstatt sie zu reduzieren oder zu vereinheitlichen, ist für ein Bildungspostulat, das die Differenzerfahrung als notwendige Voraussetzung zur kulturellen Weiterentwicklung anerkennen und stärken will, unabdingbar. Das Erfahren der eigenen Differenz ist damit zwingend gebunden an die Wahrnehmung und Anerkennung des Anderen, des Gegenübers: »Das Andere ist das, von dem ich konkret wissen kann, dessen Seinshorizont ich wahrnehme, aber nicht durchdringe, es ist gegenüber, in oder neben mir« (ebd.; 122). Indem der differenzielle Gehalt dieses Anderen mitsamt seinen Besonderheiten in den Blick gerückt wird, kommen eigene Differenzen zu Bewusstsein und stehen zur Disposition. Voraussetzungen hierzu sind die radikale Akzeptanz des differenten Anderen und der Versuch der Verständigung mit diesem. Dieser  Austausch kann im

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Sinne Derridas als différance verstanden und erfahren werden, die eine komplexe, evasive Bewegung eigener Logik und Dynamik in Gang setzt (vgl. ebd.; 131f.), deren Spiel um Unterscheidungen und Verschiebungen der Differenzen weder ein fixierbares Ziel noch ein hierarchisches Zentrum hat. Der Prozess der wechselseitigen Wahrnehmung und Bezugnahme erlaubt und erfordert transformatorische Interaktionsprozesse in einem Gefüge von Selbst und Welt, in dem der »Vollzug der unbedingten wechselseitigen Anerkennung von Freiheit [...] ein vorher nicht mögliches Selbstverhältnis und Verhältnis zum anderen auf einem neuen Niveau erlaubt« (vgl. Peukert 1998; 26). In der Gegenüberstellung von eigener und anderer Differenz werden Bildungsprozesse zu einem Perpetuum mobile, dessen spielerische Dynamik nicht stillgestellt werden darf. »Sich zu sich selbst verhalten heißt deshalb, sich gleichzeitig zu dem Anderen zu verhalten, der mich immer schon beansprucht, meine Konstruktion durchbrochen und mich auf meine Freiheit und meine Fähigkeit zur Transformation von Strukturen meiner selbst und meiner Wirklichkeitskonstruktion angesprochen hat« (ebd.; 27). Selbstbildung findet in Folge statt, wenn Sichtweisen und Einstellungen des eigenen In-der-WeltSeins neu differenziert werden oder die Stabilität gefundener Relationen als vorübergehend erlebt wird. Die Ausbildung eigener Identität wird zu einem zukunftsoffenen, unabschließbaren Prozess: »Identität gibt es nur als Fiktion«, so Mollenhauer, »diese Fiktion aber ist eine notwendige Bedingung des Bildungsprozesses, denn nur durch sie bleibt er in Gang. Identität ist eine Fiktion, weil mein Verhältnis zu meinem Selbstbild in die Zukunft hinein offen, weil das Selbstbild ein riskanter Entwurf meiner selbst ist« (Mollenhauer 2003; 158; Hervorhebung im Original). Die temporäre Auflösung einer nur vermeinten Identität entkräftet bestehende Gewohnheiten, Sichtweisen und Wahrnehmungskonfigurationen und macht selbstreflexive Gegenüberstellungen möglich wie notwendig. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Nichtidentität führt in Folge zu Differenzerfahrungen, wenn das mir entgegnete/begegnete Bild meiner selbst bzw. meines Selbst aufgrund dieser Konfrontation nicht mehr in seine alte Form zurückfinden kann oder will. Wenn aber jedes Subjekt immer schon in einer Beziehung mit der es umgebenden Welt steht, die auf der dialektischen Erfahrung gründet, der Welt gegenüberzustehen, Teil von ihr zu sein und sie mit zu produzieren, stellt sich die Frage, wie der fundamentale Kern, die Subjektvorstellung, begrifflich genauer gefasst werden kann. Mit dem Überschreiten der Vorstellung eines autonomen Subjekts verliert Bildung den Charakter solitärer, individueller Leistung und wird zu einem Interaktionsprozess, der aus der Subjektperspektive näher zu bestimmen ist.

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1.3 Subjektverständnis 6 Der theaterpädagogische Diskurs stellt bevorzugt den nichtprofessionellen Darsteller in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses und fragt nach Wirkungsweisen theatraler Arbeit. Diese sind immer auf ein Subjekt gerichtet. Da das dargelegte Grundverständnis von Bildung zurückgreift auf eine Definition, die Bildung versteht als eine neue Qualität in der Relation eigener Selbst- und Weltverhältnisse, werden nachfolgend die strukturellen Verwobenheiten des Subjekts mit dieser Welt in den Vordergrund gestellt. Sie manifestieren sich zum einen über den Körper, der als vermittelnde Instanz zwischen Subjekt und Welt fungiert. Zum anderen ist die soziale Dimension der Subjektkonstitution hervorzuheben, die die eigene ›Andersheit‹ in der Begegnung und Interaktion mit dem Anderen erst wahrnehm- und verhandelbar macht. Die Referenzen auf den Körper und die Sozialität des Subjekts greifen zugleich zwei wesentliche Aspekte des Verkörperns auf, in denen theatrale Prozesse ansetzen und bildungsrelevant werden können. Vorangestellt wird ein Grundverständnis zur strukturellen Verfassung des Subjekts, das das Fundament für die anschließenden Erörterungen bildet. Ich beziehe mich dabei in einem ersten Schritt auf eine Subjekttheorie, die die Kontingenz- und Differenzerfahrungen subjekttheoretisch fundiert (Maset). Für die Darlegung der körpergebundenen Subjektstruktur nutze ich das Theoriefundament von Kubitza, der Plessners körperlich 6 | Wohl wissend, dass jeder Mensch eine Individualität darstellt, ist die wissenschaftliche Neugier groß, die Wesenhaftigkeit des Menschen und seine Funktionsweisen immer weiter aufzudecken. Je nach Disziplin wechselt die Sicht auf dieses vermeintlich komplexe Gebilde, wobei anthropologische, psychologische, soziologische, philosophische oder hirnphysiologische Forschungsergebnisse in die angrenzenden Wissensgebiete Eingang finden und dort neue Denkmodelle und Praxiskonzepte generieren. In diesen Diskussionen lösen Denktraditionen einander ab, liegen parallel oder quer zueinander, überlagern und durchkreuzen sich. Auch innerhalb der Pädagogik verändert sich das Subjektverständnis durch erweiterte Erkenntnisse und neue Überzeugungen, die sich in Theorie und Praxis niederschlagen. Aktuell beeinflussen die pädagogische Debatte beispielsweise Ergebnisse aus Hirnforschung und Neurologie, die sich im Austausch mit den Geistes- und Sozialwissenschaften versprechen, Erkenntnisse zu bündeln, neue zu sortieren und nutzbar zu machen (vgl. u.a. Herrmann 2009). Sie lassen aber auch Einschränkungen erkennen und erzeugen durch ihren Forschungsgegenstand eine bestimmte Sicht auf das Subjekt, das als Funktionsorganismus Lernprozessen dienstbar gemacht werden soll. Dieses Phänomen kann in dieser Arbeit nicht differenziert geklärt werden. Rückwirkungen dieser Forschungsparadigmen sind aber durchaus auch in den angrenzenden Disziplinen beobachtbar. Entscheidend ist in jedem Fall, ob die Erkenntnisse aus den Nachbardisziplinen nur deduktiv angewendet werden oder induktive Suchbewegungen auslösen, die Neues in der eigenen Disziplin entdecken können.

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verwurzeltes Subjektverständnis aus bildungstheoretischer Perspektive erweitert und den Anderen als soziale Notwendigkeit für Subjektbildungsprozesse in das Denksystem integriert. Die soziale Subjektstruktur wird dort angelegt und um Martin Seels und Pierre Bourdieus Perspektive auf die Frage nach dem Wesen der Selbstbestimmung ergänzt. Das Anliegen, bildungs- und subjekttheoretische Ausgangslagen zur Deckung zu bringen, führt in den folgenden Abschnitten zwangsläufig zu einigen inhaltlichen Überschneidungen, die der Verschränkung von Bildungs- und Subjektprozessen geschuldet sind. Subjektstruktur. Jüngere Bildungstheorien (Koller 2007; Kubitza 2005; Peukert 1998; Maset 1995) stimmen in der Auffassung überein, dass das Subjekt nicht nur als Veränderbares verstanden werden muss, sondern ebenso ein nach innen wie außen unabgeschlossenes, bewegliches Gebilde darstellt. Anstelle der Annahme eines mit sich selbst identischen und stabilen Subjekts tritt die Überzeugung, dass das Subjekt nicht als autonome Instanz zu denken ist. Es lässt sich am ehesten in Form einer »modalen Konstellation von Mannigfaltigkeiten« verstehen, die weder stillgestellt noch abschließend ergründet werden kann, denn das Subjekt nimmt, so die Behauptung, fortwährend »neue Inhalte und Formen an, tauscht sich aus und begibt sich in immer neue Vielheiten« (vgl. Maset 1995; 56). Maset entwickelt den zentralen Gedanken solch eines Subjektbegriffs an der Spaltung und Gespaltenheit des Subjekts, die prinzipiell anerkannt und bejaht werden muss, um in der Differenz wahrgenommen werden zu können (vgl. ebd.).7 Ausgehend von Mead, der das Subjekt zwischen den Kategorien von ›me‹ und ›I‹ ansiedelt, kann dieser Differenzierungsprozess fundiert werden: In der Dynamik dieses Zwischenraums ist das Subjekt nur mehr als widersprüchliches Konstrukt zu denken, das weder in unmittelbaren Selbstwahrnehmungen (›me‹) noch allein in reflexiven Ich-Aussagen (›I‹) angemessen erfahren und erfasst werden kann. Der Versuch, diese beiden Aspekte übereinanderzulegen, bringt die ambivalente Gespaltenheit des Subjekts zu Bewusstsein. Deutlich wird die darin enthaltene Absage an tradierte Vorstellungen von Authentizität oder Identität, die in der Theaterpädagogik über lange Zeit eine entscheidende Rolle gespielt haben und als zentrale Begründungsmodi herangezogen wurden. Die Prozessdynamik der Subjektstruktur unterläuft aber gerade jene dauerhafte Kohärenz und fraglose Übereinstimmung eines ›Ichs‹ mit ›sich‹ und findet und erfährt erst innerhalb des gespaltenen Verhältnisses von ›Ich‹ und ›Selbst‹ seine konstitutive Differenz.8 7 | Dieses Subjektverständnis wird im Dekonstruktivismus ausführlich thematisiert. Derrida spricht explizit von einer différance, die allen von Menschen erdachten Weltkonstruktionen eingeschrieben ist und in jeglicher Festschreibung als auflösende Kraft wirksam wird (vgl. Derrida 1989). 8 | Pierangelo Maset verdeutlicht am Beispiel einer Bildbetrachtung das Ineinander von Affektion und Perzeption: »Ich sehe ein Bild und werde ein anderer. Beim

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Körpergebundene Subjektstruktur. Helmuth Plessners Überlegungen zu einer philosophischen Anthropologie des Menschen basieren auf analogen Grundannahmen über die allgemeine Subjektstruktur, er erweitert den analytischen Blick auf das Subjekt aber um die Dimension des Körpers. In seiner Schrift zur »Anthropologie der Sinne« kritisiert er am meadschen Modell die Dominanz kognitiver Strukturen und behauptet eine eigenständige, leibliche Erfahrungsebene (vgl. Plessner 1980). Diese führt unmittelbar zu einer Spaltung, da der Körper/Leib zugleich Subjekt und Objekt meiner selbst ist.9 In dieser Verschränkung von Innen und Außen wurzelt die Gebrochenheit des Menschen und das eigene Körper-Sein stellt sich dem Menschen als unlösbarer Konflikt dar (vgl. ebd.; 369f.). Plessner fügt also der Differenz von ›Ich‹ und ›Selbst‹ die leibliche Ambivalenz des Körper-Seins und Körper-Habens hinzu, mit der eine erweiterte Verschränkung der Erfahrungsebenen des Subjekts und seiner Verknüpfung mit der Außenwelt konstituiert ist. Die leibliche Verfasstheit des Menschen durch die Doppelstruktur von Körper-Sein und Körper-Haben, wie Plessner sie annimmt, hat zur Folge, dass dem wahrnehmend-reflektorischen Vermögen ein darstellend-verkörpernder Aspekt hinzugefügt wird. Subjektbildung. Insbesondere für den bildungstheoretischen Kontext ist es ratsam, die dynamische Subjektstruktur mit den beiden zentralen Strukturmerkmalen des Subjekts, seine Spaltung in eine potenziell unendliche Vielheit divergierender Teile sowie die Matrix von Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, genauer zu spezifizieren: Unterscheidet man analytisch zwischen Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, können Erfahrungsprozesse auf beiden Ebenen Voraussetzung und Auslöser für Um- oder Neucodierungen des Selbst-Welt-Verhältnisses schaffen. Auf der Ebene der Selbstwahrnehmung, die »in konkreten Lebensvollzügen verwurzelt ist« (vgl. Liebau/Klepacki/Zirfas 2009; 133), sind überraschende und unerwartete Sinneseindrücke im Rahmen eigener Handlungsvollzüge sowie körperlicher und sozialer Interaktionen die Triebfeder für mögliche Bildungsprozesse. Eine solche Wahrnehmungsintensivierung, die Handlungsimpulse zur Folge hat, kann hier schleichend oder plötzlich die Umorganisation eigenen Verhaltens in der Welt provozieren. Dies nächsten Betrachten desselben Bildes (in einer anderen Zeit) sehe ich dieses Bild als ein anderes, weil ich mich verändert habe. Und dann bin ich wieder ein anderer und sehe das Bild verändert. Und ich sehe mich im Bild und sehe das Andere als und durch das Bild. Und damit vervollständige ich mich. Das ist Initiation von Bildung mit und durch die Differenz« (Maset 1995; 56f.; Hervorhebung im Original). 9 | Plessner macht diese ambivalente Zweiseitigkeit deutlich: »Mein Leib in seinen Grenzen ist mir unmittelbar gegeben: ich kann ihn bewegen, und ich empfinde ihn. Beide Daseinsweisen schließen aber [...] die Wahrnehmung meines Leibes als eines körperlichen Dinges mit ein« (Plessner 1980; 330).

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sind Veränderungen, die man mehr spürt als einzuordnen vermag und in denen internalisierte Handlungs- und Verhaltensmuster bisheriger Alltagspraxis allmählich aufgelöst werden oder plötzlich verschwinden, ohne dass zu Bewusstsein kommt, wodurch. Ein solcherart verwandeltes Selbstverhältnis lässt sich nur rückblickend verbalisieren und auf seinen Gehalt für die Subjektbildung hin evaluieren. Auf der Ebene der Selbstreflexion wird die dialektische Verschränkung mit der Welt zum Thema, hier findet eine kognitive Auseinandersetzung statt, die eine aktiv vollzogene Distanznahme zum unmittelbaren Selbst voraussetzt. Reflexive Prozesse gehen einher mit dem Vermögen der Distanznahme zu internalisierten Selbstbildern und der erlebten Differenz. Sie sind zeitlich nachgeordnete Wahrnehmungsreflexionen und in der Lage, disparate, unkoordinierte und unkontrollierte Sinneseindrücke sinnstiftend neu zu verknüpfen. Da beide Prozesse unabgeschlossene und andauernde Modi der Begegnung mit dem Anderen darstellen, ist das Verhältnis zu sich selbst in permanentem Wandel und zerfällt immer wieder neu in potenziell unendlich viele Teile. Verkörperung als Bildungsprinzip. Kubitzas Plessner-Rezeption greift dessen körperbasierte Subjektvorstellung auf und spricht von einer Verkörperung als Bildungsprinzip, wodurch er sie mit dem Bildungsanspruch der Pädagogik kombiniert (vgl. Kubitza 2005; 287). Den Anhaltspunkt entnimmt er Plessners Argumentation, dass der Mensch sich zu dem, was er schon ist, erst machen müsse (vgl. ebd.). In der Fortsetzung dieses Gedankengangs spezifiziert er Plessners Begriff der Verkörperung: Einerseits ist die Verkörperung ein Modus der Objektivierung, denn es gilt immer, ›etwas‹ zu verkörpern; andererseits beinhalten Verkörperungen stets Subjektivierungsprozesse, da man stets ›sich‹ durch die Verkörperung zum Ausdruck bringt. »Indem jemand etwas verkörpert«, so Plessner, »verkörpert er gleichzeitig sich selbst«, und andererseits ist »Leibhaftigkeit [...] nicht einfach Körper-Sein, sondern immer auch Körper-Haben, das heißt ein Verhalten der Verkörperung zur Verkörperung, ein in Handlung, Sprache und Gestaltung Körper gewinnendes Verhalten zu ihm und seinen Gegenständen« (zit.n. Kubitza 2005; 238 und 282). Durch das Prinzip der leiblichen Verkörperung verfügt der Mensch wahrnehmend über sich selbst und wird dabei für Andere sichtbares Konstrukt. Diese »exzentrische Positionalität« des Menschen macht Subjektivität zu einer Verschränkung von Positionen des Innen und Außen, einem »Ineinander von geistigen und körperlich-sinnlichen Gehalten« (ebd.; 250). Das Subjekt kann sich seiner exzentrischen Positionalität vergewissern und kann, in der Differenzerfahrung, sich seiner selbst habhaft werden. Als »maßgeblicher Modus menschlicher Lebensführung« verweist der Begriff der Verkörperung, neben  der im wörtlichen Sinne benannten »Existenz als Körper im Körper« und den immer neu sich vollziehenden »Akten der Inkorporation«, auf eine weitere Bedeutung, die »den Vollzug der Einglie-

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derung« in ein soziales Gefüge bezeichnet, innerhalb dessen wir erst zu jemandem, zur Person werden können (vgl. ebd.; 241f.). Der Körper als Bindeglied zum Sozialen. ›Selbstsein‹ ist immer auch ein ›Anderswerden‹. Der Weg dazu verläuft über den Körper, seine Subjektivierungs- und Entsubjektivierungsvarianzen. Die Funktion des Anderen, Nichtidentischen reicht innerhalb dessen von der Selbstbefremdung über die Fremdwahrnehmung bis hin zum Gegenüber, das als Anderes das Eigene in Bewegung bringt. Bei Kubitza heißt es zu diesem Anderen: »[...] das exzentrische Selbst (gewinnt) ›sich‹ nicht schwerpunktmäßig aus den Akten reflexiver Selbstthematisierung, vielmehr sind es Andere und Anderes, die sein immer wieder neu zu gestaltendes ›Selbstsein‹ gewährleisten« (ebd.; 104). Als Leitmotiv setzt sich das Prinzip der Verschränkung fort und bestimmt die Struktur des Selbst, das sich ›nur an dem anderen seiner selbst hat‹ (Plessner). Das Subjekt ist von dem Vorhandensein des Anderen nicht zu trennen, genauso wenig ist es durch dieses Andere jedoch determiniert: »Allein durch ein Verständnis von Autonomie und Heteronomie, das diese nicht als bloße Alternativen begreift, bleibt für Plessner eine Form von Subjektivität denkbar, die den fundamentalen Einflüssen des Anderen ihrer selbst nicht nivelliert, zugleich jedoch Raum für flexible und kreative Handlungsvollzüge bietet« (ebd.; 278; Hervorhebung im Original).10 Diese Handlungsvollzüge werden in Verkörperungsformen sichtbar, also in einer Art Zeichen und Zeichenverkehr, über die Ausdruck hervorgerufen wird. Neben den alltäglichen Formen der Sprache zählen wissenschaftlicher und künstlerischer, religiöser oder politischer Ausdruck zu diesen Sprachformen wie auch werktätige Arbeit oder eben das stumme Spiel leiblicher Motorik (vgl. ebd.; 248). Beobachtungen und Beschreibungen, die den Blick auf eine Interaktionspraxis freilegen und die die Verkörperungsprozesse des Subjekts in Verbindung mit sozialen Prozessen deutlich machen, scheinen vor diesem Hintergrund für das Eruieren von Selbstbildungsprozessen hilfreich. Spielräume der Subjektbildung. Das der Struktur des Subjekts implizite Moment der Freiheit gegenüber sich und gegenüber dem Anderen wird bei Martin Seel von der notwendigen Festlegung auf Andere/Anderes begleitet. Der Spielraum des Selbst erfährt dadurch eine Begrenzung, die Selbst-Bestimmungen erst möglich macht, ohne sich von der Offenheit für Veränderung und Irritation abzukehren: »In den eigenen Festlegun10 | Weiter heißt es: »Eine notwendige Voraussetzung hierfür stellt für ihn allerdings die Identifikation des Menschen mit seinen Rollen dar, der Glaube daran, wirklich zu verkörpern, was man ›spielt‹, und dieses Spiel nicht als eine nur äußerliche Maskerade zu begreifen« (Kubitza 2005; 278). Diese Problematik wird aufgegriffen und weiterverfolgt in den Ausführungen zum Spiel (vgl. Kapitel IV.1) und zur Darstellung von theatralen Rollen (vgl. Kapitel IV.3).

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gen Spiel zu haben und Spielraum zu gewinnen, dürfte die beste Weise sein, am eigenen Leben Anteil zu nehmen. Wer diesen Spielraum hat und ihn sich erhält, bleibt ansprechbar – und damit: irritierbar – durch die Welt, die anderen und durch sich selbst. [...] Nur weil wir an die Welt, gegenüber den anderen und durch uns selbst gebunden sind, ist es uns möglich, uns selbst zu binden« (Seel 2002; 295; Hervorhebung im Original). Versteht man dieses Verhältnis als konstitutiv für das Subjekt, ist seiner Struktur ein wesentliches Element eingeschrieben, das die Verwiesenheit auf Andere nicht nur als Abhängigkeit von einem Gegenüber zu Selbstkonstruktion und -reflexion versteht, sondern diesem Gegenüber eine Freiheit zuspricht, die die Selbstkonfrontation mitbestimmt. Die Selbstbezüglichkeit, die die Subjektstruktur trotz aller Heteronomie noch maßgeblich kennzeichnet, wird nun zugunsten einer unhintergehbaren Einbettung des Subjekts in die es umgebende Welt sozialisiert. Wird in Bildungsprozessen das eigene Selbst- und Weltverhältnis revidiert und neu konfiguriert, ist die Welt kein beliebiges, passives Puzzleteil im eigenen Spiel, sondern Auslöser und Adressat eigener Veränderung. Das Subjekt ist somit in seiner Kernstruktur an die eigene Geschichtlichkeit, die eigene Sozialität gebunden. Selbstbildungsprozesse sind ohne diese Komponente nicht angemessen zu beschreiben. Das Körper gewordene Soziale. Ergänzt man den handlungstheoretischen Individualismus Seels um Bourdieus kultursoziologische Argumentation, wird das Subjekt als eine mit dem Sozialen verwobene Instanz deutlicher in Relation zur es umgebenden Gesellschaft gesehen (vgl. Bourdieu 1987). Bourdieu stellt die These auf, dass von Subjekten produzierte Ausdrucksformen immerzu historisch, kulturell und sozial divergierenden Bedingungen unterliegen. Dies führt nach Bourdieu zur Abhängigkeit bestimmter Verkörperungsformen von sozialen Strukturen und damit zu einer unausweichlichen Vorprägung des Subjekts, dem Habitus. Der Habitus produziert und verfestigt dabei zugleich individuelle wie kollektive Praktiken und gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen in Form schon angelegter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (vgl. Kubitza 2005; 303). Der Begriff Habitus im Sinne Bourdieus meint das »Körper gewordene Soziale«. Bourdieus Habitus-Konzept ist als Modell zu begreifen, in dem »gegebene ›objektive‹ soziale Bedingungen, wie sie sich in einer bestimmten sozialen Lage konkretisieren«, eine »buchstäblich einver-leib-te Entsprechung auf der Seite des Subjekts« finden (vgl. Pinkert 2005; 40). Handlungen des Subjekts sind unter diesen Bedingungen keine vom freien Willen getragenen Verhaltensweisen, die in bewusster Überlegung kalkuliert werden, sondern das Handeln wird maßgeblich vom Habitus bestimmt, der sich über die vergangenen Erfahrungen in den Körper eingeschrieben hat. Mit dieser Erweiterung des Subjektverständnisses ist ein entscheidender Richtpfeiler für theaterpädagogische Praxis vorgenommen: Das Körper gewordene Soziale präformiert und begrenzt den subjektiven

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Spielraum, aus dem heraus in einem Kontext gehandelt werden kann, und zugleich prägt das Spiel-Feld der Theaterpädagogik diesen Habitus mit. Die Theaterpädagogik kann ihn – wenn sie in das soziale Universum des Subjekts einzudringen vermag  – produktiv machen im Sinne einer erweiterten kulturellen Handlungsfähigkeit. Sie  schwebt allerdings in der Gefahr, im Versuch, die vertrauten Gewohnheiten zu durchbrechen, eine zurückweisende und abwehrende Gegenreaktion zu provozieren. Der  Theaterpädagoge wird in diesem Vorgang Teil eines gemeinsamen Prozesses, denn »soziale Praktiken sind überindividuell; sie sind nicht Sache einzelner, isolierter Subjekte, sondern sie befinden sich zwischen den Teilnehmern sozialer Spiele. Praktiken setzen die Teilnehmer zueinander in Beziehung« (Schmidt 2009; 39; Hervorhebung im Original). Für diese Praxis nach Spielarten zu suchen, die ein flexibles und reaktives Agieren auf die Situation des Miteinanders erzeugen, liegt im Verantwortungsbereich der Pädagogik. Auf theaterpädagogische Spielräume aufmerksam zu machen ist unter diesen Prämissen weiterzuverfolgen. Konsequenzen. Aus Plessners »leiborientierte(r) Perspektive erscheint ›Bildung‹ [...] als eine (keineswegs immerzu bewusst vollzogene) Gestaltung der durch das Subjekt hindurch verlaufenden Differenzen von Körper und Leib, Selbst und Anderem, Innen und Außen, Natur und Kultur, in die es eingebunden bleibt und durch die es sich als Subjekt immer wieder neu hervorbringt (›bildet‹)« (Kubitza  2005; 298; Hervorhebung im Original).11 Kubitza prononciert Plessners Anspruch und hebt die darin enthaltene Idee einer nicht subjektzentrierten Bildung hervor: »Da der Mensch ›sich‹ nach Plessner nur an dem anderen seiner selbst ›hat‹, erlaubt, ja fordert es seine Konzeption geradezu, Bildung vielmehr ex-zentrisch, das heißt nicht als einen einmal erworbenen Besitz, sondern im Sinne einer offenen und unabschließbaren Dialektik von Selbst und Anderem, geistigen und körperlichen Anteilen zu denken« (vgl. ebd.; 288). Das Subjekt gewinnt »›sich‹ allein durch die leibliche Verschränkung mit Anderen und Anderem [...], durch die es seinerseits fortwährend ein Anderer wird« (ebd.; 299). Das Konflikthafte in den Bezügen des Subjekts zu sich und seiner mittelbaren und unmittelbaren Umgebung provoziert Reibungsflächen für transformatorische Selbstbildungsprozesse. Diese bedürfen immer einer sozialen Referenz, sind soziale Praxis.12 11 | Ähnlich argumentiert Judith Butler, wenn sie von einer performativen Hervorbringung des Subjekts spricht, die immer wieder neu zu unterlaufen ist, um ein Subjekt im Werden möglichst offenzuhalten. Wichtig für pädagogische Handlungsfelder ist deren Potenzial, fixierte Muster aufzustören, Strategien auszutauschen oder zu verändern, neue, anders gelagerte Erfahrungen im Habitus zu verankern (vgl. Butler 1991). 12 | Denkt man dies erneut im Bezug auf Seel, ist folgende Aussage leitend: »In gelingender Selbstbestimmung kann nur leben, wer offen für die Wahrnehmung

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Will man in den von Plessner skizzierten Differenzerfahrungen bildungsrelevante Faktoren als von sozialen Akzenten durchdrungene verstehen, ist es hilfreich, das Subjekt in Relation zum Anderen bzw. zu Anderem zu betrachten. Es wäre demnach nach Beziehungen, Entwicklungen und Interventionen des Anderen in Bezug auf das Subjekt zu fragen, interaktive und kommunikative Vollzüge als Schlüsselmomente von Vermittlungshandeln in Selbstbildungsprozessen wären zu untersuchen. Versucht man aus den Analysen bildungstheoretischen Ursprungs Konsequenzen für didaktisches Handeln zu ziehen, können mit Christoph Koller folgende Fragerichtungen aufgeworfen werden: »Wie lassen sich widerständige Erfahrungen (als Anlass für Herausforderung von Bildungsprozessen) genauer bestimmen? Gibt es typische Herausforderungen [...], deren Bearbeitung Bildungsprozesse erforderlich macht oder zumindest nahelegt? Welche begrifflichen Konzepte sind geeignet, um die Grundfiguren des Selbst- und Weltverhältnisses von Subjekten [...] theoretisch zu erfassen und empirisch zu analysieren? Wie sind die Prozesse der Transformation solcher Welt- und Selbstverhältnisse theoretisch und empirisch näher zu beschreiben?« (Koller 2007; 70; Hervorhebung im Original). Ohne hier eine umfassende Antwort auf diese Forschungskomplexe in einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse geben zu wollen, ist der Fokus auf die Fragestellung, wie Neues in diesem Sinne entsteht, handlungsleitend für die weiteren Überlegungen. Das Untersuchungsfeld wird dazu eingegrenzt auf einen zentralen Aspekt im Vermittlungshorizont theaterpädagogischen Handelns: die dezidierte Konzentration auf transformatorische Interaktionsprozesse innerhalb von Lehr-Lern-Prozessen, die in der theatralen Praxis bildungsrelevante Impulse setzen können. Um dieses Fragefeld inhaltlich zu verorten, ist es unabdingbar, als weitere didaktische Wegmarke zu definieren, welches Lehr-Lern-Verständnis den dargelegten Überlegungen zugrunde liegt. Dabei greife ich auf Pazzini zurück, der im Rahmen der Diskussion transformatorischer Bildungsprozesse die Situation des Lehrens thematisiert, und versuche,

äußerer und innerer Möglichkeiten ist, die nicht von ihm bestimmt worden sind und vielfach nicht für ihn bestimmt erscheinen. Zugleich können nur die für die Unwägbarkeiten ihrer eigenen Lebenssituation aufgeschlossen bleiben, die die Fähigkeit haben, eine eigene Antwort auf die ihnen begegnenden Verhältnisse zu finden. [...] Eine eigene Antwort auf die ihnen begegnenden Verhältnisse aber werden sie nur finden, wenn sie eine eigene Antwort auf die ihr Denken, Fühlen und Handeln bewegenden Kräfte geben. Sich bestimmen zu lassen und doch zugleich sich bestimmen zu lassen – in ihrer Lage ist das die günstigste Lage. Wir können also von gelingender Selbstbestimmung nur reden, wenn wir den Subjekten dieser Bestimmung das Vermögen zusprechen, sich in ihrer Weise einzulassen auf Verhältnisse, in die sie eingelassen sind« (Seel 2002; 295f.; Hervorhebung im Original).

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dem bildungs- und subjekttheoretisch angelegten Fundament auf dieser Ebene eine Entsprechung gegenüberzustellen.

1.4 Lehr-Lern-Verständnis Einbruch des Fremden. Lehren in Bildungsarrangements will Prozesse der Transformation anregen, wahrnehmen und begleiten. Dazu gehört unter anderem die Entwicklung einer praktischen Solidarität, die innovative, transformatorische Interaktionsprozesse auf der Basis der unbedingten Anerkennung wechselseitiger Freiheit und der notwendigen Bezogenheit aufeinander respektiert und aktiv fördert. Allein daraus lassen sich für Lehrprozesse in didaktischer Hinsicht jedoch weder ein analytisches noch ein praktisches Vorgehen dingfest machen. Karl-Josef Pazzini gibt unter Bezug auf Kokemohrs Bildungsverständnis zu bedenken, dass Bildungsprozesse nur möglich sind, wo widerständige Erfahrungen nicht als abstraktes Diskussions-, sondern als Handlungsproblem aufgenommen werden. Eines der Handlungsprobleme von Bildungsprozessen ist genau dieses Lehren, denn im Lehren ist man, so die Auffassung Pazzinis, mitten in dem Gemenge des zeitweiligen Herstellens von Realität als einem Zusammenhalten von Symbolischem, Imaginärem und Realem (vgl. Pazzini 2007; 163). Dem Handeln im Rahmen von Lehr- und Bildungsprozessen ist KarlJosef Pazzini weiter nachgegangen. Er setzt seine von psychoanalytischen Überlegungen und einer beispielhaften Lehranalyse eines Vortrags von Lacan inspirierten Denkimpulse mit den Gedanken Kokemohrs zum Bildungsprozess in Beziehung. Der für Bildungsprozesse konstitutive Faktor des Fremden oder Anderen, das in die vertraute Deutung und Dignität von Welt und Selbst einbrechen muss, um Denkfiguren und Handlungsmuster infrage zu stellen, ist nach Pazzini der Lehrsituation bereits eingeschrieben, denn »das Fremde bricht auch durch Lehrer und Lehre ein« (ebd.; 161). Zugleich dient Lehre aber der Vorbereitung auf den Umgang mit Situationen dieses Einbruchs. Bildungs- und Lehrsituationen sind wechselweise ineinander verschränkt: »Weil Fremdes einbricht, beängstigend und herausfordernd einbricht oder in Zukunft einbrechen könnte, gibt es Lehre. Sie versucht zumindest, diesen Einbruch zu mildern, kann aber nicht umhin, dabei selbst Fremdheit zu produzieren, prophylaktisch vielleicht, aber auch provozierend, vielleicht wie eine Impfung« (ebd.).13 13 | »Lehren gibt es«, so Pazzini weiter, »damit Fremdheit uns nicht ganz und gar im Ernstfall unvorbereitet trifft. Sie kommt nicht umhin, aber genau daran Anteil zu nehmen, sonst wirkt sie nicht. In der Art des Umgangs mit diesem unlösbaren Problem unterscheiden sich didaktische Konzeptionen. Sie reichen vom Versuch, die Effekte des Lehrens und dessen Intention unwirksam zu machen durch Einund Anpassung an die Vorstellung vom Adressaten der Lehre und vom Selbstbild des Lehrenden als Beglücker und Belustiger, bis zur Rücksichtslosigkeit einnehmender Fremdheit und Vorführung der paradoxalen Anstrengung des Lehrens. [...]

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Eine produktive Lösung der paradoxen Konstellation von Lehr- und Bildungsmomenten liegt in der Akzeptanz dieses Konflikts, in der Chance, in der Lehrposition einen konstruktiven Umgang damit zu praktizieren, sich selbst nicht nur als operativen, sondern auch als partizipativen Teil des Geschehens zu verstehen. Maset verdeutlicht diese Option, indem er betont, dass »die Differenz des Lehrenden vollständig ins Spiel kommen (kann), denn sie verwirklicht eine Position im Bildungsprozess, die des Anderen, der den Prozess auslöst und beobachtet und der sich der Freiheit, die er setzt und darstellt, bewusst ist« (Maset 1995; 57; Hervorhebung im Original). Durch den höheren Grad der Bewusstheit behält der Lehrende aber einen klaren Vorsprung und die Möglichkeit, steuernd und planend Suchstrategien für Bildungsprozesse zu entwerfen und mit den der Situation geschuldeten Abweichungen auf das Geschehen selbst zu reagieren. Handlungsfähigkeit nicht zu verlieren wäre dabei ein wesentliches Moment für den Lehrer. Scheitern ist erlaubt, gehört immer mit dazu. Einer Fantasielosigkeit wäre dringend vorzubeugen. Pazzini hält dabei neben der Begründungslogik der Sachlage einen weiteren wesentlichen Punkt fest: den »treibenden Moment des Lehrens für den, der es tut. [...] Diejenigen, die im bildenden Sinne lehren«, begründet Pazzini seine Position, »können wohl kaum die präzisen Gründe beibringen, warum sie so etwas tun. Sie sind auch Getriebene, die immer wieder nach anderen Bildungen dessen suchen, interindividuell, was unbewusst sich aufdrängt, eben etwas Fremdes, das nach einer Darstellungsform sucht, etwas, das man alleine nicht erträgt, eine aushaltbare Teilhabe am Fremden, die zur Produktion bringt. So wird ein blinder Fleck weitergegeben, die Möglichkeit der Produktivität. Die Anerkenntnis des blinden Flecks treibt in die Produktion eine Ursache, die dann als Wirkung erscheint, nachträglich. [...] Dieser blinde Fleck treibt und öffnet, hält in Bewegung, lässt nicht zur Ruhe kommen, ist nicht greifbar« (ebd.; 163). Die Souveränität des Lehrenden ist entsprechend relativ. In Lehr-Lern-Prozessen treten nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die Lehrenden das Fremde als Widerstand und die Notwendigkeit, sich in dieser Situation neu zu erfahren, als unkalkulierbare Größe in die Arbeitsbeziehung. Wie können unter diesen Umständen das Beziehungsgeflecht und die Machtverhältnisse zwischen beiden Protagonisten genauer geschildert werden? Vier Aspekte von Widerstand. Pazzini konkretisiert das Auftreten des Fremden in Lehr-Lern-Prozessen folgendermaßen: »Widerstände beim Lehren treten dabei am Fremden auf, sei es inhaltlich fremd, sei es in der methoBeide haben die Tendenz, in der Nachfolge die Anwendung von Rezepten, Regeln, dogmatischen Sichtweisen zu produzieren, die das Fremde eliminieren« (ebd.). Da der didaktischen Analyse aber ebenjene sichtbar werdenden Auslöser von Bildungsprozessen notwendig entzogen bleiben, sie als ephemere, methodisch ungreifbare Momente im Prozess den blinden Fleck markieren, kann keine regeloder normgebende didaktische Konzeption an ihrer statt formuliert werden.

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dischen Aufarbeitung fremd oder in der konkreten Art und Weise, wie der konkret Lehrende vorträgt und wie zu hören die Adressaten in der Lage sind. Fremd kann das Gelehrte auch werden, wenn es an etwas rührt, das zu dem gehört, was Freud das ›innere Ausland‹ oder das Unheimliche nennt, an das also, was zu wissen man sich nicht traut« (Pazzini 2007; 165). Überträgt man diese Systematik auf die theaterpädagogische Lehrpraxis, zeigen die vier unterschiedlichen Interaktionsebenen die Dimensionen theaterpädagogischer Professionalität. Auf der Inhaltsebene können die Interaktionen im Umgang mit Stoff, also der theatralen Vermittlungspraxis, geltend gemacht werden. Diese setzt sich in der kunstpädagogischen Arbeit zusammen aus der Kenntnis des Gegenstands, eben des Theaters, sowie den dazugehörenden Darstellungs- und Erzeugungsstrategien. Auf der methodischen Ebene sind die Vermittlungsstrategien vor dem Hintergrund der jeweils konkreten Spieler zu sehen, die eine flexible Handhabung der inhaltlichen Aspekte ausweist. In Abhängigkeit vom Ensemble zeigt sich, wie der Übersetzungsprozess von theatralen Vorstellungen in praktische Erprobungen methodisch greift, wie Findung und Erfindung von theatralen Ereignissen mit der Gruppe verlaufen. Dem eingeschlossen ist die durch einen Theaterpädagogen angeregte und begleitete Reibung der Spieler untereinander, die Art, wie dieser Spielraum des Anderen aufgetan und aufrechterhalten wird. Die dritte Dimension umfasst die von dem Theaterpädagogen provozierte Reibung mit der persönlichen Haltung, die er mit ins Spiel bringt. Sein Rollenverständnis im Verhältnis zum Ensemble und das damit verbundene Selbst- und Weltbild sowie sein Berufsverständnis spielen in diese Ebene hinein. Das »innere Ausland« in Pazzinis Ausführungen kann und muss für die theaterpädagogische Praxis nicht näher spezifiziert werden. Wie die eigenen Undurchsichtigkeiten das Zusammenspiel prägen, welche unbewussten Impulse einflussreich für das Handeln – des Lehrenden wie des Lernenden – sind, kann nur erahnt werden, einer didaktischen Analyse ist es kaum zugänglich. Pazzini geht hypothetisch davon aus, dass insbesondere für das Lehren als Moment »zur Anregung von Bildungsprozessen, die dem Fremden nicht ratlos ausweichen müssen oder es verdrängen, gar verwerfen, [...] das Wagnis der Mischung der vier Diskurse« gehört (vgl. ebd.; 179). Wie Lehrstrategien und -prozesse in theaterpädagogischer Praxis diese vier Kategorien thematisieren, konkretisieren und miteinander verzahnen, wird im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit verfolgt. »Wie lehren?« bleibt dabei eine offene Frage, die es auszuhalten und in jeder konkreten Praxissituation produktiv zu machen gilt. Eine konsistente Inventarisierung beobachtbaren Handelns im Unterricht lässt noch nicht erkennen, wodurch eine Offenheit für die treibenden Konflikte erzeugt und das Andere/Fremde als Anderes/Fremdes des Anderen wahrgenommen wurde, denn »darüber hat der Lehrer keine Macht, bestenfalls davon eine Ahnung« (vgl. ebd.; 169).

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1.5 Zwischenstopp Bildungsprozesse sind Entwicklungsprozesse, die plötzlich und überraschend virulent werden. Sie reihen sich nicht in die vorhandenen Selbstund Weltbezüge ein, sondern überschreiten deren Grenzen und destabilisieren das Subjekt vorübergehend. Bildungsprozesse sind immer auch Erfahrungskrisen (vgl. Hericks 2009; 67). Sie treten in Auseinandersetzung mit dinglicher und sozialer Wirklichkeit und erfordern in pädagogischen Kontexten eine prinzipielle Anerkennung der Verletzbarkeiten habitueller Strukturen in den Prozessen der Transformation. Für das Gelingen solcher Übergänge ist nach Peukert die »Basis einer elementaren Solidarität, (die) Spielräume für die Selbsterprobung in alternativer Weise des Umgangs mit Realität« freigibt oder paradigmatisch vorführt, notwendige Voraussetzung (vgl. Peukert 1998; 25). Sensibel und verantwortlich in der Interaktion geläufige Vermittlungswege zu überschreiten und »neue, kreative Verständigungsmöglichkeiten« zu finden verlangt, dass allen Interaktionspartnern die »Freiheit des Sichverhaltenkönnens« zugestanden bleibt und in der unbedingten wechselseitigen Anerkennung dieselben Transformationsprozesse vollzogen werden können (vgl. ebd.; 26). Bildungstheoretisch relevante Transformationsprozesse sind in der Folge weniger operational aus den Lerngegenständen abzuleiten oder anhand von Lernzielformulierungen systematisch aufzubauen; in ihrer Faktizität sind sie von den jeweils besonderen Konstellationen zwischen Lerngegenständen, den Anderen und den kommunikativen Interaktionen abhängig. Spielräume für die Erfahrungen von Kontingenz und Differenz können analog nur freigegeben werden, indem situativ die individuell, sozial und kulturell dominanten Strukturen thematisiert und möglicherweise überkehrt werden und so transformatorische Bildungsprozesse anregen. Diese Prozesse sensibel und solidarisch wahrzunehmen und in den Übergängen zu begleiten ist für ein verantwortliches Lehr-Lern-Verständnis zentraler Ausgangspunkt. Für Selbstbildungsprozesse im Rahmen theaterpädagogischer Arbeit ist die Vorstellung einer körpergebundenen Subjektstruktur substanziell, da neben dem Ineinander von Affektionen und Perzeptionen die Dynamik leiblicher Darstellungs- und Gestaltungsprozesse eine zentrale Rolle in Bildungsbewegungen einnehmen kann. Interessant für theatrale Praxis sind in diesem Sinne Prozesse, die den Körper in darstellender und gestaltender Hinsicht fordern, ihm Unbekanntes »einverleiben« und eigene Verkörperungsmuster ent- oder verfremden. Ob das oszillierende Hin und Her zwischen aktivem Handeln und Geschehenlassen als Kennzeichen von Verkörperung(svorgängen), wie Kubitza hervorhebt (vgl. Kubitza 2005; 297), in der Interaktion zwischen Spielleitung und Spieler eine Entsprechung findet, ist zu untersuchen. Spannungs- und Entspannungsfolgen, der Wechsel von Anforderungen an körperliche oder geistige Wachheit und Beweglichkeit sind in einer didaktischen Analyse von

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Verfahrensweisen theaterpädagogischer Praxis von bildungsrelevantem Wert. Die konkrete Situation des Anderen darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, will man Subjektbildung nicht nur als von einer dynamischen Struktur getragen, sondern auch als von einem dynamischen sozialen Gefüge geprägt ansehen. Die Reaktionen auf den Anderen und seine mit- oder hervorgebrachten Geschichten, Handlungen, Überzeugungen, bestimmen die Ereigniskette von Subjekt- und Bildungsprozessen maßgeblich mit. In der Übertragung auf die theaterpädagogische Praxis ist zu fragen, wie dieses Andere in den Arbeitsprozess Eingang findet. Unterscheiden kann man zwischen vier Aspekten des Anderen, das als Fremdes den Lehr-Lern-Prozess begleitet und Widerstand als produktive Kraft in das Geschehen einspielt: das Theater als Gegenstand samt seinen darstellerischen Mitteln und Erzeugungsstrategien, die Mitspieler, der Theaterpädagoge und das immer verdeckt mitwirkende eigene Andere/innere Ausland. Jeder der vier Aspekte kann für transformatorische Bildungsprozesse entscheidende heterogene Impulse setzen. Außerdem steht das Subjekt Lehr-Lern-Prozessen nicht als unbeschriebenes Blatt gegenüber, sondern ist verflochten mit Herkunft, Biografie und Geschichtlichkeit seines Selbst. Es reagiert entsprechend immer aus Kontexten heraus, die seinem Subjekt-Sein eingeschrieben sind. Wie theaterpädagogisches Handeln im Zusammenspiel mit diesen Parametern zu differenzierten Wahrnehmungs-, Reflexions-, Darstellungs- und Gestaltungsvorgängen Anlass geben kann, wird in der weiteren Analyse verfolgt. Eine bildungstheoretisch verankerte Didaktik knüpft an die Kontingenzerfahrungen des gesellschaftlich sozialen Subjekts an und macht diese über kognitive, körperliche und soziale Prozesse anders wahrnehmbar. Verbunden mit der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden/Anderen zielen diese Prozesse darauf ab, dass das Individuum sich in einer Differenz erfährt, das eigene Andere und das fremde Andere neu begreift. Aus diesem Spannungsgefüge heraus können bestehende Selbstund Weltverhältnisse aufgeweicht und verändert werden. In didaktischen Konstellationen ist dieses Fremde/Andere immer auch die Lehrperson, deren Interaktionen die Art der Entfaltung von Bildungsprozessen im Heterogenen charakterisiert und durch die Anerkennung und Förderung des jeweils Anderen die individuellen Differenzen zur Erfahrung bringen will (anstatt sie zu vereinheitlichen). Wie sind diese sozial verankerten, transformatorischen Subjektbildungsprozesse in den Kontext ästhetischer Bildung zu implementieren? Das mit diesem Bildungsverständnis verbundene Leitmotiv sozialer Interaktionen verschiebt den Fokus didaktischer Analysen. Es legt weniger Gewicht auf einträgliche Vermittlungsstrategien (Wie bringe ich A zu B?) und hebt stattdessen den Beziehungsaspekt prozessualen Handelns (Wie beziehe ich mich auf A auf dem Weg zu B’?) hervor. Die Zielformulierung (B’) richtet mit dieser Verschiebung den Nachweis gelungener Lehr- und

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Bildungsprozesse neu aus, da neben der Sachlichkeit des Lerngegenstands das Ermöglichen einer individuellen Suche als verbindliche Schnittstelle und Katalysator für Differenzerfahrungen berücksichtigt werden muss. Im Wechselverhältnis von Spielern und Spielleitern wird die praktizierte Sozialität und Solidarität dabei zu einer elementaren Komponente, denn in diesen Begegnungen werden die Zielvorstellungen von Bildung zu einer gelebten Kultur, die Spielräume des Unkalkulierbaren paradigmatisch zur Praxis macht. Unter den geschilderten Umständen ist Bildung innerhalb von kunstpädagogischen Vermittlungsprozessen zu präzisieren: Neben der Auseinandersetzung mit überlieferten Kulturgütern sind Interaktionen und die kommunikativen Vorgänge im Rahmen von Erfahrungen von Kontingenz und Differenz didaktisch zu reflektieren. Die sozialen Interaktionen als wesentlicher Faktor in der Neuorganisation bestehender Selbst- und Weltverhältnisse wurden bisher in der theaterpädagogischen Theoriebildung vernachlässigt und bedürfen aus bildungstheoretischem Blickwinkel dringend einer Reflexion. Interaktionen und Interventionen als eigenen Lehrgegenstand aufzufassen und in Korrespondenz und Wechselwirkung mit dem Bildungsinhalt zu beschreiben, weist einen Weg in diese Richtung. Das nachfolgende Kapitel will deshalb die Besonderheiten künstlerischer Vermittlungsprozesse aus fachdidaktischer Perspektive aufrollen und kunstpädagogische Bildungsbedeutsamkeiten kennzeichnen (Kapitel II.2.1). Inhaltlich ist eine Standortbestimmung zwischen den Kategorien von Poiesis und Praxis vorzunehmen, um dem Vermittlungsanliegen ein sachlich ausgewiesenes Feld zuzuschreiben (Kapitel II.2.2). In  diesem Rahmen kann lehr-lern-theoretischen Aspekten im Sinne einer bildungstheoretischen Didaktik nachgegangen (Kapitel II.2.3) und für eine Konkretisierung innerhalb des theaterpädagogischen Kontexts anschlussfähig gemacht werden (Kapitel III).

2 PASSAGEN ZUR F ACHDIDAK TIK Von Didaktik zu Fachdidaktik. Die erste Bezugsgröße einer Didaktik, die Lehr- und Lernprozesse übergeordnet begründbar machen will, ist die Praxis.14 Von ihr aus beginnt didaktisches Denken, hierhin führt es zurück. Eine weitere Konstante in didaktischer Auseinandersetzung bilden 14 | Die didaktische Theoriebildung ist »gebunden entweder an den Versuch, eine der Praxis inhärente Theorie aufzudecken oder eine der Praxis adäquate Theorie situations- und handlungsbezogen weiterzuentwickeln oder aber die Begründbarkeit von Praxis kritisch und konstruktiv zu überprüfen« (Otto 1998; 251f.; Hervorhebung im Original). In allen Fällen gilt, dass die Fachdidaktik ihre Legitimation als Wissenschaft aus dem Praxisbezug ihrer Aussagen gewinnt (vgl. ebd.; 251, 269). Wo dies nicht der Fall ist, ist sie von der eigenen Selbstbezüglichkeit bedroht und wird für den didaktischen Kontext wertlos.

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wissenschaftliche Erkenntnisse rund um die Fragen des Lehrens und Lernens. Kommt in diese Konstellation ein konkreter Lerngegenstand als dritter Faktor hinzu, beispielsweise das Theaterspiel, wird daraus ein fachdidaktischer Diskurs. Fachdidaktische Fragestellungen innerhalb dieses Arrangements wahren diesen Praxisbezug, indem sie Fragen der Vermittlung mit den besonderen Konditionen und Kennzeichnungen des Fachgegenstands verbinden und Handlungsspielräume für Lehren und Lernen aufzeigen.15 Aus bildungstheoretischer Perspektive gilt es, die Erfahrungspotenziale von Kontingenz und Differenz praxisrelevant in einer Fachdidaktik zu verankern. Dass dieses Unterfangen unter den aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen (vgl. Kapitel II.1.2) nicht widerspruchsfrei vollzogen werden kann, sondern die Unkalkulierbarkeit der kulturellen Weiterentwicklung und die zu entwickelnde Lebenspraxis der nachwachsenden Generation in einen fachdidaktischen Horizont integrieren muss, führt zu einem krisenhaften Verhältnis von Didaktik und Praxis. Gerd Heursen erklärt 15 | Aktuell droht die direkte Verbindung zwischen Theorie und Praxis mehr und mehr zu zerfallen. So äußerte Gunter Otto folgende Bedenken: »Didaktische, insbesondere fachdidaktische, Argumentation geschieht zu oft in unreflektierter, meist nur verbaler Abhängigkeit von Theoremen, Theorien und Theoriestücken anderer Wissenschaften. Der mangelnden wissenschaftlichen Reflexion korrespondiert der Lehrervorwurf der Praxisferne. Fachdidaktische Theorien entgehen nicht immer der Gefahr eines unproduktiven Abstraktionsniveaus, weil sie zu viel mit ›geliehenen‹ erziehungswissenschaftlichen Legitimationen hantieren. Deren methodologische und wissenschaftstheoretische Basis bleibt zu oft unreflektiert, und deren Wechsel, vor allem deren Auswechselbarkeit, bringt die Didaktik in den Verdacht der Anfälligkeit für modische Trends« (Otto 1998; 246). Gleichzeitig gibt Otto einen Hinweis auf Lösungswege und hebt wiederum den notwendigen, dezidierten und widerspruchsfreien Praxisbezug hervor, der »nur hinreichend entwickelt werden (kann), wenn die Didaktik [...] konsistent bleibt, auf ihre Handlungspraxis bezogen, unreflektierten Akkumulationen neuerer sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse entgegentrotzt und sich umfassend der Aufgabe einer unterrichtsorientierten Teilhabe an der sozial- und fachwissenschaftlichen Forschung stellt« (ebd.; 254; Hervorhebung im Original). In einer Ortsbestimmung zur Kunstpädagogik manifestiert Rainer Wenrich diesen Befund und beanstandet den »gelegentlich wagemutigen Einschluss auf der Grundlage der philosophischen Hermeneutik«. Er konkretisiert seine Skepsis am Beispiel von Pierangelo Masets Arbeit, die auch in theaterpädagogischen Kreisen von Einfluss ist: »Pierangelo Masets »Ästhetische Bildung der Differenz« offeriert eine Art akademischen Dreisprung, indem er Kants »Kritik der reinen Vernunft«, Deleuze’ Kant-Exegese und Derridas »différance« in seine fachdidaktische Arbeitsfläche impliziert. Maset liefert zweifelsohne einen wichtigen Impuls im Hinblick auf eine Vernetzung der Kunstpädagogik mit der Philosophie, geht es jedoch an die unterrichtspraktische Umsetzung, bleibt er dem angedachten User konkret praxisnahe Ansätze schuldig« (Wenrich 2004; 21; Hervorhebungen im Original).

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die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft zudem zur Ursache für die häufig anzutreffende ambivalente Haltung gegenüber didaktischen Theorien: »Nicht, weil es Praxis nicht mehr gäbe, sondern weil es die eine Praxis (schon lange) nicht mehr gibt«, wächst der Missmut. Der Wunsch nach klaren Handlungsorientierungen bleibt unbefriedigt, da es »ein konsensuierbares Kriterium, das zwischen guter und schlechter Praxis von außen unterscheidet, aufgrund der Pluralisierung der Gesellschaft kaum noch geben kann« (Heursen 1997; 18). Eine Chance sieht er darin, »die Güte der Praxis in den einzelnen Praxen selbst« zu suchen. Dabei betont er die Notwendigkeit, der Praxis eine didaktische Theorie zuordnen zu können, da ihr nur so erlaubt sei, »in ein Kommunikationsverhältnis mit anderen Praxen zu treten, über sie und sich selbst reflektieren zu können« (vgl. ebd.). Das Ziel didaktischer Anstrengungen wäre demzufolge, über bessere Vergleichsmöglichkeiten und fundierte Einblicke in andere Konzepte ein tiefer gehendes Verständnis für eigenen Unterricht zu erzeugen, sodass in der Konsequenz mehr didaktische Fantasie freigesetzt und autonomes didaktisches Handeln gestärkt wird (vgl. ebd.; 20).16 Neben der Methodenflexibilität, die unterrichtliches Handeln heute kennzeichnet und aus der heraus Praxis erst lebendig wird, kann auf diesem Weg der eigene, immer mitwirkende Eklektizismus unter Bezugnahme auf eine (mehr oder weniger) fremde Systematik überprüft werden. Das Anliegen einer theaterpädagogischen Fachdidaktik ist entsprechend, Vermittlungsstrategien weder zu reglementieren noch ein stringentes Vorgehen in beliebigen Pauschalisierungen zu verwässern, sondern das Spiel mit didaktischer Fantasie für theaterpädagogische Theorien und Praxen zu profilieren. Eine der jeweiligen Praxis adäquate Theorie situations- und handlungsbezogen weiterzuentwickeln und theoretische Äquivalente zu entwickeln kann bei der Eroberung und Erprobung neuer Handlungsvollzüge helfen und konkrete Interaktions- und Interventionsstrategien mit didaktischer Fantasie aufladen und bereichern. Eine praxisnahe fachdidaktische Analyse mit dem Ziel, Handlungsfantasie für alternative Vermittlungswege in theaterpädagogischen Lehr-Lern-Prozessen freizusetzen, soll diesem Anspruch gerecht werden. Auf sie wird im weiteren Verlauf dieser Untersuchung hingearbeitet. 16 | Mit dem Ziel, nach theoretischen Äquivalenten zu suchen, die didaktische Fantasie anregen statt Praxis erklären zu wollen, ist dem Unvereinbarkeitstheorem von Theorie und Praxis insofern Rechnung getragen, als nicht von einer beherrschbaren Regelhaftigkeit der Praxis ausgegangen werden muss, die es zu entschlüsseln gilt. Pierre Bourdieus Vorbehalt gegenüber der Sozialwissenschaft, die mit ihren objektiven Modellen eine Reduktion der Praxis betreibt und »die Handelnden auf den Status von Automaten oder trägen Körpern (reduziert), die von obskuren Mechanismen auf Ziele hinbewegt werden, von denen sie selbst nichts wissen« (Bourdieu 1993; 181), soll auf diesem Weg umgangen und ein totalisierendes Wissenschaftsverständnis möglichst vermieden werden.

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Da es folglich in didaktischen Überlegungen nicht darum geht, »Normen unterrichtlichen Handelns aufzustellen, sondern zu untersuchen, was im Feld jeweils geschieht« (Hansmann 2003; 76), ist zu eruieren, wie bildungsrelevanten Spielräumen in der theatralen Praxis mit nichtprofessionellen Darstellern aus fachdidaktischer Perspektive eröffnet werden können. Die nachfolgenden Passagen knüpfen an den wissenschaftlichen Erkenntnissen einer bildungstheoretisch orientierten Kunstdidaktik an und stecken die fachspezifischen Besonderheiten der Theaterpädagogik ab. Dazu wird in einer ersten Passage der spezifische Bildungsgehalt kunstpädagogischer Didaktik skizziert (Kapitel II.2.1). Anschließend gilt es, den Handlungsspielraum zwischen Kunst und Pädagogik genauer zu lokalisieren, indem die paradigmatische Verbindung von Poiesis und Praxis in der Kunstvermittlung näher bestimmt wird (Kapitel II.2.2). Ein der Kunstdidaktik zuträgliches Lehr-Lern-Verständnis wird präzisiert (Kapitel II.2.3), um nachfolgend im Kapitel »Spielend denken 1« eine erste didaktische Reflexion für die theaterpädagogische Praxis anzuschließen.

2.1 Passagen zur Kunstdidaktik Im Unterschied zum herkömmlichen Paradigma ästhetischer Bildung, das Selbstbildung als »autonome Aneignung von Weltprozessen« im Medium der Kunst begreift (Peez zit.n. Dreyer 2005; 16), kommt unter einem aktualisierten Bildungsverständnis neben der Autonomie des Subjekts seine heteronome Verwurzelung im Sozialen und damit die sozialen Prozesse im Rahmen ästhetischer Praxis deutlicher in den Blick. Ein in diesem Sinne erweitertes Bildungsverständnis für den kulturwissenschaftlich ausgerichteten theaterpädagogischen Diskurs ist beispielsweise bei Ute Pinkert angelegt. Sie berücksichtigt den Anderen als Konstituenten theatraler Darstellung und plädiert angesichts der dialogischen Grundverfasstheit des Theaters dafür, »Theaterspielen als spezifischen Bereich kultureller Bildung zu kennzeichnen, als im Bezug auf einen anderen sich vollziehende Selbstbildung des Subjektes im Medium Theater« (vgl. Pinkert 2005; 26). Setzt man zudem neben die eine Kultur internalisierenden Auseinandersetzungen mit dem Gegenüber die Notwendigkeit, überlieferte Kultur neu zu explorieren, kann das eingangs skizzierte Bildungsverständnis für den ästhetischen Kontext differenzierter geltend gemacht werden. Lebensverändernde Widerborstigkeit. Carmen Mörschs kritische Reflexion verschiedener Argumentationsstrategien zur »Relevanz des Bildens mit den Künsten« führt zu einer Entlarvung der in sich widersprüchlichen Legitimationsbemühungen um gerne proklamierte Bildungsziele in kunstpädagogischen Zusammenhängen (vgl. Mörsch 2009). Liegt das Potenzial der Künste »gerade in der Auseinandersetzung mit dem Nutzlosen, nicht Verwertbaren, Provozierenden, Unbequemen, Unwägbaren, Differenten, sich Verweigernden«, warnt Mörsch, »kann die intensive Beschäftigung

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mit Kunst und Kultur möglicherweise auch zu exzessiver und offensiver Faulheit und der Verweigerung stupider Lohnarbeit [...] führen« (ebd.; 51). Gängige Bildungsargumente im Kontext des Ästhetischen, die den in Aussicht gestellten Kompetenzerwerb beispielsweise mit einer erhöhten Flexibilität, Leistungsbereitschaft oder dem Modus des lebenslangen Lernens versehen, laufen unter diesen subversiven Aspekten schnell ins Leere. Die Instrumentalisierung von Bildungsinhalt in den Künsten dient im Endeffekt weniger einem grundsätzlichen, notwendigen kulturellen Wandel, sondern vielmehr dem Versuch der Stabilisierung und Zementierung von prekären gesellschaftlichen Situationen. Das Ziel einer nachhaltigen Transformation von Kultur und Gesellschaft kann die künstlerische Bildung allein in »der Ausbildung von Widerborstigkeit« verfolgen, die dem »Effizienzdenken die Aufwertung von Scheitern, von Suchbewegungen, von offenen Prozessen und offensiver Nutzlosigkeit als Störmoment« entgegnet und darin das Potenzial der Differenzerfahrung betont (ebd.; 54). Eine kunstdidaktische Bestimmung muss diesen Ansprüchen Geltung verschaffen, sich weniger um »lebenslängliches als um lebensverlängerndes Lernen« bemühen (vgl. ebd.). In der Ausbildung solcher Widerborstigkeiten wird Lernen lebensverändernd. Da die Veränderungszuschreibung eingebettet ist in einen Kontext von Bildungsprozessen im Sozialen, der eine Förderung von gesellschaftlicher Emanzipation ebenso mitbedingt wie den strategischen Einsatz für ein gerechtes Aufwachsen der nachfolgenden Generationen, tut sich für die kunstpädagogische Didaktik mit Otto ein neuer Fragehorizont auf: »Die Frage ist nicht mehr, ob Ästhetisches bildungsrelevant ist, sondern ob wir dem theorieinternen Anspruch genügen, Bedingungen zu schaffen, Situationen zu inszenieren, in denen ästhetische Prozesse Anlässe für alle bieten, spontan oder reflexiv nach der Bestimmung des Menschen zu fragen, zur Bestimmung, zur Selbstfindung und Selbsterfahrung des Menschen beizutragen« (Otto 1998; 65; Hervorhebung im Original). Dies hat zur Folge, dass ästhetische Bildungsereignisse, gleichgültig, aber nicht ungeachtet der sozialen und/oder kulturellen Herkunft ihrer Akteure, dem individuell ausgebildeten, sozialen Habitus quer liegende Wahrnehmungs-, Handlungs- und Denkanlässe gegenüberstellen müssen, die Welt und Selbst notwendig einen Schritt einander entfremden, eine Distanz schaffen, in der Differenz gefunden und entfaltet werden kann. Liminale Differenzsituationen. Eckart Liebau, Leopold Klepacki und Jörg Zirfas bezeichnen solche Ereignisse im Hinblick auf die theatrale Praxis als liminale17 Differenzsituationen: »In Bildungsereignissen kommt es zu 17 | Mit Liminalität oder liminaler Phase ist ein Übergangsstadium bezeichnet, das die Schwelle zwischen zwei unterschiedlichen sozialen Ordnungen markiert. Die vor- und nachgeordneten gesellschaftlichen Strukturen verlieren in dieser Schwellenphase ihre Verbindlichkeit, werden labil und mehrdeutig, sodass sich die Person während des Übergangs in einem »betwixt and between« (Turner),

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einer Verfremdung von Selbst und Welt. Diese theatralen Bildungsmomente haben ihren Ausgangspunkt sowohl in Situationen der Bestimmtheit, Notwendigkeit und Eigenheit wie in denen der Unbestimmtheit, Kontingenz und Fremdheit, das heißt, Bildungsereignisse nehmen ihren Anfang in liminalen Differenzsituationen, die sichtbare Übergänge, Ambiguitäten, Korrespondenzen, Abweichungen, Brüche und Grenzen etc. in den theatralen Szenarien und Praktiken aufweisen« (Liebau/Klepacki/ Zirfas 2009; 143; Hervorhebung im Original). Für den vorliegenden Diskussionszusammenhang sind diese liminalen Differenzsituationen als Markierungen in Probensituationen von Bedeutung, denn die genannten Situationen sind deshalb bildungstheoretisch, -praktisch wie empirisch interessant, »weil sie als Übergangskonfigurationen selbstbezügliche und selbstreflexive Anlässe der Kreativität und Alteration der Beteiligten bieten. In liminalen, sprunghaften, fiktionalen und fragmentarischen Situationen werden ›andere‹ Anfänge und Anschlüsse der Wahrnehmung, Interpretation und Handlungsmuster erforderlich. Die Individuen werden ›gezwungen‹, sich selbst und die Welt anders zu verstehen und neue Darstellungs- und Handlungsformen zu entwickeln« (ebd.). Die Beschreibung von Interventionen und Interaktionen innerhalb von Probenprozessen wird, so lässt sich vermuten, insbesondere an jenen liminalen Schwellen fachdidaktisch interessant, an denen von einem Wahrnehmungs-, Interpretations- oder Handlungsmuster in ein anderes gewechselt wird (vgl. Kapitel IV.3). Wann und wie dies geschieht, kann in der Analyse von Probendokumenten aufschlussreich für Praxisreflexionen werden und didaktische Fantasie generieren (vgl. Kapitel V).

2.2 Verbindungen von Poiesis und Praxis Erfahrungsgestaltung. Auf der Suche nach einem geeigneten Verbindungsmodus von künstlerischer und unterrichtlicher Praxis benennt Otto beide Berufsgruppen, Künstler und Pädagogen, als »Erfahrungsgestalter«. Werden in Bildungsprozessen »Erfahrungskrisen« verursacht (Hericks), die der Lehrer verantwortlich initiiert und begleitet, schafft der Künstler Artefakte, die den Rezipienten in ein Spiel mit Wahrnehmungen und Imaginationen von sich und der Welt, von sich in der Welt, verführen (vgl. Kapitel IV.2). Das Ziel in beiden Metiers ist, insbesondere in der Gegenwart, für ein Gegenüber neue Sichtweisen auf die eigene Verbindung mit der Welt zu gestalten und eine aktive Partnerschaft anzustreben. Der Modus der »Erfahrungsgestaltung« taugt in Ottos Augen daher als Leitkategorie didaktischer Theorien des Kunstunterrichts, denn mit ihr sind »Praxen der Vergangenheit wie der Gegenwart darauf hin zu befragen, welche Ereinem Bereich der Ambiguität befindet. Als Übergangsphase gilt die Liminalität insbesondere in den kulturwissenschaftlichen Diskussionen als beispielhaft für die Möglichkeit der Eroberung neuer Spielräume und experimenteller Praxis (vgl. Turner 1995).

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fahrungen sie vermittelt wissen wollten und welche Beiträge sie zur Auslösung von Erfahrungsprozessen geleistet haben« (Otto 1999a; 12). Woran Otto dabei festhält – ein eklatanter Unterschied zur theaterpädagogischen Produktionspraxis –, sind das im Mittelpunkt allen Kunstunterrichts stehende Werk und die produktive, selbsttätige Begegnung der Schüler mit diesem.18 Wie lässt sich die Erfahrungsgestaltung für die theaterpädagogische Didaktik ausformulieren, deren Werkbezug einen anderen Charakter innehat? Spielbasierte Praxis. Löst man kunstdidaktische Vorstellungen von dem überlieferten Poiesisparadigma und stellt stattdessen die Verfahrensweisen selbst in den Mittelpunkt der analytischen Betrachtung, bekommt Praxis ein neues Gesicht. Hubert Sowa unternimmt einen Schritt in diese Richtung und hält fest: Unter dem »Praxisparadigma sind die Folgen des Handelns nicht im Blick auf ihr Ende und Ergebnis planbar – wie beim Herstellen –, ja im Grunde nicht einmal absehbar, weshalb dem Handeln auch immer der Charakter der Offenheit und des Spiels, damit aber notwendigerweise auch oft der Fraglichkeit und Vergeblichkeit innewohnt. In seiner Verwiesenheit auf die Wechselbezüge der Situation und der anderen beteiligten Personen hat die Handlung den Charakter einer spielerischen Hin- und Her-Bewegung« (Sowa 1999; 4). Sowa hebt den Modus des Spiels hier in zwei zentralen Dimensionen hervor: Es steuert einerseits die Eigentätigkeit des Subjekts, seine Auseinandersetzung im Medium der Kunst und bietet andererseits die Schnittstelle zum Gegenüber, das als Anderes das Hin und Her der Begegnung befördert und sicherstellt. Transformationsprozesse sind unter einer praxisparadigmatischen Orientierung in diesen spielerischen Suchbewegungen zu ermitteln und Verfahrensweisen darauf hin zu überprüfen. Das Spiel in seiner dialogischen, unkalkulierbaren Struktur wird auf diese Weise zur Basis kunstpädagogischer Vermittlungspraxis. Fachdidaktisch ist es auf seine Funktion innerhalb von Vermittlungsprozessen hin genauer zu analysieren und hinsichtlich der impliziten Transformationsleistungen zu befragen (vgl. Kapitel IV). Poiesis und Praxis in der Theaterpädagogik. In der Kunstpädagogik der bildenden Künste hat in den letzten Jahren ein deutlicher Orientierungswechsel zugunsten performativer Prozesse eingesetzt.19 In  theaterpä18 | »Kurz vor seinem Tod freilich lenkte Otto dann – vermutlich unter dem Eindruck der neueren Theorien der Performance – den Blick unseres Faches auf eine mögliche Weiterbestimmung in Richtung ›Ästhetik als Performance, Unterricht als Performance‹. In einem seiner letzten Vorträge spricht er von einem ›Paradigmenwechsel‹ hin zu einer performativen und nicht-poietischen Auffassung von Lernprozessen« (Sowa 1999; 11). 19 | In den letzten Jahren hat analog zu Sowas Plädoyer in der Kunstpädagogik durch das Interesse für performative Verfahren eine Neuorientierung in Theorie

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dagogischen Vermittlungskontexten sind Poiesis und Praxis anders konnotiert.20 Die Kunstprodukte des Theaters sind durch ihre Ereignishaftigkeit flüchtig und stehen der Lehre weniger unmittelbar zur Verfügung als Werke der bildenden Kunst. Produktions- und Rezeptionsprozesse sind entsprechend schwieriger miteinander zu verzahnen. Nicht zu unterschlagen ist aber die Bindung an ein vorgestelltes Werk, eine Präsentation, die jeden theaterpädagogischen Inszenierungsprozess in der Regel – mindestens subtil – permanent begleitet. Wie löst man sich aus dieser den ästhetischen Bildungsprozess zwingend mitbestimmenden Klammer der Veröffentlichung eines Ergebnisses vor einem Publikum? Hans Martin Ritter hat im Rahmen der Produkt-Prozess-Debatte in der Theaterpädagogik Anfang der 1990er-Jahre stichhaltig hinterlegt, dass im Theaterspiel jeder Prozess von Produkten begleitet ist, wie jedes theatrale Produkt von Prozesshaftigkeit durchzogen sein muss, um überhaupt zur Aufführung zu kommen (vgl. Ritter 1990). Entscheidend scheint mir aus heutiger Perspektive die Differenzierung im Umgang mit den Produkten: Die immer noch beliebte »Ergebnispräsentation« von Klein- und Kleinstprodukten, die während einer Projektpraxis gruppenweise oder solistisch hergestellt werden, hätte meiner Argumentationslogik zufolge nur dann berechtigten Sinn, wenn alles darangesetzt wird, diese sofort (!) wieder in einen Prozess zu überführen, der ihren Produktcharakter negiert. Das heißt, das suchende Spiel und situative Produkt müssen praxisdominant bleiben. Damit ist auch die Art und Weise der Interventionen und Interaktionen gekennzeichnet: Es geht nicht um »Korrekturen« am Produkt, die eine erneute Prozessualisierung bedingen, sondern um ein Verschlingen des Ergebnisses in der Suche und im Spiel. Konsequenzen. Performative Akte haben, vermutet Sowa, Sprengkraft für Bildungsprozesse. Die trifft insbesondere auf kunstpädagogische Akte zu, da in ihnen Prozesse der Praxis zur Erfahrung kommen, denen ein erweitertes Bildungsverständnis beigestellt werden muss: »Mit so geschärften Ohren müssen wir auch auf die poietische Konnotation des Begriffs ›Bildung‹ achten und ihm als Korrektiv eine zweite Konnotation beiseitestellen, die prozessual, spielerisch, praktisch ist und ›Bildung‹ mehr als eine offene ›Erfahrungsgestaltung‹ oder besser noch: ›wirkliche Handlungserfahrung‹ interpretiert« (Sowa 1999; 13). Diesem Praxisparadigma folgend verspricht die Beschreibung von konkreten Verfahrensweisen eher dann Gewinn für prozessuales didaktisches Denken, wenn diese nicht auf Verund Praxis stattgefunden. Tanja Wetzel bezeichnet die gegenwärtigen praktischen Zugänge zur Kunst als »risikobereiter als hermeneutisch orientierte Varianten« der Kunstpädagogik und führt den Entwicklungssprung zurück auf die »Lust an der Intensität von Erfahrungen, von neuen Erfahrungen, wie sie sich in der Inszenierung, der Performance und dem Spiel« machen lassen (Wetzel 2005; 76). 20 | Vgl. hierzu die Nachzeichnung historischer Entwicklungslinien der noch relativ jungen theaterpädagogischen Disziplin bei Hentschel (Hentschel 1996).

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fahren der Herstellung ausgerichtet sind, wenn also nicht rekursiv der Werdegang einer Inszenierung nachgezeichnet wird, sondern Momente dichter Suche sichtbar gemacht werden können. Das Spiel als Prinzip solcher Prozesse setzt die Vorzeichen für diese Suche. Prozessuale, performative Akte sind aber »unlösbar mit der Person verbunden, die sie aktuell ausführt, sie sind zugleich unlösbar mit der Situation verbunden, in der sie ausgeführt werden. Sie sind keine mimetischen ›Darstellungen‹ im Sinne der Schauspielerei, sondern sie sind die Weise, wie eine Person sich handelnd zeigt, handelnd zum Erscheinen kommt und ins situative und kommunikative Feld hineinwirkt« (vgl. ebd.; 6). In der Konzentration des Lehrens auf performative Verfahren liegt nach Sowas Einschätzung das Potenzial für »erheblich mächtigere Energien einer Kultur des Fragens und Antwortens, des Spielens und Zuhörens« (vgl. ebd.; 14). Sie implizieren eine andere Disposition im Wahrnehmen, Handeln und Gestalten durch die Lehrperson: »Solche Situationen und Prozesse beanspruchen ein anderes Wahrnehmungsethos, ein anderes kommunikatives Ethos, ein anderes Ethos des Verhaltens und Handelns als jenes Ethos, das in linearen Herstellungsprozessen oder klar strukturierten Situationen beansprucht wird. Sie beanspruchen andere Formen von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit, andere Kategorien des Begreifens und Verstehens. Sie beanspruchen darüber hinaus ein hohes Maß an Offenheit einerseits, Reflexivität gegenüber den eigenen Glücksansprüchen andererseits, Toleranz einerseits, Mut und Entschlossenheit andererseits« (ebd.; 15f.). Welche Konsequenzen birgt ein solchermaßen verstandenes didaktisches Handeln für die Lehrpraxis? Ausgehend von dem Widerstand durch Einbringen des Anderen in den Vermittlungsprozess ist nach der performativen Komponente des Lehrhandelns zu fragen.

2.3 Lehr-Lern-Verständnis in der Kunstdidaktik Staunkraft. Ein Blickwechsel auf den praktischen Vollzug von Vermittlungsverfahren kann nicht allein für kunstpädagogische Lehre in Anspruch genommen werden, sondern richtet sich generell auf das Prinzip des Lehrens. Der Bildungstheoretiker und Pädagoge Horst Rumpf überträgt allgemeingültig – unter dem Vorbehalt, dass auch das Lernen und Erlernen von Fertigkeiten und Wissen notwendige Voraussetzungen von Bildung sind – dem an transformatorischen Bildungsprozessen interessierten Lehrer die Verantwortung für »einen vollkommen anderen Aggregatzustand«, in den Inhalte, Beziehungen, Gedanken und leibliche Bewegungen aller Beteiligten geraten. Er kennzeichnet performatives, prozessuales Lehrhandeln folgendermaßen: »Lehren [...] heißt allenfalls Abräumen von leichtfertig übernommenem, nur nachgeredetem Wissen, Hilfestellung geben beim Ordnen der Gedanken, Ernstnehmen und immer neues Mitvollziehen von Annäherungen an die Sache. Solches Lehren hat Züge des Zeigens, des Wartens, des Hörens, des Ordnens – es hat nichts gemein mit dem Bescheidwissen des Verpackungskünstlers

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oder Lerntrainers. [...] Hier ist eine andere Disziplin, eine andere Konzentration, eine andere Anwesenheit vonnöten als beim Einstudieren von Fertigkeiten« (Rumpf 2004; 17f.). Das angesprochene Handlungsprinzip bedingt in seinen Augen eine andere »Staunkraft« des Lehrers, die charakterisiert ist über eine »bestimmte Art, Wissen zu vergessen« (vgl. ebd.; 145). Dieses Nichtwissen, das Parallelen zu dem Terminus des »Nichtverstehens« von Hans-Thies Lehrmann aufweist (vgl. Kapitel I.4), setzt ein souveränes pädagogisches und sachbezogenes Wissen voraus, akzentuiert aber die »Fähigkeit und Bereitschaft, angehäuftes Wissen in einer bestimmten Weise zu vergessen« (vgl. ebd.). Der Modus des Nichtwissens setzt demnach eine aktive und zielgerichtete Beschäftigung mit Strategien und Prozessen der ergebnisoffenen Suche voraus. Diese wird von Rumpf im Unterschied zu »purem Nichtwissen«, das »alle Erkenntnisspuren einfach nur löscht«, definiert als Vollzug eines Schwebezustands zwischen bekannt und unbekannt (vgl. ebd.).21 Die Lehrperson befindet sich aber nicht nur wissend und dennoch nichtwissend zwischen dem Lerninhalt und seiner Vermittlung, sondern sie ist ebenso über ihre Interaktionen Bindeglied auf der Schwelle des Liminalen. »In der Vermittlung steckt die Mitte, das Dazwischen. Eine Zeit bzw. ein Raum, ein ›Schauplatz‹ wird gebildet, in dem etwas entstehen kann, von dem man vorher nichts wusste. Dann wäre die Ver-Mittlerin eine Anwesende, die etwas, das sie wahrnimmt, miteinander in Verbindung bringt, verknüpft, trennt, durchkreuzt; die assistierend, helfend, ergänzend, störend eingreift, mitmischt«, sagt Eva Sturm über die Vermittlungssituation und fährt fort: »Die Lage der Kunst-Vermittlerin ist also durchaus ernst, der Ver-Mittler oder sie steht in der Mitte, am Rand, im Weg, dabei und daneben, anwesend-abwesend, zwischen aktiv und passiv. Er/sie ist ziemlich bestimmend, und tritt er noch so zurück. Und irgendwann passiert vielleicht etwas – oder nicht. Das lässt sich bei allem guten Willen nicht kontrollieren und oft auch schwer feststellen« (Sturm 2004; 178). Auch in dieser Instanz kommt die Staunkraft zum Zug, sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf das Subjekt und seine individuellen Verfahrens21 | Rumpf konkretisiert diese Schwebe mit folgenden Worten: »Das vor Augen Liegende, das selbstverständlich Gewusste gerät da in eine Balance, verliert seine Eindeutigkeit und mit ihr die Züge des Gewohnten und Vertrauten. Es ist, wie wenn einem mit einem Mal Worte fehlen und man ins Stammeln kommt angesichts von Sachverhalten, die einem doch längst bekannt sind. Im Bekannten setzen sich Züge des Unbekannten durch. [...] um etwas lehren zu können, muss man imstande sein, in seinem Kopf eine Leere entstehen zu lassen [...], um wieder fast so auf zuvor Gewusstes hinschauen zu können, als sähe man es zum ersten Mal. Ohne diese Staunkraft wird eine Lehrperson sich höchstens dumm stellen und Fragetechniken in Gang setzen, von denen alle Beteiligten wissen, dass sie schlechtes Theater sind« (ebd.; 145). Er gewinnt durch diese Charakterisierung aber weder zusätzliche Anhaltspunkte für eine didaktische Theoriebildung, noch ist eine Praxisreflexion mit solchen rhetorischen Spielereien konstruktiv voranzutreiben.

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weisen mit dem Inhalt, knüpft an die Differenzen an, die den Prozess der Suche zu einem einmaligen, neuartigen Geschehen machen und für die Akteure habituelle Herausforderungen bedeuten. Lehren in diesem Sinne heißt, sich sowohl inhaltlich als auch methodisch auf eine Suche einzustellen, das Spiel der Praxis als ein gemeinsames zu riskieren, ohne die Bildungsabsicht aus dem Handlungsbewusstsein zu verlieren. Zeichenprozesse. Bezeichnete bereits Otto Lehre als »Inszenierung von suchender Intensität« (Otto 1998; 16), greift Sowa diese Devise in ähnlicher Hinsicht auf und präzisiert, unter der Vorgabe performativer Akte, Handlungsvollzüge des Lehrens als »ein Verfahren der inszenierenden Situations- und Wahrnehmungsmodellierung, ein Verfahren, situative Aufmerksamkeitsstrukturen zu verschieben und zu lenken, ein Verfahren des achtsamen situativen Fragens und Antwortens, des Reagierens und Interagierens, des permanenten ›Zum-Kippen-Bringens‹ von gemeinschaftlichen und individuellen situativen Verständnishorizonten« (Sowa 1999; 14). Augenscheinlich treten neben Momente des dialogischen Handelns, die frei von technologischen und poietischen Zielvorgaben Lehrprozesse aus der sozial und individuell spezifischen Situation generieren, Interaktionsflächen, die mit dramaturgischen Motiven spielen. Inszenieren, Wahrnehmungsverschiebungen, das »Zum-Kippen-Bringen« bestehender Interpretationsmuster sind Vokabeln, die ähnlich für die theatrale Kommunikation zwischen Schauspielern und Zuschauern Verwendung finden. Bei Maset sind für die Lehrsituation zum einen die Zeichenvorgänge von besonderer Relevanz, die die Konstitution, Konstruktion und Produktion des Subjekts betreffen, und zum anderen jene, die Kommunikationsprozesse auslösen, hervorbringen und bewirken können (vgl. Maset 1995; 175). Unter lehrtheoretischen Aspekten sind diese Zeichen jeweils als ein Kommunikationsvorgang von Zeichenhandlungen des Theaterpädagogen und solchen der Spieler zu begreifen und müssen aufeinander bezogen werden. Es ist also einerseits das Lehrhandeln in Bezug auf Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse des spielenden Subjekts zu thematisieren, andererseits sind Prozesse zu lokalisieren, in denen Handeln Reflexions- und Kommunikationsprozesse initiiert. Offen bleibt dabei die Frage, so Maset, wie das, was im Vermittlungsprozess durch spezifische Verfahren vermittelbar wird, zeichenhaft in den Horizont von Kommunikation gelangen kann (vgl. ebd.; Hervorhebung im Original). Bei Berücksichtigung des situativen Kontexts und der Persönlichkeit des Lehrers, die als stilbildende Komponenten jeden Vermittlungsprozess unikal machen, und der darin enthaltenen Aufgabe, ein dialogisches Spiel um die Kommunikation von und mit Zeichen und Zeichenprozessen zu entwickeln, ist die Frage, wie eine didaktische Reflexion strukturell gestaltet sein kann. Für den kunstdidaktischen Diskurs hält Klaus-Peter Busse es für unverzichtbar, »den künstlerischen Vermittlungsraum deutlich als performatives Netzwerk, vielleicht sogar als ein Rhizom von Hand-

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lungschoreographien zu beschreiben, das man [...] als eine prozessuale Kartografie von ästhetischen Suchbewegungen bezeichnen kann« (Busse 2004; 188). Diesem Umstand soll bei der Auswertung und Analyse von PraxisHaltungen in Proben entsprochen werden (vgl. Kapitel V).

2.4 Zwischenstopp Fachdidaktische Theoriebildung in einer von Pluralitäten gekennzeichneten Gesellschaft kann einer Praxisrelevanz ihrer Reflexionen nur nachkommen, wenn anstelle von normativen Vorgaben anschlussfähige Konzepte entwickelt werden, die autonomes didaktisches Handeln stärken und didaktische Fantasie freisetzen. Im kunstpädagogischen Handlungsfeld umfasst dies konzeptionelle Ansätze, die Bildung in den Künsten nicht zur Zementierung prekärer gesellschaftlicher Realität instrumentalisieren, sondern allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen Spielräume öffnen, ihre Differenzen zu entfalten und diese in der Begegnung mit dem Anderen in immer wieder neue Differenzen zu transformieren. Das Gestalten von Erfahrungen in inszenierten Unterrichtssituationen dichter Suche ist aus didaktischer Perspektive zentrale Schnittstelle im Drahtseilakt zwischen Kunst und Pädagogik. Verfolgte die Kunstdidaktik bislang eher die analytische Durchdringung von Herstellungsregeln, ihre Folgerichtigkeit und Stringenz, wird es unter dem wechselnden Vorzeichen eines aktualisierten Bildungsbegriffs notwendig, die didaktische Aufmerksamkeit auf eine möglichst transparente Beschreibung von Suchprozessen zu richten, die die performativen Momente und ihre Relevanz für eine bildungstheoretisch orientierte Fachdidaktik hervorhebt. Diese sind im Spiel der Vermittlung verankert. Das Erfahrungspotenzial in den Prozessen selbst zu entdecken und gleichzeitig eine ergebnisoffene Suche in Gang zu setzen, bringt Praxis und Poiesis in eine neue Relation. Die performativen Kräfte in den Herstellungsprozess so zu implementieren, dass Produkte in einer erneuten Prozesshaftigkeit verschlungen werden, führt zu einer veränderten kunstpädagogischen Praxis. Für deren didaktische Analyse sind entsprechend Verfahrensweisen mit dem Fokus auf den ihnen immanenten kommunikativen und situativen Anteilen von Interesse. Welche Suchstrategien das spielerische Hin und Her in der Auseinandersetzung mit dem Anderen stärken, ist für Bildungsprozesse, die der aktiven Mitgestaltung und selbstbestimmten Teilhabe an kulturellen Weiterentwicklungen Raum verschaffen wollen, wesentlich. Unter lehr-lern-theoretischen Gesichtspunkten ist der Blick zu lenken auf die initiierten Ereignisse und die Art der Interaktionen und Interventionen in einem Handlungsverlauf. Allerdings bildet das singuläre Ereignis selbst nur eine punktuelle Schnittstelle in einer Kontinuität von Ereignissen und Auseinandersetzungen mit dem Anderen. Erst das Aufzeichnen von Ereignisketten ermöglicht eine sinnstiftende Reflexion auf charakteristische Vermittlungsinterventionen und kontextualisiert die

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Interaktionen im Zusammenhang einer zeitlichen Abfolge. Wo und wie in dieser Kette Distanznahme und Differenzerfahrung des Subjekts ausdrücklich zum Thema werden, ist als weiteres didaktisches Erkenntniselement von Belang. Dieses Vorgehen ist bei der Analyse von PraxisHaltungen (Kapitel V) zu berücksichtigen. Anstelle einer rekonstruktiven Grammatik stehen demzufolge Aspekte einer generativen Grammatik im Mittelpunkt, die strategisches Handeln in ein Spiel um Findungen und Erfindungen transformiert und entlang der Erzeugung von kunstdidaktischen Prozessen verfolgt. Das Fremde/Andere kommt dabei neben den spezifischen Wahrnehmungsund Gestaltungsprozessen in Reibung mit dem künstlerischen Material in der Art der persönlichen und individuellen Zugänge, Interventionen und Umwege, angeregt und begleitet durch eine verantwortliche Lehrperson. Die Evaluationen von Interaktionstransformationen des Lehrens sind als zwischen Inhalten und Begegnungen vermittelnde Zeichenprozesse und Zeichengenesen gekennzeichnet, die nur im Zusammenspiel mit den konkreten Spielern und den sich jeweils neu gestaltenden Kontexten schlüssig nachvollziehbar sind. Für die didaktische Analyse eignen sie sich als Fantasiegenerator.

3 S PIELEND DENKEN II Theaterpädagogische Praxis will die Spieler auffordern und herausfordern, einen Schritt weiterzugehen: mehr, Anderes, Überraschendes zu tun und wahrzunehmen, das den Sinn eigenen Handelns neu befragt, neues Handeln sinnfällig macht. Dabei deklariert theaterpädagogische Wirklichkeit einen Ausnahmezustand: Wissen soll generiert werden, ohne auf Wissensvermittlung zu bauen, Bildungsprozesse sollen in Auseinandersetzung mit dem Anderen angeregt werden, ohne dieses Andere zu vereinnahmen, und poietisches Handeln soll dem Praxisparadigma eingebunden bleiben. Wie kann das erreicht werden? Da jeder Ausnahmezustand schnell zur Regel wird, muss sich dieser – um in Bewegung zu bleiben und sich immer wieder neu zu aktualisieren – permanent verändern und verwandeln. Aber nach welchen Kriterien entscheidet der Theaterpädagoge, in welcher Richtung er dabei suchen soll? Woher nimmt er seine Impulse für die Einspielung schneller, beatbetonter Musik in den Improvisationen? Wieso sind immer wieder verwandte Situationen bevorzugte Ausgangsbasis seiner Proben? Wie fordert der Theaterpädagoge zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit einem Stoff heraus? Was tut er, wenn Blockaden das suchende Vorgehen verhindern? Wie bildet er aus einer Gruppe von 20 Spielern ein verschworenes Ensemble? Proben und Produktionen sind gekennzeichnet von einer Handschrift, die unabhängig von dem bearbeitenden Stoff, der Zielgruppe und dem methodischen Verfahren den Arbeitsprozess maßgeblich prägt. Der Thea-

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terpädagoge greift demnach nicht allein über objektivierbare Verfahren in den Probenprozess ein, sondern entwickelt durch die Verfahren hindurch eine »Metasprache«, die »völlig in der Darstellung von Handlungen und Figuren aufgeht« (vgl. Pavis 1992; 443). In dieser Metasprache bilden Darstellungsstrategie und Erzeugungsstrategie eine Synthese, sie machen seine PraxisHaltung deutlich. Die verschiedenen ästhetischen und sozialen Kontexte finden dabei Berücksichtigung und führen zu jeweils anderen Ergebnissen, erkennbar bleibt aber ein typischer, entscheidender Zugriff, der sich von Projekt zu Projekt nur allmählich transformiert. In diesen Parallelitäten der Prozesse des Produzierens werden Ähnlichkeiten in der Auseinandersetzung zwischen Spielern und theatralen Mitteln offenbar, die den Arbeitsprozess des Spielleiters auszeichnen. Eine theaterpädagogische Metasprache erfordert fließende Übergänge zwischen sozialen und ästhetischen Kontexten, durch die ein Spiel »auf und mit dem Theater (entsteht), so dass die Grenze zwischen ästhetischem und sozialem Kontext aufgeweicht, nicht aber aufgelöst wird« (Wartemann 2004; 46). Dazu bedarf es eines »kalkulierten dramaturgischen Arrangements« (ebd.; 45), das die verschiedenen Bezugsebenen, die Inhalte eines Stoffs, den Habitus der Spieler, ihre körperlichen, sprachlichen und imaginativen Ausdrucksweisen in eine Schwebe bringt zwischen artifiziellen und vermeintlich natürlichen theatralen Vorgängen. Voraussetzung für die Reibung zwischen ästhetischem und sozialem Kontext ist ein Abstand zum nur Alltäglichen, der in der Begegnung zwischen Theaterpädagogen und Spielern erzeugt werden muss. Da soziales und körperliches Geschehen Hand in Hand laufen und miteinander hervorgebracht und entwickelt werden, können sowohl eine nicht alltägliche Körperpraxis wie ein anderer Modus des sozialen Miteinanders Ausgangspunkt für theatrale Praxis werden. Momente der kritischen Selbstreflexion und Phasen der staunenden Aufmerksamkeit für das eigene Andere markieren die Schnittstellen für Differenzerfahrungen, die als konstitutive Größe die theaterpädagogische Praxis auszeichnen. Das  heißt, ein immer wieder bewusst eingeleiteter Richtungswechsel der Thematisierung eines eigenen Innenraums respektive des sich verändernden Außen knüpft an die Erfahrungen im Selbst/Anderen an. Der vorsprachliche Impuls ist dabei ein ebenso wesentlicher Baustein für die Begegnung mit dem Anderen wie eine reflexive Verbalisierung erlebter Wirklichkeit. Ein didaktisch-dramaturgisch tragfähiges Konzept für die Theaterpädagogik muss körperliche wie  geistige Herausforderungen zu initiieren suchen. Gedankliche und körperliche Praxis prägen die theaterpädagogische Arbeit und bilden erst im Verbund die fachdidaktische Basis der Theaterpädagogik. Zur Herausforderung werden sie, wenn der Umgang mit beidem um des Produzierens willen die Praxis bestimmt, wenn also die Absicht des Erfahrens eines Anderen nicht bei der Selbstthematisierung endet, sondern nach Transformationswegen gesucht wird, die das Besondere dieser Auseinandersetzung in theatralen Ereignissen kommunizieren. Das

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ist der wesentliche, größte Schritt, der in der Probenarbeit zu leisten und zu erreichen ist. Das heißt, sich auf den Weg zu machen, zu begreifen, was Herstellen von Kunst in der Praxis des Theaters meint. Aufgabe der Regie ist es, mit dem Ensemble aus den »gelungenen« Momenten der sozialen, körperlichen Praxis in die Praxis des Herstellens von Kunst zu kommen. Dies beginnt in der Art der Aufgabenstellung, setzt sich im spezifischen Fokus auf die Erfahrungsprozesse der Spieler in der Erzeugung von theatralen Ereignissen fort und durchzieht das Selbstverständnis, mit dem der Theaterpädagoge sein eigenes Handeln reflektiert und entwickelt. Statt die Wiederholbarkeit von Darstellungsformen an der Reproduktion der Handlungen zu erwirken, ist der Rekonstruktionsprozess von inneren Dispositionen zu belichten, die zu einer bestimmten Darstellungsqualität führen. Die theatralen Vorgänge – innere wie äußere – zu erhellen und in dem jeweils situativen Kontext damit zu spielen, also einen besonderen Modus des Erfahrens von etwas als generativen Kern für Darstellung und Bildung zu veranschlagen, ist wegweisend für die Fachdidaktik. Dazu gehört, überträgt man diese ersten fachdidaktischen Setzungen in eine Dramaturgie des Probens, sich nicht an die Darstellung einer Sache zu klammern, sondern die Repräsentationsabsicht mit Prozessen des Produzierens zu korrumpieren und das Zeigen als Erzeugen von Erfahrung zu einer generellen und generativen Kultur der Probe werden zu lassen. Dies beginnt beispielsweise mit der Frage, welcher Status Repräsentationen in Bezug zur Suche nach möglicher Präsentation zugesprochen wird. Am Beispiel von Präsentationen einzelner Arbeitsgruppenergebnisse wäre der Fokus auf Erfahrungsprozesse dann gegeben, wenn der Modus der Suche nach Darstellung und Erzeugung von Darstellung unmittelbar in die Präsentation eingreift, indem der Produktcharakter durch eine neue Spielaufgabe gar nicht erst als solcher ausgestellt wird, sondern schon wieder eine neue Rahmung, eine erweiterte oder veränderte Aufgabe das gefundene Material in noch nicht bekannter Weise nutzt und transformiert. Prozessual können auch Spielversuche von Teilgruppen werden, wenn die Zuschauenden ihre Wahrnehmung schulen, um in einem entsprechenden Spielversuch die gemachten Beobachtungen in eigenes Handeln zu integrieren. Eine vorbereitete Szene, selbst ein einstudierter Monolog oder eine Inszenierung müssten unter dem Praxisparadigma jeweils neu mit unerwarteter Spielaufgabe durchkreuzt werden, sodass Vorbereitung sinnvoll und notwendig wird, aber nicht in (Re-) Präsentationen mündet.

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III Fachdidaktische Spielräume

Als Ausgangspunkt für eine theaterpädagogische Fachdidaktik kann mit Hans-Wolfgang Nickel das Didaktisieren des eigenen Handelns als eine immer schon wirksame Denkbewegung geltend gemacht werden, denn »in jedem Spielleiter sind theoretische Grundannahmen wirksam; er geht aus zumindest von einer ›Alltagstheorie‹ für seine Arbeit« (Nickel 1990; 25). Diese Alltagstheorien können bewusst gemacht und in Reibung mit anderen Theorien des Handelns gebracht werden, sodass aus diesem Diskurs Fachtheorie gewonnen wird. Solange Praxis autonom gedacht und Fachtheorie unverbindlich gehandelt wird, ist die von Nickel vorgeschlagene Form der Theoriebildung relativ komplikationslos einzulösen. Begründungsbemühungen stoßen jedoch insbesondere dann an Grenzen, wenn die berufliche Profession im Zuge gesellschaftlichen Wandels auf neue Ausgangslagen trifft, kulturelle Entwicklungen und wissenschaftliche Erkenntnisse in bisheriges Denken und Handeln zu integrieren sind oder eine berechtigte Kritik die bisher gültigen Legitimationswege infrage stellt. Wie kann man diesem Umstand produktiv begegnen? Jakob Jenisch empfiehlt dem Theaterpädagogen vorbeugend ein Sammelsurium an Theorien und beruft sich auf Brecht, den er mit folgenden Worten zitiert: »Ein Mann mit einer Theorie ist verloren. Er muss mehrere haben, vier, viele. Er muss sie in die Tasche stopfen wie Zeitungen, immer die neuesten« (Jenisch 1997; 78). Reichhaltige Theoriesteinbrüche sind nach Jenisch beispielsweise bei Brecht und Stanislawski zu finden, allerdings erfordert es »genaue Suchbefehle« und einen »robusten Presslufthammer«, »um aus den schon sehr versteinerten Theorien wirklich das herauszumeißeln, was er [der Theaterpädagoge; ms] für sich gebrauchen kann« (ebd.; 82). Ergänzungen findet der »theoriebesessene Theaterpädagoge« aus Jenischs Sicht in sozialpädagogischen und psychologischen Gefilden, deren Erkenntnisse und Methoden einen Theorieverbund bilden, aus dem sich der Theaterpädagoge je nach Situation die entscheidenden Hilfsmittel herausgreifen kann (vgl. ebd.). Die Frage, wie daraus didaktische Begründungen oder gar eine Fachtheorie entwickelt werden

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kann, bleibt allerdings offen.1 Den Pool von Bezugstheorien mag ein wacher Kopf mit Gewinn für die kritische Revision eigener Interaktions- und Interventionsstrategien hilfreich gebrauchen, für die Theoriebildung ist dennoch ein systematisches Vorgehen wichtig. Die einfache Addition verschiedener sozialpädagogischer und psychologischer Theorien mit Theater- und Schauspielwissen aus Künstlertheorien ergibt nicht zwingend einen gelungenen theaterpädagogischen Theoriediskurs, sondern bleibt im Zufälligen verhaftet. Der saloppe Import von Erkenntnissen oder Methoden aus anderen Disziplinen kann durchaus bereichernde Impulse für die Praxis liefern, valid werden sie erst im Zuge einer didaktischen Diskussion, die künstlerische und pädagogische Handlungsprofile bildungstheoretisch absichert.2 Ausgehend von der vorgenommenen Positionsbestimmung innerhalb der allgemeinen Didaktik (vgl.  Kapitel II.1) und den besonderen fachdidaktischen Bedingungen kunstpädagogischer Provenienz (vgl. Kapitel II.2) steht die Frage im Raum, wie diese Ausgangslagen für eine theaterpädagogische Fachdidaktik zu konkretisieren sind. Im Kontext einer Suche nach Handlungsstrategien in Probenkontexten der Theaterpädagogik ist dieses Wie sowohl bildungstheoretisch zu spezifizieren als auch unter dem Aspekt lehr-lern-theoretischer Überlegungen an den aktuellen Wissensbestand des Fachs anzuschließen. Ein fachdidaktisches Lehr-Lern-Verständnis muss bildungstheoretisch begründet und handlungstheoretisch fundiert sein. Es setzt sich zusammen aus den Spielräumen, die theaterpädagogische Bildungsanliegen und Interaktionsfelder der Vermittlung auszeichnen. In einem ersten 1 | Jenisch löst den selbst geforderten Eklektizismus, indem er im weiteren Verlauf seiner Meinung nach profitable Theoriebaukästen benennt (insbesondere die TZI) und deren Werkzeuge für einen Einsatz in der theaterpädagogischen Praxis als hilfreich deklariert. Allerdings rutscht die Theaterpädagogik damit ab in eine methodische Indienstnahme für pädagogische Zwecke und der ästhetische Bildungswert verliert an Bedeutsamkeit und Substanz. 2 | »Die bildungstheoretische Begründung des Faches verweist auf die Notwendigkeit der Ausbildung pädagogischer Kompetenzen als vorauszusetzende Qualifikation für die Tätigkeit des Kunstlehrenden und hält fest an der Polarität zwischen Pädagogik und Kunst. Der Kunstlehrende kann sich somit seinen professionstypischen Verantwortungen und Aufgaben des ›Anleitens, Befähigens, Ausbildens‹ (Gumpert et al.) nicht entziehen, muss diese jedoch permanent in Beziehung zum Fachgegenstand neu situieren. Die Kunstnähe der im zugespitzten Verständnis als eine ›Form angewandter Kunstpraxis‹ oder gar künstlerischer Vermittlungsformen verstandenen KunstPädagogik fordert von Kunstlehrenden eine permanente Reflexion über die Aktualität und Angemessenheit des eigenen Kunstverständnisses und setzt Toleranz gegenüber Neuem und Fremdem voraus. Diese bedarf der anhaltenden Auseinandersetzung mit den unablässig sich entwickelnden und sich in Frage stellenden ästhetischen Praxen und künstlerischen Ausdrucksformen und -mitteln« (Dreyer 2005; 41; Hervorhebung im Original).

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Schritt erfolgt deshalb eine Bestandsaufnahme des ›state of the art‹ theaterpädagogischer Fachtheorie. Die Auswahl beschränkt sich auf relevante Positionen einer bildungstheoretisch orientierten Theaterpädagogik und lotet die darin beherbergten didaktischen Positionen im Sinne bildungstheoretischer Spielräumen aus (Kapitel III.1). In einem zweiten Schritt wird das Handlungsfeld theaterpädagogischer Praxis lokalisiert. Die Situation der Probe gilt hier als Schlüsselmotiv, das hinsichtlich besonderer pädagogischer und künstlerischer Anforderungen zu erschließen ist, um Handlungsspielräume für Interaktionen und Interventionen zu konkretisieren (Kapitel III.2).

1 B ILDUNGSTHEORE TISCHE S PIELR ÄUME Für das weitere Vorgehen sind in einem ersten Schritt theaterpädagogische Argumentationen zu sichten, die Vermittlungsmotive und -ziele offenlegen. Da eine breite fachliche Übereinkunft besteht in Bezug auf das Bildungsanliegen der Theaterpädagogik (vgl. u.a. Hentschel 1996; Weintz 1998; Pinkert 2005; Hanke/Krokowski 2006), werden hier exemplarische Positionen sondiert, die für eine bildungstheoretisch orientierte Fachdidaktik der Theaterpädagogik gültige Referenzen darstellen (Kapitel III.1.1 bis III.1.2). Es soll beispielhaft ausgeführt werden, welche bildungstheoretischen Grundannahmen einzelnen Denkansätzen immanent sind, sowie die damit verbundene Zielsetzung für eine ästhetische Praxis dargelegt werden. In einem zweiten Schritt werden die lehr-lern-theoretischen Implikationen ausgewählter didaktischer Ansätze vorgestellt (Kapitel III.1.3 bis III.1.6). Da an dieser Stelle weder eine historische Entwicklung nachverfolgt werden soll noch die kunstpädagogische Debatte umfassend wiedergegeben werden kann, konzentriert sich die Darstellung auf den aktuellen Bestand von Forschungsarbeiten im Sinne eines ›state of the art‹ der theaterpädagogischen Theorieentwicklung. Berücksichtigt werden im nachstehende Kapitel vornehmlich die an Bildungs- und Vermittlungsanliegen orientierten Diskurse, entlang derer sich die Fachwissenschaft in den letzten Jahren zunehmend etabliert hat. Nach der notwendigen Ausrichtung didaktischer Fachtheorie im Kontext einer spiel- und theaterpädagogischen Handlungswissenschaft fragend, eröffnet die Arbeit von Ulrike Hanke, die die Bedingung für didaktische Spielräume klärt, den bildungstheoretischen Diskurs (Kapitel III.1.1). Von dort aus geht es weiter mit der Entwicklung des theoretischen Fundaments einer Theaterpädagogik als ästhetischer Bildung im Sinne von Ulrike Hentschel (Kapitel III.1.2), deren Erkenntnisse die Weiterentwicklung der Fachdidaktik maßgeblich geprägt haben. Daran angeknüpft stehen die Ansätze von Jürgen Weintz (Kapitel III.1.3), Wolfgang Sting (Kapitel III.1.4) und Hajo Wiese et al. (Kapitel III.1.5) zur Diskussion, die den

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bildungstheoretischen Spielraum konkretisieren. Im Anschluss wird der Bogen zurück zu einer aktuellen Verortung der Theaterpädagogik als ästhetisch bildender Disziplin mit Ute Pinkert neu gespannt und eine Erweiterung des Kunstbegriffs und der bildungsrelevanten Anteile in theaterpädagogischer Praxis vorgenommen (Kapitel III.1.6). Die abschließende Einordnung der erörterten didaktischen Ansätze knüpft an Mollenhauers Bildungsverständnis für die ästhetischen Disziplinen an und verbindet auf dieser Grundlage die erkenntnistheoretischen Neuerungen der Fachdisziplin (Kapitel III.1.6).3

1.1 Vom Gleichgewicht der Kräfte Dezidiert einer didaktischen Fragestellung zugewandt hat sich Ulrike Hanke, die in ihrer Dissertation ›Didaktische Spielräume‹ nach curricularen Notwendigkeiten in einer spiel- und theaterpädagogisch ausgerichteten Ausbildung von Sozialpädagogen fragt (Hanke 1997). Den entscheidenden Hinweis für didaktische Analysen von Probenprozessen findet man in ihrer wissenschaftstheoretischen Klärung der Relationen, die systematische pädagogische Praxisreflexionen im ästhetischen Kontext erfordern. Spiel- und theaterpädagogische Praxis wird von ihr als ein Gebiet bestimmt, das zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt ist: »Pädagogische Praxis ist keine Praxis jenseits von Wissenschaft und Kunst. Ebenso wenig aber ist ihre Praxis darauf zu reduzieren, einzig wissenschaftliche Reflexion ihres Gegenstandes oder einzig künstlerischer Reflex ihres Prozesses zu sein« (ebd.; 60). In der Analyse würde dieses Verhältnis aufs Spiel gesetzt, wenn beispielsweise der wissenschaftliche Aspekt dominiere, da dann, so Hanke, ein Bekenntnis zur rationalen Begreifbarkeit pädagogischer Phänomene den Stellenwert der Kunst in der Verbindung unterminiere (vgl. ebd.). Der darin aufgehobene Wunsch, dem Subjekt objektiven Halt anhand von übertragbaren, allgemeingültigen Lernprozessen zu geben, sei zwar nachvollziehbar, entspreche aber nicht der pädagogischen Realität. In Folge bestünde die Gefahr, auf normativem Weg Maßstäbe für die pädagogische Praxis auszuweisen, die in vorgeschriebenen didaktischen Figuren nur auf Wiederholungen setzt, anstatt Erneuerungen als konstitutives Element der Praxis zu verankern (vgl. ebd.). Im Ergebnis hätte man Handlungsentwürfe, die niemanden in die Lage versetzen, konkrete, einmalige Situation angemessen zu erfassen und frei von Vorschriften in ihnen zu interagieren. 3 | Im Dienste einer stringenten Evaluation der für meine Untersuchung zentralen Neuerungen wird hier bewusst nur eine kleine Anzahl von fachtheoretischen Arbeiten diskutiert. Die Kriterien für deren Auswahl lagen in erster Linie in der Entwicklung einer eigenen gedanklichen Vorstellung von den zentralen Triebfedern theaterpädagogischer Theorie und Praxis, in zweiter Linie in ihrem Potenzial für eine didaktische Weiterentwicklung der Theaterpädagogik aus lehr-lern-theoretischer Sicht.

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Würde als Umkehrschluss die künstlerische Konstruktion übergewichtet, ginge jegliche pädagogische Verbindlichkeit der Praxis verloren, an deren Bedeutung aber Pädagogik als gesellschaftliche Notwendigkeit festzumachen ist (vgl. ebd.). Rein künstlerische Betrachtungsweisen können die pädagogische Intervention weder nach innen noch nach außen legitimieren. Hanke präzisiert: »Pädagogik, in der es sich auch um künstlerische Formen dreht (also zum Beispiel Spiel- und Theaterpädagogik), befindet sich im Spannungsfeld von Wissenschaft und Kunst, also in einem Dilemma: Einerseits sollen sich die Erfahrungen künstlerischer Auseinandersetzung nicht in Schematismen instrumenteller Vernunft verflüchtigen, andererseits soll künstlerische Verausgabung nicht zu einer Auflösung rationaler Verbindlichkeiten führen, die sich dem Wissen über stattfindende Prozesse verdanken« (ebd.). In der gleichberechtigten Haltung gegenüber wissenschaftlichen und künstlerischen Konstrukten in pädagogischen Prozessen sieht sie eine Voraussetzung für das Entwerfen didaktischer Figuren, die verbindliche didaktische Spielräume öffnen.4 Hanke behauptet kunstpädagogische Fachdidaktik damit indirekt in ihrem wörtlichen Sinne als Lehrkunst, die dem unlösbaren Konflikt von einerseits wissenschaftlichen und andererseits künstlerischen Praxiskonstruktionen eigene Denkstrategien entgegnen muss.

1.2 Pendeln in Zwischenräumen Mitte der 1990er-Jahre hat Ulrike Hentschel mit ihrer Untersuchung »Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung« das profunde Fundament für eine solche Denkart innerhalb der Theaterpädagogik gelegt (vgl. Hentschel 1996). Sie beschreibt theaterpädagogische Positionen und Ansätze auf der Folie ihres je gesellschaftspolitischen und pädagogischen Legitimationshintergrunds und analysiert sie hinsichtlich der ihnen eingeschriebenen bildungstheoretischen Zielformulierungen. In einem weiteren Schritt kontrastiert sie diese Legitimationsstrategien mit der Darstellung der in klassischen Künstlertheorien enthaltenen Aussagen über die besonderen Dispositionen schauspielerischen Agierens. Hentschels Destillat führt zu einer Theorie ästhetischer Bildung, die an »der Besonderheit der Materialität der Kunstform Theater ansetzt« und »die spezifischen Erfahrungen der produzierenden Subjekte in diesem Prozess« zum Gegenstand hat (ebd.; 242). Künstlerisches und wissenschaftliches Konstrukt treten dabei in ein dialogisches Verhältnis und führen zu einer Absage an von außen definierte pädagogische Inhalte und Ziele, 4 | Exemplarisch hat Hanke in ihrer Arbeit einzelne Figuren für curriculare didaktische Spielräume in der Ausbildung von Sozialpädagogen entworfen und vorgestellt. Sie wählt hierzu eine Form der losen, subjektiven und assoziativen Verkettung von Einzelaspekten, deren Zusammenspiel erst in der Fantasie des Lesers zutage tritt und jeweils andere Resonanzräume anspricht.

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die durch die darstellerische Auseinandersetzung vermeintlich einzulösen wären (ebd.). Hentschel entgegnet einer solchen Funktionalisierung: »Nicht das Darstellen oder Abbilden von Wirklichkeit mit theatralen Mitteln wird in ästhetisch bildender Absicht angestrebt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass im Spiel eine eigene, theatrale Wirklichkeit erzeugt und dabei gleichzeitig die spezifische Modalität von Theater transparent wird« (ebd.). Das Zentrum didaktischer Überlegungen der Theaterpädagogik müssten demnach Schauspiel- und Inszenierungspraxen mit ihren Darstellungs- und Erzeugungsstrategien bilden. Die Nahtstelle für Vermittlung ist in diesem Zusammenhang das Spiel, das als Scharnier die alltägliche Wirklichkeit in eine theatrale transformiert. Dem Spiel fallen in dieser Argumentation künstlerische wie auch pädagogisch-wissenschaftliche Funktionen zu, denn es bürgt für die pädagogische Vermittelbarkeit von Theater durch Prozesse des Spiels und steht gleichzeitig als Prozessor für theatrale Wirklichkeiten auf der Seite der Kunst. Zu ahnen ist in ihren Ausführungen bereits, dass dem Spielverständnis zwar in Bezug auf die widerstreitenden Kräfte von Kunst und Pädagogik eine integrative Funktion zukommt, keinesfalls aber von einem harmonisierenden Prinzip gesprochen werden kann. »Als durchgängiges Kennzeichen der Erfahrung der Produzierenden im szenischen Prozess«, schreibt Hentschel, »lässt sich die Ambiguität der Spielsituation hervorheben. Die Tätigkeit des Spielens ist immer verbunden mit dem Konstituieren und Akzeptieren unterschiedlicher, nebeneinander möglicher Wirklichkeiten. [...] Erst die Bedingung, dass im Spiel eine eigenständige theatrale Wirklichkeit erzeugt wird, führt zu der Erfahrung des ›Dazwischenstehens‹« (Hentschel 1996; 244). Eine ausführliche Diskussion der besonderen pädagogischen und künstlerischen Implikationen des Spiels samt dessen Schnittstellen ist unter diesen Umständen für die Frage nach theaterpädagogischen Handlungsstrategien unverzichtbar. Erzeugt das Spiel sowohl die pädagogische als auch die künstlerische Wirklichkeit des Theaters, setzt die Vermittlung wahrnehmender und gestaltender Aspekte hier genauso an, wie über das Spiel ein Prozess der Suche bei den Spielern erzeugt wird, der bildenden Charakter annehmen kann (vgl. Kapitel IV). Der schauspielmethodische Fokus auf verschiedene Künstlertheorien bringt in der Arbeit von Hentschel zur Erkenntnis, dass die spezifischen Bildungsqualitäten des Schauspielens in Erfahrungsbereichen angesiedelt sind, die »das besondere Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Produzierendem und Produkt/Material« des Theaterspielens thematisieren: »Durch die Unablösbarkeit des produzierenden Subjekts vom Produkt seiner Gestaltung bekommt die Bildungsbewegung, die das künstlerisch tätige Subjekt in diesem Prozess vollzieht, die ihr eigene Qualität« (ebd.). Das »gleichzeitige Nebeneinander von nicht zu vereinbarenden Zuständen und Situationen« löst ein spannungsvolles Hin und Her des spielenden Subjekts zwischen verschiedenen, sich polarisierenden Erfahrungsmomenten aus und kann als Charakteristikum ästhetischer Prozesse im

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Theaterspiel und gelingender szenischer Gestaltung hervorgehoben werden (vgl. ebd.; 244). Theaterpädagogische Arbeit qualifiziert sich dann als bedeutsam für Prozesse ästhetischer Bildung, wenn sie es schafft, dem Theater spielenden Subjekt diese Pendelbewegungen in den eigenen Darstellungsversuchen zugänglich zu machen.5 In einem weiteren Schritt entwickelt Hentschel Kategorien, die diese theaterspezifischen Pendelbewegungen systematisieren. Die gesuchten oszillierenden Erfahrungen macht das spielende Subjekt ihrer Auffassung nach in den darstellungsspezifischen Anforderungen des Schauspiels, dessen Paradigma in der gleichzeitigen Präsenz von Spieler und Figur auf der Bühne liegt und an die Besonderheit geknüpft ist, im Theater immer zeitgleich Produzent und Material der Darstellung zu sein. Hentschel stellt dem Erfahrungsbereich zwischen Spieler und Figur jenen zwischen ›Körper-Haben‹ und ›Körper-Sein‹ zur Seite (vgl. ebd.; 163ff., 228ff.). Beglaubigt wird dies durch die von Plessner hervorgehobene exzentrische Positionalität des Menschen (vgl. hierzu auch Kapitel II.1.3). Ähnliches lässt sich für das Sprechen festhalten, das als weitere natürliche Verkörperungsform des Menschen im Theater auf vorproduzierte Texte trifft, denen produktiv begegnet werden muss, um das Oszillieren der Sprache zwischen Sinn und Sinnlichkeit neu zu verschränken und zu aktualisieren (vgl. ebd.; 229ff.). Die Erfahrung des labilen Gleichgewichts von bewusstem Gestalten und subjektivem Erleben eines Bühnenvorgangs lässt sich an die ambivalente Doppelfigur von Wahrnehmen und Zeigen in der Situation zwischen Bühne und Publikum knüpfen, die auf die besondere Konstitution der Wirklichkeit durch theatrale Zeichen und auf die Unmöglichkeit der Abbildung von Realität verweist (vgl. ebd.; 201ff.). Im Prozess der Gestaltung erfährt der Spieler diesen Umstand auch durch den zergliederten Prozess der szenischen Handlungen, deren zeitliche Strukturierung (Unterbrechungen, Zögern, Pausen) bestimmte Wirkungen bei den Zuschauern erzeugen will und gleichzeitig den Spieler selbst in diese Zeit einbindet, sodass (zwischen »Nicht« und »Sondern«) eine Verkettung von

5 | Zur Klärung des Begriffs ästhetischer Bildung schreibt Hentschel: »Auch der gängige Begriff der kulturellen Bildung ist weiter als der der ästhetischen Bildung. Das Konzept kultureller Bildung als Allgemeinbildung ist im bildungspolitischen Diskurs unverzichtbar, es ist interdisziplinär und es ist vor allem im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert [...]. Bildungstheoretisch ist allerdings eine Differenzierung möglich und nötig. Zur Kultur, oder besser zu den Kulturen, gehören – trivial, das zu sagen – neben der Kunst zahlreiche andere symbolische Praktiken der Alltagskultur. [...] Bildungsprozesse, die sich auf Kunstpraxis beziehen [...], sind also immer nur spezieller Teil kultureller Bildung. Für die Bildungsdiskussion spielt diese Differenzierung eine wichtige Rolle, da künstlerische Praxis die Symbolisierungsprozesse der umgebenden Kultur aufgreift, auf sie verweist, mit ihren Zeichen spielt. Erst daraus ergibt sich die spezifische Bedeutung künstlerischer Praxis im Bildungsprozess« (Hentschel 2007a; 6).

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Ereignissen gezeigt und gespielt wird, zwischen denen sich das spielende Subjekt befindet (vgl. ebd.; 201). Übergeordnetes Merkmal der genannten Kategorien sind die für ästhetische Bildungsprozesse unerlässlichen Pendelbewegungen – nach Gadamer das zentrale Wesensmerkmal des Spiels (vgl. Kapitel IV) –, die je einen Zwischenstatus markieren, in dem das scheinbar Subjektive objektiviert sowie anscheinend Objektives subjektiviert wird. Innerhalb dieser Prozesse erfährt der Spieler sich selbst in einer Differenz, die bestehende Selbst- und Weltbilder aufweichen und neu konfigurieren kann (vgl. Kapitel II.1.2). Die Differenzerfahrung ist wiederum das zentrale Bindeglied verschiedener methodischer Vorgehensweisen sowie Nahtstelle zu ästhetischen Praxen anderer Kunstdisziplinen und gilt als Initial für ästhetische Bildungspraxis. In ästhetischen Bildungsprozessen können solche Erfahrungen der Differenz nur punktuell ausgelöst werden und bleiben unberechenbar ob ihrer Wirkung. Theatrale Praxis muss entsprechend darauf vertrauen, diese destabilisierenden Momente in den schauspielmethodisch angelegten Pendelbewegungen von Darstellung einzuschließen. Nachfolgende Untersuchungen. Nachfolgende Untersuchungen nehmen dezidiert Bezug auf die von Hentschel für ästhetische Bildungsprozesse verbindlich eingeforderte oszillierende Bewegung zwischen miteinander unvereinbaren Polen und die daran gebundene Erfahrung der Differenz. In breiter fachlicher Übereinstimmung können ästhetische Bildungsprozesse anhand von Differenzerfahrungen im Medium des Theaters als Kernanliegen der Theaterpädagogik benannt werden. Hieran hat sich trotz mannigfaltiger Diversifikationen der darstellerischen Praxen mit nichtprofessionellen Akteuren wenig geändert, sodass im Fazit Hentschels Erkenntnisse weiterhin den fachtheoretischen Baustoff bilden. »Die aktuellen Entwicklungen im zeitgenössischen Theater haben«, resümieren Hentschel und Pinkert, »an dieser Grundauffassung nichts geändert. Im Ergebnis der Auseinandersetzung mit Formen des zeitgenössischen Theaters der letzten Jahre wurde die Differenzerfahrung als Kern des aktuellen Bildungsbegriffes in der Theaterpädagogik bestätigt« (Hentschel/ Pinkert 2008; 20). Die Absicht, unterschiedliche theoretische Denkschulen mit der skizzierten Haltung abzugleichen, die Lernerfahrungen des Subjekts zu spezifizieren oder geeignete Praxismodelle aus Hentschels Vorgaben abzuleiten, stand folglich in den letzten Jahren im Mittelpunkt des Interesses. Von verschiedenen Autoren wurde die Orientierung an schauspielmethodischen Arbeitsverfahren unter unterschiedlichen Gesichtspunkten präzisiert und für eine theaterpädagogische Theorie nutzbar gemacht. Erstaunlich ist, dass das Spannungsfeld zwischen Theater und Pädagogik seither entschärft zu sein scheint und aus dem Blickfeld der Theaterpädagogik schwindet.6 Kontrovers geführte Diskussionen 6 | Als Ausgangspunkt für Theoriedebatten in der Theaterpädagogik vor der Wende zum 21. Jahrhundert lieferte die Polarität von Theater und Pädagogik

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über Prozess- oder Produktcharakter theaterpädagogischer Arbeit, den sozialen, persönlichen oder politischen Gewinn an Bildung durch das Medium Theater sowie die Gegenüberstellung von pädagogischer respektive künstlerischer Intention des Handelns von Theaterpädagogen verlieren an Brisanz. Der Streitpunkt, ob in der Theaterpädagogik nun Kunst oder Pädagogik an erster Stelle steht, ist dem Versuch, die eigenen Arbeitsmodelle als bedeutsam für ästhetische Bildungsprozesse zu rechtfertigen, gewichen.7 Ohne den Entwicklungssprung innerhalb der theaterpädagogischen Theoriebildung in Abrede stellen zu wollen, droht im Zuge dieser ›Conditio qua non‹ allerdings die qualitative Komponente, bei Hentschel durch die Analyse ausgewählter Künstlertheorien gesichert, verloren zu gehen. Ihre Kerngedanken lassen sich allzu schnell hinter der genauso richtigen wie falschen Behauptung ›Theaterspielen bildet, indem Theater gespielt wird‹ verstecken. Dass dabei das ›Wie‹ des Produzierens ausschlaggebend für charakteristische Pendelbewegungen, Differenzerfahrungen und die Qualität ästhetischer Prozesse ist, wird in vorschnellen Vereinnahmungen und Pauschalisierungen leicht übersehen. Wie der Theaterpädagoge die bildungstheoretischen Erkenntnisse umsetzen kann, wie er Darstellungs- und Inszenierungsprozesse geschickt einfädelt bzw. seine Praxis überhaupt in solchen Dimensionen der Auseinandersetzung reflektieren – und gegebenenfalls entwickeln und verändern – kann, bleibt ein ungesichertes, verunsicherndes Feld. Exemplarisch stehen im weiteren Verlauf dieses Kapitels einige prominente Versuche der Übersetzung ästhetisch-

ein ausgezeichnetes Spannungsgefüge. Sich darin auf der einen oder anderen Seite zu positionieren galt als notwendige Voraussetzung für alle weiteren Diskussionen. Die Fragen um pädagogisches Theatermachen oder Theaterarbeit mit Laienspielern, die Auseinandersetzung, ob die Theaterpädagogik nur dem Prozess verpflichtet ist oder sich auch an ihren Produkten messen lassen muss, begleiteten zwangsläufig die grundsätzlichen Divergenzen von Theater und Pädagogik und führten zu pluralistischen Begründungsansätzen. Vgl. u.a. folgende Sammelbände: E. Bohn/S. Schröder (Hg.): Theater des Zorns und der Zärtlichkeit. Erfahrungsräume zwischen traditionellem Theaterbetrieb und alternativen Theatermodellen. Bielefeld 1988; H.-M. Ritter (Hg.): Spielund Theaterpädagogik: Ein Modell. Berlin 1990; B. Ruping/F. Vaßen/G. Koch (Hg): Widerwort und Widerspiel. Theater zwischen Eigensinn und Anpassung. Situationen, Proben, Erfahrungen. Lingen/Hannover 1991. 7 | Damit scheint zum einen die Forderung Hankes erfüllt, wissenschaftliche und künstlerische Betrachtungsweisen gleichrangig zu behandeln, zum anderen harmonisiert und homogenisiert die Zielvorgabe »ästhetische Bildung« Lehrpläne und Selbstdarstellungen in der öffentlichen Wahrnehmung. Dass nach wie vor divergente Konzepte und Strategien der Theaterpädagogik zum Einsatz kommen und die Fachwissenschaft mit durchaus widersprüchlichen Denkansätzen umgehen muss, steht zum Glück außer Frage.

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theatraler Bildung in lern- und lehrtheoretische Konstruktionen zur Diskussion.

1.3 Subjekt-, Sozial- und Kunstbezug Jürgen Weintz knüpft in seiner Arbeit »Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale Erfahrungen durch Rollenarbeit« an den Topos ästhetischer Bildung an und beschäftigt sich mit den schauspielspezifischen Erfahrungen, die theatraler Rollenarbeit eingeschrieben sind. Ausgehend von den ästhetischen und psychosozialen Aspekten des Theaterspielens versucht Weintz den Bildungswert subjektiver, künstlerischer und sozialer Erfahrungsdimensionen für nichtprofessionelle Darsteller zu konkretisieren (vgl. Weintz 1998). Anhand der strukturellen Differenzen von Theaterpädagogik und klassischem Schauspiel unterscheidet Weintz die drei genannten Dimensionen hinsichtlich der Ansprüche, die sie an den Spieler stellen (vgl. ebd.; 184ff.). Er kommt zu dem Ergebnis, dass »die Gewichte innerhalb dieser triadischen Struktur von Erfahrungsfeldern im professionellen Theater grundsätzlich anders als im nichtprofessionellen Spiel verteilt« seien, wobei »im pädagogischen Zusammenhang [...] in der Regel der Subjekt- und Sozialbezug (dominiert), im professionellen Rahmen der Kunstbezug« (ebd.; 197). Obwohl Weintz aufzeigt, dass auch in der schauspielerischen Rollenarbeit die von Hentschel ausgewiesenen Zwischenwelten vorzufinden sind und entsprechende Erfahrungspotenziale bereithalten, stellt er die Rollenarbeit mit nichtprofessionellen Spielern in einen Kontrast zur eigentlichen darstellerischen Auseinandersetzung: »Professionelle Schauspielkunst vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen dem intimen Charakter des Spiels bzw. seinen subjektiven Wirkungen und der Instrumentalisierung des Akteurs, der eine ›dienende‹ Funktion gegenüber Rolle und Inszenierung zu erfüllen hat. Beim professionellen Schauspiel soll die Einfühlung in Stoff und Figur nicht der Selbsterfahrung, sondern als Psychotechnik der Verwirklichung bzw. glaubhaften Verkörperung einer künstlerischen Idee dienen. Der Schauspieler stellt also seine seelischkörperliche Individualität in den Dienst an der Rolle (im Gegensatz zum pädagogisch angeleiteten Theaterspiel: hier steht – auch bei künstlerisch ambitioniertem Spiel – die Rolle eher im Dienst des Spielers)« (ebd.; 184; Hervorhebung im Original). Mit seiner Folgerung, dass anstelle des vom Schauspieler verlangten Dienstes an der Rolle in der Arbeit mit Laien die Rolle in den Dienst des Spielers trete, stellt er den pädagogischen über den ästhetisch-künstlerischen Sinnzusammenhang. Weintz erhebt somit die Pädagogik zur wesentlichen Instanz der Theaterpädagogik und schränkt den didaktischen Spielraum für ästhetische Bildung letztlich auf psychosoziale Prozesse ein, die im Rahmen einer Rollenarbeit provoziert, gesteuert und erfahren werden sollen. Im gleichen Atemzug reduziert er den Theatervorgang auf ein rein rollenbasiertes Spiel, das den Grundsätzen des psychologischen Realismus folgt. Dieses enge Theaterverständnis

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lässt theaterpädagogischen Suchprozessen und Spielformen, die einen neuen, anderen Umgang mit der Konstruktion von Rollen erproben, keinen Raum und erscheint als gedankliche didaktische Basis kritikwürdig. Das daraus resultierende Rollenverständnis und die individualistische Rollenkonstruktion verdrängen, beschneiden und reduzieren meines Erachtens außerdem die soziale Dimension szenischer Praxis und lassen das spielende Subjekt auf einem recht isolierten Posten darstellerischer Praxis allein zurück. Wird die soziale Praxis der schauspielerischen Arbeit auf die Verkörperung und psychosoziale Auseinandersetzung mit vorgegebenen Rollen eingegrenzt, fallen Bildungsprozesse zurück auf die Vorstellungen eines autonomen Subjekts. Gerade der »intime Charakter des Spiels«, so meine Vermutung, den er dem professionellen Schauspieler vorbehält, ermöglicht die Erfahrung der Differenz und eine subjektüberschreitende Begegnung mit dem heterogenen Anderen und markiert damit den wesentlichen didaktischen Aspekt theaterpädagogischer Praxis.

1.4 Spiel als Basisstation Wolfgang Sting nimmt anstatt der Rolle das Spiel zum Ausgangspunkt didaktischer Reflexionen für theaterpädagogische Inszenierungspraxis und begründet es als zentrale Basisstation: »Spiel, das sich zum szenischen und darstellenden Spiel verdichtet, und Szene, die sich zu Inszenierung verdichtet, kennzeichnen den Arbeitsprozess des Theatermachens« (Sting 2005; 137). Spiel, Szene und Bildung, so der Titel des Aufsatzes, versteht er als eine »mögliche Reihung und Verdichtung«, die pädagogische und künstlerische Ansprüche der Theaterpädagogik vereint, soziale und ästhetische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt (vgl. ebd.). Der bildende Anspruch, der die Sichtweisen und Ausdruckspotenziale der Spieler thematisiert, führe dabei zu einer eigenen, »sozialen Ästhetik« (Wartemann 2002), so Sting (vgl. Sting 2005; 141f.). Sting katalogisiert häufig zu beobachtende Merkmale aktueller theaterpädagogischer Praxis, die diese soziale Ästhetik kennzeichnen:8 Der freie Umgang mit Text und eine am Ensemble orientierte Arbeitsweise, die neue Spiel- und Erzählformen erlauben, die meist antiprotagonistische und antipsychologische Darstellungsform mit dem Verzicht auf Haupt- und Nebenrollen, das Spiel mit Stilisierungen und Symbolen und der in der Regel reduzierte Rollentext lassen mehr Raum für Körpersprache, Rhythmus und Zusammenspiel und führen insgesamt zu variantenreichen Erzählweisen, die Bilder und Fragmente zu Collagen kombinieren, auf chorische Spielformen bauen und keinen durchgängigen dramaturgischen Handlungsbogen voraussetzen (vgl. ebd.; 141). Cha8 | Die von ihm genannten Merkmale findet man häufig auch in zeitgenössischen Theaterformen wieder. Sie können somit auch gelesen werden als lohnende Verknüpfungen der Theaterpädagogik mit den Entwicklungen des Gegenwartstheaters.

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rakteristisch ist ihr Potenzial für eine intensive soziale Kommunikation, die das gemeinsame Machen, das Aufgreifen gemeinsamer Themen und die Entwicklung einer eigenen Ästhetik fordert und fördert. Die soziale Ästhetik solcher Projektarbeiten bringt zudem die Spieler in den Vordergrund, ermöglicht Ausdrucksformen jenseits der schauspielerischen Norm und ist offen für die im Probenprozess gesammelten Ausdrucksmittel und -möglichkeiten. Es ist »eine künstlerische Gruppenarbeit, die das Ausdrucksvermögen und den Blick der Beteiligten (auf das Material, das Thema, sich selbst, die Welt) schult und inszeniert. Dabei bleibt festzuhalten, dass das Pädagogische vom Ästhetischen nicht zu trennen ist. Nur durch die ästhetische Praxis ergeben sich die am Theaterspielen gelobten Lernprozesse«, so sein Fazit (ebd.; 142). Wenig differenziert wird seine Argumentation an der Stelle, wo er behauptet, künstlerische und didaktische Aspekte fielen zusammen (vgl. ebd.), und so überrascht es wenig, dass er in der Analyse von vier zentralen Komponenten theaterpädagogischer Praxis (Körper als zentrales Ausdrucksmittel, Gruppe als elementare Arbeitsform, Experiment als wichtigstes Arbeitsverfahren und Präsentation/Aufführung als besondere Kommunikation) nur pauschale didaktische Aussagen (Lernen mit allen Sinnen, Körperlichkeit und Kognition, Schülerorientierung und offene Lernsituation, praktisches Lernen, Projektcharakter) erzielt (vgl. ebd.; 142ff.). Aufschlussreich und weiterzuverfolgen ist allerdings der seinen Überlegungen zugrunde liegende Gedanke, dass nämlich »erst durch die Befragung des Entstehungs- und Gestaltungsprozesses [...] die Komplexität einer Inszenierung sichtbar« wird und die Entscheidungen und Setzungen auf dem Weg zu einer Präsentation sich erst »über die unterschiedlichen Arbeitsphasen und -prozesse wie Konzeptüberlegungen, Materialsuche, Probenarbeit und Gruppendynamik« für die Lernsituation durchdringen lassen (ebd.; 138). Seine These gibt deutlich die Notwendigkeit von Prozessbeschreibungen des Inszenierens für die didaktische Praxisreflexion vor: »Auswahl und dramatische Strukturierung des Materials, der Er- und Bearbeitung des Materials als Gruppenarbeit, der sozialen Interaktionen bis zur Inszenierung eines ästhetischen Produkts und zur Realisierung einer Aufführung. Erst diese komplexe Arbeit vermittelt die angesprochenen Lernerfahrungen individueller, sozial-kommunikativer und künstlerisch-gestaltender Art« (ebd.; 146). Die beim Spiel beginnenden Entwicklungsprozesse hin zu szenischen Ereignissen und die Interaktionen und Interventionen im Rahmen der sukzessiven Transformation dieser Praxis hin zu einer Inszenierung unter den Gesichtspunkten einer sozialen Ästhetik sind für eine theaterpädagogische Fachdidaktik wegweisend. An anderer Stelle knüpft Sting wiederum an das Spielparadigma der Theaterpädagogik an und zeigt, wie anhand von performativen Darstellungsformen der Spiel- und Theaterbegriff der Theaterpädagogik um mögliche Perspektiven erweitert werden kann (vgl. Sting 2009; 150). Dazu nimmt er die experimentelle künstlerische Praxis, wie sie in der Performance und in performativen Verfahren thematisiert wird, in den Blick

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und sucht nach darin enthaltenen didaktischen Implikationen für theaterpädagogische Vermittlungsstrategien. Die Betonung des Ereignisses und des Handelns auf der Bühne dominiert in den angesprochenen postdramatischen Theaterformen die Vorstellung von einem geschlossenen Werk und der Repräsentation einer Handlung hinter der vierten Wand zum Zuschauerraum, sodass es in der Konsequenz zu einer Vermischung von Spiel und Repräsentation kommt, die »sich zwischen Selbst- und Rollendarstellung, realer und fiktiver Handlung« bewegt (vgl. ebd.; 154). »Performance erlaubt und bedingt also eine Entgrenzung von Fixpunkten konventioneller Theaterarbeit, die sich an Text, Figurendarstellung, Rolle, Handlungsdramaturgie, Narration, Trennung zwischen Spieler und Zuschauer, Bühne als Spielort und Schutzraum festmachen« (ebd.; 151). Unter Wahrung der Differenzerfahrung innerhalb theaterpädagogischer Wirkungsabsichten unterstützen diese Spielformen eine Konzentration auf das Ereignis, anstatt die Interpretation eines Dramentexts an erste Stelle zu setzen (vgl. ebd.; 151), bedingen aber entsprechende Vorbereitungen der Spieler, die zentrale Aspekte ästhetischer Bildung aufgreifen, erproben und reflektieren: »Zentrale Aspekte der ästhetischen Bildung wie Wahrnehmungsschulung, Raumerfahrung, Körper-, Bewegungs- und Präsenztraining, Improvisationsarbeit, Auftritt und Präsentation rücken durch das performative Spiel wieder ins Zentrum der Theaterarbeit. Sich unkonventionellen künstlerischen Praxen auszusetzen, schärft die ästhetische Wahrnehmung und Kompetenz« (ebd.; 152).9 Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von Rollenarbeit und der linearen Adaption von Dramenvorlagen hin zum Ereignis und der Präsenz des Spiels entlastet die theaterpädagogische Praxis zwar keineswegs von konzeptioneller Arbeit, die Konzentration auf das Zusammenspiel von Körper, Ausdruck, Spielweise und Thema gibt den Erfahrungspotenzialen theatraler Praxis aber deutlich mehr Spielraum und koppelt soziale und ästhetische Prozesse näher aneinander.

1.5 Konstruktion von Gegenwelten Mit der Absicht einer »Re-Interpretation zentraler Kategorien der Methodik und Didaktik sowie der ästhetischen Theorie« untersuchen Hans9 | Sting hält die Ansätze des Devising Theatre für besonders geeignet, sich derartigen Darstellungsstrategien konzeptionell fundiert zu nähern, ohne ein vorgefertigtes Stil- oder Formprinzip in die Praxis zu implementieren. Er hebt an der künstlerischen Arbeitsweise des Devising Theatre unter Referenz auf Alison Oddey die kollaborative Praxis, eine offene Dramaturgie und Prozessorientierung sowie die generativen Verfahren anhand unterschiedlicher Ausgangspunkte für die theatralen Suchprozesse hervor, die immer begleitet werden von der Reflexivität des Verfahrens und der unbedingten Orientierung an einem Produkt (vgl. ebd. und A. Oddey: Devising Theatre: A Practical and Theoretical Handbook. New York 2004).

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Joachim Wiese, Michaela Günther und Bernd Ruping theatrales Lernen unter der Perspektive des Subjekts (vgl. Wiese/Günther/Ruping 2006; 19). Die Autoren gehen dabei von der These aus, dass theatrale Lernprozesse »einen ästhetischen Ausdruck der sozialen Interaktion hervorbringen« können, welche das »permanente Konkurrenzverhältnis«, in dem sich das Subjekt als Einzelnes befinde, außer Kraft setze (vgl. ebd.; 25). Ihren Überlegungen liegt ein Subjektverständnis zugrunde, das die Kritik am bürgerlichen Subjekt zum Ausgangspunkt nimmt und alle nichtästhetischen Lernerfahrungen als von der Gesellschaft erzwungene subsumiert, gegen die sich der Einzelne per se mit einem Lernwiderstand wappne. Einen Ausweg aus diesem Verhängnis sehen die Autoren in den durch ästhetische Prozesse ausgelösten Schwellenerfahrungen des Subjekts: Als Erlebnis der Entgrenzung zwischen Subjekt und Objekt seien diese Schwellenerfahrungen »kaum in logisch-rationale Operationen zu zerlegen« und begründeten so die Besonderheit ästhetischer Erfahrung (vgl. ebd.; 45). Laut der Autoren treten an die Stelle des rationalen Diskurses »Momente von Kollektiv-Erfahrung, die emotional und sinnlich verwurzelt« als »motivationale Grundlage sozialer Lernprozesse« das Subjekt zur »Überschreitung restriktiver, entfremdeter sozialer Erfahrungen« herausfordern (vgl. ebd.). Übertragen auf die Konsequenz für eine theaterpädagogische Didaktik bedeute dies: »Theatrale Arbeitsweisen können im Rahmen ästhetischer Erfahrungen eine Synthese von ästhetischen und sozialen Lernprozessen erzeugen. Sie machen dadurch den restriktiven Charakter, der in der Gegenwartsgesellschaft allen sachlichen und sozialen Lernvorgängen anhaftet, sichtbar und bespielbar. Zusammen mit dem Bewusstsein von der Fragwürdigkeit restriktiven Lernens können sie auch die damit verbundenen Lernwiderstände transzendieren« (ebd. 56). Der Subjektbegriff, den Wiese, Günther und Ruping geltend machen, basiert auf der Vorstellung eines gesellschaftlich unterdrückten Individuums. Differenzerfahrungen haben in ihren Betrachtungen ausschließlich im Kontrast zu restriktiven Lernerfahrungen der bürgerlichen Gesellschaft Gültigkeit und erschöpfen sich darin. Die emanzipatorisch-politische Färbung dieser Argumentation unter Rekurs auf die Frankfurter Schule und die Kritische Theorie zeugt in meinen Augen zwar von einer hohen Sensibilität für künstlerisch-wissenschaftliche und kunstpädagogische Zusammenhänge. Das ausschließlich negativ konnotierte, restriktive Lernverständnis solcher Denkart zeichnet jedoch ein Gesellschaftsbild, das in meinen Augen so heute nicht mehr vertretbar ist und im Widerspruch steht zu einem aktualisierten Bildungsund Subjektverständnis (vgl. Kapitel II.1). Wiese, Günther und Ruping reproduzieren vielmehr mit ihren Begründungsbemühungen die Sackgasse einer emanzipatorischen Pädagogik der 1970er-Jahre und etablieren erneut eine hierarchische Struktur, in der ein überlegener Pädagoge der nachwachsenden Generation den richtigen Weg weisen soll, kulturelle

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Weiterentwicklung einzelnen Subkulturen und souveränen Individuen vorbehalten bleibt.10 Ästhetische Prozesse sind in Folge für das Autorenkollektiv weniger in den oszillierenden Erfahrungsbereichen theatralen Darstellens verortet, sondern die Interventionen des Theaterpädagogen im Rahmen szenischer Praxis sollen von dem Impuls getragen sein, das bürgerliche Subjekt von seinen Zwängen zu befreien. Der darin enthaltene Anspruch an ein Heilsversprechen theaterpädagogischer Arbeit wird unhinterfragt vorausgesetzt und nur insofern an Differenzerfahrungen und Ambiguität ästhetischer Bildungsprozesse angebunden, als das Subjekt auf diesem Weg spüren lerne, wie restriktiv seine Wirklichkeit sei: »Was sie [die Spieler; ms] in theatralen Lernprozessen erwerben, ist auch nicht die verbesserte, soziale Kompetenz zur Durchsetzungsfähigkeit im Alltag, sondern ein Gespür um die restriktiven Zwänge, die solchen Fähigkeiten beschieden sind« (ebd.; 67). Ob das Durchschauen des restriktiven Alltags und gesellschaftlicher Zwänge der Schlüssel für eine Befreiung des Subjekts darstellt und für theatrale Prozesse eine ausreichend präzise Zielformulierung ist, möchte ich bezweifeln.

1.6 Relation von Wirklichkeitskonstruktionen Eine wesentlich konstruktivere – und damit letztlich kritischere – theoretische Spur legt Ute Pinkert, indem sie die Alltagserfahrungen nicht per se restriktiv und das Subjekt entsprechend als den gesellschaftlichen Unterdrückungsmechanismen ausgeliefert versteht (vgl. Pinkert 2005). Mithilfe von Verfahrensweisen ästhetischer Praxis, die an Wahrnehmungen und Erfahrungen des Alltags anknüpfen, lassen sich diese, so Pinkerts Ansatz, transzendieren. Nicht die andersartige, sondern die in der alltäglichen Erfahrung schon angelegte, andersgeartete Erfahrung wird als ästhetisch interessant und kulturell bedeutsam eingestuft und in den Suchprozess theatralen Handelns aufgenommen. Pinkerts Forschungsanliegen ist entsprechend auf Prozesse der theatralen Transformation und Konstruktion von Wirklichkeiten gerichtet, in die Alltagserfahrungen bewusst und unbewusst eingehen (vgl. ebd.; 43). »Vor diesem Hintergrund«, so Pinkert, »bildet Theaterspielen nicht nur die Möglichkeit, bestehende Inkorporationen bewusst zu machen, sondern auch [...] neu zu entwerfen« (ebd.). Die Unterscheidbarkeit von alltäglicher und ästhetischer Erfahrung wird 10 | Eine kritische Einschätzung der emanzipatorischen Pädagogik und ihrer Nachwirkungen formulieren Musolff und Hellekamps in ihrer Geschichte des pädagogischen Denkens: »Der Traum der emanzipatorischen Pädagogik vom souveränen Individuum, das wahrhaft gegenwärtig ist, indem es vollständig es selbst ist, ist gestorben. Offenbar ist dieser Verlust noch nicht verarbeitet. Die beständige Kritik vieler Pädagogen am Stundenplan, am 45-Minuten-Takt, am Lernen nach der Uhr ist eine indirekte Beschäftigung mit dem Verlust dieses emanzipationspädagogischen Traums« (Musolff/Hellekamps 2006; 344).

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als immanenter Bestandteil der Transformationsprozesse angenommen, durch deren Wechsel Erfahrungen des Theaterspielens in Differenz zu Alltagserfahrungen wahrgenommen und reflektiert werden können. Entscheidend für die Öffnung neuer Perspektiven auf die inkorporierten Alltagsmuster der Spieler sind die Vorgaben und Interventionen durch den Theaterpädagogen: »Wesentlich geprägt durch die Impulse der jeweiligen Spielleitung wird sie [die theatral konstruierte Wirklichkeit; ms] in bestimmter Weise als ›andere‹ Welt konzipiert, als ›Antwort‹ auf eine in bestimmter Weise interpretierte Alltagswelt« (ebd.; 43). Die Handlungsspielräume, die dem Theaterpädagogen innerhalb dieser Funktion zukommen, werden im folgenden Kapitel ausgeleuchtet. Pinkert verzichtet in ihren Argumentationsfiguren ausdrücklich auf die Unterscheidung von subjektiven, sozialen und ästhetischen Bildungsdimensionen zugunsten einer wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Motive in handlungsorientierten Modellen ästhetischer Praxis.11 Damit rücken Interpretationsversuche über intrasubjektive Wirkungsmechanismen des Theaterspielens zugunsten der Diskussion und Analyse von Praxisprozessen in den Hintergrund.12 Zusätzlich legitimiert Pinkert die Verwendung von Alltagsmaterialien für eine kulturell-ästhetische Praxis und erweitert damit das Kunstverständnis einer an ästhetischer Bildung orientierten Theaterpädagogik (vgl. ebd.; 133). Der Vorteil dieser Sichtweise liegt darin, dass nicht nur schauspielmethodisch und künstlerisch etablierte Handlungsmodelle als relevant gelten, sondern vielmehr in den je konkreten Verfahrensweisen die Erzeugung von Heterogenität und Reibung mit dem Anderen unter theatralen Gesichtspunkten neu verhandelt werden muss (vgl. ebd.; 136). Der so hinzugewonnene Bildungsspielraum gewährt ein weitergedachtes Ineinander von sozialen und ästhetischen Aspekten, die nicht allein 11 | Wegweisend dazu ist ein erweiterter Kunstbegriff, wie Pinkert ihn für die theatrale Praxis geltend gemacht hat und dem sie theaterpädagogisches Handeln zuordnet. Dieses Verständnis impliziert die Aufgabe des Autonomiebegriffs der Kunst und eine Öffnung für kulturelle Praxen: »Verfahren der Kunst werden hier unter einer konstruktivistischen Perspektive als Organisation von Wahrnehmung zur Exploration von Wirklichkeiten betrachtet, womit Grenzen zwischen künstlerischen, wissenschaftlichen, technologisch-medialen und philosophischen Explorationsverfahren durchlässig werden« (vgl. Pinkert 2005; 138ff.). 12 | Als Analyseraster stellt Pinkert drei Kategorien auf, unter denen ihrer Ansicht nach Verfahren von künstlerischer Praxis konzeptionell und methodisch untersucht werden können: Wahrnehmung, Körperverwendung und Bedeutungsproduktion (vgl. ebd.; 97). Von zentralem Stellenwert für die Theaterpädagogik sei in der ersten Kategorie die Schnittstelle von wahrnehmenden und gestaltenden Prozessen, in der zweiten die Techniken und Praktiken der Körperverwendung, das ›Wie‹ der Arbeit mit dem Körper. In der Bedeutungsproduktion sind die Transformationswege zu analysieren, anhand derer das verwendete Material seinen Zeichencharakter gewinnt (vgl. ebd.; 97ff.).

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auf den Herstellungsvorgang theatraler Produkte abzielen, sondern die performativen und pragmatischen Praktiken des Recherchierens, Diskutierens, Konzipierens, Suchens, Spielens und Probierens innerhalb der Probe als bildungsimmanente Bestandteile theatraler Verfahrensweisen einschließen. Das didaktische Fundament der Theaterpädagogik generiert sich entlang der Breite dieses Handlungsspektrums.

1.7 Zwischenstopp Metatheorie ästhetischer Bildung. Die fachtheoretischen Wegmarken zum Bildungsverständnis in der Theaterpädagogik zeigen, dass theaterpädagogische Theorieangebote durchgängig die schillernden Besonderheiten der ästhetischen Bildung anerkennen und umkreisen. Alle Autoren eint der Versuch, die Theaterpädagogik dieser Leitidee zu unterstellen und weitere Differenzierungen oder Nachweise vorzunehmen. Die Problematik liegt in der Sache selbst: Der zentrale Begründungsfaktor der Theaterpädagogik entzieht sich einer normativen, definitorischen Setzung und muss doch be-greifbar werden für die Darlegung und Begründung von Bildungsprozessen und -inhalten. Wie kann man didaktische Konzepte sinnvoll an die Legitimationsfigur ästhetischer Bildung anschließen? Klaus Mollenhauer, zentrale Referenz für die aufgeführten bildungstheoretischen Positionsbestimmungen, lokalisiert den Begriff »ästhetische Bildung« »zwischen subjektiv bestimmter Leiberfahrung und den im engeren Sinne ästhetischen (künstlerischen) Kulturprodukten«, »zwischen den alltäglichen Inszenierungen der Sinnenwelt und den politisch-öffentlichen Repräsentationen«, »zwischen den quasi-spontanen Symbolisierungen in sinnlichen Medien und den Formen organisierter Instruktionen der Fachdidaktik« (vgl. Mollenhauer 2004; 222; Hervorhebungen im Original). Er öffnet und begründet damit eine ästhetische Dimension von Bildung, deren Bedeutung neben der auf Handlungsfähigkeit ausgerichteten praktischen Dimension und der auf Erkenntnisfähigkeit des Subjekts zielenden theoretischen Dimension von Bildung »die Reflexion des Verhältnisses seiner subjektiven Befindlichkeit als Leib-Seele-Wesen zum kulturell oder gesellschaftlich Allgemeinen« zum Inhalt hat (vgl. ebd.; 223). Da ästhetische Vorgänge »in den Erfahrungszonen zwischen Pädagogik und Kunst« angesiedelt sind, kennen sie keine verlässlichen Begriffe und moralischen Urteile, sie sind auf der Suche nach passenden Begriffen und ebendeshalb »auf vielleicht keinerlei Weise kriterienorientiert evaluierbar« (vgl. Mollenhauer 1990a und Mollenhauer 1996; 14). Wird ästhetische Bildung als ein zwischen Sinneswahrnehmungen und Sinn(de)konstruktionen sich bildendes reflexives Selbst- und Weltverhältnis ernst genommen, kann es keinen handlungs- oder erkenntnisbezogenen Zielpunkt geben, auf den zu sich das Subjekt in ästhetischen Vorgängen bewegt, während es definierbare Erfahrungsstationen passiert. Wird von ästhetischen Wirkungen und Erfahrungen des Subjekts gesprochen,

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ist zu bedenken, dass diese sich jeder begrifflichen Festlegung entziehen und pädagogischer Behandlung exterritorial gegenüberstehen.13 Pinkert hebt hervor, dass der aus dem Zusammenwirken von ästhetischer Praxis und ästhetischer Theorie konstituierte Begriff der ästhetischen Bildung eine Relation beschreibt, die weniger nach einer Definition verlange als vielmehr Argumentationsfigur metatheoretischer Reflexionen sei (Pinkert 2005; 99). An der Schnittstelle von Theorie und Praxis kann der einseitige Versuch, ästhetische Bildung aus der Theorie heraus verstehen zu wollen oder sie praxisleitend zu verkürzen, vermieden werden. Von Belang für didaktische Analysen im kunstpädagogischen Kontext wäre dabei das Beziehungsgefüge zwischen dem sich erfahrenden Subjekt und »den Erfahrungspotentialen ästhetischer Produkte bzw. Verfahren«, dessen grundlegende Merkmale und Problemfelder von der Wissenschaft skizziert und systematisiert werden können (vgl. ebd.). In Übereinstimmung mit Pinkert kann die Qualität spezifischer Vorgehensweisen in der ästhetisch-künstlerischen Praxis nur zum Thema wissenschaftlicher Reflexion werden, wenn »die Relation ästhetischer Bildung als variables Gefüge miteinander in Beziehung stehender Konstituenten« berücksichtigt wird (vgl. ebd.). Für eine theoretische Beschäftigung mit der ästhetischen Dimension von Bildung gilt es »das Verhältnis zu erläutern, das im ästhetischen Ereignis zwischen Werk, Ich und jenen ›anderen Gefühlen‹ konstituiert wird« (vgl. Mollenhauer 1990c; 3). Aussagekräftig werden dementsprechend nicht Festschreibungen didaktisch richtiger Vorgehensweisen sein, sondern das Aufzeigen produktiver Wechselbeziehungen zwischen dem Subjekt, den Arbeitsverfahren sowie den Spiel- und Inszenierungsstrategien von Theaterpädagogen. Handelnde Konfrontation mit dem Anderen. Bildungsprozesse der Theaterpädagogik, so wurde gezeigt, sind in kunstpädagogischen Zwischenräumen anzusiedeln, in denen das Subjekt im Rahmen theatraler Praxis in eine Differenz zu sich gerät, sich in Differenz erfährt. Dieser Erfah13 | Mollenhauer gibt für die Beschreibung ästhetischer Wirkungen – die ja ästhetischen Erfahrungen vorgängig sein müssen – zu bedenken: »Nun sind viele Arten von Beschreibungen ästhetischer Wirkung denkbar und möglich. Sie müssen nicht in der Form von Sprache vorgetragen werden. [...] Für alle solchen Fälle [sprachliche und andere, metaphorische Beschreibungen; ms] gilt, dass ›sprachlogisch‹ wir es hier weder mit Theorie noch mit Praxis zu tun haben, sondern mit einer Art von Vergewisserung, von Erkenntnis vielleicht, die nach herrschendem Wissenschaftsverständnis auf schwierige Weise exterritorial zu sein scheint. Dass sich die Pädagogik, einerseits am Verstandesgebrauch, andererseits an der Handlungskompetenz interessiert, mit derartigen Exterritorialitäten schwertut, ist kaum überraschend. Ästhetische Wirkungen in der skizzierten Art sind Sperrgut in einem Projekt von Pädagogik, das seine Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht« (Mollenhauer 1990b; 484).

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rungsraum öffnet dem Subjekt einen Spielraum, in dem es sich über das Spiel mit Darstellungs- und Erzeugungsstrategien zu sich selbst neu ins Verhältnis setzen kann. Die subjektiven, sozialen und ästhetischen Dimensionen des Bildungsprozesses sind in Verfahren der Praxis so eng miteinander verknüpft, dass ihre künstliche Trennung weniger Erkenntnisgewinn verspricht als eine handlungsorientierte Beschreibung von Praxen der Wahrnehmungsintensivierungen und theatralen Gestaltung. Innerhalb dieses Handelns ist das Spiel Scharnier und Bindeglied für performative, szenische und inszenatorische Praxis und bildet zugleich die wissenschaftstheoretische Basis theaterpädagogischer Fachtheorie. Das Spiel als didaktische Figur vermittelt zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Reflexion. Es ermöglicht einerseits die Beschreibung der ambivalenten Spannung zwischen wahrnehmenden und gestaltenden Aspekten des Theaterspiels, dient andererseits als Suchprozessor in transformatorischen Wirklichkeitskonstruktionen, gewährleistet und befördert die soziale Dimension ästhetischer Praxis. Der Bildungsspielraum umfasst neben den klassischen schauspielmethodischen Zwischenkategorien, wie sie Hentschel ausgewiesen hat, im Zuge einer Erweiterung des zugrunde gelegten Kunstbegriffs auch die Auseinandersetzung und Transformation von Alltagsmaterialien und -praxen (Pinkert) und die Berücksichtigung performativer Verfahren, wie sie im postdramatischen Theater zur Anwendung kommen (Sting). Zudem reichen die Bildungsspielräume über die schauspielerischen Darstellungs- und Verkörperungsstrategien hinaus und umfassen ebenso Konzept- und Recherchephasen sowie die gruppendynamischen Prozesse, sofern diese zur Entwicklung einer sozialen Ästhetik beitragen. In der Art des Zusammenspiels dieser Komponenten konzentriert sich die didaktische Haltung eines Theaterpädagogen. Sie ist ausschlaggebend für das simultane Ineinander von sozialen, ästhetischen und bildenden Erfahrungspotenzialen im Vermittlungsprozess. Eine theaterpädagogische Fachdidaktik, die Vermittlungsfunktionen von Interaktion und Intervention in Lehr-Lern-Prozessen erörtern will, hat diesen Sachverhalt zu berücksichtigen. Eine Perspektive, die handelnde Konfrontationen in Spiel- und Inszenierungssituationen beschreibt, kann die Spielräume der Begegnung von Theaterpädagogen, Spielern und Gegenstand womöglich genauer ausleuchten und das Handeln differenzierter reflektieren. Welches Lehr-Lern-Verständnis in bestehenden Fachtheorien bereits angelegt ist, wird im folgenden Kapitel mit dem Fokus auf die darin skizzierten Handlungsspielräume des Theaterpädagogen geprüft (Kapitel III.2).

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2 H ANDLUNGSSPIELR ÄUME Theaterpädagogische Praxis findet in der Schule, in Theatern, in Freizeiteinrichtungen oder im Rahmen anderer Institutionen oder Gruppierungen mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen statt. Sie kann generationenübergreifend angelegt sein oder zielgruppenspezifisch, kann soziale Herkunft oder kulturelle Prägung der Spieler fokussieren, entsteht als Produktionsform im Kontext sozial- oder kulturpädagogischer Angebote oder einfach aus dem Interesse verschiedener Menschen, gemeinsam Theater zu machen. Ist die theaterpädagogische Situation mit ihren mannigfaltigen Rahmenbedingungen überhaupt unter üblichen didaktischen Gesichtspunkten erfassbar? Die folgende Bestandsaufnahme konzentriert sich auf das Zusammenspiel von Theaterpädagoge und Spieler. Ausgeblendet werden damit sowohl methodische Grundsätze allgemeiner Art im Hinblick auf das Theater spielende Subjekt als auch Interventions- und Handlungsmuster des Theaterpädagogen innerhalb spezifischer Verfahren. Für die angestrebte Analyse von PraxisHaltungen unterschiedlicher Regisseure ist die Suche nach anschlussfähigen Allgemeinplätzen theatralen Handelns von Vorteil, da auf dieser Ebene noch keine verfahrensspezifischen Kriterien präformiert sind. In einer ersten Erhebung stehen Funktionsmerkmale im Mittelpunkt, die das Rollenverständnis des Theaterpädagogen im Bezug auf seine pädagogische und künstlerische Praxis näher bestimmen. Da die theaterpädagogische Situation Aspekte des Unterrichtens, Aspekte der künstlerischen Praxis und – daraus abgeleitet – hybride Interaktionsformen umfasst, ist die sorgfältige Diskussion über professionelle Haltungen und begründetes Handeln in diesen Situationen für den Vermittlungsprozess von zentralem Stellenwert. »Eine Anlehnung an schuldidaktische Formen wird«, so Sting, »der Eigenständigkeit von Kulturpädagogik mit ihren von Schule völlig verschiedenen außerschulischen und offenen Handlungszusammenhängen nicht gerecht« (Sting 1993; 23). Teilt man seine kritische Sicht auf herkömmliche didaktische Modelle, kann ein Ausweg nur in der Entwicklung alternativer Entwürfe liegen, die den Besonderheiten theaterpädagogischer Praxis Rechnung tragen. Der Spagat zwischen schulischen und außerschulischen Zusammenhängen wird hier insofern gelöst, als die nachfolgenden Unterkapitel einerseits Unterrichten (Kapitel III.2.1) und Proben (Kapitel III.2.2) in einem ersten Schritt nebeneinanderstellen und andererseits in  den folgenden Abschnitten Theaterspiel als eine Projektarbeit verstanden wird, die in unterschiedlichen institutionellen Kontexten ähnliche Handlungsspielräume nicht nur voraussetzt, sondern auch ausbildet. Der allgemeine Vergleich situativer und konzeptioneller Regie (Kapitel III.2.3) sowie die konkreten Handlungsfiguren der Interventionen (Kapitel III.2.4) und Interaktionen (Kapitel III.2.5) greifen in diesem Sinne jeweils auf Referenzen (Rudi Müller, Christel Hoffmann, Hans-Wolfgang Nickel und Hajo Wiese) zurück, die theaterpädagogische Praxis immer

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auch vor dem Hintergrund schulischer Rahmenbedingungen reflektieren. Eine einheitliche Ortsbestimmung fachdidaktischer Anliegen ist indes davon kaum zu erwarten. Die Pluralität theaterpädagogischer Konzepte und Verfahrensweisen bringt eine Bandbreite denkbarer, praktizierbarer Wege hervor, der theoretische Legitimationskulturen jeweils nur partikular entsprechen können.14

2.1 Unterrichten Verstünde man Theaterpädagogik als eine organisierte Form des Lehrens und Lernens – und dies scheint ohne allzu großen Widerstand vertretbar –, ließe sich auf unterrichtsspezifische Überlegungen der allgemeinen Didaktik zugreifen, die sich der Diskussion von Prinzipien und Strukturen von Lehr-Lern-Prozessen widmet. Aber schon die Frage, ob das, was innerhalb theaterpädagogischer Arbeit stattfindet, als »Unterricht« bezeichnet werden kann, ist weniger leicht zu entscheiden. »Als Unterricht«, so Schulz, »bezeichnen wir einen Typus von sozialen Situationen. Also Situationen, in denen Menschen entweder direkt oder über Objektivationen in Beziehung zueinander treten. Von anderen sozialen Situationen unterscheiden sich unterrichtliche Situationen durch den didaktischen Anspruch: Es soll in ihnen gelehrt und gelernt werden« (Schulz 1995; 49). Der Anspruch an die Situation ist demnach entscheidendes Definitionskriterium für Unterricht. Aus struktureller Sicht wäre eine Übertragbar14 | Constanze Kirchner macht auf die plurale didaktische Legitimationsnotwendigkeit am Beispiel der Kunstpädagogik aufmerksam: Der alte Disput »Musische Erziehung versus formalen Kunstunterricht« ist zwar durch vielerlei Entwicklungen überlagert worden und in Vergessenheit geraten, er zeigt sich implizit jedoch nach wie vor in der kunstpädagogischen Theorie und Praxis. Mit der Heterogenität der kunstpädagogischen Konzepte kann Orientierungslosigkeit einhergehen, oder, positiv gewendet, es muss immer wieder neu die Frage nach Begründungszusammenhängen für sinnvolles kunstpädagogisches Handeln gestellt werden – im Hinblick auf die Lerngruppen, die Zielvorgabe der Lehrpläne und die Methoden. Die Pluralität der kunstpädagogischen Ansätze bietet zwar zahlreiche Möglichkeiten, den Unterricht zu gestalten, konkrete Leitlinien existieren jedoch nicht. Es ist daher stets zu reflektieren, welche Position man sich zu eigen macht und wie das eigene Handeln in der gegenwärtigen Theoriebildung zu verorten ist. Die derzeitige Situation fachdidaktischen Argumentierens ist nun einmal durch die historisch gewachsene Pluralität und Heterogenität nebeneinander bestehender didaktischer Konzepte bestimmt (vgl. Kirchner 2007). Dies ist in der gegenwärtigen Situation, in der das Handlungsfeld der Theaterpädagogik sich insbesondere seit den 1980/90er-Jahren ausgebreitet und diversifiziert hat, entsprechend für die Theaterpädagogik gültig. Der Entwicklungssprung in der Theaterpädagogik ist beispielhaft abzulesen in M. Streisand/U. Hentschel/A. Poppe/B. Ruping (Hg.): Generationen im Gespräch. Archäologie der Theaterpädagogik I. Berlin/Milow 2005.

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keit gegeben, denn in beiden Situationen, Theatermachen und Unterricht, wird in mehreren zeitlich voneinander getrennten Sequenzen planvoll interagiert. Der Theaterpädagoge als professioneller Helfer verantwortet diese Interaktion aus didaktischer Perspektive, er füttert und führt die soziale Situation mit Lehr-Lern-Angeboten. Schulz geht allerdings weiter und hebt hervor, dass dieser Anspruch aus dem Gleichgewicht gerät, wenn nur eine der beiden Seiten (Lehrende oder Lernende) die Interaktion mit didaktischer Erwartung füllt (vgl. ebd.). An diesem Punkt offenbart sich die Ambivalenz des theaterpädagogischen Handlungssettings: Die Vereinbarung zwischen Theaterpädagogen und Spielern beruht in der Regel auf der Absichtserklärung, gemeinsam Theater zu machen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Theaterspielen im schulischen oder außerschulischen Feld stattfindet, ausgehend von einem Dramentext oder basierend auf eigenen Recherchen entwickelt werden soll. Innerhalb des institutionell abgesteckten Rahmens kommt es zu Situationen, die beide Seiten eindeutig mit Unterricht gleichsetzen. Mit pädagogischem Geschick vermittelt der Theaterpädagoge den Spielern mehr oder weniger systematisch schauspielerische Fertigkeiten und Grundlagen dramaturgischen Denkens und Gestaltens. Der Theaterpädagoge agiert analog zu einem Lehrer. Die theaterpädagogische Situation als künstlerisches Szenario weist aber viele Facetten mehr auf, denen die Setzung von Unterricht zuwiderläuft. Analog dazu gehen die an den Lerngegenstand gebundenen Erwartungen meist über den Erwerb bzw. die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten hinaus und indizieren ein anderes Verhältnis von Subjekt und Objekt. Die Ahnung, dass das Theaterspiel den Spieler verändern kann, schwingt bei den Teilnehmern immer schon mit, ebenso die Vermutung, dass die theatrale Praxis von regulärem Unterrichtsgeschehen abweicht.15 Manifest werden die Abweichungen beispielsweise dann, wenn eine Spielidee trotz zeit- und kraftaufwendiger Versuche plötzlich komplett über den Haufen geworfen werden muss oder wenn ein Training von Mehrfachkonzentrationen so weit getrieben wird, dass keiner mehr sicheren Boden unter den Füßen hat oder die Frage nach den persönlichen Relationen zu einem Stoff zum Inhalt für die theatrale Auseinandersetzung wird. Die gemeinsame Suche nach Lösungen für eine verfahrene Szene oder die Zuspitzung eines Konflikts, bis er nicht nur ›verstanden‹, sondern auch ›begriffen‹ wird, mäandert auf einem schmalen Grat zwischen dem Ergreifen von etwas und dem Ergriffen-Sein von etwas. Aus didaktischer Perspektive lässt sich eine derartige Grundsituation nur mithilfe eines flexiblen Handlungsmodells beschreiben. »Die Vorbereitung einer theaterpädagogischen Unterrichtsstunde erfolgt nach den Regeln des offenen Experiments«, halten Hajo Wiese und Bernd Ruping fest und fügen unter Bezugnahme auf die bildungstheoretische Didaktik 15 | Vgl. hierzu Domkowsky 2008.

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Wolfgang Klafkis an: »Das Ergebnis ist unvorhersehbar und ereignet sich erst dann, wenn der aufmerksam Lehrende jederzeit seine präformierte Intentionalität aufgeben kann. Dazu allerdings ist die Planung der Unterrichtsstruktur notwendig – aber nur, um jederzeit wieder über den Haufen geworfen werden zu können. Die Unterrichtsvorbereitung gibt dem Lehrenden lediglich die Sicherheit, das Lerngeschehen konzentriert beobachten zu können, und die Freiheit, die sich zeigenden ästhetischen Spuren in den Vorgängen wahrzunehmen und auf sich selbst zurückzuführen. Die Initiierung und Strukturierung theatraler Lernprozesse vollzieht somit in höchster Potenz das, was Klafki den Entwurf-Charakter der Unterrichtsvorbereitung nennt« (Wiese/Ruping 2003; 100f.; Hervorhebung im Original). Die Planung wird in diesem Sinne ein notwendiger Bestandteil theaterpädagogischer Praxis, sie ist als Vorbereitung für ein konzentriertes Beobachten unverzichtbar. Ihr qualitatives Potenzial zeigt sie aber erst in dem Moment, wo der konkrete Unterrichtsverlauf den Plan so aus dem Gleichgewicht bringen kann, dass ad hoc neue Handlungsentwürfe in die Lehr-Lern-Situation Eingang finden, die die intendierten Absichten unterlaufen und übersteigen. Theaterpädagogisches Handeln ist entsprechend nur bedingt planund berechenbar. Dennoch ist der Theaterpädagoge nicht von nachverfolgbaren, nachvollziehbaren Gedankenspielen befreit, denn »die Forderung nach Elastizität für den Gesamtverlauf des Unterrichts ist [...] nicht gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zur totalen Beliebigkeit und Zufälligkeit. Vielmehr werden die kontrollier- und berechenbaren Teilaspekte des Geschehens umso wichtiger« (Otto, zit.n. Bering/Bering 2003; 95). Zu den berechenbaren Teilaspekten des Unterrichts gehören laut Otto »Sachfragen, Altersstufenprobleme, Individualität der Klasse« (vgl. ebd.), die sehr genau gesehen werden müssen. Unter die berechenbaren Sachaspekte des Theaterspiels fallen in der Theaterpädagogik beispielsweise notwendige Trainingszeiten für bestimme Lernprozesse wie Choreografien oder Szenenabläufe, aber auch eine grundlegende Körper-, Stimm- und Wahrnehmungsschulung kann, zumindest in weiten Teilen, dazugerechnet werden. Ergänzend stellen kognitive Anteile, zum Beispiel Diskurse zu bestimmten Konstruktionsweisen des Theaters oder einzelner Theaterästhetiken, solche Sachaspekte dar. Sie stehen in Opposition zu der Unplanbarkeit von transformatorischen Bildungsprozessen, die das theaterpädagogische Anliegen kennzeichnen. Berücksichtigt man beide Komponenten, glückt didaktisches Handeln, wenn Unterricht als ein Geschehen zwischen Berechnung und totaler Offenheit für das Ereignis des Moments betrachtet wird. »Irgendwo zwischen den Gefahren der Beliebigkeit und der Superplanung geschieht jeder Unterricht«, schreibt Otto und fährt fort: »[...] deswegen ist es so schwer, guten Unterricht zu geben. Er ist stets dem einen oder anderen Pol näher. Dem entsprechen genau die Gefährdungen des Lehrerverhaltens und des Unterrichtsstils« (ebd.). Der labile Status didaktisch wertvoller Lehrprozesse verschwistert die Theaterpädagogik mit anderen Unterrichtshandlungen auf der Ebene

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einer allgemeinen Didaktik. Lassen sich für die theaterpädagogische Fachdidaktik aus der Analyse der Arbeitsbedingungen innerhalb von Theaterproben noch spezifischere Rahmenrichtlinien ableiten?

2.2 Proben Im Rahmen von Proben werden »Situationen durchgespielt und findet eine besondere Form der Interaktion statt«, Situationen und Interaktionen, die nicht allein der Produktion einer Aufführung dienen, sondern als »spezifische Prozesse des Produzierens« sowohl ein eigenes Wissen generieren und sichern als auch in experimenteller Praxis eine »Suche im Unbekanntem« betreiben (vgl. Matzke 2008; K0-91, K2-8).16 Proben bewegen sich daher an der Grenze von Wissen und Nicht-Wissen und implizieren »die Offenheit des Vorgangs, dessen mitlaufende Bedingungen nicht festgeschrieben, sondern flüchtig sind, für dessen Gelingen es keine Garantie gibt, der sich permanent re-organisiert und verändert« (ebd.; K133). Das Handeln in Proben ist entsprechend gekennzeichnet von einer ergebnisoffenen Suche, die bis zum Ende unabgeschlossen die Prozesse des Produzierens vorantreibt. Mieke Matzke hebt im Vergleich mit der Aufführung für die Situation der Probe »vor allem jene ›anderen Spielprozesse‹ der Vorbereitung« hervor (vgl. ebd.; K1-35), weist also auf die Abweichung von Theater-Aufführen und Theater-Proben hin. Innerhalb von Proben sind entsprechend alternative Handlungsmodelle für den Prozess des Produzierens zu definieren, die dieses von der Theateraufführung unterschiedene, andere Spiel ermöglichen und bestärken (vgl. Kapitel IV.2). Analog zum Paradox des Spiels (vgl. Kapitel IV.1) treffen in den Proben Plan und Zufall aufeinander, sodass ein »zeitliches Nacheinander von unkontrollierter Eingebung und planvoller Arbeit« die künstlerische Praxis bedingt (vgl. Matzke 2011; K2-78), der Herstellungsverlauf demzufolge nicht vorab stabil geregelt sein kann, sondern nur für den immer wieder singulären Fall erst rückblickend einsichtig wird. Wie beim Unterrichten geht jedem Proben eine Vorbereitung voraus, die Entwurfcharakter hat und etwas in Bewegung bringen will. Schon die Entscheidung, ob ich mit einem Spiel beginne oder erzählend, ob ein gemeinsames Lied gesungen oder diskutiert wird, setzt einen dynamischen Prozess in Gang, der bestimmten Vorannahmen über die Situation entspringt. Jeder Anfang verweist, so Matzke, »auf im Vorfeld getroffene Entscheidungen und gibt zugleich einen Weg für die zukünftigen Proben vor, fragt nach der Setzung eines möglichen Anfangs des Produzierens« (ebd.; K7-204). Analog zu den Prozessen des Unterrichtens entwickelt sich aus 16 | Ich zitiere hier aus der zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Arbeit noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift »Arbeit am Theater«, die mir die Autorin Annemarie Matzke freundlicherweise vorab zur Verfügung gestellt hat. Die Angaben makieren Kapitelnummern (K) und Seitenzahlen.

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diesem Anfang heraus ein Dialog, der beide Bereiche als eine »Praxis im Werden« charakterisiert, die »sich nie in der Anwendung vorhandener Mittel erschöpft« (vgl.  ebd.; K7-218), sondern ein aktives Entwerfen andersgearteter Handlungsoptionen in der Planung wie der konkreten Situation bedingt. Proben improvisieren. Stanislawskis Haltung, die davon ausgeht, dass man improvisiertes Handeln nicht festhalten und wiederholen, sondern nur den Weg rekapitulieren und erneut beschreiten kann, der einen zu einem bestimmten Ereignis geführt hat, wird von Matzke aufgegriffen und fortgeführt. Sie  formuliert seine Einsicht weiter: »Nicht das Hervorbringen einer szenischen Darstellung steht im Vordergrund [...], sondern die Erfahrung der Schauspielerin. Die Schauspielerin darf ihre Arbeit damit nicht allein im Produzieren theatraler Darstellung begreifen, sondern in der Bereitschaft, sich unerwarteten Situationen auszusetzen, Erfahrungen zuzulassen« (ebd.; K7-229). Für die Regiepraxis heißt dies, dass Umwege und Spielprozesse, die nicht linear eine vorgewusste Darstellungsstrategie verfolgen, Teil der Proben sein müssen.17 Das Verhältnis zwischen Regie und Spieler ist dabei gekennzeichnet von einer »Responsivität«, in der die Aktionen und Reaktionen aufeinander sich zeitlich überlagern, miteinander statt nacheinander entstehen. »In der Überlagerung, in der Lücke, im wechselseitigen Fragen und Antworten entstehen [...] Spielräume. Damit öffnet sich auch ein anderes Konzept des Improvisierens: Nicht nur die Darsteller improvisieren, auch der Regisseur improvisiert im Proben seinen Text. Das Nicht-Geplante, Unvorhergesehene der Proben entsteht nicht allein durch die gesetzte Improvisationsaufgabe, sondern der Rahmen der Probe selbst gibt die Aufgabe zu improvisieren vor« (ebd.; K8-271). In der Konsequenz gilt dann für die Regie die von Stanislawski eingenommene Haltung zur Improvisation in gleichem Maße: Für die Erzeugung einer gelungenen Probe ist nicht das einmalig geglückte Handeln zu wiederholen, sondern die Erfahrungsprozesse, die damit einhergegangen sind, müssen rekapituliert und wiederholbar gemacht werden. Proben üben. Das Üben als Wiederholen von Aufgaben wird von Matzke als ein weiterer konstitutiver Anteil der Proben dargelegt. Es umfasst die Erarbeitung von Techniken der Darstellung ebenso wie der Steigerung 17 | »In der Probenarbeit Stanislawskis lassen sich zwei Formen des Improvisierens unterscheiden: zum einen die Rahmung durch eine Darstellungsaufgabe, die den Darsteller dazu bringen soll, so zu spielen, als sei er in der Situation, und zum anderen das Aussetzen der Darstellungssituation als Überrumpelung und Konfrontation des Schauspielers mit dem Unbekannten. Geht es im ersten Falle um ein Durchspielen durchaus bekannter Darstellungsmöglichkeiten, sucht die zweite Strategie nach einen Durchbrechen der Darstellungskonventionen« (Matzke 2010; K7-229).

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der Qualität in den konkreten darstellerischen Vorgängen. Üben geht insofern über rein mechanische Wiederholung hinaus, als nicht die Wiederholbarkeit im Mittelpunkt steht, »sondern das Üben wird als Arbeit an den körperlichen Widerständen begriffen, als Chance, sich in der Wiederholung stetig zu verbessern hin zur Selbstbeherrschung« (ebd.; K7-232). Unter Bezug auf Menkes Foucault-Rezeption nennt Matzke im Zuge dessen die »Erweiterung des Selbstbezugs« (ebd.) als einen Aspekt, der direkt an die in der Theaterpädagogik beabsichtige Selbstbildung anknüpft. »Übend konstituiert das Subjekt ein Verhältnis zu sich selbst [...]. Übend wird ›das Subjekt in eine Situation versetzt, in der es überprüfen kann, ob es mit Ereignissen fertigzuwerden vermag‹« (ebd.). Wie der Improvisation wird dem Üben die Aufgabe zugeschrieben, dem Spieler ein Erfahrungsfeld seiner selbst zu öffnen, dem er sich aussetzen und das er für das theatrale Produzieren zur Verfügung stellen muss. Ziel des Übens ist folglich weniger die Automatisierung von Vorgängen, sondern deren qualitative Verschiebung: »Weniger um ein Wiederholen als um ein Überholen geht es: als eine Steigerung zum Vorhergehenden. [...] Der Schauspieler trainiert darauf, sich selbst zu überholen« (ebd.; K8-271). Die Begleitung dieser schauspielerischen Selbstüberschreitung durch den Regisseur erfolgt in einer zeitlichen Folge, die das bereits Erprobte mit dem augenblicklichen Probenprozess und der Perspektive eines möglichen Ziels verknüpft. »Für  die Probenarbeit bedeutet dies nicht nur, eigene Techniken und Verfahren des Entwerfens, Wiederholens und Übens zu entwickeln, sondern auch, ihren zeitlichen Verlauf zu strukturieren« (ebd.). Hierfür ist die Regie verantwortlich. Sie muss auf der einen Seite responsiver Teil der künstlerischen Praxis sein und auf der anderen die Erzeugung von Darstellungsereignissen beobachten und reflektieren, um den Prozess in Richtung von Selbstüberholungen voranzutreiben.

2.3 Situative und konzeptionelle Regie Für den Entwurf eines theaterpädagogischen Handlungsprofils, das sowohl unterrichtlichen wie auch künstlerischen Anforderungen genügt, setzt Rudi Müller einen Wechsel der im pädagogischen Kontext üblichen Haltung zu Gegenständen und Spielern voraus. Seiner Auffassung nach erfordert Regiearbeit mit nichtprofessionellen Schauspielern eine Umkehrung der gängigen pädagogischen Einstellung, denn anstelle der Problematisierung von Stoffen und Themen nach inhaltlichen Aspekten und vorgegebenen Mustern steht in der Theaterpädagogik die ergebnisoffene Befragung an erster Stelle (vgl. Müller 1977). Auch wenn diese Haltung sich heute mit der Diskussion über neue Unterrichtsmethoden als deckungsgleich erweist und die inhaltliche Auseinandersetzung durchaus einen sinnstiftenden Teil der künstlerischen Arbeit darstellen kann, sind Müllers Konkretisierungen für die theaterpädagogische Fachdidaktik hilfreich. Müller schreibt: »Bekannt sein müssen [...] Methoden des Fragens

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und Untersuchens, also wesentlich gestalterisch-formale Verfahrensweisen. In der Arbeit mit Schülern sind zunächst auch solche Verfahrensweisen aufzudecken und zu erkunden« (ebd.; 18). Das prozessuale Vorgehen des Spielleiters hängt infolgedessen wesentlich stärker von seiner Fähigkeit ab, Verfahren und Übungsreihen so in die Probensituation einzubringen, dass gemeinsam mit den Spielern neue und spannungsvolle Darstellungsweisen entstehen können, anstatt sich in erster Linie über eine intelligente Inszenierungskonzeption künstlerisch zu beweisen. Ist der theaterpädagogische Ansatz in der gestalterischen Tätigkeit auf Augenhöhe mit den Spielern auszumachen, zeichnet sich die kompetente Fachperson durch ihr pädagogisches Geschick aus, fördernde Übungsund Spielsequenzen für ein Ensemble zu erfinden, die dann gemeinsam zu einer Inszenierung weiterentwickelt werden. Den Versuch einer Systematisierung solcher Verfahren unternimmt Müller unter Rückbezug auf die Arbeitsphasen traditioneller Theaterproduktion, indem er den Unterschied zwischen der herkömmlichen, konzeptionellen Regiepraxis und einer als situative Regie bezeichneten Arbeitsweise akzentuiert (vgl. Müller 1987). Konzeptionelle Regie geht dabei von einem detailliert ausgearbeiteten Vorentwurf aus, welcher bis zu einer exakten, im Voraus angefertigten Ausarbeitung der handelnden Charaktere reicht. Ist das Konzept erstellt, folgt die Phase der Umsetzung mit den Darstellern. Als situative Regie bezeichnet er eine Arbeitsweise, die aus der Zusammenarbeit mit den Spielern und ihren Vorschlägen die allmählich entstehende Gestalt der Inszenierung im Probenverlauf sukzessive hervorbringt. Dass damit keine Reinformen in ihrer Ausschließlichkeit behauptet werden sollen, sondern zur situativen Regie sehr wohl eine vorbereitende konzeptionelle Praxis gehört, wie in der konzeptionellen Regie viele Entscheidungen im Verlauf des Probenprozesses revidiert und neu durchdacht werden müssen, gehört zum Wesen der Kunstproduktion (vgl. ebd.; 257). Beide Formen, die situative wie die konzeptionelle Regie, werden von ihm als legitimes Vorgehen sowohl im professionellen Theater als auch im Amateurtheater angesehen, mit dem Unterschied, dass die situative Regie eher im theaterpädagogischen Kontext, die konzeptionelle eher in Produktionsbetrieben anzutreffen ist (vgl. ebd.). In situativen Regiekonzepten »übernehmen dann didaktische Anleitungsverfahren praktisch die Funktion der konzeptionellen Regie« (ebd.). Spieldidaktische Reflexionen schaffen die Voraussetzungen dazu und ermöglichen erst eine konzeptionell durchdachte situative Regiepraxis. Auffallend ist, dass bei Müller nicht nur der Bezug zum professionellen Theater gewahrt bleibt, sondern darüber hinaus die pädagogischen und sozialen Funktionen der Regietätigkeit als generell bedeutsame Aspekte von Proben benannt werden.18 Die Grenzen zwischen der Profes18 | Betrachtet man die zeitgenössische Theaterlandschaft, so vermischen sich nicht nur Strategien konzeptionellen und situativen Vorgehens, sondern allein

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sion des Regisseurs und jener des Theaterpädagogen sind unter diesem Blickwinkel nur mehr von gradueller Art, die Handlungsspielräume basieren in beiden Bereichen auf dem Zusammenspiel von künstlerischen und pädagogischen, konzeptionellen und situativen Konzepten und Komponenten. Die Gruppe ist Konzept. In die Argumentationslinie situativer Regie unter Wahrung der künstlerischen Eigengesetzlichkeiten des Theaters lassen sich auch die Ausführungen von Hoffmann einordnen, die sich für das Theater als Gegenstand der Theaterpädagogik starkmacht und fordert, methodische Gesetzmäßigkeiten aus der Kunstgattung abzuleiten (Hoffmann 1999; 11).19 Sie plädiert wie Müller für das Primat der Gruppe und deren natürlicher Spielfähigkeit, die der Theaterpädagoge mithilfe von Improvisationen methodisch freisetzen soll, um dann »mit den verschiedensten Mitteln auf unterschiedlichen Ebenen nach künstlerischen Lösungen« für das Darzustellende zu suchen (vgl. ebd.; 12f., 25). Hoffmann sieht das Vorgehen innerhalb theaterpädagogischer Regiearbeit zu Beginn vollständig auf die Gruppe als gemeinsames Spielensemble gerichtet und erst aus diesem Prozess heraus werden nach und nach Szenen mit einzelnen Protagonisten entwickelt. Ein eigentliches Regiekonzept kann also nur in produktiver Reibung mit in einer Inszenierung spielenden Menschen entstehen und im Unterschied zur Regie ist es »die Gruppe selbst, die dem Spielleiter die Vorgabe liefert und damit gewissermaßen sein ›künstlerisches Material‹« darstellt (vgl. ebd.; 22). Gleichwohl fordert dieses situative Vorgehen eine entschiedene konzeptionelle Praxis, denn für den »Grundeinfall der Inszenierung, aus dem die Erzähl- und Spielweise einer Geschichte erwächst, ist der Spielleiter zuständig, egal, wann und wodurch er im Prozess der Arbeit gefunden wird, es ist seine künstlerische Entscheidung, die er als Theaterpädagoge zu treffen hat« (ebd.). Die soziale und kulturelle Herkunft der Spieler, ihr Habitus und die Darstellungskompetenz, die sie mitbringen, beeinflussen diese Entscheidung.

schon der Status der Spieler und ihre darstellerische Professionalität erlauben bei Weitem nicht mehr die strikte Trennung zwischen theaterpädagogischen und regiedominierten Arbeitsweisen. Die seit Längerem für das Gegenwartstheater wichtigen Regisseure und Gruppen wie Schlingensief, Hoffmann & Lindholm oder Rimini Protokoll haben sich mehr und mehr darauf spezialisiert, mit dem ›nicht perfekten Schauspieler‹ eine eigene Ästhetik auf der Bühne zu entwickeln und das Publikum genau über diese andersartige Qualität des Darstellerischen gefangen zu nehmen. 19 | Hoffmann betont die notwendige Professionalität des Theaterpädagogen in der Kenntnis der Theaterpraxis, die ähnlich wie bei der Musik- und Kunsterziehung als selbstverständlich vorausgesetzt werden muss. Der Unterschied zu den Berufskollegen macht sich an den Zielen und Motivationen fest, dort beginnt auch die »pädagogische Standortbestimmung« (ebd.).

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In der darstellerischen Konsequenz hat dies zur Folge, dass andere Erzählstrukturen gefunden werden, die vermeiden, eine auf wenigen Protagonisten beruhende Haupthandlung und viele kleinere Nebenschauplätze in entsprechende Rollenbesetzungen aufzuteilen und textanalog umzusetzen. Stattdessen lebt die Theaterpädagogik vom Erfinden eigener Spielformen, die eine gleichwertige Präsenz und Gewichtung aller Spieler gewährleisten.20 So wird die Gruppe das Trapez für den Einzelnen, ermöglicht erst das Herausschälen einer singulären Aktion oder Figur und die handwerkliche, technische, ›schauspielerisch-persönliche‹ Eigenwilligkeit einer Einzelleistung kann erst zum Tragen kommen, wenn die Gruppe das Sprungbrett dafür bereitstellt. Didaktisch-dramaturgisches Denken. Der Theaterpädagoge kann unter den genannten Gesichtspunkten der Kunstpraxis weder nur als ein »Begleiter in Spiele hinein und aus Spielen heraus« (Nickel 2004; 265) aufgefasst noch in einem Atemzug mit dem selbstbezüglichen, visionären Regiekünstler genannt werden, sondern ist ein professioneller Theaterschaffender, der in Spiel- und Probenprozessen seine Wirkung entfaltet. Dies leistet er, indem er künstlerisch gestaltend und lehrend-vermittelnd tätig ist, dem Subjekt und der Sache zugleich sich verpflichtet, um den Zuschauern wie auch den Spielern angemessene, sie herausfordernde und ihnen entsprechende Inszenierungen zur Geltung zu bringen. Das pädagogische Geschick des Theaterpädagogen liegt darin, die »unbewusste Alltagsdramaturgie«, die die Spielenden mitbringen, zu »bewusstem dramaturgischen Denken zu leiten, ohne die Spontaneität des Handelns zu verlieren« (Hoffmann 1999; 25). Ein solches Vorgehen lässt sich in der von Müller für den Spielleiter auf die Formel gebrachten »didaktischdramaturgischen Führung und Anleitung« erkennen (vgl. Müller-Poland 1990; 57). Der Versuch, didaktische und dramaturgische Prozesse genauer zu untersuchen, bedingt eine Reflexion der Interventionen und Interaktionen, die das Spiel der Probe verändern und gestalten.

2.4 Inter vention Im Verlauf von Spiel, Unterricht oder Proben hat der Theaterpädagoge jederzeit die Möglichkeit, in das Geschehen einzuschreiten, um es zu verändern. Er interveniert, indem er den Prozess unterbricht.21 In der 20 | Vgl. hierzu insbesondere die Ansätze zum chorischen Arbeiten in der Theaterpädagogik. Ausführlich reflektiert hat diese theatrale Darstellungsform Hajo Kurzenberger 1998, 2009. 21 | Diese Vorgänge der Unterbrechung findet man ebenso im freien Kinderspiel. Christel Hoffmann führt die Parallelität beispielhaft vor: »Um ein Spiel am Laufen zu halten, unterbrechen sie [die Kinder; ms] die Spielhandlung. Getragen von dem Interesse, das Spiel fortzusetzen, haben die Unterbrechungen den Zweck, dies auch möglich zu machen. Zur Unterbrechung kann es kommen, wenn Unei-

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Unterbrechung kann er eine neue Spielaufgabe formulieren oder einfach eine Bestätigung des aktuell statthabenden Ereignisses geben (vgl. Nickel 2005; 16). Interventionen können aber ebenso geplant und vorbereitet den Verlauf der nächsten Unterrichtseinheit oder Probe vorwegnehmen und für die gemeinsame Suche eine Richtung vorgeben, Bausteine einer Inszenierung auswählen und Gestaltungsprozesse antizipieren. »Entscheidungen für eine Intervention«, schreibt Hans-Wolfgang Nickel, »erfolgen oft sehr schnell und spontan, dann meist intuitiv. Sie beziehen sich auf einen kurzen Moment [...] oder sie umfassen eine in Ruhe und abseits der Spielgruppe (am  Schreibtisch) gefällte Entscheidung für ein umfassendes Projekt; dann sind sie eher reiflich überlegt und ›rational‹, zumindest bewusst(er) geplant« (ebd.; 15). Interventionen resultieren entsprechend sowohl aus impulsiven Handlungen als auch aus gedanklich reflektierten Überlegungen, sie kennzeichnen immer Versuche der absichtsvollen Steuerung von Probenprozessen. Nickel schickt diesen Interventionen voraus, dass sie »auf der Analyse der Situation (Zustand A)« durch den Spielleiter beruhen, der »eine Aufgabe (eine Spielregel)« formuliert und »damit den Zustand A in einen neuen Zustand B« überführt (ebd.; 14). Dieser neue Zustand muss nun nicht dem vom Spielleiter intendierten entsprechen, sodass der Theaterpädagoge erneut intervenieren wird, den Spielvorgang unterbrechend, sich einmischend, um nach und nach zu einer Spielgestalt zu gelangen, die als Resultat bestätigt werden kann. Wie die Reaktion der Spielgruppe im Zusammenhang mit den je erneuerten Spielregeln als ein Spiel von Fragen und Antworten verstanden werden kann, in welchem auch die Spieler in ein forschendes und aufspürendes Verhältnis zu einer noch nicht bekannten Darstellung treten können, so entwickelt sich aus dem Spiel von Interventionen und Reaktionen ein »lebendiger Dialog zwischen Spielgruppe und Spielleiterin, bei dem alle Dialogpartner Antworten geben, Fragen stellen, weiterführende Positionen einnehmen, neue Probleme aufwerfen« (ebd.). Innerhalb dieses Ereignisgeflechts aus Reizen und Reaktionen sind die Interventionen des Spielleiters »Angebote an SpielerInnen und Spielgruppe«, die in einem »didaktischen Dreieck« den Probenverlauf strukturieren (vgl. ebd.; 17). Didaktisches Dreieck. Das didaktische Dreieck »fasst die drei Hauptfaktoren eines Spielprozesses zusammen: Spielregel, Spielleiter, Spielgruppe. Sie beeinflussen einander« (ebd.; 18). Die Kernaufgabe des Theaterpädagogen kristallisiert sich in didaktischer Hinsicht als Kompetenz des Theaterpädnigkeit über den Fortgang der Geschichte besteht, da sind auch Konflikte unter den Spielenden nicht ausgeschlossen; wenn ein Verhalten nicht den eigenen Vorstellungen entspricht oder wenn die Handlung an einen Punkt gekommen ist, an dem die nächste Episode überlegt werden muss und anderes mehr« (Hoffmann 2003; 118).

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agogen heraus, mit den Spielregeln selbst spielen zu können und sowohl im spontanen Intervenieren während der Probe als auch in der vorab kalkulierten Spielanlage zwischen der Gruppe und der Inszenierungsabsicht vermittelnd aktiv zu werden. Für ihn ist das Erfinden und Variieren von Spielregeln das zentrale Werkzeug im Gestaltungsprozess. Spielleiter und Spielgruppe werden so zu Produzenten des Inszenierungsereignisses, das durch die Art der Spielregeln das Spiel ins Rollen bringt. Interventionen seitens der Spielleitung können durch die im Probenprozess sich vollziehende Etablierung bestimmter, für das zu erzielende Ergebnis relevanter Spielregeln rekonstruiert werden. Die Gruppe spielt sich die vom Spielleiter eingegebenen Spielregeln zurecht und »zeigt durch ihre Reaktionen, welche Spielregeln ihr entspricht, möglich oder förderlich ist«, denn am gelungenen Spiel wird sichtbar, ob der Spielleiter sein Geschick im Arrangieren von Spielregeln der Gruppe und der Sache zur Geltung bringen konnte, denn »passen Spielregel und Spielgruppe nicht zusammen und gibt der Spielleiter keine Möglichkeit, die Regel zu verändern, stirbt das Spiel: die Regel wird ›exekutiert‹, vielleicht formal befolgt; von einem freien, lebendigen, die Kräfte der Spielgruppe wachrufenden Spiel aber kann nicht mehr die Rede sein« (ebd.; 18). In der Gleichsetzung von Interventionen und Spielregeln bekommt das Handlungsrepertoire des Theaterpädagogen bei Nickel eine deutliche formale Struktur. »Zur Didaktik der Spielleitung gehört es«, so sein Fazit, » einen wechselseitigen, tunlichst alle SpielerInnen einbeziehenden Prozess mit Hilfe von Spielregeln (Interventionen) zu ermöglichen; Spielleitung muss immer wieder versuchen, die jeweilige Situation der Gruppe zu erkennen und daraufhin den nächsten Schritt vorzuschlagen. Das gilt auch für den speziellen Bereich der Regie« (ebd.; 18). Übertragen auf die Ansätze situativer und konzeptioneller Regie ist im Spiel mit den Spielregeln und mit deren adaptivem Einsatz der Handlungsapparat des Theaterpädagogen fixiert. Je mehr Raum intuitiven Interventionen gegeben wird, desto näher rückt die Praxis in den Bereich der situativen Regie – ohne je ganz auf konzeptionelle Entscheidungen verzichten zu können und vice versa. Greift man unter dieser Definitionsmarke die Frage erneut auf, wie das Paradox des Theaterpädagogen gelöst werden kann und der Spieler dazu zu bringen ist, etwas Unerwartetes, Nichtalltägliches, Riskantes zu tun, so wird die Spielregel zum zentralen Kommunikationsorgan zwischen Spieler und Regisseur. Mit ihrer Hilfe werden Spielangebote der Spieler und der Regie miteinander in einen Kreislauf des Befragens gebracht und im Verlauf des Probenprozesses zu Inszenierungsmomenten realisiert. Dem theaterpädagogischen Paradox näher auf die Spur zu kommen verlangt, sowohl die Bedingungen des Spiels wie auch das Feld der Inszenierung auszuloten, um an den Schnittstellen zwischen Spielen und Inszenieren Interventionen des Theaterpädagogen anhand von Regeln beschreibbar zu machen und Bedingungen und Handlungsstrategien für eine Regie als Spiel formulieren zu können.

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Bedenkt man dabei, welche Palette von Handlungsmöglichkeiten dem Theaterpädagogen für diese Aufgabe zur Verfügung steht, so lassen sich drei ihrem Wesen nach verschiedene Handlungsformen ausmachen: Er kann reflexiv auf Gespieltes und Darzustellendes einwirken, kann Gezeigtes korrektiv verändern und in andere Bahnen lenken und er kann initiativ neue Spiele oder Darstellungsereignisse anregen und auslösen. Immer führt er dabei Veränderungen des theatralen Gefüges herbei, die neue Interventionen seinerseits verlangen. Zusammengenommen können alle seine eingreifenden, sich einmischenden und etwas auslösenden Aktionen als Interventionen aufgefasst werden, die in Form von Aufgabenstellungen Fragen und Antworten provozieren. Darüber hinaus gibt das didaktische Dreieck einen Hinweis darauf, dass alle konzeptionellen Überlegungen sowie die angestellten Probenreflexionen letztlich immer wieder in Interventionen überführt werden müssen, die als Spielregeln in das dynamische Wechselspiel zwischen Gruppe und Leitung eingespeist und aufgrund der Reaktionen darauf in den Proben verändert werden müssen. Unbeleuchtet bleiben in der strikten Anwendung dieses Denkschemas aber all jene Handlungen des Spielleiters und Begegnungen zwischen Gruppe und Theaterpädagoge, die nicht eindeutig als Interventionen gelesen werden können und sich abseits von regelgeleiteten Ereignisketten vollziehen. Den Begegnungen und Interaktionen, die das Spiel der Probe begleiten und umrahmen, Aufmerksamkeit zu zollen, verlangt, den Handlungsbereich der Interventionen um einen weiteren Handlungsmodus, die Interaktion, zu ergänzen.

2.5 Interaktion Neben den in strategischer Absicht entworfenen Interventionen ist für theaterpädagogisches Handeln eine weitere Kategorie nennenswert. Hajo Wiese und Bernd Ruping sprechen diese an, indem sie theaterpädagogische Kompetenz auszeichnen »durch die geduldige Provokation überraschender Gelegenheiten, durch taktvolles Einbinden geselliger Ereignisse und eigensinniger Widerständlichkeiten, durch mutiges Auslösen von Impulsketten, die keiner vorprogrammierten Spekulation oder Bildsprache folgen« (Wiese/Ruping 2003; 102). Solche Interaktionen finden ihren Hebelpunkt »im Spannungsfeld von Wille und Phantasie, Verständnis und Vernunft« und werden von einem »eingreifenden Denken, das auf Gestaltung aus ist«, getragen (vgl. ebd.). Für eine Legitimation dieser Sichtweise rekurrieren die beiden Autoren auf die Gedanken- und Begriffskosmen der Romantik sowie Walter Benjamins und verbinden diese mit theaterpädagogischen Grundsätzen. »Ähnlich wie in den offenen Experimenten der Theaterimprovisation und den Techniken der Unterbrechung des Spiels«, schreiben sie, »besteht das romantische Experiment, [...] in der Evokation des Selbstbewusstseins und der Selbsterkenntnis im Beobachten‹« (ebd.; 99). Die »magische Beobachtung« führe zu einer

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»Bewusstseinssteigerung«, die »das nicht-intentionale poetische Erfinden« aus einem Indifferenzpunkt entstehen lässt, »der nur durch aleatorische Technik herzustellen ist« (vgl. ebd.). Bei aller Skepsis gegenüber dem etwas pathetischen Vokabular erscheint ein Aspekt des umschriebenen Sachverhalts doch verfolgenswert: die sich dem rationalen Begreifen entziehende Kategorie des Handelns und Beobachtens. Dem Versuch, diesen Modus in die theaterpädagogische Theoriebildung zu implementieren, sind die weiteren Ausführungen geschuldet, die die Argumentationen Wieses und seiner Mitautoren in sehr verkürzter Form nachzeichnen und auf ihre Verwertbarkeit prüfen. Konstruktion von Ausnahmesituationen. Wiese versteht theaterpädagogisches Handeln als Gegenentwurf zu einer immer noch wirkmächtigen bürgerlichen Gesellschaftsform. Interaktionsweisen der Theaterpädagogik sind den von ihm antizipierten Vorstellungen von schulischen LehrLern-Vorgängen daher diametral entgegengesetzt. »So benötigen theatrale Lernprozesse«, schreibt Wiese, »einen Lehrer oder Spielleiter, der sich überraschen lässt und nicht die Schüler in seine ästhetischen Vorstellungen hineinquält«, was einem »Paradigmenwechsel der bürgerlichen Pädagogik« gleichkomme, da unter diesen Umständen »Methodik und Didaktik [...] ihren instrumentellen Bezug« verlieren: »Was gelernt wird, muss sich zeigen. Wie gelernt und gelehrt wird, muss sich zeigen. Das Einzige, was geplant werden kann, ist, dass sich etwas zeigt, was das Gestaltungsinteresse von Lehrern und Zöglingen sachlich und gegenständlich – in Gestalt von Haltungen und Gesten – evoziert« (Wiese 2005; 273; Hervorhebung im Original). Geglückter Unterricht ist seinen Vorstellungen zufolge wesentlich abhängig von einer »pädagogischen Absichtslosigkeit«, in der das Interesse am Stoff sich nicht in einem souveränen Methodeneinsatz erschöpft, sondern dadurch, »dass manchmal gerade der auch dem Lehrer noch unvertraute Stoff, seine fehlende sachliche Vorbereitung als eine Voraussetzung für einen erfahrungsträchtigen Unterricht erscheint« (vgl. ebd.; 272). Arbeitsformen für das experimentelle Erproben der intentionslosen Interaktionszusammenhänge zwischen Spieler, Theaterlehrer und Stoff lokalisiert er in den Methoden der Kunst und Schauspielerausbildung, die Überschneidungen zu den Verfahren der psychologischen Therapie aufweisen (vgl. ebd.; 274). Im Ergebnis konstruiere der Theaterpädagoge »in den instrumentalisierten Lernzusammenhängen der Regel- und Sonderpädagogik Ausnahmesituationen, die in der Schauspielerausbildung fester Bestandteil der Heranbildung von Fähigkeiten sind, Wirklichkeit in besonders dichter, existenzieller Dringlichkeit erfahrbar werden zu lassen. Ihrer Arbeitsform liegt ein ähnliches Prinzip zu Grunde, das wir an der künstlerischen Bereitstellung von Haltungen erkennen können, die die raren Ekstasen des Alltags systematisch provozieren« (ebd.). Neben der Fragwürdigkeit seiner normativen Pauschalisierung der instrumentellen Funktion pädagogischer Institutionen wird sein inhaltliches Anliegen, die

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Erzeugung von Ausnahmesituationen, durch eine heikle Legitimationsstrategie bekräftigt: Es geht Wiese in didaktischer Absicht darum, »strikte und authentische Erfahrungen« zu provozieren, die in der »Möglichkeit einer systematischen, angeleiteten Ekstase deutlich (werden), die sinnlich-unmittelbar [...] die Erfahrung der Distanz zu dem, was als nichtentfremdetes, entschuldetes Dasein ahnbar ist, in Gang zu setzen (vermögen)« (ebd.).22 Solche Erfahrungen tragen nach Wiese ihr Ziel in sich und er sieht darin den Ausweis, dass in der Theaterpädagogik allein der Weg das Ziel ist (vgl. ebd.). Mit diesem Rückschluss negiert Wiese allerdings jede poietische Dimension theaterpädagogischer Praxis und degradiert künstlerische Verfahrensweisen hinterrücks zu nur noch pädagogisch relevanten Methodismen. Die der Interaktion zugrunde liegende Verabredung, gemeinsam Theater zu machen, wird zugunsten von Selbsterfahrung und einer Selbstdarstellungspädagogik aufgelöst und die Situation verliert ihr vorausgesetztes Ziel. Das Vertrauen darauf, dass Differenzerfahrungen über ›unorthodoxe‹ Wege und Umwege im Rahmen künstlerischer Praxis und der Erfindung und Erzeugung von Darstellung entstehen, wird durch diesen Kurzschluss außer Kraft gesetzt und Theaterspielen in seiner eigenen und eigentümlichen Qualität indirekt angezweifelt. Offenes Zusammenspiel. Im Autorenkollektiv entwerfen Wiese, Günther und Ruping ein ähnliches Handlungsmodell mit der Absicht einer »ReInterpreation zentraler Kategorien der Methodik und Didaktik« (vgl. Wiese/Günther/Ruping 2006; 19). Als Lehr- und Unterrichtsprinzip wird von ihnen ein Suchprozess formuliert, in dem Spielleiter und Gruppe um Darstellung ringen und der mit einer »nicht-direktiven, nicht-vorgedachten Inszenierungsweise« korreliert (ebd.; 146). In der Konsequenz erfordere dies, so die Autoren, einen offenen Blick für »theatrale Ereignisse und Besonderheiten der jeweiligen Gruppe«, um aus dieser Beobachtung heraus »erstens künstlerische Entscheidungen zu treffen« und »zweitens die Gruppe in künstlerischen Lernprozessen« verführen zu können (ebd.; 146f.). Diese Form der Vermittlung wird nun als »produktive Konzeptlosigkeit« oder »sensibel wahrnehmende pädagogische Haltung« bezeichnet, welcher »originär ein weder pädagogisches noch poietisches (selbst 22 | Von dieser übergeordneten Vision aus konkrete Ableitungen für theatral und pädagogisch bedeutsame Situationen vorzunehmen steht allerdings noch aus. Wiese spricht hier nur sehr pauschal davon, dass »ein Wechsel der Arbeitsform [...] immer dann sinnvoll (erscheint), wenn das Spiel erlahmt oder in Handlungsklischees abzurutschen droht. Wesentlich für den Verlauf des Experiments ist das Gespür des Spielleiters und der beobachtenden Spieler für die sich im Spiel andeutenden dialektischen Bilder« (Wiese 2005; 279). Wiese unterscheidet zwar zwischen »affinitiv-schweifenden« und »definitiv-begrenzenden« Arbeitsphasen (vgl. ebd.; 279), ohne aber diese Kategorien an konkreten Prozessen handlungswirksam zu verdeutlichen.

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werk-schaffendes) Interesse« eigen sei (vgl. ebd.; 148, 176). So unmissverständlich diese didaktische Grundhaltung das offene Zusammenspiel von Spielern, Gegenstand und Theaterpädagoge in den Vordergrund stellt, darf doch nicht übersehen werden, dass auch hier der Theaterpädagoge seine Wahrnehmungen bewerten muss, um Entscheidungen für das weitere Vorgehen zu treffen und sich und die Gruppe handlungsfähig zu halten. Sensibel und spontan auf die prozessuale Entwicklung zu reagieren entbindet den Theaterpädagogen nicht von der Verpflichtung, Zielsetzungen vorzuformulieren und dem Arbeitszusammenhang Struktur zu geben, sein Handeln didaktisch zu reflektieren. Dass dies aufgrund der sozialen, pädagogischen wie der ästhetischen, künstlerischen Eigendynamik ein widersprüchliches Unterfangen ist, bleibt unbenommen. Wiese, Günther und Ruping treffen mit ihrem Ansatz einen virulenten Kern theaterpädagogischer Lehrkunst. Der Versuch der Synthese von sozialen und ästhetischen Prozessen verläuft entlang der Erfahrungszwischenräume ästhetischer Bildung und widerspricht einer klaren Lernzielvorgabe. Aufgrund der spezifischen Verfasstheit ästhetischer Bildungsprozesse können weder normative Setzungen von konkreten Lernschritten noch zwingende inhaltliche Zielvorgaben den Unterricht steuern. Der Theaterpädagoge ist immer neu gefordert, sein gesammeltes Wissen jenseits von schematischen Modellen oder logischen Schlüssen in die theaterpädagogische Situation einzubringen, die nicht (allein) funktional zu bewerkstelligen ist. Der Lehre vorgelagert muss in jedem Fall ein Wissen um schauspielerisches Handeln und theatrale Darstellungswege existieren. Die Vermittlung erschöpft sich jedoch nicht in der Weitergabe dessen, sondern mündet in einen quer dazu liegenden Interaktions- und Erkenntnisbereich, der sich gegen eine pädagogische Vereinnahmung sperrt. Genau hier wird die theaterpädagogische Haltung eines Lehrenden transparent. In diesem Sinne ist der von den drei Autoren propagierten Offenheit für das Unvorhersehbare und dem Widerstand gegen determinierende Unterrichtsprinzipien zuzustimmen. Meines Erachtens entdifferenzieren Wiese, Günther und Ruping allerdings die komplexe didaktische Grundsituation mit folgender Behauptung: »In den eigenständigen Unterrichtsformen des theatralen Lernens [...] fallen Methodik und Didaktik zusammen. Ihre Trennung würde Unterrichtsformen und -inhalte in ein strategisch-instrumentelles Verhältnis setzen und so den Freiraum der sozialen ästhetischen Produktion der Lerngruppe von vornherein einengen, statt ihn zu öffnen. Die konkreten Lernziele des theaterpädagogischen Unterrichts entstehen erst im Laufe seiner Praxis auf der Grundlage der wachsenden theatralen Selbsterfahrung der Lerngruppe und sind jeweils abhängig von deren gegenwärtigem Erfahrungsbestand« (Wiese/Günther/Ruping 2006; 63). Wenn als Fazit ihres Lehrverständnisses aus Angst vor Instrumentalisierungen die Möglichkeit zu bewusst gesteuerten Konfrontationen im Keim erstickt zu werden droht und Unterrichtsformen mit inhaltlichen Anliegen von vornherein ausgespart bleiben, wird der Sinn von theaterpädagogischen

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Reflexionen über Vorgehens- und Verfahrensweisen obsolet. Die Autoren übersehen meines Erachtens, dass unabhängig von den beteiligten Subjekten Prozesse zu beobachten sind, die typischen Charakter haben können, und dass vom Methodischen befreite didaktische Analyse einen reflexiven Spielraum öffnet für das Entdecken neuer Handlungspotenziale und den Zugewinn an didaktischer Fantasie. Mit dem Tabu, weiterführende didaktische Prinzipien geltend zu machen, wird bei Wiese, Günther und Ruping das Theaterspiel im Kontext der Theaterpädagogik reduziert auf einen Gegenstand für ephemer anmutende Persönlichkeitsentwicklungen, die nicht nur den spezifischen gesellschaftlichen Wert und die sozialpolitische Sprengkraft theatraler Ereignisse in Pauschalisierungen negieren, sondern durch die unbedingte Wende auf das Subjekt das Theaterspielen mystifizieren und damit erneut pädagogisieren. Selbst der Umstand, dass neben der Bildungsabsicht noch ein faktisch ganz konkret feststellbarer Produktionsvorgang stattfindet, der womöglich eigenen, theatralen und theaterpädagogischen Gesetzlichkeiten folgen kann, wird von ihnen übergangen. In der Tendenz bleibt ihre Argumentation deshalb im pädagogischen, vorkünstlerischen Bereich befangen, Gestaltungs- und Kompositionsgrundlagen spielen keine Rolle. Theater wird in Folge zu einem ahistorischen, selbstreferenziellen Konstrukt, ein der subjektiven Erfahrungsmöglichkeit dienstbar zu machendes Medium für die Hervorbringung eines freieren, souveräneren Subjekts. Wiese, Günther und Ruping formulieren die Vermittlungsfunktion der Theaterpädagogen zwar richtig als eine dem Theater spielenden Subjekt auf besondere Art und Weise zugewandte Instanz, die weniger planvoll agiert, als dies in Situationen des Unterrichtens üblich ist. Auf kausale Lehrprinzipien kann unter diesen Umständen nur schwer zurückgegriffen werden. Als Konsequenz allerdings die Notwendigkeit einer differenzierten, wissenschaftlich begründeten theaterpädagogischen Didaktik den Rücken zu kehren und den Theaterpädagogen allein der Lerngruppe gegenüber eine Rechenschaftspflicht zuzuschreiben, greift zu kurz. Der Vorschlag der Autoren, die Frage nach Vorgehensweisen und Strategien des Lehrens und Lernens nur aus deren Anwendung zu legitimieren, negiert die Notwendigkeit wissenschaftlicher Theoriebildung. Die Theaterpädagogik als eigenständige und eigengesetzliche Disziplin pädagogischer Vermittlungsarbeit muss sich vielmehr ausweisen über anerkannte Theorie- und vermittelbare Praxisentwürfe, die ihre Bezugspunkte seitens der Pädagogik wie des Theaters herleiten.23 Die vorschnelle Gleichsetzung von Methodik und Didaktik hebelt weniger – wie von Wiese, Günther und 23 | Dieser Einschätzung ist eine Verortung der Diskussion in der Fachdidaktik immanent. Als »eigenständige Disziplin« knüpft sie zwar an Erziehungswissenschaften und ihre jeweiligen Bezugswissenschaften an, ist aber gezwungen, »sich die pädagogischen Fragen selbst zu eigen zu machen, selbst pädagogisch zu denken« (Heursen 2004; 599).

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Ruping in Anspruch genommen – eine instrumentelle Verwendung der Theaterpädagogik aus, als sie erkenntnisstiftende Reflexionsvorgänge verbaut. Durch die Behauptung, Didaktik und Methodik seien in theatralen Lernformen identisch, wird eine Unterscheidung nivelliert, deren Räume und Zwischenräume ausschlaggebende Wegmarken der Fachdisziplin sind.

2.6 Zwischenstopp Verantwortlich für die Interaktionen innerhalb von Prozessen des Produzierens ist der Theaterpädagoge. Er agiert dabei teilweise analog zu einem Lehrer, denn er vermittelt Techniken und Wissen im Dialog mit den Spielern. Gleichzeitig ist er für die künstlerischen Prozesse verantwortlich und steht im selben Spannungsfeld wie ein Regisseur. Unterrichten und Proben überkreuzen sich, beide Handlungssituationen bedingen einen vorbereiteten Entwurf, der den realen Umständen flexibel angepasst werden muss und in erster Linie die konzentrierte Beobachtung des Geschehens auf sozialer und künstlerischer, situativer und konzeptioneller Ebene ermöglichen soll. Der konkrete Verlauf einer theaterpädagogischen Probe ist daher nur bedingt berechenbar, gelungener Unterricht und erfolgreiche Probe nicht an einem vorkalkulierten Ergebnis zu überprüfen. Prozesse des Produzierens gehen mit besonderen Interaktionen einher. Bereits die Setzung eines Anfangs ist für die Dynamik des weiteren Verlaufs prägend und birgt eine Vielzahl von Entscheidungen, die der Theaterpädagoge trifft und die das Spielensemble auf eine bestimmte Spur lenken. Nur eine ausgeprägte didaktische Spielfantasie kann künstlerische und pädagogische Verfahrensweisen angemessen in Bewegung bringen und aus bekannten Interventions- und Interaktionsmustern im Dialog mit den Spielern so weiterentwickeln, dass die Responsivität für das gemeinsam neu Entstehende gewährleistet ist. Wie beim Schauspiel ist die Erfahrungsbereitschaft für die Position der Regie die Grundvoraussetzung. Dazu gehört neben der wahrnehmungsoffenen Improvisation im Rahmen der Proben auch die Rekapitulation eigener Erzeugungsstrategien, aus denen heraus Erfahrungen wiederholbar werden und in ihrer Qualität weiterentwickelt werden können. Selbstüberschreitung ist in dieser Hinsicht nicht dem Spieler vorbehalten, auch der Regie muss daran gelegen sein, sich immer wieder selbst zu überholen. Die beiden darin eingeschlossenen Dimensionen, die Selbsterneuerung und die Beschleunigung der eingespielten Denk- und Handlungswege, die mit vorübergehendem Kontrollverlust einhergehen, sichern die qualitative Verschiebung von automatisierten Vorgängen in der Spiel- und Probenleitung. Liegt das Ziel theaterpädagogischer Arbeit immer in erster Linie in der Ermöglichung solcher Prozesse für das Spielensemble, ist aus didaktischer und dramaturgischer Sicht nach den Steuerungselementen zu fragen, die sowohl die eigene Verausgabung wie auch die verantwortli-

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che Führung, Begleitung und Reflexion der Anderen ermöglichen. Das Prinzip der ergebnisoffenen Befragung korreliert mit der Suche nach dialogischen Verfahrensweisen, die in einem Spannungsfeld von konzeptioneller und situativer Regie angelegt sind. Je situationsbezogener der Arbeitsstil angelegt ist – ein typisches theaterpädagogisches Modell –, desto stärker übernehmen didaktische Anleitungsverfahren eine konzeptionelle Funktion. Für die Gruppe und aus dem Ensemblegeschehen heraus Übungs- und Improvisationsaufgaben zu entwickeln, die das Spielpotenzial der Teilnehmer freilegen und in neue Spielweisen überführen, ist hierbei eine wesentliche Komponente. Die Werkzeuge des Theaterpädagogen sind Interventionen und Interaktionen, mit denen er die Ereignisse in den Proben initiiert, korrigiert und reflektiert. Intervenierende Handlungen konzentrieren und entwickeln bestehende Spielaufgaben weiter. Sie  folgen immer einer Intention, die spontan oder geplant sein kann. Unterbrechungen der aktuellen Situation erlauben es, die Aufmerksamkeit der Spieler in eine völlig neue Richtung zu lenken und unterschiedliche Arbeitsschritte zu verketten. Die Intervention spielt mit den Spielregeln und macht diese zu ihrem zentralen Werkzeug. In der Interaktion ist das Handeln aus Neugier auf den Menschen und die gemeinsame Erfahrung prominent, noch ohne dass eine Aufgabenstellung damit verbunden sein muss. Sie ist als offene Reaktion auf die Situation der Erzeugung von Ausnahmezuständen verpflichtet. Ist die Intervention getragen von dem Glauben an Ursache und Wirkung, an eine kausale Logik, die gefunden und hergestellt werden kann, weicht die Interaktion davon ab und setzt auf volles Vertrauen in den Zufall und die Widersprüchlichkeiten, die eigensinnige Entwicklungen ausmachen. Das intervenierende und interagierende Handeln des Theaterpädagogen vernäht Verfahrensweise, Spieler und Spielleiter miteinander und schafft Situationen, die zwischen Unterricht und Probe oszillieren. Im Wechselspiel beider wird Denken und Spielen in Ausnahmezuständen möglich. Für eine genauere Analyse spezifischer Regiestrategien in theaterpädagogisch geleiteten Inszenierungen erscheint es lohnenswert, die herausgehobene Stellung des Spiels zu thematisieren und den Weg vom Spiel zum Inszenieren zu verfolgen. Wenn es möglich wird, hierfür Verfahren zu benennen, die künstlerisch motivierten und konzeptionell durchdachten Umgang mit Spielregeln und Spielfolgen, Interventionen und Interaktionen in den Spielprozess darlegen und zugleich deren Funktionsweisen und Konsequenzen für gestalterische Prozesse ausleuchten, um deren Rückwirkung in die Inszenierungspraxis zu reflektieren, wäre ein fachdidaktischer Gewinn zu verzeichnen.

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3 S PIELEND DENKEN III Im Rahmen theatraler Praxis transformatorische Bildungsprozesse zu ermöglichen ist anerkanntes Ziel der Theaterpädagogik und Grundlage für das theaterpädagogische Selbstverständnis. Wann und wo aber finden diese Prozesse eigentlich statt? Der Theaterpädagoge beendet eine Improvisation und bittet die Spieler, mit Papier und Stift ausgestattet, die für sie wichtigsten Momente aus der Improvisation in eine Bildbeschreibung zu übersetzen. Konzentrierte Ruhe. Hier? Ein Zweierteam muss während einer Partnerübung immer wieder lachen und die Übung unterbrechen. Der Theaterpädagoge gibt ihnen einen Hinweis, wie sie anders starten können. Eine intensive Präsenz im Kontakt miteinander ist plötzlich beobachtbar und hält über eine lange Zeitdauer. Jetzt? In der Kritik zum ersten Durchlauf werden Zweifel laut ob der Verständlichkeit des Erzählanliegens für die Zuschauer. Hier? Die Diskussion im Ensemble befördert neue Zuversicht für den eingeschlagenen Weg. Oder erst hier? Die ältere, gebrechliche Spielerin tanzt auf der Premierenfeier ausgelassen. Hier etwa? Vor der zweiten Vorstellung beschreibt ein Jugendensemble angeregt und überrascht, was Freunde, Eltern und Verwandten am vergangenen Abend in der Inszenierung alles gesehen und erlebt haben. Jetzt? Die ausschlaggebenden Momente und Anlässe für Prozesse der ästhetischen Bildung lassen sich zwar auf einer übergeordneten, theoretischen Ebene, nicht aber in der Praxis eindeutig verorten. Spricht man mit einer Theatergruppe, scheinen singuläre Ereignisse während der Probenzeit für alle von zentraler Bedeutung, andere bleiben nur für Einzelne gültige Sollbruchstellen. Von außen können sie weder an objektiven phänomenologischen Auffälligkeiten eindeutig erkannt noch in spezifischen Vorgehensweisen umfassend sichergestellt werden. Spekulatives und reflexives Denken stehen in der Theaterpädagogik mit Interaktionsweisen und Kommunikationsstrategien in einem Zusammenhang, der dem Spielgeschehen eine konkrete Gestalt gibt. Ob für angestrebte Inszenierungsvorhaben mit nichtprofessionellen Darstellern ein klassisches Drama besser geeignet ist als die thematische Montage, verarbeitete Alltagserfahrungen gegenüber artifiziellen Erfindungen prägnantere Ergebnisse liefern, ist dem eigentlichen Bildungsgedanken nachgeordnet und scheint relativ variabel. Die Frage nach für die Theaterpädagogik geeigneten Stoffen ist kaum zufriedenstellend zu beantworten, will man Theater nicht auf ein formales Bildungsspiel reduzieren. Eckart Liebau gerät in diese Gefahr, wenn er für die Theaterpraxis an Schulen behauptet: »[...] man findet manchmal im Schultheater grandiose Inszenierungen, die inhaltlich äußerst fragwürdig bzw. leer sind; Musical-Spektakel bieten sich dafür besonders an. Solche Inszenierungen verschenken die besonderen bildenden Möglichkeiten und Wirkungen des Schultheaters, die in der erstmaligen gestaltungs- und darstellungsbezogenen Auseinandersetzung mit substantiell relevanten Herausforderungen liegen. Es macht einen Unterschied, ob die erste (und manchmal auch einzige)

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aktive Theatererfahrung mit ›Cats‹ oder mit ›Ein Sommernachtstraum‹ gewonnen wird – auch wenn in qualifikationstheoretischer Hinsicht die sozialisatorischen Effekte vergleichbar sein mögen. In bildungstheoretischer Hinsicht sind sie es nicht« (Liebau 2005; 133). Den Fokus auf den Bildungsaspekt von literarischen Texten zu legen und eine wertende Kanonisierung von geeigneten Stoffen zu protegieren bringt die besondere Qualität ästhetischer Erfahrung ins Hintertreffen. Für sie sind vielmehr die differierenden Verfahrensweisen in ihrem Bildungspotenzial genauer zu untersuchen. Denn selbst mit einer Vorlage wie »Cats« lassen sich sowohl großartiges Theater erfinden als auch bildungsrelevante Erfahrungskrisen initiieren, wie der »Sommernachtstraum« kein Garant für eine intensive theatrale Auseinandersetzung, Differenzerfahrungen und transformatorische Selbstbildungsprozesse ist. Eine werkästhetische Argumentation, wie Liebau sie anzettelt, stößt hier schnell an ihre Grenzen. Offensichtlich erschöpft der intendierte Bildungsvorgang sich nicht am zu bearbeitenden Stoff, sondern die Theaterarbeit als solche holt das Subjekt über einen Umweg ein und setzt Prozesse in Gang, die den gesuchten Mehrwert bilden. Wo versteckt sich aber in dem Transfer von Schauspielwissen an Nichtschauspieler die spezifische bildende Qualität? Was passiert auf dem Weg der Inszenierung eines (fast) beliebigen Texts oder Themas mit dem nichtprofessionellen Darsteller? Wie verfängt sich das Subjekt in Differenzerfahrungen, die selbstbildende Prozesse auslösen? »Der Anlass, Theater zu machen«, schreibt Rudi Müller, »ist für diese Gruppen nicht das Stück, die Aussage des Autors, die von den Schauspielern in Szene gesetzt wird, sondern die agierende Gruppe formuliert mit den Mitteln des Theaters ihre eigenen Aussagen, bringt eigene Gefühle und Gedanken zum Ausdruck, auch dann, wenn vielleicht das Stück eines Autors den Ausgangspunkt der Arbeit darstellt« (Müller 1972; 192). Diese Haltung impliziert, dass in der theaterpädagogischen Praxis eine Veränderung und Bearbeitung von Ausgangsmaterialien – seien dies Schauspielkonventionen oder Dramentexte – beinahe unumgänglich ist, will man den Veräußerungen, die ein Ensemble während des Probenprozesses in der Auseinandersetzung mit theatralen Mitteln macht, Gehör und Raum verschaffen. So ist mit der »Emanzipation der Darstellenden Kunst von der Literatur« der Weg frei geworden, die Eigenständigkeit des handelnden Suchens nach theatraler Qualität anzuerkennen, die »fast eine revolutionäre(n) Wendung« gleichkommt, denn die Spieler »verkörpern nicht mehr nur die ihnen übertragenen Rollen«, sondern »sie erproben sich in ihrer eigenen Körperlichkeit auf der ästhetischen Ebene in enger Beziehung zum Leben, zur menschlichen Existenz« (Hoffmann 1999; 12). Unter Berücksichtigung des dargestellten Bildungs- und Subjektverständnisses bieten für eine theaterpädagogische Fachdidaktik künstlerische Repräsentationen weniger Reibungsflächen als die Betrachtung und Überprüfung von Handlungsprozessen in Probensituationen, die nach Spielweisen dieser existenziellen Auseinandersetzung forschen.

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Dies geht zwangsläufig mit einem erweiterten Kunstbegriff einher, denn nicht die schauspielerische Konvention oder der Dramentext sind handlungsleitend, sondern die Bereitschaft, gemeinsam mit den Spielern Wege zu suchen, die der subjektiven Aneignung von künstlerischen Ausdrucksformen Rechnung tragen. An die Stelle der Nachahmung von Verkörperungstechniken des Schauspielers tritt folglich die Suche nach Spielmomenten und -motiven, die in der Darstellungspraxis tragfähige Erfindungen auf der Basis des Spiels generieren. Analog zum professionellen Schauspiel ist in der Theaterpädagogik der intime Charakter des Spiels wesentliche Schaltstelle und Wirkungsmechanismus für die Genese theatraler Ereignisse. Eine didaktische Analyse hat folglich das Spiel um theatrale Ausdruckskraft zu fokussieren, anstatt formale Inhalte und Ziele schauspielmethodischer Konventionen zu bedienen. Der Erwerb von handwerklichen Mechanismen und schauspielanalogen Differenzierungsrastern kann in einzelnen Situationen zwar Erkenntnis bildend für die Kunstform Theater sein und berechtigt Eingang in die theaterpädagogische Arbeit finden, das eigentliche Bildungspotenzial von Verkörperungsprozessen verbirgt sich aber »dazwischen«.

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IV Kartierung der Spielfelder

Neben der Erörterung und Fundierung einer Fachdidaktik über die offene Erforschung des Spiels konkretisiert das Spiel als soziales Potenzial den Auftrag der Theaterpädagogik innerhalb der Gesellschaft, deren Aufgabe es nach wie vor ist, den Menschen den »Zugang zum Spiel offenzuhalten« (Müller 1972; VIII). Die Herausforderung für den Theaterpädagogen liegt im Entdecken und Entwerfen von Arbeitswegen, die Menschen ins Spiel verführen, gleichgültig, aber nicht unabhängig davon, wie geübt und geschickt sie sich in dieser eigenen Verdoppelung im Spiel zeigen. Niederschwellig und nachhaltig den Spieldrang zu befördern, die Bereitschaft, sich über bekannte Grenzen und Manifeste hinauszuwagen und den unverstellten Kontakt zum Anderen zu suchen und auszuhalten, sind in erster Linie zu entwickeln. Dass hierbei Maßstäbe und Methoden des professionellen Schauspiels variiert werden und eigene, theaterpädagogische Prämissen zum Zuge kommen müssen, scheint selbstverständlich. Die nachfolgenden Kapitel wollen Schnittstellen spielerischer und künstlerischer Praxis ausweisen, die sicherstellen, dass eine Auseinandersetzung im Medium der Kunst verläuft. Der Bezug auf Prozesse der Gestaltgebung und produzierendes Handeln orientiert die Praxis auf einen objektivierbaren, nicht allein subjektbezogenen Ausdruck und Erfahrungshorizont. In einem ersten Schritt wird nach dem Wesen und der Struktur des Spiels gefragt. Welche handlungstheoretischen Konsequenzen für die Theaterpädagogik daraus folgen, steckt das Spielfeld für die weitere Untersuchung ab (Kapitel IV.1). Eine dezidierte Beschreibung künstlerischer Verfahrensweisen macht die Differenz zu allgemeingültigen Spielprozessen deutlich und zeigt auf, welchen besonderen Stellenwert das Spiel in Vermittlungsprozessen der Kunst einnimmt (Kapitel IV.2). Unter der kunstdidaktischen Perspektive werden insbesondere experimentelle Spielstrategien konkretisiert und auf den Kontext Theater übertragen. Im Anschluss werden Kategorien für übergeordnete Schnittstellen und Spielräume theatraler Probenpraxis dargelegt, anhand derer Theater ins Spiel zu bringen ist (Kapitel IV.3). Sie dienen als wissenschaftliches Konstrukt für die Analyse von PraxisHaltungen in Probenprozessen (Kapitel V).

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1 D AS S PIEL »In Spielen vollzieht sich eine Ausweitung in andere Welten; fremde Horizonte und Strukturen werden sichtbar. Neue Erfahrungen werden gemacht, bei denen Zufall und Kontingenz eine wichtige Rolle spielen« (Wulf 2005; 21). Das Spiel als Medium des Lernens und Erfahrens von Welt ist entsprechend nicht nur ein methodisches Instrumentarium im Prozess der Aneignung bestimmter Inhalte, sondern es bringt die Komponente des Zufälligen und Möglichen als zentrale Größe in die Beziehung zwischen Subjekt und Welt durch Spielen ein. In der spielenden Auseinandersetzung mit Welt öffnen sich anscheinend neue, andere Welten und Horizonte, die weder in zielgerichteten Lernschritten noch rein logisch aus Vernunft und Erkenntnis abgeleitet werden können. »Um spielen zu können«, so die weitere Konsequenz, »bedarf es eines Spielwissens. Dieses ist kein theoretisches, sondern ein körperliches, performatives, praktisches Wissen [...]« (ebd.). Wissend spielen verlangt Erfahrungen, die nicht beliebig rationalisierbar sind und auf keinem anderen als einem spielerischen Weg erworben werden können. In der Vermittlung von Spiel und Spielen sowie im Handeln auf der Basis des Spiels ist dieses praktische Spielwissen unabdingbar. In  der Reflexion darauf kann gleichwohl auf eine theoretische Grundierung von Spielprozessen und -vorgängen nicht verzichtet werden. Da ich davon ausgehe, dass ein berufliches Lehrverständnis in der Theaterpädagogik eng verbunden ist mit Annahmen über das Spiel und Spielprozesse, müssen deren Funktionen und Strukturen für den weiteren Gedankengang fundiert werden. Erst wenn das Spielfeld, auf dem wir uns täglich bewegen, näher erörtert ist, können von dort aus weitere Überlegungen zu einer sinnstiftenden Praxisreflexion angestellt und didaktische Spuren zwischen Spielen und Denken weiterverfolgt werden. Voraussetzung dafür, die Kunst des Spielens für eine Theoriebildung in der Theaterpädagogik nutzbar zu machen, ist ihre Praxisrelevanz. Gesucht wird also nach Argumentationen, die das Spiel als Phänomen der Praxis zu fassen versuchen. Entsprechend stehen die handlungsorientierten Erkenntnisse zum Spiel im Vordergrund und werden nur an den für das Verständnis notwendigen Stellen von philosophischen, anthropologischen oder ästhetischen Theorien umrahmt. In einer ersten Bestandsaufnahme werden die Grundlagen und aktuellen Theorien zum Spiel gesichtet (Kapitel IV.1.1). Spielfunktionen (Kapitel IV.1.1.1) und -strukturen (Kapitel IV.1.1.2) voneinander zu unterscheiden, bietet die Chance, Interventionsmöglichkeiten genauer zu lokalisieren. Der besondere Subjektstatus im Spiel wird thematisiert (Kapitel IV.1.2) und ist nachfolgend richtungsweisend für lehr-lern-theoretische Implikationen im Umgang mit Spiel (Kapitel IV.1.3). Ein Zwischenstopp bündelt die gesammelten Erkenntnisse (Kapitel IV.1.4).

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1.1 Ein Spiel von Phänomenen »Das Spiel endet nicht, wo das Spiel aufhört. Es sei denn, es ist nichts als ein Spiel« (Blau, zit.n. Weiler 2005; 49). Ein Spiel ist demnach potenziell unvergänglich, es löst etwas aus, wirkt weiter, pflanzt sich fort, obwohl das Spielereignis bereits abgeschlossen hinter uns zu liegen scheint. Wie ein Auslösemechanismus kann mit dem Beginn eines Spiels die Wirklichkeit des Spielens innerhalb und außerhalb eines abgesteckten Rahmens beeinflusst werden. Das Spiel kann die abgetrennte, andere Wirklichkeit beeinflussen, sich eigenmächtig in ihr fortsetzen. Es interferiert mit anderen, nichtspielerischen Ereignissen unabhängig von zeitlichen und räumlichen Dispositionen. Die potenzielle Unvergänglichkeit des Spiels, anders formuliert, das Fortschreiten seiner Hinterlassenschaften, macht es zu einem zugleich autonomen und heteronomen Geschehen. »Der Gedanke, den es in die Welt gesetzt hat, überschreitet die Grenzen des Spiels, wird zum Bestand der alltäglichen Realität. Es entfaltet eine spezifische Wirksamkeit: Es verwandelt uns ein wenig« (ebd.). Dort, wo es nichts als ein Spiel ist, verpufft anscheinend sein auf Wirklichkeit und Subjekt transformierend einwirkendes Potenzial, es fällt in sich zusammen und überlebt nur in der Behauptung eines Spielseins. In der semantischen Resonanz auf den Spielbegriff findet man diese schillernde und oszillierende Qualität wieder: Ein Spiel kann gespielt werden, ebenso kann einem ein Spiel plötzlich und unvermittelt widerfahren, einen gänzlich unverhofft einholen. Wird mit einem ein Spiel gespielt, das kein Spiel mehr ist, gerät etwas außer Kontrolle. Hier verschwimmt das Spiel, es entgleist und wechselt seinen Status. Spiel ist demnach nicht beliebig, es kann zumindest aus der Sicht der involvierten Subjekte ex negativo (eindeutig) dingfest gemacht werden. Ist etwas für eine Person kein Spiel (mehr), kann es nicht nachträglich als solches erfahren werden. Was ist es aber, dieses Spiel? Könnte der Begriff Spiel ausgehend von einer allgemeingültigen Definition in die Untersuchung eingebracht werden, wäre die klärende Verortung des Spielverständnisses Beginn weiterer Überlegungen. Die Spieldiskussion würde begriffsgeschichtlich Anlauf nehmen und das Spiel als Basis von transformatorischen Bildungsprozessen und Theaterpraxis begründet ergänzen, erweitern oder Teilaspekte revidieren. Beim Terminus Spiel scheint dieses wissenschaftsanalytische Vorgehen ausgeschlossen, denn: »Denk nicht, sondern schau!«, mahnt Ludwig Wittgenstein den Leser seiner »Philosophischen Untersuchungen«, will dieser der Gemeinsamkeit von Spielen auf die Spur kommen (Wittgenstein 2003; § 66, 57). Er warnt sogar explizit davor, sich die Frage »Was ist ein Spiel?« zu stellen, da Spiele keine Definition anhand präziser Merkmalsbestimmungen erlaubten. Der Frage »Was ist ein Spiel?« nachzugehen, impliziert eine Gratwanderung zwischen Begriffsklärung und Erläuterung der eigentlichen Wesensmerkmale von Spiel: Ein  nicht eingrenzbarer Wechsel von sich widerstreitenden Aspekten scheint geradezu cha-

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rakteristisch den Eigenschaften des Spiels zu entsprechen. So steht das Moment der Zweckfreiheit neben jenem der Daseinsbewältigung, innere Unendlichkeit und Identitätsbildung scheinen im Spiel zusammenzufallen, welches sich zu einer anscheinend mehrdeutigen Realität zwischen Sein und Schein herausbildet.1 Gebauer und Wulf kommen gar zu dem Fazit, dass die Geschichte der Spieltheorie als eine Folge von Versuchen gelesen werden könne, das Spiel in immer wieder neue Oppositionen einzuspannen (vgl. Gebauer/Wulf 1998; 190). Als Antipode zu Arbeit, Ernst oder Wirklichkeit wird dem Spiel von Kant über Schiller bis Huizinga ein erstrebenswertes Gegengewicht zu den die historische Epoche dominierenden politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Strömungen zugesprochen.2 Wo diese Theorien nicht schon selbst die Ambivalenz solch dichotomer Setzungen thematisieren, wird dies alsbald von anderen Theoretikern nachgeholt. Diese grundlegend paradoxe Struktur des Spielbegriffs verortet das Spiel in einem als »potentiellen Raum« (vgl. Winnicott 2002; 65)3 zu begreifenden Zwischenraum, dessen Spannung sich nährt »von Alltagskompetenzen einerseits und dem Suspens der Verantwortung für die Folgen unseres Tuns andererseits« (vgl. Weiler 2005; 49). Aus diesem Paradox erwächst das subversive Potenzial, welches dem Spiel eigen scheint und sich in keiner Fixierung stillstellen lässt. So bleiben alle Definitionsversuche unwiderruflich in dem Dilemma gefangen, dass Spiel einerseits als Teil der Alltagswirklichkeit, andererseits als eine eigene Wirklichkeit bildend verstanden werden kann, sowohl in Arbeitsprozessen erscheint als auch selbst in seiner Herausbildung Arbeit erfordern kann, Ernst und Unernst keine hinreichenden Unterscheidungskategorien bilden. Die eindeutige Ausgrenzung essenzieller Lebensbereiche aus dem Kontext Spiel wie ebenso der Umkehrschluss, das Spiel als einen in sich geschlossenen, klar eingrenzbaren Freiraum zu definieren, scheitern mangels allgemein1 | Die genannten Motive finden bei folgenden Autoren eine prominente Referenz: Zweckfreiheit bei Kant; Daseinsbewältigung bei Piaget; innere Unendlichkeit bei Scheuerl; Identitätsbildung bei Mead; Realität zwischen Sein und Schein bei Huizinga. 2 | Kant hebt den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel hervor, ohne das Spiel jedoch als pädagogisches Instrument zweckentfremden zu wollen, während Schiller die Utopie einer Selbst- und Weltbildung durch den spielenden Menschen entwirft. Bei Huizinga dominiert die Suche nach der Wurzel von Kultur im Spiel, wodurch es zu der welterzeugenden Kraft stilisiert wird. Vgl. I. Kant: Über Pädagogik. Gesammelte Werke, Band XI. Wiesbaden 1959; F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart 1989; J. Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987. 3 | In der Originalausgabe, die unter dem Titel »Playing and Reality« erschienen ist, ist mit dem Wortlaut »potential space« die spannungsgeladene Offenheit des Gemeinten deutlicher ausgedrückt. Übersetzt ins Deutsche wird von »potenziellem Raum« und/oder »Spannungsbereich« gesprochen.

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gültiger Beweiskraft.4 »Als einer der wenigen Begriffe überhaupt«, resümiert Hanne Seitz, »trägt der Spielbegriff sein eigenes Gegenteil in sich« (Seitz 2003; 280). Eine  Grenzziehung zwischen Spiel und Nicht-Spiel ist auf der Basis einer verbindlichen Definition nicht auszumachen und gerade hierin liegen, so die anerkannte geisteswissenschaftliche Haltung heute, Wert und Wesensmerkmal des Spiels. Da das Spiel dem »Versuch letztgültiger Vergewaltigung« durch eine eindeutige Begriffsbestimmung entgeht, erweist es sich als »ständig neu zu bewältigende Aufgabe« (Kreuzer 1983; 15). Anstatt sich bei der Suche nach dem Allgemeinen des Spiels aufzuhalten, um von dort aus den Boden für weitere Denkschritte zu bereiten, verlegen Spieltheoretiker infolgedessen ihre Zugriffe auf Spiel mehr und mehr auf besondere Aspekte in gewissen Geltungsbereichen. So differenziert sich Spieltheorie heute in pädagogische, soziologische, mathematische und viele weitere Forschungszweige, die weitgehend unabhängig voneinander koexistieren.5 Bezieht man nur fragmentarisch einzelne Aspekte des Spiels in 4 | So begründet Sonderegger ihren Perspektivenwechsel zugunsten des »Kunstwerks als Spiel« mit der Problematik, die kulturtheoretischen Spielkonzepten innewohnt: »Erstens, weil diese Übertragungen äußerlich bleiben, und zweitens, weil sie von schwer zu erweisenden anthropologischen Vorannahmen über den Menschen als spielendes Wesen leben. Damit hängt auch zusammen, dass diese Ansätze zu keinem ästhetischen Spiel kommen, allenfalls zu einer bestimmten Intensität nichtästhetischer Spiele im Kunstwerk« (Sonderegger: 2000; 9f.; Hervorhebung im Original). 5 | Vgl. hierzu u.a.: U. Baatz/W. Müller Funk (Hg.): Vom Ernst des Spiels. Über Spiel und Spieltheorie. Berlin 1993; H.-W. Nickel/C. Schneegass: Symposion Spieltheorie. Berlin 1998. Namhafte Spieltheorien liegen in einer Vielzahl vor. Für den Hintergrund des Spieldiskurses im Kontext der Theaterpädagogik scheinen mir die aus anthropologischer und kulturtheoretischer Perspektive argumentierenden Arbeiten relevant: J. Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987; F. J. J. Buytendijk: Wesen und Sinn des Spiels. Berlin 1933; H. Scheuerl: Das Spiel. Untersuchungen über sein Wesen, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. Band 1. Weinheim und Basel 1979; G. Gebauer/C. Wulf: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in einer sozialen Welt. Reinbek bei Hamburg 1998. Pädagogisch umfassend beschäftigen sich Flitner und Piaget mit Aspekten des Spiels (A. Flitner: Spielen – Lernen. Praxis und Deutung des Kinderspiels. München 1977; J. Piaget: Nachahmung, Spiel und Traum. Stuttgart 1969). Eine das breite Spektrum wissenschaftstheoretischer Argumentationslinien berücksichtigende Sammlung zur Spielpädagogik ist unter der Herausgabe von Kreuzer zu finden (K. J. Kreuzer [Hg.]: Handbuch der Spielpädagogik. Vier Bände. Düsseldorf 1983/84). Aus ästhetischem Blickwinkel wird das Spiel ausdrücklich reflektiert in Schillers Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (Schiller 1965). Aus zeitgenössischer Perspektive befasst sich Tanja Wetzel dezidiert mit einer historisch-diskursanalytischen Betrachtung der ästhetischen Dimension des Spiels für Bildungsprozesse (Wetzel 2005). Ruth

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das Denken ein, stehen in der Regel utilitaristische Interessen im wissenschaftlichen Vordergrund und es geht nicht eigentlich um das Wesen des Spiels, sondern um Erklärungs- oder Veranschaulichungsversuche anderen Ursprungs. Das Gesamtphänomen Spiel gerät aus dem Blick. Seiner Komplexität wird nicht oder nur in sehr verkürzter und reduzierter Form entsprochen. Zu Recht mokiert sich Hans Scheuerl durchaus selbstkritisch im Nachwort zur elften Auflage seiner profunden Untersuchung »Das Spiel« über die Verharmlosungstendenzen und Harmoniebedürfnisse großer Teile gegenwärtiger Spielforschung (Scheuerl 1990; Band 2; 209ff.). Er stellt rückblickend auf seine eigenen Überlegungen infrage, inwieweit Spiel aufgrund seiner Interpretationsbedürftigkeit überhaupt ein geeignetes Forschungskonzept darstellen kann, und nimmt sein eigenes phänomenologisches Vorgehen zur Wesensbestimmung des Spiels aus dieser Kritik nicht aus, sondern konstatiert: »[...] Merkmale wie ›Freiheit‹ und ›innere Unendlichkeit‹, wie ich sie selber verwandt habe [...], sind ohne die Innenerfahrung beteiligten oder nachverstehenden Erlebens gar nicht zugänglich und realisierbar« (ebd.; 217). Ein Weg, das dem Spiel eigene dialektische und ambivalente Verhältnis zu anderen Lebensphänomenen in Forschungsverfahren anzuerkennen, ist durch eine Änderung in der Fragerichtung realisierbar. Nicht »Was ist Spiel?«, sondern »Wie vollzieht sich Spiel?« zu fragen, entspricht dem Spiel auf besondere Weise, denn »Spielvollzüge auszumachen ist deshalb notwendig, weil erst durch sie Spiel gegenwärtig wird, das immer dann zu verschwinden droht, wenn man danach fragt, was Spiel eigentlich ist« (Iser 1993; 431). Allerdings birgt auch diese phänomenologische Annäherung an das Spiel »in gewisser Weise einen erkenntnistheoretischen Engpass, da das Spiel sein ›Wesen‹ nicht an wesenhaft empirischen Merkmalen zu erkennen gibt, sondern seine funktionelle Struktur in der Nicht-Phänomenalität hat« (Wetzel 2005; 18). Diesem Dilemma des Nichtfassbaren wird in dieser Untersuchung durch eine bewusste Offenlegung der unkalkulierbaren Leerstellen von Spiel begegnet. Ohne das Wesen des Spiels in seinem Kern einseitig verkürzen zu wollen, wird nach einem pragmatischen Zugang gesucht, der die Interaktionsflächen zwischen Subjekt und Spiel sowie Theater und Spiel hervorhebt. Ziel ist es, günstige Bedingungen herauszuschälen, unter denen in der theaterpädagogischen Praxis Spielfelder zu erzeugen sind, die das paradoxe und dynamische Spielgefüge nutzen, ohne es für ein anderes Interesse zu instrumentalisieren. In dem »komplizierten Netz von Ähnlichkeiten« (vgl. Wittgenstein 2003; § 66, 57), die Spiele als verwandtschaftliche Phänomene erkennen lassen, werden jene Passepartouts ausgesucht, in denen sichtbare soziale Verläufe das Spiel umranken, einspinnen und ermöglichen. Streifzüge durch Nachbardisziplinen und Bezugswissenschaften der Theaterpädagogik gestatten das Umkreisen verschiedener Bedeutungs- und BeschreiSonderegger unternimmt dies mit einem Fokus auf kunstphilosophischen Implikationen des Spielbegriffs (Sonderegger 2000).

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bungsebenen, mit welchen im Hinblick auf eine Theoriebildung für den Kontext dieser Untersuchung weitergearbeitet werden kann. In zwei Etappen soll das besondere Wie des Spiels ausführlicher beleuchtet werden: Zuerst wird ein Blick auf die Funktionsweisen geworfen (Kapitel IV.1.1.1), um dann die besonderen Strukturmerkmale des Spiels zu beschreiben (Kapitel IV.1.1.2).

1.1.1 Funktionsweisen des Spiels »Ein Spiel kann einfach beginnen. Das Kind wird plötzlich zum Hund und baut sich eine Höhle« (Wetzel 2005; 28). Es verwandelt im Spiel die Wirklichkeit und sieht die Welt anders: Ein Tischtuch ist mehr als nur ein Tischtuch, ein Hausschuh wird Mitspieler oder Knochen oder beides. Aus Bestandteilen der Wirklichkeit wird mit Einsetzen des Spiels eine neue Wirklichkeit geschaffen, eine eigene Welt etabliert. Sie ereignet sich nicht abseits der Wirklichkeit, sondern hat einen Platz in ihr, ist Welt in Welt. Mittels der welterzeugenden Fähigkeit schaffen Spiele ferner »eigene Welten, die aber zugleich Bezüge zu anderen Welten außerhalb ihrer Grenzen haben, ohne diese einfach abzubilden« (Gebauer/Wulf 1998; 20). Innerhalb solcher Tauschhandlungen können im Spiel nicht nur Materialien, sondern auch Bedeutungen des Alltags aufgenommen und umgestaltet werden (vgl. ebd.; 188). Wenn Spiel, wie eingangs behauptet, den Menschen über die Dauer des Spiels hinaus verwandelt und fortwirkt, sodass er der Welt infolge des Spiels anders begegnet, ist in dieser Austauschbeziehung neben dem welterzeugenden auch ein weltveränderndes Potenzial angelegt. Ergänzt man diesen Gedanken mit der Annahme, dass »alltägliche Prozesse des Austausches zwischen Personen und Kulturen von spielerischen Elementen durchkreuzt sind« (ebd.; 230)6 und Spiel, »obwohl es sich der Alltagsbedeutung auf bisweilen paradoxe Weise widersetzt, [...] auch inmitten von Alltagspraxis« geschieht (Seitz 2003; 281; Hervorhebung im Original), zeigt sich das zugleich konstruktive und dekonstruktive Verhältnis des Spiels zur Wirklichkeit.7 6 | Gebauer, Wulf und Alkemeyer verfolgen dieses Spannungsverhältnis, indem sie davon ausgehen, dass sich die Gesellschaft in den von ihr jeweils historisch hervorgebrachten Spielen spiegelt (vgl. u.a. Alkemeyer/Gebauer 2002). Verfolgen Gebauer/Wulf in diesem Kontext das Anliegen, die »Kategorie des Spiels für die Untersuchung von Interaktionen stärker zu nutzen« (vgl. Gebauer/Wulf 1998; 230) und damit der Spielkompetenz im Alltag mehr als nur das von Goffman beschriebene Management sozialer Situationen durch Rollenspiele des Selbst zuzuschreiben, interessieren Alkemeyer in erster Linie Verkörperungsmechanismen in ihrer Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext (vgl. Alkemeyer 2001, 2008). 7 | Die konstruktiven und dekonstruktiven Elemente im Spiel verfolgt dezidiert Ruth Sonderegger in ihrer Schrift »Für eine Ästhetik des Spiels« (vgl. Sonderegger 2000). Eine Offensive – gerade auch unter der wissenschaftlichen Behandlung des Spiels – unternehmen Zirfas und Forster, die fragen, ob der Begriff des Spiels

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Parallel mit der Wirklichkeit wird im Spiel zugleich der Spieler selbst verwandelt. »Wenn ein Kind beispielsweise auf einem Stock reitet, verwandelt es nicht den Stock in ein Pferd, sondern sich selbst in einen Reiter, der sein Pferd am Zügel hält« (Gombrich, zit.n. Hoffmann 1999; 15). Mag ein Beobachter dieses Spiels schlicht Pferd und Reiter sehen, kann aus Sicht des Spielers diesem Vorgang eine weitaus komplexere Situation zugrunde liegen, kann der simplen mimetischen Nachahmung ein Mehr an Bedeutung zugemessen sein. Innen- und Außensicht sind im Spiel nicht notwendig identisch, denn »nicht allein, was sich vor den Augen eines Betrachters abspielt, ist von Belang, sondern das, was sich in den Augen des Spielenden ereignet« (Adamowsky 2002; 76; Hervorhebung im Original). Ein Spiel sehen und ein Spiel erleben sind zwei gegensätzliche Praktiken, die nicht notwendig aufeinander bezogen sein müssen. Für Bildungs- und Probenprozesse hat dies zur Folge, dass es an erster Stelle weniger darum gehen darf, was sich an einem »Spielprodukt« für einen Zuschauer zeigt, sondern die Frage gestellt werden muss, wie gespielt wird und gespielt werden kann. Das impliziert, von der allgemeinen hermeneutischen Annäherung an das Spiel auf eine konkrete, nämlich pädagogische Fragerichtung einzulenken. Statt nach Merkmalsunterscheidungen von Spiel und Nicht-Spiel ist nach den Einflussbereichen zu fragen, die der simultanen Verwandlung von Mensch und Wirklichkeit im und durch Spiel überhaupt zugesprochen werden können. Domestizierungsversuche. Wie man durch den richtigen, geschickten Einsatz von Spielen  gezielt auf den Menschen einwirken kann, war lange die zentrale Frage im pädagogischen Kontext. Dort, wo sich eine handlungstheoretisch orientierte Pädagogik des  Spiels annimmt, untersucht sie das Verhältnis von Spielen und Lernen, Spiel und Entwicklung sowie die Planbarkeit von Spielprozessen. Antworten sollten dem pädagogischen Handeln einen möglichst einfachen und nachvollziehbaren Weg weisen, wie das Spiel in seiner erzieherischen Funktion ideal zu nutzen ist. Pädagogische Grundannahmen zum Spiel akzentuieren und fokussieren konsequenterweise den spielenden Menschen. Winfried Böhm führt drei solche seit Aristoteles und Platon in der pädagogischen Diskussion konstant wiederkehrende Motive an: Das Spiel enthülle erstens den Charakter des Spielers – dieser könne demnach im Spiel diagnostiziert werden. Zweitens sei es imstande, durch erzieherische Instruktion diesen Charakter im Spiel zu formen und zu verändern, bei, so drittens, gleichzeitigem Erholungswert des Spiels für das spielende Subjekt (vgl. Böhm 1983; 283). Die Suche nach an diesen Motiven angelehnten didaktischen nicht von sich aus eine Dekonstruktion darstellt (vgl. Forster/Zirfas 2005). Tanja Wetzels ausführliche Erörterung der gedanklichen Resonanz von Derrida auf das Spielverständnis in der ästhetischen Bildung entwickelt darüber hinaus der Vermittlungspraxis im künstlerischen Kontext entsprechende Haltungen, die Derridas différance berücksichtigen und einbeziehen (vgl. Wetzel 2005).

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Steuerungen von Spielprozessen hat bis heute zur Folge, dass Spiel als ein pädagogisches Mittel zu erzieherischen Zwecken per se einseitig positiven Lerneffekten dienstbar gemacht werden soll, Spielhandlungen als Träger für zu erwerbende soziale und personale Kompetenzen behauptet und eingesetzt werden.8 Davon ausgehend, dass Tätigkeiten und Handlungen, Verhalten und Begreifen im Spiel ja alltagswirkliche Vorgänge suggerieren, soll gespieltes Leben mehr oder weniger direkt in ›reales‹ Leben übersetzt werden können. Emotionale, körperliche und kognitive Erfahrungen beim Spielen werden als dem Subjekt bewusste oder bewusst zu machende Handlungs- und Erlebensweisen behandelt und die Transferleistung von ›geglückter‹, im Sinne erzieherisch intendierter Spielhandlung in Situationen der Alltagsrealität als ein Akt des Willens angesehen. Exkurs: Rollenspiele. Häufig dient Eric Bentleys rollentheoretische Minimalformel »A impersonates B while C looks on« (Bentley 1964; 150) als Ausgangsposition und handliche Folie für die theoretische Legitimation spiel- und theaterpädagogischer Bildungsprozesse. Insbesondere spielpädagogisch ausgerichtete Konzepte der Theaterpädagogik verschweigen oder vernachlässigen bei der Übertragung des Modells indessen die Zuschauerposition C und konzentrieren sich auf den vermeintlichen Kern der Definition »A spielt B«. Dabei werden Rollenspiele überwiegend als »spieler-, gruppen- oder problemorientierte Verfahren« bezeichnet, bei denen »subjektive und soziale Probleme/Konflikte nach- bzw. dargestellt werden und theatralische Mittel in der Erarbeitungs- und Vorführphase nachrangig sind« (vgl. Weintz 1998; 190ff., 309ff.).9 Neben Ansätzen, die ausschließlich auf die antizipierende und rekapitulierende Wirkung des Rollenspiels bauen, stehen Konzepte, die im pädagogisch angeleiteten Rollenspiel nicht nur die Verarbeitung, sondern auch die kritische Reflexion und Neuproduktion von subjektiv erlebter Wirklichkeit suchen. Neben der Erfahrungsverarbeitung wird in der Übernahme von fremden Rollen ein Potenzial erkannt, neue Erfahrungen zu produzieren. Im Schutze des Spiels könne folglich, so die Annahme, 8 | Mit der Idealisierung und Ideologisierung des Spiels in der Pädagogik ereignet sich nach Adamowsky ein Paradox, denn »mit ihrer offensichtlichen Angst vor den Leidenschaften des Spiels und seinen Momenten des Unterschwelligen und Abseitigen, die latent immer ein Wagnis bereithalten, verliert die Gesellschaft ein ganzes Arsenal von Umgangsformen, mit der Angst zurechtzukommen« (Adamowsky 2002; 71). Der Kurzschluss pädagogischer Funktionalisierungsversuche des Spiels liegt darüber hinaus auch in dem bereits ausgeführten begrifflichen Dilemma, denn da das Spiel dort, wo es eindeutig und allgemeingültig positiv besetzt wird, kein Spiel mehr sein kann, lässt es sich nicht als einseitig ausgerichtetes Wirkungsgeschehen rechtfertigen. 9 | Weintz legt dort zudem in einer vergleichenden Analyse die Rollenspielansätze dar, die seit den 1970er-Jahren die Spiel- und Theaterpädagogik deutlich mitgeprägt haben.

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ein Probehandeln in Gang gesetzt werden, das Distanz zur eigenen und Empathie für fremde Rollen fördert. Das Anliegen, die im Spiel gesammelten Erfahrungen in die Alltagsrealität zu überführen, wird zum zentralen Lernziel erklärt. In solchen Haltungen wird den Interaktionen im Rollenspiel eine Übertragbarkeit in die soziale Wirklichkeit hinein zugesprochen, ohne dem theatralen Spiel eine eigene ästhetische Komponente zuzugestehen. »Es ist wohl so«, schreibt Nickel, »dass die Handlungsfähigkeit in der sozialen Wirklichkeit keine grundsätzlich anderen Qualifikationen erfordert als das Rollenspiel« (Nickel 1976; 5). Theaterhandeln und Alltagshandlungen werden über den Rollenspielgedanken auf eine gemeinsame Stufe gestellt. In der theoretischen Reflexion wird bislang kaum berücksichtigt, dass das Scharnier Spiel von ungleich anders gearteten Bedingungen bestimmt ist, als in einem Abbildungsverhältnis zur sozialen Realität zu stehen. Hans-Wolfgang Nickels Forderung nach einer »spannungsgeladenen und komplexen Spielbegrifflichkeit« als Voraussetzung für ein »ideales Rollenspiel« rückt bereits in die Nähe des hier gesuchten Spielverständnisses, seine Ausführung bleibt jedoch durch das Versprechen einer Rationalisierbarkeit des Spiels ambivalent: »Ein ideales Rollenspiel enthält also über die Wirklichkeit hinaus auch die Erklärung der Wirklichkeit samt dem Aufweisen von Möglichkeiten der Realitätsverbesserung; es zeigt, wenn man mit Brecht formulieren will, die Welt als eine veränderbare. Rollenspiel findet also zugleich als Kommunikation und Metakommunikation, als Kommunikation über Kommunikation statt. Wie diese zweite Ebene zu realisieren ist, gehört zur Ästhetik des Rollenspiels, zum künstlerischen Handwerk des Spielleiters und der Spielgruppe« (ebd.; 74ff.). Der fatale Kurzschluss dieser Übertragungsversuche liegt meines Erachtens bereits in der vorschnellen Gleichschaltung des Rollenverständnisses in Alltag und Theater. Ist eine soziale Rolle verknüpft mit Erwartungen und Anforderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, bildet im Theater dieser Rollenmodus nur einen Aspekt in einer weitaus komplexeren Konstruktion. Diese ist nicht darauf angelegt, korrektes oder abweichendes Rollenhandeln in seinen Konsequenzen zu erproben oder zu vermitteln, sondern darauf, mit Figuren zu spielen, die auf unter anderem soziale oder literarische Rollen verweisen können, ohne dass sich aber darin ihre Zeige-, Erzähl- und Erzeugungsfunktion erschöpft (vgl. hierzu ausführlicher Kapitel IV.3.1.3). Ein Spiel ist ein Spiel ist ein Spiel. Das Spielen einem Bewusstseinsakt zu unterstellen macht  ein pädagogisches Denken möglich, das mit Steuerungen von innen wie außen, von Spieler wie Spielleiter, Spiel zum lohnenden Geschehen leichten, unbeschwerten, mehr oder weniger automatischen Lernens macht. Übersehen wird, dass Spielhandlungen keine Probehandlungen sind, die beliebig korrigiert, modelliert und den Alltagsanforderungen passfähig gemacht werden können. In der Wirklichkeit des Spiels erzeugt die Referenz auf Alltagswirklichkeit kein analoges

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Abbild, sondern nutzt und zerspielt Alltag im Moment performativer Praxis. Im Spiel zu rennen, zu bügeln, zu streiten etc. ist für den Spieler von anderen Erfahrungsqualitäten begleitet als Rennen, Bügeln und Streiten ohne spielerischen Kontext. Es steht unter anderen Vorzeichen. Gleichwohl kann ›Rennen‹, ›Bügeln‹ und ›Streiten‹ für einen Außenstehenden ununterscheidbar sein von gewöhnlichem Rennen, Bügeln und Streiten. Das Spiel, schreibt Scheuerl, ist keine »simple und eindimensionale Handlung«, sondern »überhaupt nicht primär als Handlung oder gar eine eigene Klasse von Handlungen fassbar« (Scheuerl 1990; Band 2; 220). Im Spiel wird also nicht Handeln erlernt, es gibt keine sichtbaren Handlungskompetenzen zu erwerben, ebenso wenig können gezielte Handlungsveränderungen, die im Alltag erwartet werden, in ein Spiel deligiert werden. Spiel geht in der Zeigefunktion nicht auf, es ist nicht allein Abbildung oder Nachahmung von Realität. Die verwandelte Wirklichkeit der Spielsituation und die darin enthaltenen Möglichkeiten des Agierens stellen in ihrer Gegenwärtigkeit eine eigene Realität dar, die gebunden an diese verwandelte Gegenwart und nicht von ihr abzulösen ist. Wird die Praxis des Spiels instrumentalisiert, sodass »Zwecke, die mit dem Spielen verbunden werden, gegenüber den internen Zwecken des Spielhandelns in den Vordergrund treten« (Seel 1999; 164), zerstört und gefährdet dies die dem Spiel eigene Gegenwart und Wirklichkeit.10 So sind Lernen und Entwicklung dem Spiel zwar eingeschrieben, wie auch Spiel notwendiger Bestandteil von Lernen und Entwicklung ist, es entfaltet seine spezifische Qualität aber nur, insofern beides als autonomes und heteronomes Wirkungspotenzial gesehen und anerkannt wird. Das Spiel bleibt gegen präformierte Lern- und Entwicklungsziele immun, das Subjekt auf ein bestimmtes Ziel hin manipulierende Spielaufgaben können nicht von außen eingestanzt werden, ohne das eigentliche Spielgeschehen zu zermürben. Scheuerl skizziert Spiel entsprechend für pädagogische Verwendungszusammenhänge vorsichtig als ein »subjektüberschreitendes Ablaufgeschehen« (Scheuerl 1990; Band 2; 220). Die im Spiel möglichen Handlungsweisen und Verhaltensformen samt den sie begleitenden Einstellungen lassen sich nicht per se als spieltypische charakterisieren. Der Vergleichspunkt zwischen zwei Spielen bzw. der Unterschied zwischen Spiel und Nicht-Spiel liegt demzufolge nicht in beobachtbaren Tätigkeiten, Motivationen, Empfindungen oder Haltungen als solchen. Die Pädagogik muss am Spiel scheitern, solange sie bemüht ist, einen für alle Teilnehmer verbindlichen Lerninhalt zu vermitteln, denn das Spiel schafft weder eine konforme noch komfortable Ausgangsbasis für hierarchisch strukturierte Lehr-Lern-Anliegen. »Mit ihrem Interesse an der Person hat die Pädagogik übersehen, dass Spielstrukturen immer schon 10 | Inwiefern mit der Verwandlung der Wirklichkeit im Spiel ein sich simultan verwandelndes Subjekt einhergeht und welche Merkmale und Eigenschaften dem Spielenden eigen sind, wird noch ausführlicher zu behandeln sein (vgl. Kapitel IV.1.2).

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übernommen sind, dem Innenleben also ein Modell gegeben ist, mit dem das gesellschaftlich Gegebene verarbeitet und zu etwas Eigenem transformiert wird« (Seitz 2003; 281; Hervorhebung im Original). Ein handlungsorientiertes Verständnis, wie sich Spiel vollzieht und welche Spielakte in Interaktionsprozessen eine Spiel befördernde Funktion einnehmen, ist unter den genannten Umständen nicht am spielenden Subjekt festzumachen. Ist das subjektüberschreitende Geschehen grundlegender Bestandteil der Spielfunktion, können weitere Parameter nur abseits von subjektzentrierten Betrachtungsweisen gewonnen werden. Spielhaben. Fragt man weiter nach den inneren Bedingungen des Spiels, muss nach einem Modus gesucht werden, der die Unberechenbarkeit des Ablaufs und der Wirkungsweisen berücksichtigt. Es sind dabei nicht Folgen oder Kontexte von Spiel von Belang, die das Phänomen nur umkreisen, sondern die Eigenlogik des Prozesses soll präziser zur Anschauung kommen. Thomas Lehnerer greift auf den Spielbegriff der Handwerker und Techniker zu: »Man sagt ›Die Achse hat Spiel‹ und meint damit den Freiraum und die freie Bewegung eines festen Teils innerhalb anderer fester Teile [...]« (Lehnerer 1994; 65). Das Spiel wird hier verwendet als eine Bedingung, »um einen unberechenbaren Abstand und eine entsprechend freie Bewegung zwischen zwei Teilen zu charakterisieren« (vgl. ebd.). Er überträgt dieses Verständnis auf einen allgemeingültigen Umstand, denn nur wenn etwas ›Spiel hat‹, sind ein Ablauf und Ausgang unabhängig von äußeren Bedingungen möglich. Das Spielhaben wird zu einem unbedingten, notwendigen Kriterium für Spiel. »Bei einem Spiel kann man«, schreibt er weiter, »sofern es ›Spiel hat‹, vorher niemals sagen, wie es verläuft und wie es ausgeht – könnte man es sagen, dann wäre das Spiel nicht ›Spiel‹, sondern kalkulierter Ablauf« (ebd.; 65f.). Erst das Spielhaben sichert die spielerische Freiheit, in der das eigentliche Spielpotenzial wirksam werden kann und der Ausgang des Spiels offenbleibt. Sie ist von so prinzipieller Natur, dass ohne Zerstörung des Spielhabens eine strategische Einflussnahme auf das Resultat oder den Spielausgang an dieser Stelle nicht denkbar ist. »Der Spielausgang, das Resultat, beruht auf etwas, das man, bei aller Spielstrategie, prinzipiell nicht bestimmen kann, es beruht auf Freiheit – aber nicht auf der Freiheit eines Spielers (eines Subjekts), sondern auf der Freiheit des Spiels selbst. Denn ›Spiel haben‹ ist ›Freiheit haben‹« (vgl. ebd.; 66). Diese Freiheit findet man, nochmals angelehnt an den handwerklich-technischen Verwendungszusammenhang, in einem Raum zwischen den miteinander in Verbindung stehenden Teilen. »Dort, wo Maschinenteile Spiel haben, ist nicht Präzisionsarbeit, sondern Unbestimmtheit am Werk. Das Spiel der Teile beruht auf dem Freilassen eines Raumes, dessen Grenzen zwar, aber nicht dessen innere Bewegung berechnet und technisch beherrscht werden können« (vgl. ebd.; 63). Die Freiheit des Spiels als Zwischenraum bleibt somit eine der Leerstellen, die  zwar philosophisch weiterverfolgt, spielpraktisch aber nur anerkannt und geschützt werden kann.

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The play we play. Mit dem Motiv der Freiheit ist die Kernfunktion des Spiels angesprochen, die neben bzw. hinter der zweiten umgangssprachlichen Verwendung von Spiel im Sinne eines bestimmbaren Regelwerks bzw. einer klar verortbaren Situation liegt. Im englischen Sprachgebrauch lässt sich die Differenz mit den beiden Termini play und game deutlicher hervorheben. »Danach steht play für die Intensität und Expressivität des Spiels, sein Vermögen, toll zu machen, während games demgegenüber eine institutionalisierte Struktur bezeichnen, in der sich play entfalten kann, aber nicht muss« (Adamowsky 2005; 40). Von Spiel als play soll entsprechend nachfolgend die Rede sein, sofern das Spielgeschehen selbst im Zentrum steht, Spiel als game wird in Bezug auf Spielformen und -strukturen verwendet. Die Wechselwirkung von game und play wird insbesondere in der Praxisanalyse relevant, da dort untersucht werden soll, welche Regeln und Strukturen das Spielhaben befördern wollen, unter Umständen aber Gegenteiliges bewirken. Wo dies thematisiert wird, werden die englischen Termini verwendet. Das Spielhaben ist in dem dargelegten Sinn ein Ereignis der Synthese von game und play und verweist auf die Wechselwirkung beider Funktionen. Der Unterschied zwischen game und play wird deutlich, wenn man ihn auf ein Beispiel überträgt: Nimmt man als Spielsituation an, dass ein Kind einen Ball gegen die Wand wirft, sich einmal um die eigene Achse dreht, den Ball auffängt und ihn erneut wirft, um sich zu drehen, zu fangen, zu werfen etc., so ist damit eine Regel beschrieben, ein game geschildert, dass nicht näher Auskunft gibt über das darin enthaltene play. Das Ball spielende Kind hat sich diesen Vorgang vermutlich nicht zur Lösung aufgegeben, sondern die Regel dient nur der Erzeugung der eigentlichen Funktion des Spiels. Diese liegt in der darüber ausgelösten und sich darin einlösenden Bewegung. Das Kind spielt also primär um dieser Bewegung und des darin liegenden Bewegtseins willen. Von ihrem Wesen her zeichnen sich Spiele aus durch Bewegungsabläufe, die als materielle Ereignisse sichtbar werden können. Eine spezielle Dynamik scheint diesen Bewegungsgestalten eigen zu sein. Gadamer hat diese Bewegung als ein Hin und Her charakterisiert, in beständiger Wiederholung, ohne Ziel, an dem es endet (vgl. Gadamer 1986; 109). In dem beschriebenen Beispiel scheint dieses Hin und Her in der Regelvorgabe selbst enthalten zu sein, ein sich wiederholendes Hin und Her als Bewegungsmuster zeichnet seinen äußeren Verlauf ab. Das Spiel erschöpft sich aber nicht in diesem Regelwerk, es greift vielmehr das Kind in sich auf und bindet es ein in das Hin und Her. Gadamer negiert das Subjekt als Movens dieser Bewegung. Er schreibt: »Die Bewegung des Hin und Her ist für die Wesensbestimmung des Spiels offenbar so zentral, dass es gleichgültig ist, wer oder was diese Bewegung ausführt. Die Spielbewegung als solche ist gleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher« (ebd.). Die subjektüberschreitende Anlage des Spiels ist in der dynamischen Pendelbewe-

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gung zwischen Hin und Her ausgedrückt und das transzendente Moment des Spiels findet darin seinen Ursprung. Unter der Folie dieser Betrachtungsweise lässt sich über das spielende Subjekt wiederum nur insofern etwas aussagen, als die Eigentümlichkeit des Spiels von der Spielbewegung getragen und das Subjekt in der Spielbewegung selbst aufgehoben ist. Aus dieser spieltypischen Dynamik von Hin und Her kann, da sie rein über die Bewegungsform selbst bestimmt ist, keine übergeordnete dialektische oder teleologische Bestimmung abgeleitet werden, welche dem spielenden Subjekt Erkenntnis- oder Entwicklungsrichtungen vorgibt. Das Spiel lässt sich nicht unter einer anderen Funktion determinieren, es ist keine Funktion außerhalb des Hin und Her für das Spiel und das darin aufgehobene Subjekt denkbar. Gleichzeitig greift das Hin und Her über die rein körperlich sich manifestierende Bewegung hinaus, kann bis ins Metaphorische reichen und als Spiel der Einbildungskräfte weitergeführt werden; es kann also sowohl ein aktiv initiiertes Sich-Bewegen als auch ein von anderer Instanz ausgelöstes Bewegt-Werden umfassen (vgl. Seel 1999; 160). Da der Mensch aber Teil des Spielgeschehens bleibt, sich in diesem Hin und Her aufhält, verortet in dem Zwischenraum der Freiheit des Spiels, wird er auf eine noch näher zu fassende Weise selbst zum Spiel, zur Spielbewegung (vgl. Kapitel IV.1.2). Es wird deutlich, dass wir, so Seel, um »dieses Bewegtseins willen« spielen, welches »körperlich oder emotional oder beides« sein kann und uns in dieser Situation des Spielens »auf eine besondere Weise gegenwärtig (ist)« (Seel 2000; 216). Diese Gegenwärtigkeit vollzieht sich nur im Spiel, sie schafft eine Situation, »die nicht über sich hinausweist, aber doch unabsehbare Verhältnisse erzeugt« und darüber die Möglichkeit einer »außergewöhnlichen Gegenwart« herstellt (ebd.). Die Präsenz des Spiels geht auf in der und über in die Präsenz des Spielers. Er ist im Spiel und verschwindet darin, ist anwesend und abwesend zugleich. Das Spiel schafft eine eigendynamische, konzentrierte Situation. Das freie Spiel der in einem dynamischen Widerstreit verflochtenen Kräfteverhältnisse stellt eine Voraussetzung hierzu, aber noch keine hinreichende Bedingung dar. Will man Spielprozesse in Gang setzen, sind die Rahmenbedingungen für das einsetzende Spiel der Kräfte genauer zu bestimmen. Ein Blick auf die strukturellen Ähnlichkeiten und Verwandtschaften von Situationen, die Spiel ermöglichen und determinieren, liefert Kriterien für eine präzisere Erfassung erforderlicher Ausgangslagen.

1.1.2 Strukturmerkmale des Spiels In seiner prinzipiell offenen Funktion braucht das Spiel für ein Gelingen stabilisierende Faktoren, von außen gesetzte Rahmen und Regeln, um nicht durch Willkür, Beliebigkeit oder Anarchie der Freiheit des Spiels gegenläufige, zwanghafte Verhaltensweisen auszulösen. Geglücktes Spiel schafft eine konzentrierte Situation, die einen unberechenbaren, ergeb-

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nisoffenen Ablauf ermöglicht und bewegliche Teile so miteinander verknüpft, dass sich ein Zwischenraum öffnen kann. Durch und in diesem Zwischenraum wird die besondere Spielspannung erzeugt. »Wenn die Spannung des Spiels eintritt, ist das Spiel gelungen. Egal, wie es ausgehen wird« (Seel 1999; 161). Spiel als Situation einer konzentrierten Ungewissheit ist abhängig von beobachtbaren Bedingungen, aber »zum Gelingen des Spiels gehört [...] mehr als nur gelingendes Spiel« (ebd.; 164f.). Die für einen ungewissen und unberechenbaren Verlauf des Spiels notwendige Unordnung kann durch Ordnung erkauft werden. Inwiefern können Ordnungsprinzipien strukturell als Konstitutiven des Spiels expliziert werden? Wetzel übersetzt das Hin und Her des Spiels als ein »unkalkulierbares Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit«, wobei »das Spiel nur gespielt werden (kann), wenn die gegensätzlichen Kräfte reguliert werden« (Wetzel 2005; 31). Obwohl normierende Hierarchie im Spiel zersetzt und die das Handeln bestimmende Vernunft suspendiert wird, stehen »Kalkül und Offenheit als Gegenspieler auf struktureller Ebene zum freien Spiel der Kräfte auf funktionaler Ebene« (ebd.; 250). Das Regelwerk als transformatorische Schnittstelle zwischen game und play öffnet durch Begrenzungen das intermediäre Feld des Spiels. Die strukturelle Basis des Spiels ist entsprechend eine regelgeleitete Grenzüberschreitung, die dem paradoxen Phänomen seine Realisierung ermöglicht. Da das play in Spielbeschreibungen nur indirekt und ansatzweise durch verbalisierte Innenansichten von beteiligten Spielern zur Anschauung kommen kann, werden die das Spiel umrahmenden, äußeren Bedingungen zu zentralen Wegmarken bei der Suche nach Ähnlichkeiten und Differenzen in theatralen Probeverfahren und -strategien. The games people play. Kehrt man die Betrachtungsweise um und wendet sich den zwar vom Subjekt vollzogenen, aber dennoch sich außerhalb des Spiels (play) befindenden Merkmalen zu, so lassen sich beispielhafte Phänomene im Sinne unterschiedlicher, das Spiel regelnder Spielprinzipien (game) festhalten. Auf der Suche nach Ordnungen zur Einteilung und Unterscheidung verschiedener Spielarten hat Roger Caillois sich um Kategorien bemüht, mit denen die Spielbewegungen erfasst werden können (Caillois 1982). Er schlüsselt das Gesamtphänomen Spiel auf in vier Grundformen, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen vorzufinden sind. Seine gedankliche Trennung von agon, alea, mimicry und ilinx richtet sich einerseits auf die je dominanten Aspekte der einzelnen Spielformen, andererseits formuliert Caillois für jede Kategorie Qualitätsabstufungen zwischen ludus und paida, die deren Wert in kultureller und sozialer Hinsicht paradigmatisch verdeutlichen. Sie konkretisieren jeweils Ausprägungen der einzelnen Spielkategorien und platzieren sie innerhalb gesellschaftlich relevanter Erscheinungsformen. Ludus zählt dabei zu den auf Achtung und Anerkennung ausgerichteten Ausprägungen, während paida sich über dies hinwegsetzt und als triebgebundenes

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Ausdruckspotenzial Raum verschafft.11 Der von Caillois thematisierte gesellschaftliche Determinismus des Spiels macht deutlich, dass Spielformen die Alltagswirklichkeit durchkreuzen und nicht nur von positiven Effekten begleitet sind. In seiner Typologie sind die Kategorien agon, alea, mimicry und ilinx spielgenerierende Kräfte, allerdings mit dem Potenzial, in abweichendes Verhalten zu entgleiten.12 Diese Kategorien stabilisieren die Freiheit des Spiels nicht, sie bilden lediglich eine Chance zur Differenzierung typischer Strukturmerkmale und charakterisieren die verschiedenen Einflusskräfte des Spiels auf das Subjekt: Agon, der Wettkampf, ist gekennzeichnet von Auseinandersetzungen, die eine Entscheidung zwischen mindestens zwei konkurrierenden Kräften fordern. Das Kampffeld reicht von sportlichen über wirtschaftliche bis hin zu machtorientierten Konfrontationen, in denen es um die Leistungsfähigkeit des Einzelnen und seine Grenzen geht. Im Unterschied dazu ist alea, die Chance, notwendig an ein Zufallsverfahren, eine glückliche Fügung für den Spieler gebunden. Der Spielreiz liegt darin, das »Glück auf die Probe zu stellen« und das »Schicksal zu befragen und zu bezwingen« (vgl. Seitz 1996; 197). Die charakteristischen Formen von alea manifestieren sich am deutlichsten in Lotterien, aber auch in Börsenspekulationen und Aberglaube ist das 11 | Die Spielweisen von ludus und paida werden folgendermaßen präzisiert: »Ludus [...] diszipliniert und bereichert. Er bietet Gelegenheit zu einem Training und endet normalerweise in der Erwerbung einer auf ein bestimmtes Ziel gerichteten Geschicklichkeit, der Erringung einer besonderen Meisterschaft der Handhabung dieses oder jenes Apparates oder in der Fähigkeit, eine befriedigende Antwort auf streng abgegrenzte Probleme zu finden. [...] Paida ist der ungezügelte Ausbruch eines sich über alles hinwegsetzenden Spieltriebs, der sich am ehesten in mimicry und ilinx manifestiert, aber einer zunehmenden Meisterung durch ludus unterworfen werden muss, damit Spiele überhaupt zu ihrer je eigenen Gestalt finden können« (Caillois, zit.n. Iser 1993; 458). Ihr Zusammenspiel ist in ästhetischer Praxis auf Kontingenz ausgerichtet, sprengt permanent die Ordnungskategorien, um sie neu aufzumischen und das Spiel voranzutreiben. Es pendelt zwischen konservativen und subversiven Spieltendenzen, ermöglicht eine kontinuierliche Erneuerung des Spiels und ein gleitendes Ineinander und Übereinander von Spiel zu Spiel. 12 | »Wie Huizinga, so trennt auch Caillois das Spiel vom Leben. Auf der formalen Ebene ist das Spiel für ihn frei, abgetrennt, ungewiss, unproduktiv, geregelt und fiktiv. Weil es auf Konvention beruht, muss es geschützt werden und darf sich nicht mit der realen Welt vermengen. Wenn die Grenzen überschritten werden, werden sich die Grundhaltungen verselbstständigen: Der Mensch wird sich nur noch auf sich selbst verlassen und Gewalt, Macht und List anwenden, um sich durchzusetzen (agon); oder er wird sich nur noch auf das verlassen, was von außen kommt, für Aberglaube und spekulative Aussagen anfällig werden (alea); oder er wird in eine irreale Welt entschwinden, die seine Persönlichkeit verändern wird (mimicry); oder er wird sich in einem bewusstlosen Rausch verlieren (ilinx) und der Droge oder dem Alkohol verfallen« (Seitz 1996; 199).

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Spiel mit dem Schicksal zu finden. Mimicry, verstanden als Verstellung und Verwandlung, spielt mit Maskierung und Mimesis. Die nachgeahmte Realität erfährt dabei eine Metamorphose, durch die sie zugleich neu erfunden wird. Qualitative unterschiedliche Prototypen reichen vom Theater über berufliche Repräsentationsetikette bis hin zu Entfremdung und Verdoppelung der Persönlichkeit im sozialen Leben. Die Spielform ilinx, der Rausch, lebt von grenzüberschreitenden Herausforderungen, wie es das Schaukeln, die Trapezkunst, aber auch Alkoholismus und Drogen mit sich bringen. Es ist als körperliche Erfahrung begleitet von einem substanziellen Wandel der Wahrnehmungsweise. Für den Erlebniswert des Spielers ergeben sich innerhalb dieser Kategorien folgende prinzipielle Muster: »Beim agon verlässt sich der Spieler nur auf sich selbst, er spannt alle seine Kräfte an; beim alea verlässt er sich auf alles, nur nicht auf sich selbst, er liefert sich den Mächten aus, die ihm entgleiten, bei der mimicry stellt er sich vor, nicht mehr er selbst, sondern ein anderer zu sein, und er erfindet eine fiktive Welt; beim ilinx befriedigt er das Gelüste, zumindest vorübergehend die Stabilität und das Gleichgewicht seines Körpers aufgehoben zu sehen, der Tyrannei seiner Wahrnehmung zu entrinnen und das Abgleiten seines Bewusstseins zu provozieren« (Caillois, zit.n. Seitz 1996; 197). Die zerstreuende und zentrierende Wirkungsweise des Spiels auf das Subjekt setzt entsprechend unterschiedliche Kräfte frei, in denen das Subjekt über seinen Status quo hinaus sich handelnd neu erfährt. Sie transformieren das Subjekt und stellen Ordnungsstrukturen und Grenzen infrage, verbinden körperliche und soziale Erfahrungsdimensionen miteinander. Die Gefahr dieses schematischen Zugriffs liegt, wie bei jeder Typologie, in der Verführung, Spieleinteilungen nur in den vier erwähnten Kategorien vorzunehmen und der Komplexität des Gefüges nicht gerecht zu werden. Gerät man in dieses Fahrwasser, so ist schnell eine Reduktion geschaffen, die Theaterspiel als mimicry mit der Betonung auf der Lust an Verwandlung skizziert. Geht man jedoch von dem grundsätzlichen Ineinander der vier Typen aus, so stellt sich die Frage, ob mimicry bei allen theatralen Spielen den wesentlichen Anteil, ja bisweilen sogar, ob sie überhaupt als Teil des Dargestellten gelten kann. Konfrontative Auseinandersetzung, das Spiel mit dem Zufall und der Reiz des Rausches scheinen für bestimmte Spielformen auf der Bühne treffendere Ordnungskategorien bereitzustellen. »Es scheint sogar so«, vermutet Seitz, »dass das Zusammenspiel aller vier ›Disponiertheiten‹ erst die eigentliche Dimension des Spiels ausmacht. »Damit ist,« so heißt es bei ihr weiter, »nicht nur der Spieleintritt gegenüber dem Spiel durch einen eigenartigen Widerspruch bestimmt, sondern auch innerhalb des Spiels sind derartige Widersprüchlichkeiten zugegen« (Seitz 1996; 203). In der Übertragung auf die theaterpädagogische Praxis sind die von »Wettbewerb, Zufall, Inszenierungsgeschick und Erlebnisorientierung« geprägten Schnittstellen zwischen Spiel- und Alltagswirklichkeit in ihrer Differenz per se thematische Motive der Arbeit. »Die Theaterpädagogik bietet hier nicht nur ein Übungsfeld,

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auf dem [...] der Umgang mit Konkurrenz, Instabilität, Offenheit, Sinnoder Identitätsverlust usw.« erprobt und erfahren werden kann, sondern auch den Anreiz, eine konstruktive und kritische Auseinandersetzung damit zu führen, im Spiel und durch das Spiel (vgl. Seitz 2003; 282). Für die Analyse von Spielstrukturen in theaterpädagogischen Kontexten ist Caillois’ Spielanalyse wertvoll, da sie darauf verweist, dass das pädagogische Potenzial gerade dort zu suchen ist, wo ausgehend von einem Wettkampf das Spiel mit Maskierungen mehr und mehr die Oberhand gewinnt oder durch das Spiel mit Zufällen eine von rauschhaften Momenten durchzogene eigene, komplexe Spielwirklichkeit erzeugt werden kann. Der ineinandergreifende, fließende Wechsel bis hin zur Ununterscheidbarkeit der dominanten Kräfterelationen im Spielhaben ist für transformatorische Subjektbildungsprozesse bedeutender als eine zu stark auf mimetische Vorgänge deduzierte Verwandlungskunst theatraler Spielstruktur. Die Komplexität, mit der ein Subjekt ins Spiel verwickelt wird, wird zur Orientierungsgröße für theatrale Spielprozesse und löst einfaches Rollenhandeln als Spielmodell und Begründungsmodus der Theaterpädagogik auf. Je versierter eine Spielfolge die cailloisschen Kategorien ineinandergreifen lässt und miteinander mischt, desto unberechenbarer wird zugleich der eigentliche Spielbeginn, das play, das mehr als nur ein Inkraftsetzen der Regeln verlangt. Gleichzeitig erlauben die in den Kategorien enthaltenen verwandtschaftlichen Strukturen des Spiels einen nahtlosen Wechsel zwischen Spiel und Spiel, der eine Dynamisierung der Subjektprozesse hervorrufen und Handlungsmotive für Interventionen darstellen kann. Spielrahmen. Betrachtet man den Beginn von Spielen, wird deutlich, wie der intermediäre Raum des Spiels sich unter vorausgesetzten Rahmenkonstruktionen jeweils anders entfaltet. Der Startschuss fällt und die Athleten stürmen blitzartig los, um den Wettkampf um die 100-m-Strecke für sich zu entscheiden. Das Glücksrad wird gedreht und schlagartig beginnt das Bangen im Spiel um das eigene Schicksal. Die Fasnachtsmaske wird übergezogen und schon ist die Verwandlung geschehen. Der Absprung vom Felsen löst sofort den Umschlag der Wahrnehmung, das Taumeln, aus, das den Weg nach unten begleitet. Was davor geschieht, liegt außerhalb des Spiels. Die Vorbereitung auf das Spiel kann selbst spielerischen Charakter haben, rituelle Gewohnheit sein, das eigentliche Spiel beginnt danach. Allerdings eröffnet sich ein Spiel in den seltensten Fällen auf Kommando (vgl. Wetzel 2005; 37). Schon beim Anpfiff eines Fußballmatches ist der Spielbeginn zwar deutlich markiert, ab hier gelten klare Regeln, Zeit und Raum sind vorgeschrieben, bis das Spiel seine Spannung entfaltet, vergehen jedoch meist mehrere Minuten. Im schlimmsten Fall verstreicht das gesamte Spiel (game) auf der Suche nach dem gelungenen Spiel (play). Wird die Aufforderung des Sohns »Lass uns spielen« akzeptiert, beginnt die Suche nach einem sich entwickelnden Spiel. Mal dienen

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die Bauklötze dazu, mal wechselt nur ein sprachlicher Gestus und das Spiel ist perfekt. Mit dem Signal zum Spiel wird eine Grenzziehung vorgenommen, die es erleichtert, freies Spielgeschehen gegenüber Formen alltäglicher Spielderivate von außen so abzusichern, dass eine Balance von ludus und paida die gegensätzlichen, hin- und herstrebenden Bewegungskräfte in ihrer Wirkung gleichwertig entfalten kann. Der markierte Beginn setzt Rahmenbedingungen, die ein Geschehen als Spiel kennzeichnen, selbst aber noch nicht Spiel sind. Die Notwendigkeit dieses Rahmens ist auf mehreren Ebenen zu verorten: Überhaupt von Spiel sprechen zu können verlangt einen metakommunikativen Rahmen, der ein Geschehen als Spiel kennzeichnet. Die Vereinbarung »Dies ist ein Spiel« erlaubt Spielern und Zuschauern, Aktionen und Interaktionen innerhalb dieses Rahmens als von den gleichen Aktionen/Interaktionen außerhalb des Rahmens unterschieden wahrzunehmen (vgl. Bateson 1985; 244). Die innerhalb des Rahmens signalisierte Handlung steht zur realen Handlung in einer Relation, die vergleichbar ist mit einer Landkarte, die ein bestimmtes Gelände abbildet. Die Karte bezeichnet das Territorium, markiert und verweist auf einen anderen Raum, ohne in diesem aufgehen zu können. Der Rahmen ermöglicht somit eine Hervorhebung von Handlungen, denen durch diesen Rahmen ein besonderer Zeichencharakter inne ist. In der Interaktion werden derart gerahmte Handlungen anders verstanden als in Begegnungen außerhalb des Spielrahmens. Bei einem Affen, um mit einem von Bateson gewählten Beispiel zu argumentieren, der einen anderen Affen unter der Vereinbarung »Dies ist ein Spiel« zwickt, ähnelt dieses Zwicken dem Beißen innerhalb eines Kampfs und gibt einen Hinweis darauf und dennoch wird es nicht als Beißen verstanden (vgl. ebd.). Die Besonderheit des Spielrahmens liegt in der Art ihrer Zeichenproduktion. Sind auf einer Landkarte Wege oder Höhenlinien in Form von Linien ausgewiesen und damit anders dargestellte Straßen und Bergzüge eines dreidimensionalen Geländes, sehen Zwicke im Spiel aus wie Bisse. Dennoch werden sie als Zwicke verstanden und beantwortet. Die Spielrahmung erzeugt eine alogische, doppelte Verkehrung der Bedeutung von Handlungen. Das Zwicken ist im Spiel ein Zeichen für Kampf und sogleich, in seiner Bedeutung verkehrt durch die Vereinbarung des Spiels, ein Zeichen für Nicht-Kampf. Beide Bedeutungsebenen kommen gleichzeitig zur Geltung, bezeichnen und negieren das Bezeichnete in einem. »Im Spiel werden sie [Karte und Territorium; ms] sowohl gleichgesetzt als auch unterschieden« (ebd.; 251). Der Rahmen als konstitutives Element produziert ein Kippspiel, das alle innerhalb dieses Rahmens geäußerten Signale als wahr definiert und diese Wahrheit gleichzeitig negiert. Das heißt für das Spiel: »Diese Handlungen, in die wir jetzt verwickelt sind, bezeichnen nicht, was jene Handlungen, die sie bezeichnen, bezeichnen würden«, und vereinen zwei Mitteilungen, die sich der Logik nach ausschließen (vgl. ebd.; 244). Genau dieses logische Paradox ermöglicht dem Spiel die ihm eigene Struktur;

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es ermöglicht das Spiel mit Be-Deutungen. Der Rahmen als Konstruktionsprinzip – Bateson selbst hebt hervor, dass er als psychologischer Begriff zu verstehen ist und nicht zwingend zu Bewusstsein kommt – ermöglicht und erfordert eine andere Art des Be-Deutens im Bezug auf die innerhalb dieses Rahmens getätigten Mitteilungen (vgl. ebd.; 252ff.). Diese Paradoxie bringt uns um den ›normalen‹ Verstand, die Spielhandlungen innerhalb des implizit oder explizit definierten Rahmens können herkömmlichen Sinn sprengen und die Voraussetzung schaffen für neue, andersartige Sinngebungen. Freiheit im Rahmen. Verstehen wir Probenpraxis gerade auch als Suche nach solchen alogischen, verqueren Sinngebungen in einem Vexierspiel von Karte und Territorium, so beginnt die Spielgestaltung mit der Errichtung und Manipulation von Rahmenbedingungen.13 Diese können in unterschiedlicher Form vorgegeben oder verhandelt werden und legen die Vereinbarungen fest für einen Start ins Spiel. Werden die Rahmenbedingungen verbal ausgehandelt oder mehr oder weniger umfänglich erläutert, bevor das Spiel beginnt, ist eine intellektuelle Vorbereitung auf den Spielprozess in Gang. Die neuen Devisen grundlegender Spielvereinbarungen liegen auf der Metaebene und werden abseits des eigentlichen Spielgeschehens verhandelt. Sie äußern sich im Sprechen über das Bedingungsgefüge eines folgenden oder vergangenen Spiels. Ein Spielrahmen kann aber gleichfalls durch das Handeln selbst hervorgerufen werden. Er  tritt hier in Gestalt einer Schwelle mit transformierendem Charakter auf. Dies ist in zweierlei Hinsicht möglich: Ohne Worte oder andere Ankündigungen kann beispielsweise eine Fingerpuppe aufgesetzt werden und damit eindeutig ein Spiel beginnen. Der Rahmen wird durch eine sichtbare Handlung markiert, die anzeigt, dass nun eine andere Karte-Territorium-Relation angezeigt ist. Wird direkt eine spielerische Aktion begonnen, das Zuwerfen eines Gegenstands beispielsweise, der eben noch Alltagsobjekt war, vollzieht sich der Statuswechsel einer Handlung überraschend und unmittelbar. Die besondere Interaktions- und Kommunikationsweise des Spielens wechselt so fließend von der einen auf die andere Wirklichkeitsebene. Natürlich basieren solche Ebenenwechsel häufig auf eingespielten und vertrauten Mustern und Regeln zwischen den Spielpartnern. Genau in der Überschreitung von eingeschliffenen und gewohnten Rahmungen liegt dann bereits wieder ein Reiz; der Reiz, ob eine Handlung als Rahmung für ein Spiel angenom13 | Die durch den Rahmen ausgelöste (vermeintliche) Sicherheit des nur spielerisch Gemeinten wird dem Theater selbst immer wieder Anlass zum Spiel. Dies reicht vom »Spiel im Spiel« oder »Theater im Theater« in Dramen insbesondere von Shakespeare bis hin zu dem »Einbruch des Realen ins Spiel« (Lehmann 1999a; 170ff.). Mit solchen zeitgenössischen Spielformen des Theaters hat sich Annemarie Matzke befassst (Matzke 2005).

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men und akzeptiert wird, und die Frage danach, welches Spiel sich daraus neu ergeben kann. Der Rahmen ist entsprechend Schwelle und Transformator zwischen zwei verschiedenartigen Wirklichkeitsbereichen und kann zugleich selbst Teil von Spielen werden. Je enger das »Spiel mit der Wirklichkeit korrespondiert, ihr die Idee entnimmt und doch Spiel ist« (Wetzel 2005; 37), desto notwendiger ist die (Er-)Kennung des Rahmens für die Spieler. Die von einem Interaktionspartner gesetzte Rahmung kann aber auch nicht gesehen, nicht akzeptiert oder missverstanden werden, sodass kein Spiel zustande kommt. Welche Markierungen für den Eintritt in die Vereinbarung Spiel gewählt, wie diese kommuniziert und wie verändert werden, gibt Aufschluss über Versuchsstrategien, einen bestimmten Spielrahmen zu erzeugen. Die Art des Spiels wird dabei noch nicht determiniert, allenfalls werden Spielkategorien vorgeschlagen, in denen sich das nachfolgende Spiel ereignen soll. Wird der Rahmen dabei »als latentes, gleichwohl lustvoll erlebtes Konfliktpotenzial« erlebt (ebd.; 25), impliziert dies die Chance, innerhalb des Rahmens neues Spiel zu finden und zu erfinden. »Spiel« ist insofern nichts anderes als »Freiheit im Rahmen«, »der »Rahmen« entscheidet aber als solcher nicht allein über den jeweiligen Spielverlauf und Spielausgang (Lehnerer 1994; 69). Schafft die Rahmung sozusagen nur den Raum des Spiels und Raum für das Spielen, gelten innerhalb des Rahmens nochmals eigene Gesetze. Geregelte Grenzüberschreitungen. Jeder Spielrahmen ist mit Regeln verbunden. Eine Regel kann einen Rahmen eröffnen oder weitere Verabredungen innerhalb des Rahmens festlegen. Jedes Produzieren und Verstehen von Mitteilungen unterliegt einer bestimmten Menge von Regeln, die Art und Weise, wie im Spiel agiert und kommuniziert wird, ist von einem mehr oder weniger komplexen Regelwerk getragen. Dieses ist im Rahmen der Spielwirklichkeit wie auch in Kommunikations- und Interaktionsprozessen außerhalb kein starres Korsett, sondern ein variables Gefüge. Hier zeigt sich, ob die miteinander in Verbindung gebrachten Teile »Spiel haben«. Die durch den Rahmen geschaffene besondere Struktur von Spielen stellt alltägliche Interaktionsregeln und Verhaltenskonventionen so zur Disposition, dass das im Spiel ermöglichte Handeln spannungsvoll wird. Gleichzeitig strukturieren Regeln Spielvollzüge. In ihnen ist der Entwurf möglicher Interaktionsabläufe angelegt, sodass durch sie eine Ordnung organisiert ist, die das Spiel innerhalb des Rahmens formt. Die einem Spiel unterlegten Regeln determinieren das Geschehen auf der einen Seite, sie sind jedoch in ihrer Funktion für das Spiel nur angemessen zu fassen, wenn die andere Seite, die Freisetzung von Möglichem durch das Erlaubte, zugleich in den Blick genommen wird. Denn »die Lust am Spiel liegt nicht allein in seiner Regelhaftigkeit, sondern in der Ambivalenz von Regel und Zufall« (Wetzel 2005; 49). Die Spielregeln sind, so Buytendijk, »keine Bewegungsgesetze, sie bestimmen nicht, was geschehen darf, son-

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dern nur, was nicht geschehen darf. Die Spielregeln haben also gewissermaßen eine negative Bedeutung für das Spiel, indem sie den Spielverlauf nicht in allen Teilen vorzeichnen« (Buytendijk 1933; 119). Als geregelt kann also eine Begrenzung des Spiels nach außen gelten, um die Grenze zur Überschreitung vom Spiel zum Nicht-Spiel festzulegen. Was sich innerhalb der Regeln an Spielzügen ereignet, erfährt über diese Absicherung aber  eine unberechenbare Dynamik, die ein und dasselbe Regelspiel in immer wieder neuen, überraschenden und unvoraussehbaren Realisierungen sich ereignen lässt. Wittgenstein spricht analog von einer »Vagheit der Regel« (vgl. Wittgenstein 2003; §  100, 77), die weniger  die erlaubten Spielzüge fixiert, als vielmehr nicht regelbaren Momenten eine Begrenzung gibt. Für die Handhabe der beiden steuerbaren Parameter des Spiels, Rahmen und Regeln, wird ausgehend von den dargelegten Gedanken folgende Setzung vorgenommen: Rahmen definieren die Situation des Spiels und ihre Relation zur sozialen Wirklichkeit. Sie markieren die Schnittstelle zwischen Karte und Territorium, sodass Handeln im Kontext Spiel unterscheidbar wird von Alltagshandeln, auch wenn die Tätigkeiten äußerlich gleich sind. Rahmen schaffen entsprechend eine Schwelle, die verschiedene Wirklichkeiten separiert, obwohl zwischen diesen Wirklichkeiten Austauschprozesse stattfinden können. Regeln hingegen präzisieren die In-/Exklusion möglicher Handlungsvollzüge in diesem Rahmen. Sie sind konstitutive Spielvereinbarungen, über die verhandelt werden kann, sie ermöglichen ein Spiel generierendes Handeln in einem bestimmten Spielrahmen. Ein Spiel kann sowohl auf der Schnittstelle der situativen Wirklichkeit beginnen (Rahmenspiele) als auch durch die Ausübung bestimmter Handlungen initiiert werden und einen Spielraum eröffnen, ein Spiel etablieren: »Diese Linie markiert ein Hochhausdach, auf dem du stehst, um hinunterzuspringen« gibt den situativen Kontextwechsel an, »Wer eine Sechs würfelt, zieht Schal, Mütze und Handschuhe an, nimmt Messer und Gabel und darf die Tafel Schokolade so lange weiteressen, bis die nächste Sechs von einem anderen Spieler gewürfelt wird« ist ein Beispiel dafür, das Spielgeschehen in Form einer Handlungsanweisung auszulösen. Regeltypologie. Die Analyse der in einzelnen Spielsequenzen zum Zuge kommenden Regeln ist somit als eine weitere Komponente des Spielgeschehens konkretisierbar. Allerdings sind für eine differenzierte Betrachtung die qualitativen Unterschiede zwischen regulativen und aleatorischen Regeln notwendig. Die regulative Regel funktioniert im Sinne einer »Begrenzung der Spieltoleranz«, sie diszipliniert Spiel, sodass sie für das jeweilige Spiel erst die konstitutiven Bedingungen schafft und deren Parameter festlegt. Die aleatorische Regel kann den instrumentellen Charakter der regulativen Regel überschreiten und darüber das Spiel überraschend und stetig erneuern, es im Unberechenbaren halten. Sie »funktioniert als eine Strukturierung dessen, was die regulative Regel nicht mehr zu be-

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herrschen vermag«, kann diese jedoch nicht beherrschen, da sie von deren Vorgaben abhängig ist (Iser 1993; 462). Im Gegensatz zur fixierbaren regulativen Regel bleibt die aleatorische flüchtig und verschiebt im Spiel permanent ihre Begrenzungen. Die Aleatorik jedes Spiels führt dazu, dass ein Spiel sich nicht identisch wiederholen lässt, »sondern es geht um eine ›Wiederholung als Differenz‹. Dies impliziert die Möglichkeit kreativer Veränderung, so dass nicht nur jede erfundene Situation Verhaltensregeln enthält, sondern auch umgekehrt jedes Regelspiel über fiktive Situationen verfügt« (Wetzel 2005; 26f.). Der Basketballtrainer fordert eine Auszeit und unterbricht damit das Spiel. Die Auszeitregel greift in den Spielrahmen ein, enthebt das Spiel für einen Moment seines aktuellen Verlaufs. Sie ist gleichzeitig regulative Regel, gehört damit zum Spiel, bewegt sich aber auf dessen Grenze. Der Trainer jedenfalls wird mit seiner Mannschaft sprechen, um eine Veränderung des Spielverlaufs zu erwirken. Hierauf hoffen zumindest Trainer, Spieler, Fans und Reporter. An den allgemeinen, das Basketballspiel definierenden regulativen Regeln kann er nichts manipulieren, sie sind gesetzt. Er kann aber geltende Regeln, die er innerhalb dieses Systems für seine Mannschaft und dieses konkrete Spiel ausgegeben hat, aufheben, verändern, variieren, nochmals erklären, auf ihre Einhaltung bestehen oder für einen anderen Umgang damit plädieren. Er kann den Spielstil beeinflussen, mit Regeln stilistisch spielen. Er kann aber auch seine Spieler anfeuern, ihnen Mut zusprechen, sie zusammenstauchen, beleidigen. Er kann eine Anekdote aus seinem Leben erzählen, kann sie an eine bestimmte Situation, ein Training, ein Spiel, ein privates Erlebnis erinnern. Oder er kann einfach Zeit schinden, ohne selbst genau zu wissen, was er sich davon verspricht, kann eine kurze Pause für den richtigen Zug im Spiel halten. Vielleicht will er mit seinem Auszeitverlangen bei der gegnerischen Mannschaft etwas erreichen, einen Spielgeist unterbrechen, irritieren oder etwas provozieren. Mit all diesen Eingriffen kann er weder die gültigen Regeln des Basketballs unterlaufen noch die kommenden Spielminuten vorbestimmen. Was er kann und was er versucht, ist, die Aleatorik dieses Spiels zu verändern, indem er mit stilistischen Regeln spielt, die entweder Spielzüge neu kombinieren können oder aber den kommunikativen Stil zwischen Trainer und Mannschaft verändern und darüber eine Wirkung auf das Spiel entfalten. Spielen kann, das ist für das Verständnis für den Produktionsvorgang Theater von größtem Interesse, also nicht geprobt werden, sondern wie auch das Schach- oder Fußballspiel nur trainiert, umschrieben, unterbrochen, besprochen, verändert und erneut versucht werden. In jedem Fall bleibt die geregelte Grenzüberschreitung konstitutiver Anteil des Spiels, das  Spiel selbst bezieht Regel und Zufall notwendig aufeinander, bleibt unbeherrschbar (vgl. ebd.; 251). Regulative Regeln und Rahmen spielen als »Rahmenbedingungen« zusammen. Idealerweise lösen sie die Bewegungsgestalt des Hin und Her aus und stabilisieren es in einem zwischen ludus und paida aufgehobe-

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nen, freien Spiel der Kräfte. In der Interaktion kann »das kommunikative Spiel zwischen zwei (oder mehreren) verschiedenen inneren oder äußeren, sinnlichen oder intellektuellen Bedingungszusammenhängen« in ein gleichzeitiges Hin und Her kommen (Lehnerer 1994; 66). Bei einem Würfelspiel hat jeder neue Wurf nicht nur Konsequenzen für den Würfler, sondern auch für seine Mitspieler und für die gesamte Spielsituation und deren Verlauf (vgl. ebd.; 69). »Der eine Zusammenhang bewirkt etwas am anderen Zusammenhang, ›zugleich‹ bewirkt der andere etwas am ersten. Diese Wechselwirkung, dieser Austausch, diese Kommunikation, erfolgt sowohl in der Zeit: Zwischen Ursache und Wirkung vergeht, damit wechselseitige Veränderung stattfinden kann  Zeit, als auch zugleich gleichzeitig [...], denn während die eine Wirkung erfolgt, erfolgt (im Sinne des Wechsels) gleichzeitig auch die andere. Während des Wirkens der einen Ursache wird sie von der anderen schon verändert und die verändernde andere Ursache wird ihrerseits gleichzeitig durch die erste Ursache verändert. Durch diese Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit (zeitlosem Wechsel) und Nacheinander (zeitlicher Veränderung) ist die resultierende Wirkung als Ganze nicht mehr auf eine Ursache (oder eine bestimmbare Summe mehrerer) zurückführbar. Denn mit den jeweiligen Wirkungen werden zugleich die jeweiligen Ursachen verändert« (ebd.; 66). Die Freiheit des Spiels ist hier eine Freiheit der funktionellen Wechselwirkungen. Das Subjekt ist Teil dessen, ohne den Verlauf willentlich steuern zu können, obwohl die Prämissen von Rahmen und Regeln willentlich gesteuerte Vorgaben sind. Mit ihnen in ein Spiel einzutreten basiert auf einer Frei-Willigkeit, es ist eine bewusste Entscheidung für die die Wirklichkeit und das Subjekt verwandelnden und grenzüberschreitenden Eigenschaften des Spiels. Dieser Eintritt in ein Spiel (play) kann nicht erzwungen werden. Im Spiel selbst entwickeln sich eine Eigendynamik und Eigenlogik, in denen das Subjekt nur eine weitere Rahmenbedingung darstellt, als Spiel-Agens aber in der wechselnden Wechselwirkung gleichsam aufgehoben wird. Lehnerer knüpft an diesen Gedankengang Luhmanns Überlegung zu der »Situation doppelter Kontingenz« an, die dadurch charakterisiert ist, »dass innerhalb einer kommunikativen Interaktion der eine Akteur (Ego) zwischen Alternativen beliebig auswählen kann, dabei aber zugleich auf den anderen Akteur (Alter), der ebenfalls beliebig auswählen kann, konstitutiv Rücksicht nehmen muss« (ebd.; 67). Für die in einem Spiel beteiligten Akteure potenzieren sich durch den Anderen die Möglichkeiten des Spiels, neben die Freiheit des Handelns tritt eine verbindliche Abhängigkeit, durch die das Spiel an Unberechenbarkeit gewinnt und die eigene Selektion doppelt kontingent werden lässt: »Ich weiß nicht, wie ich auswählen werde, weil ich nicht weiß, wie der andere auswählen wird, von dem meine Auswahl abhängt« (ebd.; 67f.). Obwohl Lehnerer unter ›Akteuren‹ ausdrücklich nicht allein Personen, sondern auch technische Prozesse und Rahmenbedingungen versteht, ist in der theatralen Praxis das Zusammenspiel mehrerer Personen in der Spielsituation selbst so

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verankert, dass eine Betonung dieser Wechselwirkungen angemessen erscheint, ohne die subjektunabhängigen Aspekte vernachlässigen zu wollen. Wesentlich – und in Unterscheidung zu Luhmann – ist aber bei Lehnerer und in dem hier vorgestellten Zusammenhang die Komponente des Prozesses selbst: Es geht nicht um Problemlösungen, sondern darum, aufzuzeigen, wie Resultate entstehen können (vgl. ebd.). Hier trifft sich Lehnerers Argumentation mit meinem Anliegen. In der theatralen Situation wird das Subjekt zudem immer zugleich Spielmaterial, Spielproduzent und Spielsubjekt in einem, sodass der funktionelle Rahmen für die Darstellungspraxis bereits ein explizites Wechselverhältnis zwischen den Subjekten erzeugt (vgl. Kapitel IV.2).

1.2 Transformationen des Subjekts im Spiel Ob wir Hamlet oder Schach spielen, uns im Fußball oder Tanz verlieren, scheint für das Spiel und seine zentralen Wirkungsmechanismen auf das spielende Subjekt von untergeordneter Bedeutung zu sein. Seinen »Sinn« gewinnt das Spiel dadurch, »dass es die Schwelle der gegebenen Ordnung überschreitet; es ist damit immer auch an die Motivation solcher Grenzüberschreitungen gebunden. Das ›Anderswerden‹ im Spiel kann sich nur bestimmen, indem es sich wiederholt von etwas her und zu etwas hin bewegt. Doch weder geht es ganz in diesem Hin zum anderen auf – das wäre ein transzendentes Übersteigen –, noch fällt es ganz in das Her des Selbst – das wäre der identische Stillstand. Die Dynamik des Spiels liegt dazwischen« (Seitz 1996; 207). Das Hin und Her wird begrenzt durch einen konstitutiven Spielrahmen, der die Pendelbewegung in Gang setzt und selbst auf der  Grenze des Spiels situiert ist. Innerhalb eines Spielrahmens sind weitere Spielregeln Handlungsanleitungen, die das Spiel begrenzen. Sie müssen eine offene Verschränkung der Spielbewegungen erlauben, sind offensiv und defensiv zugleich und ermöglichen ein Umspielen des Materials und seiner Rahmenbedingungen. Mit ihrem Einsatz wird eine wechselseitige Beeinflussung des Spielgeschehens erzeugt, die vieldeutige Spielereignisse in einem spannungsreichen, unberechenbaren Spielverlauf bindet. Dabei entzieht sich das Feld der Aleatorik einer substituierbaren Ordnung. Das Spiel bleibt Praxis, die in keiner theoretischen Matrix äquivalent nachgebildet werden kann. Alle Versuche, Aussagen über das Spiel, seinen Verlauf und Prozesse der Herstellung abseits des Spiels zu machen, sind im besten Falle vage Karten eines Territoriums ad infinitum. Der sich aufdrängenden Frage nachzugehen, wie und wo das Subjekt im Spiel zu tranformatorischen Bildungsprozessen gelangt, führt in eine pädagogische, psychologische und philosophische Grauzone. Will man daran festhalten, dass nicht der Spieler und seine Tätigkeit das Spiel definieren, sondern das Spiel den Spieler definiert, bleibt der Versuch einer Festlegung von Wirkungsweisen ungefähre Vermutung, die nur um-

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schreibend die Wechselverhältnisse zwischen Spiel und Subjekt wiedergeben kann. Potenzielle Selbstverausgabung. Eine solche Umschreibung unternimmt beispielsweise der Psychoanalytiker Winnicott bezogen auf die im Spiel sich vollziehenden Ereignisse. Für ihn ergibt sich »das Wagnis des Spiels [...] daraus, dass es stets an der theoretischen Grenze zwischen Subjektivem und objektiv Wahrgenommenem steht« (Winnicott 2002; 53). In seiner Terminologie ist das Spiel damit weder Teil des inneren Erlebens, des Ichs, noch im Außen, dem Nicht-Ich, zu lokalisieren (vgl. ebd.).14 Er spricht dem Vertieftsein und der Konzentration im Spiel eine höhere Bedeutung zu als den Spielinhalten und erklärt den Spannungsbereich, den potenziellen Raum zwischen Individuum und Umwelt, zur wesentlichen Komponente des  Spielerlebens. Der potenzielle Raum wird zum Zwischenraum, der als solcher existent und wesentlich für Subjektprozesse ist sowie von subjektiven Faktoren (sich vertiefen, sich konzentrieren) abhängt, ohne dass er in der Praxis kriterienorientiert verfügbar wäre. Handeln innerhalb des paradoxen Rahmens des Spiels ermöglicht die Aufhebung der kategorialen Differenz von Ich und Nicht-Ich. Wie bereits dargelegt hebt das Spiel die oppositionelle Trennung von Subjektivem und Objektivem auf, verkehrt es ineinander und schafft einen potenziellen Zwischenraum (Winnicott). Wird in vielen Spielen diese Verkehrung der Verhältnisse an Spielmaterialien ausgetragen, ist im Theaterspiel der Spieler mit Haut, Hirn und Haaren selbst das Material, er arbeitet »im Material seiner eigenen Existenz« (Plessner, zit.n. Fischer-Lichte 2004; 129). Er ist Subjekt, Objekt und Koproduzent15 des Spiels. Im Ringen um Spiel (play) und Darstellung werden subjektive und objektive Zugriffe auf die eigene Person so miteinander verschränkt, dass der Akteur mit sich selbst in einen Zwischenraum gerät. In diesem Zwischenraum von Ich und Nicht-Ich knüpft Schechners Denken an, das versucht, ihn begrifflich genauer zu lokalisieren: Das Subjekt identifiziere bestimmte Spielsituation als Nicht-Ich, andere als nicht Nicht-Ich (vgl. Schechner 1990; 215). Durch das Spielen »mit Worten, Dingen oder Handlungen, von denen 14 | »Spiel ereignet sich nicht im Inneren, und zwar in keinem Sinne des Wortes [...], jedoch auch nicht im Außen, ist also auch nicht Teil des ›Nicht-Ich‹.« Auch an anderer Stelle schließt er den Spielbereich von der intrapsychischen Realität aus: »Er liegt außerhalb des Individuums, ist aber auch nicht Teil der äußeren Welt« (vgl. Winnicott 2002; 63). 15 | Anstelle der Formulierung »Subjekt, Objekt und Produzent« wird hier bewusst die koproduzierende Perspektive gestärkt, da Theater als kollektive Kunstform auf den Mitspieler in fundamentaler Weise angewiesen ist und eigenes Spiel als Reaktion auf fremdes Spiel entsteht und die Produktionsform selbst von einem Zusammenspiel zumindest von Regie und Spielensemble ausgeht, wobei häufig noch wesentlich mehr Personen miteinander den künstlerischen Prozess verantworten (Dramaturg, Musiker, Bühnenbildner etc.).

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manche ›Ich‹ und manche ›Nicht-Ich‹ sind«, erfolgt eine Negation sowohl des ›Ichs‹ als auch des ›Nicht-Ichs‹ (vgl. ebd.; 215f.).16 Infolgedessen wechselt der Spieler in einen Status des Dazwischen, ein nicht Nicht-Ich. Übertragen auf das Theaterspiel meint dies, dass eine Person, die beispielsweise Hamlet spielt, nicht Hamlet ist, für den Moment des Spiels aber ebenso nicht Nicht-Hamlet ist (vgl. ebd.; 216; Hervorhebung im Original). Die durch den Spielrahmen aktivierte paradoxe Situation – Wahres und Unwahres ereignet sich zugleich – bringt das spielende Subjekt auf einen neuen Nenner, ebenjenen des nicht Nicht-Ichs, auf der Suche nach (s)einem nicht Nicht-Hamlet. Schechner führt weiter aus, dass »die Hierarchie, in der normalerweise Tatsächliches als ›Wirklichkeit‹ und Phantasie als ›Unwirklichkeit‹ gesehen wird, für die Spielzeit aufgehoben« ist, wodurch ein Übergang von Elementen des Ichs zum Nicht-Ich und umgekehrt möglich ist (vgl. ebd.; 216f.). Der ausgelöste Transformationsprozess kann in der Konsequenz bestehende Wirklichkeitskonstruktionen de- und neu konstruieren, die in den Spielhandlungen ausgedrückt, symbolisch werden. Das Subjekt geht in den Prozess ein, indem das Fremde/Andere als Gegenüber Teil der Verfassung des nicht Nicht-Ichs wird. In der Differenzerfahrung von Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich fallen ästhetische und transformatorische Bildungsprozesse in einem »potentiellen Zwischenraum« (Winnicott) zusammen. Der Spieler erfährt sich in der Differenz von Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich ebenso wie in jener zwischen Ich und nicht Nicht-Ich. In der Übertragung von Winnicotts Grundüberlegung durch Ulrike Hanke für eine spiel- und theaterpädagogische Didaktik ereignen sich Spiel und Subjekt ebenfalls zugleich, wobei das Subjekt über die Eigenarten des Spiels »einem Zusammenhang oder einer Bewegung unterworfen ist und von diesen hervorgebracht wird. Es ist nicht nur Agens, sondern auch Effekt« (Hanke 1997; 107). In einer marxistischen Denktradition wird dem gleichen individuellen Prozess bei Manfred Wekwerth eine gesellschaftliche Relevanz bescheinigt. Auch er betont die vorübergehende Aufhebung zwischen subjektivem und objektivem Weltbezug und schreibt: »Der Mensch muss also nicht nur zum Wirklichen (Konkreten) eine Beziehung aufnehmen, sondern zum Möglichen. Er muss vom Sein (auch seinem eigenen) ein Bewusstsein bilden, um das Sein (und damit sein Bewusstsein) zu verändern. [...] Sich selbst gegenübertretend gewinnt er als gesellschaftliches Wesen eine ungeheure Fähigkeit: Er kann mit sich zugleich umgehen wie mit einem Objekt, das heißt, er kann von sich selbst abstrahieren. Er  kann nicht nur anders denken, er kann sich selbst anders denken. Ja, er selbst 16 | Das von Schechner als nicht Nicht-Ich bezeichnete Spielprinzip gilt für Spiele generell und ist noch nicht spezifisch an eine Verkörperung der Spielfigur durch den Spieler gebunden. Da er nachfolgend dezidiert die theatrale Grundsituation in den Blick nimmt, dient sein allgemeiner Verweis hier als Hinführung auf Darstellungsfragen im Theater.

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ist der vorwärtstreibende Umschlag Subjekt – Objekt und Objekt – Subjekt« (Wekwerth 1974; 39; Hervorhebung im Original). An anderer Stelle greift er auf dieses Verhältnis zurück und verknüpft dieses Vermögen mit der Fähigkeit des Menschen zu spielen, Theater zu spielen: »Der Mensch kann mit sich selbst umgehen wie mit anderem, und er kann dieses andere vor sich selbst sehen, hören, fühlen [...]. In jeder Vorführung, die sich Theater nennt, tritt sich der Mensch selbst gegenüber, er schaut sich in einer von ihm geschaffenen Welt an, bestätigt sich und verwirft sich. Er kann ein anderer sein und doch er selber. Er kann etwas tun und es doch lassen, kurz: er beginnt zu spielen« (ebd.; 96; Hervorhebung im Origial). Spielen als ein Vorgang der bewussten Selbstverdoppelung findet bei ihm in einer wechselseitigen Verkehrung von Möglichem und Realem seinen spezifischen Charakter, der die gewöhnliche Opposition von subjektiven, das Ich betreffenden und objektiven, der Außenwelt zugeordneten Umständen aufspaltet und neu verknüpft.17 Die so im Spielen mögliche Aufhebung und Neudefinition bestehender Welt- und Selbstverhältnisse schließt das darin enthaltene Subjekt auf besondere Weise ein. Der Philosoph Martin Seel bündelt diese Grunderfahrung geglückten Spiels in einer »Verausgabung an eine verwandelte Gegenwart«, in der das Subjekt Teil eines dynamischen Geschehens ist, welches sich als vorgestellte oder reale Bewegung entfaltet und das Potenzial besitzt, den Menschen zu verwandeln (vgl. Seel 1999; 161). Das Spiel als ein ambivalente Gegenwart generierendes, subjektüberschreitendes und autark sich vollziehendes spezielles Bewegungsgeschehen zu begreifen, verlangt, Spiel aus anderer als der subjektzentrierten Perspektive zu betrachten.

1.3 Lehr-lern-theoretische Schlussfolgerungen Folgt man dem bis hierher dargelegten Verständnis von Spiel, so erweisen sich die aufgeführten Strukturmerkmale und Organisationsformen des Spiels als jener Geltungsbereich, der den Spieler optional aus der Opposition »Subjekt – Objekt« herauslösen kann und ihn in einen neuen Spannungsraum stellt. Beglaubigt man damit den in den bisherigen Untersuchungskontext bereits eingeflossenen Terminus vom Spiel als »subjektüberschreitendem Ablaufgeschehen« (Scheuerl), wird der transzendentale Charakter dieses Phänomens im Hinblick auf ein spielendes Subjekt offensichtlich. Alle für den vorliegenden Beschreibungszusam17 | Die unterschiedlichen Beschreibungen der Subjektprozesse im Spiel weisen weniger auf die wissenschaftliche Erkenntnisse vertiefenden Forschungsunternehmen hin, sondern zeigen deutlich, wie stark Erklärungsversuche zum Spielphänomen von historisch und gesellschaftlich bestimmten Denktraditionen bestimmt sind. So verbirgt sich analog zum Begriffsfeld Spiel für das Subjekt ein ähnlich unbestimmbares Phänomen, dem in den Klärungsversuchen immer wieder andere, abweichende Schwerpunkte zugeschrieben werden.

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menhang prominenten theoretischen Positionen anerkennen diese zentrale Funktion als den Kristallisationspunkt des Spiels, dem ein Welt und Selbst veränderndes Potenzial zugesprochen wird. Vorausgesetzt werden muss dabei allerdings eine latente Bereitschaft, den grenzüberschreitenden Modus zuzulassen, scheinbar gesicherte Wirklichkeitskonstellationen für einen Moment zu verwerfen. Für die Vermittlung von spielbasierten Handlungen und die Genese von Spiel in theatraler Praxis ist dieser erste Schritt elementar. Die Grenze zwischen der sozialen Wirklichkeit und den Wirklichkeitskonfigurationen des Spiels ist als eine Schwelle zu verstehen, die bewusst überschritten werden muss, damit ein Spiel als solches zur Praxis findet. Die Modifikationen des Spiels in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen von agon, alea, mimicry und ilinx geben dann die Möglichkeit, bei individuell unterschiedlichen Vorbehalten gegenüber dem Spiel – die meist nur Vorbehalte gegenüber bestimmten Formen und Varianten des Spiels sind – einen niederschwelligen Einstieg zu finden und sukzessive das Spielpotenzial und die Spiellust der Akteure zu wecken. Dennoch bleibt der Tatbestand geltend, dass die vermeintliche Autonomie des Subjekts, seine Entscheidung für oder gegen eine Grenzüberschreitung, durch das Spiel nicht zwangsweise suspendiert werden kann. Selbst der Umfang, mit dem sich ein Spieler auf den Prozess einlässt, kann willentlich oder unbeabsichtigt klein gehalten werden, sodass die Grenze zwischen Spielen und Nicht-Spielen nur eingehalten wird, aber keine Aufhebung erfährt. Aber selbst dann, wenn das Spiel für das Subjekt mit einer inneren Distanznahme gespielt wird, die zentrale spielerzeugende, subjektüberschreitende Bewegung ausbleibt, wird das Subjekt in eine Konfrontation mit sich und seinen gesellschaftlichen, kulturellen oder biografischen Erfahrungen eintreten – die besondere, erkenntnistreibende Kraft des Spiels wird dann allerdings nicht zur Wirkung finden. Treffend beschreibt Hans-Wolfgang Nickel die in solcher Hinsicht häufig sichtbar werdende Autonomie des Subjekts in theaterpädagogischen Zusammenhängen und er erteilt zugleich den theaterpädagogischen Auftrag, nach Veränderungswegen zu suchen: »Überdies bleibt die Autonomie des Subjekts, gerade im Spiel, erhalten: in einer Bewegungsübung kann der Spieler, kann die Spielerin für sich eine Fantasiereise machen, sie kann in einer Fantasiereise einschlafen, sich in Entspannungsübungen aufregen, statt eines emotionalen Ausdrucks eine Bewegungsübung zeigen usw. Genau dies aber sollte die Spielleiterin be(ob)achten, um ihre weiteren Interventionen darauf einstellen zu können« (Nickel 2005; 17). Der Theaterpädagoge erhält hier einen Handlungsspielraum als Vermittler, Beobachter und Begleiter, dessen Interventionen in den jeweiligen Spielrahmen einen Spiel befördernden Status einnehmen. Wird der Rahmen dabei nicht nur als Grenze, sondern auch als eine Verbindung von Spiel und Wirklichkeit, als Schwelle ins Spiel hinein und aus dem Spiel heraus gesehen, kann er den vorhandenen Spielhabitus und die Spielblockaden berücksichtigen, die aus den individuellen Kontexten

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der Spieler mitgebracht werden. Dies schafft die Option, an die außerhalb des Spiels existierende Wirklichkeit anknüpfend, Spieleröffnungen in Form von passenden Rahmungen für eine konkrete Spielgruppe zu suchen und praktisch zu definieren. Gelingt es dem Theaterpädagogen, muss er weniger eine bestimmte Wirklichkeitskonstitution ausschließen, sondern eher Spielmotive, -materialien und -regeln so modulieren, dass die vorhandene Wirklichkeit in eine Schwebe gebracht werden kann. Den ausgelösten Vorgang in der Schwebe zu halten entspricht im weiteren Verlauf dann wieder einer »Kunst des Arrangierens von Spielen«, wie es Scheuerl dargelegt hat (vgl. Kapitel I.3). Der Rahmen als Grenzmarkierung mit »verschiebbarer Kontur« ist als Schwellenbereich zwischen Spiel und Nicht-Spiel eine »dialektisch angelegte, funktionelle Struktur« (vgl. Wetzel 2005; 27). Die Grenze konstituiert dadurch auch eine »Art Zwischenraum der Vermittlung« (ebd.), der beweglich und veränderbar bleiben muss, um eine produktive Dissonanz der spielhabenden Kräfte zu ermöglichen und befördern zu können (vgl. ebd.; 64). Erfolgen Anpassungen der ein Spiel rahmenden Bedingungen im Rückbezug auf die spielhabenden Akteure und knüpfen an vertraute Muster spielerischer Wirklichkeitsüberschreitung an, können auf der Gegenseite sukzessive neue, erweiterte Spielrahmen etabliert werden. Reiz und Herausforderung veränderter Spieloptionen, die Differenzierung oder Umgestaltung von Regelvereinbarungen in einem kommunikativen Zusammenspiel zwischen Spielleiter und Spielern auf der Suche nach interessanten Spielprinzipien machen die Konstruiertheit von Spielen transparent und erlauben einen gestaltgebenden Diskurs am Beispiel gesammelter Spielpraxis, indem neue Herausforderungen und experimentelle Spielanlagen erfunden, getestet, evaluiert und erneut entwickelt werden können. Die Akzeptanz andersartiger Regeln und die Bereitschaft, in unbekannten Spielmustern zu handeln, werden so prinzipiell erlernbar. Man könnte im Sinne des Habitus-Konzepts Pierre Bourdieus gar von einem Spielhabitus sprechen, der in der theaterpädagogischen Praxis überschritten und erweitert werden kann. Die in sozialen Kontexten tolerierten und praktizierten Spiele (games), die das Subjekt sich im Laufe des Sozialisationsprozesses automatisch aneignet, einverleibt und denen es sich zugleich angleicht und einpasst, können als seine spielspezifische Ausdrucks- und Handlungskompetenz angesehen werden. Dieser inkorporierte Spielhabitus ist Ausdruck einer bestimmten Spielkultur.18 Sie ist 18 | »Die Spielkultur umfasst Strukturen des Spiels, die nicht nur aus einem Satz von Spielregeln bestehen. Die Gesamtheit der Regeln des Spielens, die Spielern einer bestimmten Gesellschaft verfügbar sind, bilden die Spielkultur dieser Gesellschaft, und diejenigen, die das Individuum kennt, bilden dessen eigene Spielkultur. Ob es sich um traditionelle Spiele oder um neue Spiele handelt, ändert nichts an der Angelegenheit, aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich diese Kultur der Regeln individualisiert, partikularisiert. In bestimmten Spielkul-

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»aus einer bestimmten Menge von Schemata zusammengesetzt«, anhand derer Spiele begonnen und immer wieder anders komponiert werden können, sodass »stereotype Gesten des Spielanfangs« ein »Vokabular« bilden, aus dem heraus Spiel entsteht (vgl. Brougère 2005; 250). Da Spiele den Alltag durchkreuzen und keine von ihm losgelösten, autonomen Handlungen sind, kann Bourdieus Vergleich von sozialem Handeln und Spracherwerb die differenziellen Aneignungsstrategien geltend machen. Ulrike Hentschel greift seinen Gedanken auf: »Im Anschluss an Bourdieu lässt sich das Alltagshandeln, das Handeln im sozialen Feld, mit dem Erlernen einer Muttersprache vergleichen, die Struktur der Sprache wird dem Sprechenden nicht bewusst. Das spielerische Handeln dagegen vergleicht Bourdieu mit dem Erlernen einer Fremdsprache, ein Prozess, bei dem die Sprache als Sprache, als ein willkürliches Zeichensystem wahrgenommen wird: ›beim Spiel zeigt sich das Feld [...] eindeutig, wie es ist, nämlich als willkürliche und künstliche Konstruktion‹ (Bourdieu 1993; 124). Damit ergibt sich im spielerischen Gestalten die Chance, Einsicht in die wirklichkeits- und subjektkonstituierenden Funktionen von gesellschaftlicher Aufführungspraxis zu gewinnen« (Hentschel 2007b; 8). Spiel bleibt entsprechend einer Fremdsprache ein erwerbbarer Lerngegenstand, kann durch neue Regeln, Rahmen und Vokabeln praktisch ergänzt und erweitert werden, sodass die Sprech- und Ausdrucksfertigkeiten zunehmen. Die eigene Spielkompetenz durch neue, weniger vertraute und vielleicht widersprüchliche Spielstrategien und Spielformen zu ergänzen, käme dem Erwerb einer weiteren Fremdsprache nahe, die an der bereits vorhandenen durch neue Regelkonstruktion und damit einhergehende andere Spielstrategien ansetzt. Dazu kann sie an vertrauten Spielen andocken, diese aber in eine andere Richtung weiterführen. Das Theaterspielen ist in pädagogischen Zusammenhängen eine solche Fremdsprache, in der sich den Akteuren die Chance bietet, die eigene Spielkultur weiter auszubilden. Spielen lernen im Modus des Theaters heißt anders sprechen lernen.19 Für eine performative Forschungsorientierung kann man den praktischen Aspekt des Spiels mit Gebauer und Wulf um einen sozialen ergänzen. Ihrer Auffassung nach ist das Subjekt im Spiel »Teil eines größeren Ganzen, eines umfangreichen Netzes von Beziehungen« (vgl. Gebauer/ Wulf 1998; 205). Damit ist in einer spielerischen Handlung »vieles präsent, was über das Individuum hinausreicht: die Gesten, Mitspieler, Konturen verwendet man spezifische Regeln. Die Spielkultur ist kein monolithischer Block, sondern eine lebendige Gesamtheit, unterschiedlich je nach Individuen und Gruppen, abhängig von den Spielgewohnheiten, den klimatischen und räumlichen Bedingungen« (Brougère 2005; 250). 19 | Sprechen als Diskurs in seiner Form und Logik von Sprachspielen aus zu betrachten würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. In philosophischer Auseinandersetzung haben sich insbesondere Wittgenstein und Lyotard damit befasst (vgl. Wittgenstein 2003; Lyotard 1989).

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kurrenten, Zuschauer, vergleichbare frühere Situationen«, sodass »das Prinzip des Spiels« nicht auf den einzelnen Menschen reduziert werden darf, sondern ein soziales Gefüge hervorbringt (vgl. ebd.). Dies führe, so die Autoren, zu einer Ausweitung des Subjekts, in der sich die Gesten des Spiels nicht von den Körpern der Beteiligten und der Situation der Aufführung ablösen ließen und Spielhandlungen so zu »materiellen Ereignissen« werden, die sich nie in »die Abstraktheit von Begriffen und Generalisierungen« verflüchtigen lassen, sondern immer an eine »sinnliche Präsenz« gebunden bleiben (vgl. ebd.; 206). Dies gilt insbesondere auch für Mitspieler, die immer als konkreter Interaktionspartner präsent bleiben und in den wechselseitigen Wirkungsfeldern das Spielhandeln jedes einzelnen Akteurs ausprägen. Die Zurückweisung eines allgemeinen Begriffs des »generalized other« wird dabei zur Aufforderung, konkrete Interaktionsformen zu untersuchen (vgl. ebd.). »Handlungen geschehen freilich nicht in einem Reich idealisierender Konstrukte, sondern sind materielle Ereignisse; sie nehmen in körperlichen Bewegungen Gestalt an. In den konkreten Situationen des Spiels springt das Subjekt nicht mit Hilfe seines Geistes vom Geschehen in die Abstraktion, sondern es handelt praktisch [...], und dies immer im Bezug auf die Handlungen anderer. In unserer Perspektive kommt es darauf an, das Individuum als Teil eines Spiels, in einem Medium agierend, zu begreifen« (ebd.; 207). Das Spiel wird auf diese Weise als körperliches Geschehen zwischen Menschen sichtbar und ohne die Innensicht des Spielers beschreibbar. Das Erfahrungsfeld des Spiels bleibt damit zwar zu einem nicht unwesentlichen Teil unausgeleuchtet, für das Interesse an Interaktionshandeln zwischen Spieler und Spielleitung aber zugänglich. Spielhandlungen als materielle Ereignisse zu verstehen, in denen eine soziale Praxis zur Ansicht kommt, macht es möglich, Interventionen im Spiel zu beschreiben, unter didaktischen Gesichtspunkten zu analysieren und für die Praxisreflexionen von Theaterpädagogen zu systematisieren. Die dem Spiel eigene Performativität umfasst den Übergang von imaginären Vorstellungswelten zur Aufführung des Spiels. »Als solche sind sie körpergebunden, expressiv und ostentativ« (vgl. Wulf 2005; 18). Die damit verbundene Erzeugung einer Spielwirklichkeit nimmt Bezug auf die soziale Praxis. Der  Mensch kann dabei seinen Körper, seinen Geist und seine soziale Existenz ins Spiel einbringen (vgl. Lehnerer 1994; 133). Das Handeln erfolgt analog über Interaktionen, die das eigene Aktionsfeld in Beziehung setzen zum sozialen Kontext. Batesons Beschreibung des konstitutiven Spielrahmens ist bereits ein Versuch, das soziale Funktionieren von Spielen einer Erklärung zugänglich zu machen und die besondere Relation von Karte und Territorium hervorzuheben. Ohne das Spiel einseitig positiv zu besetzen, weist er auf Voraussetzungen hin, unter denen Spiel erst entstehen kann. Ebenso ambivalent gegenüber pädagogischer Vereinnahmung bleibt Caillois’ Kategoriebildung, die den ›dekonstruktiven‹ zivilisatorischen Charakter neben positive Aspekte stellt und somit die soziale Funktion relativiert (vgl. Casale 2005; 24).

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Die pädagogischen Indienstnahmen des Spiels für einen außerhalb des Spielzwecks liegenden Einfluss auf das Subjekt kranken nicht zuletzt an der Rahmung, die kontraproduktiv zur Paradoxie des Spiels in pädagogischen Prozessen vorgenommen wird. Die Spielsituation, die der Rahmen erschafft, ist in ihrer sozialen Funktion unabhängig von Spielsituationen außerhalb dieses Rahmens. Man kann also ›Erziehung‹ und ›Lernen‹ nicht in diesen Rahmen hineingeben, ohne die soziale Situation von Lernen und Erziehen vorübergehend zu nivellieren. Die einzige Chance, die in pädagogischen Kontexten produktiv bleibt, ist, Rahmen so zu ziehen, dass Lehrende oder Erziehende selbst Teile innerhalb dieses Rahmens bilden – was ihnen allerdings eine normative Setzung angestrebter Lern-, Erziehungs- oder Spielziele verunmöglicht.

1.4 Zwischenstopp Das Spiel als paradoxes Phänomen widersetzt sich einer begrifflichen Fixierung und leistet gegenüber eindeutigen Merkmalszuschreibungen vehement Widerstand. Als wirklichkeits- und subjektüberschreitendes Geschehen kann es aber durch einen pendelnden Bewegungsvorgang charakterisiert werden, in dem Elemente der Wirklichkeit aufgegriffen und umgedeutet werden. Zielgerichtet und für pädagogische Zwecke dienstbar machen lässt sich dieser Spielmodus allerdings aufgrund seiner Eigengesetzlichkeit nicht. Das Spiel schafft vielmehr einen potenziellen Raum, ein Spielfeld zwischen Wirklichkeit und Subjekt, der eine eigene Wirklichkeit darstellt. Voraussetzung hierzu ist ein Spielhaben der im Spiel miteinander verbundenen Elemente. In der Aufgliederung des Spiels in einerseits play und andererseits game verdoppelt sich das Spielfeld. Innere Verfasstheit und äußere Struktur überkreuzen sich und treten in ein konkurrierendes Wechselverhältnis: Für ein gelingendes play braucht es das regulierende game, ein Zuviel an game kann aber die freiheitliche Entfaltung von play verhindern. Wie aus dem game das play hervorgeht bzw. unter welchen Gesichtspunkten ein play vom game bestimmt ist, führt zu der für alle Spielprozesse und die Vermittlung von Spiel entscheidenden Frage: Wie wird Spiel als Spiel gespielt? Um dem game ein Gesicht zu geben, Regelmäßigkeiten und Ähnlichkeiten von Spielen zu bezeichnen, konnte mit der von Caillois vorgenommenen Kategorisierung von agon, alea, mimicry und ilinx gezeigt werden, dass in Spielen unterschiedliche Kräfteverhältnisse im Bezug auf das Subjekt wirksam werden. Die jeweils anders gelagerten Gewichtungen von das Subjekt zentrierenden und dezentrierenden, es konzentrierenden und zerstreuenden Momenten machen deutlich, dass sich das Subjekt im Spiel auf vielfältige Weise immer wieder neu ereignet. Das Spiel mit den Kombinationsformen und Mischungsverhältnissen der vier Spieltypen birgt dabei das Innovationspotenzial sowohl für das Spiel als auch für transformatorische Bildungsprozesse des Subjekts. Spielwirklichkeit und

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Subjekt können durch das fließende Ineinandergleiten immer wieder neu und anders hervorgebracht werden. Die Kombination gegenläufiger Spiele, die Art des Ineinandergreifens und das Wechselspiel von divergierenden Spieltypen lassen sich so einerseits im Ansatz systematisch ordnen, andererseits zeigt das Wechselspiel an, dass Übergänge von Spiel zu Spiel sichere Ordnungen destabilisieren und irritieren können. Die Verwandlungsprozesse von Spiel zu Spiel bringen die auf das Subjekt einwirkenden Mechanismen in ein Ungleichgewicht, das immer wieder neu ausbalanciert werden muss. In der Konsequenz führen diese Störung und Wiederherstellung von Gleichgewichten zu einer Pendelbewegung, in die Wirklichkeit(en) und Subjekt(e) miteinander verstrickt werden. Der Statuswandel des Subjekts wird durch die Pendelbewegung zwischen Ich und Nicht-Ich vollzogen. In darstellerischem Handeln findet dieser Sprung in den Zwischenraum durch das Oszillieren des Spiels zwischen Selbst und Rolle, Eigenem und Fremdem statt, das eine Differenzerfahrung von Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich bewirkt. Sind darstellerische Suchbewegungen bereits als Pendelbewegung vorgezeichnet (vgl. Kapitel III.1), erweist sich das Spiel als geeignete didaktische Basis, aus der heraus Vermittlungsprozesse zwischen dem Subjekt, der Wirklichkeit und dem Fremden/Anderen initiiert werden können. Dabei ist das Spiel stets von der Wirklichkeit außerhalb unterschieden, es muss als eigener Zwischenraum erfahren werden und erfahrbar bleiben, wenn das ausgewogene Verhältnis von ludus und paida nicht einseitig kippen soll. Wie  Kinder jederzeit in der Lage sind, ein laufendes Spiel zu unterbrechen, um ihm eine andere Richtung zu geben und es erneut ins Laufen zu bringen, muss auch in pädagogischen Kontexten die Spielwirklichkeit transparent bleiben, sodass jederzeit Unterbrechungen und Richtungswechsel möglich sind (vgl. Kapitel III.2). Das Gespür für geeignete Momente der Unterbrechung und Brechung eines laufenden Spiels durch Impulse, die dem Geschehen eine neue Wendung oder Dimension geben, zeichnet theaterpädagogisches Handeln aus. Die erzeugten Wendungen und Brüche machen wesentliche Elemente der Interaktionen mit dem Ensemble aus. Wie in der Unterbrechung intervenierend und unterstützend in das Spielgeschehen eingegriffen wird, ist erst in der Korrelation mit den theatralen Elementen näher auszuführen. »Kompositorisch wichtig  ist  bei dieser Technik die Übergangslosigkeit«, denn sie nutzt die »Evolution eines Vorgangs« (vgl.  Hoffmann 2003; 118). Allerdings gilt, dass »der Bruch nicht außerhalb dessen ist, was gebrochen sein will«, denn »man kann Brüche nicht reihen, sie müssen in der Geschichte ihren Ort haben, dessen Entwicklung sie markieren« (vgl. ebd.). Neben den Wechseln von Spiel zu Spiel sind die Übergänge von Spiel zu Nicht-Spiel für Spielverläufe und -prozesse unter theaterpädagogischen Blickwinkeln besonders interessant. Hier manifestieren sich nicht nur die konkreten Haltungen und Handlungen, sondern darüber hinaus werden Schnittstellen zu Zwi-

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schenräumen explizit thematisiert und eine Vermittlung des Spiels und ins Spielen wird selbst Teil des Spiels. Auf dem Weg dorthin ist das Spiel nicht nur didaktische, sondern auch zentrale methodische Instanz und bedingt unter den Aspekten von Spielkultur, Spielhabitus und der Praxis des Spiels Vorgehensweisen, die den Kontext und die Zielsetzung der Praxis berücksichtigen. Der »Sinn für das Spiel« (Bourdieu) entsteht als praktischer erst im Zusammentreffen von Habitus und Feld und ermöglicht ein  Spiel mit dem Habitus, einen Erwerb neuer Ausdrucksmöglichkeiten in den Sprachen des Spiels. Die Konstruktion von neuen Spielwelten auf dem Weg der Suche nach Ausdruck ist erst als spielerische interessant. An  dieser Scharnierstelle können Habitus und Feld sich verwandeln und einen Spielhabitus erzeugen, der von den Wirklichkeitsbindungen vorübergehend freigesetzt ist und  neue Sprech- und Sprachmöglichkeiten produziert. In gewisser Weise zeigt eine Didaktik des Spiels Wege des Spiels mit dem Spiel und macht sie anderen zugänglich, so wie sie durch sie verändert wird. Lineare Interventionsstrategien zur sicheren Handhabe des Spiels sind entsprechend undenkbar. Die Eigendynamiken spielerischer Prozesse können nur bedingt vorhergesehen und über die geschickte Etablierung von Rahmen und Regeln beeinflusst werden. Potenzielle Schnittstellen bieten die  zueinander in Beziehung tretenden situativen Bedingungen, die die Relation von game und play in ein jeweils neues Spannungsverhältnis bringen und mehrdimensionale Spielräume öffnen können. Wie Fremdsprachen weder von selbst noch nur in der Theorie gelernt werden können, ist das Spiel auf eine praktische Vermittlung angewiesen und bleibt immer an eine je konkrete Praxis gebunden. »Spielen wird nur im Spiel gelernt. Zum Spiel bedarf es praktischen Wissens. Sprachliche Erläuterungen bieten nur unzulängliche Hilfen, spielen zu lernen«, merkt Wulf unter Rekurs auf Wittgenstein an und verdeutlicht damit, dass Spiele sich nur in ihrem Gebrauch erschließen und alle Erläuterungen und Erklärungen nur Hilfsmittel darstellen (vgl. Wulf 2005; 19). Erst die Erfahrung des pendelnden Hin und Her ermöglicht das Spiel, wie erst in der Pendelbewegung des Spielleiters Vermittlungsqualitäten eingelöst werden. In dieser von Einbildungskraft und Imagination getragenen Tätigkeit ensteht praktisches Spielwissen, entsteht gelungene Vermittlungspraxis.

2 S PIELSYSTEME KÜNSTLERISCHER P R A XIS »Um ein dadaistisches Gedicht zu machen: Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus. Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte. Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der

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Tüte gekommen sind. Das Gedicht wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität« (Tzara 1984; 47). Wie wird aus Spielhandlungen künstlerische Praxis? Nach Tristan Tzaras Anleitung »Um ein dadaistisches Gedicht zu machen« braucht es nicht viel mehr als Zeitung, Schere und eine Tüte. Allerdings muss man auch auswählen, vorsichtig schütteln und gewissenhaft arbeiten. Am Ende wird aus der Spielanleitung ein Gedicht werden – in dessen Spuren man eingeschrieben ist, das einen als Künstler auszeichnet, wenn auch als möglicherweise nicht verstandenen. Künstlerische Praxis ist eine Spielerei, von jedem nachzuahmen, der den Mut hat, eine Schere in die Hand zu nehmen. Die Befolgung einer Bauanleitung bringt jedoch ein relativ berechenbares Ergebnis, bei dem die künstlerischen Anteile dieser Praxis fraglich werden und zu weniger als einem Spiel reduziert erscheinen. Welche Handlungen im Spiel, welche Manipulationen und Strategien sind wesentlich auf dem Weg zur Kunst? Den fließenden Übergang von spielerischer zu künstlerischer Praxis handlungstheoretisch zu  verfolgen zielt darauf ab, Vorgehensweisen in Inszenierungsprozessen zu analysieren. Dies kann letztlich nur anhand der Beobachtung und Beschreibung am konkreten Beispiel erfolgen, das weniger zur Nachahmung empfohlen als zur Anregung didaktischer Fantasie gelesen werden soll. Es geht damit ebenso wenig um die Darlegung eines Kunstbegriffs wie um eine Diskussion von Rezeptionsprozessen oder Werkdiskursen. In einem ersten Schritt soll vielmehr ein sehr pragmatisches Vorgehen qualitative Differenzen zwischen Spiel und Kunst skizzieren, um auf einer allgemeinen Ebene relevante Parameter für den künstlerischen Herstellungsprozess ausfindig zu machen (Kapitel IV.2.1). Dazu werden besondere Rahmenbedingungen des ästhetischen Experiments als Sonderfall des Spiels skizziert und deren Organisationsformen näher untersucht (Kapitel IV.2.1.1). Die Charakteristik des operativen Umgangs mit den eine Kunstgattung definierenden Materialien bildet die Brücke von einer allgemeinen Betrachtungsweise über künstlerische Praxis zu theaterspezifischen Aspekten (Kapitel IV.2.1.2). In der weiteren Folge werden diese Parameter auf die künstlerische Praxis Theater übertragen und spezifische Konstituenten des theatralen Gefüges hervorgehoben. Das nachfolgende Kapitel konkretisiert die Relation von Spiel und Theater in ästhetisch-künstlerischer Praxis (Kapitel IV.3). Schauspielmethodische Fragen werden dabei anteilig gestreift, die Aufmerksamkeit gilt jedoch dem Versuch, Nahtstellen für eine Regiepraxis in den Vordergrund zu heben und Kategorien und Kriterien für eine Analyse von Probendokumenten zu generieren. Dabei sollen Prozesse des Produzierens von Theater handlungstheoretisch betrachtet und daraus Verantwortlichkeitsbereiche und Einflussfaktoren des Regisseurs abgeleitet werden. Theaterpädagogische Arbeit, die den dargelegten Spielbegriff (vgl. Kapitel IV.1) samt den darin enthaltenen ästhetischen Implikationen in Proben- und Inszenierungspraxen aufgreifen und verfolgen will, muss

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die darin enthaltenen Handlungs- und Entscheidungsschritte kennen. Eine klare Vorstellung über den neben dem Spiel zu berücksichtigenden künstlerischen Eigenwert des Theaters ist Voraussetzung, um Bildungsprozesse am und im Gegenstand der Theaterpädagogik, dem Theater, evozieren zu können. Verfolgt werden deshalb vorerst Grundlagen, die dem Theater und der theaterpädagogischen Arbeit Richtpfeiler sein könnten. Weiterhin bleibt die Frage leitend, wie theaterpädagogisches Handeln die Darsteller so ins Spiel verstricken kann, dass Probenprozesse günstige Bedingungen für ästhetische Erfahrungen und transformatorische Bildungsprozesse bereitstellen. Der Untersuchungsfokus wird im Verlauf der beiden folgenden Kapitel sukzessive verlagert auf die aus der Kunstform Theater resultierenden Bedingungen. Auf diesen baut die Situation der Probe auf, deren Handlungsmodus das Inszenieren von Situationen konzentrierter Intensität ist.

2.1 Kunst als Sonderform des Spiels Bezug nehmend auf den Begriff des ästhetischen Rätsels bei Adorno definiert Martin Seel das Kunstwerk »als Medium der Konfrontation mit Sichtweisen der Welt«; es »spielt alle Möglichkeiten ästhetischer Praxis weniger miteinander als gegeneinander aus« (vgl. Seel 1996; 139) und führt damit zu einem »doppelten Spiel«, einer »gespaltenen Gegenwart«, in welcher man sich »nicht so verlieren kann wie auf dem Fußballplatz oder beim Billardspiel« (vgl. Seel 2000; 218). Der den künstlerischen Prozessen eingeschriebene Spielbegriff taucht hier auf als ein Kräfteverhältnis, welches zwischen verschiedenen ästhetischen Praxisformen zur Wirkung kommt und das ambivalente Spielhaben der Kräfte freisetzt. Was aber macht ästhetische Praxisformen aus und welche Parameter sind auf dem Weg der Herstellung dafür relevant? Versteht man ästhetische Praxis ganz allgemein als »eine Tätigkeit der sinngeleiteten Wahrnehmung, der es um Objekte und Vollzüge dieser Wahrnehmung selbst geht« (Seel 1996; 127), können ästhetische Prozesse in der Art der Organisation und Kommunikation dieser Wahrnehmungen voneinander unterschieden werden. Seel geht von einer Praxisform aus, in der wir unser Bedürfnis nach einer sinnhaften Gestaltung unserer Lebensumgebung befriedigen, beispielsweise über die Art, wie wir uns kleiden und unsere Wohnung einrichten, aber auch welche Musik wir hören oder spielen, was für Filme wir mögen oder welchen Schrifttyp wir auf dem Computer bevorzugen (vgl. ebd.; 130f.). Demgegenüber verzeichnet er eine gegenläufige Praxisform, bei der die Sinnstiftungsversuche ins Leere laufen, unsere Aufmerksamkeit auf etwas gerichtet ist, das Sinn suspendiert und eine Ratlosigkeit erzeugt (vgl. ebd.; 132ff.). Das Verlangen nach solch sinnabstinenter Aufmerksamkeit gehört ebenso wie das Bedürfnis nach Sinngebung zum Grundantrieb einer ästhetischen Praxis. Sinngebung und Sinnsubversion bleiben dabei immer auch historisch kontextualisierte Reflexionen auf gesellschaftliche Wirklichkeit, die in der

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Art der Präsentation bestimmter Materialien Spiele von Sinn und Sinnlichkeit miteinander verkreuzt. Gleichzeitig verfügen sie über ein Potenzial, gängige Wahrnehmungen und Sichtweisen infrage zu stellen und die bestehenden Wirklichkeitskonfigurationen zu unterlaufen. Treten beide Aspekte miteinander in Verbindung, können Spiele der Imagination einsetzen, deren Ausgang offen ist und die wiederum auf das imaginierende Subjekt selbst zurückfallen: ›So zeigt sich dir die Welt‹, ›so nimmst du die Wirklichkeit wahr‹, ›das ist deine Fantasie‹ begegnen einem gegenläufigen Thema, dem ›Sieh hin‹, ›nimm wahr‹, ›realisiere, dass …‹. Künstlerische Praxis versucht dieses ambivalente, reflexive Spiel von Wahrnehmungen und Bedeutungen zu erzeugen und in bestimmte Richtungen und Bahnen zu lenken. Sie knüpft an die ästhetische Praxis an und treibt diese auf eine künstlerisch signifikante Kommunikationsabsicht zu. Das mit der Imaginationskraft spielende Subjekt wird dabei gleichfalls zum Prozess, zur Frage, sich selbst fremd. Ganz allgemein kann eine ästhetische Praxis im Medium der Kunst beschrieben werden als die Suche nach und Ausführung von potenziell sinnsubversiven Spielen mit bestimmten einer Kunstgattung zugeordneten sinnlich-konkreten Materialien. Der Konstruktion und Dekonstruktion von Sinnfälligkeiten und deren Verknüpfung liegt das Spiel als Motor zugrunde. »Die ästhetische Verfahrensweise des Spiels öffnet und erprobt verschiedene Sichtweisen zur Welt. Hier wird konstruiert, verworfen, probiert, geordnet, zerstört und neu zusammengefügt. [...] Die Bestimmungslosigkeit des Spiels sucht nicht nach Begründung, sondern Ereignis und Differenz und findet gerade in solcher Unmittelbarkeit ihren Sinn« (Seitz 1996; 60). Prozesse des Produzierens lassen Sinn- und Materialelemente gleichermaßen zum Zuge kommen, sodass das Spiel in künstlerischer Praxis als ein unterschiedliche Wahrnehmungsweisen verknüpfendes Verfahren bezeichnet werden kann. In der Art der Verknüpfung von Symbol- und Materialgehalt eines der jeweiligen Praxis zugeordneten Materials werden bekannte Sinnkomponenten durch hermeneutische und nichthermeneutische, konstruktive und dekonstruktive Prozesse infrage gestellt und neu aufeinander bezogen (vgl. Sonderegger 2000; 137). Die praktizierten Spielprozesse zielen darauf ab, Konstellationen zu (er)finden, in denen materielle und symbolische Elemente ein Spiel mit Erscheinungen erzeugen, die sich einer »eindeutigen begrifflichen oder funktionalen Zuordnung entziehen«, und diese einem Publikum darzubieten (vgl. Seel 2007; 75). Der Weg von ästhetischer Praxis zu künstlerischem Produkt liegt in der Komposition dieser Prozesse. Sie können als mögliche Spielvarianten in einem potenziell unendlichen Prozess nur vorübergehend oder durch einen willkürlichen äußeren Eingriff stillgelegt werden. Roland Barthes, der im Unterschied zu Seel stärker die Textualität künstlerischer Prozesse thematisiert, betont diesen Aspekt der unendlichen Variationen von Verwandlungen des Materials und seinen Bedeutungsspielräumen: Die Symbolik des Materials schafft seiner Auffassung

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nach eine paradoxe Situation, da sie sich in der Bearbeitung des Materials durch den Künstler unaufhörlich verlagert und erst vorübergehend zur Ruhe kommt, wenn er sie ›rahmt‹, ›ausstellt‹, ›verkauft‹ (vgl. Barthes 1990; 233f.). Das Spiel mit den Symbolgehalten wird von Barthes und Seel als Reibungsfläche im Herstellungsprozess ästhetischer Praxis besonders betont. Beide Autoren heben den prozessualen Charakter der Organisationen von und Operationen am Material hervor. Damit wird einerseits die Spielqualität künstlerischen Produzierens angesprochen – je vielschichtiger, überraschender und spannungsreicher verschiedene, neue Symbolhaftigkeiten auftauchen, desto stärker und variantenreicher können neue sinnfällige Verknüpfungen vorgenommen und vorherrschende Bedeutungen unterlaufen und befragt werden –, andererseits bekommt der prozessuale Charakter des Operierens am Material ein stärkeres Gewicht – Intentionen und Absichten des Künstlers kommen nicht in zielsicheren Arbeitsschritten am Material zur Realisation und Anschauung. Neben das Spiel der Umdeutung und Dekontextualisierung tritt ein ephemerer Vorgang, in dem das Material in seiner Materialität durchscheint, für Momente sichtbar wird, noch bevor es mit Bedeutung gefüllt und überschrieben wird. Wiederum ist es Seel, der, diesmal unter Rekurs auf Kant, aufmerksam macht auf die Verbindung von einem freien Spiel der Erkenntnis und dem Spiel des Gestaltens. Beide greifen so ineinander, dass sie den Prozesscharakter ästhetischer Praxis deutlich machen und das Spiel im Innenraum des Subjekts mit den äußeren Erscheinungen gleichzeitig als verbindendes und trennendes Mit- und Gegeneinander verknüpfen. Solcherart Geschehnisse öffnen einen Raum von Möglichkeiten jenseits der Nötigung zur Selbst- und Weltbestimmung. Setzt das Spiel uns noch frei von der unumgänglichen Bestimmung unserer selbst und der Welt, streicht das ästhetische Spiel unsere Freiheit für die Erfahrung der Bestimmbarkeit unseres Selbst-Welt-Verhältnisses heraus (vgl. Seel 2000; 19f.).20 Dabei hat »die Leidenschaft für das Erscheinende [...] viel mit der für das Spielen zu tun«, so  Seel, »aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Jedes Spiel wird um Gegenwart, jedes ästhetische Spiel wird um eine Anschauung von Gegenwart gespielt« (ebd.; 215f.; Hervorhebung im Original). Das Spiel ästhetischer Praxis schafft also Erscheinungen und spielt zugleich mit diesen Erscheinungen, die in einer Distanz zu den Wirklichkeiten außerhalb des Spiels stehen, diese aber im Spiel auf eine neue Art zur Anschauung und Reflexion bringen können. Im Spiel ästhetischer Praxis zeigt sich Wirklichkeit anders, wird eine andere Wirklichkeit zeigend erzeugt.

20 | Die Bedeutung der Nötigung einerseits und Freiheit andererseits für die Selbst- und Weltbestimmung verweist auch auf die in solcher Art Spiel aufgehobenen Potenzen ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse.

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Exkurs: weder Probehandeln noch Halbfiktion. Der Zeigecharakter solcher Spiele darf nun aber weder mit Wirklichkeitsabbildung verwechselt noch sein Verweischarakter auf die soziale Realität unter Gesichtspunkten wie Halbfiktion oder Probehandeln leichtfertig mit dem Handeln in der Alltagswirklichkeit gleichgestellt und verflacht werden. Die Vorstellung eines Probehandelns ist insbesondere in der Theaterpädagogik immer wieder ein gern verwendeter Legitimationspfad für die pädagogische Funktion des Spiels. Die mimetische Anverwandlung sozialer Wirklichkeit in theatraler Darstellung wird dabei in ihren Erfahrungsqualitäten für das Subjekt analog zu sozialen Erfahrungen gesehen und übertragbar auf Alltagspraxis verstanden. In der Argumentationslogik des Probehandelns geraten die bislang dargelegten Erfahrungsbesonderheiten des Subjekts im Spiel (subjektüberschreitend, Aufhebung von Subjekt-Objekt-Relationen etc.) in den Hintergrund, sodass Spielen als fügsames und vom Subjekt gesteuertes Handeln für pädagogische und soziologische Zugriffe handhabbar gemacht wird. Gerade die subjekt- und wirklichkeitsüberschreitenden Dimensionen des Spiels sprechen aber eindeutig gegen eine lineare Übertragung von Spielwirklichkeit und sozialer Wirklichkeit. »Übertragungsfehler« findet man beispielsweise dann, wenn davon ausgegangen wird, dass ein Kind, das im Spiel ein Indianerhäuptling ist und eine Gruppe anderer Kinder anführt, aus diesem Spielvorgang lerne, »andere Kinder anzuführen, bei allen Gefährdungen eine unerschütterliche Haltung zu bewahren und nach spielerischen Kämpfen sich wieder zu versöhnen, um sich sodann in einer neuen Spielkonstellation wieder zu entzweien und die Kräfte zu messen« (Wulf 2005; 17). Hier gerät die Perspektive auf das Spiel in Gefahr, die Eigengesetzlichkeit des Spiels und seine Logik zugunsten eines kausalen soziologischen Interpretationswillens zu vernachlässigen. Im Endeffekt negiert Christoph Wulf damit nicht nur das spezifische Paradox des Spiels, sondern auch dessen Potenzial als wirklichkeitsgenerierende Kraft. Die Gefahr dieser Argumentationen liegt meiner Ansicht nach darin, dass das Spiel auf diese Weise schnell der Einübung sozialer Verhaltensweisen dienstbar gemacht wird und ein dem Als-ob verhaftetes Lernkonzept bleibt. Die Option eines ganz anders gearteten Erfahrens des eigenen Handelns im Spiel geht durch solche eindimensionalen Annahmen verloren und ebnet den Denkweg zur Probehandlung Spiel. In  einer ästhetischen Praxis, die mit dem Erzeugen von Darstellungen und Erscheinungen spielt, ist eine Interpretation der Lerninhalte aus einem mimetischen Blickwinkel auf die gezeigten Handlungen trügerisch. Was wir im Spiel tun und zeigen, steht gerade nicht in direktem Verweiszusammenhang zu unserer Wirklichkeit außerhalb des Spiels, sondern ist Teil einer paradoxalen Struktur und eines imaginativen Prozesses. Wolfgang Iser hat den qualitativen Sprung zwischen Nachahmung und Spiel anhand der notwendigen imaginativen Komponenten des Spiels deutlich gemacht. Im Sinne Piagets gilt für ihn die Nachahmung zwar als Voraussetzung des Spiels, da hier die Kluft zwischen Ich und

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Realität überschritten wird. Von Spiel kann seines Erachtens allerdings erst gesprochen werden, wenn die Assimilation die Akkommodation dominiert, wenn also die Aktivität stärker von der eigenmächtigen Aneignung der Kluft zur Realität getragen ist als von dem Bestreben, sich der Realität anzupassen (vgl. Iser 1993; 433ff.). Der damit noch als halbfiktionales Handeln denkbare Prozess bedarf zudem einer imaginativen Fiktion, die erst eine Transformation in symbolisches Handeln und das Spiel mit Be-Deutungen ermöglicht: »Als Probierbewegung ist Spiel nur eine ›Halbfiktion‹, die nicht mehr als ein Überschreiten indiziert und deshalb der ›imaginativen Fiktion‹ bedarf, um Spiel zu werden«, schreibt Iser und knüpft daran den Gedanken an, dass erst in der Entstellung der Wirklichkeit durch eine »Nichtung der Nachahmung« Spiel freigesetzt wird (vgl. ebd.; 434f.). »Die Nachahmung erfährt dadurch einen Statuswandel«, denn in der Aneignung von Unverfügbarem ist keine Imitation der Objektwelt mehr enthalten (vgl. ebd.; 436). In theaterpädagogischen Argumentationen wird der fiktionale Charakter des Spiels über die Vorstellung eines konsequenzverminderten Probehandelns in seiner Eigengesetzlichkeit schnell dadurch nivelliert, dass dem theatralen Rahmen eine Schutzfunktion zugesprochen wird. Von den Sanktionen des Alltags befreit, so die Annahme, probiere das Subjekt im theatralen Rahmen alternative Handlungsmodelle und erfahre sich in einer dem Alltag analogen, aber konsequenzverminderten Situation. Dass Handeln im Alltag zur Praxis des Theaterspiels in einem dialektischen Verhältnis steht und unaufhebbare Differenzen zwischen diesen Situationen einen Transfer verunmöglichen, hat Menke schlüssig dargelegt (vgl. Menke 2004). Im Unterschied zum zweckbezogenen Alltagshandeln werden, so Menke, im theatralen Spiel »keine Urteile gefällt und in Handlungen ausgeführt. Aber eben deshalb kann das theatrale Spiel auch nicht im oder als Handeln nachgeahmt werden« (ebd.; 31). Die Entkoppelung des Spiels von zweckgebundenem Handeln entbindet die Akteure von der Notwendigkeit des Urteilens und macht es unmöglich, Gespieltes in Alltagspraxis zu verkehren. Es setzt die Spieler vom Alltag und der Macht des Urteils frei. Wie bislang ersichtlich deutet alles darauf hin, dass das Spiel – insbesondere aus der Perspektive ästhetischer Erfahrung und transformatorischer Bildungsprozesse – keinesfalls verminderte Konsequenzen hat, sondern ihm eine eigene Wirkungsmacht inne ist, die alltägliche Erfahrungen auf andere Art intensiviert und potenziert. Als vermindert können allenfalls die konkreten Folgen des eigenen Tuns innerhalb des Spielrahmens gelten, die durch den paradoxen Rahmen eben wahr und unwahr zugleich sind. »Probehandlung« als Terminus wäre höchstens von Nutzen für das während der Probe vollzogene Handeln im Unterschied zu einem »Aufführungshandeln«. Seine Qualität wird es in beiden Situationen erst entfalten, wenn es reales Spielhandeln ist.

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Leerstellen darstellen. Durch das Spiel der Imagination werden schlichte Nachahmungsprozesse und einfache Fiktionalisierungen korrumpiert und in Kippfiguren überführt. Diese führen zu spontanen Wahrnehmungswechseln, indem eine für offensichtlich gehaltene Wirklichkeit plötzlich eine vollkommen andere Gestalt annimmt, in diese hineinkippt. Im Spiel mit diesem Kippen kann der Wechsel von Wirklichkeitswahrnehmungen gestaltet und provoziert werden. Die Imagination löst die Nachahmungskomponente von ihrem Gegenstandsbezug ab und macht Symbolisierungen möglich, die über den Charakter der Stellvertretung hinausreichen (vgl. Iser 1993; 442). Das Kippen markiert eine Leerstelle im Umgang mit diesem Spiel, in der etwas zur Vorstellung gebracht werden kann, »das entweder gegenstandsunfähig oder nicht existent ist« (ebd). In der künstlerischen Praxis ist dieses Spiel auf Darstellung gerichtet. Es soll sich zeigen, will gesehen werden. Die Freisetzung und Überschreitung bestimmter und bestimmbarer Wirklichkeitskonfigurationen durch das Spiel mit Verknüpfungen sinnstiftender und sinnsubversiver Prozesse streben nach Veröffentlichung. Künstlerische Praxis findet im oszillierenden Wechsel von Wahrnehmungs- und Zeichengebungsprozessen statt, die einander so überkreuzen und miteinander interferieren, dass deren Darstellung ein Spiel von Imaginationen freisetzt, denen ein Kommunikationswille eingeschrieben ist. Zielt die ästhetische Praxis auf Momente überraschender Selbst-Vergegenwärtigungen, ist der künstlerischen Praxis die Vermittlung solcher Vergegenwärtigungen ein Anliegen.21 Die Provokation von überraschenden, unberechenbar auftauchenden Momenten, die über imaginative Spiele neue Sinnkonstellationen zur Disposition stellt, kann nur bedingt geplant und vorausgesehen werden. Die Imagination als konstitutive Zufallsvariable im Spiel um subversive Wahrnehmungen und Sinngebungen bekommt in der künstlerischen Praxis einen zentralen Stellenwert. Sie produziert sich in einer spielbasierten, ästhetischen Verfahrensweise, in ästhetischen Experimenten. Als dialektisches Spiel von und mit Wahrnehmungs- und Sinngebungsprozessen sowie deren Erschütterung fallen ästhetische und künstlerische Praxis in einem prozessualen Wechsel zusammen. Manifest wird die Darstellung durch das spezifische Material, mit dem der Künstler in seinem Genre arbeitet. An beides, das Experiment und das Material, wird nachfolgend angeknüpft.

21 | Berechtigterweise könnte man vor diesem Hintergrund formulieren, dass die Theaterpädagogik eine künstlerische Praxis ist, deren Produkte performative Prozesse sind. Aus diesem Blickwinkel macht die Rede von einer »Vermittlungskunst« durchaus Sinn. Dass der Begriff der »Vermittlungskunst« aber ambivalente Konnotationen hervorruft, habe ich an anderer Stelle versucht zu erläutern (vgl. Sack 2010).

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2.2 Ästhetisches E xperiment Die dem beschriebenen Status künstlerischer Praxis entsprechende Spielform ist das »ästhetische Experiment« (vgl. Seel 1996; 139). Es setzt neue Arten der Verknüpfung verschiedener Spielstrategien voraus. Experiment als besondere Spielform unterscheidet sich von anderen Spielen insofern, als es eine Situation darstellt, die ein unbekümmertes Spiel zu einer risikobehafteten Konstellation verwandeln kann. Ein »zum Experiment führendes Problem kann zwar inmitten ›anom‹ spielender Zufallsgeschehnisse aufspringen, der Schritt zum Experiment ist aber in jedem Fall ein Schritt über das ›anome‹ Spielen hinaus« (Scheuerl 1990; Band 1; 195). Jedes einfache, klar geregelte Spiel kann grundsätzlich in den experimentellen Status wechseln, sobald an den Rahmenbedingungen oder dem Regelwerk Veränderungen vorgenommen werden, die Situationen des Ungewissen schaffen. »Jede Erweiterung des Spielrahmens während des Spielverlaufs ist solch ein gewagtes Experimentieren«, schreibt Scheuerl und weist damit auf ein Charakteristikum hin: Im Experiment wird mit dem Spiel selbst gespielt (vgl. ebd.; 197). Das Experiment wird zu einem Spiel mit Hindernissen und Schwierigkeiten, zu deren Bewältigung es vorab weder Anleitung noch Regeln, geschweige denn ein prognostizierbares Ergebnis gibt.22 Um andererseits überhaupt als eine, wenngleich extreme Form des Spiels qualifiziert zu sein, verlangt das Experiment nach Lösungen und Verfahren, die nur über den Weg des Spielens zu erkunden und allein im Spielvollzug selbst zu klären sind. Wird Spiel zu einer experimentellen Aktivität, verschiebt sich das Verhältnis von konstitutiven, stilistischen und aleatorischen Regeln. Im ästhetischen Experiment konzentriert sich das Spiel der Aleatorik. Die Aleatorik dominiert den experimentellen Charakter des Spiels, ohne dabei die regulativen Vorgaben gänzlich zu unterlaufen. Um Spiel zu bleiben, darf das Experiment die Regeln nicht so weit verletzen, dass der spielkonstituierende Rahmen zerbricht. Die Lösungsmöglichkeiten für die Überwindung von Hindernissen liegen damit immer im autonomen Feld des Spiels. Sie sind nicht aus diesem herauszulösen und nicht ohne Verlust weiter rationalisierbar. Ochs am Berg. Ein Spiel: An zwei gegenüberliegenden Seiten des Raums stehen sich ein Protagonist und die Gruppe gegenüber. Der Protagonist hat die Anderen fest im Visier, keiner von ihnen darf sich bewegen. Dann wendet er ihnen den Rücken zu, ruft »1, 2, 3, Ochs am Berg« und dreht 22 | Bei den sogenannten Experimentierspielen, wie es zum Beispiel das Montessori-Material entwickelt hat, handelt es sich weder um echtes Experimentieren noch um echtes Spielen, da stets die vermeintlich richtige Lösung gefunden werden soll und das Spiel damit in erster Linie dieser Lösungsfindung dient. Eine einseitig teleologisch, auf positive Aspekte des Spielens oder Experimentierens ausgerichtete Praxis verunmöglicht Experiment und Spiel, wie es hier dargelegt wurde, gleichermaßen.

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sich schnell wieder zurück. Währenddessen machen die Spieler einige Schritte auf ihn zu. Sobald er seine Mitspieler im Blick hat, müssen diese blitzartig in ihrer Bewegung verharren und regungslos stehen bleiben. Nimmt der »Ochs« ein Zucken, Schwanken oder gar einen letzten Schritt bei einem der Anderen wahr, darf er ihn zurück zum Ausgangspunkt schicken. Derjenige Spieler, der als Erstes unertappt dem Ochsen auf den Rücken klopft, darf der nächste »Ochs am Berg« sein. Ändert man den Spielrahmen und gibt vor, dass nun dasselbe Spiel ohne den Protagonisten gespielt wird, die sichtbaren Vorgänge aber annähernd gleich bleiben sollen, ist nach dem ersten Erstaunen, ungläubigem Widerstand ob der Spielbarkeit oder ratlosem Erschrecken ein einfaches Experiment gestartet. Das Spiel kann nun nur mithilfe der Imagination aller Spieler zum Leben erweckt werden. Beobachtet man den Spielprozess, sieht man, dass die Akteure sich während des Vorgangs etwas vorstellen, Einbildungskraft mit im Spiel ist, die für den herkömmlichen Weg des Spiels nicht notwendig erscheint. Eine andere Art der Spieler, im Spiel präsent zu sein, wird im Vergleich mit der ›sicheren‹ Spielvariante offenbar. In diesem vergleichsweise einfachen Experiment kann auf konkrete Erfahrungen aus der ursprünglichen Spielsituation zurückgegriffen werden. Das Spiel wird nur in einer Variation der Rahmenbedingungen wiederholt und doch lässt sich das Ausmaß der konstitutiven Veränderungen von Spiel zu Experiment erahnen. Von Beginn an ist jeder neue Schritt ein Wagnis. Es fehlt die zentrale Instanz für einen ordentlich geregelten Spielverlauf. Die Aufmerksamkeit der Spieler wird von einem einzelnen Gegenüber weg, hin auf die Anderen und den ganzen Raum gelenkt und damit eine andere Spielspannung erzeugt. Gemeinsam müssen sie stillschweigend entscheiden, wann ein nun unsichtbares Ereignis, das Umdrehen eines vorgestellten Ochsen, eintritt, und gleichzeitig darauf reagieren. In dieser Spielform sind Sensibilität, Risikobereitschaft und Verantwortungsbewusstsein für die Gruppe in einer anderen Ausprägung erforderlich, um ein nun offeneres game in ein spannungsreiches play zu verwandeln. Was entlang des Beispiels herausgestrichen wurde, ist die im ästhetischen Experiment notwendige Potenzierung von Fantasie und Einbildungskraft mittels der Imagination.23 Ein Spiel kann ohne den unmittelbaren Einsatz dieser Kräfte vollzogen werden und dabei spannend,

23 | In einer verkürzten, provisorischen Unterscheidung wird hier Fantasie als jene Fähigkeit verstanden, bei der durch das Spiel der Einbildungskraft mögliche Vorstellungen generiert werden, die in der virtuellen Verknüpfung sinnlich konkreter Erscheinungen entstehen. Die Imagination geht insofern darüber hinaus, als hier das Spiel mit inneren Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht mehr nur auf der Basis vorangegangener Sinneswahrnehmung erzeugt wird, sondern die Imagination als Spiel mit einer nicht mehr fassbaren materiellen Basis über die Fantasietätigkeit hinausweist.

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lustvoll und grenzüberschreitend werden. Für ein ästhetisches Experiment hingegen ist das Spiel der Imagination unverzichtbar. Die im Begriff des ästhetischen Experiments aufgehobene Forderung nach einer ergebnisoffenen Versuchsanordnung darf und kann allerdings nicht einfach als ein ungesteuertes und von allen Intentionen freies Geschehen glorifiziert werden. Ihm aber »künstlerisch ambitionierte Demagogie« und »Gewaltausübung« (vgl. Nelle 2004; 226f.) zu unterstellen erscheint abwegig, denn selbstverständlich ist das Spiel durch die von außen, also dem Experimentator oder Regisseur, gesetzten Rahmen und Regelvereinbarungen kein  von jeglichem Zusammenhang freigesetzter Raum. Setzt man in dem Zitat von Scheuerl den Begriff des Experimentators mit jenem des Theaterpädagogen gleich, wird seine Funktion innerhalb einer Spielgruppe deutlich: »Der  Experimentator stellt eine in sich geschlossene Situation her, gibt einen Anstoß und beschränkt sich dann auf die reine Beobachtung eines selbständig ablaufenden Geschehens. Hierin ist das Experimentieren dem Spiel-Betreiben so nahe verwandt, dass ihm zum vollen Spielen nur noch die ›innere Unendlichkeit‹ fehlt. Diese kann aber leicht entstehen: Ist nämlich das Versuchsgeschehen einmal geglückt, so kann die Tatsache dieses Glückes weit mehr faszinieren als das sachliche Ergebnis selbst. Um dieser Faszination willen knüpft man den Anfang des Experiments erneut an sein Ende und wird damit zugleich im vollen Sinne vom Experimentator zum Spieler« (Scheuerl 1990; Band 1; 196). Versteht man die geschlossene Situation als die Notwendigkeit, einen Rahmen zu etablieren, der als logisches Paradox Spielen erst ermöglicht, und expliziert den Anstoß zum Spiel als Setzung von Regeln, hat man zwei wesentliche Dominanten der Regiepraxis benannt. Das Potenzial des Experiments liegt nicht in einem vermeintlich ahistorischen Vakuum, sondern darin, innovative Spielweisen und Verfahren in der explorierenden Kombination und Verknüpfung bestimmter künstlerischer Materialien zu gewinnen. Dies ist nur der Fall, wenn allzu vertraute Spielverfahren verändert, umgekehrt, verworfen werden, sodass alle Beteiligten ein unbestelltes Feld betreten. Ansonsten wäre es im besten Fall eine ›Übung‹, aber kein Experiment. Ergebnisoffen ist es im Hinblick auf das Spiel, welches sich innerhalb des von außen abgesteckten Experimentierfelds ereignet. Es ermöglicht eine Suche nach den Momenten, in welchen dieses Spiel auf besondere, intensivierte Art sinnfällig und sinnstörend wird, etwas Neues zur Anschauung drängt oder plötzlich zeichenhaft sichtbar wird. Das ästhetische Experiment ist ein suchendes Spiel, innerhalb dessen der Suchprozess als solcher auf dem Spiel steht und durch das Spiel hindurch in eigenen, unkontrollierbaren Bahnen verläuft. Wie im Spiel muss aber ein Eingreifen in das Experiment zu jedem Zeitpunkt möglich bleiben. Der Prozess darf sich nicht so weit verselbstständigen, dass keine Veränderung, Anpassung und Verschiebung von Rahmen und Regeln mehr möglich ist. Das heißt, »der Charakter des Spiels muss für den anderen transparent bleiben, es darf und muss auch

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abgebrochen werden können, sonst wäre das Spiel kein Spiel mehr« (Belgrad 1992; 215). Verändernde Eingaben folgen dabei der Absicht einer Inszenierung von suchender Intensität (Otto), laufen aber immer Gefahr, im falschen Moment eine unglückliche Spur zu legen und damit (vorübergehend) zu scheitern.24 Experimentelle Haltung. Dessen ungeachtet ist im pädagogischen Prozess eine experimentelle Haltung des Spielleiters ausschlaggebend, die es ihm erlaubt, zugleich innerhalb und außerhalb des Geschehens teilzuhaben. Maria Peters hält für eine solche Haltung fest: »In einer experimentellen Haltung richtet sich das Augenmerk auf das ›Wie‹ der Wahrnehmung, auf die Verfahrensweisen und auf das Entstehen von Ordnung und Struktur. [...] In einer experimentellen Haltung sich selbst und die anderen zu erforschen, bedeutet zwar, in Möglichkeitswelten einzutreten, aber nicht um die Realität durch das Experiment zu vergessen, sondern um im Experiment mit dem Gegebenen umzugehen und das Festgefahrene weiterzutreiben« (Peters, zit.n. Kämpf-Jansen 2000; 148). Die experimentelle Basis ist somit im Unterschied zum naturwissenschaftlichen Äquivalent von der Aufforderung begleitet, während des Suchverlaufs jederzeit veränderte Rahmenbedingungen einzusetzen und neue Suchbewegungen anzuregen. Dieser offene Charakter verbietet den Rückzug in eine sture Beobachterposition ebenso wie blinden Aktionismus. Er verlangt eine experimentelle Haltung gerade auch gegenüber dem pädagogischen Geschehen und erfordert eine wache, aktive Teilnahme, die situativ und flexibel den Prozess begleitet. Unter diesen Umständen bedeutet die Einnahme einer experimentellen Haltung »für alle am pädagogischen Geschehen Beteiligten, im Üben eigener Blickwechsel ein selbst erlebtes Risiko zu provozieren und auszuhalten. In der Inszenierung eines regelhaften Rahmens macht der Lehrende eine Vorgabe, die sich im tatsächlichen Geschehen wieder zur Disposition stellt, da der Verlauf und das Ergebnis des Experiments nicht vorhersehbar sind. Die Haltung des Lehrers und der Lehrerin darf nicht nur von Empathie getragen sein, sondern muss aus eigener Anschauung ahnen, was sich abspielen könnte. Die Lehrperson inszeniert und provoziert Sichtweisen – sie ›führt‹ und ›verführt‹ und wird ›verführt‹ –, indem sie sich auch selbst als agierendes und reagierendes Subjekt erlebt. [...] Für die Lehrenden wie die Lernenden können sich im Experiment Vorurteile und herrschende Machtstrukturen auflösen und neue Erfahrungsgehalte und Einsichten einspielen, ohne dass sie sich sofort in den Boden einer rationalen Ordnung einnisten müssen. Zwischen alten und neuen Ordnungen, einem ›Nicht-mehr‹ und einem ›Noch-nicht‹ entsteht im Experi24 | Als pädagogische Implikation verzeichnet Scheuerl das Experiment mit der Möglichkeit des Scheiterns: »Auch wenn das Experimentieren missglückt und das Spiel aus dem Gleichgewicht bringt, lernt man doch etwas dabei: Man lernt zumindest seine eigenen Grenzen kennen. Aber das wäre bereits ein Erfolg, der pädagogisch nicht bedeutungslos ist« (ebd.; 197).

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ment ein Spielraum vielfältiger Sinnmöglichkeiten, in dem im Vorwege noch nicht auszumachen ist, welche Richtung für den nächsten Schritt zu bevorzugen ist« (ebd.). Für die Interventionen ist entscheidend, dass der Theaterpädagoge selbst in einer Schwebe zwischen einfühlender und distanzierender Teilnahme bleibt, um sowohl Anteil zu nehmen als auch den Fortgang des Experiments durch seine Entscheidungen auf der Schwelle zwischen innen und außen zu verantworten. Sein Interesse für die Sache wie für die Spieler steuert die experimentelle Haltung, beide sind Teil seines Spielmaterials, an beiden entlang tastet er sich vorwärts. Seine Person geht insofern in das risikobehaftete, selbstüberschreitende Geschehen mit ein, als sie sich an diesen beiden Parametern ausrichtet, ihr Hin und Her zu befördern sucht und darüber Teil des Bewegungsgeschehens wird. Ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung und eine ausgeprägte Selbstreflexion im und über den Prozess des ästhetischen Experiments sind dazu ausschlaggebend und für die Qualität des eigenen Handelns unabdingbar. Das Experimentieren des Spielleiters mit Spielmöglichkeiten weist über das einzelne in sich geschlossene Spiel hinaus und zirkuliert in einem Hin und Her von Fragen und Spielen, in der fortschreitenden Entwicklung veränderter Versuchsanordnungen. Als Ausgangspunkt für jede weitere Befragung der im experimentellen Spiel auftauchenden Erscheinungen und Gestalten schafft der Versuchsleiter neue Rahmenbedingungen, die an vergangene Spielereignisse anknüpfen und sie weiterführen können, sodass ästhetische in künstlerische Prozesse umschlagen. Begreift der Spielleiter sich selbst als Teil dessen, sind seine Interventionen in das Spiel experimentelle Versuche und Strategien im Umgang mit Rahmenbedingungen und Regeln. Er kann mit dem Wechsel von Nicht-Spiel zu Spiel jonglieren und ein Spiel in ein anderes umschlagen lassen. Sein Ort ist auf der Schwelle des Spiels, die ihn in das Geschehen hineinnimmt und unvorhersehbare Spielzüge produziert. Zugleich ist er immer wieder das Bindeglied zur sozialen Wirklichkeit außerhalb des Spiels und leitet und organisiert Proben auf dem Weg zu einer Inszenierung.

2.3 Material der Kunst Für eine allgemeine Kennzeichnung von Spiel reicht dessen Strukturbestimmung durch besondere Rahmen und Regeln und die zwischen ludus und paida verlaufenden Spieltypologien aus. Kunst, im Vergleich, findet erst durch Spiele der Imagination statt, die auf die ihnen eingeschriebenen besonderen Wahrnehmungs- und Sinn(de)konstruktionen verweisen, sie vermitteln. Ihrem Wesen nach unterscheiden sich Kunstdisziplinen anhand des Materials, durch das etwas dargestellt wird. Das »konstitutive Material einer Kunstart ist Voraussetzung, ohne die es kein Werk dieser Kunst geben kann – sein Gebrauch ist für diese Kunst eine Conditio sine qua non« (Seel 2000; 173, Hervorhebung im Original). Wie sich Kunstwerke präsentieren, hängt von der Organisation dieses Materials ab sowie von den dahinter verborgenen

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operativen Vorgängen und Verfahren, mit denen im spezifischen Material einer Kunstgattung umgegangen wird. Material steht in diesem Kontext »für das, was bearbeitet bzw. womit gearbeitet werden muss, damit von Kunst einer bestimmten Gattung gesprochen werden kann« (ebd.). Darüber hinaus zeichnet die Art des Umgangs mit dem Material eine Kunstgattung als solche aus. So ist beispielsweise die Sprache ein Material, welches sowohl in der Literatur als auch im Theater verwendet wird, beide Künste operieren jedoch auf verschiedene Weisen damit und bringen dadurch das gleiche Material unterschiedlich zum Ausdruck. Dieses einer Kunstgattung eigene Operieren am Material kann als deren spezifische Verfahrensweise bezeichnet werden. Künstlerische Praxis lässt sich folglich nur anhand der Beobachtung und Beschreibung solcher Operationen am je konkreten Material verfolgen. Diese folgen keinen normativen Gesetzen, sie verändern sich in Abhängigkeit von historischen, gesellschaftlichen und sozialen Kontexten. Die Aktualität und Sprengkraft künstlerischer Gestaltung sind nicht zuletzt dort auszumachen, wo innovative und grenzüberschreitende Verfahren zur Anwendung kommen.25 Durch die Art der Operationen bilden sich Darstellungsstile heraus, die konventionelle Praxis und Poiesis differenzieren oder sprengen können, selbst wiederum konventionalisiert werden und nur in neuartigen Verknüpfungen einen anderen Ausdruck entfalten, Wahrnehmung und Be-Deutungsproduktion anders umspielen. Wenn in einer Kunst spielen lernen dem Erwerb einer Fremdsprache ähnlich ist, markiert der einem permanenten Wandel unterworfene Stil das lebendige System der Sprache. Eine Fremdsprache vermitteln meint dann, die Operationen dieser Sprache so verständlich zu machen, dass sie in der Kommunikation beweglich und veränderbar bleiben, keine starren Gebilde darstellen, sondern aktualisiert werden können und nach Aktualisierung drängen. Ästhetische Operationen und Mentalitäten. Für die Kunstpädagogik hat Maset den Verwendungszusammenhang von ästhetischen Operationen in einen Zusammenhang mit künstlerischen Verfahrensweisen gestellt. Er wendet sich dabei »gegen jede technisch verstandene Operationalisierung«, die wohlproportionierte Vermittlungsschritte begünstigt, und 25 | Ein typisches Beispiel ist nach wie vor die Performancekunst, die ihren Beginn in der bildenden Kunst genommen hat und mit einer zeitbasierten, an den Körper gebundenen Aufführungsebene den gattungsspezifischen Kontext erweitert hat. Die theatralen und musikalischen Performances überschneiden sich mehr und mehr, sodass ein ›Austausch‹ von Operationen und Materialien zeitgenössische Kunstpraxis kennzeichnet. Der in den Künsten erstarkende Versuch, transdisziplinär zu arbeiten, findet in solchen Prozessen Ausdruck. Daneben werden aber in den einzelnen Genres spezifische Verfahrensweisen weiter gepflegt und – auch unter den transdisziplinären Einflüssen – vorangetrieben, sodass nach wie vor eine Trennung der künstlerischen Disziplinen auszumachen ist, wenn auch mit immer stärker verschwimmenden Rändern.

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sucht stattdessen »das Kunsthafte von Vermittlung als Vermittlung« (vgl. Maset 2005; 13f.). Die von ihm gemeinten Operationen orientieren sich zwar an den Verfahrensweisen, »die in angewandten ästhetischen Disziplinen bzw. ästhetischen Alltagspraxen« beobachtbar sind, gehen über diese »jedoch insofern hinaus, als sie eine Ebene – die sowohl das Konzept als auch die Ausführung bzw. beides betreffen kann – entweder hinzufügen oder auslassen« (vgl. ebd.; 15). Das heißt, sie kopieren vorgefundene Verfahrensweisen nicht, sondern nutzen sie in einer verwandelten Form, sodass sie den Vermittlungsprozess in andere Richtungen führen und entführen können. Anstelle nachgeahmter Verfahrensweisen rückt die offene Suche, ausgelöst über Verfahrensimpulse, ins Zentrum einer künstlerischen Vermittlungspraxis. Maset geht davon aus, dass in der Praxis einzelner Künstler erkennbare operative Schemata vorliegen, die einer spezifischen künstlerischen oder ästhetischen Arbeitsweise entsprechen. Dabei handelt es sich bei einer ästhetischen Operation »nicht nur um eine Methode, sondern sie besteht aus einem Bündel von Methoden, Verfahren und Techniken« (ebd.; 16). In dieser verbinden sich eine Praxis und eine »Mentalität«, die erst die Qualität künstlerischen – und kunstvermittelnden – Handelns auszeichnet. »Ein guter und zeitgenössischer Kunstunterricht«, so die gedankliche Konsequenz, »wird weder allein anhand der Aufgaben, die gestellt werden, noch anhand der genutzten Materialien und Methoden bestimmt. Er beweist sich an etwas, das weder exakt messbar noch materiell darstellbar ist: an der Mentalität, in der das Unterrichtsgeschehen sich ereignet. Sie entscheidet über eine lebendige oder abgestumpfte Praxis, und es ist dabei immer der ›Geist‹, der entweder zum Leben erweckt oder abgetötet wird. Die Entwicklung einer Mentalität des Ästhetischen kann sich keineswegs nur am so genannten ›Machbaren‹ orientieren, vielmehr muss man das Unmögliche wollen. Mindestens« (Maset 2002; 8). In Vermittlungskontexten ist der Einsatz ästhetischer Operationen nur insofern sinnvoll, als neben einer technischen Komponente, die einzelne Verfahrensaspekte ansichtig macht, eine Verbindung zur Mentalität, die dieser Arbeitsweise zugrunde liegt, hergestellt wird. In der Anlehnung an Praxen der Kunst geht es nach Maset also im Grunde »um das operative Schema einer künstlerischen bzw. ästhetischen Arbeitsweise« und die »mentale Disposition, die zu dieser Arbeitsweise geführt hat« (vgl. Maset 2005; 16). Im Fazit führt dies zu einer fragenden Beobachtung von (fremder) künstlerischer Praxis, denn »bei der Ästhetischen Operation geht es grundsätzlich um die Fragestellung: Welche Mentalität steckt hinter welcher Arbeitsweise? Deshalb ist eine Operation mehr als eine Unterrichtsmethode« (ebd.; 17). In der Analyse von fremden künstlerischen Praxen ist entsprechend neben der Beschreibung von Handlungen ausschlaggebend, die korrespondierenden Haltungen zur jeweiligen Praxis als sinnstiftenden Kontext von ästhetischen Operationen herauszustellen.

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Generative Prozesse. Wie man das Sprechen einer Sprache nur sprechend erlernen kann, sind auch die Operationen am Material nur als »Präsens« denkbar, im Tun und Verweilen innerhalb der Praxis (vgl. Seel 1996; 143). Am Beispiel der Literatur skizziert Seel den Vorgang aus der Perspektive des Autors: Die Bewegung seines Schreibens besteht darin, das, was er schreibt, in eine bestimmte syntaktische und semantische Bewegung zu bringen. Diese Bewegung lässt er entstehen, indem er dem hierbei Entstehenden zu folgen versucht (vgl. ebd.; 144). Erst dieses subjektüberschreitende, absichtslose Tun ermöglicht dem Autor das Finden und Erfinden einer Sprachlichkeit, die von alltäglicher Textpraxis abweicht, über sie hinausgeht: »Ausgehend von der gegebenen Sprache verfasst er ein Stück Sprache, schreibt er einen Text, der um dieser seiner Sprache willen da ist [...]« (ebd.). Sprache zeigt dann ein anderes Gesicht, das durch einen nicht alltäglichen Umgang mit ihr zum Vorschein kommt, obwohl Wörter, Silben und grammatikalische Strukturen aus dem gleichen Material sind. Die Sprachregelungen und die Sprachspiele, die den alltäglichen Umgang damit strukturieren, werden in der künstlerischen Praxis außer Kraft gesetzt, es beginnt also »ein Spiel mit dem Spiel namens Sprache, ein Meta-Spiel, bei dem die Spielregeln selbst in Spielmaterialien verwandelt werden« (Schmitz-Emans 2002; 193). Es ist entsprechend nicht nur das symbolisch aufgeladene Material, das in künstlerischen Operationen experimentellen Verfahren unterzogen wird, sondern alle in der sozialen Wirklichkeit etablierten Verwendungsweisen des Materials gehen in den Herstellungsprozess als Spielquellen ein. Die Bedeutungskomplexität, die künstlerische Praxis kennzeichnet, hat ihren Ursprung in dieser Verschiebung vertrauter Spielregeln im Umgang mit einem Material hin auf eine andere, vielschichtigere Ebene, die weniger determiniert und zugleich von reichhaltigem Assoziationspotenzial durchdrungen ist. Um Bedeutungsverschiebungen zu generieren, muss der Künstler innerhalb von Herstellungspraxen eine hierarchiefreie Beziehung zu seinem Material aufnehmen, er kann es weder unter seine Absichten beugen noch dessen Produktivkraft operational erzwingen. Hervorbringung und Zeichenqualität, performative und semiotische Prozesse ereignen sich simultan. Das Spiel mit dem Material gelingt nur in der Art und Weise, wie der Künstler sich für das Andere öffnet und das Material vorübergehend von bekannten Be-Deutungen entlastet. Die spielerische Interaktion, das Operieren am Material aus einer bestimmten Haltung und Mentalität heraus, der es um dieses Operieren selbst geht, setzt eine Suche in Gang, in der mit möglichen Wahrnehmungen und potenziellem Sinn gespielt und beides wieder verworfen werden kann. Betrachtet man die Textualität solcher Prozesse, wird im ästhetischen Experiment mit der Diffusion geltender semantischer und syntaktischer Regeln gespielt. Gängige Bedeutungen und Verkettungen werden infrage gestellt, das bestehende Vokabular und die grammatikalischen Ordnungen neu verhandelt. Das Experimentieren und Operieren regt neue Erfahrensweisen an, die, vom Spiel der Imagination getragen, eine neue

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Sprachlichkeit generieren können. Bei Seel ist dieser Vorgang in dem Gedanken enthalten, dass der Autor versucht, dem entstehenden Text zu folgen. Barthes beschreibt das Verhältnis als eine grundlegend spielerische Praxis. Im Hinblick auf den ›Spracherwerb‹ können daraus zwei aufeinanderfolgende Ableitungen vorgenommen werden: Jedes Material einer Kunst kann durch das Spiel mit seinem Material- und Symbolwert, analog zu der ästhetischen-künstlerischen Praxis mit Text bzw. Sprache, in einem generativen Prozess andere Erzeugungs- und Anschauungsstrategien auslösen. Der Gewinn liegt dabei nicht allein in der Exploration einer Zweitsprache, sondern involviert den Spieler derart, dass er selbst durch das Experimentieren zum experimentellen Bestandteil wird, er sich anders darstellt und erzeugt.

2.4 Zwischenstopp Der potenzielle Raum des Spiels wird in ästhetischer Praxis durch das experimentelle Zusammentreffen von Material und Verfahren, Rahmen und Regeln, Spieler und Spielleitung konstituiert. In ihrer »wechselseitige(n) Wechselwirkung« (Lehnerer) können die einzelnen Faktoren jedoch nicht losgelöst betrachtet werden. Ausschlaggebend ist das Spiel entlang der Schnittstellen und Zwischenräume, die in der Interaktion eröffnet werden und in denen Beziehungen zueinander neu verhandelt werden. »Die Elemente des Spiels [...] sind zwar der objektiven Struktur nach nichts anderes als [...] Funktionszusammenhänge. Aber diese Zusammenhänge verlieren ihre bestimmende [...] Kraft dadurch, dass sie miteinander ins Spiel kommen. Denn dort, wo verschiedene Kräfte tatsächlich miteinander spielen, bestimmen und verändern sie sich wechselseitig. [...] Vom Standpunkt des Spiels [...] aus gesehen sind alle objektiven Bedingungen nichts als bloße ›Rahmenbedingungen‹« (Lehnerer 1994; 93). Vom Standpunkt des Experiments aus, so könnte man ergänzen, bedarf es aber konkreter Konstellationen und Kombinationen von Rahmenbedingungen, die eine Ausgangssituation disponieren, aus der heraus Spiel in Gang gesetzt werden kann. Diese ästhetischen Operationen sind Voraussetzungen für eine bestimmte Art von Spielen (mit Material, Regeln, Wahrnehmungsverfahren) und zielen darauf ab, Um- und Unordnungen zu erzeugen. Für die Beschreibung ästhetischer Operationen hat dies zur Konsequenz, dass, werden die  einzelnen Elemente isoliert betrachtet, sie keinen Aufschluss mehr über den Prozess der Wechselwirkungen geben, die experimentelles Spiel auszeichnen, denn im Zusammentreffen dieser Faktoren fallen Trennungsraster (Material/Verfahren/Rahmen/Regeln/ Spieler/Spielleiter) ineinander, es wird alles zum Material des Spiels, alles zur Rahmenbedingung künstlerischer Praxis. Das eigentliche Geschehen findet dazwischen statt. Durch die Wechselwirkung sind determinierende oder summarische Aussagen über die genauen Wirkungsmechanismen einzelner Bestandteile des Spiels ohne Aussagekraft für eine theaterpädagogische Didaktik. In der Folge kann es auch keine »Methode« im Sinne

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einer technischen Handlungsanleitung geben. Möglich bleibt allein die rückwirkende Beschreibung von Vorgehensweisen beispielhafter Praxis, von Ähnlichkeiten oder Differenzen und deren Verknüpfung mit didaktischer Fantasie. Da in den Operationen der Kunstpraxis der Künstler gleichzeitig selbst Teil des Materials wird und in das Kräftespiel des Hin und Her eingeht, sind ästhetische Operationen nur in der Verbindung mit den ihnen eingeschriebenen Mentalitäten aufschlussreich. In den Rückkoppelungsprozessen zwischen Handlungen und Haltungen erschließt sich das gesuchte Hin und Her: »Ausdenken und Ausführen sind dabei nicht getrennt, Handlungen und Denken greifen ineinander« (Biehler 2008; 99). Um Auffälligkeiten in den Arbeitsweisen von Regisseuren gewinnbringend beschreiben zu können, scheint es sinnvoll, aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven Blicke auf Spielvorgänge in Probenprozessen zu werfen. Zugleich bedarf es einer Systematik, die erkennbare Orientierungsziele setzt und eine vergleichende Analyse erlaubt. Dies bedingt eine Auswahl und Hervorhebung einzelner Aspekte, die Spielstrategien und Prozesse des Produzierens indizieren. Nachfolgend steht die Frage, wie Theater eigentlich ins Spiel gebracht werden kann, im Mittelpunkt, um Handlungsspielräume innerhalb der Regiepraxis zu konkretisieren. Ausgehend von konzeptionellen und situativen Strategien, die in ihrem Mischungsverhältnis ein Regiekonzept charakterisieren (vgl. Kapitel II.2.3), ist die Überlegung anzustellen, welche Probenvorgänge das Handeln zwischen Spieler und Regie auszeichnen. Die Entscheidung für eine Versuchsanordnung aus verschiedenen signifikanten Kategorien bleibt immer eine Konstruktion. Sie ist generell revidierbar und unausweichlich subjektiv gefärbt. Die von mir favorisierten Untersuchungsaspekte werden im Folgenden kursorisch dargelegt und strukturieren die didaktische Analyse von PraxisHaltungen (Kapitel V).

3 THE ATER 26 INS S PIEL BRINGEN Die dem Theater eigene Verschränkung von fiktionalen und wirklichen Ereignissen27 erzeugt eine Qualität doppelter Anwesenheit aller Gescheh26 | Auf eine ausführliche Diskussion von Theaterdefinitionen wird hier bewusst verzichtet. Das Theaterverständnis ist je nach historischem, gesellschaftlichem und kulturellem Kontext neu verhandelbar. Im vorliegenden Fall wird es unter dem dargelegten Spielverständnis evaluiert und bleibt eine ›Leerstelle‹ die durch die Intentionen der Theaterpraktiker in den Probenanalysen umkreist wird. 27 | Hans-Thies Lehmann verdeutlich diese Besonderheit des Theaters im Vergleich zu einem literarischen Text plastisch: »Ein geschriebener Stuhl ist zwar ebenfalls ein materielles Zeichen, aber eben kein materieller Stuhl. Dagegen [...] ist Theater in einem Atemzug materieller Vorgang – Gehen, Stehen, Sitzen, Sprechen, Husten, Stolpern, Singen – und ›Zeichen für‹ Gehen, Stehen … usw. – Thea-

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nisse und lädt sinnliche Präsenz mit möglichen Sinnzuschreibungen auf. Gehen auf einer Bühne Spieler kreuz und quer, macht es in der Wahrnehmung dieses Vorgangs einen immensen Unterschied, ob diese Spieler nun alle junge Darsteller in Anzug und Krawatte sind oder aber ob ein alter, von körperlicher Arbeit gezeichneter Mann, eine stark übergewichtige Person, eine in schäbiger Kleidung steckende Frau mittleren Alters und ein uniformierter, bewaffneter Soldat sich kreuzen. Die Krawatte, die Körperfülle und viele andere vom Material ausgehende Bedeutungskontexte haben einen unterschiedlich starken Symbolgehalt, der von Zuschauer zu Zuschauer variieren kann. Manche Zeichen können problemlos ausgetauscht und ersetzt werden, zum Beispiel die schäbige Kleidung durch einen schicken Trainingsanzug, andere bleiben dem Material eingeschrieben, eine Körperfülle kann kaschiert werden, aber nicht verschwinden. Gleichzeitig macht es einen Unterschied, ob die verschiedenen Zeichenträger von gefälligen, virtuosen Darstellern verkörpert werden oder aber ihre soziale Realität in Form eines markanten Habitus mit (re)präsentieren. Zudem sind Materialwert und Symbolkraft der Darsteller (bei Weitem) nicht die einzigen objektiven Faktoren, die Theater konstituieren. Die Situation, die Handlung, der Gestus entstehen erst durch eine zeitliche Abfolge; Spannung, Präsenz und Atmosphäre sind ohne situative Bezüge kaum zu erfassen. Dramatische Konflikte, Beziehungsstrukturen, Handlungsmotive stehen Spielvereinbarungen gegenüber, die die Rahmenvereinbarung »Dies ist ein Spiel« bewusst in der Schwebe halten wollen. Auf der Suche nach Ansatzpunkten für die Beschreibung von ästhetischen Operationen lassen sich zahlreiche Analysekategorien finden und rechtfertigen. Welche Auswahl kann aber hilfreich für eine systematische Annäherung an Regiepraxen und -mentalitäten sein? Auf der materiellen Ebene kann für das Theater geltend gemacht werden, dass das Material des Schauspielers der handelnde Mensch und das »zentrale Produktionsmittel des Theaters [...] der menschliche Körper in der Komplexität seiner Ausdrucksmöglichkeiten ist, seine Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, Zeichen zu setzen, die den Spieler noch im leeren Spielraum präsent sein lassen« (Brauneck 1998; 34). Hauptbestandteile für das theatrale Spiel sind demnach der menschliche Körper mit seinem Repertoire an gestischen und sprachlichen Ausdrucksmitteln sowie seine Beziehungsfähigkeit und das Potenzial zu präsentativer Symbolbildung.28 Der Schauspieler tritt aber nicht nur mit seinen Spielpartnern und den körperlichen Ausdrucksmitteln in Beziehung, sondern ebenso mit seinen mentalen Bezügen zur Wirklichkeit. Wissen und Recherchen, Texte und soziale Kontexte können Spielimpulse setzen und die Darstellung maßgeblich beeinflussen. Neben einem engen, instrumentellen Verständnis ter findet als eine zugleich zeichenhaft und völlig reale Praxis statt« (Lehmann 1999a; 174; Hervorhebung im Original). 28 | Zur Darlegung diskursiver und präsentativer Symbolbildung vgl. Langer 1979.

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des schauspielerischen Zeichenmaterials erscheint mir daher für darstellerische Praxis ein erweiterter Materialbegriff empfehlenswert. Der Spielprozess zwischen Darsteller und Theaterpädagoge beginnt bereits in diesem erweiterten Feld und Impulse, Widerstand und Interventionen in der Probenpraxis knüpfen daran an. Vermittlungsprozesse spielen entsprechend in einem jeweils konkreten kulturellen Zusammenhang mit den ideellen, körperlichen und sozialen Kräften und Ausdrucksformen des Menschen und binden diese in die gemeinsame theatrale Praxis ein. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Zugänge zu theatralen Prozessen des Produzierens soll die PraxisHaltungen einzelner Regisseure, deren Vorgehensweisen und Mentalitäten vielfältig ausleuchten. Es werden deshalb nachfolgend Analysekriterien vorgeschlagen, die meiner Ansicht nach zentrale Schnittstellen im Probenprozess darstellen und die Interaktionen mit den Spielern sowohl innerhalb der konzeptionellen wie auch der spielpraktischen Vorgänge prägen. Leitplanken, über die Spielsituationen etabliert und Abläufe verändert werden können, geben nur Bewegungsrichtungen vor, sie sind keine exakt eingezirkelten Spielräume, die Handeln eindeutig und reproduzierbar machen. In theaterpädagogischen Kontexten ist bei jeder Intervention zudem die darin enthaltene transformierende Kraft für ein nicht Nicht-Ich relevant. Ein Indikator dafür liegt in dem Potenzial, mit dem Spielregeln und -angebote die Bewegungsdynamik des Hin und Her auslösen können. Netzwerk von Analysekategorien. Künstlerische Experimente basieren auf Vorbedingungen und Entscheidungen, die außerhalb des Spiels getroffen wurden und in den Spielprozess eingehen. Sie  konstituieren einen Probenstil, aus dem heraus Spielbewegungen entwickelt werden. Völlige Freiheit verunmöglicht Spiel unter Umständen sehr viel stärker als strenge Vorgaben, die ein hohes Reibungspotenzial für spielerische Praxis bereitstellen. Objektiv bestimmbare Rahmenbedingungen für das Experimentieren dienen also nicht nur zur Kennzeichnung »Dies ist ein Spiel (der Kunst)«, sondern organisieren Spielkontexte und geben der Suche eine eigene Struktur. Dramaturgische Entscheidungen finden unter bestimmten Voraussetzungen statt und greifen zurück auf Vorwissen und Vorannahmen, die begleitet von einer bestimmten Suche oder Frage den konzeptionellen Kontext von Probenpraxen kennzeichnen. Im Probenprozess können sie unterschiedlich dominant die Suche  bestimmen, aber auch verworfen, weiterentwickelt und verändert werden. Sie sind nicht nur  Auslöser  für Experimente, sondern werden selbst Teil dieses Experimentierens. Der Regisseur/Theaterpädagoge hat Ideen, Assoziationen, Imaginationen und den ganzen Kontext eines  Themas oder eines Ausgangspunkts als Bezugsfeld, er sucht nach Resonanzen im Material, die plötzlich und überraschend eintreten – oder auch ausbleiben können. Ohne diese Vorbereitung, ohne Prädispositionen sind kein Motor, keine Frage, keine Suche möglich. Selbst wenn der Vorsatz darin liegt, auf Vorgaben insoweit zu verzichten, als keine Frageabsicht vorangestellt wird

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und gerade der ungerichtete Suchprozess selbst dokumentiert werden soll, basiert dieses Vorgehen auf einer kenntlich gemachten Haltung.29 Andererseits kann ohne eine ausgeprägte Sensibilität für Wahrnehmungsvorgänge und aufscheinende Symbolisierungsversuche während und nach den Operationen am Material kein imaginatives Spiel erkannt, befördert und verdichtet werden. Die auf eigene und fremde Impulse gerichtete Aufmerksamkeit für Ereignisse im Prozess der Darstellung und Erzeugung von theatralen Ereignissen ist für Symbolisierungen und szenische Gestaltung zentral. Für die Analyse von PraxisHaltungen werden die experimentellen Findungs- und Erfindungsprozesse unterteilt in Operationen und Mentalitäten an der Schnittstelle von Nicht-Spiel und Spiel (Kapitel IV.3.1) und Beschreibungen, die den Wechsel, Übergänge und Brüche von Spiel zu Spiel markieren (Kapitel IV.3.2). Beiden Bereichen werden jeweils drei Kategorien zugeordnet, die im Vorfeld kriterienrelevant beschrieben werden. Sie gliedern die Praxis auf beiden Seiten nach schematischen Gesichtspunkten, nach denen Interaktionen zwischen Regie und Spieler rubriziert werden können. Im Verlauf des Kapitels werden folgende Kategorien herausgearbeietet und unterschieden, die ich hier nur kurz und pointiert benenne. Die inhaltlichen Leitplanken für die didaktische Analyse von PraxisHaltungen zwischen Nicht-Spiel und Spiel orientieren sich an konzeptioneller Praxis und spielbegleitenden Prozessen. Die drei Kategorien in diesem Feld sind: 1. Rahmen: die äußeren Umrandungen der Spielsituation, die den Umgang mit verschiedenen Wirklichkeiten kennzeichnen 2. Kontexte: Bezüge zu einer dem Spiel vorgelagerten Wirklichkeit und assoziiertes Quellenmaterial, das Eingang in die Praxis findet 3. Konstruktion: Vorstellungen und Konstruktionsideen für Darstellung und darstellerisches Handeln, aus denen eine bestimmte Zeichen- und Figurenwelt entwickelt wird Verfahrensweisen zwischen Spiel und Spiel werden stärker an körperlichen, sprachlichen und imaginativen Prozessen deutlich. Hier realisieren sich Erzeugungs- und Verkörperungsstrategien innerhalb der szenischen Praxis. Als Leitplanken zwischen Spiel und Spiel dienen der Untersuchung folgende Kategorien: 1. Spiele um Körper: welcher Umgang mit dem Körper die Proben begleitet und wie körperliche Vorgänge in szenische Praxis übersetzt werden 2. Spiele um Sprache: wie sprachliche Mittel in Probenprozessen angelegt, angeregt und ausgeprägt werden und wie sie ineinandergreifen 29 | Sehr anschaulich und differenziert lässt sich das in der Arbeit »Inszenierung der Suche« von Andrea Sabisch nachvollziehen (vgl. Sabisch 2007).

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3. Spiele um Imagination: durch welche Spielarten der Imagination Darstellung befördert wird und welche Verfahrensmuster darin sichtbar werden Die von mir herausgehobenen Aspekte bilden in Probenprozessen ein Flechtwerk und werden für die Zugänge zur Dramaturgie des Probens operativ voneinander separiert. Aus diesem Grund ist damit zu rechnen, dass Interferenzen spürbar bleiben, die den Akt einer willkürlichen Trennung unterlaufen. Wird in der Analyse eine Leitplanke in den Vordergrund gestellt, werden Aspekte aus anderen Feldern kaleidoskopartig auf diese abfärben. Ebenso ist zu bedenken, dass auf gleiche Praxismomente in unterschiedlichen Kategorien jeweils ein anderes Licht fallen kann, sodass andere Verknüpfungen und Interpretationen nahe liegen (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1 Alles miteinander bildet ein rhizomartiges Netz, das von den besonderen Verknüpfungen der Teilbereiche lebt. Die benannten Knotenpunkte stellen Auffälligkeiten dar, zeigen aber nur mögliche Schaltstellen des Rhizoms. Andere tragfähige Netze und Vernetzungen werden in ihrer Eigendynamik andersartige Rhizome ausbilden und sichtbar machen (vgl. Abbildung 2). Das Netzwerk in Bewegung zu halten, neu zu verschalten und vielfältig in eine experimentelle Anwendung zu bringen ist Teil der Praxis. Das Reflektieren darüber Teil der Didaktik. Das reizvollste, fruchtbarste und zugleich sperrigste Material sind aber die jeweiligen Spieler, die als Gruppe von Individuen das heterogene Andere der Kunstform Theater ausmachen. Die einem Ensemble und dem Einzelnen gegenüber eingenommene(n) Haltung(en), das Selbstverständnis des Zusammenspiels aller machen die theatrale Ensemblekunst auf besondere Art aus. Dieses Feld wird unter dem Stichwort »Regie als Spiel« (Kapitel IV.3.3) angelegt. Dort interessieren Haltungen der Spielleiter in Bezug auf ihre Darsteller und die Art des dialogischen Umgangs miteinander. Mentalitäten, aus denen heraus der Dialog zwischen Regie und Ensemble als Spiel betrieben wird, können in diesen Reflexionen eventuell Vermittlungsweisen anders erkennbar werden. Jedes Experiment macht eine konkrete Ausgangslage notwendig. Nachfolgend werden die Prädispositionen zu den aufgestellten Analysekategorien vorgestellt.

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Abbildung 2 Diese zielen darauf ab, die hier nur kurz und prägnant benannten Kategorien in eine Landkarte zu überführen, die in der Beschreibung konkreter PraxisHaltungen kriterienorientiert angewendet werden kann.

3.1 Zwischen Spiel und Nicht-Spiel Die Kopräsenz von Theaterpädagoge und Spielern markiert den primären Rahmen einer Probenpraxis. Der Theaterpädagoge ist dafür verantwortlich, dass das Spiel nicht nur Spiel bleibt, sondern Theater wird. Er greift unaufgefordert in das Spiel ein, setzt Impulse, interveniert und interagiert (vgl. Kapitel III.2). Damit ist er im doppelten Sinne Mit-Spieler der Darsteller: Er spielt mit den im Spiel dargebotenen theatralen Ausdrucksformen im Sinne der Betrachtung eines ästhetischen Geschehens. Gleichzeitig spielt er mit den Spielern ein Spiel um die Hervorbringung genau solcher ästhetischer Ereignisse, indem er über sein Vorschlagen, Eingreifen und Verändern Teil des Spiels wird. Er hat die Verantwortung und Macht, durch die Art seiner Teilhabe am Spiel vorgestellte Situationen in Handeln zu transformieren und vorgestelltes Handeln an Situationen zu binden, in künstlerischen Ereignissen sichtbar werden zu lassen. In den durch seine Interventionen ermöglichten Wechselwirkungen zwischen den Spielern und den gemeinsam generierten Verfahrensweisen kann die Qualität transformatorischer Bildungsprozesse manifest werden. Denken, Handeln und habituelle Verhaltensmuster aus der alltäglichen Wirklichkeit gehen in diese Spiele ein. In einer einseitigen Illustration der körpergebundenen Zeichengenese im Theaterspiel geraten die

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sozialen und insbesondere die mentalen Gesichtspunkte theatraler Praxis in der Beschreibung und Kennzeichnung der Ausgangslage schnell in den Hintergrund. Theaterarbeit umfasst aber nicht nur für den Theaterpädagogen gedankliche Auseinandersetzung mit dem Spiel, sondern muss auch die Darsteller in Spiel- und Denkprozesse involvieren. In den Denkspielen und dem spielenden Denken konvergieren soziale und ästhetische Wirklichkeit. Welche wechselseitigen Bezugsrahmen können dafür motivierend wirken und Impulse für beides, das Denken und das Spielen, setzen? Verknüpft man Erfahrungsfelder von Nicht-Spiel mit dem Spiel wird deutlich, dass selbst eine spontan entwickelte Improvisation nur anscheinend aus dem Nichts heraus entsteht. Wenn ein Junge einen Indianerhäuptling spielt, stellt er uns seine Bezugnahme auf eine vorgeordnete Welt der Indianer zwar nicht explizit vor, er präsentiert aber eine Synthese daraus in seinem Spiel. Sein Begehren, mentale Bilder bzw. Vorstellungen auszudrücken, der Wunsch, ein Anderer zu werden, paaren sich mit Informationen und Eindrücken, die er aus der Begegnung und Beschäftigung mit Büchern oder Filmen haben mag, aus denen sich seine Fantasie über die Indianer speist. Diese zeitlich vorgeordneten Welten können fiktionaler oder dokumentarischer Natur sein, sie bewirken weder einen Abbildungsanspruch noch eine Aussageabsicht über die Realität der Indianer, sondern eine komplexere, von eigener Fantasie durchdrungene Bezugnahme auf diese Welt (vgl. Wulf 2005; 16f.). Kennt man diese Quellen, kann man Anderes in seiner Darstellung entdecken als ein naiver, uneingeweihter Betrachter. Der Einblick in Kontexte macht Praxis auf eine andere Art evident, lässt Spiel- und Probenkonzepte transparenter erscheinen. Gleichzeitig können die Wechselverhältnisse von Nicht-Spiel und Spiel zeigen, wie Spielimpulse vorbereitet und gedanklich durchdrungen werden können. Entlang der Parameter Rahmen, Kontexte und Konstruktion theatraler Praxis werden nachfolgend Kriterien dargelegt, die Produktionsprozesse konzeptionell begleiten und an der Schnittstelle von Nicht-Spiel und Spiel liegen. In allen drei Untersuchungskategorien wird das Spiel um theatrale Ereignisse vorbereitet. Sie können sowohl Einstiege ins Spiel darstellen, Darstellungsanliegen reflexiv aufgreifen oder selbst spielerischen Charakter annehmen. Als spielgenerierende Faktoren stehen sie zueinander in einem Wechselverhältnis, sodass die hier vorgenommene Unterteilung ein artifizieller, der analytischen Orientierung geschuldeter Akt ist.

3.1.1 Rahmen Reinhold Görling schreibt dem Rahmen die Funktion zu, ein Ereignis vom Alltag abzugrenzen und dadurch eine neue, eigene Ordnung der Anwesenheit von Interaktionspartnern herzustellen. Er bezeichnet diese Rahmungen in Anlehnung an Foucault als Heterotopien. Diese »stellen die Ordnung in Frage, weil sie Gegensätze, binäre Schemata unterlaufen: An- und Abwesenheit, Unmittelbarkeit und Reflexion, Innen und Außen,

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Vergangenheit und Gegenwart« (Görling 1998; 50). Die Akteure befinden sich somit in Räumen, die als Zwischenräume komponiert sind und als Bühne für die Interaktion fungieren. Das Theater ist in vielen Fällen sichtbar eine solche Heterotopie. Proben im Sinne ästhetischer Experimente sind zwangsläufig darauf angewiesen. Wo aber beginnt eine Heterotopie, die Ordnungen infrage stellt? Für Erving Goffman ist der Rahmen in erster Linie ein Interpretationsschema, das die ansonsten sinnlosen Ereignisse zu etwas Sinnvollem machen (vgl. Goffman 1980; 31). Um Ereignisse als Handlungen verstehbar zu machen, werden seiner Interpretation nach in sozialen Situationen in der Regel mehrere Rahmen übereinandergelegt und kommen gleichzeitig zur Anwendung (vgl. ebd.; 32ff.). Auf die Proben übertragen können auch dort vielfältige Rahmen die Situation bestimmen, der Rahmen ›Dies ist ein Spiel‹ ist nur einer davon. Heterotop wird die Situation, wenn die Kennzeichnung ›Spiel‹ auf andere Rahmen trifft, Spiel und Nicht-Spiel interferieren und uneindeutig werden. Essen die Spieler beispielsweise während der Probe, kann es leicht zu solchen Konfusionen kommen, wenn der Spieler seinen Hamlet-Monolog mit vollem Mund beginnt, eine Textprobe von raschelnden Chips-Tüten begleitet ist oder Mandarinen kurzerhand zu Requisiten umfunktioniert werden. Die Irritationen des Spielrahmens können ignoriert werden, indem man einfach darüber hinwegsieht. Für Goffman stellt dies eine gängige Konvention im Alltag dar, denn »bei jeder innerhalb eines bestimmten Rahmens ablaufenden Tätigkeit findet man häufig einen weiteren Tätigkeitsverlauf, der systematisch ignoriert und als außerhalb des Rahmens befindlich behandelt (wird), als etwas völlig Unbeachtliches, dem keine Aufmerksamkeit zu widmen ist« (ebd.; 233). Parallele Tätigkeiten können aber auch Irritationen oder Komplikationen auslösen, wenn die beiläufige Behandlung von zufälligen Störungen des Rahmens infrage gestellt, wenn mit ihnen gespielt wird. Je offener der konstitutiv gesetzte Rahmen für unbeabsichtigte, abseitige Ereignisse ist, desto breiter angelegt ist der Platz für Zufälle, die in die Auseinandersetzung einbezogen werden können. Für die Analyse von Probenprozessen kann eine Beschreibung des konstitutiven Rahmens, der in der Probensituation zum Tragen kommt, Auskunft nicht nur über eine bestimmte Probenkultur geben, sondern darüber hinaus Hinweis sein auf Strategien oder bewusste Provokationen von Störungen in einer nur scheinbar stabilen Konstruktion. Der Rahmen einer Situation als instabiles Gefüge kann jederzeit einbrechen und alles infrage stellen, Spiel und Nicht-Spiel direkt oder indirekt thematisieren und neu verhandeln. Inwiefern dem Zufall darin – bewusst oder unbewusst – Platz gegeben wird, ergänzt das Spiel mit Rahmen um eine weitere Dimension. Interessant werden Rahmenrelationen, wenn sie eine Unschärfe erzeugen, wenn über die Diffusion erwarteter und gängiger Rahmengefüge hinausgegangen wird. Die von Goffman angesprochene »Verzahnung von Vorgängen« (ebd.; 274), die sich innerhalb eines Spielrahmens abspielen und deren Verhältnis zu den Rahmen der Umwelt

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und der sozialen Wirklichkeit der Spieler stehenden Ereignissen, ist für theatrale Praxis besonders relevant. Goffman hebt hervor, dass, »solange in einen Vorgang irgendwelches Material (auch Menschen) eingeht«, diese Vorgänge mit geprägt sind durch die vielfältige Weise, mit denen dieses Material in anderen Wirklichkeitskontexten verbunden ist, denen es entstammt und in die es wieder eingeht (vgl. ebd.; 321). Wie mit den persönlichen Kontexten der Spieler nicht nur im Rahmen des Spiels gehandelt, sondern Resonanz und Begleitung, Teilhabe und Teilnahme an einer gemeinsamen sozialen Wirklichkeit gesucht wird, entscheidet mit über die Dimensionen heterotoper Räume. Hier kann nicht nur das Verhältnis »zwischen Spektakulum und Spiel, zwischen sozialer und innerer Beteiligung« (ebd.; 293) aufschlussreich sein, sondern es kann auch Indizien dafür geben, welche ›Rahmenkulturen‹ Einfluss nehmen auf die Bereitschaft, erwartete oder bereits etablierte Rahmen zu überschreiten, um anderen Kulturen des Probierens Vorschub zu leisten.

3.1.2 Kontexte Die konzeptionelle Vorbereitung einer Inszenierung bildet eine Schnittstelle von allgemeinen und spezifischen Kontexten der Arbeit. Die Aufgabe, einen Hamlet zu inszenieren, bedingt andere Entscheidungen als die Vorgabe, mit einer Schulklasse von 24 Kindern in der Schulaula ein Theaterprojekt zu realisieren – obwohl auch mit 24 Schülern am Ende ein Hamlet gezeigt werden kann. Unabhängig von einer konkreten Ausgangssituation bildet die persönliche Vorliebe für bestimmte dramaturgische Erzählformen oder schauspielmethodische Ansätze die Basis für konkrete Überlegungen zur Herangehensweise. Selbst ein betont situatives Inszenierungs- und Regiekonzept verlangt eine vorbereitende und/oder begleitende konzeptionelle Praxis, die von konkreten Kontexten bestimmt ist, »denn eine Performance, ein Tanzabend, eine Theateraufführung«, so Malzacher, »ist ja keine self fulfilling prophecy. Sie steht in Kontexten, die man lesen können muss. Sie ist – wie schon immer – Teil von Diskursen, bezieht sich auf andere Arbeiten, auf Theorien, Auseinandersetzungen, Freunde, Feinde. Ohne Kontext ist ein schwarzes Quadrat nur ein schwarzes Quadrat, ein Pissoir ein Pissoir und schlechtes Schauspiel schlechtes Schauspiel« (Malzacher 2006; 20). Zu Kontexten können alle dem Spiel vorgelagerten Materialien werden, von den Biografien der Spieler über Recherche zu Phänomenen der Alltagswelt bis hin zu dramatischen Texten ist alles eine spieltaugliche Basis. Die konzeptionelle Vorbereitung verlangt nach einer Auseinandersetzung mit den gewählten oder gefundenen Kontexten, um zu eruieren, was davon wie inhaltlich ins Spiel getrieben werden soll. Starke, gehaltvolle Kontexte sind unter Umständen erst einmal ergiebiger und vielversprechender, lösen schnell mehr Reibung aus und fokussieren existenzielle menschliche Konfliktlagen. Aber auch in jedem Alltagsmaterial tauchen sie spätestens dann auf, wenn Konflikte des Banalen in ihrer Tragweite einen verborgenen Abgrund menschlicher Existenz verdichten.

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Aus der Beschäftigung mit Kontexten entsteht ein Vermittlungskonzept, das einen Zuschauerbezug herstellt. Was wie erzählt werden soll, welche Fragen die Suche antreiben und wie die dramaturgische Form aussehen könnte, sind dessen wesentliche Aspekte.30 Eine dramaturgische Vermittlung der kontextuellen und konzeptionellen Strukturen für einen Probenprozess beginnt spätestens mit dem Aufeinandertreffen des Ensembles. Die konzeptionellen Vorentscheidungen bedingen den weiteren Probenweg, sie sind als dramaturgischer Plan inhaltlich und methodisch verbunden und machen deutlich, wie die Auseinandersetzung im Spe30 | Patrice Pavis benennt für dieses dramaturgische Bindeglied zwischen Produktion und Rezeption drei wesentliche Begriffe: »Konkretisation, Fiktionalisierung und Textualisierung der Ideologie bzw. Ideologisierung des Textes« (vgl. Pavis 1988; 2; Hervorhebung im Original). Ohne seine semiotische Argumentation im Detail nachzuzeichnen, können die drei Begriffe für eine Dramaturgie der Vermittlung sehr verallgemeinernd zusammengefasst werden. Die Konkretisation bedingt einen bestimmten sozialen Kontext, auf den das Ausgangsmaterial bezogen wird und der mögliche Bedeutungen eingrenzt. »Bei der Konkretisation geht es nun nicht darum, alle Ambiguitäten aufzulösen, denn schließlich sind einige davon der Struktur nach integrale Bestandteile des Textes, auf die man bei der Rezeption nicht verzichten kann; außerdem entstehen ja beim Konkretisationsprozess selbst durch die Modifikation des sozialen Kontextes und die daraus resultierende veränderte Perspektive auf die Struktur des Werkes neue Ambiguitäten [...]« (ebd.; 34). Durch den Blick auf die in Konkretisationsprozessen erscheinende Tiefenstruktur werden ein gerichteter Diskurs und die Dynamisierung der Struktur des Ausgangsmaterials möglich. Im Wechselverhältnis von dramaturgischer und szenischer Konkretisation entsteht allmählich die konkrete Gestalt der Inszenierung. Im Prozess der Fiktionalisierung »nimmt die Fiktion Gestalt an, indem sie sich [...] realer Dinge bedient, so der Bühne und des Schauspielers« (ebd.; 55). Durch diese Bezugnahme auf Realien werden fiktionale und reale Wirklichkeit vermischt. Wie Übertragungen und Gegenüberstellungen beider Seiten sich in der szenischen Wirklichkeit konterkarieren, wird in der Zeichengebung sichtbar. Der Prozess der Suche nach diesen Zeichen verbindet entsprechend die materielle Ausdruckskraft der Darsteller auf der Bühne mit der ideellen Welt des Erzählanliegens, dem dramatischen oder stofflichen Material. Pavis versteht unter der Textualisierung der Ideologie bzw. der Ideologisierung eines Texts das »Hin und Her zwischen der Autoreferentialität (die autonome, innovative Form des Textes) und der Referenz auf den sozialen Kontext« (ebd.; 83). In diesem Prozess treffen zwei Diskursformen aufeinander und bilden einen Intertext, der eine mehr oder weniger produktive Hypothese über den Text oder Stoff darstellt. In dem Zusammentreffen werden Setzungen vorgenommen, die als ideologische Maxime bestimmter Interferenzen zwischen Text und sozialem Kontext die Arbeit leiten und begleiten, ihr eine Ausrichtung geben. Die Zwei- und Vieldeutigkeiten eines Stoffs finden auf diesem Weg eine vorläufige Beurteilung, die in der ideologischen und ästhetischen Ambiguität von Ausgangsmaterial und szenischer Konkretisation hervorgehoben wird.

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ziellen gedacht ist. Wie explizit und veränderbar diese Relation für die Darsteller gemacht wird und welcher Anteil und Gestaltungsspielraum ihnen zugesprochen sind, kann stark variieren. In jedem Fall werden die spezifischen Kontexte eine konzeptionelle Idee unterfüttern, die letztlich zu einer »Vereinseitigung« (Zabka 1995; 35), einer »inszenatorischen Verfremdung des Spiels« (Brauneck 1998; 19) führen soll. Welche grundlegenden Bezugsfelder eine Praxis kennzeichnen, der Einfluss von schauspielmethodischen Theorien, aber auch Sach- und Erfahrungswissen aus anderen, künstlerischen und nichtkünstlerischen Bereichen, öffnet einen Referenzraum, in den inszenatorische Praxis eingeordnet werden kann. In welcher Form konkrete Kontexte in die Probensituation eingehen, kann Ähnlichkeiten und Differenzen solcher Auseinandersetzungen markieren. In der Auseinanderssetzung mit kontextuellen und konzeptionellen Bestimmungen einer Inszenierung entsteht eine mehr oder weniger vage szenische Vorstellung, ein visionäres Konstrukt, das wegweisend für die darstellerischen Versuche ist. Beide Systeme, die ideelle und die reale Konstruktion von theatralen Ereignissen, bleiben zwangsläufig bis zur letzten Aufführung dynamisch aufeinander bezogen. Wie im Einzelfall Denk- in Handlungsstrukturen übertragen und übersetzt werden, vermittelt sich in den Darstellungskonstruktionen.

3.1.3 Konstruktion Die ›Rolle‹ als Referenzsystem zwischen theatraler und sozialer Wirklichkeit macht das divergente Verhältnis von sozialem Handeln und theatraler Interaktion sichtbar. Dabei ist die Rolle »zuerst keine ästhetische Kategorie, sondern eher eine soziale« (Richard 2008; 112). Im Rahmen sozialer Wirklichkeit ist die Rolle mit bestimmten Erwartungen an das Verhalten von Personen gebunden. Der Spielrahmen hebt die Konventionen und Stereotype des sozialen Rollenhandelns auf und spielt mit ihnen. Theatrale Rollen werden zu artifiziellen Gebilden, die ganz unterschiedlich ausgefüllt und gestaltet werden können.31 Wie soziale und gesellschaftliche Problematiken der Interaktion in der artifiziellen theatralen Situation aufgegriffen und dargestellt werden, ist mitbestimmt von den ästhetischen Konventionen und Kontexten, die den Verweiszusammenhang immer wieder experimentell anders ausloten und die ineinander verschränkten

31 | Jörg Richard spricht dabei von einer besonderen Doppelbindung der Rolle im Theater, die immer zugleich eine gesellschaftliche und eine ästhetische Dimension aufweist: »Die Doppelbindung setzt die Rolle immer wieder den Krisenbewegungen der Gesellschaft aus, aber auch denen der Kunst. Dessen Darstellung ist seine Aufgabe« (ebd.; 113). Die gesellschaftliche Rollenproblematik kann in der szenischen Darstellung sichtbar gemacht werden, selbst »wenn es [das Theater; ms] nur noch den Rollenzerfall oder gar den Rollenverlust auf die Bühne zu bringen weiß« (ebd.; 113).

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Verhältnisse sozialer und artifizieller Rollenbilder neu konstruieren und dekonstruieren, widerspiegeln und verkehren. »Theater imaginiert«, schreibt Brauneck, und »dabei ist die Rolle der Ort, in der imaginierte Welt, Phantasie und Erfahrung von Spielern und Zuschauern konvergieren«, sodass in der Begegnung eine Selbstüberschreitung und das Transzendieren von Alltagsrollen ermöglicht werden (vgl. Brauneck 1998; 20). Für eine theatrale Rolle können Rollenbilder und -stereotype aus sozialen Kontexten entsprechend Anregungsmaterial sein, das Spiel bleibt aber eine artifizielle Komposition, in der ein Darsteller nicht notwendig eine konvergente Rolle repräsentiert. Unter Berücksichtigung der Herausforderung, die das Spielen einer ›Rolle‹ für den Schauspieler darstellen kann, kennzeichnet Brauneck folgende Beziehungen zwischen Spieler und Rolle: Der Schauspieler kann von »objektivierten Rollenvorgaben« (vgl. ebd.; 22) ausgehen, die im dramatischen Text oder durch Improvisationen bereits vorgezeichnet sind. Er kann sich zu solchen Rollen als ein Gegenüber positionieren, wie er sich zu anderen ›Nicht-Ich‹-Dingen verhalten kann. Sie bestehen in einer klar zu umreißenden Außenwelt, einer Textvorlage oder Materialsammlung, und sind Reibungspunkte im Probenprozess. Diese Rollen können aus vielerlei Perspektiven betrachtet und diskutiert werden, sie sind allerdings nur Spielmaterial möglicher Darstellungskonstruktionen und können in ganz neue Verwendungszusammenhänge überführt werden. In den Händen des Regisseurs liegen im Zuge dessen die das Spiel mit Rollen begleitende »inhaltliche Verarbeitung und formale Gestaltung der Rolle« (vgl. ebd.; 22).32 »Wie diese Arbeit organisiert ist«, so Brauneck, »bestimmt im Wesentlichen die Qualität der Erfahrungen, die der Schauspieler dabei macht« (ebd.). Strategien und Verfahrensweisen, mit denen die Regie Spieler und Rolle aufeinandertreffen lässt, prägen die theatrale Praxis und beschreiben einen Aspekt der Organisation des Arbeitsprozes32 | Vaßen setzt der Arbeit des Schauspielers an der Rolle eine intensive Auseinandersetzung mit dem Fremden gleich, bezieht sich aber im Unterschied zu Brauneck dezidiert auf dramatische Texte: »Diese [die Arbeit des Schauspielers an der Rolle; ms] ist in der Regel nicht nur eine Setzung des Dramatikers, sondern auch häufig ein außergewöhnlicher Entwurf vom Menschen. Denn Dramatiker befassen sich zwar mit dem menschlichen Leben im Allgemeinen, stellen dieses aber in extremen Situationen und nicht alltäglichen Konstellationen und Entwicklungen dar. So ist die dramatische Setzung ›Rolle‹ für den Schauspieler meist eine Entgegensetzung und Herausforderung. Sie ist häufig auch deshalb eine Fremderfahrung, weil die darzustellende Figur das Menschenbild einer vergangenen Zeit repräsentiert, mit heutigen Anschauungen und Entwürfen des Menschen divergiert und nur teilweise übereinstimmt. Diese Erschwernisse des Zugangs zu einer Figur sind aber in Wirklichkeit eine Hilfe für die schöpferische Tätigkeit des Schauspielers, denn obwohl er von seiner eigenen Lebenswirklichkeit bei seinem Spiel ausgehen muss, kann er nicht einfach Bekanntes anwenden und wiedergeben. [...] Gefordert ist die Überschreitung des Alltäglichen« (vgl. Vaßen 1991; 27).

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ses. In Braunecks Sinn diszipliniert die Rolle das Spiel und kann diesem bei aller Offenheit die nötige Form geben (vgl. ebd.; 21). Wie die Auseinandersetzung mit Rollenvorgaben während der Probe organisiert ist, wann und wie objektive Rollenvorgaben der Reibung dienen und durch welche Spielanlässe diese in szenische Interaktion gebracht werden, zeigt einen Aspekt des Umgangs mit Rollenkonstruktionen und damit auch Darstellungsstrukturen. Ersichtlich wird aber auch, dass theatrale Rollen weder vorgegebene, feste soziale Handlungsmuster umfassen noch konstitutive Regeln oder gar Bauanweisung für szenische Ereignisse sein können. Sie sind vielmehr ein Denk- und Kommunikationskonstrukt, das soziale Rollenkontexte einbeziehen kann, deren alltäglichen Horizont aber überschreiten muss.33 Die dargestellte theatrale Rolle bleibt ein Spiel von Interaktionen zwischen dem Darsteller und den Texten, Körpern und Mitspielern, Kontexten und Imagination im Rahmen theatraler Kommunikation mit dem Zuschauer. Spektralfarben des Handelns. In welchem Spektrum das Handeln der Darsteller angelegt werden kann, versucht Michael Kirby darzulegen, indem er darstellerische Vorgänge zwischen den Polen ›Schauspielen‹ (acting) und ›Nicht-Schauspielen‹ (performing) ansiedelt (vgl. Kirby 2005; 361). Im Unterschied zu Nicht-Schauspielen, »wo der Darsteller nichts unternimmt, um etwas vorzutäuschen, zu simulieren, zu verkörpern«, bedeutet Schauspielen notwendigerweise immer eine Aktivität, die etwas vortäuschen, repräsentieren, verkörpern oder simulieren will (vgl. ebd.). Beide Phänomene sind in der Regel einfach voneinander zu trennen, jedoch gibt es einen Grenzbereich, in welchem die eindeutige Zuordnung schwierig wird. Geht ein Darsteller auf der Bühne ohne jegliche Symbolisierungsabsicht einem realen Geschehen nach, agiert er im Bereich performing, auch wenn die Zuschauer eine Zeigeabsicht in seinem Tun sehen. Die einfachste schauspielerische Aktion beginnt aus der Perspektive Kirbys erst, wenn der Darstellung eine spezifische Absicht unterlegt wird, wenn gehandelt wird, um etwas zu zeigen (vgl. ebd.). Die Zeigefunktion kann dabei sowohl anhand einer Kostümierung als auch über das Verhalten oder durch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren erzielt werden. Je weniger der Spieler dabei eine Figur verkörpert, desto näher steht er auf der Seite des Nicht-Schauspielens, je deutlicher einer Verkörperungsabsicht in den Vordergrund rückt, ein Charakter simuliert oder eine Theaterrolle dargestellt wird, desto weiter ist das Handeln auf der Seite des Schauspielens verortet. Dort trennt Kirby zwischen ›einfachem‹ 33 | Ein ähnlicher Befund wie in der Authentizitätsdebatte kann hier für den Umgang mit dem Rollenbegriff gelten: Es gibt eine instrumentelle Verwendung des Rollenbegriffs, die für einen direkten Transport in theatrale Praxis nicht tauglich ist. Allein ein relationaler Rollenbegriff könnte aussagekräftig werden und die beobachtbaren »Rollenspiele« ähnlich den Spielen um Authentizität reflektieren und systematisieren.

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und ›komplexem‹ Schauspielen, betont allerdings, dass diese Differenzierung keine qualitative Wertung enthält (vgl. ebd.; 373): »Eine Handlung kann auf eine einfache oder komplexe Art und Weise dargestellt werden. Bei einer Scharade brauchen wir zum Beispiel nur anzudeuten, dass wir ein Jackett anziehen. Solange unsere Mannschaft begreift, was wir machen, ist das Schauspielen erfolgreich. Die gleiche Handlung wird komplexer, wenn Einzelheiten, etwa die Beschaffenheit des Materials, der Sitz und das Gewicht des Jacketts usw., dargestellt werden« (ebd.; 373f.). Kirbys Beschreibung der Komplexitätsgrade darstellerischen Handelns zeigt auf, dass im Handeln und Darstellen auf der Bühne ein breites Spektrum von unterschiedlichen Mischungsverhältnissen gegeben ist.34 Welche Konsequenzen haben diese rollentheoretischen Überlegungen für die Beschreibung von Darstellungskonstruktionen und Prozessen des Produzierens? Akte des Fingierens. Was in theatralen Ereignissen sichtbar wird, sind in erster Linie Figuren: Gebilde, die ein Verhältnis zwischen Schauspieler und Rolle wiedergeben.35 Unter einer Figur soll hier in Anlehnung an Jens Roselt »eine Gestalt, die auf der Bühne in Erscheinung tritt und aktiv oder passiv an einer Handlung oder einem Geschehen teilnimmt«, verstanden werden (Roselt 2005; 104). Im Unterschied zu der von Erwartungen und Anforderungen besetzten Rolle stellt die Figur in diesem Sinne eine klar umrissene Konstruktion aus konkreten sprachlichen und körperlichen Handlungen dar, die unterschiedlich stark mit Fiktionalisierungen aufgeladen sein kann.

34 | Darüber hinaus wird in seiner Analyse deutlich, dass Wahrnehmungs- und Erzeugungsstrategien von Zuschauern und Schauspielern nicht koinzidieren müssen. Was für den Zuschauer bereits eine etwas repräsentierende Handlung, damit acting sein kann, beinhaltet nicht zwingend diese – oder überhaupt eine – vom Spieler intendierte Zeigeabsicht. Umgekehrt gibt es Bühnenereignisse, bei denen die darstellerische Intention des Schauspielers verkannt oder unentdeckt bleibt, weil beim Zuschauer der Eindruck dominiert, dass die gezeigten Handlungen nicht Bestandteil des Spiels seien. Irritationen in dieser Hinsicht stellen beispielsweise Störungen des Spielgeschehens dar, die vom Zuschauer als ›Panne‹ verbucht werden, aber von dem Spielensemble bewusst inszenierte Momente darstellen. Es können also in ein und derselben Aktion, die auf der Bühne für einen Zuschauer dargestellt wird, zwei völlig verschiedene Fiktionsebenen nebeneinander bestehen. Das Spiel mit solchen Verschiebungen in der geteilten wirklichen Unwirklichkeit Theater kann demnach Bestandteil der gewählten Erzählmuster einer Inszenierung werden, im »Erzählen als Spiel mit dem Nicht-Spiel« (vgl. Brandstetter 1999; 35) systematisch bekannte Wahrnehmungsgewissheiten unterlaufen. 35 | Eine einheitliche Definition und begriffliche Trennschärfe zwischen ›Rolle‹ und ›Figur‹ sind bislang in der theaterwissenschaftlichen Diskussion nicht auszumachen und stellen ein Forschungsdesiderat dar.

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Anstatt auf eine psychologische, soziale oder organische Einheit zuzulaufen, können Figuren Muster ausbilden, die verändert, gewechselt und verlassen werden; sie vermögen durch Zeit und Raum zu mäandern und komplexe Zeichenzusammenhänge herauszubilden.36 Theatrale Darstellung kann entsprechend nicht auf Rollendarstellung reduziert werden, wenngleich die »Kategorien von Rolle und dramatischer Person [...] nicht obsolet, sondern im Gegenteil ausdrücklich zum Thema gemacht« sind (vgl. Roselt 2004; 176). In ihnen bündelt sich die paradoxe Struktur des Spiels, die sich »am Figurendarsteller zugespitzt zeigt: er ist nicht nur in der Relation Schauspieler-Figur ein doppeltes Wesen, er ist bei der Figurendarstellung zugleich die körperliche Einheit dieser Doppelheit. [...] In dieser Gleichzeitigkeit und Abstandlosigkeit der körperlichen Verwirklichung einer Figur auf der Bühne bewegt sich der Darsteller simultan auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit, auf der fiktiven und der zeichenhaften, [...] der physischen und der gesellschaftlichen« (Kurzenberger 2005; 59). Die Prozesse der Transformation von vorgestellten, intendierten Rollen in dargestellte Figuren werden sichtbar und real präsent in der Art, wie diese Wirklichkeitsebenen aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Reales Handeln und behauptete Fiktion werden im Spiel durch »Akte des Fingierens« körperlich manifest. Hier konstruieren und dekonstruieren semiotische und performative Prozesse in ihrem Zusammenspiel Figuren als »Ergebnis eines Darstellungsprozesses« (ebd.; 59). In welches dialektische Spannungsverhältnis die schauspielerischen Mittel mit der Person des Darstellers treten, lässt einen Blick auf die Konstruktionsmechanismen theatraler Darstellung zu.

3.1.4 Zwischenstopp Bevor die Betrachtung auf die Kategorien zwischen Spiel und Spiel wechselt, sollen die Kriterien für die Untersuchungsparameter Rahmen, Kontexte und Konstruktion kurz zusammengefasst und in eine Relation zueinander gebracht werden. Rahmen schaffen eingrenzbare Situationen, in denen verschiedene Tätigkeiten in einen gemeinsamen, sinnvollen Interpretationszusammenhang gebracht werden. Liegen im Alltag mehrere Rahmen reibungslos 36 | In der »Tendenz zur produktiven Infragestellung der Figur als Einheit von Rolle und Schauspieler« (ebd.; 106) sieht Roselt ein wesentliches Merkmal des Gegenwartstheaters und verdeutlich an anderer Stelle diese Bilanz: »Der Verdacht, die Schauspieler würden sich spielend nicht nur in eine Rollenhülle einwickeln, sondern diese auch ständig zerreißen und in Frage stellen, ist Indiz für eine Art zeitgenössisches Paradox des Schauspielers. Dieses besteht genau darin, dass sich im Moment des Zweifelns der Zuschauer (,Ist das Absicht? Oder eine Panne?‹) Rolle und Schauspieler nicht mehr nahtlos als Figur synthetisieren lassen«, was dazu führt, dass »Rolle und Schauspieler ununterscheidbar« gemacht werden, »denn ob es sich um eine Rollen- oder Inszenierungsvorgabe handelt oder um das individuelle Verhalten des Akteurs, bleibt unklar« (Roselt 2004; 171).

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übereinander, sind Probensituationen Heterotopien, Zwischenräume, in denen das Interaktionsverhältnis der Beteiligten keine gesicherte Basis hat. Gemeinsame Handlungsspielräume werden in einer Probenkultur definiert, die mehr oder weniger Platz für den Zufall und die persönlichen Kontexte der Spieler lässt. Welche Interaktionen innerhalb des Probenrahmens erlaubt, erwünscht und gesucht werden – im Unterschied zu sanktionierten, unerwünschten Tätigkeiten –, kann Aufschluss geben über eine Interaktionskultur. Ein weiteres Kriterium, das die Grenzgänge zu anderen Wirklichkeitsbereichen kennzeichnet, ist, Möglichkeiten zu lokalisieren, mit persönlichen Kontexten und Hintergründen aus anderen Situationen die Probe anzureichern und zu beleben. Wie weit der Rahmen der Probe ein variables Gebilde bleibt, das parallel andere Rahmungen ermöglicht oder sogar die eigene Unschärferelation durch eine Verkoppelung mit anderen situationalen Kontexten sucht, gibt Aufschluss über soziale Aspekte, die Teil der Probensituation werden. Kontexte begleiten die konzeptionelle Arbeit und fließen in jede Probe ein. Die Vermittlungsabsicht macht explizit, was wie vermittelt werden soll und wodurch Suchbewegungen charakterisiert sind. Wissens- und Erfahrungshintergründe der Beteiligten schaffen einen Referenzrahmen, aus dem heraus strategische Vorgehensweisen für eine konzeptionelle Praxis transparent gemacht werden können. Wie diese Kontexte für konzeptionelle Praxis und die Vermittlungsanliegen genutzt werden, charakterisiert den Zugriff auf eine stoffliche Basis in Prozessen zwischen NichtSpiel und Spiel. Konstruktion und Struktur der Darstellung erwachsen aus einer Vorstellung über den Aufbau und die Konstitution von Figuren. Inhaltliche und formale Vorstellungen von Figuren finden in Akten des Fingierens einen Ausdruck und können entlang von Spielstrukturen mit wirklichen und unwirklichen Elementen, mit realen Ereignissen und dem Spiel mit Behauptung einer Analyse zugänglich gemacht werden. Welches Rollenverständnis der Praxis zugrunde liegt und wie figurative Fantasie in Gang gebracht wird, macht die konzeptionelle Basis theatraler Konstruktionen und Spielstrukturen aus. Setzt man die drei Kategorien zueinander ins Verhältnis, so lässt sich als Tendenz festhalten, dass die Spiele mit Rahmen und Grenzgängen an der äußeren Schnittstelle zwischen Spiel und Nicht-Spiel liegen. Hier findet der Eintritt in die Probensituation statt, manifestiert sich eine gemeinsame Kultur, die noch weitgehend unabhängig von der stofflichen Auseinandersetzung ist. Obwohl in der Rahmentoleranz bereits die Variationsbreite von möglichen Spielangeboten angelegt ist, kann theatrale Darstellung in dieser Kategorie nur vage grundiert werden. Deutlich wird eine Mentalität, aus der heraus theatrales Handeln entsteht. In der Kategorie der Kontexte halten sich die stofflichen und die außerstofflichen Bezugsquellen prinzipiell die Waage. Zum einen können die Fäden in Wirklichkeitskontexte außerhalb des Spiels den Weg in theatrale Praxis

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prägen, zum anderen ebnet eine stark in die fiktionale Wirklichkeit tauchende konzeptionelle Strategie den Zugang zu darstellerischer Praxis. Bei der Frage nach Konstruktion der Darstellung ist die Spielwirklichkeit selbst das Thema. Die Schwelle ins Spiel ist fast überschritten, der reflexive Moment auf konstruierte Wirklichkeit hält aber an einer Ebene nichtspielerischer Realität fest. Der Wechsel in die Spielpraxis findet erst in den nachfolgend beschriebenen Kategorien statt. Hier ist das Ausgangsmaterial an den Schauspieler und seine Verkörperungspraxis gebunden. Die Spiele um Sprache, Körper und Imaginationen stehen dafür modellbildend Pate. Aus ihnen sollen die richtungsweisenden inhaltlichen Kriterien für eine Analyse von PraxisHaltungen gewonnen werden.

3.2 Zwischen Spiel und Spiel Standen bislang die gedanklich-diskursiven Auseinandersetzungen mit dem Spielmaterial im Vordergrund, die auf der Schwelle von Nicht-Spiel und Spiel eine gestaltende Funktion einnehmen, erfolgt nun ein Wechsel der Perspektive auf jene Gebiete, in denen die Suche nach künstlerischer Praxis im Spiel fortgesetzt wird. Mit welchen Eingaben, Korrekturen, Hinweisen und Wechseln in der Aufgabenstellung ein Spiel in Gang kommen kann, vertieft wird oder eine andere Richtung nimmt, ist an der Art der Verkettung von Spielen erkennbar. Die experimentelle Spielpraxis erhält in diesen Interventionen ein Profil, das letztlich die Inszenierung auszeichnet. Auf dem Weg dorthin sind Umwege und Spielexplorationen wesentlicher Anteil von Proben. Sie sind für den Prozess der Auseinandersetzung mit Darstellung fundamental und weisen erst nach und nach den Weg in die formale Gestalt des künstlerischen Ereignisses. Diese ist durch zwei Parameter vorstrukturiert: die semiotische und die performative Dimension der Inszenierung. Semiotisch-performative Kippspiele. Strebt auf der semiotischen Ebene alles nach der Erzeugung von Bedeutung, sucht die performative Ebene den aktuellen Vollzug des Handelns selbst. Beide Dimensionen haben in theatralen Ereignissen einen wechselseitigen Verweischarakter, der die dem Theater eigene Ambivalenz hervorbringt. Das Oszillieren zwischen Sinn und Präsenz,37 Repräsentation und Präsentation, Fiktion und Realität, Referenz und Performanz entsteht nicht erst im Dialog mit den Zuschauern, wiewohl es darauf abzielt, sondern kennzeichnet bereits die ästhetischen Experimente. In  der Probenpraxis steht das Spiel mit Darstellungsstrategien neben jenem mit Erzeugungsstrategien, Versuche der 37 | Für Gumbrecht sind ästhetische Erfahrungen »Situationen der Spannung und des Oszillierens zwischen Wahrnehmung und Sinn, zwischen der Dimension von Präsenz und der Dimension von Absenz«, die immer wieder in ein neues Mischungsverhältnis gebracht werden (vgl. Gumbrecht 2001; 76).

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Sinngebung und Verausgabung von Sinn finden in diesem Wechselspiel ebenso ihren Ausdruck wie sinnlich konkrete Vorgänge und das Spiel der Imagination. Erika Fischer-Lichte vergleicht das Verhältnis beider Aspekte mit den Kippbildern, deren ambivalente visuelle Struktur dazu führt, dass »der Prozess der Wahrnehmung nicht von dem der Deutung« getrennt werden kann, sondern beide Akte zusammenfallen, obwohl sie »auf ganz unterschiedlichen Integrationsebenen nach eigenen Gesetzen ablaufen« (Fischer-Lichte 2006; 129).38 Die beiden Prinzipien dieser »perzeptiven Multistabilität« kennzeichnet Fischer-Lichte als Ordnung der Präsenz respektive Ordnung der Repräsentation: »Während die Ordnung der Präsenz Bedeutung als phänomenales Sein des Wahrgenommenen erzeugt, bringt die Ordnung der Repräsentation Bedeutungen hervor, welche in ihrer Gesamtheit die Figur konstituieren« (ebd.; 132). Das Umspringen der Wahrnehmung von einem in das andere Prinzip kann als Charakteristikum ästhetischer Wahrnehmung angesehen werden und gleicht dem Wahrnehmungsprozess, der beim Kippen des einen Bilds in das andere, also am Beispiel sogenannter optischer Täuschungen, eintritt. Obwohl bestimmte theatrale Verfahren die eine oder andere Ordnung vorübergehend betonen und stabilisieren können, ereignet sich der Moment des Kippens plötzlich und unvorhersehbar: »Welche Ordnung auch immer vorherrschen mag, die perzeptive Multistabilität der theatralen Elemente sorgt dafür, dass keine der beiden Ordnungen sich auf Dauer stabilisiert, dass an irgendeinem Punkt die Wahrnehmung von einer Ordnung zur anderen umspringt. Die Dynamik des Wahrnehmungsprozesses nimmt bei jedem Umspringen, bei jeder Instabilität eine neue Wendung. Er verliert an Zufälligkeit und wird zielgerichtet bzw. büßt umgekehrt seine Zielgerichtetheit ein und fängt an auszuschweifen« (ebd.; 136). Der Wechsel von einer Ordnung in die andere wird im Theater als Moment der Instabilität erfahren, in dem die Wahrnehmung zwischen der Ordnung der Präsenz und der Ordnung der Repräsentation oszilliert (vgl. ebd.; 137). Was Fischer-Lichte für die Wahrnehmung des Zuschauers anführt, kann analog für die experimentellen Prozesse von Darstellung und Er38 | Das Zusammenfallen wird von Fischer-Lichte als eine Gleichzeitigkeit von Materialität, Signifikat und Signifikant verzeichnet: »Wenn ich den Leib des Akteurs als diesen besonderen Leib wahrnehme, ein Objekt im Raum in seiner Ausdehnung, einen bestimmten Geruch rieche, die Wärme zum Beispiel von Feuer auf der Haut spüre oder Laute an mein Ohr dringen, so nehme ich all diese Phänomene als etwas wahr. Es handelt sich nicht um einen unspezifischen Reiz, sondern um die Wahrnehmung von etwas als etwas. Die Dinge bedeuten das, als was sie in Erscheinung treten, als was ich sie wahrnehme. Etwas als etwas wahrnehmen heißt also, es als bedeutend wahrzunehmen. In der Selbstreferenzialität fallen Materialität, Signifikat und Signifikant zusammen. Die Materialität erscheint weder als reines Sinnesdatum, noch fungiert sie als ein Signifikant, dem dieses oder jenes Signifikat zugesprochen werden kann« (Fischer-Lichter 2006; 131; Hervorhebung im Original).

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zeugung durch die Spieler gelten: das Potenzial »zum Wanderer zwischen zwei Welten, zwischen zwei Ordnungen der Wahrnehmung« zu werden (vgl. ebd.; 138) und »in diesem Moment seine eigene Wahrnehmung als emergent«, als »nicht vollkommen frei verfügbar, zugleich aber als bewusst vollzogen« zu erfahren (ebd.).39 Wie diese Schwellen zwischen den verschiedenen Ordnungsprinzipien beschritten und in der Schwebe gehalten werden, welche Auflösung sie erfahren und wodurch sie sich neu transformieren, ist sowohl als Rahmenbedingung für das freie Spielhaben der Kräfte relevant als auch Indiz für das Aufeinandertreffen von Regel und Zufall im Spiel um Darstellung und Erzeugung von theatraler Wirklichkeit. Das Wechselverhältnis zwischen Darstellen und Erzeugen, Sinn und Präsenz, Fiktion und Realität, Performanz und Semiotik ist für experimentelle Prozesse elementar. Eine Beschreibung von spielgenerierenden Verfahren der künstlerischen Praxis unter besonderer Berücksichtigung der Interaktion zwischen Theaterpädagogen und Spielern kann weder die eine noch die andere Seite ausblenden, ohne das Spielgeschehen wesentlich zu verkürzen. Mit jedem Impuls, die Schwelle ins Spiel zu überschreiten, werden diese Prozesse des Produzierens bedeutend. Ein qualitativer Sprung muss bewältigt werden, wenn das spielbasierte Handeln wiederholt werden soll und von außen Vorgaben und Rahmenbedingungen das freie Spiel in eine andere Dimension heben oder Übergänge und Verkettungen unter dramaturgischen Gesichtspunkten einen eigenwilligen Verlauf nehmen; wenn also Eigensinn und eigener Wille des Spielers im Spiel mit fremdem Sinn und anderem Willen konfrontiert werden; wenn Transformationen des Spiels das Spiel begleiten. Beginnt das Spiel, laufen Prozess und Produktion zusammen (vgl. Kapitel IV.1). Das Spiel um Erzeugung einer besonderen Wirklichkeit wird Spiel der Darstellung, wie alle Darstellungsabsichten im Spiel erzeugt werden müssen. In der Analyse sollen nun weder die Prozessqualität stillgestellt noch die unberechenbaren und diffusen Anteile des Probenverlaufs zu dessen Hauptmerkmal stilisiert werden. Die Praxis des Spiels und seine Transformationsprozesse stehen im Mittelpunkt.

39 | Die charakteristische ästhetische Erfahrungsqualität dieser Oszillation beschreibt Fischer-Lichte folgendermaßen: »Auf der einen Seite erfährt sich der Wahrnehmende als ein Subjekt, dem nicht einmal seine eigene Wahrnehmung frei verfügbar ist, das sich außerstande sieht, ein Umspringen seiner Wahrnehmung zu verhindern oder nach Belieben seine Wahrnehmung intentional ›einzustellen‹; als ein Subjekt, das sogar über seine eigenen assoziativ hervorgebrachten Empfindungen, Gefühle, energetischen Schübe u.a. nicht frei zu verfügen vermag. Die dadurch bewirkte Destabilisierung seiner Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung wird durch das Umspringen insofern noch weiter verstärkt, als es das wahrnehmende Subjekt in einem Zustand zwischen beiden Ordnungen versetzt« (FischerLichte 2006; 138f.; Hervorhebung im Original).

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Da Handeln aber immer wieder neu vollzogen werden muss, das theatrale Spiel von der Erzeugung dieses Spiels lebt, ist eine nähere Bestimmung darstellerischen Verhaltens hilfreich für die Einordnung semiotischer und performativer Praxis in den Prozessen des Spiels. Rekodiertes Verhalten. Die Ambivalenz von prozessualem und produzierendem Verhalten innerhalb des Spiels der Probe wird in dem von Richard Schechner dargelegten »rekodierte(n) Verhalten« zugänglich, denn »rekodiertes Verhalten existiert unabhängig von mir als Person. Deshalb ist es bearbeitbar und veränderbar durch mich, selbst wenn es schon stattgefunden hat« (Schechner 1990; 160). Wie ist dies zu verstehen? Schechner verwendet den Begriff des rekodierten Verhaltens, um Entstehungsprozesse von Aufführungen zu beschreiben. Rekodiertes Verhalten bezeichnet ihm zufolge ein »lebendiges Verhalten, das wie ein Streifen Film behandelt wird«, also beliebig bearbeitbar und unabhängig von sozialen, psychologischen und technischen Kausalsystemen ist (vgl. ebd.; 159). Es kann vom Darsteller getrennt betrachtet, aufbewahrt und manipuliert werden, und »obwohl ursprünglich ein Prozess und benutzt im Probenprozess, um einen neuen Prozess, den der Aufführung, hervorzubringen, ist dieses rekodierte Verhalten selbst kein Prozess, sondern ein Ding, Gegenstand, Material« (ebd.; 159). Unter rekodiertem Verhalten lassen sich alle beschreibbaren Darstellungsereignisse, also Handlungen, Texte, festgelegte Bewegungen, organisierte Ereignissequenzen, fassen. Sie existieren als Partitur, die durch bewusste Manipulationen seitens der Regie oder der Spieler verändert werden kann. Die in den Proben gefällten Entscheidungen überführen das suchende Spiel allmählich in eine Partitur. Kleinere Sequenzen rekodierten Verhaltens werden im Verlauf der Zeit zu längeren Ereignisketten komponiert, wiederholt und bearbeitet. Die Partitur bleibt bei aller Stabilität, die sie zu erzeugen versucht, ein dynamisches System. Sie erlaubt und verlangt, das zwischen Prozess und Produkt liegende Produzieren als regelgeleiteten Vorgang zu behandeln, ohne zugleich normative Vorgaben über das Wie der Rekodierung vorzugeben. Im Theater, das Schechner als »die Kunst, die sich auf konkrete Techniken zur Rekodierung von Verhalten spezialisiert hat« (ebd.; 202), bezeichnet, macht die Beschreibung von Interventions- und Interaktionsprozessen in den Proben sichtbar, wie rekodiertes Verhalten in einzelnen Praxen hervorgebracht und arrangiert wird.

3.2.1 Spiele um Sprache Gestische und mimische Zeichen, die Art, sich zu bewegen, jemanden zu berühren etc., erzählen etwas über den Menschen, darüber, wie sprachlicher Ausdruck Bedeutungen konnotiert, seien diese verbaler oder auch nur stimmlicher Gestalt. Eine Kommunikation gelingt, wenn ein gemeinsames Vokabular existiert oder sich zumindest entwickeln lässt. Das heißt, menschliche Beziehungen und Interaktionen basieren auf Zeichenvereinbarungen und Zeichengenesen. Im Theaterrahmen verdoppeln sich

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diese Zeichen, sie werden durch den paradoxalen Rahmen zu Zeichen von Zeichen (vgl. Kapitel IV.2). Da diese Zeichenverdopplung durch den Theaterrahmen vorgegeben ist, ist sie evident; wie im Einzelfall jedoch die konkrete Zeichengestaltung vor sich geht, um zur künstlerischen Praxis zu werden, ist damit nicht hinreichend geklärt.40 Ausgehend vom grundsätzlichen Zeichencharakter der Sprache stellt sich die Frage nach Prozessen der Transformation von alltäglicher in künstlerische Wirklichkeit. Alltagssprache findet in Situationen statt, in denen die Bedeutung des Gesprochenen durch den situativen Kontext erschlossen wird. Sie setzt zudem ein System von syntaktischen und semantischen Regeln voraus, deren Beherrschung und Anwendung sprachliche Interaktionen gestalten, sodass das Sprechen als eine regelgeleitete Form sozialen Handelns verstanden werden kann. In der Verwendung von Sprache als künstlerischem Material stehen nun genau diese eingefleischten Regeln auf dem Spiel. Sprache im ästhetischen Kontext kann damit nicht mehr als situationsgebundenes soziales Handeln klassifiziert werden, sondern muss als spezifische Strategie im Umgang mit der klanglichen Materialität von Sprache sowie deren zeichenhaftem Gebrauch gesehen werden. Roland Barthes klassifiziert die Textpraxis in künstlerischen Prozessen in diesem Sinne: »Der  Text ist, im Unterschied zum literarischen Werk, kein ästhetisches Produkt, sondern signifikante Praxis, nicht Struktur, sondern Strukturierung, nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel« (Barthes 1988; 10f.). Ein solches Textverständnis erfordert eine Sprechpraxis, die nicht durch erstarrte rhetorische Codes stillgestellt ist und in der nicht von einer »Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen« ausgegangen wird, sondern von »einem Volumen sich verschiebender Spuren« (vgl. ebd.). Dies erfordert die Suche nach signifikanten Strukturen, die nicht nur in und mit Sprache erzeugt werden, sondern durch sie hindurch sichtbar werden. Julia Kristeva trifft dazu eine Unterscheidung von Genotext und Phänotext: Der Genotext gibt sich zwar in der Sprache zu erkennen, ist aber selbst nicht sprachlich, er ist ein Prozess, der sich in »flüchtigen«, »labilen« und »nicht-signifikanten Strukturen« artikuliert (vgl. Kristeva 1978; 95). Gleichzeitig bildet er die Grundlage des Phänotexts, der im Gegenzug eine feststellbare Struktur aufweist, den Kommunikationsregeln gehorcht und ein Subjekt des Aussagens wie einen Empfänger voraussetzt. Das Verhältnis zwischen Genotext und Phänotext bleibt daher stets gespalten, 40 | Die Verquickung von Wirklichkeit und Spiel führt zu der dem Theater eigenen Ambivalenz, die Schwanitz in der Frage nach dem Zeichenstatus theatraler Handlungen ausdrückt: »[...] wenn ein Schauspieler aus dem Sessel aufsteht, zum Tisch geht, die Teetasse an die Lippen hebt, einen Schluck Tee trinkt, die Tasse abstellt und sich eine Zigarette anzündet, inhaliert und dabei seinen Blutkreislauf vergiftet, ist das real oder muss man sagen, er spielt nur Trinken und Rauchen?« (Schwanitz 1977; 6).

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beide gemeinsam umfassen jedoch das Material für die Textpraxis und den Prozess der Sinngebung. Der schriftlich fixierte Text gibt der Sprache und ihrer Artikulation einen möglichen Ausgangspunkt und setzt einen Rahmen für die theatrale Textpraxis. Darüber hinaus kann der Phänotext immer wieder herangezogen werden, um im Prozess der Sinngebung die Reibung am Symbolischen zu verstärken und von dort aus zu dynamisieren. Umgekehrt kann jederzeit durch eine Aufwertung des Genotexts erneut die Verausgabung des Subjekts zur Vervielfältigung des Sinns genutzt werden, wenn in der strukturgebenden Textpraxis Stagnation eintritt. Wie Text ins Spiel gebracht, umspielt, fixiert und in seinen Fixierungen zerfasert wird, ist unter einem bildungstheoretischen Interesse bei der Beschreibung von theatralen Probenprozessen wesentlich. Welche Spielstrategien dabei um Sinn und Präsenz des stimmlichen Materials eingesetzt werden, welcher stimmliche, klangliche und semantische Raum aufgesucht und ausgebildet wird, soll in der analytischen Beschreibung von Spielen um Sprache bei den Regiepraktikern zur Anschauung kommen.

3.2.2 Spiele um Körper Theater ist Spiel mit, über und durch den Körper. Es fordert von einem Darsteller das Vermögen, in seinem Körper zu sein, ohne darin zu verschwinden. Im Unterschied zum Umgang mit dem eigenen Körper im sozialen Kontext fungiert er im theatralen Prozess als Material bewusster Gestaltung. Wie für die Sprache gilt auch hier das Postulat, dass der immer schon vorhandene Zeichencharakter des Körpers im Theater auf eine Metaebene transponiert wird. Auf der Suche nach Ausdruck ist er ein Bindeglied zwischen Selbst und Welt, ist Material mit eingeschriebener gesellschaftlicher, sozialer und biografischer Geschichte, erfindet aber zugleich »das Spiel mit der sozialen Praxis« neu (vgl. Gebauer/Wulf 1998; 72).41 Andreas Kotte drückt diese vom Selbstzweck befreite Gebundenheit an den eigenen, gesellschaftlich geformten Körper folgendermaßen aus: »Der Schauspieler reflektiert und thematisiert im theatralen Handeln seine Bearbeitung des eigenen Körpers und kreiert im Arbeitsprozess mittels Körper und Sprache Bilder der Welt« (Kotte 1988; 786). Um in diesen Bildern zu sein, muss er einen Abstand zu ihnen wahren und wird aus diesem Abstand heraus selbst Bild (vgl. Kapitel IV.3.1). Mit anderen Worten: Er negiert sich, um im Prozess der Negation den eigenen Körper als fremden zu zeigen. Da der Schauspieler seiner materiellen Beschaffenheit jedoch nicht entfliehen kann, wird er auf diesem Weg zu seinem eigenen fremden Körper. 41 | Gebauer und Wulf weisen an dieser Stelle ausdrücklich Konzepte zurück, die künstlerische oder sportliche Praxis über individuelle Körpererfahrung zu erneuern suchen: »Den Ich-Ausdruck zu intensivieren, wie zum Beispiel in der ›Körpererfahrung‹, ist der falsche Weg: Sport ist ebenso wenig wie die Kunst ein Medium der Selbstdarstellung« (Gebauer/Wulf 1998; 72f.).

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Gegenüber Zugriffen auf das Wesen des Körpers, die eine polare Spannung zwischen zwei Zuständen behaupten, zum Beispiel der Natürlichkeit gegenüber der Künstlichkeit (vgl. von Samsonow 2002) oder der Trennung von biologischem und sozialem Körper (vgl. Gebauer/Wulf 1998), erscheint die Heteronomie des Körpers als geeignetes Modell zur Klärung theatraler Körperpraxis. Dies gilt umso mehr, als im ästhetischen Produzieren nicht der Sozialisationsprozess als solcher, also das Gewordensein des einzelnen Körpers, im Vordergrund steht, sondern dessen mögliche Manipulation und Modifikation in künstlerischer Gestaltung. In einem heteronomen Körperverständnis greifen soziale und physische Dimensionen ineinander, sodass »der Körper als soziales Gebilde [...] die Art und Weise, wie der Körper als physisches Gebilde wahrgenommen wird, (steuert); und andererseits wird in den [...] physischen Wahrnehmungen des Körpers eine bestimmte Gesellschaftsauffassung manifest« (Douglas 1986; 99). Der vermeintlich natürliche Ausdruck ist somit immer schon sozial, kulturell und biografisch determiniert. »Nur durch eine bewusste und willkürliche Anstrengung«, so Mary Douglas, könne man den physischen und den sozialen Körper »voneinander trennen und eine Situation herbeiführen, in der sie ›gegeneinander Zeugnis ablegen‹ könnten« (vgl. ebd.; 104). Genau diese artifizielle Trennung stellt die Herausforderung im Umgang mit dem Material Körper in theatraler Praxis dar. Wie in den Spielen um Sprache lassen sich auch für die Arbeit mit dem Körper semiotische und performative Ebene nur in einem gemeinsamen System unterschiedlicher Aggregatzustände denken, in welchem sie gegeneinander Zeugnis ablegen können und in eine wechselseitige Verausgabung finden. Obwohl der Körper selbst nicht diskursiv ist, folgt er in seiner Heteronomie einer dialogischen Struktur. Er ist gleichzeitig Bild und Bewegung, Material und Energie. Hans-Thies Lehmann bezeichnet die Theatersituation entsprechend als Situation »zwischen den Körpern«, denn der Körper ist nicht nur ein Instrument, dessen Interpret der Schauspieler wäre, sondern der Körper verweist immer auch auf seine eigene Präsenz (vgl. Lehmann 1999a; 367). Durch diese permanente Präsenz wird der Körper zur Schnittstelle zwischen Menschlichem und Dinglichem, pendelt zwischen entsinnlichter Zeichenhaftigkeit und einer unmittelbaren Körperlichkeit, die einen eigenen Symbolwert hat (vgl. ebd.; 365f.). Ebenso hebt Fischer-Lichte den Körper als mit besonderen Eigenschaften ausgestattetes Material hervor, denn er »ist ständig im Werden; für ihn kann es keinen Ist-Zustand geben, er kennt Sein nur als Werden, als Prozess der Veränderung« (vgl. Fischer-Lichte 2004; 158). Dies hat ihrer Interpretation nach zur Folge, dass »der Schauspieler/Performer [...] seinen Leib nicht in ein Werk (transformiert), sondern (er) vollzieht vielmehr Prozesse der Verkörperung. In diesen Prozessen wird der Leib ein anderer. Er transformiert sich, schafft sich neu und ereignet sich« (ebd.; 158). Kann man nachzeichnen, wie der Weg vom alltäglichen Bewegungsvokabular zum theatralen Körper in der konkreten Probenpraxis gegan-

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gen wird, ist damit eine Spielart körpersprachlicher Ausdrucksweise gekennzeichnet. Von Interesse sind insbesondere die Vorgehensweisen, die zwischen dem phänomenalen Leib des Darstellers und dem semiotischen Körper ein Oszillieren in Gang setzen und eine perzeptive Multistabilität herbeiführen (vgl. ebd.; 151f.). Inwiefern der Körper dabei zeichenhaft fiktionalisiert oder als Rohmaterial verwendet und anhand welcher Praxen er in konfliktreiche Selbstwidersprüche verstrickt wird, die neue körperliche Sprechweisen generieren, lässt Erzeugungsstrategien auf dem Weg zu rekodiertem Verhalten erkennen. Die Beschreibung von Vermittlungswegen zu dieser Partitur macht PraxisHaltungen deutlich, die die Spiele um Körper kennzeichnen.

3.2.3 Spiele um Imagination Die Erzeugung von Gegenwart und Präsenz theatraler Darstellung basiert auf der Gegenwart der Spieler. Diese ist aber weder durch körperliches und stimmliches Handeln ausreichend definiert, noch spielen die Interaktionen zwischen den Spielern sowie zwischen ihnen und den Zuschauern sich allein auf der Ebene realer Materialität ab. Erst die »szenisch situationale Darstellungsform der Phantasie« begründet, so Brauneck, die »anthropologische Fundierung von Theater als Form ästhetischen Handelns« (Brauneck 1998; 30). Als »Elementargesetz psychischen Lebens« ereignet sich Theater durch die »in der Phantasie und im Traum imaginierte Verwirklichung des Subjekts«, die das Theater in unmittelbarer Fantasiearbeit aktualisiert (vgl. ebd.).42 Theatrale Ereignisse erzeugen erst durch das Spiel mit Imaginationen den subjekt- und wirklichkeitsüberschreitenden Modus, der es seinem Wesen nach charakterisiert.43 Die einseitige Hervorhebung von körperlich-stimmlichen Prozessen des Produzierens vernachlässigt die imaginative Komponente, die spielerisches Handeln erst zu sinngeladenen und sinnsubversiven kommunikativen Ereignissen macht. Die Frage, wie diese spezifische mentale Gegenwart schon in der Probe erzeugt und produziert wird, muss die Art der Spiele mit Imaginationen einbeziehen, in der sich fantasierte Vorstellungen und

42 | Theatrale Handlungsvollzüge bieten, so führt Brauneck weiter aus, »Spielräume für jene Lebenswünsche, die in der Alltagskommunikation in die innersubjektiven Enklaven verdrängt bleiben«, und ermöglichen durch die ausgelebte Fantasie ein »szenisches Verstehen von Situationen, in denen das Subjekt seine Mit- und Umweltbeziehungen verwirklicht, wie entfremdet oder pathologisch gestört auch immer« (vgl. ebd.). 43 | Hans-Thies Lehmann entlarvt am Mythos der lebendigen Präsenz des Schauspielers ein beliebtes Klischee: »Die unter Liebhabern des Theaters verbreitete Ideologie der lebendigen Präsenz beruht auf Denkfehlern, denn lebendige Gegenwart ist ein überhaupt nicht primär real-körperliches, sondern mentales Phänomen, eine Tatsache des Bewusstseins« (Lehmann 1999b; 13; Hervorhebung im Original).

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qua Einbildungskraft erzeugte Visionen mit körperlichen und stimmlichen Äußerungen überkreuzen. Da »das Phänomen der Präsenz [...] das dichotome Begriffspaar von Körper und Geist als ein völlig unangemessenes Instrument zur Beschreibung des Menschen« zurückweist (Fischer-Lichte 2004; 302), ist eine Überschreitung gewohnter Ordnungsstrukturen zwischen Körper und Geist nicht unabhängig von Verausgabungen an das Spiel um Imaginationen zu erzeugen. Erst die Verbindung der körperlichen und stimmlichen Ereignisse mit der Einbildungskraft der Fantasie führt zu einem experimentellen Kräftespiel, in dem die gezielten Provokationen von Imaginationen szenische Erzeugnisse hervorbringen. »Ganz konkret besteht die Kunst der Inszenierung in der Berücksichtigung der verschiedenen Systeme«, so Pavis, »die aus dem Bühnenkasten eine Art platonischer Höhle machen, in der Schatten und Trugbilder für wirkliche Dinge gehalten werden und in der umgekehrt die Dinge so zusammengetragen, verteilt und ausgestattet sind, dass die Höhle des Platon sich in den Augen des Publikums in die Ali Babas verwandelt« (Pavis 1988; 58). Eine Inszenierung vom platonischen Höhlengleichnis in das ›Sesam, öffne dich!‹ aus der Räubergeschichte Ali Babas zu überführen, um in der Analogie Pavis’ zu bleiben, kann nur glücken, wenn in den Interferenzen zwischen den verschiedenen Fiktionalisierungssystemen und der realen Wirklichkeit der Bühne Kohärenzen geschaffen werden. Brauneck begründet die Sprengkraft ästhetischer Kommunikation in einer Praxis, die geltende Konventionen sprengt, indem dort hingesehen wird, wo man in einer analogen Alltagssituation in der Regel ›wegschauen‹ würde, und ergänzt: »[...] das Theater erhält aus der Aktivierung solcher Phantasie- und Spielpotenziale einen wesentlichen Teil seiner Faszination. Andererseits sind Irritation und Schock, den manche Inszenierungen für die Zuschauer erzeugen, gerade eben darin begründet, dass diese mit den Tabus ihres Alltags konfrontiert werden. Im Theater wird die Subversion der Phantasie öffentlich« (Brauneck 1998; 32). Diese subversive »Spurensuche« kann einhergehen mit »ratloser Konzentration des Wahrnehmens auf dargebotene Dinge«, die dazu auffordern, Zusammenhänge und überraschende Korrespondenzen herzustellen, die nicht naheliegen (vgl. Lehmann 1999a; 143f.). »Wenn Wahrnehmung schon dialogisch funktioniert«, schreibt Lehmann, »indem die Sinne auf Angebote oder Ansprüche der Umwelt antworten, zugleich aber auch eine Disposition dafür aufweisen, das Mannigfaltige zuallererst zu einer Wahrnehmungstextur zusammenzufügen, es also als Einheit zu konstruieren, so bieten ästhetische Praxisformen die Chance, diese synthetisierende, leibliche Aktivität sinnlicher Erfahrung gerade auf dem Weg ihrer gezielten Erschwerung zu intensivieren und als Suche, Enttäuschung, Entzug und Wiederfinden bewusst werden zu lassen« (ebd.; 144; Hervorhebung im Original). Auf welchen Auseinandersetzungen des Spielers (Erinnerungen, Projektionen, Fantasien) dieser Dialog basiert und in welchen szenischen Übertragungen sein Potenzial genutzt wird, gilt es zu erkunden.

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Spiele um Imagination treten ein, ohne dass der Theaterpädagoge sich ihrer bemächtigen kann. Das  Spiel mit Wahrnehmungsprozessen kann aber in bestimmte Richtungen gelenkt, durch Fantasien ergänzt und erweitert werden oder nicht naheliegende Sichtwinkel und Blickwechsel provozieren. In welchem dynamischen Verhältnis diese Prozesse zu den körperlich-stimmlichen Aspekten der Praxis stehen, wie Transformationsprozesse eingeleitet und begleitet sind, welche mentalen Konstruktionen und Dekonstruktionen sich im Probenverlauf zeigen, sind aufschlussreiche Indizien für die Spielfelder der Imagination. Hinweise auf diese Praxis geben voraussichtlich all jene Probensequenzen, in denen die Spieler körperlichen, stimmlichen und mentalen Ausdruck zielgerichtet verknüpfen und so Fantasiepotenziale freilegen, die szenische Prozesse und Vorgänge durch die Anregungen der Einbildungskraft verändern oder vertiefen. Wie in der Probenpraxis auf das Spiel der Imagination zugegriffen wird und welcher strukturierende Umgang sich ablesen lässt, zeigen die in der Probe angewandten Fiktionalisierungssysteme. An welchen Scharnieren das Spiel mit Imaginationen ansetzt, wie diese Ausgangspunkte geschaffen werden und in welche Weiterentwicklung ein imaginatives Spiel getrieben wird, soll in den PraxisHaltungen genauer untersucht werden.

3.2.4 Zwischenstopp Versucht man die Kriterien der Spiele um Sprache, um Körper und um Imagination zu bündeln, zeigt sich, dass innerhalb aller Kategorien die Bewegungsstruktur des Hin und Her prominent ist. Die Erzeugung des Kippspiels performativer und semiotischer Ordnungen ist entsprechend nicht nur ein Charakterzug theatraler Produkte, sondern Probenprozessen generell eingeschrieben. Künstlerische Prozesse des Produzierens müssen mit dieser experimentellen Basis kalkulieren. Analog zu der Kommunikationssituation zwischen Schauspielern und Zuschauern, in der die Kippbewegung unberechenbar bleibt, aber stattfindet, ist in dem Wechselverhältnis zwischen Regie und Spieler kein Nacheinander performativer und semiotischer Spurensuche zu veranschlagen, sondern vom Ineinandergreifen des Darstellens und Erzeugens auszugehen. Für die Spiele um Sprache sind insbesondere Konfrontationen zwischen fixiertem Text und stimmlicher Artikulation aufschlussreich, die neben den in der Probe sich entwickelnden klanglichen und sprachlichen Strukturen die Pendelbewegung zwischen Sinn und Sinnlichkeit des Sprechens auszeichnen. Mit welchen Texten wie gespielt wird, an welchen Ausgangspunkten die stimmliche Praxis ihren Lauf nimmt und welche Anpassungen zwischen Sprecher und Text vorgenommen werden, um die Pendelbewegung auszulösen und in der Schwebe zwischen Hin und Her, zwischen klanglich-stimmlicher Präsenz und Verstehensleistungen zu halten, kennzeichnet Mentalitäten und Praxis der Regie. In den Spielen um Körper tritt die oszillierende Bewegung ein, wenn unterschiedliche Verkörperungsstrategien in eine perzeptive Multistabilität münden. Wie auf diesem Weg physische Prozesse mit den sozialen,

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biografischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Einschreibungen in den Körper verknüpft werden und wodurch eine Entfremdung des eigenen Körpers ausgelöst wird, sodass ein eigener fremder Körper zur Ansicht und zum Ausdruck findet, steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Daneben ist zu beschreiben, welche körperlichen Dispositionen im Probenverlauf geschaffen werden und wie die Pendelbewegungen in rekodiertes Verhalten überführt werden. In den Spielen um Imagination stehen die Prozesse der Wahrnehmungslenkung im Vordergrund. Welche Einstiege gesucht werden, um Fantasiearbeit zu befördern, welche Erschwernisse eine besondere Imaginationskraft wirksam machen und wodurch die Einbildungskraft gesteuert und gelenkt werden kann, verweist auf die gesuchten imaginativen Räume. Inwiefern diese an die biografische Erfahrung gekoppelt sind oder von anderen Projektionen und Traumwirklichkeiten leben, macht Fiktionalisierungssysteme einer Probenpraxis deutlich. Insbesondere in den Spielen um Imagination ist nur ein vernetztes Beschreiben mit körperlichen und stimmlichen Aspekten denkbar, da sich erst dort Veränderungen durch das Fantasiepotenzial zeigen und Interventionen von konkreten spielerischen Praxen einen Ausgang nehmen müssen, um Darstellungs- und  Erzeugungsstrukturen versinnlichen, versinnbildlichen oder in widersprüchliche Kombination verstricken zu können. Die Kriterien der drei Kategorien zwischen Spiel und Spiel zeigen, dass in der Analyse von PraxisHaltungen ein Balanceakt geleistet werden muss, der weniger darauf abzielen kann, Spielsysteme zu erklären und ihre Struktur in andere Kontexte zu transferieren. Es gilt vielmehr, die Schnittstellen für Zwischenräume hervorzuheben, die innerhalb von Probenprozessen subjekt- und wirklichkeitsüberschreitende Prozesse auslösen. Von dort aus sind Spielbewegungen nur mehr exemplarisch zu beschreiben, die grundsätzlich dem Charakter transformatorischer Subjektbildungsprozesse entsprechen, aber erst und nur im konkreten Einzelfall individuell neu beschritten und bestritten werden müssen. Bevor ein abschließender Blick auf die Analysekategorien und deren wesentliche Kriterien gelenkt wird, richtet sich der Blick auf die kollektiven Prozesse des Probens, die in dem Zusammenspiel zwischen Ich und Wir manifest werden.

3.3 Regie als Spiel Der kollektive Prozess der Probe bedingt eine dialogische künstlerische Praxis, die konstitutiv ist für theatrales Produzieren. Kollektives Produzieren macht den Anderen zum Mitspieler und den Mitspieler zum Material. Es setzt an der gemeinsamen Interaktion an, aus der heraus Praxisprozesse in Gang gesetzt werden. Ist in den meisten anderen Kunstgenres der Akteur im experimentellen Feld allein auf sich gestellt, gilt für das Theaterspiel ein grundlegend anderes Prinzip. Die Auseinandersetzung mit Inhalten und Methoden findet zu einem großen Teil im Team statt und

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ist geprägt von den Individuen, die daran beteiligt sind. Sie entwickeln gemeinsam eine Arbeitssprache, in der jeder mit seiner Persönlichkeit und eigenen Interessen vertreten ist. Krisen und Erfolge gehen auf ein gemeinsames Konto, beflügelnde und befremdende Situationen in der Probe werden in der Regel geteilt und mitgeteilt. Der kollektive Prozess stellt aber noch keinen Wert an sich dar, sondern durch ihn muss die Möglichkeit zu einer intensiven, grenzüberschreitenden und gehaltvollen Auseinandersetzung im Rahmen des theatralen Experiments geschaffen werden. Gelingt dies, reicht die Beziehungsdynamik innerhalb eines Ensembles bis in persönliche Fundamente: »Ein Ensemble schafft gegebenenfalls eine kreative Dynamik, eine Verschworenheit, eine Gründlichkeit des Befragens und der Selbstkritik, die jeden mitreißt oder manchmal umhaut«, sodass im Idealfall das Ensemble »die Falle der Vereinzelung« aufhebt (Hesse/Müller, zit.n. Kurzenberger 2009; 11). Für den Ensemblegeist sind allerdings weder die Idee einer Gruppe noch eine emotionale Bindung der Mitglieder Alleinstellungsmerkmale, sondern erst gepaart mit der inhaltlichen und künstlerischen Praxis wird eine Zusammengehörigkeit entfaltet, die beides, Sache und Beziehung, vorantreibt: »Emotionale Bindung und Gemeinsamkeit, ›Verschworenheit‹, korrespondieren mit analytischer Gründlichkeit und notwendiger Selbstkritik« (ebd.). Kurzenberger verweist auf das dabei notwendige Zusammenspiel aller Beteiligten: »[...] gleich an welchem Ort oder in welcher ästhetischen Ausformung, egal wie viele daran beteiligt und wie die besonderen Probebedingungen sind, Theater entsteht nie nur aus voluntaristischen Akten Einzelner, wenngleich diese notwendig, aktivierend und nicht selten auch inspirierend für alle Beteiligten sind. Darstellungsrahmen und Darstellungsaufgaben werden meist von mehreren gesetzt und gestellt, um mit ihnen die Entwicklung des Unvorhersehbaren in Gang zu bringen« (ebd.; 14). Die soziale Interaktion und der kommunikative Vorgang sind allerdings nicht von Willkür gekennzeichnete Aspekte der Probe, sondern folgen ebenso Regeln und sind Steuerungen zugänglich wie die anderen Komponenten der Probenstruktur und -strategie auch.44 44 | Allerdings wird die kommunikative Praxis kaum diskutiert und öffentlich und so konstatiert Kurzenberger gerade für dieses Segment einen Nachholbedarf: »Sowohl die organisatorische als auch die inhaltliche Verfassung des gegenwärtigen Theaters zeigt, dass die soziale Interaktion, auf der Theater basiert, häufig gestört ist, und zwar auf vielen Ebenen [...], insbesondere aber innerhalb des Theaters und seines Produktionsvorgangs selbst. Eben dies macht es sinnvoll, über die sozialen, die dialogischen Voraussetzungen und Möglichkeiten des Theaters [...] nachzudenken. Zu überprüfen ist, ob Theater aus dem Austausch der Spieler entsteht und möglich ist, ob die gemeinsame Interaktion Licht auf den Vorgang des Theaterspielens werfen kann und damit zugleich die im Stück gestellten Fragen erhellt« (ebd.; 70). Insbesondere die theaterpädagogische Didaktik muss beginnen, diesen Prozessen mehr Aufmerksamkeit zu widmen und Verfahrensweisen an die darin zur Geltung kommenden Interaktions- und Kom-

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Wie kann nun aber dieses Zusammenspiel näher beschrieben und einer Analyse zugänglich gemacht werden? Da in vorliegender Arbeit insbesondere die Funktion des Theaterpädagogen im Probenprozess aus didaktischer Perspektive ausgeleuchtet wird, können Beobachtungen aus kollektiven Probengemeinschaften wertvolle Hinweise geben. Hajo Kurzenberger hat eine Reihe von charakteristischen Leitmotiven angeboten, die auf der »Dialektik von Chorführer und Chor« beruhen und eine zentrale Leitfigur als »Orientierungsachse« ausweisen (vgl. ebd.; 23). Er schreibt beispielsweise: »Deutlich sichtbar wird [...], dass die Funktionstüchtigkeit des Theaterkollektivs wesentlich beeinflusst wird vom Führungsverhalten und Führungsstil der jeweiligen Chorführerinnen. Und ebenso selbstverständlich ist in allen Theaterkollektiven, mögen sie sich noch so egalitär gründen und verstehen, der Aspekt der sozialen Macht wirksam. Denn keine soziale Beziehung realisiert sich in einem machtfreien Raum« (ebd.; 24). Neben den besonderen fachlichen und sozialen Aspekten, die einen Spielleiter in konkreten Probenzusammenhängen mit einer besonderen Wissens- und Kommunikationskompetenz versehen, ihm zugeschrieben und von ihm erwartet werden, kann seiner Wirkungsmacht entlang von Entscheidungen nachgegangen werden, die zeigen, wie er diese Macht einsetzt und ausübt. In welchen Situationen er Entscheidungen trifft und auf deren Durchsetzung beharrt und wo seine Autorität dadurch zur Geltung kommt, dass er durch Anpassungen und Umdenken in Probenverläufe eingreift oder vermittelt, zeigt einen Umgang mit dem besonderen Status seiner Funktion als verantwortlichen Chorführers. Mit welchen Selbsteinschätzungen er seinen Anteil an der Ausbildung eines Ensemblegeists reflektiert, kann zeigen, wie bewusst und transparent solche Prozesse verlaufen. Obwohl der Regiepraxis immer eine höchst individuelle Prägung eingeschrieben ist und entsprechend verschiedenartig das methodische Vorgehen ist, enthält sie eine »allgemeine soziale Dimension«, die die Frage nahelegt, »wo die Partner und Mitspieler bleiben« und »wer wen motiviert oder demotiviert« (vgl. ebd.; 32). Worüber der Theaterpädagoge oder die Spieler sich wechselseitig herausfordern und provozieren, bildet dabei ebenso einen Beitrag im kollektiven Prozess wie die Relationen zwischen Individuum und Gruppe. In welcher Form das Ensemble als Gemeinschaft gestärkt wird und der Chorführer sich als Teil dessen, als Gegenüber oder als autonome Instanz positioniert, ist ebenso von Einfluss wie die Verbindung, die zu einzelnen Mitgliedern des Chors hergestellt und gestaltet wird. Die kritische Beschreibung von PraxisHaltungen gegenüber der Gruppe wie den einzelnen Darstellern mag einen Einblick geben in das soziale Gefüge, das für künstlerische Praxis produktiv gemacht wird. Entsprechend können soziale Modelle skizziert werden, die disparate Interessen und Persönlichkeiten für ein gemeinsames Anliegen munikationsmechanismen zu knüpfen, ohne in ihnen den Selbstzweck theatralen Handelns zu begründen.

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verbinden. Auf welchen Interaktionen das ›Wir‹ fußt, muss sowohl in der Nicht-Spiel-Wirklichkeit, in den Grenzgängen zwischen Nicht-Spiel und Spiel als auch in den Transformationen von Spiel zu Spiel betrachtet werden. Umgekehrt ist nicht aus dem Auge zu verlieren, in welchen Situationen die ›Ich‹-Komponenten der einzelnen Mitglieder eines Ensembles gestärkt werden, sodass in der Interaktion der Spieler eine Plattform geschaffen wird, »auf der die Freiheit des Spiels und die Freiheit des Einzelnen im Spiel möglich wird« (ebd.; 71), die sozialen und kommunikativen Voraussetzungen für ein möglichst umfangreiches Spielhaben der Kräfte aller Mitglieder eines Ensembles entstehen und Teil theatraler Darstellungspraxis werden.

3.4 Zusammenfassung In der künstlerischen Praxis des Theaters wird der sprachliche mit dem körperlichen Ausdruck konfrontiert und Spannung gerade durch die nicht identischen Aussagen von Körper und Sprache erzeugt. Sprachliches und gestisches Spiel werden so übereinandergelegt und gezielt komponiert, dass gegenläufige, widersprüchliche, doppeldeutige Kombinationen der beiden Aussagesysteme aufeinanderprallen. Die Ambivalenz und Ambiguität des gezeigten Handelns kommen auf diese Weise zum Ausdruck. In diesen divergierenden Spielen werden Konflikte erzeugt, die, sinnlich konkret dargestellt, den fiktiven Raum um ein reales Geschehen öffnen und kennzeichnen. Im Verlauf von Proben liegt die Aufmerksamkeit auf diesen Kompositionsprozessen. Was beim Inszenieren an Übersetzungsvorgängen unternommen wird, zeigt sich unter anderem daran, wie Ausgangstexte und Materialien eine In-Spiel-Setzung erfahren und wie von dort der Übergang zu einer In-Spiel-Setzung des Zieltexts verläuft, der die künftige Inszenierung zeitigt (vgl. Pavis 1988; 120f.). Spielprozesse, in denen Texte und Kontexte mit der Geste und dem Körper des Schauspielers konfrontiert werden, scheinen dafür geeignete Analysemotive. Für die Beschreibung und Herstellung von theatralen Spielvorgängen kann so das diffuse Konglomerat des Rollenspiels aufgelöst werden und Muster von Sprech- und Körperhandlungen zeigen, die in gezielten Akten des Fingierens ineinandergreifen. Wie Verkörperungs- und Versprachlichungsvorgänge in Gang gesetzt werden und in welcher Relation sie zu den Spielen um Imagination stehen, gibt modellhaft wesentliche Aspekte von Darstellungskonstruktionen wieder. Allein schon die durch einen Spieler je realisierten Figuren öffnen eine Anzahl unbegrenzbarer Variationen von Erzählmustern und Spielmöglichkeiten. Als sozusagen ›einfache‹ Multiplikation von zugleich realem und fingierendem Spieler erscheint ein endloses Feld von denkbaren Formen des Zusammenspiels. Kombiniert man diesen solistischen Teppich mit weiteren, im Spiel miteinander agierenden Personen, deren Wechselverhältnis von Sprechen und Bewegen eigene figurale Texturen erzeugt, entsteht eine weitere Schicht, die mit dem einzelnen Erzählmus-

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ter in Spannung treten kann. Die gespielten ›Rollen‹ sind dabei nicht länger personifizierte und verkörperte Ansichten von möglichen Menschen, sondern durch das mehrdimensionale Gewebe aus realen und fiktiven, performativen und semiotischen, konstruierenden und dekonstruierenden Vorgängen präsentierte Spiele über menschliche Möglichkeiten. Die Dimensionen so erzeugter Interaktionen und Imaginationen werden zu grundlegenden Modi theatraler Darstellungs- und Erzeugungspraxis. Wie in dem Konglomerat aus Körper, Sprache und Imagination das Wechselverhältnis zwischen Spiel und Spiel mäandert, welches Spiel im Spiel gespielt werden kann, ist für die künstlerische Praxis und den szenischen Prozess des Inszenierens elementar. Dem Spiel beigeordnet ist immer ein Zusammenspiel aller Beteiligten, dessen soziale Struktur Machtverhältnisse impliziert, die in Interaktionsund Kommunikationszusammenhängen sichtbar werden und auf sie einwirken. Welcher Führungsstil seitens der Regie praktiziert wird und aus welcher Haltung heraus der einzelne Spieler und die Gruppe Anregungsund Veränderungsimpulse auf der Ebene zwischen Nicht-Spiel und Spiel bzw. zwischen Spiel und Spiel geben können, sagt aus, in welcher Hinsicht von Solidarität und Ensemblegeist gesprochen werden kann. Reflexionen auf die Vermittlungsbesonderheiten werden hier thematisiert und führen in einem übergeordneten Sinne zu einer Regie als Spiel. Eine Übersicht auf das entworfene Netzwerk von Analysekategorien und -kriterien stellt diese schematische Systematik dar, die nur in Verbindung mit der rhizomartigen Struktur des Felds eine mögliche Karte für das Territorium »Probe« bildet. Sie bildet schlagwortartig jene Bereiche ab, in denen sich Handeln in den dargelegten Kategorien verorten lässt und eine jeweils am konkreten Probenprozess zu beschreibende PraxisHaltung zum Ausdruck kommt. Leitmotivisch ist in allen Bereichen zu untersuchen, wie der Theaterpädagoge den Einzelnen und die Gruppe in produktive Krisen stürzen kann, welche Durchsetzungs- und Anpassungsstrategien er dabei einsetzt und wie er seine soziale Vormachtstellung in die kollektive Praxis einbringt und kritisch reflektiert. Auf der Gegenseite ist von Interesse, wie und wodurch die anderen ihn in Krisen bringen können und mit welchem Gewinn das sowohl für die transformatorischen Bildungsprozesse aller als auch für das künstlerische Experiment und die inszenierten Ereignisse einhergeht.

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Kategorien

Rahmen

NichtSpiel/ Spiel

Kontexte

Konstruktion

Spiele um Sprache Spiel/ Spiel

Regie als Spiel

Spiele um Körper

Kriterien Ň Rahmenkultur Ň Variabilität Ň Sozialität Ň stoffliche Basis Ň Referenzrahmen (Wissens- und Erfahrungshintergründe) Ň Vermittlungsabsicht Ň Rollenverständnis Ň Ineinandergreifen von Realität und Fiktionalität Ň inhaltliche und/oder formale Figurentypologie Ň stimmlich-klangliche Prozesse Ň Prozesse der Sinnproduktion Ň Wechselspiel von Genotext und Phänotext Ň dialogische Praxis Ň Selbstentfremdungsprozesse Ň Verkörperungsstrategien zwischen Darstellen und Erzeugen

Spiele um Imagination

Ň Wahrnehmungslenkung Ň Fantasieführung Ň Fiktionalisierungssysteme

Vermittlungs reflexionen

Ň Führungsverständnis Ň Solidaritäten Ň Ensemblegeist

4 S PIELEND DENKEN IV Spielpädagogische Gruppenübungen und das bunte Allerlei unzähliger Theater- und Improvisationsübungen lassen sich vielerorts nachlesen und können dem Theaterpädagogen bei der Planung und dem Entwurf von Proben- und Inszenierungsvorhaben anregende Hilfe sein. Aber wie viel Theatersport verträgt eine Schulklasse? Wohin sollen schauspielmethodische Übungen mit einer Gruppe von Senioren führen? Was lenkt in der Probe den theaterpädagogischen Handlungsimpuls?

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Werden im professionellen Theaterkontext Proben in erster Linie unter dem Aspekt hervorgebrachter oder hervorzubringender Darstellungsereignisse betrachtet, muss der pädagogisch-didaktische Diskurs bedenken, dass die Darsteller das theatrale Spiel unter anderen Voraussetzungen beginnen. Anstelle der Kunstfertigkeit des Schauspielers, seiner Verkörperungsstrategien und Erfahrungshintergründe im Erzeugen von Spiel steht die Suche nach darstellerischen Möglichkeiten und spielerzeugenden Prozessen im Vordergrund. Mit anderen Worten: Kann der professionelle Schauspieler für einen szenischen Vorgang, das Betreten eines fremden Zimmers beispielsweise, ad hoc eine Vielzahl von Varianten anbieten und erfinden, beginnt für den unerfahrenen Spieler die Herausforderung mit der Erkenntnis, dass es unzählige Varianten dessen geben kann, und dem konkreten Erspielen einer für die gesuchte Situation möglichen und schlüssigen Version. Das Zentrum der Auseinandersetzung verschiebt sich: Der Schauspieler als ein bereits mit einer Kulturtechnik vertrauter und versierter Darsteller stellt seine Fertigkeiten einer theatralen Praxis zur Verfügung. Der nichtprofessionelle Akteur strebt in irgendeiner Form nach dieser »anderen« Ausdrucksform, muss sie aber erst entdecken. Im Vorgang des Erwerbens schauspielerischer Kompetenzen liegt der Anknüpfungspunkt für ästhetische Bildungsprozesse und für die Entwicklung theaterpädagogischer Probenpraxis und -dramaturgie. Sind entsprechend theatrale Darstellungsereignisse mit nichtprofessionellen Akteuren aus der Sicht schauspielmethodischer Fertigkeiten in der Regel weniger komplex und virtuos, sollte sich diese Diskrepanz im Ineinander und Miteinander von game und play nicht bemerkbar machen. Gleich, welchen handwerklichen Status ein Darsteller hat, die Schwelle zwischen Nicht-Spiel und Spiel ist in jedem theatralen Ereignis zu überschreiten und fordert die Bereitschaft zu aktueller Selbst- und Wirklichkeitsüberschreitung in einem ergebnisoffenen Prozess der experimentellen Suche. Da diese an die eigene Wirklichkeit anknüpft und in Reibung und Auseinandersetzung mit etwas außerhalb des vertrauten Universums vollzogen werden muss, können diese Spielanlässe im theaterpädagogischen Kontext einerseits komplex und virtuos sein, andererseits durch die Besonderheiten der von den Darstellern ins Spiel gebrachten Wirklichkeiten Erzählweisen und Spielformen zur Darstellung bringen, die sonst so nicht sichtbar werden können. Das daraus resultierende Spiel mit theatralen Mitteln in eine Experimentieranlage zu bringen, ist wesentliches Kriterium einer theaterpädagogischen Probenpraxis. Neben die schauspielkünstlerische Arbeit tritt, so die hier vertretene Überzeugung, die Kunst des Spielens. Der Erwerb von handwerklichen Fertigkeiten und schauspielanalogen Differenzierungsrastern kann in einzelnen Situationen zwar erkenntnisbildend für die Kunstform Theater sein und berechtigt Eingang in die theaterpädagogische Arbeit finden, das intendierte Potenzial für theaterpädagogische Denk- und Spielprozesse solcher Verkörperungspraxen verbirgt sich jedoch in einer »Inszenierung von suchender Intensität«, die »nicht

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normatives Wissen bestätigt, sondern neues Verstehen öffnet« (Otto 1998; 16). Sollen Verständnisprozesse über technische Fertigkeiten des Schauspielens hinausreichen, sind Begegnungen zwischen darstellerischen Mechanismen und dem Prozess der subjektiven Auseinandersetzung damit auf der Basis des Spiels vonnöten. In der Konsequenz bedeutet dies eine erweiterte Verortung theatraler Bildungsprozesse: Theaterpädagogische Probenpraxis muss sich so weit von schauspielmethodischen Modellen lösen, dass dramaturgische Spielarten damit in den Proben verfolgt werden können. Erst die Prozesse des Ringens um Darstellungswege und -regeln beherbergen Erfahrungsmomente, die in der schlichten Adaption von Gesetzmäßigkeiten verloren gehen. Der fragende Blick der Darsteller auf das erprobte und zu erprobende Material kann vermutlich umso staunender und für Bildungsprozesse fruchtbarer werden, je differenzierter die Darsteller mit diesem in ein Spannungsverhältnis zu ihrer mit in den Spielprozess eingebrachten Wirklichkeit, ihrem Habitus, treten. Entlang solcher Schnittstellen in der Probensituation einen Spielraum für theatrale Praxis zu suchen entspräche einer theaterpädagogischen Didaktik mit bildungstheoretischem Anspruch. Den auf diesem Weg gefundenen und erfundenen Denk- und Spielvorgängen Raum zu geben ist der Anlass für theatrale Ereignisse und ihr Ziel – von der ersten Begegnung mit einer Gruppe bis hin zur Einbettung der erzeugten Auseinandersetzung in eine Inszenierung. Hierfür können für den Theaterpädagogen aufeinander aufbauende Kompetenzen benannt werden: Er  muss Spiele spielen können, Spiele anleiten können, Spiele anpassen können, Spiele variieren können. Obwohl er von Mal zu Mal neu entscheiden muss, wie in ein laufendes Spiel interveniert werden kann und unter welchen Vorgaben es sich in eine gewünschte Richtung wendet, sind aufbauend folgende Handlungskomponenten theaterpädagogisch relevant: ein Spiel szenisch nutzen können, in ein laufendes Spiel vielfältig und verändernd eingreifen können, Spiele auf der Basis anderer »Texte« (Stoffe, Textvorlagen, Erzählanliegen, Fragestellungen etc.) erfinden und sie miteinander verketten können, die Wirklichkeit der Spieler ins Spiel einbinden und herausfordern können. Hinzu kommt, dass nicht nur die konkrete Situation berücksichtigt werden muss, sondern mehr und mehr auch ad hoc strategische Entscheidungen im Hinblick auf eine Inszenierung zu treffen sind. Kriterium und Maßstab für die Suche nach bestimmten Spielprozessen, das Forcieren einzelner Aspekte, die Konstruktion und Konstitution bestimmter Regelwerke und die didaktische Reflexion gefundener Spielvorgänge ist auf jeder der angesprochenen Ebenen der agierende Spieler und dessen Selbstbewegung innerhalb des Spiels. Sind diese theaterpädagogischen Handlungsfelder so weit automatisiert, dass die Aufmerksamkeit für den sich ereignenden Moment selbstverständlich und zum Motor für die Genese erneuerter Interaktionen und Interventionen geworden ist, kann der Kunstfertigkeit im Umgang mit dem Spiel eine höhere Aufmerksamkeit gewidmet werden, beispielsweise

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entlang der Frage, wann der richtige Zeitpunkt ist, ein Spiel zu intensivieren, und wie dies im Einzelfall erfolgt. Die Entwicklung von Spielkompositionen, die in Proben gefundenes Darstellungsmaterial zu einer »Erzählung« verdichten, ist ein nächster Schritt. Wie der professionelle Darsteller unzählige Varianten eines Spielvorgangs ad hoc generieren kann, ist der Theaterpädagoge professionell, wenn ihm dies für produktive Spielzüge innerhalb eines jeweils anderen, konkreten Ensembles nichtprofessioneller Darsteller gelingt. Ist man dort angelangt, beginnt mit der Frage »Wie weiter?« ein zyklischer Vorgang: Veränderungen in der eigenen Strategie und Probendramaturgie werden zur notwendigen Triebfeder, um ein sich selbst reproduzierendes System von Improvisationssettings und Darstellungsregeln zu unterlaufen. Die Entwicklung und Erfindung neuer Suchprozesse und Probendramaturgien beginnen wiederum mit einer fragenden Auseinandersetzung, mit erneuten Denk-Spielen, die mit der eigenen Kompetenz zu spielen spielen. Scheinen in dieser Folge auf den ersten Blick die den Spielprozess konstruierenden Motive dominant, sind auf der anderen Seite die das Spiel dekonstruierenden Aspekte von mindestens gleichrangiger Bedeutung. So ist es von zentralem Interesse, Erwartungshaltungen, Konventionen und Gewohnheiten aufseiten der Spieler wie der Spielleitung immer wieder neu verwerfen zu können, die Spielabsichten eines Darstellers erkennen und durchkreuzen zu können, verborgene Spiele zu spielen oder durch die die Spielwirklichkeit entlarvenden Strategien das Spiel selbst neu zu intensivieren. Je prominenter im Probenprozess Spielzüge, die nicht naheliegen, hervorgerufen und realisiert werden können, desto wahrscheinlicher lassen sich Irritationen und Perspektivenwechsel provozieren, in deren Rahmen der Spieler sich anders erfährt. Erfahrungen, die vertraute Denkweisen differenzieren und neue Dispositionen der eigenen Selbstbestimmung verhandeln, sind idealerweise die Folge. Verflüssigen oder lösen sich dabei habitualisierte Denk- und Handlungsgewohnheiten auf, ändern sich Selbst- und Weltverhältnisse.

V PraxisHaltungen

»Ich bin glücklich, hier mit Ihnen zusammen zu sein, und bereit, über jede Erfahrung zu sprechen, die für Sie von Nutzen sein könnte – unter einer Bedingung: dass Sie ganz genau achtgeben, wenn jemand von seiner eigenen Erfahrung erzählt« (Brook 2003; 78). Diese einleitenden Worte stellt Brook einem Gespräch mit Regiestudierenden über seine Arbeit voran und erläutert seine Haltung: »Die Erfahrung eines Augenblicks ist das Ergebnis von vielen Faktoren: wo man geboren ist, wie man aufgewachsen ist, wie man gelebt hat – jeder muss also sehr, sehr vorsichtig sein, die Schlussfolgerungen eines Einzelnen allzu wörtlich zu nehmen, denn so kann man für niemanden anderen von Nutzen sein. Nur wenn Sie einen solchen Bericht als Metapher oder Parallele sehen, die auf ganz bestimmte Weise angewendet werden kann, ist er nützlich. Wenn Sie also versprechen, nichts von dem, was ich sage, zu wörtlich zu nehmen, können wir miteinander ins Gespräch kommen« (ebd.; 78f.). Brook hebt in dieser Präambel seinen eigenen Erfahrungshintergrund als unübertragbar hervor, er relativiert sein Wissen und seine Erkenntnisse aber gleichzeitig und eröffnet dem Gegenüber die Chance, in eine von seiner Individualität getragene Auseinandersetzung mit den Aussagen einzutreten. Da jeder andere Erfahrungen macht, ist Erfahrungswissen immer subjektiv geprägt und nur aus dieser Perspektive heraus gültig. Anschlussfähig wird dieses Wissen erst, wenn das Gegenüber genug Distanz findet, die eigenen Resonanzräume mit den fremden Sichtweisen in ein ausgewogenes Wechselspiel zu bringen. Wie kann man im wissenschaftlichen Kontext produktiv an diesem Erfahrungswissen teilhaben? Brooks didaktische Vorbemerkung verweist auf den grundsätzlichen Charakter von »Begleit-Texten« (vgl. Hruschka 2005; 25) zu künstlerischer Praxis: Sie machen ein »Sich-Einlassen« notwendig (vgl. ebd.; 19). In Forschungskontexten erfordert dieser Umstand eine Haltung, »die auf den Eigensinn des zu untersuchenden Materials vertraut und das Widerständige, Ungleichförmige, das Überraschende des Gegenstandes vor einer allzu wissenschaftlich-distanzierten Betrachtungsweise schützt. Es ist ein Balanceakt, die Reden über Darstellungspraxis in ihrer manchmal sehr eigenwilligen Besonderheit unangetastet zu lassen und sie dabei in

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ein systematisierendes Neu-Arrangement zu überführen« (vgl. ebd.). Die erkenntnistheoretische Einschränkung birgt aber auch einen Zuwachs an Beziehungspotenzial, denn in ihrer Vagheit öffnen die Auslegungsbemühungen Spielräume der Fantasie, die eine produktive Reibung erzeugen können, dem Rezipienten eigene Sichtweisen erlauben (oder abverlangen) und Denkprozesse in spielerischer Bewegung halten, hin auf eigene Praxisreflexion, her von der Kontaktaufnahme zum Fremden. Stehen in diesem Gefüge Erkundungen zu künstlerischen Verfahrensweisen und die ihnen eingeschriebenen PraxisHaltungen im Mittelpunkt, kann es kaum darum gehen, aus dem untersuchten Material Kopiervorlagen zu extrahieren. Es muss als Bedingung die »selbstverantwortliche Reflexion auf fremde künstlerische Praxis« geltend gemacht werden, durch die solche »generativen Verfahren«1 erst Bedeutung zugesprochen bekommen und in der »eigenverantwortlichen Transformation« didaktische Fantasie anregen (vgl. Hentschel 2003; 73). Bevor die Konfrontation mit den Äußerungen zur künstlerischen Praxis unter den in Kapitel IV.3 dargelegten Kategorien vorgenommen wird, sollen vorab der spezifische Wert  des verwendeten Untersuchungsmaterials skizziert und Auswahlkriterien nachvollziehbar werden. Zwischen Künstlertheorien und Probendokumenten. Unter Künstlertheorien werden nachfolgend all jene Äußerungen subsumiert, die Künstler zu ihrer Schaffensästhetik machen.2 Da sie in der Regel von »konkreten, in der künstlerischen Praxis auftretenden Problemen« ausgehen und »versuchen, diese auf dem Weg der Reflexion und immer im experimentel1 | Generative Verfahren sind »aus Künstleräußerungen zu entnehmende, aber auch dem einzelnen Werk ablesbare Verfahren, die generativ einerseits sind, weil ihre Anwendung die Herstellung neuer Werke ermöglicht, andererseits weil aus ihnen wiederum neue Verfahren zur Produktion abzuleiten sind. Sie sind insbesondere für die Didaktik der ästhetischen Erziehung (alle Künste betreffend) von Bedeutung« (aus dem Antrag auf Einrichtung und Förderung des Graduiertenkollegs ›Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses‹ an der Universität der Künste, Berlin, zit.n. Hentschel 2003; 73). 2 | Im Unterschied zu der gängigen Definition von Künstlertheorien als impliziten oder expliziten Äußerungen von Künstlern zu ihrem Werk favorisiere ich den breiteren Kontext der Schaffensästhetik. Die Reflexion auf Entstehungsprozesse, Suchstrategien und Arbeitsstrukturen kommt meines Erachtens dabei deutlicher zum Ausdruck als in dem missverständlichen Wortgebrauch des Werks. Zudem markiert die Betonung einer Schaffensästhetik die Prozessualität und Materialverwendung in künstlerischer Praxis, sodass produkt- bzw. werkbezogene Erläuterungen nur mehr einen Teil von Künstlertheorien ausmachen. »Da die Werkkategorie fragwürdig geworden ist«, könnte man diese Haltung mit Franck Hofmann beglaubigen, »tritt die Frage nach einem diesem vorgelagerten oder seine Grenzen überschreitenden künstlerischen Schaffensprozess als Frage nach Strukturen und Strategien ästhetischen Denkens hervor« (Hofmann 2000; 26).

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len Zusammenhang mit dieser Praxis zu lösen« (Hentschel 2003; 73), entspricht ihre Qualität jener von didaktischen Reflexionen: Sie sind zwischen Alltagstheorie und den wissenschaftlichen Metatheorien angesiedelte Reflexionsversuche.3 Künstlertheorien aus dem Theaterkontext bieten einen validen Rahmen, um das ›Wie‹ theatralen Produzierens zu beschreiben, Vorgehensweisen einsichtig zu machen und mentale Dispositionen zu offenbaren. Künstlertheorien überschreiten »das einzelne künstlerische Ereignis, seine konkreten Produktionsbedingungen und die damit möglicherweise verbundene subjektive Erfahrungsqualität, bemühen sich um Deutungen und fragen nach Möglichkeiten der Verallgemeinerung von Handlungen im jeweiligen künstlerischen Zusammenhang (Hentschel 1996; 20). Zugleich bringen sie sehr heterogenes, inkommensurables und teils widersprüchliches Material über den Prozess theatralen Gestaltens hervor, sodass Verallgemeinerungen kaum möglich sind (vgl. ebd.; 158). Die theoretische Kohärenz künstlertheoretischer Reflexionen kann auf sehr unterschiedlichen Niveaus liegen und mehr der vom Einzellfall ausgehenden Betrachtung oder den grundlegenden Erkenntnissen innerhalb einer individuell erprobten Systematik theatralen Produzierens geschuldet sein. Der Reflexionsgrad und die Komplexität solcher Reflexionen sind abhängig von den Diskussionskontexten, in die sie vonseiten des Künstlers eingeordnet werden. Eine auf schauspielmethodisches Denken ausgerichtete Systematisierung eigener Erfahrungen mit ausgewiesenen Referenzen auf Wissensbausteine bestehender Theorien verweist beispielsweise auf die »Mehrsprachigkeit«4 eines Künstlers, während eine auf die singuläre Erfahrung bezogene Aussage der einfachen Reflexion eigenen Erlebens näher steht. Für den vorliegenden Untersuchungskontext bilden Künstlertheorien einen Teil des Auswertungsmaterials. Diese werden erweitert um Quellen, die auf die Probenpraxis der ausgewählten Regisseure eine ergänzende Sicht bereitstellen. Durch den Einbezug verschiedener Stimmen wird die zwischen Praxisreflexion und Wissenschaft changierende Mehrsprachigkeit bewusst aufgesucht und dem einzelnen Künstler das Interpretationsmonopol entzogen. Anstelle des Nachvollzugs und der Ausdeutung einer konkreten Künstlertheorie hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit an theaterpädago3 | Sie liegen als handlungsleitende Konzepte auf einer mittleren Abstraktionsebene, die reflektiertes Handlungswissen aus der Praxis für die Praxis systematisiert (vgl. Hentschel 2003; 71). 4 | Unter Mehrsprachigkeit versteht Franck Hofmann das Vermögen eines Künstlers, seine Reflexion zwischen den Ansprüchen von Kunst und Wissenschaft differenziert darstellen zu können. »Erst wenn diese Fähigkeit, zu sich, seiner empirischen Person und seiner Arbeit auf Distanz zu gehen, entwickelt ist, sind die Selbstauslegungen der Künstlerinnen von mehr als voyeuristischer Relevanz« (Hofmann 2000; 28).

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gische Kontexte geht es hier um einen multiperspektivischen Blick auf Prozesse des Produzierens unter der besonderen Berücksichtigung von Interaktions- und Interventionsstrategien der Vermittlung. Dass für eine gültige und differenzierte Einschätzung von PraxisHaltung die Selbstauslegung dieser Regisseure ergänzt werden muss und andere Beteiligte zu Wort kommen müssen, ist selbsterklärend. Darüber hinaus kann eine Mehrstimmigkeit das ereignishafte, schillernde Spiel theatraler Experimente deutlicher abbilden als die autarke Deutungshoheit eines einzelnen Experimentators. Ergänzend zu Künstlertheorien kommen also auch Quellen zu Gehör, die Teil einer konkreten Praxis sind: Schauspieler, künstlerische Mitarbeiter, aber auch Beobachter, die Proben begleitet und Arbeitsprozesse dokumentiert haben. Diese teilnehmenden Beobachtungen werden hier im Sinne einer subjektiven Wiedergabe von Prozessen im Umgang mit dem Material und Haltungen zur Praxis gehandelt, die nicht eine allgemeingültige Synthese disparater Aspekte eruieren wollen, sondern vielmehr die Ausgangsbasis (Probenstrategien und Regiehandeln) möglichst vielfältig umkreisen. Analysematerial und Auswahlkriterien. Für die Analyse von PraxisHaltungen werden exemplarische Probenmodelle von drei Regisseuren ausgewählt: George Tabori, Robert Wilson, Peter Brook. In der dreipoligen Betrachtung kann das Spiel zwischen den Beispielen vielschichtiger und komplexer werden, hier gibt es für jeden ausgewählten Fall Mitspieler und Gegenspieler, unterschiedliche Resonanzen und Korrespondenzen in der vergleichenden Betrachtung. Folgende Kriterien waren für die Auswahl der Beispiele handlungsleitend: Ň Der gemeinsame epochale Kontext: Die zeitgeschichtliche Nähe erlaubt eine Binnenperspektive auf Vorgehensweisen und verdeutlicht im Vergleich die jeweils besonderen Spielräume des Handelns einer konkreten Praxis. Ň Eine Anerkennung der Inszenierungspraxis als einflussreich und bemerkenswert: Diese konnte durchaus widerständig, abseits gängiger Normen und von deutlichem Eigenwille gekennzeichnet sein und im institutionellen System des deutschsprachigen Theaters erst allmählich in ihren Besonderheiten wahrgenommen und anerkannt werden. Ň Der Laborcharakter der Praxis: Der experimentelle Status der Probenarbeit sollte gewährleistet sein. Veränderung und Erneuerung von Konventionen, die ergebnisoffene Suche und das Entwickeln von (Er-) Findungsstrategien waren relevante Kriterien für die Zusammenstellung der drei ausgewählten Praxen. Die Regisseure sollten für die Erneuerung von ästhetischen Stilen wie auch für ein anderes Selbstverständnis innerhalb der eigenen Berufssparte stehen.

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Ň Die Zusammensetzung des Ensembles: Erfahrungen mit nichtprofessionellen Akteuren, die Entwicklung der Theaterpraxis abseits von institutionalisierten Theatern, eine aktive Öffnung des Spielrahmens für ungewöhnliche Besetzungen, eine Neugier auf Schauspieler, die nicht schon erfolgreich und namhaft sind. Ň Die Nachhaltigkeit und Strahlkraft der Beispiele: Wichtig für gegenwärtige Anknüpfungen erschien der noch wirksame Einfluss der Regisseure auf nachfolgende Generationen des Gegenwartstheaters. Die Arbeit des internationalen Theaterlabors Peter Brooks, der Kreis um George Tabori und seine für das deutschsprachige Theater avantgardistischen theatralen Experimente sowie die in Amerika begründeten, aber erst in Europa wirklich zur Geltung gekommenen theatralen Sprachspiele Robert Wilsons, deren Beginn in der kollektiven Arbeitsweise der Byrd Hoffman School of Byrds angesiedelt ist, entsprachen dem Kriterienkatalog. Alle drei Beispiele variieren den Professionalitätsbegriff der Akteure in völlig verschiedenen Ausrichtungen, ihre Praxis hat sich über weite Strecken in kollektiven Arbeitskontexten entwickelt und sie zählen bis heute zu den Paradebeispielen einer veränderten westeuropäischen Theaterkultur infolge der 1968er-Jahre.5 Zu allen drei Regisseuren gibt es inzwischen umfangreiches dokumentarisches Material, Begleittexte in Form von Interviews mit ihnen, beteiligten Schauspielern und weiteren Mitarbeitern sowie wissenschaftliche Abhandlungen über ihre Arbeit und, in unterschiedlichem Umfang, originäre Künstlertheorien. Für die an PraxisHaltungen orientierte Analyse sind die unmittelbaren Probenbeschreibungen und -reflexionen von hohem Stellenwert, ergänzt um die Selbsteinschätzungen und -auslegungen der drei Regisseure inklusive ihrer Praxistheorien. Theaterwissenschaftliche Quellen werden nur dort ergänzend hinzugezogen, wo sie Verstehensprozesse der Probenpraxis unterstützen und nicht selbstreferenzielle, wissenschaftliche Interpretationen darstellen. In den nachfolgenden Abschnitten werden die zuvor ausgeführten Kategorien (vgl. Kapitel IV.3) zwischen Nicht-Spiel und Spiel (Kapitel V.1), zwischen Spiel und Spiel (Kapitel V.2) und Regie als Spiel (Kapitel V.3) behandelt. Grundsätzlich verweigern die Beschreibungen eine werkanalytische Rekonstruktion von Probenprozessen zugunsten einer archäologischen Spurensuche, die aus gesammelten Fundstücken Sichtweisen auf Praxis generiert. Eine weitere Eingrenzung wird durch die nichtbiografische, strukturalistische Vorgehensweise definiert.6 Es soll weder der Personenkult den Fokus auf die eigentliche Praxis relativieren, noch die didaktische Fantasie durch logozentrische Erklärungsversuche über den 5 | Für weiterführende Hintergrundinformationen zu Werdegang, Werkbiografie und Persönlichkeit der einzelnen Regisseure sei auf die einschlägigen, gut zugänglichen Quellen verwiesen. 6 | Vgl. Barthes 2000.

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Ursprung einer solchen Praxis eingeschränkt werden. Von Relevanz sind allein die PraxisHaltungen, die in Handlungsbeschreibungen und Praxisreflexionen sichtbar werden, und der Versuch, daraus Vorschläge abzuleiten, wie man diese Erscheinungen der Praxis lesen kann. Letztlich zielt dieses Vorgehen nicht auf die Begründung eines geschlossenen und in sich schlüssigen Systems, sondern will Probenverfahren und -mentalitäten in einem hermeneutischen Zirkel miteinander diskutieren. Zur Darstellungslogik: In Kapitel V.1 werden die drei Regiepraxen nacheinander vorgestellt und analysiert. Dort sollen Kohärenzen in konzeptioneller Hinsicht das strategische Ineinandergreifen von Rahmen, Kontexten und Konstruktionen deutlich machen und fokussieren. Vorangestellt wird den drei Abschnitten jeweils eine Kartografie, die Hintergründe zu den Inszenierungsstilen von George Tabori, Robert Wilson und Peter Brook skizziert. Danach wechselt die Perspektive. Die Kategorien zwischen Spiel und Spiel (Kapitel V.2) stehen im Mittelpunkt. Anstelle von eher konzeptionellen Entscheidungen werden konkrete Verfahrensweisen der Praxis dominant. Hier wird jeweils mit einem anderen Regisseur eine neue Untersuchungskategorie eröffnet, sodass die anderen beiden als Referenzrahmen die  aufgezeigten Operationen der Praxis konterkarieren, erweitern und um andere Strategien und Vermittlungsformen ergänzen. In der Kategorie »Spiele um Sprache« beginnt die Suche bei Peter Brook (Kapitel V.2.1), in den »Spielen um Körper« steht George Tabori zu Beginn (Kapitel V.2.2) und im »Spiel um Imagination« ist Robert Wilson erste Referenz (Kapitel V.2.3). In der dritten Etappe, der Regie als Spiel (Kapitel V.3), wird bewusst ein fließender Wechsel zwischen den Referenzen initiiert und nach Auffälligkeiten, Ähnlichkeiten und Disparatem in den Führungsstilen gesucht, sodass der thematische Kristallisationspunkt die hierarchisierende Systematik der Beschreibungen weiter auflöst. In den Zwischenstopps nach jedem Abschnitt werden Auffälligkeiten der ausgewerteten Probendokumente gebündelt. Haltungen und Praxis von Tabori, Wilson und Brook werden hinsichtlich gemeinsamer und unterschiedlicher Strategien nebeneinandergestellt, sodass sich deren theatrale Verfahrensweisen diversifizieren lassen und in ihren jeweiligen Besonderheiten sichtbar werden. Ein abschließendes »Spielend denken V« nutzt die Erkenntnisse für den gedanklich-spielerischen Entwurf von theaterpädagogischen Verfahrensweisen und Spielstrategien (Kapitel V.4).

1 Z WISCHEN N ICHT-S PIEL UND S PIEL Ein Wechsel von der Alltagswirklichkeit zur Spielwirklichkeit kann auf unterschiedliche Art vorbereitet und eingeleitet werden (vgl. Kapitel IV.3.1). In der Analyse von PraxisHaltungen zwischen Nicht-Spiel und

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Spiel stehen stellvertretend drei Kategorien zur Disposition: die Frage nach der Rahmung von Probensituationen, der Zugang zu und Umgang mit Texten und Kontexten sowie die Vorstellung über Strukturen und Zeichenhaftigkeit der Darstellung. Wie in diesen drei Bereichen das theatrale Spiel vorbereitet wird, selbst spielerische Züge annimmt, gilt es am einzelnen Beispiel genauer zu verfolgen. Unter dem Aspekt der Rahmung wird insbesondere nach der Probenkultur gefragt, auf die ein Ensemble trifft und die es herstellt. Inwiefern dieser erste Rahmen variiert und für Einflüsse aus der Alltagswirklichkeit variabel gemacht wird, gibt Auskunft über seine Elastizität. Der Stellenwert von sozialen Interaktionen zeigt, welchem Miteinander wie viel Raum zugesprochen wird und wie die Kommunikation außerhalb der szenischen Praxis organisiert ist. Die Kategorie Kontexte zeigt, welche stoffliche Basis der Ausgangspunkt für eine Inszenierung ist und wie Aneignung und Auseinandersetzung damit in einem ersten Schritt erfolgen. Wie Wissens- und Erfahrungshintergründe die Proben beeinflussen und welche Setzungen bestimmte Praxen befördern, ist für die Synthese einer PraxisHaltung ausschlaggebend. Diese kann als Triebfeder für die Suche zwischen einem Inhalt, einer Kommunikationsabsicht und der eigenen Relation dazwischen angesehen werden. In der Kategorie Konstruktion wird das Rollenverständnis abgebildet. Die gedankliche Konzeption einer Rolle im Spannungsverhältnis von sozialer und artifizieller Wirklichkeit macht eine Figurentypologie kenntlich, die durch das nachfolgende Spiel erzeugt werden soll. Welches Wechselverhältnis von fiktionalen und realen Elementen dieses Spiel vorsieht, führt die Analyse an die Schwelle zu dem nächsten Kapitel, der Untersuchung von PraxisHaltungen zwischen Spiel und Spiel (Kapitel V.2). Vor der Erörterung der Regiepraxen zwischen Nicht-Spiel und Spiel von George Tabori, Robert Wilson und Peter Brook stecken einleitende Kartografien den Spielraum der jeweiligen Arbeitsweise in groben Zügen ab.

1.1 Kartografie I: George Tabori »Detlef, stimmt es, dass ihr da furchtbare Sachen macht? [...] Stimmt es, dass ihr da Äpfel an die Wand schmeißt?«, wird der Schauspieler Detlef Jacobsen nach eigener Aussage vom Bonner Intendanten über die Arbeit mit George Tabori ausgefragt (vgl. Ohngemach 1989; 59). An diesen Fragen lässt sich die ganze Zerbrechlichkeit des Experiments Tabori in den ersten Jahren seiner Tätigkeit in Deutschland ermessen – Unsicherheit und Respekt, Distanz und Neugier in Bezug auf seine Person, sein Theaterlabor und die Inszenierungen. Hat Taboris Theaterarbeit in den 1970erJahren Unverständnis und Irritation provoziert, galten seine Projektarbeiten bald als außergewöhnlich und legendär: »Tabori zählt zu den raren Paradiesvögeln der Kulturszene«, schreibt Werner Schulze-Reimpell in

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dem Tabori gewidmeten Band der Literaturzeitschrift Text+Kritik und begründet diese Extravaganz unter anderem damit, dass Tabori sich »quer zur Tendenz der Epoche« stelle, indem er verkünde, »der Schauspieler sei das Konzept seiner Theaterarbeit«, und bald »deutlich wurde, dass hier ein Theaterproduzent auftrat, der sich auch als Regisseur verstehen wollte, bei dem jedoch (noch) nicht die ästhetische Kategorie seiner Stücke den Regiestil präokkupierte« (vgl. Schulze-Reimpell 1997; 12ff.).7 Die Ergebnisse dieser Arbeit stellt der Kritiker Benjamin Heinrichs am Beispiel der Shakespeare-Adaptionen Taboris in eine Reihe mit denen von Peter Brook, Peter Zadek und Pina Bausch und konstatiert, »dass keiner dieser Abende seine Faszination aus einer hoch entwickelten Virtuosität oder einer hoch entwickelten Theatertheorie bezieht, dass alle im weitesten Sinne Gruppenprojekte sind, angeführt von Regisseuren, deren Funktion der Rolle eines Gurus ähnlicher ist als der des allwissenden Interpreten« (Heinrichs, zit.n. Welker/Berger 1979; o. S.). Den Vorwurf an Tabori, er sei ein Guru und die Schauspieler wären von ihm abhängig, weist der Schauspieler Klaus Fischer im Gespräch mit Gundula Ohngemach entschieden zurück: »Das war etwas, was mich von Anfang an maßlos geärgert hat: dass Schauspieler irgendwelche Deppen sind, mit denen man alles machen kann. Das konnte man mit mir noch nie! Im Gegenteil. Insofern war ich auch kein leichter Schauspieler« (Fischer, zit.n. Ohngemach 1989; 91). Taboris Inszenierungen zeichnet eine Risikobereitschaft in Inhalt und Form aus, die sich einerseits »schwer von der zeitgenössischen Situation trennen« lässt (ebd.; 15) und andererseits ihre Wirkung immer auch aus 7 | Tabori fällt allerdings – oder vielleicht gerade deshalb – zahlreichen Vereinnahmungen zum Opfer: Einerseits wird neben der kritiklosen Glorifizierung seiner Arbeit und damit einhergehenden Mystifizierung seiner Person seitens vieler Bewunderer Tabori das Image eines Gurus (vgl. u.a. Ohngemach 1989; 89ff.) zuteil, andererseits verlockt eine einseitige Betrachtung seines Theateransatzes zu der Tendenz, ihn für die je eigenen Absichten zu missbrauchen. So interpretiert und ›enteignet‹ Susan Russell ihn und sein Theaterstück »Jubiläum« im besten Sinne, indem sie es als brechtsches Lehrstück für politisch-feministische Erziehung vereinseitigt (vgl. Russell 1998); Michael Müller-Janke greift meines Erachtens ähnlich kurz, indem er ausschließlich den Authentizitätsaspekt als konzeptionelle Prämisse von Taboris Theatermethode hervorhebt (vgl. MüllerJanke 1997). Parallel zu den Instrumentalisierungen oder Indienstnahmen von Bedeutungskontexten der Arbeit Taboris mischen sich berufliche, private und persönliche Aspekte aus dessen Biografie unter die verschiedensten analytischen Auseinandersetzungen mit seinem Arbeitsstil, sodass eine Legitimation der Methode Taboris häufig auf seine schillernde Persönlichkeit rekurriert. Eine sehr kluge kritisch-detaillierte Bilanz der allzu euphorischen Tabori-Rezeption und eine Einschätzung ihrer Relevanz geben Sandra Pott und Jörg Schönert in ihrem Aufsatz »Tabori unter den Deutschen: Stationen einer authentischen Existenz?« (vgl. Pott/Schönert 1997).

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der Risikobereitschaft seiner Schauspieler erzielt. »Um sie [diese Wirkung; ms] zu erreichen muss man gefährlich arbeiten. Gefährlichkeit ist, dramaturgisch gesprochen, die Möglichkeit zu scheitern. Etwas zu versuchen, was nicht immer erreichbar ist, und auch Dinge anzusprechen, die tabu sind und dadurch unaussprechlich geworden sind«, resümiert der Musiker und Komponist Stanley Walden die gemeinsame Suche (ebd.; 39). Das Leitmotiv für diese Risikobereitschaft und Gefährlichkeit wird von Beckett entlehnt, dessen Ausspruch »Scheitern. Wieder scheitern. Besser scheitern« Tabori zum eigenen Credo und Arbeitsmotto erklärt.8 Rein formal wird in Taboris Inszenierungen häufig eine Auseinandersetzung auf unterschiedlichen Ebenen geführt, die Probensituation, Realität und Aufführung von Theater dramaturgisch ineinander verflechten und Irritationen auslösen ob der Wirklichkeits- und Spielebenen der Darstellung.9 Er nutzt dabei die besonderen Qualitäten seiner Darsteller und spielt mit deren Wirklichkeit.10 Auf diesem Weg wird Taboris Theater zu einem Spiel auf dem Theater und mit dem Theater, ein Spiel mit Wahrheiten und um die Wahrheiten des Spielens und des Schauspielers, ein Spiel mit dem Publikum, ein Spiel, in dem Welt- und Selbstentwürfe entdeckt und gebrochen werden, Wahrnehmung mit divergierenden Perspektiven des Wahrnehmens konterkariert wird. Taboris Ideal der Dar8 | »Das Scheitern als positive, gar konstruktive Erfahrung ist ein Eckstein in Taboris Lebensphilosophie. [...] Das Paradoxon des schöpferischen Scheiterns geht mit Taboris Vorstellung vom gefährlichen Theater einher. Das wahre Theater braucht kein Netz und keinen doppelten Boden, sondern nimmt das volle Risiko in Kauf. Die uneingeschränkte Hingabe und die Erwartung der Katastrophe sind wesentliche Komponenten von Taboris Bühnenkunst« (Feinberg 2003; 112). 9 | In einer Rezension zu »M«, einer Bearbeitung des Medea-Stoffs, schreibt Georg Hensel in der Frankfurter Allgemeinen: »Um diese Geschichte zu erzählen, packt Tabori seine bewährte Trickkiste aus: Die Personen spielen zeitweilig andere Personen: die Frau spielt den Prinzen, das Kind den König, der Mann die Frau. Es wird gespielt auf drei Etagen: als Probe, als Spiel und als Realität. Peter Radtke [ein körperbehinderter Darsteller im Rollstuhl; ms] bringt seine Fähigkeit zum Spiel, aber auch seine ungespielte Realität ein« (Radtke1987; 165). Die Bearbeitung und Konzentration der Medea-Fassung von Euripides auf die familiären Strukturen, in denen das Kind behindert und Behinderung ist, der Vater zum Kindsmörder wird, stoßen ebenso auf harsche Kritik wie auf Faszination für die neu geschaffene Erzählung. Sieht man von inhaltlichen und ästhetischen Bewertungen der Inszenierung einmal ab, wird deutlich, dass Tabori mit der Wahrnehmung und den Sehgewohnheiten spielt und durch die Bearbeitung eines Stoffs eigene Stücke schafft, in denen ein persönliches Erzählanliegen die Wiedergabe des überlieferten Mythos in den Hintergrund stellt. 10 | So ist die Körperbehinderung Radtkes sichtbar und unsichtbar zugleich, sie ist ungeschminkte Bühnenrealität und gleichzeitig ein Spielmittel, mit dessen Hilfe durch die wiederholten Rollenwechsel gültige Vorstellungen von Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht infrage gestellt werden.

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stellung liegt in der »artistischen Kompetenz«, die in der ›Authentizität‹11 einer alten ungarischen Bauersfrau in London, eines in einem Irrenhaus lebenden Menschen oder eines Strichjungen in Hamburg zu finden ist (vgl. Kurzenberger 1997; 64). Diese in einer von Tabori verfolgten Fernsehdokumentationsreihe gezeigten Menschen, die ihre Biografie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, sind in seinen Augen als Amateure von einer Hingabefähigkeit und Liebe zu ihrem Leben und ihrem Tun durchdrungen, die ihnen zu einer besonderen Ausdruckskraft verhelfen, und können mit dieser Eigenschaft den Schauspielern Vorbild und Hinweis auf der Suche nach dem »Un-Theaterhaften« sein (vgl. ebd.; 64f.). Die in Taboris Haltung mitschwingende Kritik am herkömmlichen Professionalitätsverständnis führt Hajo Kurzenberger auf das grundlegende Theaterverständnis Taboris zurück: »Das Theater kann und sollte nicht in falscher, nur artifizieller Weise perfekt sein, wenn der Mensch, der es macht und den es darstellt, nicht perfekt ist. Aber um den heutigen Menschen in seiner defizitären Gestalt geht es in Taboris Theater. Sein Interesse gilt ganz besonders seiner Fragwürdigkeit. Und das Theater Taboris ist der Ort, diese zu erkunden« (ebd.; 65). Die Brüchigkeit des Menschen sucht Tabori in einem neuen Verhältnis zwischen Schauspieler und Rolle, in dem die Biografie der Spieler so in den theatralen Prozess einbezogen ist, dass die Darsteller »mit schauspielerischen Mitteln, also mit Körper, Geist und Seele von der eigenen Biographie reden« (vgl. ebd.). Die Darsteller in eigene Auseinandersetzungen zu verwickeln impliziert bei Tabori aber nicht nur, das Verhältnis zu einer individuellen Vergangenheit auszuleuchten, sondern insbesondere auch das kollektive Gedächtnis zu erschließen, in dem das überindividuelle Bewusstsein oder das gemeinsame Unterbewusste einer Gruppe thematisch wird. Die persönliche Erzählung wird von Tabori mit gesellschaftspolitischen Kontexten durchkreuzt. Das Finden und das Erproben einer Rolle gewinnen in dem Maße an Reibung, wie die biografischen Dimensionen seiner Rollenspiele eine Dynamik forcieren, die durch Einfühlung und Distanz, Nähe und Konfrontation Wirklichkeit problematisiert und angenommene Realitäten kritisch und humorvoll durchleuchtet.

1.1.1 Rahmen: »Bitte, seid so schlecht, wie ihr könnt« 12 Hat sich Taboris Vision von einem anderen, experimentellen und alternativen Theater in seinen frühen Theaterarbeiten am Bremer Theaterlabor13 sicher am intensivsten herausgebildet, bleibt seine Arbeitsweise im Wesentlichen über die Jahre hinweg, auch unter veränderten Rahmen11 | Der Authentizitätsbegriff Taboris ist gekennzeichnet von einem Spiel zwischen Selbst- und Rollendarstellung, das auf die Unmöglichkeit einer festen, stabilen, mit sich selbst identischen Person verweist (vgl. Kurzenberger 1997). 12 | Tabori, zit.n. Ohngemach 1989; 104. 13 | Das Bremer Theaterlabor, offiziell gegründet 1976, war die erste namhafte experimentelle Theatergruppe in der Bundesrepublik. Detaillierte Einblicke

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bedingungen, an diese Erfahrungen gebunden. Hanna Schygulla, die als Schauspielerin 1979 und 1988 jeweils an einer Produktion mit Tabori beteiligt war, berichtet von einer typischen Herangehensweise, die in beiden Fällen Taboris Zugriff auszeichnete: das Umkreisen des Themas und Ausprobieren aller möglichen Tonarten, seine immer wiederkehrende Aufforderung »Bitte, seid so schlecht, wie ihr könnt« als Widerstand gegen den Leistungsdruck am Theater, seine Haltung zur Premiere, die nur eine Probe darstellt, da die Inszenierung nie fertig sein kann, und seine wiederkehrenden Übungen in der Probenarbeit (vgl. Ohngemach 1989; 104). Seine Wunschvorstellung, beim Spielen das Denken abzuwerfen, wird ihrer Aussage nach häufig von »Selbstberichten« eingeleitet: »Du versuchst, in ununterbrochenem Redefluss zu beschreiben, was in deinem Körper passiert, was du fühlst, was du siehst, was du um dich herum bemerkst, aber immer wieder musst du zu dir selbst zurückkommen« (vgl. ebd.). Die Ausrichtung der gesamten Arbeit auf den persönlichen Zugang des Schauspielers zu seiner Profession, dem Stoff und dem gemeinsamen Arbeitsverständnis prägt bei Tabori die Grundsituation der Probe. Seinen Wunsch, es kontinuierlich und nachhaltig mit einem festen Ensemble zu tun zu haben, vergleicht er mit der gängigen Praxis, die Balletttänzer oder Fußballprofis pflegen. Ausgehend von den Menschen und der gemeinsamen Entwicklung erst im zweiten Schritt Inszenierungsprojekte für die kollektive Suche bestimmen zu wollen, macht deutlich, welche Bedingungen und Prioritäten ihm für das Theater reizvoll scheinen. Durchdrungen ist diese Haltung von einer Begegnung mit den Schauspielern, die weit mehr impliziert als nur das Interesse für persönliche und biografische Hintergründe: »Die Annahme, dass man Menschen – der Stoff, aus dem Theater ist – am besten durch das falsche Ende des Teleskops erleben kann, verkleinert den Faktor Menschlichkeit und macht Menschen zu Partikeln eines Spektakels, zu Objekten. Schauspieler sind aber zufällig auch Menschen. Wenn sie, durch Distanz zum Beispiel, entfremdet werden, werden sie zu Dingen, und wenn man sie als Dinge behandelt, werden sie verfügbar wie Ausschuss, wie uns die Geschichte zeigt« (Tabori 1993; 204). Eine der Verdinglichung des Menschen entgegensetzte Kultur zu praktizieren ist wesentliches Motiv der Probenstrategien Taboris. Tabori versteht das Theatermachen als eine Übung, für die Schauspieler wie für ihn selbst, die in der Entwicklung der Gruppe ihr Ziel hat: »George vergleicht die Stadien einer Inszenierung mit einer Reise. Zunächst packt man die notwendigen Sachen, steigt in den wartenden Bus. Irgendwann schließen sich die Türen, man fährt ab. Schließlich, wieder nach einer unbestimmten Zeit, kommt man an seinem Bestimmungsort an. Wo er liegt, was er bringt, wissen weder die Reisenden noch der Fahrer. Es gibt Projekte, da kommt man niemals ans Ziel. Manchmal merken es die Zuschauer, manchmal ist es auch nur den Schauspielern und dem in diese Phase von Taboris Arbeit bietet insbesondere der Aufsatz von Feinberg (1997): Taboris Bremer Theaterlabor. Projekte – Erfahrungen – Resultate.

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Regisseur bewusst« (Radtke 1987; 46). Sein Selbstverständnis als Spielleiter konkretisiert eine Beschreibung des Schauspielers Michael Habeck: »Feste Absprachen aus einer Sicherheit des schon Erreichten gibt es bis auf wenige Ausnahmen, das Skelett der Arbeit betreffend, bei ihm nicht. [...] Nie setzt er Texten Effekte oder Gags auf. [...] Er entwickelt seine Arbeit nur nach seinen Gesetzen und seinen hervorragenden dramaturgischen Fähigkeiten. Natürlich beherrscht er alle Wirkungen und Mittel des Theaters, aber er setzt sie nicht berechnend ein, er ›verkauft‹ nicht. Keiner wird besetzt, weil er Erfolg verspricht, kein Stück gewählt, das ›nur‹ aktuell ist. [...] Nie kommt er mit vollem Schwung auf die Probe. Es dauert eine Zeit, bis er die Atmosphäre um sich verbreitet hat, die er zum Arbeiten braucht. Er formiert einen ›Sitz-Kreis‹, spricht über ziemlich belanglose Sachen, scheint dabei eigentlich an etwas anderes zu denken, beginnt mit Spielen, ›warm-ups‹ – und plötzlich ist man mitten in der Probe« (Habeck, zit.n. Welker/Berger 1979; o. S.). Tabori sieht die Notwendigkeit von einstimmenden Übungen und Spielen in der dadurch erzeugten anderen Wahrnehmungsoffenheit des Spielers, die eine entspannte und konzentrierte Handlungsbereitschaft ermöglicht: »Wenn man genau beobachtet, was Sportler tun, bevor sie ihre Aufgabe lösen, dann ist das genau das, was man auch als Schauspieler braucht: die Einstimmung durch Entspannung und Konzentration. Sportlern reichen dafür dreißig Sekunden. Ivan Lendl hat ja nicht mehr Zeit. Das ermöglicht ihm, genau zu sein und sich in einen Zustand zu bringen, in dem er dann locker spielen kann. Ganz große und wunderbare Schauspieler, mit denen ich das Glück hatte zu arbeiten, haben auch erkannt, dass es ein Riesenunterschied ist, ob ich um zehn Uhr in der Frühe losgehe und mir sagen lasse, jetzt komm doch mal von links und sei ein Genie, und wenn du nicht gut bist, wirst du angemeckert – oder ob ich mich in einen Zustand gebracht habe, in dem ich anfange zu denken, zu fühlen, zu sehen und zu hören, was einem um zehn Uhr früh in München oder in Wien sehr schwerfällt« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 71). Dennoch bleiben die Einstimmungen Angebote, die Tabori dem Ensemble – zwar durchaus mit Nachdruck – als Erkundung der Basis schauspielerischen Handelns nahelegt, auf die aber unter von den Spielern gesetzten Bedingungen ausnahmsweise verzichtet werden kann oder Einzelne von ihrer Freiheit Gebrauch machen können, nicht kontinuierlich daran teilzunehmen.14 Seine wenig rigide Art, die eigenen Interessen und Vorstellungen im Ensemble durchzusetzen, wird in Probenstil und -verlauf beibehalten. Die integrative Spielleitungspraxis Taboris wird unter anderem daran deutlich, dass er seine Funktion innerhalb des Rahmens keinesfalls im Sinne einer dominanten Regieführung verstanden wissen will, sondern den Status eines Primus inter Pares betont, der die Verantwortung übernimmt, eine Gruppe leitet, zwischen unter14 | So erwirkten die beiden Darsteller Peter Lühr und Thomas Holtzmann für die Beckett-Produktion »Warten auf Godot« die Bedingung, mit Tabori keine Übungen und Spiele machen zu müssen (vgl. Ohngemach 1989; 111).

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schiedlichen Möglichkeiten vermittelt und manchmal auch Vorschläge macht, die angenommen oder durch andere Angebote ersetzt werden können.15 Die Probensituation wird bei Tabori zu einem Ereignis, in der das Warm-up schon ein wesentlicher Bestandteil des Regiekonzepts ist und die szenische Praxis mitbestimmt. Ein fließendes Ineinandergreifen von Entspannungs- und Konzentrationsübungen, Improvisationen und szenischen Versuchen fordert eine Anwesenheit des Darstellers, die über eine im richtigen Moment eingesetzte Bühnenpräsenz weit hinausgeht. Die Trainingselemente, Spiele und Übungen werden teilweise mit mehr und mehr Faszination und Begeisterung aufgenommen, manchmal auch nur zähneknirschend und mit ambivalenter Haltung von den Akteuren akzeptiert. Im Laufe des Probenprozesses werden sie immer wieder aufgegriffen und in entstehende szenische Abläufe integriert.16 Zum ›heimlichen Lehrplan‹ der Vorbereitungen gehört auch das Abbauen von Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und Angst. Tabori selbst 15 | »Ich schlage ja kaum Sachen vor. Wenn ich jemandem einen Vorschlag mache und er sagt, er macht es nicht, dann sage ich: ›Dann mach es nicht, dann finden wir etwas anderes.‹ Ich bestehe nie darauf, dass etwas so und so sein müsste. Was soll das? Ich kann nur sagen, dass oft dort ein Widerstand ist, wo die besten Sachen liegen. ›Geh hindurch, vielleicht findest du etwas.‹ Es ist immer so« (Tabori, zit.n. Ohngemach 1989; 142). 16 | Die Einstiege und Spielereien in der Probe können »den Charakter einer Droge« bekommen (vgl. Radke 1987; 67) und verändern als zentrales Moment bei vielen die Perspektive auf den Beruf des Schauspielers wie auf sich selbst: »Nachdem alle Schauspieler zusammen waren [...], haben wir über Wochen Dinge gemacht, die mich mit riesiger Begeisterung erfüllt haben, ohne zu wissen, wo das hinführte. Nach vier oder fünf Tagen war es mir ›wurscht‹, zu welchem Ergebnis das führte und ob ich als Schauspieler gut war oder schlecht. Ich habe damals von seiner [Taboris; ms] Arbeit überhaupt nichts verstanden, ich habe es nur gemacht, und es hat mir irrsinnige Freude bereitet. Nach und nach kristallisierte sich aus diesen nicht leistungsbetonten Spielen eine Improvisation heraus [...].Es war eine lustbetonte Spielwiese für Schauspieler. Und so etwas passierte plötzlich in einem mit tausend Produktionszwängen belasteten Betrieb! [...] Ich kramte mein ganzes Schauspielschul-Wissen heraus, alles, was ich über Improvisation gelernt hatte. Das konnte ich allerdings alles vergessen. In so manchen Stunden, wenn ich zu Hause war, dachte ich: ›O Gott, wo führt das hin? Du wirst nie wieder Theater spielen können – wenn das so eine Lust sein kann zu arbeiten, du wirst nie wieder einen normalen Regisseur aushalten.‹ Aber das ging wieder vorbei« (Einbrodt, zit.n. Ohngemach 1989; 72ff.). »Die ersten sechs Probenwochen haben wir nur Spiele, Übungen, Sensitivity Training gemacht, ohne am Text zu arbeiten, alles war für mich völlig neu. Die erste Produktion mit George war ein Schlüsselerlebnis. Danach habe ich anders Theater gespielt, auch mit anderen Regisseuren, in anderen Rollen und anderen Stücken« (Schumacher, zit.n. Ohngemach 1989; 58f.).

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schreibt in einem seiner typischen Vergleiche zwischen Bett und Bühne über diese Überwindung der Angst: »Vergleichen wir die Schauspielerei mit Sex: aus Büchern kann man sie nicht lernen, Übung hilft, vorausgesetzt, man übt das Richtige, Technik ist für die Katz, wenn es keine Technik ist, die einem hilft, mit seiner Angst umzugehen« (Tabori 1981; 189). Eine hilfreiche Technik, mit dieser Angst umgehen zu lernen, findet Tabori in der method Lee Strasbergs, in dessen Actors Studio in New York er über mehrere Jahre beobachtend hospitiert hat. Obwohl die method nach Auffassung Taboris sehr amerikanisch und auf Filmschauspiel ausgerichtet ist, hält er das Grundtraining Strasbergs für eine geeignete Herangehensweise an schauspielerische Probleme und übernimmt einen Teil der Übungen in seine eigene Probenarbeit. Taboris Geschick in der Einleitung und Konzeption von Spielsituationen liegt aber weniger in der Adaption der Methoden Strasbergs und der spielerischen Erweiterung der vom Alltag verstopften Wahrnehmungskanäle, eher machen seine vielfältigen und einfallsreichen Interventionsstrategien und -fantasien den Spannungsaufbau der Probe aus. »Je besser der Schauspieler«, so Tabori, »desto größer die Gefahr, dass er schlecht wird, indem er seine bewährte Technik – einen Sack voller Tricks, die sich durch Beifall bewährt haben – auf die tägliche Probe anwendet, die aber nur durch ›ständige Revolution‹ zu lösen sind, durch dauerndes In-FrageStellen, Bedenken, Überprüfen der eigenen Methode, des eigenen Instrumentariums, des eigenen Lebens. Das sind alles alte Hüte. Mit anderen Worten: Ein Teil meiner Arbeit besteht in dem Versuch, den Schauspieler dazu zu bringen, seine ›Schublade‹ zu überprüfen. Die Techniken, die ich für diese Arbeit anwende, erschöpfen sich nicht in ›Sensitivitätstraining‹, sondern umfassen alles, was ich in meinem mehr als sechzigjährigen Leben gelernt habe. So finde ich, dass Prousts Madeleine oder Picassos täglicher Tanz vor dem Malen auf Proben-Probleme ebenso gut angewendet werden können wie etliche der direkteren theatralischen Techniken. Auf jeden Fall versteht sich unsere Gruppe nicht als geschlossene Sekte oder therapeutische Gemeinschaft, sondern als Experiment mit offenem Ausgang, gegründet auf der Voraussetzung, dass der Produktionsprozess für den Produzenten nicht weniger wichtig ist als das Produkt selbst« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 16). Neben den Übungen der method von Lee Strasberg fließen Auseinandersetzungen mit Brecht und Grotowski, aber auch Ansätze der Gestalttherapie in seine Arbeit ein. Er verfolgt in ihr keine erprobten Rezepte, sondern sucht nach einer steten Erweiterung und Überprüfung des Bewährten, das allen an einer Inszenierung Beteiligten »immer wieder das Gefühl vermittelt, an einem riskanten Experiment teilzuhaben« (vgl. Peters 1997; 98). Getragen von seiner Neugier und Abenteuerlust radikalisiert er methodische Ansätze für den theatralen Kommunikationsprozess, »indem er in der Probenarbeit Situationen, die ein emotionales Erinnern erzwingen oder sogar selbst Gegenstand emotionaler Erinnerung werden können«, herstellt (vgl. ebd.; 110). Erst wenn die Person des Schauspielers hinter der Technik sichtbar wird, können

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neue Entdeckungen gemacht, andere Aspekte des Darstellers mobilisiert werden, für die Taboris Arbeit einen Rahmen schaffen will, indem er Rahmenerwartungen modelliert und mit Rahmungen spielt, die die Ebenen gespielter und wirklicher Ereignisse im Spiel ununterscheidbar werden lassen. Radtke beschreibt eine exemplarische Situation auf den Proben zu »M«, bei der die Abschiedsszene zwischen Medea und ihrem ermordeten Kind ins Stocken gerät. Nachdem die ersten erklärenden Hilfsangebote fehlschlagen, unterbricht Tabori die Szenenprobe. Radtke hält in seinem Probenbericht fest: »Die Hospitanten sind da, sitzen an der Stirnseite der Probebühne. Irgendetwas liegt in der Luft, scheint sich wie eine bleierne Glocke über uns zu legen. George unterbricht: ›Setzt euch, esst ein wenig!‹ Er packt ein Stück Käse aus, gibt es Ulf und Uschi in die Hand. ›Warum gerade Käse?‹, denke ich, ›warum überhaupt essen?‹ Aber ich habe aufgehört über den tieferen Sinn scheinbarer Zufälligkeiten nachzugrübeln. George schickt die Hospitanten hinaus. ›Wir müssen noch ein wenig arbeiten, lasst uns allein!‹« (Radtke 1987; 52f.). Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen Tabori und Ursula Höpfner. Sie möchte sich die Hände waschen, da sie Käse an den Fingern hat, Tabori verbietet es ihr, bittet sie darum. Er will, dass sie in die Szene einsteigt und probiert. Der absurde Konflikt wird von  Tabori weiter in die Höhe getrieben, bis ihr Widerstand zu spielen in einem Weinen endet. Radtke greift ein, er versucht sie zu trösten. Zwischen ihm und Höpfner ensteht unvermittelt Nähe und Vertrauen, genährt aus dem Unverständnis über die unnachgiebige Haltung Taboris, die gleichzeitig für Sohn und Mutter die Basis für ein tieferes Eindringen in Situation und Text der Szene wird. Medea spricht ihren Abschiedstext, der Knoten ist geplatzt (vgl. ebd.; 54). Blockaden und Widerstände seitens der Darsteller werden bei Tabori nicht durch endlose Wiederholungen einer szenischen Situation ignoriert oder mit psychologischen Druckmitteln torpediert, Tabori hilft den Darstellern vielmehr aus verfahrenen Situationen, indem er ihnen einen anderen Weg anbietet. Mal schlägt er eine andere Übung vor, mal stärkt ein Lob oder Kommentar das Selbstvertrauen der Spieler auf dem Weg der Suche, mal löst eine ›kleine technische Änderung‹ die verfahrene Situation. Um den Widerstand zwischen Spieler und schauspielerischer Aktion aufzuheben bzw. als Reibungsfläche zu provozieren, sind Änderungen im szenischen Setting genauso wenig ausgeschlossen wie anscheinend alltägliche Handlungen abseits der szenischen Probe, die als Hilfsmittel zur Etablierung der bevorstehenden Bühnenaktion eingesetzt werden. Der Schauspieler Holtzmann bezeichnet Tabori entsprechend als »einen Meister des Relaxens« (Holtzmann, zit.n. Ohngemach 1989; 110) und Taboris Fähigkeit, extrem spannungsgeladene Krisen wahrzunehmen oder auch vorherzusehen und diesen durch Gelassenheit entgegenzusteuern, um die Situation gleichzeitig zu entschärfen und auf einem anderen Weg voranzuschreiten, ist eine wesentliche Komponente seiner Probenkultur. Sein Sensorium für feine Rahmenverschiebungen und deren Auswirkung

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auf die Interaktionen und Interpretationen des Geschehens innerhalb solcher neuen Spielsituationen ist seismografisch auf Widerstände gerichtet, die Spielimpulse blockieren und ambivalente Gewissenskonflikte des Spielers gegenüber den Darstellungsabsichten und -aufgaben schüren.

1.1.2 Kontexte: »Denken kann schliesslich auch sex y sein« 17 Das Eintauchen in eine Suche geht bei Tabori weit über die persönlichbiografische Nabelschau hinaus. Die Auseinandersetzung findet mit der Wirklichkeit außerhalb des Theaterrahmens statt und ermöglicht neue individuelle und kollektive Erfahrungen. Der Besuch einzelner Schauspieler bei einer schlagenden Verbindung, um Fechttechniken zu erlernen und einer Mensur beizuwohnen (vgl. Tabori 1993; 76) produziert nicht nur Wissen oder frönt voyeuristischen Interessen. Die recherchierende Verknüpfung von Spielvorhaben mit der Wahrnehmung und Beobachtung von Wirklichkeiten in ganz unterschiedlichen Facetten generiert neue Erlebnisse, die in der weiteren Spielpraxis als Teil der biografischen Erfahrung nutzbar gemacht werden können, gleichzeitig aber gesellschaftliche, kulturelle oder politische Phänomene studieren.18 Die Brücke zwischen Wirklichkeit und Spiel soll gezielt aufgesucht und ausgebaut werden: »Die Wirklichkeit zu finden«, sagt Tabori, »ist übrigens für mich die Hauptaufgabe, das Hauptproblem. Der Maler Bacon malte diese schrecklichen, entstellten Menschen, die für ihn schön sind. Er versteht nicht, dass das grauenhaft für andere sein kann. Er sagt, dass für ihn ein Bild immer durch die Gewalttätigkeit des Wirklichen entsteht. Er nennt das die plötzliche Eruption des Realen. Für  mich geht es im Theater genau darum. Deswegen arbeite ich gerne mit Elefanten, weil sie keine Kunstobjekte sind, man sie nicht inszenieren kann. Dadurch unterstützt man die andere Wirklichkeit, durch ein Tier oder ein Kind. Viele Leute haben Angst eben vor diesen Wirklichkeitselementen. Sie sagen, sie verletzen die Grenze zwischen Kunst und Welt. Ich bin für dieses Verletzen, für dieses Überschreiten« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 38f.). Die Suche nach 17 | Tabori 1993; 108. 18 | In der Regel begleitet die gemeinsame dramaturgische Recherche einen Teil der Probenzeiten, in denen Tabori Material aus dem wissenschaftlichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umfeld als Anregung für Sinne, Gefühl und Intellekt in die Proben einbindet. Diese reicht von Diavorträgen über den Alltag und die Probleme auf einer Obstplantage (Rudkin-Stück) bis hin zum gemeinsamen Zoobesuch (Hungerkünstler), um die konkrete Anschauung vom Verhalten eingesperrter Tiere zu bekommen; Filme werden angeschaut (»M« von Fritz Lang; »Im Reich der Sinne« mit Peter Lorre zum Medea-Stück; vgl. Radtke 1987; 72ff.) oder gemeinsam Aufführungen besucht: Bilder von Francis Bacon, die die Auflösung des menschlichen Körpers thematisieren, stehen neben der Lektüre von Freud, Mitscherlich und Machiavelli (Hamlet-Inszenierung) oder dem unter ärztlicher Aufsicht durchgeführten Fasten der Schauspieler als Erfahrungshintergrund für die Arbeit an Kafkas »Hungerkünstler« (vgl. Feinberg 1997a; 74).

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einer elementaren Verbindung von realer Wirklichkeit und Spiel wird zum Motor im Probenverlauf, das Balancieren zwischen Spiel und NichtSpiel eigentlicher Inhalt spielerischer Praxis. Der von Tabori erweiterte Theaterrahmen versucht, theatrales Geschehen über unmittelbare Erlebnisse zu erzeugen, die Nähe und Übergänge zwischen der Lebens- und der Bühnenrealität betonen. Beeinflusst und inspiriert von der Arbeitsweise Strasbergs unterscheidet Tabori zwischen den Anforderungen, die an den Schauspieler gestellt und mithilfe der method bewältigt werden können, und der Aufgabe des Regieführens, die sich nicht nur auf schauspielerische Probleme der einzelnen Darsteller beschränken darf, sondern auch das Thema und den dramaturgischen Bogen im Blick behalten muss. Strasbergs method bedeutet ihm, Versteinertes hinterfragen zu können, ohne die Art der Suche schon durch einen bestimmten Stil zu beschneiden: »Tatsache ist«, so Tabori, »dass die Methode [von Strasberg; ms] ermöglicht, die Anforderungen verschiedener Stile und Dramaturgien zu bedienen. [...] Wonach Strasberg suchte, waren Mittel, anhand derer der Schauspieler tun kann, was immer das Stück und der Regisseur von ihm verlangen, ohne dass er verrückt wird, wenn er in dem schwarzen Loch zwischen sich und der Rolle verschwindet« (Tabori 1993; 199). Lösen die schwarzen Löcher Widerstand aufseiten der Darsteller aus, versucht Tabori sie so zu umschiffen, dass die Darsteller ohne Druck plötzlich mittendrin stecken. Bei Gerd Koch und Felix Zulechner wird diese Art der Manipulation situativer Kontexte als multiperspektivisches Vorgehen gedeutet: »Aus den Berichten über Taboris Proben lässt sich dessen Arbeitsweise skizzieren: Tabori greift auf keinen Fall bewertend in Probensituationen ein, sondern reagiert durch neue Übungsangebote: Er liefert zum Beispiel Anekdoten, Bilder, improvisiert selber etwas, um so ein neues Spiel und eine andere Sichtweise zu ermöglichen. Außerdem ist interessant, wie er bei demselben Text eine andere situative Grundierung vorschlägt, zum Beispiel die Übertragung eines griechischen Stoffes in eine aktuelle Telefonsituation mit der Mutter der Schauspielerin. Dadurch wird Multiperspektivität hergestellt, und es wird ein sehr selbständiger Umgang mit Text- und Spielvorlagen provoziert« (Koch/Zulechner 1999; 137). Die Begegnung mit dem Text beginnt bei Tabori in der Regel mit intensiven Leseproben. Die  Besetzung der Rollen steht häufig noch nicht und wird erst später, gemeinsam mit dem Ensemble, endgültig festgelegt. Das Lesen wird unterbrochen von Improvisationen, in denen vorgeschlagene Situationen den Kontext einer Szene neu bestimmen können. Gundula Ohngemach sieht in dieser Art der Recherche »Taboris einziges Hilfsmittel zur Hinterfragung und zur Annäherung an den Text [...]. Das Resultat dieser Methode ist keine Interpretation eines Stückes, sondern eine seiner möglichen Versionen« (Ohngemach 1989; 25). Der von einem Autor geschriebene Text dient dem Ensemble als Material, welches nicht nach einer werktreuen Interpretation trachtet, sondern in einem Prozess

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des Erspielens von möglichen (und unmöglichen) Situationen, in denen der Text gesprochen wird, ausgelegt und erkundet wird. Die Gruppe ist für Tabori idealerweise das Entscheidungskriterium für die Auswahl des Textmaterials. Es geht ihm weniger darum, dem Text durch die entsprechende Besetzung der Rollen von bestimmten Schauspielern zu dienen, als vielmehr darum, die Herausforderung eines Gruppenprozesses an entsprechendem Textmaterial zu entzünden. Taboris textanalytische Vorgehensweise ermöglicht es dem Ensemble, mit dramatischen Vorlagen und mit Prosamaterial ähnlich umzugehen. Ausschlaggebend für das Interesse an einem Text ist ihm neben dem Lernprozess, den die Gruppe am Text vollziehen kann, die Möglichkeit, mit den Textstrukturen zu jonglieren. Als Ideal gelten ihm weder ein collagenartiges Ergebnis noch ein Potpourri gefundener Interpretationen, sondern das Bedürfnis, lieber »mit dem Diskurs zu experimentieren als mit Pingpong-Dramaturgie« (vgl. Tabori 1993; 39). Auf diesem Weg können Querverbindungen sichtbar werden, »zwischen Lears Töchtern und Macbeths Hexen beispielsweise, um den kleinen Unterschied zwischen Verführung und Vergewaltigung, wie ihn Gloster, Angelo oder Petrucci demonstrieren« (vgl. ebd.; 88) und dazu führen, das einzelne Stücke fragmentiert und verdichtet neue kohärente Geschichten hervorbringen. Es Neben der Psychologie und Motivation einzelner Rollen wird in dem Verfahren der Dekontextualisierung die Wechselwirkung von Text, Sprecher und Situation erkundet und auf diesem Weg der Bedeutungskontext eines Dialogs potenziert. Der spielerische Umgang mit dem Text, frei von analysierender Auslegung, und das wiederholte Lesen des Materials ermöglichen, verschiedenartige Versionen zu testen, mit Ideen zu experimentieren und Versuche wieder zu verwerfen. Das Wechselspiel von Lesen und Improvisieren wird häufig durch einen fließenden Übergang der Warm-ups in die Textarbeit herbeigeführt, sodass die Spieler von einem ins andere gleiten. Peter Radtke schreibt in seinem Erfahrungsbericht über die Arbeit an »M« von solchen Stationen im Probenverlauf. Er gibt an, dass die Improvisationen immer häufiger in eine Beschäftigung mit dem Text münden, und nennt als Beispiel eine Aufgabe, in der sie direkt von der Verkörperung von Tieren dazu übergehen, den Text zu sprechen, als Tier, in der Begegnung mit den Tieren der anderen Darsteller (vgl. Radtke 1987; 44). Die sukzessive Verflechtung des Textmaterials in unterschiedlichen Spielsequenzen umkreist dessen Sinngehalt und dockt seinen Gehalt an die Erfahrungswirklichkeit der Darsteller an, die mittels des gesprochenen Worts und der Kontextualisierung in unterschiedlichen Situationen aktualisiert und verkörpernd fiktionalisiert werden. Die Vermittlung zwischen Sprecher und Text steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung und zwingt die Spieler dazu, Sinnpotenziale zu evaluieren, die auf eigenständigen Deutungen fußen. Entsprechend wird der Ausgangstext nicht in einen Kontext gebettet, der einem vorfixierten Erzählanliegen dienlich ist, eine Ideologie stärkt, sondern die Kontextualisierungen führen zu einer De- und Resemantisierung von Bedeutungsspielräumen.

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Auffallend ist, dass Tabori in der Textpraxis keine bestimmte Intonation von den Spielern fordert, sondern das Ausprobieren möglicher Tonarten immer an die Vorstellung von vorgeschlagenen Situationen gebunden bleibt, die Veränderungen in der Art des Sprechens provozieren. So erklärt der Schauspieler Günter Einbrodt in einem Interview: »Wortregie findet bei George nicht statt. Das hat einen großen Vorteil: Wenn ich in meinem Gefühl richtig bin, dann kann ich den Satz überhaupt nicht falsch sagen. Er geht von der anderen Seite heran, er ›puzzelt‹ an der Situation herum, er macht Situationen-Regie« (Einbrodt, zit.n. Ohngemach 1989; 97). Den Worten wird in all diesen Spielversionen jeweils eine neue Dimension abgerungen, die das semantische Potenzial des Texts vervielfältigt. Anstatt nach der geeigneten oder richtigen Lesart zu fahnden, um diese vorzuführen, wird in der Öffnung des Sprachmaterials für unterschiedliche Bedeutungsebenen jede zuverlässige Lesart irritiert. Die verdichtete, polysemische Spielpartitur erschließt im Verlauf der Textpraxis erst das Innere des Texts. Solche Arrangements öffnen dem Darsteller einen Raum, in dem er den Subtext, die unter den Sätzen liegenden Botschaften und Haltungen, entdecken und mit ihm interagieren kann.19 »In der theatralen Erarbeitung von Texten durch Tabori zeigt sich«, so Sybille Peters, »ein Vertrauen auf das Prinzip, dass der auf der Bühne gesprochene Text sich in einen Kosmos von Kontexten einordnen wird und einordnen lässt. Hierin liegt ein wesentliches Element der Modernität Taboris: Wer seine Dramentexte liest, weiß, dass sie lediglich die Anknüpfungspunkte enthalten, die es möglich machen, sie in Kontexte zu stellen – es sind in sich zunächst erstaunlich einfach gearbeitete Texte, jedoch voller Falltüren, mit einer Fülle von Verweisen, die LeserInnen und DarstellerInnen schließlich der Sicherheit der oberflächlichen Lektüre, der sie sich zunächst anbieten, berauben« (Peters 1997; 106). So wundert es wenig, dass Tabori auch mit seinen eigenen Theaterstücken in der Probe offensiv experimentiert und Veränderungen und Überschreibungen durch die Spieler nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert. »Als Autor verhält Tabori sich ungemein uneitel. [...] Seine Stücke waren Vorlagen und wurden erst im Laufe der Arbeit zu richtigen Stücken«, bezeugt Gert Voss, der die unschätzbare Freiheit betont, die Tabori den Schauspielern 19 | Anat Feinberg fasst diesen Aspekt der Textpraxis Taboris mit den Worten zusammen: »Tabori ermutigt die Schauspieler, sich in den Text einzufühlen [...], ein Lernprozess, in dem der Schauspieler tief in sich selbst horcht und dabei vorher unbekannte und ungeahnte Dimensionen seines Ichs erschließt« (Feinberg 1997; 72). Weniger mystifizierend könnte man den Prozess auch beschreiben als eine Konfrontation des Schauspielers mit dem Textmaterial über das Spiel zwischen Text und Spieler, die so angelegt ist, dass beide Seiten in einem Spiel habenden Kräfteverhältnis zueinander stehen. In der Textpraxis geht es weniger darum, Bedeutung zu negieren, sondern den Rahmen der Erzählung mit Assoziation aufzuladen, Verbindungen und Kontexte so zu verknüpfen, dass für den Spieler ein vielschichtiges semantisches Gewebe entsteht.

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gibt. Zugleich macht sein Zeugnis deutlich, dass Taboris Arbeitsweise, seine Zurückhaltung (jene »Nicht-Inszenierung«), gewöhnungsbedürftig ist und für manchen Schauspieler eine Überforderung bedeutet. Tabori inszeniere überhaupt nicht, sagt Voss und fügt hinzu: »Bei George muss man sich selbst mobilisieren. Er lässt dir alle Zeit und Luft der Welt, aber er sagt dir nicht, wo diese Luft und diese Welt aufhört« (Voss, zit.n. Feinberg 2003; 158). Bei der Suche und dem Spiel mit Kontexten wird Taboris Offenheit den Angeboten und Ideen der Darsteller gegenüber deutlich, in der weder ein vorherbestimmtes Inszenierungskonzept noch eine konkrete Fiktionalisierungsabsicht des Texts feststehen. Die dramaturgische Recherche beginnt in weiten Teilen erst mit Probenbeginn und ist an das Spiel mit Subtexten gebunden. Werner Schulze-Reimpell vergleicht das Arbeitsfeld Bühne in Taboris Gebrauch mit einer »Alchemistenküche« (vgl. Schulze-Reimpell 1997; 14), und sicher erfordern die Suche nach Subtexten abseits einer nur werktreuen Interpretation sowie der Verzicht auf eine im Voraus fixierte ästhetische Konzeption eine derartige Laborsituation. Dabei zählt für Tabori der Text weniger als die Kontexte, in die er durch die schauspielerische Fantasie und die begleitende Recherche gezogen wird. Sein Wille, nicht nur Stücke zu bedienen, sondern die Darsteller mithilfe der Texte herauszufordern und in eine persönliche und kollektive Auseinandersetzung zu verwickeln, sind die ausschlaggebenden Entscheidungskriterien für einen Stoff und seine Entwicklung.

1.1.3 Konstruktion: »Macht kein Theater!« 20 Die performativen Elemente der Improvisationen, die Rollen- und Textspiele ineinanderkippen lassen, bieten die von Tabori gesuchten »Alternativen zur traditionellen Darstellung« (vgl. Peters 1997; 187). Als Ausgangspunkt dienen ihm entweder Textvorlagen oder von ihm selbst geschriebenes Material, das er als Improvisationsangebot nutzt. Diese Spielvorlagen gleichen häufig einer »Collage à la Rauschenberg, wie combined painting, wo man disparate Elemente in einem Rahmen zusammenbringt. Das hat nicht die feste Struktur einer linearen Erzählung. Ich mach das sehr oft so« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 42). Taboris Vergleich zwischen der gemeinsam arbeitenden Schauspielgruppe und einer FreeJazz-Band wird daran kenntlich (vgl. Tabori 1993; 85): Wie im Jazz bilden auch in Taboris Proben und Aufführungen die komponierten Teile nur den Rahmen für die Improvisationen der Darsteller, die jedes Mal neu mit dem Text in ein Spiel eintreten müssen. Im Gegensatz zu einer Regiepraxis, die Sprachgestus und Sprechrhythmus festlegt, öffnet Tabori die Interpretationsspielräume der einzelnen Sätze und fordert die Spieler auf, immer wieder neue Wege und Lösungen für die Erzeugung und Darstellung der darin eingeschlossenen Rollenspiele zu suchen. Eine Rolle im Sinne der Illusion einer leibhaftigen, realen Person findet in diesem Vorgehen keinen Halt. Der Schauspieler schlüpft nicht in 20 | Tabori, zit.n. Feinberg 2003; 91.

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einen vorgefertigten Charakter, das Rollenspiel fungiert vielmehr »wie eine Partitur, eine Art Choreographie, die zu überraschenden Ergebnissen führt, wenn der Schauspieler seine Biographie und das, was man vorläufig […] den personalen Prozess der Rollenrealisierung nennen könnte, sprechend macht« (vgl. Kurzenberger 1997; 72). In dem stetigen Wechselspiel von Rollenentwürfen und -verwürfen zeigen und erzeugen die Akteure die Zerbrechlichkeit von angenommenen Identitäten. Die Auseinandersetzung des Darstellers findet weniger zwischen den Polen Einfühlung und Konfrontation mit der Rolle statt, sondern wird zu einer riskanten Angelegenheit, die permanent in der Gefahr des Scheiterns schwebt. Tabori führt dabei nicht einfach die Tradition von Stanislawski und Strasberg fort, sondern »methodisiert die ›method‹ und macht sie zum theatralen Ereignis« (vgl. Peters 1997; 112), in dem das Ringen um die Figur Ziel der Darstellung wird. Probensituation und Aufführungsziel rücken in diesem Prozess so nahe aneinander, dass die Haltung Taboris zur Premiere als Fortsetzung der Probe konsequenterweise auch in die andere Richtung gedacht werden kann: Schon die ersten Darstellungsversuche sind in ihrer Ambivalenz von Spielen und Sein, Darsteller und Rolle theatrale Ereignisse und zeugen von der einmaligen und experimentellen Theatersituation. »Das Theater ist«, glaubt Tabori, »der Ort, wo das ›Einmalige‹ sichtbar wird [...]. Aus diesem Grund mache ich Theater – um zu zeigen, dass das Theater der einzige Spiegel ist, der nicht reproduzierbar ist und sich daher nie in ein Objekt wie andere Medien verwandelt. Um das zu demonstrieren, muss man erkennen, dass die Spieler keine Marionetten, sondern Menschen sind, nur noch mehr« (Tabori 1993; 85). »Der Schauspieler ist das Konzept« – dieses Credo Taboris und vieler seiner Darsteller macht den Kern dieser Haltung und ihrer Praxis aus. Spielen, verstanden als ›strukturiertes Sein‹, fordert den Darsteller als einen ›professionellen Menschen‹ (vgl. ebd.; 204f.), der  kontinuierlich in Reibung bleibt mit sich sowie den Texten und Kontexten eines Spiels, seines Spielens. »Für mich ist der Schauspieler immer interessanter als die Rolle. Die Rolle habe ich doch meistens schon fünfhundert Mal gesehen. Wie kann der Schauspieler sein persönliches, sein existenzielles Sein zum Spielen bringen? Das ist doch das Problem. Es ist eine Dialektik, es ist widersprüchlich, manchmal sehr schwierig. Aber wenn man das Sein nicht mit dem Spielen verbindet, wenn das, was der Schauspieler in der Rolle oder in der Szene tut, nichts mit ihm selber zu tun hat, dann entsteht ein Loch. Die guten Lehrer, die ich kenne, die können da eine Brücke schlagen, jenseits von Ästhetik und Dramaturgie. Wenn das nicht gelingt, kommen Panik, Lampenfieber und Angst auf, und die Schauspieler sind ja ungeheuer ängstlich, auch wenn sie es nicht zeigen. Wenn dann zwischen mir und Hamlet oder zwischen mir und Ophelia keine Verbindung ist, weil der Regisseur etwas ganz anderes wollte oder weil ich die Verbindung nicht gefunden habe, dann wird es besonders kritisch. Da  ist dann ein

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Niemandsland, da kann man nicht anders als krank werden« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 66). Taboris Plädoyer für den Schauspieler umfasst die Verantwortung des Spielleiters für den Prozess der Figurenkonstruktion, die in enger Anbindung und Anlehnung an den hinter einer Rolle verborgenen Menschen verlaufen muss.21 Das Niemandsland im Prozess der Probe einzunehmen und bewohnbar zu machen schließt eine Begegnung mit und Öffnung für die inneren Unbekannten ein. Taboris Versuch, der Kluft zwischen Spieler und Rolle aktiv entgegenzutreten und sich selbst verantwortlich für den Vorgang der produktiven Eroberung abseitiger, persönlicher Abgründe zu den dramatischen Vorlagen zu zeichnen, macht deutlich, dass er hier auf die Kraft des Spiels vertrauen muss, dass nur über das experimentelle Spiel der Kontakt mit dem Darsteller für eine Figurenfindung eingelöst werden kann. In seiner Funktion als Brückenbauer ist der Regisseur aufgefordert, der Angst vor Beziehungslosigkeit zwischen dem Darsteller und dem Dargestellten entgegenzuwirken, ungeachtet der ästhetischen und dramaturgischen Arrangements, in die das Spiel eingebunden wird. Da der Schauspieler selbst aus einer bestimmten Rollenkonstellation heraus agiert – keine Angst zu zeigen ist ja ein Indiz für die Erwartung eines bestimmten Verhaltens von anderen an ihn –, verlaufen Rollenspiele immer auf der Ebene der Konstruktion von Handeln auf der Bühne und der Dekonstruktion von Handlungserwartungen in der Situation der Probe. Die Entdeckung der Figur ist bei Tabori verbunden mit dem Aufspüren der Person dahinter. »Die Rolle ist der Singularität des Darstellers untergeordnet«, beschreibt Feinberg Taboris Rollenverständnis (vgl. Feinberg 2003; 90), das Aufsuchen des Zwischenraums von Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich wird somit über einen instrumentellen, schauspielmethodischen Vorgang hinausgeführt und ist begleitet von den individuellen Strategien eines einzelnen Darstellers, mit sich in eine Reibung zu kommen und diese fruchtbar für die Darstellung zu machen, die singulär verschieden ist. Tabori macht den Menschen im Schauspieler prominent, da erst durch seine Persönlichkeit einmalige und spezifische Gesichtspunkte einer künstlich konstruierten Rolle entdeckt werden können. Im Unterschied zu psychologisch-naturalistischen Schauspielkonzepten arrangiert Tabori das Ineinanderaufgehen von Rolle und Spieler mit Momenten des Widerspruchs und der Brüche dieser Einheit. Die Verortung des Textmaterials in völlig unterschiedlichen Situationen ist ein 21 | »In den Proben war immer das Ziel, ein starkes persönliches Erlebnis zu haben, das einem für die Rolle später weiterhelfen konnte. Aber wenn du an diesen Punkt nicht gelangst, wenn du George nicht verstehst oder dich sperrst, es so zu machen, wie er das meint, dann geht überhaupt nichts, dann hast du noch nicht einmal das Schlechte des anderen Theaters, dann hast du gar nichts, dann bist du nicht vorhanden. Äußerlich hergestelltes Theater kann George nicht – sagt er. Vor allen Dingen: Er will es nicht« (Schumacher, zit.n. Ohngemach 1989; 59; Hervorhebung im Original)

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Schritt, der vorschnellen Determination von Bedeutung zu entgehen. Jeder Versuch, den Text den neuen Gegebenheiten anzupassen, verändert dessen Konstellation im Spannungsgefüge von Schauspieler und Rolle. Dadurch entsteht eine Überlagerung von verschiedenen Figuren, die, um ihre Identität ringend, miteinander in einen Widerstreit geraten. Die Darsteller, auf der Suche nach Orientierung und Identität in ihrer Figur, sind bei Tabori in ihrer Auseinandersetzung und dem Ringen um eine weitgehend konforme theatrale Rolle »Modell des theatralen Geschehens selbst« (vgl. Peters 1997; 111). Tabori belässt sie in diesem Schwebezustand, indem er ihre Spurensuche immer wieder aufs Neue irritiert und versucht, die Verunsicherung und Uneinlösbarkeit einer stabilen, fraglosen Identität szenisch zu formulieren. Rollensplitting und Rollenwechsel sind ihm hilfreiche Mittel für das Spiel mit der Austauschbarkeit von Positionen in der theatralen Interaktion und Kommunikation. Das von vorgegebenen Rollenmustern befreite Spiel befragt den Text, Satz für Satz, auf seine Stellung im Diskurs, spielt mit den möglichen Variationen in der Zuweisung eines Satzes an einen bestimmten Sprecher und mit der Wiederholung, Verschachtelung und Überblendung gleicher Texte durch unterschiedliche Figuren. Die einzelnen Sätze selbst werden auf diesem Weg zu den Protagonisten der Handlung, mit denen der Schauspieler jonglieren kann und vorgeformte Rollenvorstellungen unterläuft. Das  ausgelöste Spiel mit permanent wechselnden Subtexten verweigert in der Konsequenz die Festlegung einer eindeutigen Aussageabsicht und Haltung, wie es dem Schauspieler Subjektivität jenseits einer sicheren, fassbaren Rollenvorgabe abverlangt.

1.1.4 Zwischenstopp Rahmen. Die Rahmung der Probensituation erfährt bei Tabori eine »Entkünstlichung«, durch  die alles artifizielle Gebaren negiert und beseitigt werden soll. Leistungsdruck und Konkurrenz werden ebenso vermieden wie der Anspruch, auf Knopfdruck szenische Glanzleistungen ungefragt der eigenen Bezugnahme zum Stoff zu erbringen. Um den Tücken institutioneller Theater(un)kultur zu entkommen, greift Tabori zu vielfältigen Mitteln: Er beginnt lapidar daherkommende Gespräche rund um alltägliche Begebenheiten, verzahnt gemeinsame Recherchen und Proben und schlägt Einstimmungen und Übungen vor, die eine vom zweckfreien Spiel getragene Atmosphäre über die Angelegenheit einer Theaterinszenierung legen. Das Übereinander unterschiedlichster Rahmungen macht die Interpretation »Dies ist eine Probe« nebulös, der primäre Rahmen wird latent entwertet, wodurch mit der möglichen Schichtung neuer Interpretationsmöglichkeiten der Situation gespielt werden kann. In diesem Prozess wird die Variabilität des Rahmens nach innen wie nach außen bewusst offen angelegt, so dass Alltägliches selbstverständlich Material werden kann, Szenisches sich häufig ›beiläufig‹ ereignet, plötzlich und unaufgeregt entsteht, ohne die Anstrengung und Hervorhebung ernsthaften Arbeitens an Darstellungsstrategien. Der Rahmen kann im

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Verlauf der Probenpraxis jederzeit neu ausgerichtet werden, sodass die Eigenarten und Eigenschaften der Spieler innerhalb des Rahmens aufgenommen werden können und eine Ausschluss- oder Ausgrenzungspolitik keinen Raum bekommt. Kontexte. Das stoffliche Ausgangsmaterial ist bei Tabori die Nahtstelle zwischen biografischem und kollektivem Gedächtnis. Der Text wird während der Proben in Kontexte gebettet, die ein Spiel zwischen Erinnerung und Gegenwart provozieren, um eine neue Wirklichkeit des Bedeutungsraums des Texts zu (er)finden. Riskante Grenzgänge zwischen der Realität des Spielers und derjenigen der Zuschauer auszuloten ist ein Vermittlungsanliegen, welches über das Spiel eingelöst werden soll. Im Verlauf der Proben umranken mehrdimensionale Assoziationsgefüge den Text, der als Scharnier zwischen disparaten Wirklichkeitsebenen platziert wird. Unterwegs ebnen Recherche- und Assoziationsmaterialien eine Schwelle des Übergangs vom Vorbewussten bis an die Grenze des Unterbewussten. Sie können dem Spieler helfen, andere Perspektiven und Relationen zwischen sich und dem Stoff zu erkennen und zu eröffnen, die Geschichten in neue Kontexte setzen und zu schillernden Gebilden machen. Begleitende Improvisationen dienen der Erschließung von Situationen, in denen Kontexte hervortreten, die verborgene Aspekte des Texts in Erscheinung bringen und überraschende Verknüpfungen freigeben. Das Spiel mit Subtexten aus verschiedenartigen Situationen verschachtelt die dramatische Basis zu einem Kaleidoskop, das die parallel liegenden Bezüge zu anderen Stoffen, Situationen und Wirklichkeiten erahnen lässt. Konstruktion. Wege zur Figur werden durch stetiges Infragestellen von Rollenentwürfen bewusst erschwert. Der Schauspieler ist bei Tabori nicht Erfüllungsgehilfe für eine beabsichtigte Darstellungskonstruktion, sondern seine Singularität wird gesellschaftlich kontextualisiert und im Spiel thematisiert. Er muss seine Figur zwischen den Rollen erobern, durch eine persönliche, bisweilen intime Suche. Die Konstruktion der Figuren wie die Struktur der Darstellung unterliegen anfangs weniger einer ästhetischen Absicht oder dem dramaturgischen Willen des Regisseurs als vielmehr der Beziehungsarbeit, die zwischen Regie und Schauspiel zu leisten ist. Diese bereitet den Boden für eine Inszenierungsarbeit vor. Wenn eine stabile Basis vorhanden ist, können ›kleine technische Änderungen‹ das Spiel nicht nur immer wieder neu beleben, sondern auch formgebend die gezeigten Situationen aussagekräftig zu spannungsvollen szenischen Ereignissen verdichten. Entspannung ist (die) Lösung. Im Ensemble ist der Regisseur ein Brückenbauer, der Verbindungen zwischen Schauspieler und Figur suchen muss, um den Darstellern die Angst vor der persönlichen Auseinandersetzung zu nehmen und sie vor dem Niemandsland zu schützen. Dies verlangt Anlehnung an die Person des Darstellers und aktive Bereitschaft, Vor-

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schläge für diesen zu schaffen, die im Spiel eine Freiheit der Kräfteverhältnisse zwischen Spieler, Stoff und Figur ermöglichen. Als verantwortliche Leitung braucht es ein ausgeprägtes Sensorium für die fremden/ anderen Abgründe und von Angst besetzten Konfrontationen. Die Regie muss Strategien zur Überwindung der einverleibten Abwehrmechanismen erfinden und ins Spiel bringen. Anreichern und Verschalten von Texten und Kontexten sind bei Tabori die methodische Basis für die Bildung eines mentalen Freiraums der Spieler. Ein häufig noch diffuser stofflicher und thematischer Ausgangspunkt schafft die Optionen für persönliche Begegnung mit sich, Mitspielern, dem größeren Zusammenhang des gesellschaftlich Allgemeinen und den unausgesprochenen Tabus, die darin geborgen liegen. Das Vorhandensein eines Themas oder Texts bleibt aber immer prominent, sodass Veräußerungen stets eine Kommunikation über etwas erzeugen wollen. Die Wegweisung führt über den Prozess, sich (und Anderes) anders zu sehen, immer auf das Ziel zu, eine gesellschaftliche Wirklichkeit (Anderen) anders zu erzählen. Das Hin und Her zwischen beiden Aspekten in eine dynamische Pendelbewegung zu bringen und dort dauerhaft in der Schwebe zu halten kann als die essenzielle Aufgabe bezeichnet werden, die es zwischen Nicht-Spiel und Spiel zu lösen gilt. Unaufgeregt, zurückhaltend bis an den Punkt, wo die Spieler einem Widerstand ausweichen, dann hartnäckig mit möglichst wenig Druck manövriert Tabori sein Ensemble durch die Probe. Abwartend, Angebote der Spieler suchend. In ritualisierten Spielen und Spielereien immer weitere Tiefendimensionen entfaltend, die zum einen den Darstellern die schauspielmethodischen Grundlagen vergegenwärtigen, zum anderen die Verbindung des Ensembles untereinander stärken und eine Grenzverwischung zwischen privaten und szenischen Erfordernissen bewirken. Obwohl er bedächtig und bescheiden auftritt, ist seine Haltung von einer politischen Entschiedenheit getragen, die gegen jedwede Stigmatisierungen und Pauschalurteile aufbegehrt. Das kritische Befragen gesellschaftlicher Zuschreibungen an soziale Rollen und die Offenlegung von Macht- und Abhängigkeitsstrukturen spiegeln sich in den gewählten Inhalten wie im Selbstverständnis Taboris. Seine Seriosität als Spielleiter zeichnet sich aus durch eine stabilisierende Funktion innerhalb des Geschehens. Beziehungen untereinander werden verbindlich und eng gehalten, eine stabile Vertrauensbasis erlaubt es, persönliche Eruptionen in der szenischen Praxis gestaltgebend weiterzuentwickeln. Der darstellerische Akt kann dann nicht länger losgelöst von konfliktuösen gesellschaftlichen und geschichtlichen Problemlagen gerechtfertigt werden und die Illusion von unabhängiger Individualität wird im Spiel nach und nach zersetzt und entlarvt. Versiert durchstöbert er alle Register subtilen Widerstands und spürt die Stellen auf, an denen ein Konfliktverhältnis im Spieler Zündstoff für reale Reibung mit den Figuren und dem Stoff bereithält.

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1.2 Kartografie II: Robert Wilson Robert Wilsons künstlerische Laufbahn begann in den 1960er-Jahren in New York mit theatralen Experimenten, die Prinzipien der Avantgardebewegung aufgriffen und in eigenen Spielanlagen weiterverfolgten.22 Beeinflusst und inspiriert von Cunninghams tänzerischen Arbeiten ebenso wie jenen von Balanchine, von der Malerei und Architektur, spielt Wilson mit den Elementen des Theaters und entwirft eine Bühnenwirklichkeit aus visuellen und zeitlichen Bildstrukturen. Die bizarr und surrealistisch anmutenden Zeitskulpturen werden den Zuschauern als Anknüpfungspunkt für eigene Assoziationen präsentiert. Wilson selbst begründet seine außergewöhnlichen Zeitkonstruktionen in einem Interview: »Normalerweise werden wir im Theater gezwungen, eine Geschichte zu verfolgen, einen Sinn in dem zu sehen, was vor unseren Augen abläuft. Unser Gehirn muss wach bleiben, um zu verfolgen, was die Schauspieler sagen. In meinen Arbeiten kann man sich mit den Worten und Bildern treiben lassen. Man muss ihnen nicht folgen, man kann frei assoziieren, tagträumen« (Wilson 1997; 82f.). Heiner Müller bezeichnete das Theater Wilsons als ein »echtes Widerstandsnest« gegenüber den technologischen Vereinnahmungen des Menschen durch die Maschine (vgl. Müller 1996; Band 2; 109). Dabei leugnet Wilson selbst jede unmittelbare politische Intention seiner Arbeit, bekommt aber in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung von verschiedenen Autoren eine implizite politische Sprengkraft in der Wirkung seiner Werke zugesprochen.23 22 | »Collective scripting, communal living, erasing the barrier between life and art, exploring the word as a sound, replacing the character with everyday people performing everyday activities, rejecting the literary in favor of other theatrical codes, non-linearity, a return to ritual – these war cries of the avant-garde sum up the climate in which Wilson forged his first works« (Holmberg 1996; 2). Obwohl auch Wilson das Recht auf eine Freiheit von den Regeln der Erzählung, von aufoktroyierten Interpretationen und schauspielerischen Konventionen in Anspruch nimmt (vgl. Quadri 1997; 15), steht seine Arbeit im Kontrast zu den Experimenten des Living Theatre, der Arbeit Grotowskis oder dem Open Theatre, die den Schauspieler retheatralisieren, Leben und Kunst in eine Synthese bringen oder politisch wirksam werden wollen. 23 | So schreibt Holmberg: »Wilson denies political intent. But by radically questioning social norms and by disrupting cultural assumptions, his theatre resonates with social and political implications. Wilson’s world is magic, but social revolt and metaphysical anguish tinge that magic« (Holmberg 1996; 181). Wolfgang Max Faust hebt für ein Verständnis dieses Widerspruchs den Hintergrund der 1970er-Jahre und die kunstimmanente Verflechtung von Wilsons Arbeit mit der gesellschaftlichen Verfassung hervor: »Je lückenloser das bürgerliche Denken – in der Wissenschaft, im Alltag – den Versuch unternimmt, die Welt auf den Begriff zu bringen, desto radikaler versucht die Kunst, der Benennbarkeit ihrer Bedeutung zu entgehen. Um dies zu erreichen, entdeckt und verwirft sie immer

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Robert Wilsons Haltung zum Leben und zur Kunst findet einen Ausdruck in dem Archiv der Byrd Hoffman Foundation: Seine Materialsammlungen, Zeichnungen und Notizen zu vergangenen Inszenierungen liegen in grauen Boxen, unsortiert, ohne chronologische oder thematische Struktur, und können von jedem Nutzer des Archivs anders geordnet werden, sodass der Versuch, den Entstehungsprozess einer Inszenierung zu rekonstruieren, zu einem intuitiven und assoziativen Vorhaben wird und mit herkömmlicher Archivarbeit nichts gemein hat (vgl. Graupner 1995; 256f.). Diese Verschmelzung von Archiv, Museum und Theater, die eine autorisierte inhaltliche Vorgabe weitestgehend vermeidet, deckt sich mit Wilsons postmoderner Ästhetik, in der sich ein ästhetischer Raum erst durch das Sehen, Hören und Fühlen des Rezipienten konstituiert, »ein Raum, der so lange leer von Vorgaben bleibt, bis der Betrachter ihn betritt« (Schmidt 1987; 6). Wie dieses Archiv ist auch sein Theater subversiv, stellt soziale Normen radikal infrage und zweifelt an verbreiteten Vorstellungen von Vernunft und Realität. Das hierarchiefreie, assoziative Nebeneinander der einzelnen theatralen Elemente Bild, Klang, Licht, Bewegung und Sprache und der Rekurs auf filmische Mittel, Fotografien und Video erzeugen märchenähnliche Verknüpfungen, die immer wieder anders gelesen und verstanden werden können. Heiner Müller sieht in dieser Trennung der Elemente und dem Verzicht auf jegliche Interpretation eine basisdemokratische Haltung Wilsons: »Es ist ein demokratisches Theaterkonzept. Die Interpretation ist die Arbeit des Zuschauers, die darf nicht auf der Bühne stattfinden. Dem Zuschauer darf diese Arbeit nicht abgenommen werden. Das ist Konsumismus, dem Zuschauer diese Arbeit abzunehmen, das Vorkauen. Das ist kapitalistisches Theater« (Müller 1996; Band 1; 153). Die gleiche Haltung nimmt Wilson gegenüber dem Schauspieler in der Probe ein, der eigene Begründungen für sein Tun finden muss, ohne einer von der Regie vorgespurten Interpretation nachfolgen zu können. Die Autonomie des Sehens, Handelns und Denkens fußt auf der heterogenen Zusammensetzung des theatralen Materials in Wilsons Inszenierungen, die sprachlichen und körperlichen Gestus voneinander trennt und im Spiel mit Raum, Musik, Kostüm und Maske eine Fortsetzung findet. In dem keiner kausalen Logik folgenden Zusammenwirken dieser Elemente entstehen unterschiedliche Bildfolgen und Bildschichten, die Fiktion und Realität verschmelzen, sodass Darstellungs- und Erzeugungs-

neue Erfahrungsräume, die sich dem Auf-den-Begriff-Bringen entziehen, die der Möglichkeit der Umwandlung des Kunstwerks in eine Moral oder Lehre widersprechen. An die Stelle der Kunst als Medium der Aussage rückt [...] die Kunst als Medium der Faszination« (Faust 1979; 31). Diese Faszination zeigt sich, wie alle emotionale Beteiligung in Wilsons Theater, als Erfahrung der Differenz, quälend und hypnotisierend zugleich (vgl. Lehmann 1997; 34), sein »Zaubertheater« ist immer auch »Horrortheater« (vgl. Heinrichs/Nagel 1996; 168).

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strategien ununterscheidbar werden.24 Die Hervorhebung des Visuellen findet eine Entsprechung in der grafisch ausgerichteten Arbeitsform Wilsons. Seine im Vorfeld und parallel zu Inszenierungen entstehenden Zeichnungen dienen ihm »als eine Art Sprache neben dem Wort« (vgl. Primavesi 1998; 177). Sie sind Grundlage der szenografischen Arbeit Wilsons mit den Schauspielern und bestimmen sein szenisches Denken anhand von grafischen Rhythmen und geometrischen Linienführungen. Patrick Primavesi betitelt dieses Prinzip als »Diagrammatologie« Wilsons, in  der es »nicht zuletzt um die Frage nach einer die Kohärenz abstrakter Ordnungen immer wieder auflösenden Beziehung zwischen Schrift und Spiel (geht). Was zumeist als die spezifische Bildlichkeit von Wilsons Theaterarbeit angesehen wurde, eine mikrologische Verdichtung visueller Zeichen zu einzelnen Tableaus, zielt letztlich nicht auf das Artefakt, sondern auf dessen Dekonstruktion« (vgl. ebd.; 175f.). Das Visuelle bringt in seiner Theaterpraxis mehrere Funktionen hervor, es schafft strukturelle Gemeinsamkeit in der Mannigfaltigkeit der Eindrücke, erzeugt eine Atmosphäre, die durchaus humorvoll aufgenommen werden kann, und schlägt Sichtweisen vor, die, symbolisch und allegorisch verpackt, die Resonanzen des Regisseurs auf ein Thema widerspiegeln (vgl. Holmberg 1996; 99).

1.2.1 Rahmen: »It’s only a form to get you somewhere else« 25 Der von Wilson im Vorfeld jeder Inszenierung aufgestellte Arbeitsrahmen folgt einer klaren Struktur. In drei Phasen finden sogenannte Workshops statt, die jeweils unterschiedliche Zielsetzungen haben. Andy Lavender charakterisiert diese Folge inhaltlich als »devising, rehearsal und production period« (vgl. Lavender 2001; 165). In der ersten Phase werden Inszenierungsstrukturen in einem table workshop erarbeitet. Wilson und die in die Inszenierung involvierten Partner und Assistenten aus den Bereichen der Dramaturgie, Szenografie, Kostümbild, Komposition etc. entwickeln die klanglichen, visuellen und narrativen Gestalten eines Projekts im Dialog und gleichen eigene Vorstellungen mit den Visionen der anderen ab. Entspricht dieses Vorgehen dem äußeren Rahmen nach noch einem gängigen Muster der Vorbereitung einer Inszenierung, entfaltet es im Inneren eine eigenwillige Sprache und Dynamik. Am Beispiel des table workshop zu »Peer Gynt« beschreibt Maria 24 | Georg Hensel beschreibt in einer Rezension die Unmöglichkeit ihrer adäquaten Wiedergabe: »Bilder sprechen nicht, man muss sie lesen. Dabei bleibt das Urbedürfnis nach strikten Sinnzusammenhängen ungestillt. Die Rätselbilder kann man nicht wie Bilderrätsel lösen. Man kann sie nur betrachten wie einen Traum, der manchmal realen Lebensumständen nahekommt, manchmal Elemente der Realität befremdlich kombiniert und immer mehr Fragen stellt als beantwortet. Wer die Bilder nicht gesehen hat, dem kann man sie nur so erklären wie dem Blinden die Farbe: Das Bild ist die Botschaft« (Hensel, zit.n. Weiler 1994; 29). 25 | Wilson, zit.n. Böhm/Shareghi 1996; 34.

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Shevtsova den Prozess: »They talk through the piece so as to map out its narrative content. In the case of Peer Gynt, for instance, [...] Rommen26 and Ohlsson27 summarised each scene on the lines of ›Peer does this, he says that, his mother (or someone else) replies and then this happens with such and such consequences‹. The bare bones of the story prompted Wilson to ask various questions – for instance, where x event happened, when it happened, what time of day it happened and how many people were involved. As a summary proceeds and more questions are asked, Wilson draws, visualising his thoughts« (Shevtsova 2007; 47). Entgegen der gängigen Praxis, die Interpretationen und Fokussierungen eines Regisseurs auf einen dramatischen Text als Ausgangspunkt zu nehmen, lässt Wilson sich die Vorgänge der Geschichte erzählen, fragt nach deren Umständen und übersetzt seine Eindrücke in schnörkellose Skizzen. In ihnen kommen die räumlichen und figuralen Vorstellungen Wilsons zum Ausdruck. Inszenierungsmotive, ihre Anordnung und räumliche Struktur werden von Wilson in bildhafter Form verdichtet, indem mehr und mehr Zeichnungen entstehen. Die daraus resultierenden visual books begleiten den Probenprozess und dienen immer wieder als Eselsbrücken zur Erläuterung von Darstellungsstrategien. In den table workshops wird neben der Übersetzung des Texts in eine narrativ-visuelle Ebene der Entwurf eines Textbuchs angelegt. Stellt ein dramatischer Stoff das Ausgangsmaterial, ist in diesem Prozess die Dramaturgie besonders gefragt: »Apart from producing the visual books, the table workshop is crucial for the dramaturg whose task is to exercise a text while ensuring that its narrative foundations remain more or less intact. Dialogue is shortened and some of it omitted, but decisions about cuts are a two-way process depending on the verbal summaries of his collaborators and the cues that Wilson gives back to them via his visual book« (ebd.). Stammt das Textmaterial aus einem anderen Fundus, wird es in die skizzierten Bilder montiert und trägt von vorneherein eine deutlich assoziative Funktion. In diesen Fällen interessiert Wilson vor allem das Spiel mit Klangfarben und -formen, mit sprachlichen Strukturen und rhythmischen Wiederholungen.28 Wilsons Skizzen und die Textbausteine werden in eine lose Verbindung gebracht, in der die eine Ebene die andere nicht interpretiert, beide aber assoziativ aufeinander verweisen und einer eigenen, undurchsichtigen Logik folgen, 26 | Ann-Christin Rommen ist lang jährige Mitarbeiterin von Wilson und Koregisseurin von »Peer Gynt«. 27 | Monica Ohlsson arbeitete als Dramaturgin mit Wilson u.a. bei der Produktion von »Peer Gynt«. 28 | Als beispielhaft kann die Inszenierung »A Letter for Queen Victoria« gelten, in der Wilson mit Raymond Andrews, einem Jungen mit einer Hirnschädigung, eine ganz eigene Sprachwirklichkeit entdeckt und für die Inszenierung ausgearbeitet hat. Das Stottern als Verzerrung ist hier ebenso ein Darstellungsmittel wie eine rhythmische und mathematische Struktur, nach der Inhalt und Sprechweise komponiert sind.

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anstatt sich wechselseitig zu gebrauchen.29 Orientierungspunkte für den Wechsel von Erzählabschnitten sind Signale in den Zeichnungen, die in einer Art Daumenkino im Großformat Wilsons Inszenierungsvision markieren. Im Zusammenhang damit werden innerhalb des table workshop Vorstellungen betreffend Komposition und Ausstattung besprochen, die den Bildern Klang und Farbe geben können. Das Ziel der ersten Arbeitsphase kann als ein Auftakt angesehen werden, in dem Ideen ausgespielt und erste grobe Setzungen vorgenommen werden. Dabei wird ein szenischer Grundwortschatz innerhalb der von Wilson vorgegebenen visuellen Grammatik entworfen, der von einer eigenen, assoziativen Logik durchdrungen ist. Im Anschluss spielen die einzelnen Beteiligten ihr Spiel mit diesen Bausteinen weiter. In der zweiten Phase beginnt die Probenarbeit mit den Schauspielern, die in einem zwei- bis dreiwöchigen Workshop auf die choreografische Praxis konzentriert ist. Der Start in diesen mehrphasigen Probenprozess ermöglicht Wilson ein Spiel mit den Darstellern und das Experimentieren mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Annäherung an die Inszenierung, der besonderen Bewegungsqualität und der Suche nach einer Übertragung der choreografischen Visionen auf die Darsteller und ihr Bewegungspotenzial. Am Anfang ist Wilson für Improvisationen und Vorschläge noch offen. Dieser Arbeitsschritt wird abgelöst von einer sehr präzisen Umsetzung vorgegebener Bewegungsfiguren. Die Bewegungsmuster werden in der Folge als silent play festgelegt, mit allen Relationen zu Raum, Zeit und Partner, ohne Berücksichtigung des Texts. »The aim of the silent play is to familiarise the actors with Wilson’s performance language, which they learn as dancers learn a fixed choreography and in much the same kind of repetitive, routine manner« (Shevtsova 2007; 48). Der Journalist Herrmann Schreiber beobachtet diese Phase am Beispiel der Inszenierung von »Time Rocker« am Thalia Theater in Hamburg: »Jede vom Regisseur vorgeführte oder am lebenden Darsteller demonstrierte Geste wird nummeriert, registriert und festgehalten, nicht nur von der laufenden Videokamera. Während Wilson demonstriert, schreiben die Assistenten jede einzelne seiner Bewegungen samt einer ihr zugeordneten Nummer auf. Manche Bewegungsabläufe haben 10 oder mehr solcher Positionen, ›cues‹ genannt, eine Szene hat zuweilen 50 und mehr. Diese Cues müssen von den Schauspielern irgendwie notiert, mit oder ohne Video gebüffelt und dann reproduziert werden, zunächst mit Aufruf der Nummern, später natürlich auswendig« (Schreiber 1996; 13). Auf diese 29 | »When Jonathan Kalb asked the playwright Heiner Müller whether Wilson could be seen as ›directing‹ his work, the answer was, ›No, no, he just »utilizes«.‹ This is a nice way of looking at it. Wilson doesn’t do anything obvious or banal as interpret the text. But nor does he ignore it completely. He uses it [...]. He works with and alongside (but never according to the dictates of) the written resource. This is one way in which the identity of the director as auteur is guaranteed« (Lavender 2001; 163).

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Weise werden die in den visual books festgehaltenen szenischen Skizzen sukzessive in den Bühnenraum übertragen, das Bewegungsvokabular der Darsteller entwickelt, angepasst und fixiert. Die Bewegungschoreografie wird völlig unabhängig vom Text erstellt, häufig ohne dass dieser überhaupt schon bekannt ist, mit der Absicht, den eigenständigen Erzählwert des Körpers nicht aus der Synthese der Sprache zu generieren, sondern Bewegungsfolgen für sich sprechen zu lassen. Kommt schließlich der Text dazu, wird er getrennt von der Bewegungsschicht ausgearbeitet und von Wilson dort eingesprochen und eingefügt, wo er innerhalb der Choreografie platziert werden soll.30 »Am Ende der ersten, dreiwöchigen Probenphase«, berichtet Schreiber im Kontext der Proben zu »Time Rocker«, »verfasst Darryl Pinckney mit Hilfe der Proben-Videos ein neues Textbuch. Es ist, verstärkt um einige Lou-Reed-Texte, 20 Seiten länger als die erste Fassung, mit der es auch sonst kaum noch Ähnlichkeit hat. Und Josef Lieck – Assistent und ausführendes Organ des Regisseurs – macht sich an die Herstellung eines ›Bewegungsbuchs‹, in dem er auf 150 Seiten und mit rund 50 eigens ersonnenen (englischen) Abkürzungen die knapp 1.100 Cues der ersten Probenphase festhält. ›16 AP turn cw, big eyes (slow) 17 AP turn cw to 7 h (quick)‹, steht da beispielsweise, ergänzt durch militärisch anmutende Lageskizzen und lustige Strichmännchen-Zeichnungen für jede der nun über 30 Szenen« (Schreiber 1996; 14). In einer letzten Probenphase, die wiederum in zeitlichem Abstand zur vorherigen stattfindet, werden Bewegung und Sprache übereinandergeschichtet: »By then, the actors are expected to have memorised the movement score and internalised its tones, rhythms and phrasings. [...]The main purpose of the second workshop is to connect the silent and the verbal book and adjust them to each other. Any necessary textual alterations are made here by the dramaturg [...] for what becomes the ›final‹ text by the end of the workshop« (Shevtsova 2007; 50). In der Regel finden direkt im Anschluss die technischen Einrichtungen statt, die von umfangreichen Lichtproben begleitet werden, und die Inszenierung kommt zum Abschluss. Der inhaltliche Faden wird nicht an die Zentralperspektive des Texts gebunden, die freie Verknüpfung und Schichtung von Körper, Sprache, 30 | Heiner Müller beschreibt seine Faszination für diese Herangehensweise: »Diese Arbeit in Schichten finde ich interessant. Die erste Schicht ist da auch das Schweigen, dann kommt die Schicht des Textes darüber, das Schweigen ist also immer darunter; wenn man den Text hört, hört man immer noch das Schweigen, das drunterliegt, und das ergibt eine Tiefenspannung« (Müller 1996; Band 2; 43). Diese kommt in der letzten Phase unabhängig von der vorigen hinzu, sodass beide Teile, Bewegung und Text, einem eigenen Rhythmus und einer eigenen Struktur folgen und ein Drittes entsteht. »What you hear and what you see are two different layers. When you put them together, they create another texture. [...] It may seem arbitrary at first, but later different layers add up. There will be an architecture. Meanings will emerge« (Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 136).

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Musik etc. erfolgen durch Wilsons subjektive Assoziationen und Intuitionen. Im Laufe der Jahre schöpft er diese mehr und mehr aus dem konkreten Umgang mit den Schauspielern und nicht mehr ausschließlich aus seinen grafisch entwickelten Raum-Zeit-Konstruktionen, die im Vorfeld produziert werden. Er  schreibt: »The workshop process lets me get my arms around a piece. Through the workshop I find a direction. Only by living with a work for a long period of time you get a perspective on it. A complex work needs time to grow inside. I used to think more about a play before the workshop. Now I think it’s better not to think about it so much, not to come in with preconceived ideas. It’s better to look at the room and the people in the room you’re working with and make it happen with them. When I look at an actor I have to think about not only the character he’s playing but also the person breathing in front of me. I don’t like thinking in the abstract. I have to see something to know what I’m doing« (Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 135). Entstehen dabei Gräben zwischen dem von Wilson gewünschten Effekt und der konkreten Bühnenillusion, greift er auf seine frühere Methode des einsamen Zeichners zurück. So berichtet Arthur Holmberg von den ersten Proben zu »King Lear«, während derer die Schauspieler verschiedene Lösungsmöglichkeiten probierten, die Wilson nicht zufrieden stimmten. Ohne ein Wort verließ er die Proben und kehrte am nächsten Tag mit einer Menge Skizzen wieder, einem Storyboard für die Inszenierung (vgl. ebd.; 77). Wilson bleibt ein vom Visuellen inspirierter Regisseur, der Raum und Architektur als Ausgangspunkt nutzt, die Faszination für Linien und Formen, Geometrie und mathematische Abstraktion in den Probenprozess einbringt und von dort aus einen Dialog mit und zwischen Bühne und Darstellern initiiert. »Das Verhältnis von Grafik und Inszenierung ergibt sich bei Wilson aus dem Produktionsprozess«, bündelt Patrick Primavesi die Arbeitsstruktur Wilsons, »demnach ist das Zeichnen die Grundlage eines szenographischen, auf die Szene gerichteten Denkens, das sich im Moment des Entwurfs selbst zu dokumentieren beginnt« (Primavesi 1998; 176). Diese »Diagrammatologie« rahmt den Probenprozess und stellt die grundlegende Spielvereinbarung, die dominante Kommunikationsform dar. Denkt Wilson laut, beginnt er meist zu zeichnen und leitet die skizzierte Aussage ein mit den Worten ›Es könnte dieses sein …‹ (vgl. Graupner 1995; 235). Die visuelle Partitur gibt den Rahmen für die Arbeit mit den Darstellern und wird im Verlauf der Probe in ein theatrales Geschehen transportiert und um klangliche und textliche Schichten erweitert. Die Suche findet in Bildern statt: in Wilsons Bildern, die dramaturgische, gestische und räumliche Strukturen eigenwillig verdichten. In der Transformation seiner Visionen findet die Reibung mit den Darstellern erst in der Ausarbeitung des silent play einen veritablen Rahmen.

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1.2.2 Kontexte: »I wonder, what just-born babies have to dream about« 31 »Wie jede Robert-Wilson-Produktion beginnt auch diese [›Time Rocker‹; ms] mit einer Kreuzung aus Andacht und Appell. Zwölf Schauspieler und mindestens ebenso viele Hospitanten aller Art lagern zu Füßen des Meisters und lauschen seiner Lehre vom Theater: Alles ist Bewegung. Es gibt keinen Stillstand. Jede Geste hat ihr Gewicht. Das Gewicht der Geste muss den Raum füllen. ›Es gibt nichts Schöneres als eine leere Bühne‹, sagt der Meister und vertieft sich in deren Betrachtung, während sein Schweigen die Atmosphäre mit Bedeutung auflädt. Dann lässt er die zwölf Schauspieler nebeneinander die Bühne überqueren, ganz langsam, in vier Minuten. ›Auf der Bühne zu gehen‹, sagt der Meister, ›das ist das Schwerste [...]‹« (Schreiber 1996; 8f.). Aus der Feder eines anderen Autors und in einer anderen Inszenierung (»Ozeanflug«) wird der gleiche Moment, der Probenbeginn mit den Darstellern, so beschrieben: »The work with the actors began. Wilson explains his concept to the team. When explaining his ideas for the piece, Wilson spoke of Brecht and Weigel, whom he saw play The  Mother in Paris. He spoke of the simplicity and clarity of her movements. He told of his friendship with Heiner Müller, recounted anecdotes from their work together [...]. He also described his conception of the theatre« (Teschke, zit.n. Shevtsova 2007; 49). In beiden Versionen wird die Theatersituation als solche zum Thema gemacht, ohne dass ein spezifisches gedankliches Inszenierungskonzept vorgestellt und diskutiert wird. Die ersten Schritte in das konkrete Projekt werden mittels Bewegungsexperimenten unternommen. Vermittlung in den gedanklichen Horizont der Arbeit findet statt anhand der Skizzen aus dem visual book. Sie sind der Kontext, aus dem heraus die Suche für die Schauspieler beginnen soll.32 Das Herausarbeiten der einzelnen schauspielerischen Aktionen erfolgt bei Wilson anhand der Übersetzung der grafischen Strukturen in physische Muster. »Wilson is not in the least interested in exoticism or appropriation. His goal is to establish a gestural language to his productions, and he keeps this language in mind as he draws his visual books. Its most specific details are determined only when they are tried and tested, often innumerably, in the real time and space afforded by rehearsals. Wilson may not have a theory to check or prove, but his work with everyone during the production process is meticulous and exacting« (Shevtsova 31 | Wilson, zit.n. Lavender 2001; 191. 32 | »Zu Beginn der ersten Probenphase von ›Time Rocker‹ im November 1995 gibt es Skizzen von des Meisters eigener Hand. Für 28 Bilder. Es gibt auch bereits die nach diesen Skizzen gefertigten Bühnenmodelle. Es gibt, anders als beim ›Black Rider‹, sogar schon ein komplettes Libretto von 34 Seiten. Aber dessen Dialoge spielen [...] erst mal keine Rolle. Westliches Theater, sagt der Meister, ist ein Gefangener der Literatur, es studiert Texte ein. So soll Wilsons Theater nicht sein« (Schreiber 1996; 9).

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2007; 43f.). Eine Verständigung über Subtext und emotionale Haltung der Spieler interessiert Wilson nicht, jeder Schauspieler muss diesen Schritt alleine bewältigen, ohne dass ein situativer Kontext oder eine ›PsychoLogie‹ dem Handeln zugrunde gelegt wird. Diskussion oder Austausch darüber finden in der Regel nicht statt, Anhaltspunkte für das Spiel bleiben überwiegend formaler Art, teilweise ergänzt um imaginative Komponenten. Wilson selbst begründet dies folgendermaßen: »Du bist niemals in der Lage, einem Schauspieler zu erklären, was er fühlen soll. Das ist unmöglich und ich versuche es erst gar nicht. Ich spreche nicht einmal darüber, sage ihnen nicht einmal, was sie denken sollen, das habe ich nie getan« (Wilson, zit.n. Böhm/Shareghi 1996; 39). Erfährt man dies nicht als Mangel, so können Wilsons streng vorgegebene Bewegungsfolgen als konstitutive Spielregel für ein nicht durch Bedeutungen determiniertes Spiel gesehen werden. Es steht in einer Differenz zu den klassischen schauspielmethodischen Figurenspielen von Brecht, Stanislawski und Strasberg, ähnelt in der abstrakten, auf Strukturen basierenden Kontextualisierung mehr modernen tänzerischen Ausdrucksformen. Durch die Umsetzung mit Schauspielern oder Opernsängern sowie die verfremdeten theatralen und narrativen Episoden findet jeweils eine Brechung der Genres statt, in der ein eigener Kosmos aufgetan wird. In der Probe führt die Verfremdung zu psychologischen Leerstellen in Wilsons Regiearbeit und kann zu einer produktiven Verunsicherung der Schauspieler beitragen, die es ermöglicht, eine Bedeutungsfülle in den Handlungen zu entdecken und später dem Zuschauer zu vermitteln.33 Wilsons Verweigerung einer rational-sprachlichen Ausführung seiner Inszenierungsideen bekommt in der Probenpraxis ein anderes Gesicht. Die Vermittlung von Kontexten findet in der Sprache der Bilder statt, die nicht nur für mögliche Deutungen und Bedeutung von Bewegungsfolgen eingesetzt werden können, sondern zugleich visionärer Impuls und formale Vorgabe für die Umsetzung sind. »Ich mag nicht, wenn man mein Theater interpretiert, denn die Interpretation beschränkt immer die Vielfalt möglicher Deutungen. Deshalb versteift man sich besser nicht auf eine Idee. Das heißt nicht, dass man keine Vorstellungen hat. Man kann Andeutungen machen, ohne darauf zu bestehen. Man kann darüber nach33 | Liegt für Wilson selbst die erste und entscheidende Frage weder in der Erörterung der Bedeutung noch der Struktur des Materials, sondern in der Suche nach dem, was es bei ihm selbst auslöst und mit ihm macht (vgl. Lavender 2001; 193), versucht er diesen Prozess im Probenverlauf den Mitwirkenden und im Anschluss den Zuschauern zu vermitteln. »I think theatre is not something that has to be intellectual, something that you have to think about in (the) mind; this theatre is boring. It’s a big bore. Theatre is something that you experience and experiencing something is a way of thinking. You don’t experience something just with the mind but with the body: I’m moved; I’m touched; I feel something. My body feels it, it’s not just with my head. So it’s a kind of balance that exists but the experience is most important« (Wilson, zit.n. Lavender 2001; 193).

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denken und seine Gefühle jederzeit ändern. Ich bevorzuge ein distanziertes Theater. Das bietet dem Zuschauer Gelegenheit, über unsere Arbeit nachzudenken und auch wir können uns darüber Gedanken machen« (Wilson 1993; arte). Das individuelle Denken, Imaginieren und Assoziieren stark zu machen und von dort aus die Suche zu beginnen, die eigenwillig sein und Konventionen sprengen soll, nimmt er entsprechend nicht nur für sich als Regisseur in Anspruch, sondern erwartet und fordert dies ebenso von seinen Mitarbeitern und den Darstellern. Imaginative Kontexte, die in die eigenen Darstellungsaufgaben eingespielt werden, bestimmen die Spieler selbst. Die Aufladung und Verknüpfung der formalen Muster mit einem mentalen Raum sind sogar ausdrücklich erwünscht und notwendig. Erst durch diesen Schritt bekommen die Bewegungs- und Textgestalten einen lebendigen Ausdruck, der das Hin-und-her-Kippen von Fantasie- und Strukturwahrnehmungen bewirkt. In der Verbindung von Imagination und gestischem Spiel wird ein schauspielmethodisches Grundprinzip angewendet, das im Kontext theatraler Praktiken eine die diversen Lehrmodelle übergreifende methodische Basis bildet. Das Spiel mit der eigenen Vorstellungskraft bleibt bei Wilson allerdings überwiegend ein autonomes und solitäres Ereignis. Weder wird sie an einer gemeinsamen thematischen Vision entzündet noch in konkreten Spielsituationen geteilt. Sie ist der Fluchtpunkt, auf den alle formalen Konstruktionen und Kompositionen ausgerichtet sind.34 34 | Prägend für diese Haltung waren neben dem Interesse für die tänzerische Architektur im Spiel zwischen Körper und Raum insbesondere die Begegnungen mit Raymond Andrews und Christoper Knowles: »[...] looking back on my work«, schreibt er auf seiner homepage, »meeting Raymond Andrews and Christopher Knowles were the second and third most important influences on my work« (Wilson; www.robertwilson.com). Die beiden Begegnungen haben jeweils eine theatrale Recherche ausgelöst, die Wilson folgendermaßen schildert: »In meinem ersten größeren Werk spielte ein taubstummer schwarzer Junge mit. Ich wollte mit ihm etwas schaffen, was seine Seh- und Denkweise widerspiegelt. Er war nie zur Schule gegangen. Worte kannte er nicht. Ich fand ihn intelligent und wollte wissen, wie er dachte. Ich fand heraus, dass er in visuellen Zeichen und Signalen dachte. Ich wollte ein Buch darüber schreiben, aber ich habe ein Theaterstück daraus gemacht. Es basierte auf seinen Beobachtungen und Träumen und seiner Art zu sehen. Es hieß ›Deafman Glance‹ (Blick des Tauben), war sieben Stunden lang und ohne Worte« (Wilson 1993; arte). Nachdem ihm mit dieser Inszenierung große Aufmerksamkeit zuteil geworden war und er den Durchbruch in die Theaterwelt geschafft hatte, begann einige Zeit darauf die Arbeit mit Christopher Knowles, einem Jungen mit einer Hirnschädigung. »Chris sieht Strukturen, wenn er spricht. Dieses ›em-em-em‹ klingt wie ein Lautspiel. Es ist sehr genau durchkonstruiert, auf Band wird es deutlich. Sechs em-em-em-em, um … und nochmal …, dann 6-6-6-7-8-, dann 6-6-6-7-5-, 6-6-6-7-8-, das ist sehr kompliziert, die Form ist oft sehr klassisch. Es klingt ähnlich wie Mozart, die Struktur, der Rhythmus, die Wiederholungen« (Wilson 1993; arte). Das Spiel mit diesen Strukturen und die

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»I guess, what I’m really interested in is communication«, schließt er die Beschreibung eines ihn faszinierenden Videodokuments ab, das zeigt, wie Mütter ihre schreienden Kinder auf den Arm nehmen (vgl. Richterich 1993; 68). In der extremen Verlangsamung der Filmgeschwindigkeit sieht man einen kurzen aggressiven Ausdruck im Gesicht fast aller Mütter, dessen sie sich nicht bewusst sind und der sie irritiert, da sie doch ihre Kinder selbstverständlich lieben. Mit dieser körperlichen Manifestation von Widersprüchen im menschlichen Verhalten auf der Bühne zu arbeiten und in der Verlangsamung und der extrem betonten Geste das verborgene Potenzial darstellerischen Ausdrucks zu entdecken, ist der verbleibende Rest thematischer Setzung.35

1.2.3 Konstruktion: »If I want to send the audience a message, I’d use a fax« 36 Bei Robert Wilson stehen die Schauspieler gleichwertig neben Licht, Ton und Bild auf der Bühne und sie sind selbst Licht-, Ton- und Bildgestalten. Ihre äußeren Haltungen und Bewegungen werden von Wilson minutiös choreografiert. Die Akteure verkörpern dabei keine Charaktere, sie imitieren nicht und stellen keine psychologischen Personen dar, ihr Handeln und Verhalten verweisen weder auf Rollenmodelle des Alltags, noch werden soziale Beziehungsspiele demonstriert. Obwohl das schauspielerische Handeln hochartifiziell wirkt, liegt es in dem von Kirby dargelegten schauspielerischen Spannungsfeld eher auf der Seite des simple acting (vgl. Kapitel IV.3.1.3). »The Wilsonian performer is seen involved in doing simple physical things effortlessly«, kennzeichnet Stefan Brecht das Spiel der Darstellung und fährt fort: »Attention is drawn to hisher activity as just activity and as hishers. He or she thus figures precisely as potential of the movement (or of holding of the pose); unemphatically intending it every moment, not intending anything to be accomplished by it, nor any effect that seeing it might have on the audience. The simple physical movement or stance actualises this simple physical performer« (Brecht 1978; 252). Da den Bewegungen keinerlei psychologische Motivation eingeschrieben wird, sondern sie den abstrakten Zeichen eines besonderen sprachlichen Verzerrungen und Verschiebungen zeichnen nicht nur die entstandene Inszenierung »A Letter for Queen Victoria« aus, sondern begleiten, wie die traumähnlichen Bilder und Vorgänge aus »Deafman Glance«, Wilsons weitere Theaterpraxis. 35 | Das Rätsel frühkindlicher Erfahrensweisen kann als metaphorischer Kontext für Wilsons Suche gelten: »Wilson frequently couples this thought by another musing: ›A baby is born dreaming, I wonder what just-born babies have to dream about.‹ This preoccupation with the uncorrupted, wise-dreaming baby is repeated often enough to indicate its central place in Wilson’s thinking. It is one with his learning towards dreamlike modes and interior mental landscapes, and disabling of clear meanings« (Lavender 2001; 191). 36 | Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 48.

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Traums gleichen und einem rigiden wilsonschen Alphabet folgen, werden die Schauspieler auf ihren realen Körper zurückgeworfen, erzeugen aber gleichzeitig eine hochartifizielle Realität.37 Wilsons Interesse ist auf die Erzeugung einer natürlichen Wirkung gerichtet, die erst durch eine immense Künstlichkeit hindurch sichtbar werden kann. Immer wieder wendet er sich entschieden gegen eine naturalistische Darstellungsstrategie: »I hate naturalism. I think naturalism has killed theatre. I’m interested in what’s artificial; I think that an actor who tries to act natural on stage is lying, because to be on the stage is something artificial; so if you accept it as something artificial, in a strange way you can be more natural about what it is that you are doing« (Wilson, zit.n. Lavender 2001; 185). Das  Erlernen der gesuchten Künstlichkeit in den Bühnenhandlungen ist Teil der Probenpraxis und grundlegend für die Sprechfertigkeiten, die Wilson bei seinen Darstellern sucht, denn »even if you want to sit in a naturalistic way, it’s something you have to learn. So in that sense it’s artificial« (ebd.). Er vergleicht den Lernprozess mit dem Erwerb von anderen technischen Fertigkeiten, wie beispielsweise dem Fahrradfahren, das einem Anfänger zuerst als eine äußerst komplizierte und komplexe Tätigkeit erscheint und alle Konzentration fordert, mit der wiederholten Praxis aber immer selbstverständlicher wird und – ohne darüber nachzudenken – rein mechanisch ausgeführt werden kann.38 Übertragen auf die schauspielerische Praxis bedeutet die Mechanisierung von Vorgängen für Wilson den Zugewinn an Freiheit in der 37 | Für die Theaterwissenschaftlerin Christel Weiler entsteht in Wilsons Theaterarbeit durch den Schauspieler ein »Ausdruck individueller physischer Präsenz durch die unbedingte Konzentration auf den eigenen Körper, mit dem der Schauspieler einen geheimen Dialog führt«; die »Aufmerksamkeit des Zuschauers (wird) auf den Ablauf der Bewegungen« gelenkt, auf die »einfachen Handlungen respektive die Individualität der Spieler«, die den Schauspieler als Zeichen seiner selbst zeigt (vgl. Weiler 1994; 37). Der Körper tritt in den Vordergrund, Verlangsamungen, Beschleunigungen, minimale Haltungsänderungen werden zu elementaren Handlungen der Darsteller. In der Abstraktion des schauspielerischen Handelns bilden die Darsteller eine artifizielle Identität aus, die, dem Kinderspiel ähnlich, von der »Universalität der Differenz, vom Tanz der Dinge« erzählt (vgl. ebd.; 84). Das Gewicht jeder einzelnen Bewegung, jeder Geste wird betont durch ihren nichtnaturalistischen Stil, ohne dass die zeichenhafte Überhöhung mit der Intention, etwas Bestimmtes zu zeigen, unterfüttert wird. 38 | Wilson sieht in der Mechanisierung u.a. den einzigen Ausweg aus der technologisch geprägten Wirklichkeit: »Well, I think in this age of technology that our only chance of beating the machine is to become mechanical, to become automatic. That’s why in my theatre works you can’t rehearse anything too much. And the more mechanical you become, the freer you become. It’s like learning to ride a bicycle. The first time it may be awkward or difficult, like learning to play Mozart on the piano, and in sense we never learn. But the more we do it, the freer we become« (Wilson, zit.n. Shevtsova 2007; 59f.).

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Darstellung: »And not until we become really mechanical can we be free. And the more we repeat something, perhaps the freer we are. [...] So I think that naturalism comes in a strange sense from being mechanical, through a formal approach to theatre« (ebd.). Die darin enthaltene Umwegstruktur kennzeichnet den Weg der Aneignung und den Prozess der Darstellungskonstruktionen. Wilson entwirft auf diesem Weg Figuren, die sich wie in einem wandelnden Traumgefüge immer wieder neu brechen. Figurales Spiel findet nur in minimalen Andeutungen statt: »The figures are acted out only to a minimal extent [...].They are not acted: the acting-out is so minimal as to remain obvious, merely suggested some familiar identifying characteristic that is not only clearly superficial, but of a superficial (unserious) sort, a handle, a visual cliché« (ebd.; 219). Die dieser Praxis immanente künstliche Überhöhung fordert von dem Schauspieler, dass er Normalität in seinem Spiel zeigt, ohne naturalistisch zu agieren, sodass er eine Einfachheit in seiner Darstellung gewinnt, die ihn nicht hinter einer Figur zum Verschwinden bringt. »I hate people who want to act« (Wilson, zit.n. Müller 1996; Band 2; 171) ist eine provokative Äußerung Wilsons, die Irritationen weckt und die Darstellungssystematik kennzeichnet. Nichts zerstört Wilsons Arbeit schneller als ein spielender Spieler, ihn interessiert die Differenz zwischen beispielsweise einem Hamlet und dem Schauspieler. Der Spieler soll gar nicht erst versuchen, Hamlet zu verkörpern, sondern sich als eigenständige Schicht über die Rolle Hamlets legen, sichtbar bleiben, von Hamlet abstrahiert, um Theater nicht zu einem, wie Heiner Müller es nennt, »Analphabetenspaß« zu machen (vgl. ebd.). Häufig eingesetzte Strategien Wilsons bestehen in der Verdoppelung der Gestalten, in der Besetzung männlicher Figuren mit Frauen und umgekehrt und in der Wiederholung von gleichen oder nur minimal voneinander abweichenden Bewegungssequenzen durch unterschiedliche Spieler, um die Aufmerksamkeit des Publikums für den Ausdruck und das Handeln des Einzelnen zu sensibilisieren, Muster und Strukturen in ihrer Wiederholung neu erkennbar zu machen. Welchen Spagat die von Wilson eingeschlagenen Umwege für das darstellerische Handeln provozieren, wird ersichtlich in der Konfrontation von Innen- und Außenbeschreibungen der Praxis. »Alles, was wir getan haben, lässt sich am besten mit der sehr realistischen Geste eines spielenden Kindes vergleichen«, beschreibt die Schauspielerin Isabelle Huppert den Prozess aus ihrer Perspektive, »›wenn ich das wäre, wenn ich jenes wäre, dann …‹ Jedermann weiß, dass Kinder die gesamte ›Komödie der Menschheit‹ spielen können, indem sie einfach sagen: ›Ich bin ein Mann, eine Frau, ein Botschafter.‹ [...] Und genau das tue ich in ›Orlando‹: Ich gebe vor, die verschiedensten Rollen einzunehmen, und zeige damit auf, was Menschen möglicherweise sein könnten. Genau wie dies ein Kind tun würde« (Huppert, zit.n. Keller 1997; 29f.). Durch eine kindliche Imaginationskraft, so scheint es hier, und das darin enthaltene märchenhafte, sprunghafte Potenzial zur plötzlichen Verwandlung von einem Artefakt

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in das nächste verbindet Huppert die formalen Strukturen mit eigener Fantasie. Individualität des Ausdrucks und Universalität des Geschehens finden darin in eine Balance und zu einer Synthese. Hergestellt werden solche Umwege allerdings durch eine streng mathematische Ordnung und Struktur der Vorgänge, in der das Zählen von Sekunden und die exakte Abfolge von durchnummerierten Bewegungen das Spiel nicht nur begleiten, sondern volle Aufmerksamkeit fordern, bis an die Kapazitätsgrenze der Akteure.39 Dass die mathematische Struktur nur ein Hilfsmittel darstellt und die exakten Ordnungsmuster etwas anderes erschließen sollen, wird offen kommuniziert und von Wilson immer wieder betont: »Zwar mag sein, dass der Schauspieler eine genaue Zeitangabe hat. Er bewegt seine Hand zur Teetasse in 14 Sekunden. Er hält still für fünf Sekunden, dreht seine Hand nach innen für drei, hält still für fünf, nimmt die Tasse in einer Sekunde. Das ist nur die Form und die ist langweilig. Aber das, was er fühlt in diesem Moment, wenn er die Bewegungslinie vollzieht, das macht es interessant. Dass es ein Mensch tut, das interessiert mich. Die Maschine würde mich nicht so interessieren. Es interessiert mich einfach mehr, wenn es live passiert und wie der Darsteller die Bewegung vollzieht. Je mechanischer er wirkt, je mehr er wie eine Maschine wirkt, desto interessanter ist es, trotzdem würde es mich nicht interessieren, wenn es eine Maschine täte« (Wilson, zit.n. FischerLichte 1997; 215). Gelingt den Darstellern die Balance zwischen Struktur und Imagination, werden vorschnelles Erkennen, Einordnen und Interpretieren mit einer spielerischen Leichtigkeit zerstört, ohne die Ernsthaftigkeit des Bühnengeschehens zu gefährden. Ivan Nagel attestiert Wilson eine Albernheit, die ihre Souveränität behauptet und sich »gegen alle Hochmutsund Demuts-Rollenspiele« zum Schutze des Ichs verwahrt. Er nennt als Gegenstück zu dieser Albernheit die Würde, fester Bestandteil in Wilsons Schauspieltraining: »Würde will, zum Leib geballt, Raum ergreifen: entgegentreten. Wilsons Schauspieler lernt zuallererst die Bühne besetzen, statt sich dem Parkett anzubiedern. Nicht für den Zuschauer spielt er, sondern für sich – das heißt in Wahrheit, gegen die Zuschauer« (Nagel 1996; 209). Den Zuschauern etwas entgegenzusetzen kann als ein Axiom

39 | Der journalistische Blick nimmt dann auch den Punkt ins Visier, an dem die Grenze erreicht ist: »Manchmal merkt wohl auch der Meister, dass er selbst ein so spielfreudiges, enorm belastbares und ihm obendrein gewogenes Ensemble wie die Thalia-Schauspieler mit der höheren Mathematik seines Exerzierregiments an den Rand des Fassungsvermögens bringt. »›Also‹, erklärt er einmal eine komplizierte Konstellation von vier Darstellern, ›Nummer 57 ist die 19. Bewegung von Annette und Stefan, Nummer 62 ist die 38. Bewegung der beiden Sekretärinnen …‹, und lacht schließlich selbst über die Zumutung solcher Zahlenspiele. ›Es muss eine einfachere Art geben, den Lebensunterhalt zu verdienen‹« (Schreiber 1996; 13).

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Wilsons angesehen werden, das die Begegnung am Widerstand sucht und fördert. Die Entgegnung kann dabei durchaus Berührung auslösen, für Heinrichs zumindest erscheinen die vage skizzierten Charaktere auf Wilsons Bühne häufig als schizophrene, multiple Persönlichkeiten: Sie sind alles andere als »komplette Menschen«, sondern zerstückelt und brüchig, verloren in ihrer Einsamkeit, und obwohl sie »sich wie Marionetten bewegen, Sätze heruntersagen, die ein Poesiecomputer für sie erfunden haben könnte, alles andere als unmenschlich« (Heinrichs/Nagel 1996; 170f.). Benjamin Heinrichs und Heiner Müller beschreiben übereinstimmend den Eindruck einer von zwei älteren Kleindarstellern getragenen Tanzszene in »Death, Destruction and Detroit«. Von seinem Probenbesuch bei Wilson berichtet Müller: »Dann gab es eine Probe mit Kleindarstellern, etwa zwanzig Leute. Sie tanzten zu einer langsamen Musik, die zwei ältesten im Zentrum. Dann ließ er die anderen abgehen und die zwei Alten, eine Frau und einen Mann, weitertanzen, fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig Minuten lang. Zum ersten Mal in ihrem Kleindarstellerdasein gehörte ihnen die Bühne. Es war enorm, wie sie bei dem Tanz aufblühten, ein dürrer alter Mann und eine dürre Frau. Das war eine ungeheuer schöne Szene. Wilson ließ sie zwanzig Minuten tanzen, auch noch in der Aufführung« (Müller 1999; 327). Heinrichs, aus der Perspektive des Zuschauers und Theaterkritikers, schreibt über die gleiche Szene bei der Aufführung: »Nur eines begreift man: den Kummer Wilsons, dass auch solche Szenen einmal zu Ende gehen müssen, dass der Sieg des Theaters über die Schwerkraft nicht von Dauer ist; dass gerade die alten Leute, die hier auf der Bühne noch einmal ganz außer sich geraten, hinterher die Last ihrer Körper doppelt spüren werden. Tanz ist bei Robert Wilson das Gegenteil von Ballett: Nicht die artistische Beherrschung des Körpers ist sein Ziel, sondern dessen größtmögliche Entspanntheit, Schwerelosigkeit. Einfacher, sentimentaler: Nicht die Kunst des Tanzes interessiert ihn, sondern das Glück der Tänzer« (Heinrichs/Nagel 1996; 170).

1.2.4 Zwischenstopp Rahmen. Betrachtet man die Inszenierung der Proben bei Robert Wilson entlang der Schnittstelle von Spiel und Nicht-Spiel, tritt deutlich hervor, dass Inhalte weder für die Mitarbeiter in den Bereichen Musik, Ausstattung und Dramaturgie noch für die Darsteller diskursiv aufgeschlüsselt und in Spielideen übersetzt werden. Inhaltliche Analysen bleiben dem Einzelnen und seiner Fantasie anheimgestellt. Die einende Referenz bilden Wilsons Skizzen in den visual books. Sie umrahmen die Probenpraxis und etablieren eine spezifische Probenkultur. In der Probe wird über diese grafischen Skizzen ein kommunikativer Vorgang in Gang gesetzt, deren Übersetzung in ein theatrales Ereignis strengen schematischen Regeln folgt, die Wilson definiert. Akzeptanz und Einordnung in dieses System werden von allen Beteiligten erwartet und als selbstverständlich vorausgesetzt.

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Kontexte. Wilsons Projekte können von einem beliebigen Stoff aus Anlauf nehmen. Er kontextualisiert Fundstücke mit seinen Assoziationen, sucht nach Strukturen, die ihm sinnfällig werden.40 Diese Recherche führt weder zu einer klar eingegrenzten Fragestellung, noch werden Kernaussagen herausgeschält, die ein Inszenierungsanliegen begründen, begreifbar machen und aufschlüsseln. Seine Ergebnisse und seine Vision für eine Inszenierung teilt er den Spielern anhand der visual books mit. Diese werden zur stofflichen Basis und sind einziger Referenzrahmen für den Darsteller. Die visual books zentrifugieren die inhaltlichen Dimensionen, indem sie Assoziationen auf den Text, den Raum und den Körper zueinander in Relation setzen und bis zum Ende der Proben als legislative und exekutive Erklärungsund Erläuterungsinstanzen fungieren. Sie setzen dem irrationalen Zugriff Wilsons eine verbindliche Dominante entgegen: »[...] it is important to remember that Wilson invented the visual book as an antidote to the way theatre directors had privileged texts, downgrading all the other elements that rightfully made up a stage ensemble or mise en scène« (Shevtsova 2007; 143). Als visuelles ›Gegengift‹ zu einer zentralperspektivischen Textpraxis verknüpfen sie, zweidimensional und in Schwarz-Weiß, Inhalt und Methode. Die visual books sind die alleinige Referenz für den Prozess der Transformation in szenische Vorgänge und einziger Verweis auf das Vermittlungsanliegen, das Wilson mit einer spezifischen Inszenierung erreichen will. Konstruktion. Mit der Übersetzung der Skizzen durch die Spieler beginnt ein dissoziativer Prozess. Die geometrischen und zeitlichen Strukturen der Darstellung gewinnen mehr und mehr Prominenz, sodass die skizzierten Vorlagen darin aufgelöst werden und zerfallen. Anstatt einer Ausdeutung der Skizzen und deren Übertragung oder Abbildung in vorgestelltes Verhalten und Handeln wird das konventionelle Schauspielvokabular systematisch zersetzt. Ein offensichtlich simples gestisches Vokabular wird in kleinste Einheiten zerlegt und in Zeittakten und Raumwinkeln zu einem hochgradig artifiziellen Verhalten rekomponiert. Die Praxis zwischen Körper und Erfahrung, zwischen Innenwelt und Außenraum folgt in den Proben einer klar strukturierten Vorgehensweise. Systematisch erarbeiten die Darsteller ausgehend von den visual books ein silent play, bevor in einer weiteren Probenphase eine Textschicht über die Bewegungsschicht gelegt wird. Die Unabhängigkeit von Körper und Text wird verstärkt durch die exakten Choreografien, die sich jeder Spieler 40 | Heiner Müller kennzeichnet Wilsons Auseinandersetzung mit dem thematischen Umfeld als einen Prozess der Potenzierung seiner Brauchbarkeit: »Wilson verhält sich zu jedem Material ähnlich: Er kreist es ein, umschleicht es und versucht, es von allen Seiten kennenzulernen. Dadurch bleibt das Material autonom. Es wird nicht verbraucht – im Gegenteil: Es potenziert sich in seiner Brauchbarkeit« (Müller, zit.n. Keller 1997; 92).

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bis zum mechanischen Automatismus einverleibt. Erst danach folgt der Aufbau einer weiteren Schicht, sodass der Raum zwischen Text und Körper übereinanderliegt, ohne voneinander abzuhängen. Die »Geometrisierung des Spiels« (Richterich 1993; 138) stellt Wilson durch konsequente Mathematisierung und Strenge in der Komposition her, indem er alle Teilbereiche einer eigenständigen Partitur folgen lässt, deren übereinandergeschichtete Struktur den eigentlichen Handlungsverlauf darstellt. Wilsons Ziel, einen Spielraum zu erzeugen, in dem Sehen und Hören gleichzeitig und unabhängig voneinander möglich sind, wird durch die Diskrepanzen und Dissonanzen zwischen den einzelnen Partituren provoziert. Für die Schauspieler, die diese Partituren mit größtmöglicher Präzision aus- und aufführen, liegt die Freiheit des Spiels hinter oder unter der mechanischen Einverleibung der Vorgänge. Die verschiedenen ineinander verzahnten und übereinandergeschichteten Partituren können als Regelwerke angesehen werden, die durch die Art ihrer Montage ein Spielhaben der Kräfte erlauben. Die perfekte Nüchternheit. Als Person tritt Wilson in diesem Prozess zwischen Spiel und Nicht-Spiel hinter seine Zeichnungen zurück, die ihn auf andere Art sichtbar machen. Er verausgabt sich in den mathematischen Aufzeichnungen der probierten Szenen und fordert die gleiche Präzision in der Handhabung von Körper und Stimme durch den Schauspieler. Ihm ist bewusst, dass es ein Dazwischen gibt. Auf dieses arbeitet er zu. Ihn interessieren Menschen auf der Bühne, ohne deren schauspielerische Professionalität als unabdingbare Voraussetzung für einen beide Seiten bereichernden Arbeitsprozess festzulegen. Seine Verschlossenheit gegenüber den konventionellen Spielarten der Kommunikation in Probenkontexten ist gepaart mit einer Offenheit für den Einzelnen, dessen Individualität und Sprachlichkeit, die nur körpergebunden verstanden werden kann. In aller Konsequenz bleiben die Lebensrealität der Beteiligten, ihr Erfahrungshorizont und die reflexive Auseinandersetzung mit dem Dargestellten in der Probenpraxis ausgeklammert, sodass um die artifizielle Spielweise ein künstlicher Kokon gespannt wird, der das Geschehen explizit von der Alltagswirklichkeit absondert.

1.3 Kartografie III: Peter Brook »Heute sage ich zum Beleuchter: ›Volles Licht!‹ Ich will, dass es hell wird, dass man alles sieht, dass nicht der geringste Schatten auftritt« (Brook 1983a; 92). Mit diesen Worten verdeutlicht Peter Brook den großen Wendepunkt seiner Karriere, die dem traditionellen Illusionstheater eine radikale Absage erteilt. Brooks anfängliche Faszination für Theater zeichnete sich durch die Beschäftigung mit bildnerischen Elementen und plastischen Fragen aus. Während der Inszenierung des »König Lear« 1962 verwirft er kurz vor den Proben seine Pläne für das Bühnenbild mit folgender Konsequenz: »Eines Nachts habe ich mir Rechenschaft darüber abgelegt,

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dass dieses wunderbare Spiel keinerlei Daseinsberechtigung hatte. Und als ich den Entwurf änderte, sah ich, dass das, was übrig blieb, sehr viel besser war. Das war ein sehr wichtiger Augenblick für mich [...]. Plötzlich klickte es. Ich begann mich von einem Theater des direkten Ereignisses angezogen zu fühlen, wo die Bewegung weder durch das Bild getragen wurde noch durch einen Kontext gefördert wurde [...]. Die Anziehungskraft wurde mir zum Beispiel ganz einfach durch einen Schauspieler geboten, der die Bühne überquerte« (vgl. ebd.; 91f.). Brooks Abkehr von der Vision eines die verschiedenen Genres zusammenführenden Gesamtkunstwerks rückt als Gegenbewegung den Darsteller ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Der Schauspieler als Erzähler steht fortan im Mittelpunkt von Brooks Theaterinteresse.41 Sein Weg vom Bilderbauer zum Ereignisforscher wird zu einer langjährigen Auseinandersetzung, die A. C. H. Smith zu Beginn der 1970erJahre auf einen Punkt bringt: »Brooks Dialektik zwischen dem Spiel auf dem Teppich und dem großen Schauspiel ist der Versuch, die beiden Pole des gegenwärtigen europäischen Experiments zu verbinden: Straßentheater auf der einen Seite und Mammutproduktionen [...] auf der anderen« (Smith  1974; 120). Geblieben ist sein ausgeprägtes Interesse an klassischen Stoffen, er bearbeitet und inszeniert immer wieder mythologisches Material sowie mit besonderer Vorliebe die Dramen Shakespeares. Wählt er andere Anknüpfungspunkte für die theatrale Auseinandersetzung, ist das Erzählen von menschlichen Konflikten und Schicksalen immer ein über die aktuelle Gegenwart hinausweisendes Unterfangen.42 41 | Brook begründet seine plötzliche Kehrtwende mit der anhaltenden Neugier auf die kommunikativen Grundkonstellationen, die das Erzählen von Geschichten mit sich bringt: »Über die Jahre hinweg rückten die menschlichen Inhalte eines Stückes für mich mehr und mehr in den Mittelpunkt, bis es absolut notwendig war, die Dinge außerhalb des Theaters zu erkunden. Es gab eine Zeit, wo ich dachte, ich kann mich in meiner Arbeit nicht weiterentwickeln, wenn ich nicht das in Frage stelle, was ich mein Leben lang hingenommen habe: Publikum, Bühne, Guckkasten – oder offene Bühne [...]. Auch heute leugne ich nicht die Bedeutung von Beleuchtung, Kostüm, Ton, Musik oder Technik – der Ausgangspunkt aber hat sich geändert. Früher war für mich der Ausgangspunkt ein Bild, ein Bild, das mit aufregenden Dingen gefüllt werden muss, so dass dieses Bild etwas trägt; jetzt ist es umgekehrt. Hier ist ein Mensch, andere Menschen sehen ihm zu. Können wir die ganze Geschichte, die wir erzählen wollen, erzählen und das Thema zum Leben erwecken, das wir zum Leben erwecken wollen, ohne mehr als das zu tun?« (Brook 2003; 88f.; Hervorhebung im Original). 42 | Durch seinen Versuch, mit »US« den Vietnamkrieg zu thematisieren, gelangt er rückblickend zu der Einsicht, dass Theater weder ein geeignetes Medium ist, politische Tagesaktualität direkt zu bearbeiten – das können andere Medien wie Presse etc. seiner Ansicht nach besser –, noch, die Zuschauer auf die gleiche Weise zu berühren und zur Reflexion auf eigene Erfahrungen zu verführen wie durch einen alten, der Alltagskultur entfernter scheinenden Stoff (vgl. Brook 1989; 86ff.).

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Schon bevor Peter Brook mit einer international zusammengesetzten Gruppe von Schauspielern zu arbeiten beginnt, stehen Experimente, die das tradierte literarische Theater infrage stellen und neue Wege der Konfrontation von Text und Theater beschreiten, im Zentrum seines Interesses. Der Versuch einer Verbindung von Shakespeare und Artaud, von Vers und rituellem Rhythmus, inspiriert Brooks Arbeit. Er schreibt: »In gewissem Sinne könnte man die ›Grausamkeit‹ Artauds als Versuch betrachten, mit anderen Mitteln die Vielfalt des shakespeareschen Ausdrucks wiederzuerlangen, und unser Experiment, das Artauds Werk mehr als Sprungbrett und weniger als Modell für eine tatsächliche Rekonstruktion nimmt, kann auch als Suche nach einer theatralischen Sprache, so flexibel und eindringlich wie die der Elisabethaner, gedeutet werden« (Brook 1989; 84). Die Faszination für Artauds Reformulierung der archaischen Impulse im Theater ist bei Brook – zumindest Jahre später – aber von einer hohen Ambivalenz begleitet. In einem Vortrag für Studierende wird er auf dessen Einfluss angesprochen und antwortet: »Ich habe zu Artauds Vorstellung vom Theater noch nie auch nur ein Fünkchen Vertrauen gehabt. [...] Das Interessante an diesem so komplexen Mann [...] war, dass er eine Vision vom Theater hatte, die total, total, total extrem war. Ich meine, seine Vision vom Theater war so extrem, wie eine Vision vom Theater nur sein kann. [...] Doch wenn man versucht, das, was er geschrieben hat, wörtlich zu nehmen und in die Praxis umzusetzen, stellt man schnell fest, dass er kein Praktiker war. [...] Ich halte Artaud auch heute noch für sehr interessant: als Stimulanz, nicht als Rezept« (Brook 2003; 35ff.). Was aber Eingang in Brooks Verfahrensweise findet, sind eine Koppelung gegensätzlicher Extreme, die Rückbesinnung auf die lautliche und klangliche Qualität von Sprache sowie der Drang, dem Geist Artauds insbesondere in Shakespeares Werken auf die Spur zu kommen. Die Erarbeitung einer Inszenierung folgt dieser Suche nach Lebendigkeit: »It occured to me today, that Brook’s rehearsals are performances. That is, they are less rehearsals towards a future performance – though they are necessarily too – than performances themselves. It is perhaps for this reason that he makes no conscious attempt to recapture and repeat earlier creative moments. As a result, the focus of creative discovery has Den Charakter der Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit umreißend schreibt Hartwin Gromes: »Betrieb Brook schon mit seiner Aufführung nach Oliver Sacks eine theatrale Hirnforschung und ließ er im Sturm auf der Folie des Renaissancedramas eine Ahnung von Schamanentum anstelle einer Kritik aktueller gesellschaftlicher Missstände aufscheinen, so sucht er mit allen neueren Theaterarbeiten den Weg für eine neue Sensibilität in der Erforschung der großen Stoffe und Erzählungen des Welttheaters« (Gromes 2006; 204). In der dramatischen Literatur fasziniert Brook der zeitunabhängige Gehalt immer wieder von Neuem. Sein Zugriff darauf ist gekennzeichnet von einer Entdeckungslust, die den Sinnspuren und sinnlichen Wurzeln der Texte auf den Grund gehen und diese zum Vorschein bringen will.

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shifted, from one rehearsal to another [...]« (Selbourne 1982; 77). Dabei bleiben die Experimente an den Ideen eines ›armen Theaters‹ orientiert. Es gilt, den Schauspieler hervorzuheben und seine besondere Fähigkeit, physisch, gedanklich und emotional präzise mit Illusionen zu arbeiten, sie ohne technische Hilfsmittel herzustellen, seine Spielweise nicht an das Bühnenbild und andere äußere Umstände anzupassen, sondern aus eigener Kraft die Grundlagen für ein gemeinsames Spielterrain zu erschaffen. Brook legt den Fokus konsequent auf das lebendige Ereignis in der Kommunikation zwischen Schauspieler und Publikum. Seine Absicht, ein nicht schichtspezifisches Theater für alle Bevölkerungsgruppen zu produzieren, bleibt an das Vorbild des elisabethanischen Theaters geknüpft und er bevorzugt die Inszenierung bedeutender dramatischer Stoffe, befreit sie jedoch von verkrusteten Darstellungsweisen und eröffnet das Spiel auf der Grundlage des leeren Raums, der Schauspieler und des Texts. In dieser von Brook betonten Differenz zwischen zeitgenössischem und gegenwärtigem Theater sind seine Spiele auf und mit dem ›leeren Raum‹ verortet. Die beiden viel zitierten, einleitenden Sätze zu seinem Buch »Der leere Raum« stehen als Leitmotiv für diese Experimente.43 In den Aufführungen in Kirchen, Ruinen, Schulklassen, Krankenhäusern, Autowerkstätten und unter freiem Himmel in den verschiedensten Ländern entwickelte sich ein häufig nur durch einen Teppich markiertes Spielfeld als wiederkehrendes Motiv seiner Inszenierungen. Mit dem Teppich ist, egal unter welchem Dach, ein Ort zum Spielen entworfen, ein Ort, wo Theater nichts anderes zu sein vorgibt als Theater (vgl. Brook 1983b). Die augenscheinlich leere Fläche vermindert die räumliche Trennung zwischen Schauspielern und Publikum. Sie schafft gleichzeitig Nähe und Distanz zwischen ihnen. Sie ist das »Konzentrat« einer Welt, die nicht ab- oder nachbildet, sondern sich auf den agierenden Menschen bezieht: »Der leere Raum ist ein anthropomorpher Raum. Ein Raum für Menschen, nach menschlichem Maß. Der Mensch ist darin frei, er kann sich entfalten, egal ob er Schauspieler oder Zuschauer ist« (Brook, zit.n. Banu 1988; 31). Die Leere des Raums ist eine von allen Anwesenden geteilte Leere, die der Kraft der Illusion beider Kommunikationspartner, des Darstellers und des Publikums, bedarf. »Die Illusion ist für Brook das Grundelement des Theaters, ja jeder Verständigung des Menschen überhaupt. Wo immer Sprache gebraucht und Bilder ausgetauscht werden, ›bedarf es der Kraft der Illusion‹« (Brauneck 1998; 479). Diese Illusion ist in ihrer Qualität unabhängig von der Bilderwelt, die eine Bühnenmaschinerie zaubern kann; sie verdankt ihr Potenzial der Imagination, die zwischen präziser gedanklicher Arbeit und sinnlichem Ausdruck im Austausch mit dem Zuschauer entstehen kann. 43 | »Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist« (Brook 1983b; 9).

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1.3.1 Rahmen: »Im Theater wird die Tafel immer wieder leer gewischt« 44 In eine gemeinsame Praxis einzusteigen bedeutet für den Regisseur wie für die Spieler, eine Reise ins Ungewisse anzutreten, die von Aufregung und Anspannung begleitet ist. Die Regie hat allerdings die Aufgabe, den Weg zu weisen und eine Richtung vorzugeben. »Am ersten Tag hält der Regisseur zuweilen eine formelle Ansprache«, schreibt Brook, »in der er die Grundideen in dem kommenden Stück erklärt. Oder er zeigt Modelle oder Kostümskizzen, Bücher oder Fotos, oder er macht Witze, oder er lässt die Schauspieler das Stück vorlesen. Trinken oder ein Spielchen veranstalten oder um das Theater marschieren oder einen Wall bauen dienen alle demselben Ziel. Niemand ist in der Lage, das Gesagte aufzunehmen – der Zweck aller Unternehmungen des ersten Tages ist der, sich bis zum zweiten Tag durchzuwursteln« (Brook 1983b; 154). Alles, was man an diesem ersten Tag unternimmt, beeinflusst jedoch den weiteren Prozess, »wenn man zusammen Spiele macht, dann hat das bestimmte Folgen, wie zum Beispiel größere Zuversicht, Freundlichkeit, Formlosigkeit« (vgl. ebd.). Entscheidend ist, dass mit dem Anfang die Verkrampfungen auf beiden Seiten gelockert und gelöst werden, damit in Folge gemeinsame Schwierigkeiten überwunden und eine tragfähige Basis für aufwühlende kollektive Erlebnisse geschaffen werden kann. Um den Schauspielern Entfaltungsmöglichkeiten zu geben, ist in den Proben darauf zu achten, nicht zu früh zu weit zu gehen: »Schauspieler, die sich zu früh emotional entblößen«, so die Beobachtung von Brook, »erweisen sich oft als unfähig, wirkliche Beziehungen zu ihren Mitspielern zu finden« (Brook 1994; 51). Ein behutsamer und vertraulicher Start ist seiner Ansicht nach der beste Einstieg für eine konzentrierte Arbeitsweise, in der die Balance aller Beteiligten gehalten werden kann und tragfähige Beziehungen der Figuren entstehen.45 Die sukzessive Entwicklung und Entdeckung des emotionalen und inhaltlichen Gehalts des Texts und einer angemessenen Darstellungsform wird über Wege und Irrwege ausgelotet, in denen Vorschläge des Schauspielers und der Regie probiert und verworfen werden. Diese szenischen Materialsammlungen dienen weniger dem stringenten Verfolgen einer bereits im Vorfeld ersonnenen Inszenierungsidee, sondern öffnen allmählich Zugänge zum Geheimnis 44 | Brook 1983b; 207. 45 | Zu berücksichtigen ist in vielen Fällen, dass die Gewohnheiten der Darsteller dafür hinderlich sind und man mit anderen Rahmungen die Situation in eine kreative verwandeln muss: »[...] Andererseits sind manche Schauspieler daran gewöhnt, am Anfang um einen Tisch gekauert zu hocken und im Schutz ihres Schals und Kaffeetassen anzufangen; in solchen Fällen muss vielmehr durch Bewegung und Improvisation die Kreativität des ganzen Körpers befreit werden. Es kann sehr nützlich sein, einen Text mit anderen Wörtern, anderen Bewegungen zu improvisieren, damit man frei genug ist, eine Beziehung zu erspüren« (Brook 1994; 51).

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hinter der Oberfläche einer Geschichte. Innerhalb dieser Phase des Probierens, Erforschens und Diskutierens von theatralen Zugangsweisen zum Stoff »hat der Regisseur die Aufgabe, sich zu merken, was ausprobiert wurde und zu welchem Zweck«, sodass aus der Menge an produziertem Rohmaterial »später die endgültige Form herausgezogen werden« kann (vgl. ebd.; 155). Die kritische Überprüfung der gesammelten Erfahrungen wird von der kontinuierlichen Reibung mit dem Ausgangsmaterial, dem dramatischen Text, unterstützt und führt davon weg, den Text nur für sich sprechen zu lassen oder aber ihm unnötige Ausschmückungen aufzuzwingen. Ein den Rahmen der Theaterpraxis von Brook charakterisierendes Kennzeichen ist das Verständnis von Inszenierung als unabgeschlossener Prozess. Sein langjähriger Autor und Dramaturg Jean-Claude Carrière benennt als wesentliche Eigenschaft von Brook: »Wenn ich neben den zahllosen Eigenschaften eine besonders hervorzuheben hätte, würde ich sagen, er ist der einzige Regisseur, den ich kennengelernt habe, der niemals gesagt hat: ›Es ist fertig.‹ Ich habe ihn am Nachmittag des letzten Tages der Vorstellung von Konferenz der Vögel eine Szene nochmal probieren sehen und ihn sagen hören: ›Es gibt keinen Grund, dass dem Zuschauer an diesem Abend eine mögliche Verbesserung vorenthalten werden sollte‹« (Carrière, zit.n. Ortolani 2005; 195). Das Potenzial der permanenten Veränderung und Weiterentwicklung bezieht Brook insbesondere aus dem Kontakt mit den Zuschauern, durch deren Reaktionen erst ein ›wahrer‹ Theatermoment entsteht. Brook nimmt seine Haltung zu einer sich immer weiterentwickelnden Praxis sowohl dem Prozess wie auch dem Produkt gegenüber ein. Brooks Sichtweise auf Vorbereitung und Durchführung einer Arbeit ist von einem theaterphilosophisch und anthropologisch motivierten Interesse am Theater als Forschungslabor begründet, das pragmatisches Handeln und experimentelle Suche eng aneinander anlehnt. So wendet Brook sich gegen eine Vorstellung, die Proben und Aufführen in zwei Etappen unterteilt, wobei die erste die Konstruktion eines Produkts, das einem Objekt gleichkommt, und die zweite die Exposition desselben ist. Seine produktionsästhetische Sicht versteht den Prozess vielmehr als zweiphasig, unterteilt in Vorbereitung und Realisierung: »Das ist etwas ganz anderes. Wenn man auf diese Weise denkt, ändern sich viele Dinge. Die Vorbereitung kann fünf Minuten dauern, wie bei einer Improvisation, oder zwei Jahre, wie bei der erstaunlichen Arbeit bestimmter Theater. Ganz gleich. Die Vorbereitung ist das bewusste und strenge Studium der Hindernisse und der Art und Weise, wie sie anzugreifen oder zu überwinden sind« (Brook 1983a; 93). Dieses Verständnis schließt die Lebendigkeit des Moments der Präsentation mit ein, verdeutlicht den kommunikativen Akt der Aufführung und das Einwirken des anwesenden Publikums auf das Ereignis. In dieser Haltung Brooks wird der Wunsch prominent, Theater in erster Linie als offene Forschung zu

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betreiben, bei der sich immer wieder die Türen öffnen und das Publikum am Arbeitsprozess teilhaben kann.46 Eine günstige Voraussetzung für das konsequente Experimentieren mit dem Ereignischarakter des Theaters war mit Beginn des von Peter Brook ins Leben gerufenen Centre International de Recherches Théâtrales (CIRT) gegeben.47 In dem international besetzten Ensemble gab es anfangs weder eine gemeinsame Sprache noch eine gemeinsame Theaterkultur:48 Ein Afrikaner, der Französisch sprach, jedoch kein Englisch, ein Engländer ohne Französischkenntnisse, ein Japaner, der nur ein paar Brocken Englisch konnte, ein Franzose ohne Englisch, ein Amerikaner ohne Französisch etc. Nun wäre es ein Einfaches gewesen, sich einer der gängigen Fremdsprachen zu bedienen und darauf zu vertrauen, dass im Laufe der Zeit alle Mitglieder des CIRT diese ausreichend beherrschen würden, um problemlos miteinander zu kommunizieren und auf dieser Basis eine gemeinsame Inszenierungssprache zu etablieren. Zwei Gründe standen dem entgegen: Einer Sprache den Vorzug zu geben, hätte zur Folge gehabt, dass ein Ungleichgewicht in der Gruppe bezüglich der sprachlichen Kompetenz die Bedingungen und Verpflichtungen, denen sich eine internationale Theaterrecherche stellen sollte, vereitelt hätte.49 Um diesem Ausschlussverfahren zu entgehen und für alle eine gleichbe46 | An dieser Publikumsorientierung Brooks wird die Differenz zu Grotowski deutlich, dessen Forschung Brook mit Interesse verfolgt und mit dem er in dem Projekt »US« zusammengearbeitet hat. Die Einkapselung Grotowskis in einen Kokon, um die menschlichen Tiefen durch das Theater zu erkunden, und eine vehemente Kontaktaufnahme nach außen, zum Publikum, bei Brook, kennzeichnen diesen Unterschied (vgl. Brook 1989; 58ff.). 47 | Zur Motivation für das CIRT berichtet Brook: »Als wir anfingen, mit Schauspielern aus vielen verschiedenen Teilen der Welt zu arbeiten, war das Ziel keineswegs, multikulturell zu sein. Das ist nur ein Schlagwort; das ist nur eine Art zu reden. [...] Darum geht es nicht. Wieder ist das, worum es geht, viel einfacher: dass jeder Mensch unvollständig ist. Jeder Mensch braucht also verzweifelt etwas von einem anderen menschlichen Wesen. Und was er von einem anderen Menschen braucht, ist nicht nur das tiefe Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Menschen zusammenführt, sondern auch das Gefühl, dass das, was ich selbst mitbringe, durch das, was der andere hat, weiterentwickelt und vervollständigt werden kann. Das ist das Wichtigste am Zusammensein« (Brook 2003; 133). 48 | Dies galt sowohl für die verbale Sprache als auch für die Körpersprache, da alle Beteiligten ihre Ausbildung vor dem Hintergrund eines anderen kulturellen Kontexts absolviert hatten und die ästhetischen Konventionen ihrer Herkunftsländer mit in die Arbeit einbrachten. 49 | Brook begründet dies in einem Interview: »Bei einer internationalen Gruppe kann nicht das Problem des Wortes stehen. Wenn aus verschiedenen Teilen der Welt zusammentreffende Personen sich vereinen, dann muss man eine Art der Beziehung finden. Man kann nicht eigentlich im verbalen Bereich arbeiten, ohne einer Sprache vor einer anderen den Vorzug zu geben, und wenn man vornehmlich

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rechtigte Ausgangssituation zu schaffen, wurde anfangs in unterschiedlichen Sprachen gearbeitet, mal verwendete jedes Mitglied die eigene, mal lernten sie voneinander (Schimpf-)Wörter, mit denen dann gemeinsam improvisiert wurde.50 Der zweite Grund, einer einheitlichen Sprache kritisch gegenüberzustehen, lag in der Motivation des CIRT begründet: »Wir nahmen uns vor allem vor, das Nichtverbale als absolute Notwendigkeit für ein Theater zu erkunden, das davon abhängig und gezwungen war, dem Wort eine übermäßige Bedeutung beizumessen, als gäbe es nicht nur andere Formen des Ausdrucks und der Kommunikation, sondern auch der Realität« (Brook 1983a; 81). Damit war zugleich der Beginn der Untersuchungen des internationalen Theaterlabors vorgezeichnet, die die Ausweitung der physischen und klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten des Schauspielers, jenseits konventioneller Spielästhetiken, eruieren sollten. Nach einer anfänglichen, von der Außenwelt völlig abgeschirmten Probenzeit findet regelmäßig eine erste Kontaktaufnahme mit Zuschauern statt, um die bis dahin gefundenen Arbeitsergebnisse zu überprüfen. Diese Öffnung bringt zutage, ob die Grundstruktur der Handlung einem interessanten Spannungsverlauf folgt, und fungiert gleichzeitig als Erfahrungsfundus auf der Suche nach der richtigen Art und Weise der Kontaktaufnahme zum Publikum. Die wesentliche Aufgabe in diesen ersten Veröffentlichungen besteht darin, die Geschichte zu erzählen und ihrem Bogen zu folgen. Häufig werden alle bis zu diesem Zeitpunkt gefundenen Requisiten und Kostümteile nicht verwendet und die Schauspieler können nur auf das zurückgreifen, was sie in den jeweiligen Örtlichkeiten, zum Beispiel einem Klassenzimmer, vorfinden. Die bereits ausformulierte ästhetische Gestalt vorübergehend aufzugeben wirft die Akteure darauf zurück, mit den einfachsten Mitteln eine lebendige Kommunikation zwischen sich und dem Publikum zu schaffen und flexibel auf dieses zu reagieren.51 Die gesammelten Eindrücke werden in der nachfolgenden eine Sprache verwendet, dann bemerkt man, dass einige Personen sich in einer fremden Sprache nicht öffnen können« (Brook 1983a; 82). 50 | Yoshi Oida berichtet von solch einer Improvisation zu Beginn der gemeinsamen Arbeit: »Das nächste Experiment galt der Frage, wie wir miteinander kommunizieren könnten, wenn keiner die Sprache des anderen verstand. Wir begannen, uns alle möglichen Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Von mir kamen ›aho‹ (verrückt), ›baka‹ (blöd) und ›ontanko-nasu‹ (Eierkopf), die anderen warteten mit ›cunt‹, ›mother-fucker‹, ›cock-sucker‹ beziehungsweise mit ›putain‹, ›con‹ und dergleichen auf (wie man sieht, sind die japanischen Ausdrücke vergleichsweise harmlos). Wir experimentierten mit diesen Ausdrücken nur lautlich, ungeachtet der Wortbedeutungen« (Oida 1993; 65). 51 | Ist dieser reale Kontakt (noch) nicht möglich, kann er in den Proben selbst simuliert werden und ein Teil der Schauspieler die Rolle des Zuschauers übernehmen; eine Vorbereitung auf schwierige Aufführungsbedingungen ist darüber hinaus möglich. Im Vorfeld zu »US«, einer Produktion über den Vietnamkrieg, wur-

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Probenphase berücksichtigt, sie helfen dem Ensemble, eine funktionierende Erzählweise zu finden. Der fließende Wechsel von Proben- und Aufführungssituationen ist charakteristisch für die zweite Arbeitsphase, in der vor der Premiere unterschiedliche Publikumsgruppen eingeladen werden und das theatrale Ereignis in der realen Aufführungssituation einen Feinschliff erhält.

1.3.2 Kontexte: »Das Theater ist kein Klassenzimmer« 52 »Das Theater ist kein Klassenzimmer, und ein Regisseur mit einem pädagogischen Verständnis Brechts kann dessen Stücken ebenso wenig Leben einhauchen wie ein Pendant den Stücken Shakespeares. Die Qualität der Probenarbeit ergibt sich vollständig aus der schöpferischen Atmosphäre des Arbeitsklimas – und das Schöpferische kann nicht durch Erklärungen heraufbeschworen werden« (Brook 1983b; 111). Zeichnet die Nähe zum Leben eine kontinuierliche Größe in der Probe aus, die von Worten und Stille, Parodie und Gelächter, Verzweiflung, Offenheit, Klarheit und Chaos gekennzeichnet ist (vgl. ebd.), entscheidet sich die Qualität doch erst an der Individualität, die ein unnachahmbarer Faktor bleibt. Wie innerhalb des Theaterrahmens gehandelt wird, ist ausschlaggebend für den Prozess und bringt eine eigene Vermittlungshandschrift hervor. Das Handeln orientiert sich allerdings an Vorstellungen und Absichten, die damit erzielt werden sollen, und entscheidend sind auch bei Brook eine kritische Reflexion und Rechtfertigung der Suche: Für ihn gibt es ein anthropologisches Grundbedürfnis nach Theater, das »Nahrung« (vgl. Brook 1983a; 75) ist. Besonders für den Menschen im 20. Jahrhundert, dessen Fantasie und dessen Erfahrungswelt in den Augen Brooks in der hoch industrialisierten westlichen Zivilisation verkümmern, will er mithilfe des Theaters Dialogfähigkeiten schulen, Vereinzelungen aufbrechen, Leben intensivieren und dem Menschen zu einer größeren sinnlichen Ausdruckskraft verhelfen.53 Dabei bedient sich Brook eines dialektide zum Beispiel versucht, die Reaktionen verschiedener Zuschauergruppen zu simulieren: »He [Brook; ms] used four actors, with the rest sitting round in a group watching. He asked those watching to give their immediate, spontaneous reactions to what they saw, first as if they were watching Americans carrying out the torture, and then as if they were inhabitants of a bombed village, watching airmen being tortured« (Brook, zit.n. Mitter 1992; 74f.). 52 | Brook 1983b; 111. 53 | Auf die Frage nach den Konsequenzen des Theaters für den alltäglichen Umgang miteinander antwortet Brook: »Wenn der Mensch im 20. Jahrhundert emotional unterentwickelt, charakterlich farblos, im Umriss verschwommen und in den Äußerungen undramatisch ist, dann deshalb, weil er von Kindheit an einem Prozess unterworfen war, der ihn im sozialen und geistigen Zusammenhang so werden ließ. Das Produkt einer nichtrepressiven Umgebung und natürlichen geistigen Intensität ist ein Mensch, der sich selbst sinnlicher ausdrücken muss, weil er Sinnlichkeit auszudrücken hat. Wenn du mich nach einer neuen Sprache für

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schen Prinzips, das die Wirklichkeit durch Gegensätze und Widersprüche aufsucht, die Verbindung von Konkretem und Abstraktem als doppelte Grundlage der Illusion nutzt. Schon 1960 fragt er nach der unserer Zeit gemäßen Auffassung der Ambivalenzen des Alltags und ihrer Relevanz für das Theater: »Do we know where we stand in relation to the real and the unreal, the face of life and its hidden streams, the abstract and the concrete, the story and the ritual? What are ›facts‹ today? Are they concrete, like prices and hours of work – or abstract like violence and loneliness? And are we sure that in relation to twentieth-century living, the great abstractions – speed, strain, space, frenzy, energy, brutality – aren’t more concrete, more immediately likely to affect our lives than the so-called concrete issue? Mustn’t we relate this to actor and the ritual of acting to find the pattern of the theatre we need?« (Brook, zit.n. Selbourne 1982; xvii). Brook versucht, in einer säkularisierten Wirklichkeit primäre Erfahrungen zurückzuerobern, der Sinnsuche des Menschen die archaischen, zeitunabhängigen Motive und Schicksale menschlichen Zusammenlebens in Erinnerung zu rufen. Er  will der Invasion technisch produzierter Reizquellen eine konzentrierte, sinnliche Schlichtheit entgegenhalten.54 In vielen Fällen geht eine breite Recherche mit dem Probenprozess einher. Geeignete Instrumente sind allerdings weniger die intellektuelle Analyse und gemeinsame Diskussion des Stoffs, sondern Beobachtungen und Eindrücke aus Alltag und Kultur, die mit dem Themenkomplex korrespondieren. Zur Vorbereitung auf die Inszenierung der Mahabharata gehörten beispielsweise nicht nur eine Reise nach Indien und die Begegnung mit einer indischen Theatergruppe, die eine Mahabharata-Version einen neuen Menschen fragst – ich glaube, dass heute alle Bewegung, ob politisch, religiös, metaphysisch oder wissenschaftlich, die sich gegen die allgemeine Tendenz richtet, einen höheren Grad von Erfahrung und Leben ermöglichen will und durch ein vielfältiges Verstehen in allen Bereichen dazu beitragen will, den Menschen sinnlicher zu machen, ihm zu größerem sinnlichen Ausdruck zu verhelfen« (Brook, zit.n. Smith 1974; 157). 54 | Ideales Material für eine theatrale Auseinandersetzung mit diesen Fragen stellen für Brook die Dramen Shakespeares dar. Hier lassen sich stets Elemente des Alltags mit theatereigenen Mitteln kombinieren. »Elemente, von denen man sagen kann, sie seien abstrakt, in dem Sinne abstrakt, dass sie auf die Welt hinweisen, die nicht jene Welt ist, welche man alle Tage sieht, die aber gleichwohl zu dieser Welt gehören« (Brook 1997; 61). In dem Prozess der Verdichtung von Alltagskommunikation und deren Verflechtung mit theatralen Ausdrucksmitteln stehen bei ihm die gemeinschaftliche Erfahrung und Bedeutungsproduktion sowohl der Schauspieler als auch der Zuschauer an zentraler Stelle. Für das Publikum muss über die schauspielerische Darstellung und Erzählung ein nachhaltiges Erlebnis geschaffen werden, das einen kommunikativen Austausch erzeugt und dialogische Erfahrungen anstiftet. Für eine gelingende Kommunikation ist das Publikum daher mitverantwortlich und unterscheidet sich von den Darstellern nur im Grad seiner Aktivität.

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erarbeitet hatte, sondern ebenso »Photographien, Zeugnisse der Malerei, Filme und Gespräche mit einigen indischen Gurus« (vgl. Oida 1993; 238). »Brook bot uns also viel Stoff zum Nachdenken«, resümiert der Schauspieler Yoshi Oida, »legte uns aber mit keinem Wort nahe, eine bestimmte Auswahl zu treffen. Nie gab es einen Hinweis von ihm, was wir aus der Fülle des Materials übernehmen sollten. Er sagte auch nie, wie er das Material beurteile. Jeder – ob Schauspieler, Musiker oder Bühnenbildner  – sollte sich selbst ein Urteil bilden und selbst entscheiden, was er für wichtig erachtet« (ebd.; 238f.). Miriam Goldschmidt berichtet von einer ganz pragmatischen Annäherung durch die nachvollziehende Recherche realer Alltagstechniken der Ik55: »[...] wir (fingen) an zu töpfern und das Grundprinzip des Hüttenbaus zu studieren. Wir lernten, wie man einzelne Stäbe mit Hanf verbindet und sie mit einem Stab gemeinsam hochhebt, und wir konnten dies immer schneller bewerkstelligen – die anfängliche halbe Stunde reduzierte sich auf fünf Minuten. Wir näherten uns also den Ik durch ganz reale Arbeit« (Goldschmidt 2005; 219f.). Eine sehr spurenreiche und ungerichtete Recherche fand hingegen bei einem der wenigen Projekte ohne einen Basistext statt. Die Vorgänge rund um den Kontext des Vietnamkriegs bildeten den inhaltlichen Ausgangspunkt zu »US«, was eine ausführliche Spurensuche nach sich zog: »Mehrere Monate wurden von Brook und seinen Mitarbeitern nicht nur Dokumente über den Vietnam-Krieg zusammengetragen, sondern auch Zeugnisse der PopKultur, Geschichtswerke und Comics, Monografien über Happenings, Fernsehdokumente und Reportagen. Die Ansprache des amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson gehörte ebenso zur Materialsammlung wie Maos Rotes Buch, Rock ‚n’ Roll und die Bhagavad Gita« (Gromes 2006; 191). Die breite, offene Sammlung von kontextualisierenden Materialien findet ein Äquivalent in den Spielen der Probe. »Wir versuchten es mit Kämpfen, Gesängen, Improvisationen, erzählten Geschichten oder brachten Elemente aus den äußerst verschiedenen Traditionen der einzelnen Schauspieler ein« (Brook 1999; 292). Einer der Darsteller verdeutlicht einen seiner Ansicht nach entscheidenden Moment in der Auseinandersetzung zu »US«: »US war vor allem eine Suche. [...] Wir begannen alles zu lesen, was wir über Vietnam in die Finger bekommen konnten. Die bei Weitem nützlichsten Dokumente waren die Anhörungsprotokolle des Fulbright-Komitees zu Vietnam und China. Einer der Hauptzeugen, Dr. Fairbank, sagte darin einen eindrucksvollen Satz: ›Die großen Nationen beider Seiten verfolgen ihre Träume, die sich einander ausschließen.‹ Wir begannen den Krieg als eine Kollision von Träumen zu sehen« (Hunt, zit.n. Ortolani 2005; 123). Deutlich wird, wie sich hier durch die Recherche allmählich ein zentraler Kerngedanke herausschält, der Leitmotiv für

55 | Die Ik sind ein afrikanisches Bergvolk.

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eine Inszenierung werden kann, in der die »eigene Einstellung auf den Prüfstand« kommt (vgl. ebd.; 124).56 Kernelement in der Arbeit Brooks ist eine kontinuierliche körperliche Vorbereitung. Das gemeinsame Training in der Gruppe dient dem Kennenlernen der Reaktions- und Verhaltensweisen der Partner und der Suche nach erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten. Die Arbeit an Rhythmus, Balance, Timing und Konzentration soll die Virtuosität der Gruppe bis zu einem Punkt steigern, an dem die Übungen zu Rechercheinstrumenten für die Exploration des körperlich-mentalen Daseins werden. Hinzugezogen werden immer wieder Spezialisten unterschiedlicher Körpertechniken, die die Gruppe in Yoga, Tai-Chi, Akrobatik etc. unterrichten. Neben dem exakten Ausführen der vorgegebenen Bewegungsabläufe mit Respekt vor den in diesen kulturellen Techniken implementierten philosophischreligiösen Haltungen soll der Unterricht darstellerische Fertigkeiten ausbilden, die dem Bewegungsideal Brooks entsprechen: Gefühl und gedankliche Präzision sind in den Bewegungen erkennbar und eng miteinander verbunden (vgl. Brook 1994; 31). Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der erforderlichen Sensibilität, die eine Geschmeidigkeit und Bewusstheit des Körpers erzeugt, eigene körperliche Angewohnheiten und Verspannungen löst und Körper und Geist des Schauspielers, vergleichbar dem Instrument in der Musik, stimmt. Neben den regelmäßig durchgeführten vorbereitenden Übungen gibt es im gesamten Probenverlauf Aufgaben, die der praktischen Arbeit am Stück zuträglich sind. Ist ein entspannter und spielerischer Einstieg geschafft, müssen Herausforderungen und echte Schwierigkeiten folgen, um der Erfahrung der Akteure eine Richtung zu geben und Situationen zu schaffen, welche fremde Erfahrungen ermöglichen. Verschiedene, komplementäre Übungen hintereinander verhindern, dass sich zu früh eine 56 | Wie bei »US« ist auch im Entstehungsprozess von »L’homme qui« ein Autor für das Erstellen einer Spielfassung kontinuierlicher Begleiter. Ausgehend von den Fallstudien des Neurologen Oliver Sacks, nimmt das Ensemble Kontakt mit Kliniken auf und sucht den Kontakt zu Betroffenen. Der Dramatiker Jean-Claude Carrière beschreibt die Vorgehensweise seiner Arbeit folgendermaßen: »In L’homme qui gibt es keinen einzigen geschriebenen, keinen einzigen erfundenen Satz. Jedes gesprochene Wort ist wahr und nicht die Arbeit eines Schriftstellers. Die Arbeit bestand darin, das, was wir gehört hatten, zu notieren und zusammenzufügen. Diese außergewöhnliche Szene mit dem unverständlichen Text im Jargon kam nach Maurice Bénichous Bearbeitung einer Kassette mit Kranken zustande. Wie wollen Sie so etwas schreiben? [...] Die Aufführung enthält nur sehr wenig aus dem Buch. Der Ausgangspunkt war das Buch von Oliver Sacks, der übrigens mit uns gearbeitet hat. Aber sehr schnell haben wir festgestellt, dass wir, abgesehen von ein oder zwei Beispielen aus dem Buch, sehr viel weiter gehen mussten. Und deshalb haben wir zwei Jahre lang die neurologischen Abteilungen in Krankenhäusern besucht, in Frankreich, aber auch in New York und sogar in Indien [...]« (Carrière, zit.n. Ortolani 2005; 192f.).

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vorgefasste Meinung über das Stück durchsetzt. Sie helfen, die Schwierigkeit zu überwinden, eine lebendige Form zu finden, die gleichzeitig eine Realität ausdrückt. Dies erfordert einen Prozess, der die Suche nach ›Wahrheit‹ ermöglicht, indem der Darsteller eine Handlung findet und über sie improvisiert (vgl. Brook 1983a; 124f.). Hilfreich dabei ist die kritische Haltung des Regisseurs und der Kollegen, die zur Seite stehen, um die vielfältigen Möglichkeiten des Handelns zu entdecken: das Vorspielen von Szenen durch andere Akteure, um den Fokus des eigentlichen Darstellers vom Allgemeinen auf das sinnvolle, detaillierte Handeln zu lenken, neue Eindrücke von der Figur zu bekommen und über den Rollentausch das Verständnis für sie auf beiden Seiten zu verstärken (vgl. Brook 1994; 159f.). Regie und Mitspieler fungieren zudem als ein Filter, der überflüssiges Spiel zum Vorschein bringt und die Suche nach einfachen, aussagekräftigen Ausdrucksformen unterstützt. »Wenn man überflüssige Formen wegkriegen will, muss man freilich das Gemisch sehr oft durch den Filter laufen lassen. Mit der großen Einfachheit kann man nicht anfangen. Man kann nicht hergehen und sagen, jetzt wollen wir die reinen Gesten, die alles direkt und ohne Fesseln ausdrücken« (Brook 1983a; 98). In der intensiven Reibung an Themen und Handlungen packender dramatischer Texte kann aber auf diese Einfachheit hingearbeitet und der Verschwommenheit, Ungenauigkeit und mangelnden Konzentration vieler Produktionsstile entkommen werden. Unabhängig von der stofflichen Vorgabe wird in Brooks Proben eine Suche in Gang gesetzt, die Texte und Themen in Kontexten verankert, die den Spieler in Kontakt zu den Wirklichkeiten bringt, die real und greifbar für seine Relation zum Stoff sind. Dies kann die Beziehungsdimension zwischen zwei Figuren eines Stücks sein oder aber der in der Recherche entdeckte eigene Bezug zu einem Bild, einer aktuellen Fragestellung oder einer neuen Erfahrung. »Realismus im Theater ist immer Realismus der Beziehungen«, so Brook, die einem Text beigestellt werden müssen (Brook 1983a; 86). Der Beziehungsaspekt erwächst nicht aus der Szene allein, denn diese schafft noch keinen Kontext und darf nicht mit dem Realismus von Beziehungen verwechselt werden: »Es ist ein großer Fehler zu glauben, dass der Realismus an einen Realismus der Imitation gebunden ist, dass der Ausdruck eines sozialen Zusammenhangs einen scheinbaren Realismus der Szene fordert! Auch hier wieder leitet uns Shakespeare mit seinem Realismus, der ein Realismus der Beziehungen ist. Es ist unwichtig, ob er vor neutralen, unsichtbaren Bühnenbildern oder vor gewaltigen Konstruktionen gespielt wird, die an die äußere Welt erinnern. Wenn der Ausdruck der Relation richtig ist« (ebd.). Die richtige Beziehungsrelation innerhalb einer dramatischen Situation braucht, so die Behauptung Brooks, eine Kontextualisierung, die in der Probenarbeit gefunden werden muss, ganz gleich, welches Ausgangsmaterial zurate gezogen wird. Diese Beziehungsarbeit macht den wesentlichen Teil der theatralen Erkundungen aus und muss abseits von Klischees und stereotypen Mechanismen realitätsnaher Abbildung verlaufen.

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1.3.3 Konstruktion: »Die Rettungsleine ist das Hier und Jetzt« 57 Die prinzipielle Gleichheit von Darsteller und Zuschauer verändert sich vorübergehend durch die besondere Aktivität des Spielers: »Der Schauspieler ist so lange Teil der Menge, bis er hervortritt und etwas tut. Damit wird er zum Schauspieler« (Oida 1993; 139). Durch die Anwesenheit eines Beobachters verwandeln sich die Bedingungen des Spiels schlagartig, ab diesem Moment ist der Schauspieler zu einer »klaren Absicht« und »intensiver Lebendigkeit« verpflichtet (vgl. Brook 1994; 26). Eine vergleichbare Situation schafft die Anwesenheit des Regisseurs während der Proben. Die Transparenz des Wechselverhältnisses kann verdeutlicht werden, indem in der Probe der Rahmen theatraler Kommunikationsverhältnisse ausgewiesen ist. So fungiert bei Brook der Teppich als Spielfeld bereits zur bewussten Unterscheidung der Ebenen in der Probe: »Bei unserer Arbeit benutzen wir oft einen Teppich als Probenbereich, mit folgender Absicht: Außerhalb des Teppichs befindet sich der Schauspieler im Alltagsleben, er kann tun, was er will – seine Energie verschwenden, Bewegungen machen, die nichts Besonderes ausdrücken, sich am Kopf kratzen, einschlafen … Aber sobald er den Teppich betritt, ist er zu einer klaren Absicht verpflichtet, zu intensiver Lebendigkeit, einfach weil er Zuschauer hat« (ebd.). Aus einer solchen Haltung heraus können konkrete Anforderungen an den Darsteller abgeleitet werden, die stabile Konstanten in der theatralen Konstruktion bilden. Bei jedem Spielversuch muss der Schauspieler drei Verbindungen gleichzeitig beachten und »in vollkommener Harmonie herstellen: zu seinem Innenleben, zu seinen Mitspielern und zu den Zuschauern« (Brook 1994; 49). »Zunächst«, erläutert Brook, gilt es, »in eine stille Beziehung zu seinem tiefsten Inneren zu treten, dort, wo Sinn entsteht« (ebd.). Dieser Sinn findet seine Wurzel in dem Wert des Texts, dessen Geschichte erneut hervorgebracht mit dem Zuschauer gemeinsam erfahren werden soll. Die zweite Herausforderung betrifft den Mitspieler, denn der Schauspieler darf, während er »in den verborgenen Winkeln seiner Psyche die Reaktion auf den Mythos beobachtet«, den »engen Kontakt zu den anderen Schauspielern nicht verlieren« (ebd.). Die Nachforschungen im eigenen Innenleben müssen ehrliche Reaktionen auf die Spielpartner einschließen und wirkliches Zuhören und Hinschauen gewährleisten. Erst darüber kann eine gemeinsame Welt erschaffen werden.58 Hinzu kommt die Aufgabe, den Zuschauer direkt in die Kommunikation einzubeziehen, sodass ein Gespür entwickelt werden kann, ob dieser der Geschichte folgt. Dazu müssen die Darsteller »gleichzeitig Figuren und 57 | Vgl. Brook 2003; 73. 58 | Falls der Schauspieler »nur den disziplinierten Mitspieler abgibt, teilabgeschaltet, wenn er gerade nicht an der Reihe ist, kann er seine wichtigste Aufgabe nicht erfüllen, nämlich ein Gleichgewicht herzustellen zwischen seinem äußeren Verhalten und seinen intimsten Impulsen« (ebd.; 50).

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Geschichtenerzähler sein. Vielfache Geschichtenerzähler, mit vielen Köpfen, denn während sie eine enge Beziehung miteinander erspielen, sprechen sie auch unmittelbar zu den Zuschauern« (ebd.; 52). Innerhalb dieser triadischen Konstellation verschiedener Aufmerksamkeitsebenen soll der einzelne Darsteller sich keine Konstruktion zurechtlegen, sondern erfahrungsoffen, also naiv und kompetent zugleich, handeln. Er muss sich auf sein Inneres und den Partner einlassen, mit ihm eine Aufrichtigkeit erzeugen, die »das Unerwartete akzeptiert, eine lebendigere, also realere Beziehung zueinander, die allerdings viel Mut erfordert«, anstreben (vgl. Brook 1983a; 133). Abseits von Gewohnheiten und Klischees muss er sich gleichzeitig auf die eigenen Aufgaben und Absichten konzentrieren. Die durch den Schauspieler verkörperte Figur entdeckt sich erst reagierend auf den Anderen/Fremden, ohne dabei die Verbindung zum eigenen Ich zu negieren.59 Ist sich der Akteur seiner Aktionen bewusst und hält er sie in der Schwebe zwischen Realität und Illusion, kommt es zu den überraschenden Kippmomenten zwischen Darsteller und Figur. Begleitend braucht der Darsteller in diesem Prozess Stimulationen und Provokationen, für die der Regisseur mitverantwortlich ist. Gute Rollen leisten in der Auseinandersetzung einen wesentlichen Dienst, denn »die Rolle führt mich über mich selbst hinaus« (Brook 2003; 67). Indem der fremde Anteil einer Rolle als außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens liegend anerkannt wird, ist der Erarbeitungsprozess der Pendelbewegung eine Herausforderung. Die Richtung der Suche wird von Brook klar vorgezeichnet: »Es gibt eine Sache, die, wie ich glaube, jedem Schauspieler in jeder Rolle, die er spielt, helfen kann: Er muss – durch einen grundlegenden Glaubensakt – davon überzeugt sein, dass die Rolle größer ist als er selbst – was immer die Rolle ist« (ebd.). Der Gedanke Brooks impliziert, dass der Schauspieler und der Regisseur sich der Rolle nicht überlegen fühlen dürfen, keine Aneignung im Sinne von Vorstellungen über die Rolle vorgenommen werden darf, da solche Zugriffe den wesentlichen Gehalt einer Rolle schmälern, wenn man auf sie 59 | Yoshi Oida vergleicht die Schauspielkunst mit der buddhistischen Philosophie und der Vorstellung von Leere als materieller Form der Welt. Für den Darsteller folgt daraus: »In gleicher Weise sollte auch der Schauspieler handeln. Er hat ein guter Schauspieler im Leben zu sein, als Mensch, nicht als jemand, der im Theater tätig ist. Macht man sein Leben lang Dummheiten, was natürlich vorkommen kann, so ist auch das in gewissem Sinne Handeln. Wichtig ist dennoch, sich für das richtige Handeln zu entscheiden, bewusst zu handeln. Ein guter Schauspieler muss auf die Freude an seiner Aktion durchaus nicht verzichten, muss aber lernen, die eigene Aktion zu beobachten und herauszufinden, welcher der nächste Schritt sein soll. Vielleicht muss man in dem Bewusstsein handeln, dass die Welt nur Illusion ist. Der Ansicht zu sein, dass man deshalb überhaupt nichts zu tun brauchte, ist kein Handeln. Handeln muss man in dem Wissen, dass auch das eigene Tun Illusion ist – wie Prospero im Sturm sagt« (vgl. Oida 1993; 244).

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herabsieht. Brook konkretisiert am zweifelhaften Realitätsgehalt einer Rolle seine Vorstellung: »Wenn Sie der Rolle des Lear mit psychologischem Realismus zu Leibe rücken, machen Sie das Gegenteil von dem, was ich vorhin sagte; Sie können ihn auf die Ebene eines streitsüchtigen alten Mannes herunterziehen. [...] Sie können die Probleme herausarbeiten, die er mit seinen Töchtern hat, die Probleme, die seine Töchter mit ihm haben, das Problem zwischen Ihrem Vater und Ihnen oder zwischen Ihnen und Ihren Kindern. Wenn Sie das tun, fühlen Sie sich dem Stück überlegen. Der Regisseur zieht genau wie der Schauspieler das Stück auf das Niveau eines ganz gewöhnlichen Fernsehdramas, weil er das Stück nicht für größer hält als seine eigene Vorstellungskraft. Er zieht es auf das Niveau seiner Vorstellungskraft; seine Vorstellungskraft ist vollgestopft mit allen denkbaren Klischees über Freud und die Psychoanalyse und so weiter, und er bringt dieses Gepäck mit, von dem neunundneunzig Prozent Unsinn sind, und bezieht es auf etwas, was viel größer ist als das« (ebd.; 74f.). Eine Rolle nicht verstehen zu wollen, führt gleichfalls nicht weiter, denn sie zeigt sich nicht durch blinden Aktionismus ganz von selbst. »Dazwischen liegt die Tatsache«, so Brook, »dass Sie die Figur als wirkliches menschliches Wesen begreifen lernen müssen und dass dieser Mensch Motive hat, eine Einzigartigkeit, die weit über das Gewöhnliche hinausgeht; die Figur muss verstanden werden, doch das alltägliche psychologische Verständnis reicht nicht aus. Sobald Ihnen das klar ist, sind Sie gezwungen, weiterzugehen« (ebd.; 75f.). Brook siedelt das Verständnis einer Rolle als Zwischenraum an, in dem die eigene Vorstellungskraft über sich hinauswächst und die Einzigartigkeiten menschlicher Motive inauguriert werden. In der ersten Probenphase wird die Figur in der Regel nach bewährten Prinzipien aufgebaut, Methoden Stanislawskis und Brechts werden genutzt und erweitert. Dabei fabriziert man »plausible Fälschungen«, die laut Brook nur dann hilfreich sind, wenn mit ihnen kreativ verfahren wird, zum Beispiel in dem man eine hohe Zahl solcher vorläufigen Fälschungen herstellt (vgl. Brook 1994; 18). Gewöhnliche Prozesse des Figurenaufbaus sind für Brook eine legitime Vorbereitung der Suche; entscheidend ist aber die Bereitschaft, die Figuren wieder aufzugeben und darüber hinauszugehen. »Der richtige Aufbauprozess beinhaltet eine Art Demontage. [...] Jede Demontage schafft einen gefährlichen Raum, in dem es weniger Krücken, weniger Stützen gibt« (ebd.; 39). So wird die Demontage der Figur zum eigentlichen Ziel des Figurenaufbaus. »Alle Elemente, die Sicherheit vermitteln, müssen beobachtet und in Frage gestellt werden«, wenn man die Mechanismen vertrauter Darstellungsstrategien überschreiten will (vgl. ebd.; 40). Eine sensible und subtile Beziehung auf allen drei Ebenen – dem eigenen Ich, dem Mitspieler und dem Zuschauer – erfordert vom Darsteller, das Risiko des Ungewissen aufzusuchen und die Angst vor einer Leere zu akzeptieren, um sie zu überwinden. Brooks Verständnis der Dynamik zwischen Darsteller und Rolle verknüpft Stanislawskis schauspielmethodisches System, die epische Spiel-

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weise Brechts und die schauspielerische Grundlagenrecherche Grotowskis miteinander.60 Auf der Suche nach den Identifikationsmöglichkeiten und Berührungspunkten zwischen dem Spieler und der Figur werden Haltungen und Handlungen einer Rolle sowohl durch Einfühlung als auch durch Bewusstmachung erkundet. Zwischenräume füllt er mit Verfremdungseffekten, spielt mit überraschenden Wechseln von Identitäten, von Orten und Deutungsangeboten. Dramaturgisch versiert bahnt er für Zuschauer und Darsteller einen Weg, anscheinend inkongruente Darstellungslogiken und disparate Spielvorgänge in schlüssige Erzählweisen zu überführen. Ein wesentlicher Baustein, bekannte Darstellungsstrategien zu überschreiten und überraschende Spielmotive zu finden, bietet ihm die Improvisation. Da die Subjektivität des Schauspielers nicht das Subjekt des Spiels sein darf und die Improvisation als eine Vorbereitung auf die Darstellung von etwas Objektivem dienen soll, hat Brook sich in Abgrenzung zu den Improvisationsspielen der Avantgarde für eine disziplinierte Imagination mit der Aufgabe, ein objektives Ziel zu erreichen, ausgesprochen. Er hält den Freiheiten der Improvisation fixierte Elemente entgegen, welche erst die hinreichenden Bedingungen gelingender Improvisation sichern.61 Dieses Zusammenwirken von Freiheit und Disziplin in 60 | Die drei Referenzsysteme legt Shomit Mitter ausführlich dar und zeigt deren Einflussbereich an praktischen Probenbeispielen Brooks auf (vgl. Mitter 1992). In seinem Buch »Wanderjahre« berichtet Brook, dass er, nach einer Diskussion mit Brecht, dessen Unterscheidung zwischen Illusion und Nichtillusion nicht teilt und dies in der Inszenierungspraxis Brechts belegt findet: »Angesichts seiner Mutter Courage am Berliner Ensemble stellte ich fest, dass er alles versuchte, den Glauben an die Wirklichkeit des Geschehens auf der Bühne zu zerstören – doch je mehr er es darauf anlegte, desto rückhaltloser überließ ich mich der Illusion!« (vgl. Brook 1989; 64). 61 | »Es gibt Avantgarde-Truppen, bei denen Improvisation, sei es auf der Probe oder in der Vorstellung, als etwas Einzigartiges angesehen wird, und dass der Schauspieler, der sich dem aussetzt, nicht kritisiert werden darf. Eine Ablehnung der Improvisation würde bedeuten, dass der Schauspieler persönlich abgelehnt wird – eine Sünde, die der Verspottung eines Süchtigen auf dem Trip gleichkäme. Hinter dieser Haltung steckt der Syllogismus: er ist Schauspieler, ein Schauspieler ist Künstler, also ist alles, was er tut, Kunst. In Brooks Augen ist das Aberglaube, die ›große Illusion des Underground‹. Persönliche Erfahrung ist nicht Theater. Die Subjektivität des Schauspielers ist nicht Subjekt des Spiels. Improvisation ist nur ein Mittel mehr, um das Instrument zu stimmen, um die Gruppe vorzubereiten für die Darstellung von etwas Objektivem, das umrissen und doch offen ist. Natürlich können aus einer Improvisation Gedanken erwachsen, Charaktere, Texte, Situationen, die direkt in eine Vorstellung integriert werden können, aber nur, wenn die Imagination diszipliniert ist durch ein objektives Ziel, das die Gruppe bereits begriffen hat, und ist es nicht der Text, dann doch mindestens ein Thema und eine gemeinsame Haltung« (vgl. Smith 1974; 56f.).

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der Improvisation hat sich insbesondere bei der Theatersafari des CIRT entwickelt, in deren Verlauf sich mehr und mehr strukturierende Vorgaben als hilfreich und gewinnbringend herausstellten, um in afrikanischen Dörfern improvisierte Spiele durchzuführen (vgl. Heilpern 1989). Das Ergebnis dieser Studien führte einerseits weg von Improvisationsanlagen, die mit engmaschigen Vorgaben die psychologische Disposition einer Figur ausloten wollen, und stellt diesen eine offene Suche entgegen, die Reibungen an konkret fassbaren materiellen Gegenüberstellungen erzeugt. Später setzt Brook die offene Improvisationsform für Figuren- und Szenenentwicklung ein, denen dramatische Vorlagen zugrunde liegen, und erkundet auf  diese Weise das Neuland hinter den klischierten Vorstellungen von einer Rolle.62 Die Freiheit, durch den Prozess wiederholter Improvisationen der gleichen szenischen Situationen der eigenen Auseinandersetzung mit der Figur allmählich Gestalt zu geben, wird in dem Probensystem Brooks bis zuletzt beibehalten und schließt aus, dass der Regisseur am Ende doch seine eigene Sichtweise und Vorstellung auf die Schauspieler projiziert. In der Operninszenierung ist die Offenheit markant sichtbar an der uneinheitlichen Figurendarstellung einer Rolle, die abwechselnd von zwei Sängern verkörpert wird: »Zwei Baritons sollen abwechselnd die Rolle Escamillos spielen. Im Augenblick sind ihre Ansichten über die Gestaltung dieser Szene so konträr, dass es unmöglich ist, die Szene um gemeinsame Ausdrucksformen herum aufzubauen. Der eine macht aus 62 | Exemplarisch beschreibt der Sänger Michel Rostain in einem Probentagebuch zu Brooks »Carmen«-Inszenierung dieses Prinzip. Nach einer mehrwöchigen Phase der Vorbereitung und Annäherung an die Figur wird allmählich begonnen, die Szenen zu fixieren. Dieser Vorgang ist begleitet von neuen Improvisationen, »von denen man, sollten sie sich durchsetzen, die Hauptlinien beibehält. Die Abläufe, die Ruhepunkte, die Gesten werden sorgfältig notiert, und die Sänger werden dazu aufgefordert, sie einzuhalten. Worum geht es? (….) Als Erstes fixiert Brook jetzt keine Inszenierung, die er sich von vornherein ausgedacht hat. Jede Szene wird stets von neuem durch eine oder mehrere Improvisationen in Angriff genommen, wobei man oft die Spur der Improvisationen der letzten Wochen wiederfindet. Zwischen zwei Versuchen wird manchmal eine Anweisung improvisiert, die diesen oder jenen Beitrag, diese oder jene Abwandlung für den nächsten Versuch andeutet. Hat man einmal eine Improvisation festgehalten, nimmt man das, was man gemacht hat, Schritt für Schritt wieder auf, so dass dieses Gerüst einem als Stützpunkt zur Verfügung steht. Die Sänger werden sich auf diese Anhaltspunkte stützen können, um den Subtext zu erarbeiten – einen Subtext, der sich immer weiterentwickelt –, um offen zu sein für das, was sich da abspielt, im Orchester, bei den Partnern, im Impuls eines jeden. Fehlt dieser Subtext, wird alles leer und falsch, umso mehr, als keine Krücke erlaubt ist, um die Leere zu verschleiern. [...] Peter geht sehr auf die Kraft und Genauigkeit der inneren Bilder ein, denn von ihnen hängen die Bilder ab, die die anderen Schauspieler und die Zuschauer aufnehmen [...]« (Rostain 2005; 143f.).

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Escamillo ein sehr innerliches Wesen. Der andere macht aus Escamillo eine Figur, die vor Vitalität strotzt. Peter hat nicht darauf bestanden, die beiden Spielarten einander anzunähern, zumindest einige gemeinsame Bezugspunkte herauszustellen, so dass wir zurzeit zwei Inszenierungen dieser Arie haben« (Rostain 2005; 145). Erst durch den Schauspieler erhält die Figur ein Gesicht, das unverwechselbar ist und nicht auf andere Spieler übertragen oder von diesen kopiert werden soll. Für den Prozess der Rollenkonstruktion ist die intensive Reibung am Stoff fundamental und erfordert eine sorgfältige Begleitung durch die Regie. Das Ergebnis aber ist völlig unberechenbar, für den Schauspieler wie den Regisseur, und erfordert eine experimentelle Grundhaltung des Inszenierens, die davon absieht, im Vorfeld Beziehungen zwischen den Figuren definieren oder die Art der Kontaktaufnahme zwischen Figur, Mitspieler und Zuschauer voraussehen zu wollen. Die Komplexität gewichtiger Rollen lässt sich nur in der konkreten Probe entwickeln; die größtmögliche Einfachheit ihrer Darstellung aber verlangt einen virtuosen Spieler, der nach und nach die einzigartige Essenz der Figur aus seinen Spielversuchen herausfiltert und konzentriert.

1.3.4 Zwischenstopp Rahmen. Brook etabliert einen strengen, eindeutigen Rahmen, der die Grundvereinbarungen der Zusammenarbeit definiert und unhintergehbare Grenzlinien setzt. Seine Vereinbarung »Dies ist das Spiel« muss für eine konstruktive Zusammenarbeit akzeptiert werden. Die nicht verhandelbaren Spielregeln sind allerdings durch seine klare Sicht auf Rahmennotwendigkeiten in experimentellen Situationen, wie es das CIRT darstellt, maßgeblich geprägt. Brook schafft eine Grundsituation, die keine Zweifel an der Situation ›Theaterprobe‹ aufkommen lässt. Vom Schauspieler wird eine Professionalität gefordert, die ganz einem traditionellen Berufsverständnis entspricht. Er stellt sein Handwerk zur Verfügung, ist auf der persönlichen Ebene involviert, wo und wie es die Arbeit verlangt, und bleibt über den klaren Rahmen vor Uneindeutigkeiten und Irritationen geschützt. Fungiert der Rahmen einerseits als Motor für zielgerichtetes Arbeiten, ist Brooks Bewusstsein für die Unwägbarkeiten der Suche andererseits so hoch, dass er sozusagen kurz hinter der Grenzlinie zurücktritt und den Spielern Raum lässt, ihre Kunst zu entfalten, und vorsichtig eine Annäherung zwischen seinen Visionen und den Angeboten der Darsteller fördert. Kontexte. Hochwertiges Textmaterial stellt die bevorzugte stoffliche Basis Brooks dar. Das Spannungsverhältnis zwischen Ich, Mitspieler und Zuschauer wird entlang des Texts erzeugt. Die Beziehungen zwischen den Möglichkeiten, die im Text liegen, jenen der Kontaktaufnahme darüber zu einem Gegenüber und die Entdeckung der eigenen Resonanz zum Text, wird umfänglich umspielt und  durch immer wieder andere Spiele mit dem Text ausgelotet. Eine Durchdringung der Kontexte, die diesen Pro-

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zess begleiten, geht von konkreten Tätigkeiten und Materialien aus, die dem Schauspieler neue Erfahrungsräume öffnen. Wie in der Beziehungsstruktur im Spiel wird auch in der begleitenden Recherche eine persönliche Bezugnahme gefördert, sei es durch die Assoziationen zu Bildern, den Erwerb von speziellen Fertigkeiten oder die direkte Kontaktaufnahme mit Menschen, die der Wirklichkeit des Themas nahestehen. Primäre Erfahrungen sollen das Vorstellungsvermögen erweitern und im Verbund alltäglicher und universeller Haltungen, konkreter und abstrakter Konflikte die Problemlagen der Gegenwart in Geschichten vergangener Zeiten in einem stereoskopischen Bild hervortreten lassen. Ermöglicht werden kann dieser komplexe Dialog nur mithilfe eines gewandten und geschmeidigen Körpers. Dieses Instrument wird kontinuierlich in probenbegleitenden Trainings gestimmt und um neue Tonalitäten erweitert. Sie zielen darauf ab, gedankliche Präzision, mentale, emotionale und körperliche Durchlässigkeit zu stärken und Bewegung und Stimme des Schauspielers miteinander zu verbinden. Das Vermittlungsanliegen Brooks liegt vor allem darin, den Text in seiner Tiefendimension zu erkunden und so zu erzählen, wie er nur durch hochvirtuose Schauspieler zur Anschauung und zu Gehör gebracht werden kann. Aufgefädelt wird dies einerseits an der besondern Textqualität, die sich auf die fremde Autorschaft konzentriert und deren sprachlichen und klanglichen Horizont erkundet, andererseits am Spiel mit diesem Text, den reichhaltigen Bezügen zu anderen Recherche- und Quellmaterialien, die in die Probenarbeit unaufdringlich mit einfließen. Sein Interesse, die einfachste und lebendigste Erzählweise für einen Stoff zu entwickeln, ist an den Wunsch gebunden, ein Theater für alle Bevölkerungsschichten zu machen und auf das Erzählen von Geschichten zu vertrauen. Gleichzeitig ist die Umwegstruktur dorthin hochkomplex und verlangt eine breit angelegte, intensive psychische wie physische Arbeit an dem Herausschälen dieser Einfachheit. Konstruktion. Das Aufspüren möglicher Nahtstellen zwischen darstellerischem Denken und Handeln manifestiert sich im sukzessiven Einkreisen geeigneter Spielzüge. Indem der Schauspieler hinter den einzigartigen Charakter der Rolle bescheiden zurücktritt, anstatt sie für eigene Interpretationen zu gebrauchen, kann er ihrer Größe gerecht werden und Dimensionen der Figur erfassen, die das eigene Vorstellungsvermögen überschreiten. Die  immer neu unternommenen Versuche der Annäherung an eine Figur eröffnen eine Palette von Ausdrucksweisen, die möglichst breit gestreut ausloten, welche mentalen und körperlichen Bewegungen einem Figurenaufbau zuträglich sind. In den strukturierten Improvisationen wird ein Handlungsskelett entwickelt, das auf das Korsett psychologischer Vorannahmen weitgehend verzichtet und am spielerischen Umgang mit konkreten Materialien und Situationen ansetzt. Erst nachdem unterschiedlichste Spielvarianten erprobt und verfolgt wurden, kann das Gemisch von Erkenntnissen über die Figur allmählich verdichtet und

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komprimiert werden. Mehrmaliges Filtern der gesammelten Eindrücke lässt eine Essenz entstehen, in der das Wesentliche in einer einfachen Geste, einem bündigen Spiel zum Ausdruck kommt. Eine Spielweise suchend, die den Realismus der Beziehung über das realistische Abbild von Wirklichkeiten stellt, relativiert einerseits die objektive Richtigkeit figuraler Präsentation und erfordert andererseits den Mut, einen unverstellten Kontakt zu den Zuschauern und Mitspielern aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Die Dosis kontrollieren. Brook betont die Vorsicht, mit der zu Beginn einer Arbeit der emotionalen Wucht mancher Spieler begegnet werden muss, die der aufrichtigen Beziehungssuche schnell hinderlich werden kann. Seine Funktion in der Probe ist definiert durch eine klare Unterscheidung von Aufgaben der Spieler und des Regisseurs. Sucht der Darsteller nach Verkörperungsmöglichkeiten im Spiel, sind für den Regisseur das genaue Hinschauen und Hinhören im Fokus. Erkennt er Schwierigkeiten und Ängste, kann er stimulierend und provozierend eine Suchbewegung des Schauspielers konstruktiv unterstützen. Obwohl er zu der Sache, dem Thema und dem Spieler mehr Distanz halten kann und deutlicher erahnt, was tauglich ist, hält er sich mit Erklärungen oder Interpretationen zurück und unterstützt die Entdeckungslust der Akteure, indem er die Suchprozesse strukturiert und beobachtend den Blick auf interessantes Inszenierungsmaterial richtet. Die Verwertbarkeit der theatralen Ereignisse im Verlauf der Proben auf ein Maximum zu steigern ist seine Aufgabe, die Konzentration auf das Wie des zu erzählenden Stoffs setzt der persönlichen Involviertheit der Spieler in der spielenden Auseinandersetzung damit eine Sachlichkeit entgegen, die als widerständiges Gegenüber wirkt und jederzeit die Wirklichkeitsebenen zwischen Nicht-Spiel und Spiel entscheidbar hält.

2 Z WISCHEN S PIEL UND S PIEL In den folgenden Kapiteln stehen Transformationsprozesse zwischen Spiel und Spiel im Zentrum. Das Interesse richtet sich auf beobachtbare Strategien der Verkettung und Verschränkung von Spielregeln, die dazu beitragen, dass game in play mündet. Anhand der drei ausgewählten Probenpraxen ist zu fragen, welche Wege und Umwege in den Prozessen des Produzierens genommen werden, um theatrale Ereignisse zu generieren und zu rekodieren. Es sollen in erster Linie solche Interventionen und Interaktionen beschrieben werden, die Kippmomente von performativen und semiotischen Prozessen befördern und erzeugen können und Spielräume für experimentelles Handeln öffnen. Dazu wird nach Spielkonstruktionen in den Bereichen Sprache (Kapitel V.2.1), Körper (Kapitel V.2.2) und Imagination (Kapitel V.2.3) gefragt und erörtert, wie aus ihnen experimentelle Spielanlagen hervorgehen. Die

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Probendokumente von Tabori, Wilson und Brook werden exemplarisch durchforstet, um modellhaft Handlungsspielräume zwischen Spiel und Spiel aufzuzeigen. Die Zwischenstopps nach den einzelnen Abschnitten beschreiben das Konzentrat der Vorgehensweisen und zeigen in groben Zügen die charakteristischen PraxisHaltungen von Wilson, Brook und Tabori auf. In der Kombination mit den Probenbeschreibungen sollen sie didaktische Fantasie für individuelle spielerische Experimente eröffnen und der theaterpädagogischen Selbstverständigung zuspielen.

2.1 Spiele um Sprache Wann und wie Text ins Spiel gebracht und sprachlich aktualisiert wird, verdeutlicht, welche stimmlichen, klanglichen und semiotischen Prozesse auf dem Weg zu einer Rekodierung sprachlicher Darstellungs- und Erzeugungsweisen prominent werden. Das Hin und Her zwischen Genotext und Phänotext, zwischen flüchtigen, nichtsignifikanten und feststellbaren, stabilisierenden Strukturen gilt es in den einzelnen Praxen genauer zu spezifizieren. Wie in Prozessen des Produzierens mit Sprache und Text verfahren wird, um theatrale Ereignisse zu generieren, steht im Mittelpunkt der Analyse. Gefragt wird, welche Ähnlichkeiten und Differenzen in der Praxis von Peter Brook (Kapitel V.2.1.1), George Tabori (Kapitel V.2.1.2) und Robert Wilson (Kapitel V.2.1.3) vorgefunden werden.

2.1.1 Brook: »Don’t impose a theor y on it. Don’t take it literally either« 63 Peter Brooks Faszination für die sprachliche Ausdruckskraft und ihren poetischen Gehalt findet in der experimentellen Herangehensweise an den Text eine bemerkenswerte Form, die der Suche nach der Komplexität von Sprache im theatralen Gebrauch neue Räume öffnet. Seine treibenden Fragen in der Auseinandersetzung mit den sprachlichen Mitteln im Theater lauten: »Wie sieht die Beziehung zwischen Theater mit Sprache und Theater ohne Sprache aus? Was geschieht, wenn Gebärde und Klang zum Wort werden? Wo liegt der genaue Ort des Wortes in der theatralischen Ausdrucksweise? In der Schwingung? Im Begriff? In der Musik? Können wir in der Klangstruktur bestimmter alter Sprachen irgendeinen Beweis finden?« (Brook 1989; 155). Forschungsversuche in diese Richtung prägen die Arbeit des internationalen Ensembles, die Fragen münden in praktische Untersuchungen und werden systematisch verfolgt. Mangels eines gemeinsamen Vokabulars der Mitglieder des CIRT beginnt die Arbeit an einer für alle Beteiligten fremden Sprache. Zu Beginn befassen sich die Spieler mit altgriechischen Textfragmenten, die, nicht übersetzt, das experimentelle Basismaterial darstellen.

63 | Brook, zit.n. Selbourne 1982; 9.

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Peter Brook konkretisiert in seiner Schrift »Wanderjahre« eine elementare Spielaufgabe aus dieser Anfangszeit: »Beispielsweise bekamen die Schauspieler einen Textabschnitt in klassischem Griechisch. Der war nicht in Verse, ja nicht einmal in einzelne Wörter unterteilt; es war einfach nur eine lange Reihe von Buchstaben [...]. Der Schauspieler wurde mit einem Fragment konfrontiert: ELELEUELELEUUPONAUSFAKELOSKAIFREENOPLE « (Brook  1989; 149). Sie haben den Auftrag, sich dieser fremden Sprache zu nähern, wie Archäologen einem unbekannten Fundstück. Ohne Wissen über die semantische Dimension der Worte zielt dieses Textspiel darauf ab, die griechischen Buchstaben mit der eigenen Zunge und einer Sensibilität für das Gesprochene kritisch zu prüfen und abzutasten. Nach und nach verdichten sich Klang- und Lautstrukturen, die sich der Essenz des Texts nähern, ihn entziffern und in symbolischen Ausdruck transformieren. Brook beschreibt dieses Geschehen rückblickend folgendermaßen: »Allmählich begannen sich die im Fluss der Buchstaben verborgenen Rhythmen zu offenbaren, allmählich schwoll der verborgene Strom der Gefühle an und formte die Sätze, bis der Schauspieler sich sie mit wachsender Kraft und Überzeugung sprechend wiederfand« (ebd.; 150). Diese Erkenntnis Brooks begleitet seine weiteren Bemühungen, die kommunikativen Grundlagen des Theaters zu überprüfen. Er versucht, die Beschaffenheit von Texten in den klanglichen Resonanzen auszumachen, die unabhängig von der Muttersprache eines Schauspielers sinnstiftende Bedeutungsträger werden. Das CIRT wendet sich nach diesen ersten Erfahrungen nicht gleich wieder der zeitgenössischen Literatur zu, sondern geht vorerst noch einen Schritt weiter zurück, zu Avesta, einer aus der persischen Kultur stammenden, rein für religiöse Zeremonien verwendeten Sprache. Das Ensemble erlernt Avesta durch exaktes Nachsprechen der Lehrerin, ohne dass eine Übersetzung des Sinngehalts in andere Sprachen erfolgt. In Avesta verbinden sich Laut und Inhalt so, dass deren Trennung und Auflösung in eine andere Sprache den tieferen Sinn, der sich in der besonderen Eigenart des Sprechens von Avesta offenbart, nicht transportieren. Die Praxis von Avesta gibt der Gruppe den »Beweis dafür, dass wir das, was wir suchten, finden konnten, dass man sich ihm aber mit großer Behutsamkeit nähern musste« (vgl. ebd.; 154). In der Zusammenarbeit mit dem Autor Ted Hughes entsteht Orghast, eine eigens für die Forschungspraxis entwickelte Kunstsprache, die von ihrer Lautkonstruktion lebt. Das gleichnamige Stück, aufgeführt in Shiraz, verbindet Orghast, Avesta und Altgriechisch und ermöglicht es der Truppe, ein von allen geteiltes Repertoire an Lauten als gemeinsame Sprache anzuwenden. Vor dem Hintergrund eines solchen Sprachverständnisses wird es den Schauspielern des CIRT möglich, ungeachtet der Herkunft der Darsteller Texte aus anderen, gängigen Sprachsystemen zu bearbeiten oder fremde

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Texte in diese zu übertragen.64 In der Dramatisierung und Inszenierung der Mahabharata lernen die Spieler die englische Aussprache von einem Mitglied ihrer Gruppe. Die Grundlage des Unterrichts sind einige Zeilen von Shakespeare. Der japanische Darsteller Oida berichtet, dass er auch ohne die Kenntnis der Bedeutung dieser Worte über das Aussprechen der Laute »allmählich ein Gefühl für die Worte und die Figuren« Shakespeares gewinnt (vgl. Oida 1998; 155). Gleichzeitig bemerkt er einen Unterschied in seiner Darstellung, abhängig davon, ob er die Figur in der englischen oder französischen Textfassung spielt. Trotz gleicher Bedeutung des Inhalts sind die Klangeigenschaften der Wörter so unterschiedlich, dass sich für ihn dadurch unvermeidlich die Art der Darstellung ein und derselben Figur verändert (vgl. ebd.; 156). Die Herangehensweise und das Verständnis für die Figur hängen folglich zu einem wesentlichen Teil von dem Aufeinandertreffen eines Spielers und dem Textmaterial in seiner konkreten Laut- und Klangqualität ab. Die Beschaffenheit des Materials kann im Umkehrschluss die Suche des Spielers nach verborgenen Klangqualitäten inspirieren und sprachliches Material über eine körperliche Praxis explorieren. Ein Einblick in Probenprotokolle des Theaterautors David Selbourne verdeutlicht die von Brook entwickelten Interventionsstrategien im Zugriff auf Sprache und Text (vgl. Selbourne 1982).65 Selbourne beschreibt den achtwöchigen Probenverlauf zur Inszenierung des »Sommernachtstraums« Tag für Tag. Er war während des gesamten Zeitraums als Beobachter anwesend und hat sowohl die Vorgänge der Proben als auch seine subjektive Sicht auf das Gesamtgeschehen notiert. Aus seinen Aufzeichnungen gebe ich stichwortartig einen chronologischen Ablauf der Arbeit am und mit dem Textmaterial als Extrakt wieder: Erstes Lesen. Lesen und nach Verhalten suchen. In der Diskussion fragt ein Schauspieler Brook, ob das ganze Stück ein Traum sei. Brook antwortet, er solle sich keine Theorie zurechtlegen, es auch nicht literarisch betrachten, sondern die Wahrheit des Stücks entdecken: »Don’t im64 | Begann seine Forschungsarbeit mit dem Vorhaben, nach einer Universalsprache zu suchen, verändert sich diese Zielsetzung nach den Experimenten und Erfahrungen damit und orientiert sich stärker an kommunikativen Prinzipien, die eine intensive, konzentrierte Begegnung zwischen Zuschauern und Schauspielern ermöglichen. Die Neuorientierung seiner Suche reflektiert Brook ausführlich in einem Gespräch mit A. C. H. Smith: »Wir waren uns also im Klaren darüber, dass Orghast eigentlich nicht das ist, was wir als Arbeit entwickeln wollten [...], wir waren nicht an einer Verfestigung der Orghast-Position interessiert« (vgl. Brook 1983c; 99f.). 65 | Der »Sommernachtstraum« wurde von Brook noch vor der Arbeit mit der internationalen Gruppe inszeniert, er hat aber parallel bereits die Arbeit mit dem CIRT vorbereitet. Da in den Grundzügen eine so klare Übereinstimmung des Ansatzes im Umgang mit dem Sprachmaterial zu erkennen ist, greife ich an dieser Stelle auf dieses ausführliche Quellenmaterial zurück.

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pose a theory on it. Don’t take it literally either. Discover the truth of it« (Brook, zit.n. Selbourne 1982; 9). Lesen der ersten Szene. Übungen nur mit Tönen (Sounds), Töne weitergeben im Kreis. Hermia und Lysander bekommen die Aufgabe, sich nebeneinanderzulegen und nur mit Tönen zu kommunizieren. Dann wird die Übung an die Umstände der ersten Szene angepasst und wiederholt. Danach erneutes Lesen der Szene, mit der Aufgabe, die Erfahrung aus der Übung zu integrieren. Brook unterbricht das Lesen immer wieder, erklärt den Unterschied zwischen Rhythmus und Verhalten und fordert die Spieler auf, die Differenz beim Lesen zu berücksichtigen. Unterbrechung des Lesens. Brook bittet Hermia, ihren Text zu singen. Im Anschluss daran erneut geduldiges Lesen des Texts. Textarbeit über Aufforderung, den lyrischen Klang zu suchen. Erläuterungen von Brook zur Jazzimprovisation. Dann Lesen und dabei einzelne Wörter und Zeilen frei wiederholen. Brook gibt den Anstoß, die Möglichkeit des simultanen Sprechens beim Lesen zu nutzen, Töne dazuzugeben, nach Rhythmus zu suchen. Immer wieder werden Übungen mit Tönen in unterschiedlichen Variationen durchgeführt. Die Präsentation des Bühnenmodells gibt den Spielern einen Kick, Brook verwendet diesen sofort, transformiert ihre Euphorie in einer physisch aktionsreichen Tanz-Rhythmus-Übung und schließt eine Leseprobe mit dieser Energie an. Erstes ununterbrochenes Lesen des Texts mit der Freiheit, im Lesen hinzuzufügen, zu wiederholen, zu rhythmisieren, zu improvisieren. Die Zielvorgabe heißt, den Text lebendig werden zu lassen. Arbeit im Raum; am Ende des Tages Aufforderung Brooks, die Textbücher beiseitezulegen, Text zu können, sich keine Notizen zu machen: »There is also no need for notes. Anything forgotten is not worth remembering« (ebd.; 53). Szenische Versuche, unterbrochen von der Aufgabe, den Text zu singen, zu rhythmisieren, mit Klang zu spielen. Eine Spielerin vergisst in der Szene ihren Text, sucht in der Situation, Brook sagt ihr, dass sie genau so wie jetzt ehrlich in der Figur ist, einen Teil der Figur gefunden hat. Musikalisch unterstützte Übungen zu Energie und Rhythmus. Brook greift in die Szene ein mit der Aufforderung, den Text zu singen. Wiederholte Interventionen durch Aufforderung, den Text in der Szene zu singen. Die Singaufgabe funktioniert nicht. Brook versucht zu erklären. Diskussion mit den Spielern und erneuter Erklärungsversuch. Versuch Brooks, neue Richtung einzuschlagen. Wiederum Diskussionen. Verständnisfragen. Am nächsten Tag Beginn von vorn: Texte lesen. Übungen mit Tönen, szenische Versuche, Unterbrechungen, Singen des Texts, Arbeit mit Tönen, Lesen … Einfaches Lesen einer Szene und Erläuterungen Brooks, dann Spiel dieser Szene im verdunkelten und mit Kerzen beleuchteten Raum, Schauspieler in Sonntagskleidung ihrer Figuren. Brook lobt die Spieler.

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Konzentration auf Plot und Fabel der Erzählung – Unterstützung einzelner Szenen durch den Musiker, um die Spieler den richtigen Weg finden zu lassen. Eine Performance des Stücks vor Kindern. Zielvorgabe: die Geschichte zu erzählen, klar, lebhaft und unterhaltsam. Dabei einen freien Umgang mit dem bisher gefundenen Material suchen. Spiel mit der Aufgabe, sich blinde Menschen als Publikum vorzustellen, welche die Aktionen der Schauspieler nicht sehen können, aber den Impuls spüren, den die Spieler durch ihre Aktion in der Sprache transportieren. Letzte Instruktion Brooks vor der Premiere: »This is your last opportunity to explore the words to the fullest degree, using all possibilities, and to make contact with the audience. You are going back to the beginning, relying on the words for effect and explanation« (ebd.; 325). Brook führt mit den Schauspielern eine Auseinandersetzung, die unter Einbezug von Körper und Partner, am Rhythmus orientiert, Klang und Charakter der Sprache untersucht. Nicht eine vorgefertigte, konzeptionell durchdachte Interpretation ist die Orientierungsgröße für das Gelingen, sondern der Text selbst bleibt Richter über die im Proben gefundene vorläufige Bedeutung. »Meaning is now generated exogenously rather than internally, through somatic imperatives rather than through reasoning«, schreibt Mitter über die Vorgehensweise zum »Sommernachtstraum« und kennzeichnet damit die im Körper des Spielers sich manifestierende veränderte Haltung gegenüber dem Text und seiner Praxis (Mitter 1992; 34). Rhythmus und Klangqualität werden in den Spielen um Sprache zu einer notwendigen, von dem Ensemble gemeinsam getragenen und geteilten Verbindung zwischen den Darstellern. Beides muss voneinander abgenommen, weitergeführt, verändert und beantwortet werden. Der Text wird »von allen gemeinsam auf seine Möglichkeiten und Widersprüche, auf seine Gedankenwelt, seine Musik, seine Themen, seine Ideen hin untersucht. Das aber bedeutet, viel mehr Gefahr, viel mehr ohne Lösung zu sein in dem Moment, in dem die Arbeit beginnt, und nur wenige Regisseure gehen dieses Risiko ein« (Marthouret, zit.n. Ortolani 1988; 76). Die in der Praxis von Brook eröffnete Dimension von Text und Sprache geht weit über die vorhandenen Erfahrungen der Schauspieler hinaus, die sich nicht auf Bekanntes zurückziehen und dieses der theatralen Situation entsprechend umfunktionieren können. Die  Schauspieler müssen vielmehr, indem sie den Text aus allen denkbaren Perspektiven heraus spielend befragen, sich selbst und all ihr bisheriges Wissen und Handeln infrage stellen. Voranschreiten kann ein solches Vorgehen nur, wenn nicht eine bestimmte Theorie, Interpretation oder Lesart des Texts die Praxis bestimmt, sondern wenn im Inneren des Texts, in den Sätzen, Wörtern und Klängen, eine Verausgabung beginnt.66 66 | Die mit professionellen Schauspielern erprobten Prinzipien wendet Brook ebenfalls in der Arbeit mit Opernsängern an. Auch hier wird nicht nach einer von

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Eine weitere Übungsfolge skizziert Brook in seiner Künstlertheorie: »Der leere Raum«. Am Beispiel einer Textpassage aus »Romeo und Julia« sieht der erste Schritt vor, nur jene Worte auszusuchen, die ein Spieler in einer realistischen Situation sprechen würde, und den Rest zu streichen. Beim Lesen des nun gekürzten Texts wird über die gestrichenen Passagen aber nicht hinweggesehen, sondern die Worte werden mitgedacht, erhalten nur keinen Ton. Das Ergebnis ist ein szenisches Fragment mit lebendigen Pausen, das gut für eine filmische Bearbeitung dienen könnte (vgl. Brook 1983b; 179). Brook führt die Aufgabenstellung jedoch noch weiter und fokussiert im nächsten Schritt die ausgelassenen Stellen, die mit ›normaler‹ Rede nichts zu tun haben. Mit ihnen kann man auf die verschiedensten Weisen spielerisch umgehen, klangliche und rhythmische Versuche unternehmen oder sie in Bewegung transformieren. Erkundet man die verborgene Schicht  dieser Textpassagen, lässt sich entdecken, welche unausgesprochenen Gedanken und Gefühle daran geknüpft sind (vgl. ebd.; 179ff.), wie das Schweigen einer inneren Stimme folgt. Die vorgeführte Trennung von inhaltlichen Aspekten und der sprachlichen Form kann in Proben hilfreich sein, um dem Text tiefer auf den Grund zu gehen, da beide Seiten sich wechselseitig bereichern: »Manchmal kann uns eine Untersuchung der Form plötzlich den Sinn erschließen, der die Form diktiert hat, und manchmal vermittelt uns eine eingehende Prüfung des Inhalts einen neuen Rhythmusklang« (ebd.; 181). außen vorgegebenen Intonation gesucht, kein Text wird in seinen Diktionen festgelegt, sondern die sprachliche Beziehungsarbeit zwischen den Sprechenden und dem Text sowie zwischen den Sprechenden/Singenden bildet das Zentrum der Spiele um Sprache. Der Sänger Michel Rostain notiert in seinem Probentagebuch zur Arbeit an der Oper »Carmen« mit Peter Brook: »Nach dem warm-up erhält heute Morgen jeder von uns einen Text von einigen Zeilen, verfasst in einer imaginären Sprache: etwa dreißig Wörter stehen uns zur Verfügung, um miteinander zu kommunizieren. Wir versuchen, miteinander eine Unterhaltung zu führen, etwas in dieser unbekannten, aber uns allen gemeinsamen Sprache zu sagen« (Rostain 2005; 140). Das Erkunden des sprachlichen Potenzials, selbst wie hier nach dreiwöchiger Probenarbeit, wird immer wieder an die grundlegende Frage nach den Möglichkeiten von Kommunikation gebunden. So geht es bei dem Spiel mit sinnfreien Texten nicht darum, so zu tun, als spreche man fließend eine NonsensSprache, sondern es soll kommuniziert werden, etwas an den weitergegeben werden, zu dem man spricht (vgl. ebd.; 140f.). Den eigenen stereotypen Mustern auf die Schliche zu kommen und eine neue gedankliche und stimmliche Präsenz durch den Kontakt zum Partner und den erreichbaren Inhalt des Texts zu erwerben, bleibt eine wiederkehrende Herausforderung, die nur für Momente gelingt (vgl. ebd.). Brooks Eingreifen ist dabei immer nur andeutend und der intendierte Sinn der Aufgaben wird erst im Nachhinein ausgesprochen: »Oftmals nach und nicht vor solchen Übungen weist Peter kurz darauf hin, worum es ihm geht« (vgl. ebd.; 141; Hervorhebungen im Original).

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Die Aufgabe seitens der Regie liegt in der achtsamen Begleitung und der Aufmerksamkeit für Momente, »wo der Schauspieler seine richtigen Impulse durcheinanderbringt – und hier muss er [der Regisseur; ms] dem Schauspieler helfen, die eigenen Hemmungen zu erkennen und zu überwinden. All dies ist ein Dialog und ein Tanz zwischen dem Regisseur und dem Schauspieler [...], ein Walzer zwischen Regisseur, Schauspieler und Text« (ebd.; 181). Für diese gemeinsame Entdeckung der Textschichten sind Techniken und Spiele, musikalische und tänzerische Übungen, Improvisationen und Erläuterungen geeignete Hilfsmittel; ein garantierter Fortschritt kann aber weder vorausgesagt noch erzwungen werden.

2.1.2 Tabori: »Ein Klassiker ist ein Klassiker ist ein Klassiker, weil er immer noch lebt« 67 Shakespeare ist leider tot, erwidert Tabori den mehr Werktreue fordernden Kritikern und vereint in dieser Antwort zwei Aspekte: Shakespeare kann genauso wenig zu uns sprechen, wie seine Texte für sich sprechen können.68 Man kann Shakespeares Texte lesen, aber sobald man sie spricht, was den Beginn von Theater bedeutet, braucht man die Stimme, eine eigene Stimme. Eine Stimme verhält sich einem Text gegenüber, sie ist ihm, ist es nicht der eigene Text, »untreu«; denn »der Text selbst ist still, kann nicht sprechen«; den Text im Theater selbst sprechen zu lassen ist in Taboris Argumentationslogik »semantischer Unsinn« (vgl. Tabori 1993; 39). Diese spitzfindige Wortklauberei Taboris, mit humorvollem Ernst betrieben, weist auf die Herausforderung hin, der sich ein Schauspieler insbesondere beim Umgang mit großen, klassischen Texten stellen muss. Im Unterschied zur Literatur lebt das Theater nicht von der Sprache, sondern von dem gesprochenen Wort. Es bedarf eines Sprechers, der, die Wörter im Mund, das Was des Texts zwingend mit einem Wie verbinden muss, um den Text sprechend zu veräußern: »Das Wer und das Wie schattieren, variieren und transformieren das Was« (vgl. ebd.; 63).69 Tabori stellt da67 | Tabori 1993; 106. 68 | Tabori schreibt ebenso gültig an anderer Stelle: »Ein Klassiker ist ein Klassiker ist ein Klassiker, weil er noch immer lebt; Worte, vor Jahrhunderten geschrieben, verwandeln sich, wie auf göttliches Gebot hin, in pulsierendes Fleisch, vor allem dann, wenn der Leser-Zuschauer bereit ist, sich ihnen mit einsteinscher Bescheidenheit zu nähern: je mehr ich weiß, desto größer mein Nichtwissen. Shakespeare zu lesen oder auf der Bühne zu erleben ist der Beginn einer Liebesromanze, eine Reise ins Innere des Dichters wie auch in unser eigenes; mit all den Freuden und Schrecken, die Selbsterfahrung bedeutet, eine Expedition durch schwärzeste Sümpfe und Dickicht ans Licht; und das Licht am Ende des Tunnels könnte sehr wohl das Licht eines entgegenkommenden Zuges sein« (Tabori 1993; 106). 69 | »Manche Worte«, so Tabori, »werden besser gesprochen als gelesen. Man sollte sie nicht leise, sondern laut lesen. Der Unterschied ist der: Leiselesen ist eine stille, private Sache, Lautlesen ist öffentlich, eine Darbietung, auch wenn

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mit den Unterschied heraus, mit dem jeder Hamlet-Darsteller den Text Shakespeares neu erschafft, ihn auf eine jeweils andere Art in seinem Sprechen, seiner Stimme veröffentlicht. Die Textpraxis Taboris generiert die Wirkung des Texts durch den Einfluss verschiedener Situationen auf das Sprechen, durch das Spiel mit verschiedenen Subtexten, ohne dass diese Subtexte genau fixiert werden. Gelingt es den Spielern, ein Oszillieren zwischen Text und Situation in Gang zu setzen, so entstehen auf der Bühne Geschichten, die nicht mit »Es war einmal«, sondern mit »Es ist einmal« beginnen (vgl. ebd.; 204). In den Proben wird entsprechend ›wild‹ mit dem Text probiert, naheliegende wie absurd erscheinende Zusammenhänge zwischen Sprache und assoziierten Situationen werden erprobt. Die spielerische Zersetzung von Interpretationsräumen beginnt bereits während der ersten Leseproben am Tisch. Anstelle von Hypothesen über den vermeinten Aussagewert von Dialogen werden Vorstellungsvermögen und Fantasie im Experimentieren mit dem Text angezapft und ausufernd erkundet. Die effektive Bedeutung und Tragweite dramatischer Literatur stecken für Tabori im Subtext des Texts und können ausgehoben werden, obwohl es diesen Subtext vielleicht gar nicht gibt (vgl. Tabori 1993; 34). Die typischen Versuche im Spiel um Sprache dokumentiert Feinberg in einer Beschreibung von Taboris Probenprozessen: »Stundenlang wurde der jeweilige Text gelesen, solistisch, chorisch und kanonisch dekonstruiert, um in ihm neue Lese- und Interpretationsmöglichkeiten zu entdecken. Hin und wieder wurden auch zusätzliche Materialien – Aufsätze, Bücher, Filme, ein Dia-Vortrag – als Hilfsmittel herangezogen. Die semantische Deutung wurde der Situation untergeordnet, wie bereits Strasberg angedeutet hatte, wonach nicht das Wort, sondern die Situation das Herz eines Stückes ist. Gelegentlich wurden Textpassagen in Dialekt oder gar in ›Nonsens-Sprache‹ rezitiert. Improvisation, jenes zentrale Element in der Theaterarbeit von Stanislawski, Grotowski und Strasberg, war ebenfalls Grundbestandteil der Proben im Theaterlabor. Sie erleichterte die Annäherung an eine bestimmte Situation und wurde sogar Teil der eigentlichen Inszenierung« (Feinberg 2003; 92). Die Gegenüberstellung von Situation und Text, Improvisation und begleitender Recherche und, wie auch in der Arbeit Brooks, der kontinuierliche Wechsel von Lese- und Spielversuchen decken inhaltliche und persönliche Konnotationen auf, befragen sie und man, einsam, mit sich selbst spricht, wie beispielsweise Hamlet oder ein Betrunkener, der die Straße entlangtorkelt. Homer und Jesus waren eher Sprecher als Schreiber, so wie der reife Beckett: Statt Buchstaben zu betrachten, hört man eine Stimme. Lautsprechen ist bereits Theater, auch wenn man allein ist, der Beichtstuhl bereits Bühne, auch wenn man selbst der Priester ist. Das ist der Unterschied zwischen Theater und dem, was man Literatur nennt. Im Theater wie im Leben ist es nicht die Sprache, sondern der Sprecher, der die Bedeutung verleiht. Das Wer und das Wie schattieren, variieren und transformieren das Was. Sonst wäre jeder Hamlet gleich und ist es doch nie« (Tabori 1993; 63).

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erlauben es den Akteuren, sich von ihnen zu lösen, um  andere, widersprüchlichere Konstellationen von Text und Situation zu riskieren. Die beiden Schauspieler Thomas Holtzmann und Peter Lühr spielen mit diesem Wechsel von Lesen und Improvisieren noch in der Aufführung von Taboris Beckett-Inszenierung »Warten auf Godot«.70 Holtzmann beschreibt in einem Interview mit Gundula Ohngemach die Proben: »Wir haben in irgendeinem Zimmer gesessen, das Stück gelesen und geredet. Wir haben, glaube ich, vierzehn Tage an dem Stück ›geackert‹, geändert, übersetzt und haben immer noch nicht probiert, nur geredet. [...] Wir haben wochenlang probiert, wie man normalerweise ›Warten auf Godot‹ probiert: Wir sind unter einem Baum gesessen, von einem Tisch war nicht die Rede. Ich habe mich vor jeder Probe mit Lühr an den Tisch gesetzt, der eigentlich ein Regietisch war, und mit offenem Buch sagten wir uns den Text auf, damit er sich einprägte und jeder seine Stichworte lernte. Sie sind sehr schwierig in diesem schnellen Stück, es ist ein andauerndes Hin und Her. George hat uns dabei zugesehen, und eines Tages sagte ich: ›Wir sind viel besser, wenn wir am Tisch sitzen.‹ Das war vier Wochen vor der Premiere. Wir irrten wochenlang durch sämtliche Kanäle und haben es so und so probiert, und George fielen die wahnwitzigsten Sachen ein. Wir haben oft dazu gesagt: ›Nein, das geht doch nicht, das ist Quatsch‹, wir wurden immer ›tüddeliger‹ und zum Schluss haben wir gedacht: Daraus wird nie eine Vorstellung« (Holtzmann, zit.n. Ohngemach 1989; 109f.). Auf die Frage, wie die Aufführung mit ihren merkwürdigen Brechungen von Spiel im Spiel, Theater im Theater und der Probe als Aufführung dennoch zustande kam, antwortet Holtzmann: »Durch diese Spielerei! Wir haben mit allem gespielt, was dieses Stück hergab. Es ergab sich aus diesem Nicht-Bühnenbild, verschiedene Sachen mussten geklärt werden. Der Pozzo, den Claus Eberth spielte, tritt bei Beckett mit einem Rollstuhl auf. Nun hatten wir natürlich einen Rollstuhl, aber wir kamen überhaupt nicht damit zurecht. Er war so sperrig, dass wir immer gesagt haben: ›Dieses Ding steht uns nur im Wege.‹ Um uns das zu ersparen, sprach ich einfach nur die Anweisung: ›Pozzo tritt mit Rollstuhl auf. Hinter ihm, am Strick‹ – ›steht bei Beckett‹, fügte ich hinzu. So ist es entstanden, das war 70 | In einem Essay notiert Tabori Gedanken, die ihm bei der Beschäftigung mit einem Text von Samuel Beckett zur Textpraxis der Bühne entscheidend scheinen: Denkt sich Tabori beim ersten Lesen noch die Umsetzung des Texts in ein Stummspiel als Ideal, so steht beim zweiten Lesen die Fantasie, die Zuschauer nur zu begrüßen und sie mit dem ausgehändigten Text wieder nach Hause zu schicken, im Vordergrund. Bei der weiteren, wiederholten Lektüre werden ihm »der besondere Schrecken« und »die besondere Schönheit« der Geschichte mehr und mehr offenbar und Tabori träumt davon, in der Aufführung Beckett selbst den Text vorlesen zu lassen und ihm das Ensemble als aktive Zuhörerschaft beizugesellen. Da dies ein Traum bleiben wird, muss die Gruppe, will sie den Text auf die Bühne bringen, doch ihre eigene Stimme finden, damit beginnen, das Geheimnis des Texts im Sprechen zu enträtseln (vgl. Tabori 1993; 63).

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weder beabsichtigt noch ausgeklügelt oder im Vorhinein geplant, sondern reine Spilastik. [...] Plötzlich war dann auch die Textangst weg, weil wir uns gesagt haben: ›Leck mich doch, wenn ich hänge – dann schlage ich einfach das Buch auf.‹ Das Nachlesen haben wir auch eingebaut, wenn wir nicht hingen. Es machte uns so sicher, dass wir gesagt haben: ›Was kostet die Welt – wenn etwas passiert, merkt es kein Mensch, es gehört zum Spiel. Keiner weiß, ob es Regie ist oder pure Not‹« (ebd.; 115). Textpassagen wiederholt zu befragen, zu revidieren und zu verändern, sich ihrer zu vergewissern und die Frage nach dem richtigen Subtext zu bewahren, als Frage zu schützen und stark zu machen, bedingt, dass keine Lesart zu sehr fixiert wird. Das Spiel mit dem Text bleibt in Folge bis zum Schluss, in der Aufführungssituation, erhalten. Es wird ein Spiel um das Ringen nach, mit und durch Text, seine Sprachen und Sprechweisen. Taboris Haltung in diesem Prozess ist von großer Neugier und Gelassenheit. Aus Holtzmanns Perspektive hat er bis zum Schluss keine Regie über den Text geführt: »[...] Er hat immer nur mit staunenden Augen dabeigesessen und sich gar nicht viel eingeschaltet. Wenn wir am nächsten Tag wieder etwas anderes machten, freute er sich genauso. Wir ordneten unseren Ablauf eigentlich nicht mit ihm zusammen, eher untereinander. Wir dachten immer: Moment, vorsichtig das müssen wir auf den Punkt bringen. Und in den letzten acht Tagen haben wir das auch getan« (ebd.; 112). Tabori bestätigt diese ungezwungene Arbeit am Text in seiner Version: »Wir haben andauernd Kaffee getrunken, und ich habe zwei oder drei Mal – nein, nicht Anweisungen gegeben, sondern Vorschläge gemacht, und das wurde – ja: akzeptiert« (Tabori, zit.n. Feinberg 2003; 124). Seine Konzentration richtet sich ganz auf das Zuhören und Zuschauen, sodass er den Spielern ein aufmerksames Gegenüber ist, ohne durch seinen Willen oder eigene Ideen die Weiterentwicklung der Suche zu bestimmen. Dass ein solches Vorgehen ein für das Spiel mit Geschichten gewinnbringendes Unterfangen sein kann, beweist Tabori in seiner Doppelfunktion als Autor und Regisseur von Texten. Häufig sind die Ergebnisse Gemeinschaftsproduktionen von ihm und dem Ensemble, die Bühnenfassung stimmt nicht zwingend mit einer Textvorlage überein und selbst nach der Premiere verändern sich Textpassagen, Szenenabläufe, manchmal selbst die Aufeinanderfolge von ganzen Sequenzen.

2.1.3 Wilson: »Das ist nicht zum Verstehen da. Das ist zum Überlegen da.« 71 Ein Theaterkritiker bescheinigt Wilson ein gespaltenes Verhältnis zum Text mit den Worten: »Wilsons Vision von einer Szene hat wenig zu tun mit deren verbaler Gestalt. Was er auf der Bühne kreiert, ähnelt den Details im Libretto umso weniger, je mehr ihm gestisch dazu einfällt« (Schreiber 1996; 13). Die Erarbeitung von sprachlichen Elementen bei Wilson ist Brooks oder Taboris textbasierter Praxis diametral entgegengesetzt. 71 | Wilson zit.n. Simhandl 1993; 93.

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Das Inszenierungskonzept kann bis ins Detail ohne Kenntnis des Texts skizziert sein, es braucht bis zum Abschluss der Bewegungschoreografie noch nicht einmal ein Text vorzuliegen. Seine Arrangements aus Raum und Zeit bedingen keine inhaltliche Bindung an ein verbales Ausdrucksmedium. Sogar die Sprechdauer selbst kann wesentliches Kriterium für die Textbausteine werden. Heiner Müller berichtet am Beispiel von Wilsons Projekt »CivilWarS« davon, dass dieser ihn bat, für eine bestimmte Stelle in der Inszenierung einen Text von einer Minute und sechs Sekunden zu produzieren, für eine andere Stelle einen Text mit einer anderen, genau festgelegten (Sprech-)Dauer (vgl. Müller 1999; 328). Die gewohnte Zentralperspektive, mit und durch den Text und dessen Interpretationen eine Inszenierung zu entwerfen, ist bei Wilsons Vorgehensweise komplett negiert. Der Text ist weder Ausgangspunkt für die Bühnenhandlung, noch stellt er in der Konzeption der Aufführung eine übergeordnete Instanz dar. Da jede Darstellung eines Texts immer auch ein Interpretationsverfahren desselben beinhaltet, ist Wilsons Vorgehen genauer zu spezifizieren: Die von ihm verwendeten Texte stehen immer in einem visuellen Kontext, wodurch er sie auf die ihm eigene Art und Weise auslegt.72 Müller merkt an, dass der Verzicht auf eine textuelle Interpretation bei Wilson nicht gleichzusetzen ist mit dem Verzicht, sich mit dem Text auseinanderzusetzen. In dieser Auseinandersetzung wird er jedoch nicht aufgebrochen, zerlegt und neu zusammengesetzt, sondern es bleibt ein Rest, ein Fremdes des Texts.73 Anstelle der psychologischen Motivation des schauspielerischen Handelns wird er als weitere Schicht nach formal-strukturellen Gesichtspunkten von Wilson auf die Bewegungschoreografie gelegt. Die semantische Ebene des Texts wird weder durch das Inszenierungskonzept noch in der Art, wie die Darsteller den Text sprechen, verdoppelt. Heiner Müller spricht dem Gebot Wilsons, den Text nicht auf seine Bedeutung zu reduzieren, eine »versetzte Kausalität« zu: Der Text spricht für sich, er

72 | Wilsons Assoziationsspiele beginnen natürlich bereits in der Auswahl der Stoffe, die bei den Zuschauern auf ein Vorwissen treffen, denn »der Mann auf der Straße weiß etwas über Einstein, etwas über Freud, Stalin; es ist wie in der griechischen Mythologie und wie zur Zeit des griechischen Theaters, als das Publikum ein bestimmtes Wissen teilte, eine Geschichte, die bereits bekannt war« (Wilson, zit.n. Simhandl 1993; 147). Das Assoziationsfeld seiner Texte ist durch diesen von (alltags)mythologischen Motiven bestimmten Rahmen weniger beliebig, als es auf den ersten Blick scheint. 73 | Speziell auf die Texte Heiner Müllers bezogen gibt Wilson folgendes Statement: »(Es) gibt keine ausschließliche Weise, Heiners Texte zu lesen, denn in einem einzigen Wort sind so viele Möglichkeiten. [...] Da ist ein unheimlicher Raum in dieser Verdichtung. [...] Die Texte können nicht interpretiert werden. Wer sie interpretiert, verweigert sich ihnen, begrenzt sie, belügt sich. Das ist nicht zum Verstehen da. Das ist zum Überlegen da« (Wilson, zit.n. Simhandl 1993; 150).

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wird nicht auf eine Bedeutung festgelegt, sondern der Zuschauer behält die Freiheit der Wahl möglicher Bedeutungen (vgl. Müller 1999; 331).74 In den Proben folgen die Spiele um Sprache erst, nachdem die Bewegungsabläufe einstudiert und weitgehend automatisiert sind. Text und Stimme werden in einer ähnlichen Strenge choreografiert, das heißt nach Klangmaterial und Lautqualität untersucht und zu einer Spracharchitektur zusammengefügt.75 Dies geschieht dadurch, dass das Sprechen nach klanglich-musikalischen Prinzipien komponiert wird: Kriterien sind der Kontrast zwischen zwei Stimmen der Akteure, das Muster der Stimme und ihr Rhythmus im Verhältnis zu anderen Rhythmen und Mustern. Auch das Sprechen ein und desselben Texts in verschiedenen Klangfarben oder von unterschiedlichen Spielern, das Aufteilen eines zusammenhängenden Texts auf mehrere Sprecher, paralleles Sprechen gleicher oder verschiedener Texte, Verzögerungen im Sprechtempo, völlige Stilisierung des gesprochenen Worts bis hin zu elektroakustischer Verfremdung und Verzerrung der Schauspielerstimmen sind typische Verfahrensweisen im Spiel mit Sprache. Eine Videosequenz zeigt Wilson in der Probe mit David Bennent. Verschiedene Regieeingaben Wilsons bringen nach und nach die gesuchte Sprechqualität hervor: »›Probier es mal so, als ob du nicht weißt, was du sagst. Als ob du diese Sprache überhaupt nicht kennst, so wie wenn ich versuchen würde, deutsch zu sprechen. Versuche nicht zu illustrieren, 74 | Müller betont hier auch die Schwierigkeit, die dies für professionelle Schauspieler impliziert, da »die darauf trainiert sind, einen Text auf die Bedeutung zu reduzieren, die mögliche andere Bedeutungen zudeckt und dem Zuschauer die Freiheit der Wahl nimmt. Theater als Freiheitsberaubung, erkennungsdienstliche Behandlung von Kunst, Theater von Polizisten für Polizisten« (vgl. Heiner Müller 1999; 331). 75 | Diese auf die Klang- und Lautqualität der Stimme gerichtete Aufmerksamkeit hat ihren Ausgangspunkt in der Zusammenarbeit Wilsons mit dem gehörlosen Raymond Andrews und dem Autisten Christopher Knowles. Für Wilson waren die Töne des Gehörlosen keine Versuche, die Sprache der Mehrheit nachzuahmen, sondern hatten einen Eigenwert, der in ihrer Struktur selbst zu suchen war. Die endlosen Wiederholungen von Wortfolgen oder Satzteilen und Repliken von Christopher und seine Wortneuschöpfungen anhand mathematisch konstruierter Ordnungsprinzipien für die einzelnen Buchstaben ließen Wilson nach der poetischen Dimension dieser Sprache suchen. So bemühte er sich, mit Christopher und Raymond in eine Kommunikation zu treten, bei der sie sich auf halbem Weg, zwischen Sprache und Laut, begegneten und in einen Austausch kamen. Er schreibt: »Chris und Raymond haben eine Verbindung mit der Sprache, die darauf hinweist, dass wir auf Laute reagieren, bevor wir die Bedeutung eines Wortes lernen. Es gibt also etwas sehr Fundamentales an der Sprache, es gibt eine Sprache, die universell ist, und das ist noch etwas, was wir in das Theater einbrachten. Im Idealfall kann dieses Theater überall von allen Menschen verstanden werden« (Wilson, zit.n. Simhandl 1993; 155).

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was du sagst.‹ [...] Wilson: ›Es ist so, wie wenn ich auf den Markt gehe und ein Brot mit Salami, Senf, Gurken und Salat möchte, ich muss es nicht ausschmücken, ich sage es einfach so.‹ [...] ›Mach es nochmal, nicht so laut, ganz ruhig, langsam, leiser, intim. Du  hast einen Ohrring und einen schwarzen klaren Stein aus Glas‹« (Wilson in Beilharz 1987; ZDF/ ORF). Diese relativ simpel anmutenden Hilfestellungen sind vor dem Hintergrund, dass David Bennent ein äußerst sprechvirtuoser Darsteller ist, zu lesen. Die artifizielle Sprechstruktur, die Wilson sucht, ist bereits vorhanden, sodass an Nuancen des Klangraums gearbeitet werden kann, die Schlichtheit in der artifiziellen Form zu entdecken ist, Nähe in der distanzierten Begegnung mit dem Text gesucht werden kann. Ihre Erfahrungen mit Wilson reflektierend zieht die Schauspielerin Isabelle Huppert ein auf die gesuchte Sprachlichkeit gerichtetes Resümee: »[...] auch unser Stück ist wie ein Satz, der irgendwo begonnen hat, wir greifen einen Abschnitt heraus, auch die Bewegung des Körpers ist nie abgeschlossen. Die Grundidee ist, dass weder Bewegung noch Wort vollendet sind. Das streben wir letztlich alle an. Der Versuch, die Bewegung des Lebens darzustellen, auch wenn das Leben Anfang und Ende hat. [...] (Wilson) geht davon aus, dass es weder Anfang noch Ende gibt. Er versucht diese Utopie umzusetzen. Es gibt für ihn nur den Augenblick. In Bezug auf die Sprache ist das schwierig, denn die Sprache ist begrenzt; anders als die Musik. Die Musik ist unbegrenzt. Aber das Wort ist beschränkt, weil es in seinem Sinn geschlossen ist. Deshalb greift er auf die Musik zurück, um sich von der Begrenztheit der Sprache zu befreien. Er versucht sie durch die Unbegrenztheit von Musik und Rhythmus zu ersetzen« (Huppert in Wilson 1993; arte). Wie sich der Einzelne ausdrückt, bevor er in das herrschende Sprechsystem aufgenommen ist, wie sich lautliche Verständigung fassen lässt bei jenen Menschen, die in das gängige Schema nicht einzupassen sind, und welche Art sprachlicher Äußerung dem Schweigen das größtmögliche Recht belässt, stehen im Mittelpunkt des Interesses von Wilsons theatralen Experimenten im Spiel um Sprache. Dabei greift er nicht, wie Brook dies unternimmt, zurück auf altertümliche Sprachen und tradierte Sprachwurzeln, sondern stellt seine Suche in den Zusammenhang mit den Möglichkeiten der technischen Manipulation. Die Verlangsamung und Verzerrung des Sprechens über Kassettenrekorder mit leer gelaufenen Batterien und die Zeitlupenwiedergabe von Videos ermöglichen es ihm, dem Stillstand der Sprache so nah wie möglich zu kommen. Solche technischen Hilfsmittel »vermitteln einen Aspekt von Kommunikation, der erst durch dessen spezifische technische Qualität erfahrbar wird. Zurückgeführt auf die Möglichkeiten des Schauspielers, entwickelt Wilson ästhetische Strukturen, die in der Aufnahme der ›technischen‹ Erfahrung diese transzendieren in eine räumlich-körperliche« (vgl. Richterich 1993;

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64). Dabei hebt er besonders das Rauschen in der Stimme hervor:76 Jede Verzögerung, jene dem Atmen näher als dem Sprechen liegenden Töne, jedes Innehalten im Wort, wie das künstlich erzeugte Stottern, werden zum Anlass des Hineinhörens in das Wesen und den Urgrund der Sprache, in ihre rudimentären Wurzeln wie ihre klangliche Kraft.

2.1.4 Zwischenstopp Vergleicht man das Hin und Her zwischen Material und Bedeutung im Spiel um Sprache, zeigt sich, dass alle drei Regisseure eine Festlegung von Lesarten aktiv vermeiden. Im Wechselverhältnis von labilen, nichtsignifikanten Prozessen und den signifikanten Textstrukturen lässt sich beobachten, dass jeweils mit unterschiedlichen Strategien der Verflüssigung gearbeitet wird, die vorschnelle Interpretationen durch die Konzentration auf den Vollzug des Sprechens außer Kraft setzen. Die Konfrontation des schriftlichen Materials mit dem szenischen Sprechereignis ist ein Hauptmerkmal dieser Prozesse. Die Pendelbewegung zwischen sinnlichen und sinnstiftenden Begegnungen mit einem Text nehmen allerdings ganz unterschiedliche Formen an, sodass die theatrale Textpraxis nicht als eine einheitliche Spielkultur gelesen werden kann, sondern auf ganz unterschiedlichen Begegnungen zwischen dem Spieler und dem Sprechmaterial aufbaut. Bei Brook ist der dramatische Text Anlass, Richtschnur und stabiles Zentrum des Probenprozesses. Dabei kann der Ausgangstext zwar in einem pragmatischen Vorgehen an den Spieler und dessen Sprachlichkeit angepasst und verfeinert werden, sein Eigenwert bleibt aber unbeschädigt und ist absolute Instanz, konstitutive Regel für das Spiel. Tabori hingegen spielt mit der Ignoranz gegenüber dem Text. Er dient der Situation, die ihn mal hierhin und mal dorthin verfrachtet. Der Text wird in unterschiedlichste Konstellationen gedreht, bis er allmählich einen Platz im Spiel findet und besetzt. Je deutlicher der Spieler die Konstruktionsprinzipien seines Handelns in ein Zusammenspiel mit dem Text bringt, desto passfertiger kann dessen Bedeutung für ein übergeordnetes Spielsystem, für eine Darstellungsidee werden. Demgegenüber versucht Wilsons Spiel um Sprache den Text in seiner erratischen Gestalt zu belassen. Die Akteure können sich dieser nur in der Wahrung eines Abstands nähern. Das 76 | Ivan Nagel hebt den dadurch erzeugten Widerstand hervor; er schreibt bezogen auf die Sprachverwendung Wilsons: »Gegen Wilsons andere Bühnenzeit extremer Dehnung, Verlangsamung steht: das Toben eines Nein, das Konvulsivische« (Heinrichs/Nagel 1996; 204). Diesem Aufbegehren gegenüber steht die Einordnung des Sprachkonzepts Wilsons durch Peter Simhandl, der die häufig vom Aussagewert banalen Sätze in Wilsons Theater versteht als »nur mehr [...] ein(en) Geräuschteppich, zu dem unsere sprachliche Alltagskommunikation weithin verkommen ist« (Simhandl 1993; 152). Beide jedoch schließen aus ihren Interpretationen auf ein Verstehen des Texts, das nur jenseits der alltäglichen Rationalität möglich ist.

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Umkreisen des Texts aus dieser Distanz heraus erlaubt ihm eine nüchterne Erkundung seiner Klanglichkeit. Gelingt diese Relation zwischen Spieler und Text, können Stellungen und Stellungnahme immer wieder wechseln. Der Darsteller bespielt und umspielt die Textgestalt in seiner lautlichen Struktur und Qualität, aus der heraus neue Bedeutungsspielräume erschlossen werden können. Die Textpraxis Brooks will das vom Autor fixierte, geschriebene Wort über einen Prozess der Musikalisierung neu zum Klingen bringen, die inhaltliche Tiefe sprachlich verwurzeln. Die Durchdringung des Texts mithilfe von Sounds, Rhythmisierung und Singen auf der einen Seite wird auf der anderen Seite durch das wiederholte Lesen ständig neu mit dessen symbolischem Gehalt konfrontiert. Der gesprochene Text wird immer wieder infrage gestellt, Sprache wird als Vorgang und Ausdruck innerhalb eines sinnstiftenden Prozesses vom Spieler erforscht. Paradoxerweise, so scheint es, impliziert die Bewegung fort von der Bedeutung eines Texts die Annäherung an ihn auf einer tieferen Ebene. Das Entdecken der Bedeutung vollzieht sich dabei nicht als Suche nach einer bestimmten emotionalen Erfahrung der Akteure, sondern in dem Versuch, den sozialen Gehalt, den Inhalt und das Thema aufzuspüren und dies dem Zuschauer zugänglich zu machen. Brooks Spiele um Sprache führen zu einer konzentrierten Essenz aus Buchstabe, Klang und Laut. Das anhaltende Umkreisen des Prozesses der Transformation von Text in Sprache wird durch die konfrontative Reibung zwischen Lesen und Singen, Text und Klang provoziert und weitergetrieben, bis Hingabe und Vertrauen des Spielers in den Text ein wechselseitiges Ineinander-Aufgehen erlauben. Dabei löst der Text als bewusstseinserweiternde Substanz anfangs eine Vernebelung der Sinne aus, entzieht sich der Indienst- und Besitznahme ebenso wie der Lotsenfunktion für eine Lesart seines Bedeutungsspielraums. In diesem Hin und Her erfahren Spieler und Text ihr spielhabendes Kräfteverhältnis. Durch jeden weiteren Schritt ins Ungewisse der hinter den Buchstaben verborgenen Klangqualitäten der Sprache werden Spieler und Text zum Kippbild performativer und semiotischer Prozesse, die immer deutlicher aufeinander angewiesen sind und im gemeinsamen Spiel auf etwas Drittes, das verborgene Potenzial des Texts, verweisen. Respekt und Anerkennung des ungeheuren Universums, das in der Sprache großer dramatischer Literatur geborgen liegt und von keiner Interpretation eingefangen, sondern nur sprechend erahnt und kommuniziert werden kann, eint Tabori und Brook. Im Unterschied zu Brook sind die Spiele um Sprache bei Tabori nicht darauf ausgerichtet, Textbedeutung und -resonanzen über eine Freilegung der Klangstrukturen zu erobern, sondern sie gelten dem Erkunden des Potenzials von Text durch geradezu unorthodoxe Vorgehensweisen. Die Suche nach möglichst vielen unterschiedlichen Facetten und Variationen von Bedeutungsspielräumen im Sprechen wird provoziert anhand der andauernden Verschiebung des Texts in andere situationale Kontexte. Was bei Brook teilweise zähes,

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mühsames Eindringen in den Widerstand der Sprache ist, wird bei Tabori zu einer fast schon gedankenlosen Beliebigkeit, die den Text szenisch umkreist und dessen Bedeutungspotenzial sozusagen hinterrücks einfängt. Das Spiel um Sprache durch das Spiel mit Subtexten wird bei Tabori über lange Zeit stets aufs Neue herausgefordert, ohne dass ein Ergebnis des experimentellen Probierens festgehalten und für die Inszenierung beschlossen wird. Immer wieder neue Konstellationen spuren dieser Suche einen Weg, in der ambivalente Sinngebungen möglich werden, bis der Text einen überzeugenden und überraschend neuen Inhalt erahnen lässt. Bei Tabori gleichen die Spiele mit dem Text einer Jonglage zwischen Spieler, Text und Situation. Der Subtext wird zur Zentrifugalkraft, die das Wechselverhältnis der drei Komponenten in Bewegung setzt. Eine Suche nach spielstarken Subtexten löst das Hin und Her der Bewegung aus, die Vermeidung fixer Subtexte sichert das Spielhaben der Kräfte bis hinein in den Aufführungskontext. Vergleicht man die Textpraxis Brooks mit den Spielen um Sprache bei Wilson, fällt auf, dass beide in der Suche darauf abzielen, den Klangraum und die Klangqualität von Texten aufzuwerten. Sie thematisieren den musikalischen Gehalt und bevorzugen streng vorgeformte Textpartituren. Die Dekompositionsverfahren der beiden Regisseure verlaufen allerdings sehr konträr: Während Brook die Schauspieler behutsam abtasten lässt, wie sie in die Klangstruktur eindringen und allmählich tiefer vorstoßen können, setzt Wilson zu Beginn ganz auf Distanznahme. Er entsinnlicht und entpersonalisiert den Text bis hin zur Sprechschablone, um Sprachraum und Sprechinhalt neu ineinanderzufügen. So bleibt bei Wilson der Textkörper als Einheit im Probenprozess erhalten, bleibt als Fremdes mit einem Eigenleben unangetastet und wird nach rein musikalischen Kriterien wie Klang und Rhythmus strukturiert und gestaltet. In der Konsequenz entfernt sich der Text vom Sprecher, das aussagende Subjekt und die Aussage verschwistern sich nicht in einer identifizierbaren Situation, sodass der Text eine weitgehend autonome narrative Gestalt bekommt, eine kompositorischen Gesetzen unterworfene Figur im Zusammenspiel mit Körper, Raum und Zeit wird. Der Text wird dabei wie ein Körper behandelt, der nach formalen Gesichtspunkten geformt werden kann, ohne dass Bewegung und Text sich gegenseitig bedingen oder kausal-logisch hervorbringen. Nicht der Dialog in Form eines sinnfälligen Verstehens zwischen den Figuren wird errichtet, sondern die Materialität der Sprache wird mitkommuniziert. Wilson treibt den Text in ein Spiel mit den Kräften, das ein Kräftemessen zwischen der Autonomie des Texts und der Souveränität des Sprechers hervorbringt. Ein Hin und Her im Ringen um die Vormachtstellung baut den Text als Klangbild auf. Die Balance innerer und äußerer Bilder, die Text und Sprecher in diesem Wettstreit generieren, erzeugt das Oszillieren schillernder Bedeutungsräume, konstruiert und dekonstruiert Sinn und Sinnlichkeit von Sprache. Bezwingt der Spieler den Text, kann er ihm Spiel geben, Höhen und Abgründe ausloten.

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Versucht man zu skizzieren, wie neben den sachlichen und methodischen Analyseschritten die Person des Regisseurs Reibung und Widerstand erzeugt, ist für die Spiele um Sprache ein sehr unterschiedliches persönliches Verhältnis zwischen dem Text und seiner Praxis im Spiel zu beobachten. Brook zwingt den Spieler zum Text, wenn der diesen fast vergessen hat. Ist er am Text, treibt er ihn zurück zum Klang. Von dort aus zurück zum Text. Zur  Musikalität. Zum Sinn. Er spielt eine geduldige, hartnäckige Treibjagd zwischen Spieler, Text und Klang. Tabori lässt den Text in Ruhe und ermuntert den Spieler zum Spiel mit Situation. Hört zu, lässt laufen. Wilson bändigt den Text. Erst in der Zeit, die er ihm zugesteht, dann in der Vertonung, die er ihm abverlangt. Er selbst macht den Text, stellt ihn her und überwacht ihn. Allen dreien gemein ist, dass sie sich hörend auf die jeweiligen Texte einlassen, sie erst durch den sprechenden Schauspieler erkennen und entdecken wollen. Die eigene Auseinandersetzung mit den Inhalten und Bedeutungsspielräumen wird weder auf den Schauspieler übertragen, sodass dieser einem funktionalen Textkonzept folgen kann, noch wird der Text seitens der Regisseure ›vorgeführt‹: Gleich, welche Visionen sie von seiner Klanglichkeit haben, sie nehmen ihn selbst nicht vorweg, sprechen niemals vor und wahren eine Distanz, aus der heraus Hören und Erkennen von Textqualitäten unvorhergesehene Überraschungen zulassen.

2.2 Spiele um Körper Ausgehend von der grundsätzlichen Heteronomie des Körpers wird nach dem Wechselverhältnis von sozialem und physischem Körper in theatralen Probenprozessen gefragt. Wie körperliche Praxis entlang dieser Schnittstelle für einen Austausch von Bedeutungsgehalten produktiv gemacht wird und wie die Zeichenhaftigkeit des Materials mit der unmittelbaren, rohen Körperlichkeit in ein Spannungsgefüge gebracht wird, ist in den einzelnen Unterkapiteln am Beispiel von Robert Wilson (Kapitel V.2.2.1), Peter Brook (Kapitel V.2.2.2) und George Tabori (Kapitel V.2.2.3) nachzuweisen. Aufgezeigt werden soll, wie der Prozess von einem alltäglichen Bewegungsvokabular hin zu einer perzeptiven Multistabilität des Körpers in der theatralen Praxis beschritten wird und welchen Regelmäßigkeiten die drei Verfahrensweisen folgen.

2.2.1 Wilson: »This is too realistic. We have to make it more dreamy« 77 »Stop all that jumping around this minute«, befiehlt Wilson den sich auf eine Probe vorbereitenden Schauspielern und fordert sie auf, sich eine ruhige Ecke zu suchen, um sich dort in der Meditation auf die kommende Arbeit zu konzentrieren (vgl. Holmberg 1996; 148). Das körperliche 77 | Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 153.

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Training Wilsons beginnt im Kopf. In seiner Inszenierungsarbeit sind Bewegungsabläufe schon vor Probenbeginn sekundengenau von ihm vorausgeplant, Gesten und proxemische Konstellationen in den visual books festgehalten. Ihnen im Körper Raum zu geben, das grafische Skript exakt zu übersetzen und die Zeichenhaftigkeit minutiös mit dem eigenen Leib nachzubilden ist Hauptaugenmerk in den Spielen um Körper und erfordert die Konzentration auf einen figuralen, vom subjektiven Körperimpuls gelösten Gestaltungsprozess. In den Proben stehen die Akteure beispielsweise vor der Aufgabe, in genau vier Sekunden den Kopf zu drehen, in zwölf Sekunden den Arm zu heben und in sieben Sekunden drei Schritte in eine bestimmte Richtung zu gehen. Die körperlichen Abläufe sind unter formal-artistischen Gesichtspunkten relativ einfach: Die Schauspieler »gehen über die Bühne, sie bleiben stehen oder setzen sich, sie sitzen unbeweglich auf einem Stuhl oder hängen an einem Tau vom Schnürboden herab; sie heben eine Hand, einen Arm, ein Bein und/oder verziehen ihr Gesicht zu einem Lächeln« (Fischer-Lichte 1997; 215). Die Schwierigkeit liegt darin, diese Bewegungen genau in den von Wilson vorgesehenen rhythmischen und geometrischen Patterns zu realisieren. Trotz einfacher Grundpositionen des Körpers verlaufen sie entgegengesetzt zu alltäglichen Handlungsabläufen. Das zielgerichtete Bewegungsverhalten, zum Beispiel das ›Auf-eine-Kiste-Zulaufen‹, wird in seiner Selbstverständlichkeit durchkreuzt, indem die Qualität jedes einzelnen Schritts entscheidender ist als das Erreichen der Kiste.78 78 | Christel Weiler beschreibt diese Ambivalenz der Bewegung an einer Szene aus den »Knee Plays«: »Einer Photographie nachgebildet, sind in der rechten hinteren Bühnenhälfte zwei Korbständer zu sehen, die in der Mitte durch eine Stange verbunden sind. Die Haltung des Mannes, der sich mit dem Rücken zum Publikum zwischen den Korbständern befindet, ist ambivalent. Es ist unklar, ob er gerade im Begriff ist, die Last aufzunehmen oder abzusetzen. Sein Rücken ist leicht gebeugt, das Holz der Stange berührt noch/schon seinen Nacken, seine Hände noch/schon die Stange. Diese dynamische Haltung währt einige Sekunden, bis sich die Hände allmählich weiter vom Holz entfernen, die Arme nach unten sinken, der Rücken noch etwas tiefer geht, der Abstand zwischen Nacken und Holz sich vergrößert, eine Gegenbewegung nach oben erfolgt und der Mann steht. Seine Beine sind leicht gespreizt, die Arme hängen nach unten. Er dreht sich um, Blickrichtung geradeaus. Pause. Er hebt den rechten Arm, beugt ihn parallel zur Stange, legt ihn fast ab, hebt den linken Arm, beugt den Ellenbogen, so dass die Hand/die Fingerspitzen fast seine Nase berühren (er könnte sich jetzt an die Nase fassen, tut es aber nicht; er könnte sich aufstützen, tut es aber nicht; die Ambivalenz ist stets gegenwärtig). Pause. Er bewegt beide Arme auseinander, packt mit den Händen die Stange [...], richtet das vordere Stangenende nach oben, sein Blick folgt dieser Richtung. Pause. (Jetzt sieht es so aus, als wolle er einen Speer werfen.) Mit schnellen, zweimal durch kurzen Stillstand unterbrochenen Schritten bewegt er sich in einer Diagonalen nach links vorne, steht. (Seine Füße sind etwa schulterbreit voneinander entfernt, das rechte Knie ist leicht gebeugt,

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Die Gleichwertigkeit jeder Einzelbewegung erlaubt kein zielgerichtetes, logisches ›um zu‹ des Vorgangs, sondern durchbricht die alltägliche Verhaltenslogik. Der Körper wird Anknüpfungspunkt für die Entdeckung des in der Bewegung aufgehobenen Unbewussten. Die Korrespondenz von physischer und geistiger Aktivität, die hinter Wilsons choreografischer Struktur verborgen liegt, wird in seiner Probenarbeit kontrolliert, indem Bedeutung, Erzählung, Geschichte in den Hintergrund treten und der Schauspieler gefordert wird, »ohne Absicht klare Handlungen sichtbar werden zu lassen« (vgl. Weiler 1994; 37). Bei Wilsons Theaterprojekten wird die Frage, wer sich wohin und von wem weg bewegt, so zentral, dass häufig Spielern mit einer tänzerischen Ausbildung seine Vorgehensweise, Wege und Drehungen des Körpers genau festzulegen, einfacher zugänglich und vertrauter ist als ausgebildeten Schauspielern. Otto Sander berichtet von dieser genauen Bewegungsanalyse in Wilsons Proben rückblickend: »Er hat Vorgänge, Bewegungsabläufe einfach auseinandergenommen und einfach überkehrt, so dass sie mehr sichtbar wurden als  gewöhnlich. Es wurden zum Beispiel Bewegungen so analysiert, wie ich es nie vorher erlebt habe. Jeder Fuß, jede Hand, jeder kleine Finger, Gesicht, Kopfdrehungen, Augenaufschlag [...]. Das ist kein Guru. Das ist ein absoluter Mathematiker und Macher« (Sander, zit.n. Böhm/Shareghi 1996; 9ff.). Die Ausdauer, mit der an einzelnen kleinen Bewegungssequenzen gearbeitet wird, Holmberg berichtet von bis zu vier Stunden, um das Schnippen eines Fingers oder das Aufrichten des Kopfs einzustudieren, fordert eine Disziplin des Darstellers, die mit der Mechanisierung des Körpers einhergeht, ihm andererseits aber durch die feste vorgegebene Struktur die Freiheit gibt, sich ganz auf den eigenen Bewegungsvorgang zu konzentrieren. Nach und nach verbindet Wilson die mathematischen Spiele um Körper mit Vorstellungsbildern, die im Innenraum des Akteurs Sinn generierend wirken können. Thomas  Derrah, der immer wieder an Inszenierungen beteiligt war, berichtet: »[...] in the past he just talked about choreography, the angel of your fingers, and how much space you have to leave between your arms and your body. Now he’s more interested in exploring what an actor has in his tool chest, and, especially in note sessions, he now investigates subtexts and emotions« (Derrah, zit.n. Holmberg 1996; 28). Bewegungsimpulse werden auf diesem Weg mehr und das linke Bein gestreckt, die Stange befindet sich diagonal vor dem Körper.) Er lässt die Stange hinten ein wenig sinken, so dass ihr Ende den Boden berührt. Langsam beugt er sich nach unten, seine frei gewordene linke Hand nähert sich dem Boden, Zeigefinger und Daumen scheinen einen Gegenstand aufzuheben. Ebenso langsam richtet er sich auf, hebt den angewinkelten Arm, so dass sich die Hand etwa dreißig Zentimeter entfernt vom Gesicht in Augenhöhe befindet. Sein Blick ist auf Daumen und Zeigefinger gerichtet. In dieser ›betrachtenden‹ Haltung (die gleichzeitig Bereitschaft zum Weitergehen signalisiert) verweilt er bis zum Ende der Szene [...]« (Weiler 1994; 80).

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mehr in einen imaginativen Kontext der Spieler eingebettet, ohne dass der Körper im Zuge dessen die Architektur der geometrischen Raumkonstellationen sprengt. Sieht man die wenigen Probensequenzen, die in Videodokumentationen öffentlich zugänglich sind, fällt auf, wie bei aller Exaktheit der Bewegungen mit der Vorstellungskraft gearbeitet wird, Bewegung und Imagination ineinandergreifend angesprochen werden. In der Probe zur Schauspielversion von »Alkestis« beispielsweise sieht man Wilson mit der Schauspielerin Anne Bennent. Er begleitet eine Bewegungspassage, indem er teilweise vorführt, wie er sich die Bewegung vorstellt, im nächsten Augenblick aber schon wieder ihre Bewegungsversion mit seinem eigenen Körper kopiert, kleine vorsichtige Veränderungsvorschläge macht. Er ist dabei häufig direkt an der Seite der Akteurin, hilft bei einzelnen Momenten, indem er ihren Körper vorsichtig in die richtigen Positionen bringt und während des Bewegungsvollzugs immer wieder korrigiert. Betrachtet er die Spielerin mit etwas Abstand, unterbricht er schnell, wenn an der Bewegungsqualität gearbeitet werden soll: »Vielleicht kannst du den Schritt von hier aus nehmen und dann diese Bewegung mit der Hand ausführen, das ist dieser Geier, jetzt wirst du ins Licht gezogen, es ist fast wie fliegen, emporsteigen, ins Licht gezogen werden wie ein Insekt« (Wilson in Beilharz 1987; ZDF/ORF). Mit einer anderen Darstellerin, die in der Operninszenierung von »Alceste« mitwirkt,79 wird gezeigt, wie er neben ihr herläuft, ihre Fingerhaltung korrigiert, die neu entstandene selbst nachahmt, um daraufhin etwas an ihrer Finger- und Armhaltung zu verändern. Dies geht so lange, bis der Winkel, mit dem sie den kleinen Finger von der Hand abspreizt, bestimmt ist und die Art, wie die Hand vor dem Gesicht nach oben geführt wird und in welcher Höhe sie genau gehalten wird, festgelegt ist. Wilson erläutert zwischendurch das Zusammenspiel mit dem Licht, das einen Schattenwurf auf eine bestimmte Stelle im Gesicht der Sängerin erzeugen soll, wozu die exakte Handführung wichtig ist. Sie soll und kann später, so seine Erläuterung, bewusst und gezielt mit dieser Wirkung spielen, ohne dass ihr gesamtes Gesicht ins Dunkel eintaucht (vgl. ebd.). Dieses Hin und Her von beidseitigem Beobachten und Kopieren dauert jeweils an, bis ein erkennbarer Fortschritt eintritt oder die Konzentration automatisch auf ein neues Bewegungselement fällt. Auffallend ist, wie unterschiedlich Wilson auf die beiden Darstellerinnen eingeht und wie die Suchstrategien individuell angepasst werden. Kennzeichnend bleibt in beiden Sequenzen die verkörpernde Übernahme bestimmter Bewegungsmuster, die ein sichtbar wechselseitiger Prozess ist: Wilson schlüpft in die Bewegungsform der Darstellerin, transformiert sie und gibt sie zurück, die Akteurin greift seinen Bewegungsvorschlag auf, passt ihren Körper entsprechend an und generiert gleichzeitig, allein schon durch den Unter79 | Beide Inszenierungen wurden 1986/87 am Staatstheater Stuttgart erarbeitet und gezeigt.

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schied in der Physis, einen eigenen Weg der Bewegungsführung. Holpert es zwischendurch in der Probe, beispielsweise, wenn der körperliche Widerstand für eine Position die vorgezeichnete Lösung verhindert, werden Wege ersonnen, wie man mit diesen ungehorsamen Anteilen des Körpers in eine produktive Gestaltgebung findet. Frappant ist in beiden Probensituationen die äußerst ruhige und geduldige Haltung Wilsons in der Zusammenarbeit mit den Spielerinnen. Die Dichte, die zwischen Wilson und der jeweiligen Darstellerin erzeugt wird, ist nicht allein an der räumlichen Konstellation unmittelbarer Nähe erkennbar, sondern findet eine Fortsetzung in der uneingeschränkten Aufmerksamkeit für die Spielerin, die in der gespiegelten Beobachtung der Bewegung und der agierenden Person kulminiert. Das sensible Austauschen von Wahrnehmungen durch körperliche Reaktionen wird zu einem Spiel, bei dem immer wieder Momente der Anverwandlung in den Körper des Anderen eine Suche einleiten, in der Körpergewohnheiten unterlaufen werden, bis an den Punkt, wo die Bewegung selbstständig wird, den Spieler anführt und ihn aus dem Korsett bekannter Bewegungsmuster befreit.80 Wilson lässt die Bewegungen der Akteure teilweise durch Imitation von ihm oder anderen abnehmen, häufig gibt er aber Imaginationen als Hilfsmittel: die Vorstellung, mit der Hand sanft einer Schneeflocke zu folgen, mit einer Pistole das Publikum zu ermorden, und ähnliche Angebote ergänzen die abstrakten Vorgaben von Raummetern, Winkeln und Sekunden. Die Spieler sind frei, jedweden Subtext zu verwenden, solange die absolute Konzentration auf das vorgegebene Gestenvokabular gewahrt bleibt. Emotionale Anteilnahme an der Bewegung wird dabei nicht für einen Betrachter, Mitspieler oder ein Publikum gespiegelt, sondern bleibt als eigener, subjektiver Tiefengrund hinter der Körpermaske verborgen. 80 | In einer arte-Dokumentation sieht man Wilson mit einer Gruppe arbeiten. Er unterbricht einen szenischen Versuch mit dem Kommentar: »Uns ist der Sinn für die Gefahr verloren gegangen. Wir haben das Gefühl verloren, dass eine falsche Bewegung jederzeit Folgen haben kann, jederzeit. Es kommt darauf an, wie man zuhört, da ist noch zu wenig Spannung im Körper« (Wilson 1993; arte). Die Bedeutungsräume, die er in den choreografischen Kompositionen anlegt, werden der Akteurin durch das Zusammenspiel von Körper, Licht und Musik kenntlich gemacht: »Gut. Beweg sie [die Hand; ms]. So ist es richtig. Und das Licht fällt ganz auf dich. Es fällt fünf Sekunden lang auf dich. Musik.« Wilson unterbricht und geht zur Darstellerin, er hockt sich in die gleiche Position wie sie und zeigt ihr eine Bewegung, erläutert, erklärt, man sieht kleine Bewegungen bei ihm und dann plötzlich eine Veränderung zu großen, schnellen Greifbewegungen. Wilson probt die Sequenz ohne Musik und spricht nur den Cue ein: »Musik. Okay, nicht stehen bleiben. Die Musik geht drinnen weiter. Bau sie mit der Gestik auf. Okay. Geh zurück. Geh. Musik aufbauen, bau die Musik auf, keinen Text, Musikaufbau. Nein, nicht sprechen. Musikaufbau. Mit der Faust beginnst du die Musik aufzubauen, bis die Hand an deinem Kopf ist. Bau es auf, bau es auf« (ebd.).

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»Your walk is your character«, erklärt er dem Darsteller in der Probe. »How does Kent walk? Find the character through the walk. The others will be quick, but you must enter slowly. Walk in backwards. This must be a strange moment. You’re entering a different space. [...] Now put your hand up to your face. [...] Keep the pain inside. Less exterior emotion, more interior. Don’t project an emotion to the audience. Reflect it to yourself« (Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 148). Die mit dieser Vorgehensweise verbundene Bedingung der absoluten Konzentration auf den eigenen Körper öffnet den Raum für einen Dialog des Spielers mit diesem, mit sich. Er ist in einem Dialog mit seinem gestischen Vokabular und den korrespondierenden Bewegungen im Innenraum des Körpers, die übereinandergeschichtet werden und dennoch eine Distanz zwischen Physis und Imagination aufrechterhalten, sie bewusst aufeinander zuführen. Wilson weiß, dass seine Verfahrensweise bei den meisten Darstellern anfangs auf Widerstand stößt. Dennoch oder gerade deshalb hält er an der rigiden Praxis fest: »I start all works silently. If I am doing the ›Ring‹ of Wagner, it drives the singers absolutely mad, that I say, ›No music, nothing. We do the movement first.‹ They have never done this because they are singers. They want to sing. But we do the movements first and we see what it is and what these relationships are. Then I go back and I put the music on« (vgl. www.robertwilson.com). Wird er gebeten, seine Vorgehensweise zu erläutern, reduziert er Bewegung auf ihr Minimum und macht sein mikroskopisches Prinzip deutlich: »Alles ist Bewegung. Stillstand gibt es nicht. Wenn man sich ganz ruhig verhält, spürt man eine Bewegung mehr, als wenn man sich heftig bewegt, selbst in der Ruhe liegt Bewegung. (Er  demonstriert vermeintliche Bewegungslosigkeit.) Wenn man eine Hand bewegt, folgt man einer vorgegebenen Linie. Wenn man sich dieser kontinuierlichen Linie nicht bewusst ist und bewegt dann die Hand, zerstört man die Linie« (Wilson 1993; arte). Ein solches an geometrischen Strukturen angelehntes Spielprinzip ist für ihn im Unterschied zum psychologisch-naturalistischen Theater aufrichtiger, da es seiner Ansicht nach ein freieres Denken ermöglicht, denn »Denken findet nicht nur im Kopf und mit dem Verstand statt, es ist eine körperliche Erfahrung. Denken besteht ausschließlich im Gleichgewicht von Geist und Körper. Die psychologische Herangehensweise funktioniert nur, wenn sie nicht zu einer fixen Idee und damit zu einer Sackgasse wird« (Wilson, zit.n. Keller 1997; 106). Obwohl Wilson das Theater als einen Illusionsapparat nutzt und die Zuschauer in surreale Wirklichkeiten entführt, verzichtet er in den Prozessen des Produzierens auf eine Vermittlung einer konkreten Vorstellungswelt. Er lenkt die Aufmerksamkeit der Spieler auf den Körper als Bewegungsinstrument und justiert die Konzentration entlang der Vorgänge, die in den parallelen Spielen von Licht, Musik und Raum ablaufen.

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2.2.2 Brook: »die neue Bewegung gehört Ihnen, und Sie gehören ihr« 81 »Will man einem Schauspieler seinen Körper bewusst machen, sollte man ihm ein Stück weißes Papier vors Gesicht halten und sagen: ›Jetzt schau dich um!‹, statt ihm zu erklären: ›Du hast einen Körper und musst dir seiner bewusst sein‹« (Brook 1989; 296). Diese schlichte Bemerkung äußert Peter Brook im Zusammenhang mit der Arbeit an Masken. Masken bringen sowohl eine Botschaft nach innen als auch eine nach außen, denn der Maskenträger verändert sich unter der Maske, wie auch die Maske sich verändert, da sie bei jedem Träger einen neuen Ausdruck annimmt. Brook vergleicht die Arbeit am und mit dem Körper mit diesem zweigleisigen Mechanismus. Am Übungsbeispiel illustriert Brook in seinem Buch »Das offene Geheimnis« diesen Sachverhalt, indem er den Leser bittet, den rechten Arm einer beliebigen Bewegung folgen zu lassen. »Jetzt halten Sie die Bewegung an, genau so, wie der Arm ist, verändern oder verbessern Sie sie nicht, versuchen Sie nur zu fühlen, was Sie gerade ausdrücken.« Der Leser soll erkennen, dass seine Körperhaltung einen Eindruck vermittelt, denn »nichts ist neutral«. In der Wiederholung der Aufgabe steht am Ende eine andere Wahrnehmungsreflexion: »Jetzt bleiben Sie, wie Sie gerade sind, und versuchen Sie, ohne die Stellung zu verändern, eine Beziehung zwischen der Hand, dem Arm, der Schulter bis hinauf zu den Augenmuskeln zu spüren. Erfühlen Sie, dass alles eine Bedeutung hat. Jetzt gestatten Sie der Geste, sich zu entwickeln, sich zu vervollkommnen durch eine minimale Bewegung, eine kleine Anpassung. Spüren Sie, dass sich mit dieser winzigen Veränderung etwas in Ihrem ganzen Körper verwandelt hat, Ihre gesamte Haltung wird einheitlicher und ausdrucksstärker« (vgl. Brook 1994; 98ff.). An diesem Exempel soll deutlich werden, dass der Körper jederzeit Ausdrucksereignisse produziert, die in der alltäglichen Praxis allerdings meist unbewusst und unreflektiert bleiben. Im Schauspiel muss der körperliche Ausdruck gezielt eingesetzt werden, damit die Zuschauer mehr als nur einen diffusen Eindruck von körperlichen Darstellungen gewinnen können. Zur Verdeutlichung bietet Brook ein zweites Experiment an, das in seiner Ähnlichkeit den fundamentalen Unterschied ungeführter und geführter Bewegung zeigen soll. Er weist den Leser zu Folgendem an: »Anstatt eine Bewegung zu machen, die Ihre eigene ist, führen Sie aus, was ich Ihnen vorschreibe: Halten Sie Ihre Hand offen ausgestreckt vor sich, die Handfläche nach unten. Sie tun dies nicht, weil Sie das Gefühl haben, Sie wollen es, sondern weil ich Sie dazu auffordere, und Sie sind bereit, mir zu folgen, ohne zu wissen, wohin dies führen wird. Herzlich willkommen beim Gegenteil von Improvisation: Vorhin haben Sie eine Bewegung eigener Wahl gemacht, jetzt führen Sie eine aus, die Ihnen vorgeschrieben wurde. Akzeptieren Sie dies, ohne sich intellektuell-analytisch zu fragen: ›Was bedeutet das?‹, sonst bleiben Sie ›draußen‹. Ver81 | Brook 1994; 100.

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suchen Sie zu erfühlen, was es in Ihnen auslöst. Ihnen wird etwas von außen vorgegeben, das sich von der freien Bewegung unterscheidet, die Sie zuvor gemacht haben, und doch ist es dasselbe, wenn Sie es völlig annehmen, die neue Bewegung gehört Ihnen, und Sie gehören ihr« (ebd.; 100). Das Beispiel kann natürlich noch weitergeführt werden, sodass das Experimentieren und Verändern einer vorgegebenen Bewegung in eine Richtung führen, die im Ergebnis ähnlich ist wie der freie, improvisierte Bewegungsfluss durch eine formalisierte Bewegung hindurch. Beide Verfahren zielen letztlich darauf ab, sich des eigenen Körpers anhand von Bewegung bewusst zu werden, ohne dabei schon etwas Bestimmtes bedeuten zu wollen. Die Bewegungen sind und reflektieren das Verhältnis zum eigenen Körper, lösen ein Pendeln zwischen dem Haben und dem Sein des Körpers aus. Deutlich wird das Oszillieren der Bewegungspraxis in der Art, wie Brook in seinen Projekten mit dem Erwerb neuer Körpertechniken umgeht. Anhand der Technik des Kung-Fu und der Kunst des Bogenschießens erläutert Yoshi Oida ein Vorhaben, dass den Darstellern angepasst und erst über einen Umweg eingelöst werden konnte. Während der Inszenierungsarbeit zu Mahabharata, dem indischen Heldenepos, mussten die Schauspieler es zuwege bringen, sich physisch als Krieger zu präsentieren (vgl. Oida 1992; 236). Es wurde also ein Lehrer angeheuert, um die Spieler in Kung-Fu, einer dem Ursprung nach indischen Kampfsportart, zu unterweisen. Das Alter der Schauspieler bzw. ihre Knochen und Muskeln waren den Techniken des Kung-Fu nicht gewachsen, »es gab Muskelrisse, verrenkte Kniegelenke und beschädigte Bänder« (vgl. ebd.), sodass sich diese Technik als unbrauchbar erwies. Das japanische Bogenschießen stellte eine geeignete Alternative dar. Nachdem die Gruppe diese Bewegungstechnik erlernt hatte, arbeitete sie an der dazugehörigen inneren Konzentration, welche die Kunst der Technik erst hervorbringt. Im weiteren Verlauf wird aus dem Studium der exakten Bewegungsform ein theatraler Ausdruck gestaltet. In die Inszenierung fließen dann sowohl die reale Bewegung in theatraler Form als auch die abgewandelten äußeren Aktionen, die in der körperlichen Auseinandersetzung mit der Technik entwickelt wurden, ein (vgl. ebd.; 236f.). In Brooks Probenpraxis ist ein sehr konkretes Spiel mit den eigenen, spontanen Körperimpulsen Teil des Prozesses. In einem Probenbericht von Michel Rostain wird deutlich, wie das Training verlaufen kann. Der Opernsänger Rostain beschreibt den spielerischen Beginn der ersten Probe: »Dabei versammeln sich alle im Kreis. Ziel ist es, den Kreis mit Leben zu füllen und jeden Einzelnen empfindsam und aufmerksam für seine eigene Existenz werden zu lassen und kollektive Rhythmen zu schaffen. Alles beruht auf der Aufnahmefähigkeit und der Lebhaftigkeit der Reaktionen. Im Kreis werden Gesten von einem zum anderen fortgetragen. Eine Geste kommt von links, ich gebe sie nach rechts weiter. Dann eine andere. Rhythmen und Laute kommen hinzu, die mehr und mehr in beide Richtungen kreisen. Manchmal verschieben sich Handlungen inein-

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ander, und Gedränge entsteht. Es gelingt uns nicht, das Leben des Kreises zu erhalten, unsere Offenheit gegenüber dem, was von rechts und links kommt, ist nicht sehr groß. Das Ganze wird unterbrochen. Jemand stellt Fragen. Eine Regel wird vorgeschlagen: zuerst etwas tun, im Spiel ausprobieren, danach wird diskutiert. Das Ziel ist, den richtigen Rhythmus dieses Kreises zu finden und den Kontakt und die Aufnahmefähigkeit, die dabei sind, sich zu entwickeln, nicht zu zerstören« (Rostain 2005; 135f.). Am Ende der Probenzeit resümiert er seine Erfahrungen anhand der körperbasierten Spielentwicklung: »[...] in den Proben überwiegt das enorme Vertrauen in die lebendige Erfindungskraft des Körpers. Sämtliche Übungen, die Arbeitsrhythmen, die Art, jede neue Arbeitsphase anzugehen, zu improvisieren, die Szene zu fixieren, dann innerhalb des vorgegebenen Rahmens Neues hervorzubringen – alles ist konzentriert auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen und nach Leben. Es geht darum, den Schauspieler in den Stand zu versetzen, das Leben eines jeden Augenblicks zu entfalten, zu erfinden, zu nähren. Geht es dabei um die Abschaffung des Regisseurs? Es geht vor allem um diesen großartigen Appell an Schauspieler, an Sänger. Aber hinter diesem Appell steht der, den man ›Regisseur‹ nennt, der etwas Eigenes mitbringt: eine Arbeitsführung, einen Forschungsstil, Theatertechniken« (Rostain 2005; 146). Neben regelmäßig durchgeführten vorbereitenden Übungen gibt es im gesamten Probenverlauf Aufgaben, die der szenischen Entwicklung zuträglich sind. Nach einem entspannten und spielerischen Einstieg über einfache physische Aktionen werden die Darsteller vor größere Herausforderungen gestellt. Dies kann auf zweierlei Weise geschehen: über improvisierte und spontane oder über vorgegebene und stilisierte Bewegungen. Eine Improvisation zu »US«, der Inszenierung Brooks, die den Vietnamkrieg thematisiert, verläuft mit einfachen Vorgaben: Fünf Spieler haben Papiertüten über den Köpfen, sodass sie nichts sehen können. Zwei von ihnen tragen rote Fahnen bei sich, zwei andere blaue und die fünfte Person versucht mit einem Stab die übrigen zu jagen. Ein Schiedsrichter von außen pfeift, sobald eine Person getroffen wird, alle frieren in ihrer Bewegung ein und das Opfer wird vom Schiedsrichter an den Bühnenrand geführt, liegt dort nach einem Lichtwechsel mit seiner Fahne als Toter. Ein neuer Spieler wird aufs Feld gestoßen und nimmt dessen Platz ein. Bei diesem Spiel weiß der Jäger nie, ob er einen roten oder blauen Fahnenträger getroffen hat, er ist seines Blicks beraubt und muss sich auf andere Sinneskanäle konzentrieren, sodass seine Bewegungen nicht über das Auge kontrolliert werden. Seine Aufgabe ist, die anderen zu jagen. Mit welchem körperlichen Einsatz er dies tut, steht im frei. Entscheidend wird die Tatsache, dass die Akteure nur das Regelset des Spiels kennen, nicht aber die Bedeutung ihrer Aktionen vorab in einen Kriegskontext stellen. Mithilfe der Papiertüten sind sie auf sich gestellt, können eine gestaltete Gruppenszenerie nicht bewertend steuern. Es  entsteht eine gleichzeitig absurde und ernste Situation, die von außen betrachtet einem Horrorcomic gleicht. »The hunted control neither their exits nor their entrances;

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and even the hunter is the victim of the environment, his ›kills‹ less a product of design than of accident, of  chance fatal encounters« (Mitter 1992; 70). Die Kluft, die sich zwischen ihren Bewegungsimpulsen und der von außen zu beobachtenden Szenerie auftut, öffnet den Blick auf die Absurdität der Situation, auf den Horror des Kriegs. Die omnipotente Präsenz des Körpers in einer absurden Situation wird erzielt durch die Konzentration der Wahrnehmung auf alle Sinneskanäle, die der willkürlichunwillkürlichen Blindheit Paroli bieten. Die Darsteller werden verwickelt in ein Spiel, das die Mitspieler zugleich zu Gegnern macht in einem ausweglosen, andauernden Kampf einer merkwürdigen Schicksalsgemeinschaft. »As the grisly aural consequences of their actions scream back to the actors, the bewilderment and exhaustion that sweeps over them is genuine. Not through understanding but through the lack of it, not through their minds but through their bodies, the actors emerge with some experience with which to feed their roles. A play is not always a play – in order that it may be« (ebd.; Hervorhebung im Original). Das Potenzial des improvisierten Bewegungsmaterials wirkt in der weiteren Gestaltung fort, es dient als Futter für den Mantel, der auf dem Weg zur Szene geschneidert werden muss. Die spielerische Leichtigkeit und das durch eine erhöhte Sinneskonzentration geweckte Bewusstsein für den Körper erlauben es, mit dieser Wachheit die natürlichen Bewegungen bewusst und präzise abgestimmt weiterzuentwickeln.

2.2.3 Tabori: »Ich kenne nichts Grösseres als den Menschen in seiner Verkrüppelung« 82 Ein fließendes Ineinandergreifen von Spielen, Improvisationen und szenischen Versuchen kennzeichnet die Probenarbeit George Taboris. Im Umgang mit dem Partner lernt der Schauspieler ihn und seine Verhaltens- und Reaktionsweisen kennen. Die Gruppe baut eine von der gemeinsamen Körperpraxis getragene Beziehung zueinander auf, die in der Improvisation und der szenischen Arbeit weitergeführt wird. Zu Beginn der Spiele um Körper stehen in der Regel Entspannungs- und Konzentrationsübungen im Vordergrund, die den Schauspieler auf sich und den Partner einstimmen, Körper und Geist von alltäglichen Mechanismen befreien sollen. Die Notwendigkeit, sich emotional auf diese körperlichen Sensibilisierungen einzulassen, kann insbesondere am Anfang widersprüchliche Reaktionen beinhalten. Peter Radtke beschreibt seine anfänglichen Vorbehalte: »Sie [die Methode der Sensibilisierung; ms] spricht mich an, stößt mich jedoch gleichzeitig ab. Immer wieder spüre ich in mir die Angst vor den eigenen Gefühlen. Ich habe mein ganzes Leben hindurch gelernt, meine Umwelt mit dem Kopf zu beherrschen. Nur ungern erinnere ich mich der wenigen Male, da ich diesem Grundsatz untreu wurde. Meist endeten solche Erfahrungen in einem Fiasko. Dennoch beginne ich zu begreifen: Entweder ich 82 | Tabori 1993; 205.

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lasse mich auf das Spiel ein, oder ich sollte lieber das Unternehmen abbrechen« (Radtke 1987; 36) . Manche Spielelemente und Übungen begleiten den Produktionsprozess bis zum Ende, verändern im Laufe der Zeit aber ihren Charakter und ihre Wirkung. »Selbst jetzt«, schreibt Radtke, »in der letzten Phase unserer Arbeit gibt es noch Warm-ups. Allerdings hat sich ihre Funktion verändert. Es geht nicht mehr darum, Vertrauen aufzubauen. Dies ist längst geschehen. Vielmehr sollen die Beziehungen unter uns drei Akteuren gestärkt, möglicherweise übriggebliebene Disharmonien bis zum Verschwinden abgebaut werden. Wie im Schlaf müssen wir miteinander umgehen können, unabhängig vom jeweiligen Text, der jeweiligen Aktion. Wenn einer eine Passage überspringt, einen neuen Bewegungsablauf einführt, eine unvermutete Stimmungsfarbe anschlägt, darf dies nicht zu Irritationen führen« (ebd.; 93). Die intuitive Reaktion aufeinander bewirkt mit der Zeit eine Befreiung von der alltäglichen Bewertung und Zensur des eigenen Verhaltens, sodass die körperlichen Impulse weitgehend ungefiltert gezeigt werden können. Mit dem wachsenden Vertrauen zu den Mitspielern beginnt die Verunsicherung, beginnen Urteile und Vorurteile in Bezug auf den Anderen allmählich zu schwinden.83 Spontanes körperliches Handeln wird zur selbstverständlichen, impulsiven Ausdrucksweise, die auf eine unmittelbare Resonanz beim Partner trifft und beide miteinander ins Spiel(en) bringt. Die in Partner- und Gruppenübungen durchgeführten Wahrnehmungs- und Sensibilisierungsübungen bilden dazu die Grundlage und bereiten das freie Zusammenspiel in Improvisationen und szenischer Praxis vor. In der Vertiefung der reflexartigen körperlichen Reaktion auf die gemeinsame szenische Situation wird das über den Körper vollzogene Handeln zu einer Schnittstelle zwischen den äußeren Umständen und der inneren Wirklichkeit, findet eigenes Verhalten eine Antwort im Gegenüber, wie das Andere/ Fremde nach einer eigenen, körperlichen Resonanz verlangt. Die in diesen Wechselwirkungen vermittelten körperlichen Reaktionsimpulse decken den eklatanten Bruch zwischen Körper-Haben und Körper-Sein auf einer überindividuellen Ebene auf und machen ihn in seiner Ambivalenz und Ambiguität sichtbar. Eine Sensibilisierung des Körperbewusstseins und die Entschlüsselung von »körperlichen Chiffren als Kommunikationsmittel(n)« werden insbesondere in den von Tabori gerne praktizierten ›Spiegelübungen‹ hervorgehoben (vgl. Feinberg 1997a; 69). In einer Probendokumentation zu Taboris Operninszenierung »Moses und Aaron« sieht man die Sänger in einem Stuhlkreis sitzen und der Aufforderung Taboris nachkommen, eine Person genau zu spiegeln. Töne kommen dazu, Bewegungen werden 83 | Peter Radtke berichtet beispielsweise von ihn überraschenden Wendungen in den Warm-ups, die durch eine unvorhergesehene Umarmung mit der Spielpartnerin ausgelöst werden, zu der er bisher eine größere Distanz vermutet hat (vgl. Radtke 1987; 41).

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immer dynamischer. In den die Filmdokumentation begleitenden Interviews mit Chormitgliedern wird gezeigt, welche Irritationen diese Praxis für die Opernarbeit mit sich bringt. Der Wunsch, von Tabori zu hören, wie er sich die Inszenierung vorstellt, welche Aussage er machen will, mit welcher konzeptionellen Idee er angereist ist, wird mit Unverständnis gegenüber diesen Kinderspielen in Verbindung gebracht, deren Wert vorerst für die Darsteller nicht erkennbar scheint. Tabori beharrt gegen den Widerstand des Ensembles auf seiner Vorgehensweise, er erläutert die Bedeutung des Spiegelungsvermögens als Grundlage menschlichen Verstehens überhaupt und kombiniert im Verlauf der Proben solistische Partien der Oper mit der begleitenden Spiegelung von Bewegungspassagen der Protagonisten durch den Chor (vgl. Stuchlik 1995; MDR). Seine Annäherung an ein Verstehen des Gegenübers wird in diesen Spiegelübungen zu einer elementaren Begegnung mit dem Anderen, die gegen eigenen Widerstand auszuhalten ist und erst allmählich produktiv gemacht werden kann. Taboris breites und variationsreiches Repertoire an Übungen und Spielen entstammt oft dem von Strasberg in Anlehnung an Stanislawski weiterentwickelten geistigen und körperlichen Training des Darstellers.84 Die Aufmerksamkeit ist in diesen Übungen auf die Entspannung und Konzentration gerichtet, die in einem Körper-Innen zu suchen ist. Angstfreiheit, Selbstwahrnehmung und die Verbindung zum eigenen Körper mit all seinen Impulsen und Regungen stehen im Mittelpunkt der Praxis. Tabori engagiert für die schauspielmethodische Grundlagenarbeit entweder Trainer, die kontinuierliche Warm-ups mit dem Ensemble durchführen, oder er adaptiert das Übungsmaterial und macht es für eine szenische Verwendung brauchbar. Der ideelle Einfluss Taboris durch die Schauspielmethode Strasbergs wird in der Suche nach einer intensiven 84 | Die von Strasberg entwickelte Stuhl-Entspannung für die Einstimmung der Spieler auf die Arbeit am und mit dem Körper gehört beispielsweise zu diesem Repertoire. Einem Bericht von Michael Müller-Janke zufolge hat eine Lehrerin des Actors Studio in der Tabori-Inszenierung zu »Nathans Tod« die Leitung des Warmups übernommen. Müller-Janke war als Beobachter anwesend. Er beschreibt die Übungsabfolge: »Zu Beginn der Übung saß jeder Schauspieler auf einem Stuhl. Sie sollten nun in Gedanken durch den Körper gehen, Kontakt zu den einzelnen Bereichen herstellen und sie auf das Vorhandensein von Spannungen überprüfen. Die Schauspieler wurden angewiesen, verspannte Muskelpartien zu bewegen und zu versuchen, sie zu entspannen. Die Bewegungen sollten von einem gleichmäßig schwingenden Ton in der Brust begleitet werden: ›Aahhhhhhh.‹ Durch diesen Ton wird der Emotion der Weg zum Ausdruck gebahnt. Der Schauspieler muss jedoch daran denken, währenddessen die auf Entspannung zielenden Bewegungen fortzusetzen, sonst bliebe die akustische Aktion ohne Wirkung. Falls durch die beschriebene Prozedur die emotionale Energie nicht freigesetzt wird, sollte der Schauspieler einen heftigen, explosiven Laut ausstoßen, in den er alles hineinlegt: ›Hah!‹« (Müller-Janke 1997; 54).

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Verbindung körperlicher Bewegung mit der Imaginationskraft des Schauspielers deutlich. Innere Bewegungsimpulse werden umgesetzt in äußere und drücken so das körperliche Erleben in einem Bühnenvorgang aus. Stimulus hierfür sind vorgestellte Situationen, biografisches Material oder Beobachtungsstudien. Tabori verwendet Elemente der method als »Hilfsmittel der Wiederbelebung«, die sich nicht um das ›Was‹ der Darstellung, sondern um das ›Wie‹ bemüht, und sieht darin ihren wesentlichen Kern (vgl. Tabori 1981; 190). Dieses ›Wie‹ zwingt den Schauspieler, der Sache auf den Grund zu gehen, sich nicht in Abstraktionen zu flüchten oder zu verlieren, sondern das eigene Tun als körperliches, konkretes Handeln zu examinieren. Die in der sinnlichen Wahrnehmung wurzelnde Substanz für körperliches Handeln fließt bei Tabori in die theatrale Praxis ein und wird erst im Kontext der szenischen Situation bewusst gestaltet. Rekodieren von Verhalten beginnt entsprechend mit der Aktivierung des Körpergedächtnisses und die Erinnerungsbruchstücke werden in Spielvorgänge überführt, von wo aus sie einer gestalterischen Bearbeitung zugänglich werden. Ein armes Theater, das mit wenigen Mitteln und basierend auf der bewussten Wahrnehmung des Partners den Körper als glaubwürdigen Garanten bis hinein in seine unvereinbaren Teilaspekte, seine eigene Verfremdung zu zeigen sucht, ist Ziel dieses Vorgehens. Der Versuch, den Körper als soziales Gebilde sowie als physische Realität zu zeigen, lässt ein komplexes Feld möglicher Wechselverhältnisse zwischen Körpertext und sprachlichen Texten und Situationen aufscheinen. Die unterschiedlichen Bewegungsspiele einer Bühnenfigur, verkörpert durch ein und dieselbe Person, weisen auf die Unmöglichkeit eindeutiger Zuschreibungen von Körperverhalten und Person hin. Bei Tabori verkehrt sich Gut immer wieder in Böse, Macht in Ohnmacht, Figur in (Anti-)Figur.85 Solche Torsionen zersetzen den Dramentext derart, dass kein geradliniges Entschlüsseln möglich ist, sondern nur Bedeutungsmöglichkeiten vorübergehend aufleuchten, um sofort wieder von anderen Assoziationsfeldern infrage gestellt und überlagert zu werden. In der szenischen Verflechtung der unterschiedlichen Sinnangebote rückt der Körper mit seiner Sinnlichkeit und seiner Geschichte ins Zentrum des Spiels. Der Körper des Schauspielers wird dabei »nicht einfach zu einem Instrument herabgestuft, das je nach Talent Worte und Ideen mehr oder minder geschickt transportiert und darstellt. Vielmehr wird der Körper zum vielfältigen Austragungsort: er bleibt unversehrt und wird zum Zei85 | Gabriele Brandstetter hat diese Art Kompositionsmodell Taboris als »Torsion« bezeichnet, welche sich an den Schauspielerkörpern manifestiert: »Die Drehmomente von Macht und Ohnmacht, die Verwringung von Gewalt und Sexualität entfaltet sich auf der Ebene der Bewegung, im Bereich der Körper-Kommunikation als Widerlager zum gesprochenen [...] Text. Streckenweise unterwandert der Bewegungstext die Worte, verdreht die Bedeutung, kreiselt die Dialoge mit einer schillernden Assoziationsspirale ein. Oder aber: es bricht das Sinnangebot der Sprache durch verfremdete Kontexte« (Brandstetter 1997; 325).

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chen und zum Bezeichneten« (Höyng 1998; 10; Hervorhebung im Original). Der Darsteller setzt seinen Körper gleichzeitig als physische Materie aufs Spiel,86 wie er ihn als Gewordenen und Gemachten mit in den Bewegungstext einbringt. Er ist als konkreter Körper immer an das Hier und Jetzt der Bühne gebunden, windet sich zwischen seiner Vergangenheit, sowohl der individuellen als auch der kollektiven Erinnerung, seinen gelebten und ungelebten Potenzialen. »Diese Magie der historisierenden Vergegenwärtigung und gegenwärtiger Geschichte verknechtet aber den Körper nicht als rein semiotisches Theaterzeichen, sondern er wird auch belassen als das, was er zuallererst ist: Materie, die nicht nur für die Außenwelt reagiert und ein Konstrukt jener Anweisungen von außen ist, sondern auch ein Eigenleben mitbringt, das sich der Logik von außen, das heißt der Geschichte widersetzt« (ebd.). Die Spurensuche und das Scheitern von Identität werden in Taboris Inszenierungen am Körper abgebildet. Schon in den Proben wird die über den Körper sich vollziehende Verunsicherung von vermeinter Identität thematisch. Dabei zeigen Taboris Figuren stets aufs Neue, »dass Geschichte und ihre gesellschaftlichen Identitätskonstruktionen sich zuallererst körperlich manifestieren und dass Körper der Schauspieler gleichzeitig zu Orten des Widerstands gegen die Zumutung dieser Konstruktion und der Geschichte werden können« (ebd.; 11). Tabori spricht es aus in dem Satz: »Ich kenne nichts Größeres als den Menschen in seiner Verkrüppelung« (Tabori 1993; 205). Er schließt dabei sowohl den körperbehinderten Menschen als auch die ganz alltäglichen Deformationen in ihren ›normalen‹ physischen Verkrüppelungen mit ein. Nur ein ›schiefer‹ Körper, ein in seinen Teilaspekten sich widersprechender Körper ist ein ›schöner‹ Körper, ein Körper, der in seinen Bewegungen, Gesten und Haltungen als folgewidriger auf der Bühne wert ist, gezeigt zu werden.

2.2.4 Zwischenstopp Wie die Heteronomie des Körpers für eine dynamische Bewegung ›zwischen den Körper‹ geöffnet wird und die so neu erschaffenen Relationen 86 | Ein Beispiel für die von Tabori immer wieder gesuchten und umspielten realen körperlichen Darstellungsgrenzen auf der Bühne gibt ein Probenbericht Schuhmachers: »George wollte, dass ich mich als XX am Schluss des Stückes aufhänge, und zwar richtig, und er sagte: ›Zehn Sekunden kannst du das aushalten.‹ Mir stockte der Atem, aber ich hatte es mir abgewöhnt, bei George etwas nicht zu probieren und von vornherein abzublocken. So hab ich es versucht, indem ich einen Strick mit einer Schlinge am Treppengeländer festgebunden habe, meinen Hals in die Schlinge getan und versucht habe, die Beine anzuheben. Es ging nicht eine Sekunde, weil mir sofort schwarz vor Augen wurde. Dann George: ›Du willst nicht.‹ Ich habe meinen Hals abgepolstert, wieder derselbe Effekt. Es hat lange gedauert, bis ich George überreden konnte, es selbst einmal zu versuchen. Er hat es dann probiert, hatte noch nicht einmal ein Bein angezogen: ›O nein, nein.‹« (Schuhmacher, zit.n. Ohngemach 1989; 61).

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zwischen Körper-Haben und Körper-Sein in rekodiertes Verhalten überführt werden, ist eng verknüpft mit einer Körperpraxis, die  klar unterscheidet zwischen dem natürlichen Bewegungsimpuls und der geformten gestischen Partitur. Das Konkurrenzverhältnis zwischen Körper und Umwelt wird bei Wilson wie bei Tabori aufgegriffen und thematisiert. Stehen bei Wilson die Transformationsprozesse im Vordergrund, in denen der Körper Maschinen ähnlich gemacht werden soll, um seine Besonderheit in der unüberwindbaren Lebendigkeit und Menschlichkeit zu zeigen, geht Tabori einen entgegengesetzten Weg. Das Wissen um eigene Körperspannungen und -impulse wird für einen bewussten Umgang mit dem darstellerischen Ausdruck geschult, die Wahrnehmung des Partners und die unmittelbare Reaktion auf ihn verbinden das eigene Spiel mit einem konkreten Gegenüber. Wilson und Brook konstruieren einen theatralen Körper, indem sie von außen vorgegebene Bewegungsmuster zum Anlass nehmen, um neue innere Vorstellungsräume zu erschließen. Wilsons Bewegungsvokabular basiert auf den in den visual books festgehaltenen figuralen Vorgaben, die der Spieler adäquat verkörpern muss, bei Brook dienen überlieferte Körpertechniken und -praxen als Ausgangspunkt. Bei beiden finden Entfremdungsprozesse eines vermeintlich natürlichen Körpers statt, sodass eine Distanznahme zum eigenen Bewegungsvokabular die Folge ist, aus der heraus eine neue Sprachlichkeit in der Bewegung hervorgebracht werden kann. Spielt bei Wilson die Entfremdung vom eigenen Körper eine zentrale Rolle im Aufbau einer artifiziellen Bühnenwirklichkeit, ist Brooks Herangehen von einer dynamischen Struktur zwischen nicht natürlicher und nicht äußerlicher Körpergestalt geprägt. Die zielgerichtete Aneignung vorgegebener Raum-Zeit-Muster bei Wilson erfordert eine disziplinierte Strenge gegenüber dem eigenen Bewegungsapparat, die erst nachgeordnet in Bewegungsfantasie mündet und ein Eigenleben führt. Die Spiele um Körper bei Wilson und Brook machen die Objektbeziehung zum eigenen Körper bewusst und setzen sie produktiv für Gestaltungsprozesse ein, Tabori versucht die Kluft zwischen Körper-Haben und Körper-Sein zu überwinden, indem diese systematisch unterlaufen wird. Der Körper ist kein geformtes und vorgeführtes künstlerisches Artefakt, sondern der Garant für das am realen Subjekt vollstreckte Spiel. Der Körpertext wird, wie bei Wilson, nicht kongruent zum dramatischen Text gebildet, Körper und Sprache stehen im Widerstreit. Bei Tabori wird die Diskrepanz allerdings zwischen Körper und Emotion, zwischen Individuum und Gesellschaft sichtbar gemacht, sodass verschiedene Teilaspekte des Körpers gegeneinander Zeugnis ablegen. Wilson will dem Zuschauer eine Körperlichkeit präsentieren, die keinen Verweis auf einen psychologischen Realismus oder die Natürlichkeit der Geste zulässt. Der artifizielle Bewegungsvorgang als ein ureigenes Potenzial theatraler Darstellung impliziert, dass jede noch so kleine Aktion vom alltäglichen Verhalten unterschieden und neu erlernt werden

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muss. Erst über diesen Weg wird es denkbar, den Körper als lebendige Skulptur im Raum zu erkennen und ihn für einen Zuschauer zu öffnen, ihm im körperlichen Spiel das Nichtalltägliche zu entgegnen. Bei Wilson ist der Körper Zeichenträger einer rätselhaften Sprache, die umkreist werden kann, Lösungen aber immer nur zu weiteren verschlungenen Bedeutungsgefügen führen. Spiele mit der Verkettung von alltäglichen Bewegungen und nichtalltäglicher Darstellung und Erzeugung bilden die Basis dieses Vokabulars. Die Körper werden zu Kommunikationschiffren zwischen Umwelt und Person, leben aber vom Eigensinn einer Sprachlichkeit, die in sich gefangen bleibt, ohne Aussicht auf Enträtselung. Wilson setzt an der äußeren Gestaltung des Körpers an, der in Formen, Winkeln und Zeiteinheiten geskriptet wird. Dieses Vorgehen zwingt den Schauspieler in eine Distanz zu der eigenen Körperwahrnehmung und befragt selbstverständliche Verkörperungsmechanismen. Die Schnittstelle zwischen Körper-Haben und Körper-Sein wird durch Irritation und Manipulation gängiger Bewegungen neu vergegenwärtigt. Dazu konfrontiert Wilson den Spieler mit Körpergebilden, die eine Gegenüberstellung ermöglichen. Die in den visual books festgehaltenen Skizzen und Wilsons Vorbild werden zum Initial für darstellerisches Handeln. Eine sukzessive Entwicklung der Nachahmung einer äußeren Gestalt geht mehr und mehr über in die Teilhabe an einer anderen inneren Realität, die ausgebildet und transformiert werden kann. Dabei wird das eigene Bewegungsvokabular dekonstruiert und umgedeutet. Im Kampf zwischen Maschinenkörper und Fantasiegestalt wird der Körper eine wandelbare Chiffre, in der eine artifiziell erzeugte Schwerelosigkeit zum Ausdruck kommt. Spiele um Körper beginnen bei Brook häufig auf zwei parallelen Pfaden: dem Führen und Folgen des Körpers. Der erste Aspekt erfordert klare Bewegungsvorgaben, die erfüllt und erlernt werden müssen. Die andere Seite übergibt die Autorschaft von Bewegungsweisen dem Körper und lässt den Spieler ganz dessen Impulsen folgen. In der Reibung von geführter und gefolgter Bewegung wird allmählich das szenische Handeln rekodiert. Beide Aspekte müssen ausbalanciert werden und in einem ausgewogenen Mischungsverhältnis ein neues Bewegungsvokabular erzeugen. Im Spiel mit der Überschneidung beider Aspekte, Körper-Haben und Körper-Sein, sollen physischer und sozialer Körper zueinander finden. Brook spielt von Anbeginn an mit dem körperlichen Fantasiepotenzial. Die rhythmischen, partner- und ensemblebezogenen Übungen ermöglichen eine Kontaktaufnahme und einen Beziehungsaufbau mit dem Gegenüber. Gebrochen wird die freie Entfaltung in den alternierenden Übungen mit fremden Körpertechniken. Kontinuierliches Training und freies Improvisieren innerhalb eines klaren Regelwerks wechseln zwischen einer Betonung der Körperdarstellung und der Bewegungserzeugung, die beide in Spielprozesse münden, in denen sie sich überkreuzen und sichtbar verschmelzen.

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Ähnlich wie Wilson macht Brook auf die Differenz aufmerksam, die zwischen einem natürlichen und einem künstlich hergestellten Bewegungsablauf liegt. Ein bewusster Codierungsprozess ist für beide die Grundlage, anhand derer die körperliche Präsenz eines artifiziellen Tuns potenziert werden kann. Treffen formale Vorgaben und gefühlter Körper aufeinander, kann die Diskrepanz zwischen Körper-Haben und KörperSein spürbar gemacht und neu gestaltet werden. Wilsons Weg ist von strengen Bewegungsvorgaben gekennzeichnet, die genau choreografiert werden. Im Hin und Her zwischen Körper und Imagination entsteht die von ihm gesuchte artifizielle Gestalt. Brook experimentiert mit dem Pendeln der spielhabenden Körperkräfte schon in den Entwicklungsprozessen einer theatralen Form, er macht den zwiegespaltenen Körper zum Spiel, zu Objekt und Subjekt darstellerischer Auseinandersetzung. Die Spiele um den Körper werden dabei, ganz anders als bei Wilson, im Kontakt der Spieler untereinander wachgerufen. Die Lebendigkeit und Wachheit in der Reaktion auf ein Gegenüber, die unmittelbare körperliche Handlung stehen dabei im Mittelpunkt. Nach und nach wird sie durch artifizielle Körpertechniken zu einer artistischen Souveränität verwoben. Brooks Umgang mit dem Körper als Material basiert auf einer Verflechtung von natürlichen und stilisierten Bewegungen, die nacheinander erkundet werden und erst zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt des Probenprozesses eine Verbindung eingehen. Der Erwerb eines neuen Bewegungsvokabulars wird so lange geschützt, bis Abläufe vertraut und in den eigenen Körper eingespielt sind, sodass die Konzentration auf die begleitenden inneren Prozesse möglich wird. Erst dann werden in der Synthese von eigenen Körperimpulsen und neuer Bewegungssprache szenische Experimente unternommen. Das Oszillieren zwischen natürlichem und stilisiertem Körpergebrauch soll den Darstellern bei der Suche nach einer lebendigen Form, die eine neue Wirklichkeit ausdrückt, helfen. Das Ergebnis ist dabei weder ein naturalistischer Körpereinsatz noch ein total stilisierter. Von beiden Seiten werden Einflüsse genutzt, um durch die Art und Weise ihrer Verknüpfung eine Realität herzustellen, die das Bewegungsvokabular zwischen Illusion und Verfremdung, zwischen Naturalismus und Stilisierung ansiedelt. Taboris Partnerübungen und Improvisationen, die den Körper als Kommunikationsmittel forcieren, lenken die Aufmerksamkeit auf die besonderen Bewegungsqualitäten jedes Einzelnen und vermitteln über den Nachvollzug der Bewegungen des Anderen den Wert eines genauen, körperlichen Zuhörens. Sie lassen das Verständnis füreinander als hoffnungsvollen Fluchtpunkt deutlich werden. Im Gegensatz zu Wilson versucht Tabori nicht, das Subjektive im Körper so weit wie möglich zu objektivieren, sondern nutzt jede Chance, den Verdinglichungen des Körpers die Lebendigkeit des menschlichen Subjekts entgegenzusetzen. Taboris Spiele um Körper beginnen mit der Hingabe an Körperwahrnehmungen, die alltägliche Grenzziehungen zu Anderen überschreiten.

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Am eigenen Körper wird der Reflex auf Situationen und Sinnesreize der Umwelt gestärkt, er soll als energetisches, autonomes Geschehen die Führung übernehmen. Das Rohmaterial körperlicher Aktionen trifft in der weiteren Praxis auf die Körperlichkeit der anderen Spieler, sodass Gemeinsamkeit in der Reibung miteinander und gegeneinander entsteht. Der mit Anderen geteilte Körper soll durchlässig für Emotionen gemacht werden und verfängt sich mehr und mehr in körperlich manifesten Konflikten, an denen gezeigt wird, wie willkürlich er dem Anderen ausgeliefert ist und sich nicht auf Dauer als widerstandsfähiges, autonomes Gegenüber behaupten kann. Wilson stellt den Spielern seinen eigenen Körper als Vorbild und Spiegel zur mimetischen Annäherung an gesuchte Bewegungsgestalten zur Verfügung. Er bearbeitet die Bewegungsformen der Darsteller wie ein Bildhauer, der seine Skulpturen formt, an ihnen feilt und nach dem Eigenwillen sucht, der eine innere Logik erkennbar macht. Brook hält sich in der konkreten Manipulation körperlicher Prozesse insofern zurück, als er durch das Spiel mit Situationen und die Rahmung von Bewegungssprache die Sprache des Körpers zur Erzählung macht, sie szenisch kontextualisiert. Tabori provoziert die körperlichen Verausgabungen, indem er auf konkrete körperliche Kommunikationsvorgänge insistiert, die  Akteure dazu ermutigt und ihre Impulse aufgreift, hinterfragt und vergrößert.

2.3 Spiele um Imagination Wie Wahrnehmungen ins Spiel gezogen werden und wie der Dialog zwischen reaktiven, auf  Umwelt bezogenen und proaktiven, die Wahrnehmungsweise der Welt strukturierenden Prozessen in den Proben bewusst gelenkt und nutzbar gemacht wird, gibt Aufschluss über die Spiele um und mit Imagination und die erzeugte Präsenz der Darstellung. Mit welchen Spielinterventionen alltägliche Wahrnehmungsprozesse intensiviert und korrumpiert werden, wie Fantasiepotenziale im Schauspieler aufgerufen und rekodiert werden, steht nachfolgend im Vordergrund. Die Suche nach der Verknüpfung von imaginativer Praxis mit körperlichen und stimmlichen Prozessen für szenische Vorgänge wird in der Reihenfolge George Tabori (Kapitel V.3.3.1), Robert Wilson (Kapitel V.3.3.2) und Peter Brook (Kapitel V.3.3.3) vorgenommen. Parallelen und Abweichungen in den Fiktionalisierungssystemen der drei Regiepraxen werden eruiert.

2.3.1 Tabori: »Lass die Faxen, die Wahrheit ist konkret« 87 Flexibilität und Vertrauen im Umgang miteinander werden bereits in Taboris Einstimmungen verknüpft mit dem Spiel der Imagination. Sie setzen sich fort in den szenischen Ereignissen, vertiefen die Beziehung zwischen den Figuren und verstärken deren dynamisches Ineinander. Radtke schildert einen solchen Prozess in seinem Probenbericht. Die im 87 | Tabori 1993; 186.

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Inszenierungskonzept angelegte Nähe zwischen Medea und ihrem Sohn mündet in der beidseitigen Verschwörung gegen den Mann und Vater Jason. Über die letzte Etappe der Probenarbeit berichtet Radtke: »Noch immer beanspruchen Atemübungen einen wichtigen Platz in unserer kleinen, verschworenen Gemeinschaft. Ihr Gesicht hat sich mittlerweile verändert, wie die Funktion der Warm-ups. Vor allem Gleichklang ist nun angesagt, ergibt sich teilweise geradezu von selbst. Wir atmen im gleichen Rhythmus, produzieren Töne in derselben Länge, derselben Klangfarbe. Meist schrumpft bei diesen Übungen unsere Dreiergemeinschaft zu einer Zweiergruppe zusammen. Ulf macht nicht mit. Ich frage nicht, warum, weiß, dass er generell Spielen skeptisch gegenübersteht. Das tue auch ich, selbst heute noch [...]. Vielleicht wird ihm der Kontakt zu eng, der durch paralleles Atmen entsteht. [...] Ulf wendet sich ab, verzieht sich in die Kantine. [...] Manchmal frage ich mich, ob Ulf uns auf Anweisung allein lässt. Aber vielleicht bedarf es nicht einmal des Regisseurs, um gewisse Gefühle zu provozieren, bestimmte Entwicklungen anzubahnen« (vgl. Radtke 1987; 94f.). Die enge Verbindung zwischen Mutter und Sohn spiegelt sich in der Art und Weise des Übungsverlaufs, obwohl noch keine szenische Beziehung die Interaktionen rahmt. In dem von Radtke erwähnten Verhaltensmuster wird Ulf als Darsteller des Jason ähnlich wahrgenommen, wie er selbst diese Situation innerhalb des Ensembles durch seinen Rückzug aus den Warm-ups fortsetzt. Ob Tabori das Austreten Jasons steuert oder ob es sich aus der Konstellation der Rollen ergibt, ist für Radtke nicht transparent, bleibt unausgesprochene Vermutung. Die Verschleierung der Absprachen führt zu einer Infragestellung der eigenen Wahrnehmung, zu einer Wahrnehmungsverunsicherung, die das Ensemble scheinbar autonom durchläuft. Das Spiel der Imagination greift über die szenische Darstellungsabsicht hinaus und setzt sich in persönlichen Fragen nach dem Verhältnis zueinander fort. Führt die Imagination in Atemübungen noch ein diffuses Eigenleben, wird in der improvisierten Spielsituation die Entwicklung konkreter Fantasie dezidiert vorangetrieben: »›Gibst du es mir?‹ Unvermittelt stellt George diese Frage. ›Was soll ich dir geben?‹ ›Eben das, worum ich dich bitte.‹ Es ist der Beginn einer neuen Übung. Wir werden sie von nun an häufiger spielen. Einer der Beteiligten denkt sich einen Wunsch, ein Geheimnis, das er um nichts in der Welt offen eingestehen würde. Durch Flehen, Bitten, Drohen versucht er sein Gegenüber dazu zu bringen, sich seinem Ansinnen zu beugen. Der Partner muss sich weigern, weiß nicht, worum es geht, doch er muss sich weigern. Die Auseinandersetzung um die verborgenen Gedanken gestaltet sich umso heftiger, je konkreter die Vorstellungen ausgewählt werden. Aus dem improvisierten Wortgeplänkel rutschen wir in den Text« (Radtke 1987; 48). Obwohl der vorgestellte Wunsch verschwiegen wird, lebt die Dringlichkeit der Bitte von der konkreten Vorstellung eines realen Etwas. Die Darsteller werden ermutigt, sich konkreten und starke Emotionen auslösenden Einbildungskräften anzuvertrauen, die dem Spiel eine reale Brisanz unterlegen. Der fließen-

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de Übergang in den szenisch vorgegebenen Text überbrückt die Schwelle zwischen eigener Realität und Bühnenfigur, indem die vorhandene persönliche Fantasie transferiert werden kann und dem Text ein existenzielles, persönliches Anliegen beimischt. Tabori arrangiert im Verlauf der Proben immer entschiedener Richtungspfeiler für das Spiel der Imagination. Innerhalb der szenischen Arbeit können durchaus unvorhersehbare Überraschungen dem Spiel eine Wende geben, eine bestimmte Reaktion aus dem Spieler herauskitzeln. Wiederum von Radkte ist folgende Situation festgehalten: »Auftritt behindertes Kind. Ich fahre zu meiner Kiste – meine Spielsachen liegen darin –, hebe den Deckel. Betäubt weiche ich zurück. Gestank von angebranntem Seegras schlägt mir entgegen, von verkohlter Wolle. Ich schaue in die Truhe. Vor mir der flauschige riesige Teddybär – nein, nur, was noch von ihm übriggeblieben ist: ein mich traurig anblickender Tierkopf, schlaksig herunterhängende Arme und Beine, in der Mitte ein schwarz umrändertes, übelriechendes Loch. Innereien des Plüschtiers quellen hervor. Ein leiser Schrei. Irgendwo höre ich zischen: ›Mach weiter!‹ Widerwillig greife ich den Bären bei einem Arm. Ich soll ihn an mich drücken. Jeder Zentimeter, den er mit näher kommt, vergrößert meinen Ekel. Mein Magen rebelliert, mir wird schlecht« (Radtke 1987; 57). Tabori wird hier zum unberechenbaren Mitspieler. Durch sein Eingreifen destabilisiert er die geglaubten Grenzen einer Bühnensituation und ist in der Manipulation der szenischen Ereignisse anwesend. Den Spielvorgang treibt er weiter, indem er die Irritationen zeitgleich von außen begleitet und die realen Komponenten in ein Spiel um Imaginationen drängt. Die unkonventionellen Interventionsstrategien Taboris im Spiel mit imaginierten Kontexten sind ebenso im Ungang mit Texten zu finden und zeichnen seine Suche nicht nur nach Subtexten und Kontexten für szenische Lösungen aus, sondern spielen mit Sub- und Kontexten, indem sie beide Aspekte gegeneinanderlegen und verkreuzen. An zwei Beispielen soll die Dimension dieser Praxis verdeutlicht werden. Ausgehend von einem Beckett-Gedicht88 schlägt Tabori in seinem kleinen Essay »Samspeak« Subtexte zur Improvisation vor. Seine Vorschläge beginnen mit folgenden Situationsparametern: In der ersten Kontextualisierung wird der Text von einem alten Mann gesprochen, dem soeben eine Krebsdiagnose eröffnet wurde. »Er steht am Fenster und sieht hinaus auf den blü88 | Es handelt sich um folgendes Gedicht: Stell dir vor wenn dies Eines Tages dies Eines schönen Tages Stell dir vor Wenn eines Tages Eines schönen Tages dies Aufhörte Stell dir vor

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henden Apfelbaum. Er spricht zu sich selbst« (vgl. Tabori 1993; 64). Die zweite über den Text improvisierte Situation wäre vielleicht eine heimliche Begegnung zwischen zwei Verliebten, ein dritter Spielanlass könnte lauten: »In einer Gefängniszelle in Temesvár brüllt ein Bauernjunge, dem man soeben die Fingernägel ausgerissen hat, vor Schmerz. Sein Freund, ein Student, versucht ihn zu trösten« (ebd.; 65). Version vier spielt wieder in einem ganz anderen Kontext mit Fantasie und Imaginationskraft der Akteure: »Ein Ehepaar hört sich eines der späten Streichquartette Beethovens an. Der Mann hört es zum ersten Mal. Bevor die Musik ganz verklungen ist, sagt die Frau zu ihm [den Beckett-Text; ms]« (ebd.). Eine weitere Fantasie siedelt die Situation in der Vergangenheit an, religiöse Fragenund Erfahrungskontexte werden prononciert: »Eine Frau, Überlebende des Massakers von Masda, geht zwischen den Juden, die es vorzogen, sich selbst zu entleiben, statt sich versklaven zu lassen, hindurch. Sie spricht zu uns« (ebd.). Am Ende des Essays nimmt er den Schauspieler selbst in die Verantwortung für sein Spiel mit der eigenen Imaginationskraft: »Denke an einen Augenblick uneingeschränkten persönlichen Glücks zurück und frage dich« (ebd.; 66). Die Vorstellung von existenziellen Situationen, Glück oder Leid, Trauer oder Tod einkreisend, kennzeichnet alle von Tabori vorgeschlagenen Kontexte. In der Zuspitzung auf konfliktreiche, starke Fantasiebilder können die vorgestellten Situationen lebendige, bewegende und szenisch relevante Imaginationsleistungen erzeugen, einen neuen Subtext generieren. Ohne diese konkreten Fantasien ist weder ein Spiel mit Subtexten bedeutend, noch der Kontext eines Texts vermittelbar. Erst der dringliche Spielanlass lotet mögliche Tiefendimensionen des Textes aus und macht das Risiko des Spiels reizvoll. Die Imagination von Alltäglichem unter außergewöhnlichen Umständen  – oder Außergewöhnlichem unter alltäglichen Umständen – schafft eine Brücke zwischen den vorgestellten Wirklichkeiten und dem konkreten Spiel. Im Umgang mit dokumentarischen Materialien berichtet der Schauspieler Günter Einbrodt von einer Probe mit Tabori, die in anderer Weise Imaginationen lenkt: »Tabori kam mit den Traumprotokollen von Perls, ich weiß nicht, wie lang das schon in seinem Hinterkopf gewesen war, und gab jedem ein Protokoll. Wir haben es gelesen und versucht zu spielen.« Einbrodts Spielversuch scheitert nicht zuletzt, weil er an der eigenen Nähe zu der beschriebenen Situation des Traums scheitert. »Mit meiner ganzen Verzweiflung und meinem ganzen Wollen habe ich mich am Abend ins Bett gelegt und mir diesen Text vorgenommen«, erzählt er weiter und berichtet davon, wie ihm plötzlich alle Empfindungen, Energie, Widersprüche und Aggressionen zur Verfügung stehen, die er in der Probe nicht mobilisieren konnte. In der durchwachten Nacht findet er seinen ersten Zugang: »Ich habe mich die halbe Nacht im Bett herumgewälzt, geheult, geschimpft und mich ausgetobt. Es war beglückend für mich, dass ich und der fremde Text eins waren. Am nächsten Morgen auf der Probe«, so Einbrodt, »dachte ich: Das probier ich jetzt noch einmal.« Der Versuch, die intensiven Erfahrungen der letzten Nacht zu wiederho-

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len und in das Spiel zu bringen, gelingt nicht ganz, aber Tabori bringt ihn nachfragend weiter: »Er fragte mich, wie ich im Bett gelegen hatte, wann ich mich zurückgehalten hatte, um die Nachbarn nicht zu stören, damit ich diese Momente als Arbeitsmaterial benutzen, sie später durch Sense Memory wieder zurückholen könnte. Er hat mir den unbewussten Prozess bewusst gemacht. Wenn man vor sich hindilettiert, kann man unglaublich toll sein, aber es ist nicht wiederholbar« (Einbrodt, zit.n. Ohngemach 1989; 75f.; Hervorhebung im Original). Ersichtlich wird, dass Tabori hier eine ganz andere Strategie anwendet. Statt die Aufladung der Einbildungskraft voranzutreiben, versucht er dem Spieler Anhaltspunkte und Orientierungen aus der realen Wirklichkeit in Erinnerung zu rufen. Die Imagination wird an das konkrete Erleben im Hier und Jetzt gebunden. Die Gegenbewegung zu finden, den Impuls so zu setzen, dass der »blinde Fleck« einer Fantasietätigkeit ins Licht gerät, macht erst die besondere Qualität der erzeugten Darstellungen aus. »Lass die Faxen, die Wahrheit ist konkret«, hält Tabori dem Schauspieler entgegen, der sich selbst, ihm und dem Zuschauer etwas vormachen will (vgl. Tabori 1993; 186). Die von ihm eingeforderte Direktheit in der Vorstellungskraft soll und muss im konkreten Handeln sichtbar werden. Sie ist aber weder stillzustellen noch zu reproduzieren, ihre Präsenz ist an den aktuellen Vollzug gebunden. Die Forderung nach unmittelbarer Reaktion auf plötzlich sich verändernde Gegebenheiten und das Spiel mit vorgestellten Situationen lenkt und inspiriert Tabori selbst während einer Vorstellung noch mit seinen produktiven Stolperstrategien: »Während einer Aufführung von E. Bonds Schaukel machte er beispielsweise mit einigen Schauspielern gemeinsame Sache. Als Bühnenarbeiter verkleidet saß er, einen Besoffenen mimend, in der Ecke der Bühne. Der nicht eingeweihte Schauspieler Detlef Jacobsen wurde plötzlich mit einem jener unerwarteten Störfaktoren konfrontiert, von denen Tabori stets begeistert erzählt hatte und die er in den Aufführungen aufzunehmen empfahl. Das Ergebnis war, wie Jacobsen berichtet, ›eine wilde Textimprovisation‹, die damit endete, dass er mit zwei anderen Bühnenarbeitern den ›Störenfried‹ in einen Korb verfrachtete und von der Bühne beförderte« (Feinberg 1997a; 77f.).

2.3.2 Wilson: »Mind is a muscle« 89 »Man muss seinen Blick auf innere Bildflächen richten. Sehen, was innen ist, und sehen, was außen ist. Hören, was innen ist, und hören, was außen ist. Man muss Vorstellungen und Denkweisen aufbrechen. Man sollte sich immer fragen: Was wäre jetzt das Falsche? Was wäre nicht zu tun? Genau das sollte man tun, dabei gewinnt man etwas. Man belügt sich, wenn man annimmt, man könnte seine Handlungen und Aussagen völlig begreifen. Nicht einmal Shakespeare begriff seine Stücke völlig. Dazu war sein Werk zu vielschichtig. Es ist komisch« (Wilson 1993; arte). Im 89 | Wilson 1993; arte.

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Einklang mit dieser forschenden Haltung gegenüber dem unkenntlichen, imaginären Wesen der Dinge und der Strategie der Verkehrung von Automatismen stehen Wilsons Spiele um Imaginationen. Bereits die schauspielerische Vorbereitung akzentuiert die Aktivierung des imaginativen Potenzials jenseits von alltäglichen Spielen mit der Fantasie. In seinen ersten Jahren galten Meditation und Yoga als geeignete Übung für das Ziel, den Kopf leer und frei zu machen. Die Intensivierung der Selbstwahrnehmung bei gleichzeitiger Erfüllung vorgegebener Aufgaben trainiert in Wilsons Spielsystem die Fähigkeit des Darstellers, verschiedene Aufmerksamkeitsebenen parallel zu bedienen. Wird dieser leere Raum im Inneren durch die Konzentration und Aufmerksamkeit auf aktuelles Timing der Raumlinien des Körpers unterstützt, bleibt die Suche nach einer selbstvergessenen Leere und Absichtslosigkeit im Handeln der Quellgrund von Imaginationen. Das Zählen von Zeittakten und die parallele Bewegungsführung mit im richtigen Moment gesprochenen Texten führen den Darsteller in einen tranceähnlichen Zustand, dessen teilabwesende Präsenz einem Ideal Wilsons entspricht. Maria Shevtsova beschreibt die Zielsetzung dieses Vorgehens so: »The ›trance‹ sureness of step and gait is, for Wilson, an integral part of timing, which is why he asks actors to count as they move in his workshops. By doing so, they can incorporate not only a sense of time in their bodies, but also the sense of bodily ease with time that is associated with trance. [...] As consequence, the actors present rather then express« (Shevtsova 2007; 57; Hervorhebung im Original). Imaginationen, die auf diesem Weg entstehen, sind Spiele mit Wahrnehmungsschichten gespeicherter Erinnerungen, die in der direkten Annährung kaum erreicht werden. Der Verzicht auf feststehende, reproduzierbare Subtexte in der Darstellung führt zu einer aktiven Öffnung des Spiels gegenüber jedwedem Subtext, der in der meditativen Praxis erzeugt wird. Im Zusammenspiel mit den formalen choreografischen Vorgaben wird durch die Konzentration auf die Leere und Stille die Form gefüllt und in eine tiefere Bedeutungsschicht transformiert. »Wilson fixes a form, not so as to subordinate the actor to it, but to have it over him/her«, schreibt Shevtsova und untermauert diese Aussage mit Wilsons Worten: »Anyway, I give formal directions. I have never, ever in 30-something years of working in the theatre, I’ve never told an actor what to think. I’ve never told them what emotions to express. They’re given these very, formal, strict movements and directions. Within that there is a freedom for the actors to fill in the form. The form is not important. The movement is not important. The structure that I give them is not important. It’s how you fill in the form – that’s what’s important« (ebd.; 59). Sieht man mehrere Darsteller beispielsweise die gleiche Choreografie tanzen, kommt die Art, wie der Einzelne diese mit eigenen Imaginationen füllt, zur Anschauung: »Why is it that one woman dances Giselle the most beautifully? They’re all doing the same steps. It’s how she fills in the form« (ebd.). In der minutiösen Aneignung vorgegebener Formalismen liegt der technische Aspekt

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der schauspielerischen Praxis in Wilsons Proben, die eigentliche kreative darstellerische Leistung beginnt erst mit dem Versuch, diese Formen zu füllen und das freie Spiel der von Alltagsfantasien bereinigten Imaginationen zu ermöglichen. Ergänzend zu der von ihm angestrebten Künstlichkeit der Spielweise sucht Wilson offensichtlich nach einer Erzählebene, die sich ganz dem Augenblick öffnet und vermittelt. »One of the things I say to the performers all the time is, ›I don’t believe you. I don’t believe you, Aida. You’ve got to do something to make me believe you.‹ Although its totally artificial, this voice, this movement, this stance, whatever the actor is doing, somehow has to be based on truth. I touch this glass (touches glass). It’s cool. That’s truth. I touch my forehead (touches his forehead) and it’s warmer. That’s truth. I can act it, but it’s got to be based on something that’s true. I find that the more artificial it becomes, the closer it can get to a truth« (Wilson, zit.n. Shevtsova 2007; 57). Erst in der konkreten, unverstellten Wahrnehmung der realen Gegebenheiten der Wirklichkeit bekommt das Spiel der frei florierenden Imagination eine Relevanz. Das Gegengewicht zu der Forderung nach konkreter Wahrnehmung bildet die betonte Offenheit für Fantasien, Imaginationen und die Spiele der Einbildungskraft: »›Fill the form‹ [...] with your individual character, qualities and dreams. Fill  it with your private, ›interior reflection‹« (vgl. ebd.; 120). Lösen die formalen Vorgaben das Spiel der Imagination ein, wird, so die Hoffnung Wilsons, ein Theater erfahren, das weniger Schauplatz als Ort des Spürens ist, denn »theatre is not merely a seeing-place [...] but a feeling place« (Wilson, zit.n. Lavender 2001; 193; Hervorhebung im Original). Die Konfrontation der faktischen Wirklichkeit mit der größtmöglichen erdenkbaren Leere im eigenen Innenraum, mit den nur ahnungsweise greifbaren Imaginationen wird zum zentralen Spielgegenstand, wird zu einem Ringen zwischen unendlicher Freiheit und eiserner Disziplin. Für die Entdeckung der Glaubwürdigkeit des Handelns gibt Wilson in der Probe zahlreiche Hilfestellungen. Ohne dem Schauspieler ein bestimmtes Gefühl vorzuschreiben, versucht er Denkoptionen und Möglichkeitsräume der Fantasie anzuregen. In der Opernprobe zu »Alceste« hört man ihn beispielsweise mit folgenden Worten unterstützend in den szenischen Vorgang eingreifen: »Du siehst das ganze Stück. (Pause) Du bist schon im Hades gewesen, (Pause) du erinnerst dich an alles, (Pause) das schafft auch eine Distanz, gibt Form, es spielt sich alles in deiner Vorstellung ab. (Pause) Du darfst nicht illustrieren, du beobachtest, wie sie es macht. (Pause) Du siehst dich selbst, und das hilft uns, ›es‹ zu sehen« (Wilson in Beilharz 1987; ZDF/ORF). Spielt Wilson hier auf der Klaviatur von Einfühlung und Distanznahme, zeigt er an anderer Stelle, wie die Situation über die Vorstellungskraft plastisch und lebendig werden kann: Wilson beobachtet die Schauspielerin Anne Bennent und kopiert ihren Bewegungsfluss, bevor er ihr das Bild eines Greifvogels für den Ausdruck der Finger gibt. Dann geht er selbst den Raum auf und ab und erläutert seine Fantasie: »Vielleicht ist dieser

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Raum für dich völlig dunkel, und hier kommst du an das warme Sonnenlicht, es ist wundervoll für den ganzen Körper, er wird aufgewärmt von der Sonne, du kannst dich nach oben öffnen, während das Dunkel dich verwirrt. Und hier badest du im Sonnenlicht« (ebd.). In einem anderen Moment sitzt er neben ihr auf der Probebühne, während sie ihm erklärt, welche szenische Idee sie gerade verfolgt. Wilson übernimmt fließend in vagen Andeutungen die Rolle ihres Spielpartners. Er fordert sie auf, ihn anzusehen, so wie sie ihren Partner sieht, von dem sie Nähe annehmen soll, wendet sich ihr ganz zu. Durch eine kleine Handbewegung macht er deutlich, dass er wieder aus der Szene aussteigt und sie alleine an dieser Haltung weiterprobiert (ebd.). Isabelle Huppert gibt rückblickend ihre Erfahrung mit Wilson wieder und streift dabei den Moment der Freiheit, der hinter der formalen Arbeitsweise verborgen liegt. Shevtsova fasst die Beschreibung mit folgenden Worten zusammen: »Isabelle Huppert explains her freedom vis-àvis the established score by the fact that, instead of being caught between a ›text‹, a ›character‹ and ›great mise en scène‹ (she stresses that ›the actor often has trouble in the middle of all this‹), she was a ›person […] totally and completely myself. [...] The whole production comes from him, but he had me move in it as I wanted to‹« (Shevtsova 2007; 59). Wilsons Haltung zum Spiel mit Imaginationen lässt sich am besten durch die Vision, die ihn begleitet, auf den Punkt bringen: »Ich möchte mal sehen, ob man ein Programm aus einem leeren Buch machen kann, ohne dass eine bestimmte Idee vorgegeben ist. Was sollen wir also tun? Wir müssen diese leeren Seiten füllen. Dieses Programm kann eine Alternative zu Büchern sein, wie man sie aus der Schule kennt, voller Worte und Bilder. Hier muss man die Leere selbst füllen. Sokrates behauptete, wir würden allwissend geboren und müssten unser Wissen nur noch entdecken. Mit diesem Sinn für Entdeckung möchte ich arbeiten. Das ist eine Alternative zu dem, was ich jetzt mache. Jetzt, da ich meist an den großen Häusern arbeite« (Wilson 1993; arte). Voraussetzung für dieses Projekt wäre, eine Form des Vergessens zu lernen, die Wissen und Nicht-Wissen ebenbürtig macht. Wilsons Wissen ob dieser Tatsache und die Art seiner Versuche, der Leere Respekt zu zollen, zeigen, wie stark sein Handeln von instinktiven und intuitiven Prozessen begleitet ist.

2.3.3 Brook: »Nichts geht je ganz verloren« 90 Ein wiederkehrendes Motiv in der Probenpraxis Brooks ist der Einsatz der Mitspieler als Spiegel für die eigene Darstellung und das szenische Potenzial einer Situation. Im Unterschied zu Tabori steht bei Brook der Spiegel nicht für ein archaisches Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit und Bezugnahme, sondern dient der leicht verzerrten Wiedergabe von Bühnenhandlungen durch einen Rollentausch. Wird die Figur eines Spielers von einem Anderen kopiert und vorgeführt, kann der Schauspieler einerseits 90 | Brook 1994; 157.

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sich selbst quasi aus der Distanz heraus betrachten, neue Eindrücke von der Figur, die er zu spielen hat, erhalten und gleichzeitig in seiner eigenen Darstellung gezielter von einer allgemein umrissenen Figur zur Erarbeitung von Details überwechseln. Andererseits erleichtert die zeitweilige Verkörperung des Gegenspielers das Verständnis für diesen und ermöglicht ein weitsichtigeres Agieren mit den Partnern. Wie bei der Schulung von technischen Körperfertigkeiten gilt auch für die Spiegelverkehrung, den fremden Vorgaben präzise zu folgen. Bewegungs- und Spielkonstruktionen aus der Distanz beobachten zu können, hilft, sie zu verändern und zu verifizieren, sie in der eigenen Vorstellung konkret werden zu lassen. Inwiefern das von unterschiedlichen Schauspielern gezeigte Spiel einer Figur für die Regie hilfreich sein kann, erläutert Yoshi Oida an einer Probensequenz zu Shakespeares »Sturm«: »Während der Proben improvisierte jeder alles, nicht nur die eigene Rolle. Die Gruppe wurde zum Beispiel paarweise eingeteilt, worauf jedes Paar die erste Begegnung zwischen Ferdinand und Miranda improvisierte. Auf diese Weise hatte Brook alle Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen und konnte unter den verschiedenen Angeboten das Beste auswählen« (Oida 1993; 30). Die Spiegelfunktion der Schauspieler steht hier in erster Linie im Dienste des Regisseurs, die daraus resultierende Verantwortung des gesamten Ensembles für jede einzelne Figur ist jedoch nicht zu unterschätzen. Das Ensemble erfindet Spielsequenzen, charakterisiert die Figuren und tauscht die Ergebnisse aus. Dank der unterschiedlichen Gestaltungsweisen und deren Eigenwilligkeit kann eine förderliche Reibungsfläche für die anderen Schauspieler im Hinblick auf die Darstellungsfindung erzeugt werden. In der internationalen Gruppe liegt dieser produktive Widerstand schon durch die Zusammensetzung des Ensembles, die kulturellen Unterschiede und die Palette von schauspielmethodischen und ästhetischen Sprechweisen auf hohem Niveau. Eine Verkettung und Verschmelzung von Darstellungsangeboten verschiedener Schauspieler zu einer Figur lässt alle an der eigenen Einbildungskraft partizipieren, regt durch die Vorstellungskraft anderer die eigenen Imaginationen an. Fantasietätigkeit wird zu einer kollektiven Aufgabe, die die Suche zwischen den Schauspielern, den Figuren und möglichen Imaginationen kreisen lässt.91 Gesammelt wird die Spielfantasie in langen und mannigfaltigen Improvisationen. Dabei unterscheidet Brook zwei grundlegend verschiedene Spielformen der Improvisation: »Da ist zum einen die Improvisation im Stil des Actors Studio, bei der immer vorgegeben wird: Du sitzt hier, hast eine Frau, mit der du dich überhaupt nicht verstehst, musst zum Zahn91 | Eine konsequente Weiterführung dieser kollektiven Spielverantwortung hat ihren Höhepunkt in einer Reihe von Aufführungen der »Konferenz der Vögel« gefunden. Allabendlich wurde die Besetzung getauscht, sodass jedes Gruppenmitglied der jeweiligen Rolle neue Seiten abgewinnen und sie und damit das gesamte Stück weiterentwickeln konnte (vgl. Brook 1989; 183).

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arzt. Hast du nun eher wegen deiner Frau, wegen deiner Geliebten, wegen deines Bankkontos oder wegen deiner Zahnschmerzen Angst? Nun improvisier mal. Der Betreffende beginnt also mit der Improvisation und hat den Kopf voller vorgefertigter Konzepte. Ich finde, das ist keine gute Voraussetzung für die Improvisation, aber sie ist manchmal nützlich. Wir haben seit unserer Zeit in Afrika nur das hier (stellt Schuh auf Tisch) als Ausgangsbasis verwendet. So, fang mal an. Das war alles, das war der Ausgangspunkt. Die Improvisation beginnt und der Schauspieler ist gezwungen, etwas zu tun. Na los, fang mal an. Improvisiere. (Sohn nimmt Schuh in die Hand.) Du merkst, dass du jetzt nicht einfach so stehen bleiben kannst. Du musst irgendetwas entwickeln. (Gibt den Schuh seinem Vater.) Jetzt, wo ich den Schuh habe, spüre auch ich die Verpflichtung. Aber das ist echte Improvisation, es lastet der Druck auf mir, zu reagieren. Ich könnte zum Beispiel (deutet an, den Schuh auf den Boden zu knallen). Es ist immer am einfachsten, aggressiv zu reagieren, und während der Improvisation landen die Schauspieler sehr oft an diesem Punkt. Man kann aber auch etwas ganz anderes machen, man kann sehr feinfühlig vorgehen, so etwa (schmeckt vorsichtig am Schuhband). Oder man könnte sagen: ›Ah, sieh mal.‹ (Schaut durch Schlaufe des Schuhbands.) [...] Für mich ist diese Art der Improvisation befreiender und interessanter, als wenn feste Themen vorgegeben sind« (Brook in Brook 2001; Video) Die zweite Spielweise der Improvisation setzt Brook in nachfolgenden Inszenierungsarbeiten fort. Häufig beginnt das Spiel mit diversen Materialien, an denen die Darsteller sich bedienen können, und erst im Verlauf der Probenzeit wird festgelegt, welche davon in der Inszenierung beibehalten werden und von welchen man sich trennt. Setzt die Suche weder an der Psychologie von Figuren noch an vorgegebenen situationalen Kontexten an, kann ein originäres Spiel mit Bildern und Vorgängen entstehen. Es schafft eine Unabhängigkeit gegenüber vorgestanzten Rollendefinitionen und bietet die Chance, eine Beziehung zum Partner und zum Zuschauer aufzubauen, die noch von keiner zweckgerichteten Erzählabsicht dominiert wird, offen bleibt für unerwartete Ereignisse und Fantasien, Spielideen laufend transformieren kann. Anhand der Rekonstruktion der ersten Szene einer seiner »Sturm«-Inszenierungen lässt sich diese Suche erahnen: »Die erste Szene, der Schiffbruch, gingen wir auf mindestens zwanzig verschiedene Weisen an. Es gab Planken, mit denen das Deck eines Schiffes angedeutet werden sollte [...], Ariel und die Geister [...] warfen ein Modellschiff über die Köpfe der anderen Schauspieler hinweg, zermalmten es mit einem Stein oder versenkten es in einem Eimer Wasser. [...] Matrosen erklommen Leitern oder krabbelten in die verschiedenen Logen des Zuschauerraums [...]. Alles war aufregend in dem Moment, als es uns einfiel, und kein bisschen überzeugend, wenn wir es am nächsten Tag mit kühlem Kopf betrachteten – und dann unweigerlich, ohne Bedauern aufgaben. [...] Nichts erschien uns geeignet. Jedes Bild hatte seine Nachteile: zu konventionell, zu weit hergeholt, zu intellektuell, schon mal da gewesen. Eine nach der anderen

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wurden die Gerätschaften über Bord geworfen, die Bretter, die Seile, Stahlleitern, die Modellschiffchen. Doch nichts geht je ganz verloren – alles ließ irgendeine Spur zurück, die Wochen später unerwartet in einer anderen Szene wieder auftauchte [...]« (Brook 1994; 156f.). Das breite Recherchieren über Inszenierungsmotive gibt den Improvisationen eine Offenheit. Die freie Suche bleibt insofern erhalten, als keine die Figurenhandlung determinierenden Vorgaben Fantasie kanalisieren, der Erzählabsicht folgend werden aber konzeptionelle Vorstellungen darstellerisch überprüft. Es gibt eine übergeordnete Aufgabe, die Erzählabsicht, entlang derer sich das Spiel entspinnt. »Durch die Improvisation wird auch die Konzeption auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. [...] Improvisieren ist wie jonglieren, es gilt, stets das Gleichgewicht zu wahren« (Piccoli, zit.n. Ortolani 2005; 229). Die Basis bildet eine konzeptionelle Fantasie, die der Suchrichtung einen Rahmen vorgibt und die Spielimpulse der Schauspieler auf ein Ziel hin bindet. Gleichzeitig ist das Spielfeld mit Requisiten und Materialien bestückt, Imaginationen können im realen Raum anknüpfen, Transformationen sich am konkreten Gegenstand veräußern. Die offene Suche nach Erzeugung und Darstellung von szenischen Situationen für eine Inszenierung findet erst über den Verlauf der Zeit zu einem brauchbaren Ergebnis, sodass sich parallel dazu die unterschiedlichen Fantasiewelten ineinanderfügen. Die Arbeit schreitet voran, indem nach einer Phase turbulenter Fantasietätigkeit nach und nach die Konzentration auf wesentliche Essenzen dieser Erkundungen gelenkt wird. Präzise Imaginationen werden gefordert, die in einer ersten Etappe Spielmöglichkeiten sondieren und differenzieren. »Was ist Zorn? Was bedeutet es, Zorn, Angst, Freude und so weiter zu spielen? Bedeutet es, in einem Bilderbuch zu blättern und daraus Klischees des Zorns oder der Angst oder der Freude zu entnehmen? Bedeutet es, die ›charakteristischen‹ Geräusche der Freude aus seinem persönlichen Tonarchiv zu nehmen? In jedem Moment, in jeder Situation ist der Zorn grundverschieden. Jedes Gefühl ist absolut einmalig und einzigartig. Das bedeutet Genauigkeit« (Rostain 2005; 139). Einige Zeit später schildert er die nächste Phase: »Peter unterstreicht jetzt einen anderen Aspekt der Arbeit: die innere Erforschung des Körpers und des Verhaltens der Figuren. Es geht nicht darum, von der Figur eine allgemeine Idee zu haben. Es geht um ihr Leben in jedem Augenblick« (ebd.; 142). Mit der Verdichtung der gefundenen Spielimpulse geht einher, über eine neue Aufmerksamkeit in der Improvisation die Kontaktstellen nach außen, das Spiel mit Partner, Zuschauer, Spielobjekten, in die Innenwelt zu übersetzen, die eigenen Regungen feinfühliger zu untersuchen und die Darstellung mit konzentrierteren, klareren inneren Vorgängen in Korrespondenz zu bringen. Oida kennzeichnet dies als einen in Brooks Arbeit mehr und mehr in den Vordergrund tretenden Prozess. Er hält rückblickend auf die Entwicklung der Inszenierungspraxis fest: »Peters Arbeit ist immer radikaler, immer minimalistischer geworden. Der Minimalismus macht die Probenarbeit für die Schauspieler, aber auch für alle anderen Beteiligten, auf

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eine Art schwierig, denn wir müssen zunächst allein immer den stärksten Ausdruck finden und uns dann weiter zurücknehmen, was aber natürlich nicht bedeutet, dass wir am Ende nur noch auf der Bühne herumstehen! Nein, wir beginnen mit einem maximalen Angebot und dann wird immer mehr weggenommen, Stück für Stück. Man konzentriert sich auf das kleinste Detail und vor allen Dingen auf die inneren Vorgänge. Entscheidend ist nämlich, dass du im Innersten lebendig bist und eine maximale Konzentration auf das Wesentliche entwickelst. Das Innere ist scheinbar unsichtbar, aber es kommt doch und vor allem zum Ausdruck! Es ist Peters große Stärke, alles Überflüssige nach und nach zu entfernen, so, wie Matisse schließlich mit wenigen Strichen auskam« (Oida 2005; 249). Der theatrale Akt lebt Brook zufolge von dieser Reduktion. Je beharrlicher man nach Minimalismen sucht, desto größer und lebendiger wird der Bedeutungsraum um diesen Vorgang herum. Im Unterschied zur filmischen Fantasie charakterisiert er die besondere Vorstellungskraft, die im Theater eingefangen und ausgelebt werden kann: »Wenn man nichts weiter tut, als zwei Menschen nebeneinander in einen leeren Raum zu stellen, gerät jede Einzelheit umso genauer in den Blick. [...] Im Theater kann man sich beispielsweise einen Schauspieler in Alltagskleidung vorstellen, der mit Hilfe einer weißen Skimütze anzeigt, dass er den Papst spielt. Ein Wort würde genügen, um den Vatikan heraufzubeschwören. [...] beim Theater füllt die Phantasie den Raum [...]. Leere im Theater gestattet der Phantasie, die Lücken zu füllen. Paradoxerweise ist die Phantasie umso glücklicher, je weniger man sie füttert, denn sie ist ein Muskel, der gerne Spiele spielt« (Brook 1994; 42f.). Die Leere als Ideal, die Fantasie als ein Muskel – beides findet in seiner Arbeit eine Synthese.

2.3.4 Zwischenstopp Spiele um Imagination sind zentrales Bindeglied zwischen körperlicher und sprachlicher Praxis, zwischen inneren und äußeren Wahrnehmungen und zwischen dem Eigenen und dem Fremden/Anderen. Ohne sie ist keine theatrale Praxis möglich. Gemeinsam ist allen drei Regisseuren, dass sie die Fantasie als Muskel verstehen, der bei Spielern und Zuschauern trainiert werden kann und muss. Die schauspielerische Einbildungskraft zu kräftigen, flexibel und dehnbar zu machen ist dazu notwendige Voraussetzung. Tabori spielt dabei mit den konkreten, persönlichen Fantasien der Darsteller und fokussiert imaginative Konstellationen menschlicher Beziehungsrealitäten. Wilson hingegen vertraut auf das überindividuelle Wissen des Spielers, das nur durch einen imaginativen Prozess zur Geltung gebracht werden kann, während Brook den Spielen um Imagination konkrete Spiel-Räume und Spiel-Zeiten schafft, die als Konzentrat die fantastischen Ideen in dichte Imaginationen transformieren. Bei allen drei Regisseuren geht mit der Intensivierung der Fantasie eine notwendige Flexibilität einher, mit der die Darsteller die Imagination für szenische Ereignisse geschickt einsetzen und verwandeln können. Die

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notwendige Distanzierung von privaten Emotionen, die Teil dieser Imaginationen sind, wird von Tabori durch die Herausforderung einer permanenten Reaktionsfähigkeit auf den Partner und neue szenische Gegebenheiten unterstrichen. Sein Mitspiel ist ein aktives Eingreifen, durch das er die Spiele um Imaginationen lenkt und kontrolliert. Wilson unterstützt ebenso aktiv die konkreten Suchbewegungen der Schauspieler und ermöglicht durch seine Vorschläge von vorgestellten Situationen den Spielraum, der die imaginativen Elemente in einer Schwebe zwischen eigenen und fremden Bildern ausbalanciert. Von Brook wird in der Strukturierung der Improvisationen ein szenischer Spielkontext geschaffen, der die Fantasietätigkeit immer auf ein Gegenüber, den Zuschauer oder Mitspieler, richtet und auf eine Beantwortung angewiesen ist, die das eigene Imaginationspotenzial in eine neue Richtung lenkt und ein Abdriften in private Innenräume verhindert. Konzentration und Partnerspiel sind bei Tabori und Brook eine methodische Basis für das Spiel um Imagination, Tabori aber nutzt sie, um konkret, mutig, tabulos mit der eigenen Bildwelt in den Kontakt nach außen zu treten. Brooks  Vorgehen ist ein wesentlich nüchterneres, er schöpft die Fantasiepotenziale seiner Schauspieler zur Erkundung von gestalterischen Fragen aus, macht Experimentierspiele am Material und verschiebt die freigesetzten Ideen nach und nach in das Studium der Nuancen, dieser notwendigen, minimalen, fast unsichtbaren Andeutungen, die ausreichen, um eine klare und weitere Imagination des Zuschauers auszulösen. Bei Tabori beginnt das Spiel mit Imaginationen ähnlich wie die Probe mit einer Vorbereitung. Das ungelenkte Zulassen von privaten Fantasien wird erst allmählich in eine Richtung geführt. Wesentlich sind die Zwischenstationen unterwegs. Von körperlichen Vorgängen inspirierte oder unter Geheimhaltung stehende persönliche Imaginationen bereichern das mehr und mehr szenisch gestaltete Handeln. Übungen in konkreter Fantasie spielen mit Subtexten und Kontexten, die eine Unbedingtheit des Handelns provozieren, es in persönlich, gesellschaftlich und politisch reale Horizonte einbetten. Die direkte Manipulation der Imagination in szenischen Situationen macht vorgestellte Erfahrungen zu realen Erlebnissen, die das Fantasiepotenzial an den entscheidenden Stellen unterfüttern und das Spiel der Imagination anheizen. Vorgestellte und reale Spiele mit der Bühnensituation und den Darstellern treiben die beiden Ebenen immer stärker aufeinander zu und enden in einer eigenen Wirklichkeitsebene, in der Imagination und Realität wechselweise die Führung übernehmen. Je konkreter die Imaginationen an Alltagssituationen anknüpfen, desto sicht- und spürbarer werden persönliche, gesellschaftliche oder politische Relevanzen menschlichen Miteinanders. Die Stabilität und die Sicherheit abrufbarer Vorstellungskraft werden von unerwarteten Störungen durchkreuzt, sodass eine Verausgabung an die Fantasie das Spiel der Imaginationen neu herausfordert und verschärft. Das Pendeln zwischen Erinnerung und Vergegenwärtigung wird zu einem Geflecht von zeitli-

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chen Sprüngen, in dem die Imaginationskraft Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander in ein spielhabendes Verhältnis transformiert. Im Gegensatz zu Tabori ist in Wilsons Spielen um Imagination der bewusst verfügbare Erfahrungshorizont des Darstellers kaum von Interesse. Er zielt vielmehr darauf ab, die Prägung der Fantasie durch gelebtes Leben abzustreifen und eine Leere herzustellen, in der das Andere/Fremde der Imagination zum Zuge kommen kann. Dabei spielt er mit dem Unbekannten, dem Nicht-Wissen, um von dort aus die körperlichen Aktionen mit Bildern zu füllen, die zeitlose und autonome Erzeugnisse der Fantasie sind, nur zufällig und vorübergehend von einem Schauspieler als Träger vergegenwärtigt und belebt werden. In der Übereinstimmung von Form und Spieler, Form und Imagination entsteht eine Resonanz dieser Bilder in den sichtbaren Darstellungsereignissen und spiegelt beides für den Betrachter als gelebte Einheit. Brooks Spiele um Imagination beginnen bei dem Reichtum des Handelns, der bei einer konkreten, nicht psychologischen Vorgabe ansetzt. Die breite Palette spielerischer Möglichkeiten freizusetzen ist von der Vorstellungskraft des Schauspielers getragen, mögliche Situationen und Handlungen konkret werden zu lassen. Inspirationsquellen sind Materialien, die einen variantenreichen, nicht alltäglichen Gebrauch erlauben, und die Spielpartner, die in der Funktion des Spiegels eine Distanznahme zu skizzierten eigenen Erfindungen ermöglichen, um diese anschließend zu erweitern und zu verfeinern. Das ausufernde Spiel mit Ideen und Fantasien innerhalb szenischer Situationen wird bewusst breit angelegt, um möglichst viele Assoziationsspielräume zu öffnen.

3 R EGIE ALS S PIEL Die Analysen von PraxisHaltungen in den beiden Kategorien zwischen Nicht-Spiel und Spiel sowie zwischen Spiel und Spiel haben dialogische Prozesse innerhalb der Probenpraxis nachgezeichnet. Neben der gezielten konzeptionellen Entwicklung von Spielprozessen und den Verfahrensweisen im Umgang mit Sprache, Körper und Imaginationen soll abschließend der Versuch unternommen werden, das Selbstverständnis von Wilson, Tabori und Brook zu befragen. Führungsstil, Vermittlungsanliegen und Ensemblebildung stehen dabei im Vordergrund. Wie in dem komplexen Vorgang einer Regie als Spiel Eigen- und Fremdzuschreibungen eine PraxisHaltung sichtbar werden lassen, gilt es zu untersuchen. Ohne eine diskurstheoretische Analyse anzetteln zu wollen, werden Aussagen von Kritikern, Mitarbeitern und den Regisseuren selbst patchworkartig aneinandergereiht. Die Unwägbarkeiten eindeutiger Zuschreibungen sollen damit zur Geltung gebracht und der Versuch unternommen werden, das Selbstverständnis als eine vage Konstruktion über die Praxis in Haltungen zu zeigen.

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In einem ersten Schritt wird versucht, in der Gegenüberstellung von Fremd- und Selbstzuschreibungen das grenzgängerische Leitungsverständnis der drei Regisseure zu verorten (Kapitel V.3.1). Ihre Haltung zur Vermittlung wird anschließend in den Solidaritäten, die sie in Bezug auf die Spieler pflegen, eruiert (Kapitel V.3.2). Zum Schluss wird der Einfluss auf den Ensemblegeist im Gefüge von Regie und Spiel an exemplarischen Positionen der Regisseure und ihrer Spieler herausgestellt (Kapitel V.3.3). Ein  Zwischenstopp bündelt die gewonnenen Eindrücke (Kapitel V.3.4) und leitet zu einem letzten spielenden Denken (Kapitel V.4) über.

3.1 Grenzgänger Fremdzuschreibungen. »Kein Zuschauer weiß«, schreibt der Theaterkritiker Heinrichs, »ob er in Wilsons Theater dem Glück des Schauspielers zusieht oder seiner Gefangenschaft. Und viele aus dem Thalia-Ensemble werden schon heute nicht mehr wissen, ob die Proben mit Wilson eine Erleuchtung waren oder eine Tortur. Ob sie Wilson wirklich in ein neues, weites Land des Theaters geführt hat oder bloß in dessen glitzernde Eiszeit« (Heinrichs/Nagel 1996; 176). Ins Kreuzfeuer der Kritik gerät nicht nur Wilson, auch Brook und Tabori ernten widersprüchliche Reaktionen. Eine der wenigen kritischen Stimmen zur Arbeit Peter Brooks ist die David Selbournes, dessen Augenzeugenbericht zu der Inszenierungsarbeit des »Sommernachtstraums« in den 1970er-Jahren ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Brook markiert: »Are we being presented a social form, without social content? Who is watching? Does this audience represent the few, the very few, or the many? And is this a step ›towards the poor theatre‹ of Jerzy Grotowski, or a day-trip from a rich one?« (Selbourne 1982; 325). Fragt Selbournes Kritik nach der gesellschaftlichen Relevanz dieses Theaterexperiments, wird gegenüber Tabori der Vorbehalt laut, seine Experimente verfolgten eher therapeutische denn künstlerische Ziele. Selbst der dem Regisseur grundsätzlich wohlgesinnte Dramaturg Schulze-Reimpell spielt mit dieser Zuschreibung: »Tabori ermutigte Schauspieler zu sich selbst und führte immer wieder völlig unbekannte, auch mittelmäßige Darsteller zu exemplarischen Leistungen. Dabei ist Tabori eher ein naiver Regisseur, weniger ein Macher als ein Therapeut. Er ordnet sich so sehr wie möglich einer Gruppe unter und überlässt sich am liebsten der Phantasie der Schauspieler, die er mit ihrer privaten Wirklichkeit zu synchronisieren versucht« (Schulze-Reimpell 1997; 12). Die Naivität, die diesem Prozess angekreidet wird, gibt Anlass, das Verhältnis zwischen Kunst und Subjekt, zwischen Sachlichkeit und Menschlichkeit erneut aufzuwerfen: Kann künstlerische Naivität mit therapeutischem Geschick wettgemacht werden? Und brauchen mittelmäßige Darsteller therapeutische Begleitung, um auf der Bühne glänzen zu können? Selbst Wilsons gänzlich entgegengesetzter Regiestil wird mit dem Prädikat des Quasitherapeutischen belegt, das aus seinem biografischen Hintergrund – der Arbeit mit behinderten Kindern und hirngeschädigten

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Klinikpatienten – herbeizitiert wird. Als »Therapeut und Helfer« bringt er es fertig, Eigenwilligkeiten zu nutzen und stark zu machen, denn »Hilfe heißt [bei Wilson; ms] nicht Normalisierung, Rückgängelung in die Leistungswelt. Aufgespürt, geschätzt, genährt werden sollte zuerst ein unverwüsteter Keim: mitten in jenem schwarzen Knoten von Ichgefühl und Eingeweide, der das Versteck der gefolterten Seelen ist. [...] Wilsons Probenarbeit ist sozusagen therapeutisch: voll der Neugier auf bizarre, unerwartete Freude – und voll eines absurd geduldigen Vertrauens« (vgl. Heinrichs/Nagel 1996; 208f.). Hier wird die Helferfunktion des Regisseurs verknüpft mit einer therapeutischen Strategie, die nicht darauf ausgerichtet ist, widerständigen, auffälligen Eigensinn in gesellschaftlich anerkannte Bahnen zu lenken, sondern gerade davon lebt, den Menschen in einem klar umrissenen Kontext von gesellschaftlichen Determinismen freizustellen. Oder richten sich die Kommentare eigentlich gegen den Machbarkeitswahn mancher Regiestile, die ob ihrer Selbstbezogenheit das Hinschauen, das Zuhören und das Erkennen des Gegenübers vernachlässigt haben? Auf diese vorschnelle und missbräuchliche Einordnung von Regiepraxis als therapeutischer Intervention einen skeptischen Blick zu werfen, ist notwendig, um Mischungs- und Überschneidungsaspekte etwas differenzierter sichtbar werden zu lassen. Die in beiden herangezogenen Äußerungen enthaltene Vorannahme, dass künstlerische Praxis seitens der Regie mit einem Leistungsparadigma verknüpft sei, dem sich Darsteller beugen müssen, kann offenbar begründet angezweifelt werden. Eine die Entwicklung der experimentellen Unternehmungen rekapitulierende Sichtweise bringt die kritischen Urteile in die Schwebe. Gromes bescheinigt Brook beispielsweise eine politische Relevanz, die seiner Ansicht nach ihren Ursprung in der internationalen Ausrichtung des CIRT ihren Anfang genommen hat. Er schreibt: »Brook [...] öffnet neue Horizonte. Er erweiterte seinen Horizont auf den Reisen, die ihn später mit seinem Theater nach Persien und Afrika führten, und er erweiterte seinen Horizont seit der Gründung des Centre International de Recherches Théâtrales 1970 in Paris vor allem, indem er ein internationales Ensemble um sich versammelte« (Gromes 2006; 181). Den aus diesen Erfahrungen resultierenden Ergebnissen spricht er eine demokratische Besonderheit zu: »All das, was er als Forschung bezeichnet, ist eine Praxis, die sich auf den Menschen hin bewegt und die im allgemeinen Sinn demokratisch, also politisch ist, weil sie von den gleichen Anteilen ausgeht, die Zuschauer und Schauspieler an der Vorstellung haben« (ebd.; 183f.). Er stellt die Aufführungspraxis mit einem Menschenbild Brooks in Zusammenhang, das er seiner Künstlertheorie entnimmt, und attestiert dem Bestreben das Prädikat eines politisch relevanten »transkulturellen Theaters«, das von Brooks »Kultur der Verknüpfung« getragen wird (vgl. ebd.; 203f.). Auf eine längere Entwicklungslinie blickt ebenso Feinberg zurück, wenn sie Taboris Stil der Regieführung anhand einer Figur seiner Inszenierungen identifiziert. Der auf der Bühne präsentierte Theaterdirektor

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einer Kafka-Bearbeitung nimmt nach Feinberg die für Tabori beispielhafte Haltung ein: »A remarkable, strong-willed stage veteran, he takes a dim view of theatralicity, of passing modes and fashionable conventions. Instead he advocates the invigoration and stimulating reciprocity between life and art. [...] Rather than demonstrating or setting an example for the actor to follow, the Director encourages him the role slowly, patiently, and ultimately to find the role in himself« (Feinberg 1998; 60f.). In dieser Hinsicht ist Tabori auch bei Schulze-Reimpell eine kompetente Kapazität und wird zum »geschickten Regisseur und Repräsentant(en) seiner selbst – bescheiden im Auftreten, scheinbar keines Aufhebens bedürftig, ein wenig wohl auch schüchtern und dabei von starker Präsenz. Das Geheimnis seiner Wirkung beruht auch im meisterhaften Vermögen, sich Freunde zu machen, und seiner Freundschaftsfähigkeit« (Schulze-Reimpell 1997; 16). Tabori, so der Eindruck, überzeugt durch ein sympathisches Auftreten, das andere für ihn einnimmt und positiv besetzt wird. Aber sagt es etwas aus über sein didaktisches Geschick und dessen Qualität? Eine konkrete Wiedergabe des Verhaltens auf der Probe am Beispiel Wilsons macht den Unterschied von Interpretation und Beschreibung einer PraxisHaltung ersichtlich. Der Theaterkritiker Schreiber gibt seine Beobachtungen wieder: »Immer wieder ist die leere Bühne der Ort seiner Inspiration. Manchmal sitzt er minutenlang wortlos davor – wie in Trance. Oder er stellt plötzlich seinen Kaffeebecher in die Mitte. Er denkt. Er beschwört ein Bild, das es noch nicht gibt. Die Bewegungen, die er dann produziert, kommen aus einer medialen Versenkung ins eigene Körpergefühl. Und die gefundene Geste erscheint als Selbstzweck, ohne direkten Bezug zum Inhalt der Darstellung. Nicht wie Ballett soll es aussehen, eher wie eine Skulptur. Oder er »denkt« mit dem Zeichenstift am Regietisch, stumm und kaum erreichbar für die Wartenden. Es entstehen lange Pausen, in denen der Regisseur suchend zwischen Bühne, Requisiten und Schauspielern hin- und herwandert, während alle schweigend schauen, was er wohl finden wird« (Schreiber 1996; 12f.). Die Wahrnehmungen von Mitarbeitern – zumal wenn sie eine analytische Perspektive einnehmen können, wie Heiner Müller – bringen eine Mentalität in Erscheinung, die die Praxis des Miteinander-Arbeitens einschließt. Müller schreibt: »Das Faszinierende bei Bob ist, dass er mit seinen Materialien umgeht wie ein Kind, das spielt und seine Burgen baut, und da kann man stören, muss man stören, es bleibt aber immer ein Spiel« (Müller 1996; Band 2; 111f.). In Taboris Fall berichtet die Schauspielerin Hanna Schygulla: »Tabori hat es gern, wenn auf der Bühne bis zuletzt alles in der Gefahr schwebt, schiefgehen zu können. Er hat einmal gesagt: ›Das Schönste für mich am Theater sind die Unfälle.‹ Darauf sagte ich: ›Für dich schon‹« (Schygulla, zit.n. Ohngemach 1989; 106). Selbstverständnis. Nähert man sich der Frage nach der Leitungsrolle über Selbstaussagen der Regisseure, haftet den Aussagen zwar die Tendenz an, didaktische Prozesse und Führungsstile zu pauschalisieren, sie geben

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aber dennoch einen Einblick in die Gegensätzlichkeit der Kräfte, die ihre PraxisHaltungen auszeichnen. Das individuelle Vermögen wird meist entweder anhand des persönlichen Werdegangs festgemacht oder in Leitsätze gegossen, die die einzelne, konkrete Herausforderung und ihre Lösung verdecken. »Ich habe angefangen wie jemand, der malt und nichts anderes hat als einen Zeichenstift« (Brook, zit.n. Ortolani 1988; 36), erläutert Brook und gibt zu bedenken, dass für das eigene Regiehandwerk im Laufe der Jahre zwar die große Ungeschicklichkeit des Anfangs verloren gegangen sei, das Risiko und die Herausforderung, die das Inszenieren an einen stellt, jedoch eher zunehmen als abnehmen (vgl. Brook 1997; 70f.). Das wichtigste Gebot lautet für Brook entsprechend, jedes Mal wieder die eigene Regel zu befolgen, alles infrage zu stellen und im Nichts zu beginnen. An anderer Stelle antwortet er auf die Frage, wie er mit Unsicherheiten während eines Inszenierungsprozesses umgeht: »Das Gefühl, dass man Unrecht haben könnte, ist die ganze Zeit da. Ich glaube nicht, dass man deswegen keine festen Überzeugungen hat. Äußerst ungesund ist es, für länger als ein oder zwei Augenblicke an diese Überzeugung zu glauben. Für einen Moment müssen Sie hundertprozentig überzeugt sein, sonst ist einfach alles so schwach. Sie müssen zwei Seelen haben. Die eine sagt: ›Ich bin überzeugt‹, und die andere sagt: ›Gemach, das könnte völlig falsch sein.‹ [...] Ich glaube, das Wichtigste für jedermann ist die Fähigkeit, zu bejahen und nachzugeben. Stark zu bejahen, denn sonst wird Ihre Arbeit schwach. Und bereitwillig nachzugeben, denn sonst sind Sie nur stur« (Brook 2003; 92ff.). Dieser Einsicht würden Tabori und Wilson vermutlich zustimmen, ihr nötigenfalls eine eigene Note geben, ohne jedoch deren Grundsatz in Frage zu stellen. Setzt man die Suche nach Orientierungspunkten für die Praxis der Regie fort, findet man bei Brook einen beachtenswerten Verweis auf von Regievorbildern weitergegebene Prädispositionen. Der Einfluss, der unter anderem von Craig, Artaud, Meyerhold und Brecht auf die gegenwärtige Theatertätigkeit ausstrahlt, ist weniger technischer als vielmehr ideeller Natur: »Diese berühmten Persönlichkeiten sollen weniger in ihrer Methode für uns beispielgebend sein, sondern in ihrer Leidenschaft. [...] Regisseure arbeiten nie allein: Sie fungieren innerhalb eines komplexen Beziehungsgeflechts, und darin besteht ihre Stärke. Das Wie und Warum des Regieführens wird von anderen Menschen gestaltet. [...] Der Regisseur seinerseits kann für die Leidenschaft sorgen, die das Feuer zu entfachen vermag« (ebd.; 79f.), wie er dies im Einzelfall tut, ist von ihm selbst kaum zu beantworten. Auf die Frage »Was macht dich süchtig nach dieser Arbeit mit den Schauspielern?« antwortet Tabori: »Das ist eine Frage, die ich leider nicht beantworten kann. Ich habe vergeblich darüber nachgedacht« (Kässens 2004; 143), und verdeutlicht, dass es nachzudenken gilt, obwohl gesicherte Erkenntnisse nicht auszumachen sind. In einem Aufsatz mit der Überschrift »Wie und warum Regie führen« versucht Brook, die Arbeit des Regisseurs in »zwei simplen Worten«

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zusammenzufassen: »Warum und wie. Diese  beiden Worte gehen nicht ohne weiteres zusammen. Warum ist sowohl ein kleines Wort als auch ein gigantisches Konzept. Warum überhaupt Theater machen? [...] Wenn ein Regisseur seine Arbeit aufnimmt, bewegt er sich von ›Warum möchte ich ein Teil dieser Welt sein?‹ zum ›Wie kann ich Theater machen?‹. Das Wie kann auf kleine Angelegenheiten hinauslaufen, seien sie gewichtige, praktische Details oder einfach nur furchtbar nichtige Dinge. Doch die Rolle des Regisseurs, gleich welcher Schule oder welchen Stils, besteht stets darin, eine lebendige Verknüpfung herzustellen, die weder den Verrat an dem kleinen warum noch an dem großen Warum, weder an dem kleinen wie noch an dem großen Wie begeht« (Brook, zit.n. Ortolani 2005; 77; Hervorhebungen im Original). In der Regiepraxis umfasst das Hinund-her-gerissen-Sein zwischen den verschiedenen Dimensionen des Wie und dem Warum den qualitativen Kern und treibt eine Bewegung an, die versucht, dieser Ungewissheit zu begegnen. »Wie kann der Regisseur dem großen Warum standhalten und gleichzeitig in der Welt des Wie bleiben?« (vgl. ebd.; 78) kennzeichnet eine Balance, die immer wieder neu ausgelotet werden muss. Das von Brook dargelegte ›große Warum‹ beantwortet Wilson schlicht mit den Worten: »The reason why I work as an artist is to ask questions. That is to say: What am I doing? What is this?« (Homepage Wilson). Bei der Erforschung einer lebendigen Verknüpfung bezieht er automatisch den Schauspieler als Subjekt in seine Überlegungen mit ein: »Ich beobachte den Schauspieler, beobachte seinen Körper, höre seine Stimme und dann versuche ich mit ihm zusammen das Stück zu machen« (Wilson, zit.n. Fischer-Lichte 1997; 216). Tabori relativiert das Mysterium, indem er Pole benennt, die in der Regiepraxis entzifferbar gemacht werden müssen: »Ich bin am Theater nur aus einem einzigen Grund: weil ich glaube, es ist das schwierigste und anspruchsvollste aller Medien; denn selten – wenn überhaupt – kann es die zarte Synthese zwischen Zufall und Form, Freiheit und Notwendigkeit finden. Aber wenn Theater Erfolg haben soll, muss es auf Bedingungen bestehen, die nicht weniger rational sein dürfen als die eines Gemischtwarenhändlers oder als die vom FC Bayern« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 15).

3.2 Solidaritäten Die Antipoden Freiheit und Notwendigkeit, die seine Praxisreflexionen leiten, versucht Tabori an der konkreten Arbeit genauer dingfest zu machen: »Was sind die Grenzen der Freiheit? Ich bin zwar kein Hegelianer, aber ich glaube ebenfalls, dass Freiheit aus der Einsicht in die Notwendigkeit kommt. Nehmen wir als Beispiel das Improvisieren [...]. Improvisieren heißt nicht etwa, dass jeder macht, was er will. Wenn es kein striktes Thema gibt, dann ist es keine Improvisation. Und wenn jemand das Thema oder die Aufgabe verlässt, dann ist die Form aufgehoben, dann ist es vorbei, dann ist die Freiheit auch nicht mehr da. [...] Und jetzt heißt die

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Frage: Wo findet der Schauspieler die Freiheit, überhaupt lebendig zu bleiben? Strasberg und Stanislawski meinten, der Widerspruch sei produktiv, es sei möglich, lebendig zu bleiben, auch wenn ich genau denselben Gang mache, jedes Mal auf die gleiche Weise einen Satz sage. Ich finde das höchst fraglich, dass es jeweils nur eine richtige Art gibt. Schauspielern wie Ignaz Kirchner oder Gert Voss vorzuschreiben, wie sie einen Satz sagen sollen, das ist einfach absurd. Es entsteht dann unvermeidlich eine Verdummung, wenn man sie als Idioten behandelt. [...] Sehr oft, scheint es mir, probieren die Regisseure, nicht die Schauspieler. Meine Eitelkeit liegt ganz woanders, nicht in diesen Gottesspielen« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 66f.). Merkmal für ein ausgewogenes Pendeln zwischen beiden Kräften sind der Impuls, von dem aus Improvisationen getragen werden, deren Zielvorstellung und die an der Probierlust ansetzenden Interventionen seitens der Regie. Das Spielhaben der Kräfte freizusetzen und dabei zugleich die Freiheit des Spielers in einer als notwendig anerkannten Aufgabenstellung entfalten zu können, wird Gradmesser des Handelns. »Wenn du ein kleines Ensemble hast, treten viele technische und hierarchische Probleme gar nicht erst auf«, glaubt Tabori, »die Schauspieler haben dafür andere Erfahrungen und Fähigkeiten. Sie können sich [...] menschlich und künstlerisch ständig weiterentwickeln. Das betrifft auch Spielleiter und Stab. Weiterentwicklung, das heißt auch Training und all die Dinge, die dazugehören« (ebd.; 31). Die Ästhetik theatraler Ereignisse von den menschlichen Beziehungen her zu bestimmen wird als Vermittlungsanliegen Taboris deutlich, denn »Spieler mögen sich einsam fühlen, sind aber nie allein. Hinter dem Wandteppich steckt immer ein anderer. [...] Ein Kollektiv taugt nichts, wenn es nicht aus einer menschlichen und nicht nur formalen Solidarität entwickelt wird (Tabori 1993; 89). Einer solchen solidarischen Haltung Ausdruck zu verleihen, sie als Notwendigkeit und als Freiheit zu begreifen, zeichnet Taboris Lehrverständnis aus. Erforderliche Voraussetzung ist neben der kontinuierlichen Arbeit in einer kleinen Gruppe die Möglichkeit der Reaktion auf das, was von einem Publikum in den Beziehungskreislauf eingespeist wird. Nicht zuletzt deshalb spricht er sich für eine Praxis abseits von institutionellen Zwängen aus:92 »Am großen 92 | Dahinter liegt Taboris Utopie eines gemeinsam arbeitenden Ensembles, das weniger an den großen ästhetischen und formalen Experimenten institutionalisierter Theater interessiert ist, sondern eine eigene politische und ästhetische Sprache entfalten kann, deren Integrität und Experimentierfreude auf der anthropologischen, moralischen und politischen Basis menschlicher Beziehungen entwickelt wird und sich nicht einem rigiden Theatersystem beugen muss (vgl. ebd.; 29f.). Die Notwendigkeit, das Theater von einem gesellschaftlich-menschlichen Standpunkt aus zu entwickeln, widerspricht den Gesetzmäßigkeiten des staatlich subventionierten Theatersystems, gleichzeitig beinhaltet eine Entscheidung gegen das System andere Notwendigkeiten, die gewonnene Freiheit ist entsprechend relativ.

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Haus kann man etwas Schönes produzieren, das den Leuten gefällt. Aber praktisch gesehen sind Katakomben besser. Zum Beispiel ›Mein Kampf‹ im Akademietheater: Ich bestehe darauf, nach der Premiere weiterzuarbeiten, einzubauen, was ich vom Publikum gelernt habe. Es ist unmöglich, ich kann keine Probe haben. Also, das, was der Matisse gemacht hat, im Museum, wo seine Bilder schon hingen,  herumzugehen und sie zu korrigieren, das ist für mich das Ausschlaggebende« (Tabori, zit.n. Feinberg 2003; 148f.). An anderer Stelle führt er aus: »[...] eine Premiere ist nicht die letzte Probe. Aus der Begegnung mit dem Publikum entsteht viel Neues, und ich habe oft nachher noch geändert. Wichtig ist dann zu fragen: was ist jetzt der Zustand des Ensembles? Langweilen sie sich? Ist es zu glatt geworden? Oder fehlt was, was man neu probieren muss? Es sollte eigentlich immer möglich sein, das zu überprüfen« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 57). Taboris Einstellung gegenüber der Premiere als unabgeschlossenem Zwischenstadium des Experiments gleicht jener Brooks: Beide schätzen eine Fortsetzung der Probenarbeit aufgrund der Erfahrungen mit Zuschauern als selbstverständlichen Bestandteil der Praxis und halten sie hoch. Das Bewusstsein für die Ambivalenz von Freiheit und Notwendigkeit ist ebenso bei Brook zu erkennen. Auch er exemplifiziert am Beispiel des Improvisierens die praktische Relevanz eines sorgsamen Umgangs mit diesem Antagonismus seitens des Regisseurs: »Wenn Sie zu einem frühen Zeitpunkt bei den Proben dem Schauspieler das Gefühl vermitteln, es sei nicht seine Sache, etwas auszuprobieren oder vorzuschlagen, das sei eine Frage der Autorität, oder wenn Sie ihn mal vor den Kopf stoßen, können Sie das nicht wiedergutmachen. Wenn Sie ihm andererseits das Gefühl vermitteln können, dass Sie es gutheißen, wenn er, nachdem Sie ihm gesagt haben: ›Setzen Sie sich auf diesen Stuhl hier‹, von diesem Stuhl hier aufsteht und zu dem Stuhl dort geht; wenn er das Gefühl hat, so etwas wird zwar gutgeheißen, wenn auch nicht unbedingt akzeptiert, dann wird der Raum erkundet« (Brook  2003; 110f.). Im Unterschied zu Tabori wird von Brook die Freiheit auszuprobieren weniger in Verbindung mit persönlichen Entwicklungen der Spieler gebracht, sondern ist in dem Spannungsverhältnis von Regie und Autorität lokalisiert. Die Notwendigkeit, Regieentscheidungen zu akzeptieren, darf das Gefühl der Freiheit in den schauspielerischen Angeboten nicht beeinträchtigen. Klingt in Taboris Argumentation nach, dass in der Zusammenarbeit der Darsteller das Konzept ist, spürt man bei Brook deutlicher die Reibungskräfte, die das Wechselverhältnis von Freiheit und Notwendigkeit auszeichnen. Es liegt ihm weniger an einer Übermittlung von Inhalten als vielmehr an dem geteilten Sinn für eine Richtung (vgl. Ortolani 2005; 255). Brook betont die produktive Kraft völlig gegensätzlicher Positionen: »Bei einer funktionierenden Zusammenarbeit muss man von völlig verschiedenen Standpunkten ausgehen und sich aneinander reiben, um ein Ergebnis hervorzubringen« (Brook 2003; 102). Das individuelle Potenzial freizusetzen ist bei Brook damit verknüpft, dem Anderen eigenständige Entfaltungs-

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spielräume zu öffnen, ihm einen klaren, leeren Raum zuzugestehen.93 Für Brook heißt das, »[...] ein Regisseur muss eingreifen, provozieren, kritisieren, aufrütteln, inspirieren. Das ist Teil dessen, was ein Schauspieler von einem Regisseur erwartet. Gleichzeitig gilt aber auch das genaue Gegenteil. Der Regisseur muss zwar präsent sein, aber auch mehr und mehr auf das Geschehen und den Schauspieler, auf seine Suche achten, um zu wissen, wann er ihn nicht drängen oder kritisieren darf. Das ist so heikel, dass durch ein simples ›Nein, so nicht‹ des Regisseurs etwas sehr Zerbrechliches schon im Keim erstickt und durch etwas Banaleres, Gewöhnlicheres ersetzt werden kann« (Brook in Brook 2001; Video). Auch hier wird der Regisseur zum Helfer, zur Hebamme auf dem Weg der Verwirklichung von Darstellungserzeugnissen, die der bewussten Steuerung verborgen bleiben, und bei der Veräußerung noch unerkannter Schichten persönlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Mit zunehmender Erfahrung kann der Regisseur, mehr und mehr wissend, Beziehungen formen, kann Vorsicht und Forderung zur rechten Zeit handlungsleitend einsetzen und über Strategien von Freiheit und Notwendigkeit weitgehend sicher verfügen.

93 | In seinem Selbstverständnis dominiert entsprechend der autonome Schauspieler, der in der Lage ist, kraft seines individuellen Handelns andere zu überzeugen. »Ein sensibler Schauspieler kann sich zum Beispiel in einer sehr harten und brutalen Gruppe wiederfinden; er hat ein echtes Ideal [...] und er blickt sich um und sieht, der Regisseur ist vulgär, die anderen Schauspieler sind Exhibitionisten, und all das am Theater, wonach er sich gesehnt hatte, wird vor seinen Augen verraten. Das passiert die ganze Zeit. Doch er hat in diesem Moment eine Wahl, die darin besteht, sich entweder hinter seinem Urteil über die anderen zu verstecken oder in jedem Moment zu sagen; ›Ich habe eine Möglichkeit.‹ Sagen wir, während der Probe versucht jeder, den anderen zu überschreien. ›Ich werde versuchen, ein bisschen genauer auf den anderen zu hören. Ich werde versuchen, ob ich in meiner Beziehung zu einer Person oder mit zwei Personen, mit denen ich arbeite, einen winzigen Fortschritt erzielen kann. Ich kann, wenn ich warten muss, darauf achten, ob ich noch besser warten kann, noch besser beobachten kann, was die anderen machen, nicht wie die, die herumsitzen und eindeutig nicht interessiert sind an der Arbeit von anderen.‹ Ich habe erlebt, wie ein Einzelner auf diese Weise fast unmerklich Einfluss auf die ganze Gruppe nehmen kann und wie nach einer gewissen Zeit die ganze Gruppe lernt, aufmerksamer zueinander zu sein – allein durch die konsequente Haltung eines Einzelnen« (Brook 2003; 64f.). Das diesem Lehrverständnis eingeschriebene Vermittlungsanliegen zielt auf die Entwicklung einer Beziehungsfähigkeit ab, ganz wie bei Tabori, allerdings in einem rein professionellen Sinn: »Also, ich glaube«, sagt Brook, »es ist etwas ganz, ganz Wertvolles, was ein junger Schauspieler entwickeln sollte: zu sehen, dass die Schauspielerei grundlegend mit Beziehungen zu tun hat und dass die Möglichkeit, eine Beziehung herzustellen, immer existiert – unter den besten und unter den schlechtesten Bedingungen« (ebd.; 66).

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Wilson forscht in ausgesuchten Einzelfällen nach Schnittstellen, die ihm einen wechselseitigen Austausch mit Menschen ganz anderer Kommunikations- und Beziehungseigenschaften ermöglichen, und lässt sich durch diese Begegnung selbst merklich verändern. Seine Begegnung mit Raymond Andrews macht solidarische Haltung anders deutlich: »By meeting him halfway and speaking his language, something happened in exchange. I think that’s basic to theatre. It’s a forum where people come together, people from different backgrounds, people with different ideas politically, socially, artistically. And together we share something« (Wilson, zit.n. Holmberg 1996; 195). Die Öffnung des Experiments für das Soziale, das jenseits von konventionellen Theaterrahmen und -bedingungen die theatrale Praxis prägt, gibt ihm Inspirationen und Reibungen, die in künstlerischer Praxis selten in dieser Konsequenz vorkommen. Sein Entdeckungs- und Gestaltungsdrang entfaltet Interaktionsmöglichkeiten mit dem Anderen/Fremden in einer gemeinschaftlichen Bewegung aufeinander zu, die im Experimentieren mit theatralen Mitteln motivisch wird. Die darin zum Ausdruck kommende Mentalität findet man in Wilsons Inszenierungspraxis aber in dieser radikalen Form nur ausnahmsweise.94 94 | Wilson schildert sein Vermittlungsdenken gerne an einem Beispiel aus seiner biografischen Lernerfahrung, das die Art und Weise seiner Lösungsstrategien bei schwierigen Herausforderungen charakterisiert. Er berichtet: »The best class I ever had in school was History of Architecture. The teacher said, ›Students, you have three minutes to design a city. Ready – set – go.‹ So, as you can imagine, you had to think in a big way real quickly« (www.robertwilson.com). Seine Lösung im Kontext dieser Aufgabe zu beschreiben führt zu folgendem Entwurf: »I drew an apple. And inside the apple, I put a crystal cube. ›What is that?‹ the instructor queried. I said, ›This is a plan for a city.‹ The community needs a centre, a core. It should be like a crystal cube that can reflect the universe. Like a Medieval city, you had a cathedral at the centre of the village for enlightenment, for gatherings, for knowledge or whatever. So the class helped me to think and to see quickly. [...]« (ebd.). Die komprimierte Wiedergabe der ersten Idee und die affektive Reaktion auf konzeptionelle Überlegungen sind für Wilson von hohem Reiz. Das Spiel mit künstlich hervorgerufenem Zeitdruck, die Verknappung oder Dehnung dieser Ressource, provoziert die Wahrnehmung und führt ein Handeln herbei, das eingespielte Denkgewohnheiten überschreitet. Einerseits führt die Bedrängnis von klar vorgegebenen Zeiteinheiten zu einer konzentrierten Freiheit im Moment, andererseits stachelt der in die Länge gezogene Augenblick eine Überschreitung von herkömmlichen Assoziations- und Reflexionsprozessen an. Beide Komponenten werden bei Wilson gegeneinander ausgespielt, sodass die Spieler sich der Ambivalenz nicht entziehen können. Unter technisch-formalem Blickwinkel trägt dieses Prozedere ein originäres ästhetisches Bildungsanliegen in sich: die Hervorhebung von Wahrnehmungsprozessen und ein Überschreiten des Subjekts in seinen Wahrnehmungsgewohnheiten. Wilson vermittelt dies, so könnte man behaupten, über die Notwendigkeit und Freiheit im Umgang mit der Zeit (vgl. ebd.).

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Wilson wird ein Lehrprinzip attestiert, das nicht nur in den frühen Jahren und in der Begegnung mit Christopher Knowles und Raymond Andrews zur Geltung kommt, sondern auch in späteren Arbeiten mit professionellen Schauspielern sichtbar bleibt: Lernen durch Osmose. So schreibt Holmberg, der Wilsons Arbeitsweise über eine längere Zeit aufmerksam verfolgt hat, in Bezug auf eine Bewegungsfolge, die einer Darstellerin nicht entsprach und ihr Schwierigkeiten bereitete: »Wilson’s extreme sensitivity to actors – his instinct knowledge of their strengths and weaknesses – helps account for his success as director. He always tailors his conception to the individual standing before him. [...] Learning of the actor’s trepidation, Wilson immediately worked out a new sequence« (Holmberg 1996; 37). Seine Art der Schauspielerführung zeichnet eine sensible Beobachtungsgabe aus, die innerhalb des künstlerischen Prozesses die Fähigkeiten jedes einzelnen Darstellers zum Aufscheinen bringen lässt, sodass er sowohl Laien als auch professionellen Schauspielern zu ihrer größtmöglichen Verschiedenheit und der ihnen immanenten Ausdruckskraft verhilft (vgl. Graupner 1995; 212). Er knüpft an die Fähigkeiten an, die ein Darsteller mitbringt und die ihn in seiner Besonderheit kennzeichnen. Das Spiel mit den Traumbildfantasien von Christopher Knowles und die Experimente mit den Zahlenreihen und der Lautlichkeit von Raymond Andrews sind dafür beispielhaft. Gleichzeitig kann er auf der Probe aufbrausen, wenn für Konflikte nicht schnell und konstruktiv eine Lösung gesucht wird. Eine Parallele tut sich im Vergleich mit Tabori auf, dessen vorgeschlagene Spieltexte, ähnlich wie die Bewegungschoreografien Wilsons, nicht als letztes Gebot gelten. Der Zuspruch der Gruppe für die gewählte Vorlage ist ausschlaggebend. Allerdings ist Taboris Kursrichtung weitaus stärker von der Gegenseite beeinflusst, die von Beginn an seine Autorschaft bestimmt. Feinberg hält am Beispiel des Projekts »Talk Show« fest: »Als Tabori seiner Gruppe diesen Text zu lesen gab, spürte er sofort, dass sie damit unzufrieden waren und es nicht gut fanden. Zu der nächsten Probe am folgenden Nachmittag kam er mit einer völlig neuen Fassung« (Feinberg 1997a; 87f.). Stanley Walden berichtet von einer gemeinsamen Opernarbeit mit Tabori, in der die Darsteller mit solcher Vehemenz gegen das erste Skript revoltiert hatten, dass Tabori und er nach einem großen Streit innerhalb von zwei Tagen eine neue Fassung erarbeitet haben, mit der die Sänger zurechtkamen (vgl. Ohngemach 1989; 45). Tabori stellt sich nicht nur gruppeninternen Konflikten in offener Auseinandersetzung, er verteidigt sein Ensemble auch konsequent gegen Intrigen von außen. Peter Radtke erzählt von einem Zwischenfall, bei dem eine Darstellerin in der Kantine gut gemeinte Ratschläge von einer Kollegin erhält, die ihr empfiehlt, sich nicht an die Wand spielen zu lassen. Der belastende Nachhall des Gesprächs fliegt in der nächsten Probe auf und Tabori entpuppt sich als ein durchaus in Rage zu bringender Mann: »›Der Einzige, der hier Regieanweisungen gibt, bin ich!‹ Weniger die Kritik erbost ihn als vielmehr die Form der Äußerung. ›Probleme werden in

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der Gruppe besprochen. Wir sind eine Einheit. Gemauschel hinter den Kulissen dulde ich nicht!‹« (Radtke 1987; 68f.). Er stellt sich bedingungslos hinter seine Darsteller, bleibt dabei ein Mensch, dem Fehler unterlaufen, der angreifbar ist und andere verletzen kann. Er weiß sich zu entschuldigen, ohne an Respekt und Autorität zu verlieren: »Eine ganz tolle Eigenschaft von George ist«, so Jacobsen, »Fehler gutzumachen, sich immer zu verbessern. Er war manchmal auf der Probe unausstehlich. Und dann plötzlich um Mitternacht ein Anruf – George. Er wollte sich entschuldigen, er war bei der Probe nicht nett gewesen. [...] George hat immer versucht, Fehler auszuwetzen, bei sich selber« (Jacobsen, zit.n. Feinberg 1997a; 65f.).

3.3 Ensemblegeist »Wenn er da ist, hat Robert Wilson über all dies [Arbeiten in den Teilbereichen Licht, Bühne, Ausstattung, Musik, Spiel; ms] die totale Kontrolle. Wann er erscheint, ist schon weniger sicher; in diesem Punkt obwaltet respektvolle Resignation. Irgendwie ist er dann plötzlich aufgetaucht. Wenn er morgens gut drauf ist, ruft er schon mal ›Good morning!‹ und dann fallen alle ein und reden fürderhin englisch, so gut es eben geht. Ein bisschen unheimlich, mindestens unberechenbar, bleibt er auch denen, die ihn kennen: diese merkwürdige Mischung aus Kumpel und Dompteur, diese Mimose von einem Mordskerl, den wirklich alle Bob nennen und dessen habituelles Schwarz alle irgendwie kopieren. Der Anspruch, mit dem er seine persönliche Ästhetik auch im Umfeld eines schwer strapazierten Repertoire-Betriebs durchsetzt, hat schon etwas Diktatorisches. Aber wo sonst würden Diktatoren so fraglos akzeptiert? Es kann vorkommen, dass er sich verteidigt – wenn er trotz vieler Versuche einer Szene nicht sicher ist, beispielsweise wenn die Schauspieler auf die aleatorische Flut von Gesten nur noch mit stiller Ratlosigkeit reagieren und stumme Vorbehalte den Raum füllen wie das Schweigen der Lämmer. ›Ich arbeite nun mal so‹, sagt er dann: ›Das habt ihr doch gewusst. Es gibt Regisseure, die erzählen monatelang, was sie machen werden, und irgendwann machen sie es. Ich kann so nicht arbeiten‹« (Schreiber 1996; 12). Die kontroverse Beschreibung von Wilsons Probenpraxis macht deutlich, wie fragil und vielschichtig die Anforderungen sind und wie viel unterschiedliche Gesichter ein und dieselbe Person in diesem Prozess zeigen kann. Dabei ist von dem unumstößlichen Fakt auszugehen, den Brook auf den Punkt bringt: »Wenn Sie der Regisseur sind, sind Sie ›der Eine‹. Die Schauspieler dürfen entmutigt sein und alle anderen auch, doch Sie sind derjenige, der die zur Verfügung stehenden Mittel nutzen muss« (Brook 2003; 78). Die alleinige Vormachtstellung wird bei ihm verbunden mit dem Leben einer Gruppe, das immer auf Ungleichheit gründet, ohne dass die Machtstrukturen in den falschen Bereichen ausgespielt werden dürfen. Entsprechend kann es für Brook keine künstlerische Demokratie geben (vgl. Smith 1974; 96). Dort, wo die eingesetzte Regiemacht zu Kon-

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flikten führt und Entscheidungen getroffen werden, die auf wenig Gegenliebe stoßen, entspannen begründete Kriterien nur bedingt die Situation. Eine  unumstößliche, autoritäre Vorgabe ist dann unter Umständen die einzige Option. In der Besetzungsfrage zu »Orghast« eskaliert ein schon vorher konfliktreicher Prozess und führt dazu, dass Brook eine Aussprache mit dem Ensemble einfordert. Smith berichtet von dem Konflikt und Brooks Lösungsversuch: »Unter den Persern gab es unterdrücktes Volksgemurmel. Brook hatte aber keine Lust, auf gekränkte Eitelkeiten zu reagieren. Am Anfang, sagte er, hätten alle hart gearbeitet und ihr Niveau verbessert. Jetzt gäbe es Leute, die zu spät zur Arbeit kämen, tagelang wegblieben und nur faul wären. Durch die Besetzung mit großen und kleinen Rollen seien nun manche Wunschträume geknickt, es gäbe eine Hamlet-oder-Nichts-Mentalität. [...] Am nächsten Tag erklärt er der Pariser Gruppe die Situation: ›Das Leben einer Gruppe‹, sagt er, ›heißt nicht, dass jeder gleich ist, sondern gründet auf Ungleichheit. Ein paar sind brillant, ein paar andere ungeschickt und so weiter. Der Anfänger oder der Ungeschickte können etwas entwickeln, was der Brillante nicht kann. [...] Man anerkennt die Fakten. Man arbeitet, um das, was man nicht kann, zu entwickeln. Man ist vielleicht eifersüchtig, neidisch, gehässig auf jemanden anderen, aber in einer Gruppe anerkennt man, dass alle diese Emotionen aus der Arbeit raushalten müssen. Man macht sich selbst nichts vor – aber rigoros und als erste Disziplin: man lässt diese Emotionen nicht die Arbeit beeinflussen. [...] Es muss ohne Eifersüchteleien gehen‹« (vgl. ebd.; 95f.). Auf Konfliktpotenzial in Probenprozessen angesprochen entspinnt sich in einem Interview mit Tabori folgender Dialog: Frage: »Gibt es auch manchmal Widerstand von den Schauspielern?« Tabori: »Ja, sehr viel.« Frage: »Was machst du dann?« Tabori: »Ich lasse sie. Dann hören sie auf« (vgl. Kässens 2004; 133). 95

Die Dimensionen der Machtbeziehung zwischen Schauspieler und Regisseur reichen seiner Vorstellung nach bis in existenzielle Bereiche, denn »man hat ungeheuer viel Macht, aber nicht unbedingt nur negativ. Sie kann sehr leicht missbraucht werden, aber auch sehr leicht in Frage gestellt werden. Es ist nicht schwer, einen Schauspieler kaputtzumachen, aber es ist ebenso leicht, einen Regisseur kleinzumachen. [...] Es geschieht ziemlich oft, dass Schauspieler als bloße Instrumente für die eigenen Visionen benützt, dass sie ganz brutal gebrochen werden [...]. Natürlich 95 | Tabori doppelt seiner Antwort ein Beispiel nach, das seine Haltung relativiert und doch bestätigt: »Also, das hängt davon ab; jeder Schauspieler ist anders. Zum Beispiel, ich probiere seit drei Wochen Purgatorium. Und vor drei Tagen hat einer der Schauspieler, David Bennent, mir gesagt: ›Die Schauspieler fangen an, dir zuzuhören.‹ Sage ich: ›Was heißt, sie fangen an? Haben sie vorher nicht zugehört?‹ – ›Nein‹« (Tabori zit.n. Kässens 2004; 133).

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kann die Brechung von Widerständen auch ein Weg oder eine Hilfe sein, dass der Schauspieler etwas in sich findet. [...] Ich bin nicht prinzipiell gegen Regie, ich finde nur, wenn der Regisseur vergisst, dass der Schauspieler ein Mensch ist, wenn er das nicht respektieren kann oder will, so ist das moralisch und politisch nicht vertretbar« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 64f.).96 Wendet man die Machthabe weiter ins Positiv, verfügt der Regisseur über ein breites Spektrum an Einflussbereichen, die dem Zusammenspiel von Regie und Ensemble zur Verfügung gestellt werden können. Positive Stimmen zu Taboris Integrationskraft bezeugen die respektvolle Anerkennung für die Person und Leistung des Lehrmeisters: »Wenn er Regie führte, war es wie ein Ausflug, kein Vormarsch. Er befahl nicht, er hörte zu. Er hatte keine Ideen, er besaß Muße und Geduld. Man könnte sagen, er ließ seine Schauspieler allein, aber er tat es so, dass ihr schlimmstes und gefahrvollstes und peinigendstes Empfinden, ungeschützt zu sein, ein Gefühl großer Freiheit wurde. Tabori entfernte durch Güte, Interesse und raffinierteste Bescheidenheit alles aus den Proben, was die Welt unfreundlich macht: Ehrgeiz, Drang nach Perfektion, Unanfechtbarkeit, Besserwissen, Angestrengtheit, Aufwendigkeit, Lautstärke, Brillanz, Nachtragenheit, Kopflastigkeit, Verstiegenheit, Einseitigkeit, Grundsätzlichkeit, Resultatswillen« (Schütt 2007; 9).97 Das Machtverhältnis in Lehrprozessen anzuerkennen ist unabdingbar an die Übernahme von Verantwortung für die Entwicklung der Spieler und des Ensembles gekoppelt. Gleichzeitig muss ein Vertrauen in den Prozess gesetzt werden, der letztlich auf ein öffentlich gemachtes thea96 | Wie sehr die »hierarchische Produktionsmaschinerie« Machtverhältnisse mitbestimmt, wird ihm bei einer Arbeit an der Schaubühne vor Augen geführt. Taboris Erstaunen ist groß, als er dort feststellt, dass die seit Jahren zusammenarbeitende Gruppe um Anerkennung von Peter Stein rivalisiert, und Tabori selbst hat anfänglich Schwierigkeiten, die hierarchischen Mechanismen zu lockern. Er erinnert sich: »Ich habe es erlebt, als ich an der Schaubühne gearbeitet habe. Ich hatte angenommen, sie verstehen sich als Gruppe, weil sie seit fünfzehn Jahren zusammen sind, aber es gab überall Rivalität. Mit Stein wollten sie alle zurechtkommen, er hatte immer Recht. Okay, ich will nicht immer Recht haben, ich will, dass s i e Recht haben. Das war ein paar Wochen lang sehr schwierig, aber die meisten haben es erkannt« (Tabori, zit.n. Ohngemach 1989; 141; Hervorhebung im Original). 97 | Dieter Dorn in einer Einführungsrede über Tabori doppelt diese Würdigung: »Da saust keine Pranke nieder, da wird kein Stil geprägt, kein Konzept durchgezogen, gedankenreich und gnadenlos, da ist kein Wille zur Macht der Konsequenz, nein, da erscheint überhaupt kein Wille, der sich dem Schauspieler oder dem Publikum aufzwingen möchte. Da leuchtet eher ein Nicht-Vorherwissen auf, ein Fragen, ein Staunen, ein Wundern [...]. Dieser Mut, forschend auch Scheitern zu riskieren, ist vielleicht das Wichtigste, was man von Dir lernen kann – wenn Du überhaupt etwas lehren wolltest« (Dorn 1997; 1f.).

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trales Ereignis zuläuft. Welche Rolle dem Regisseur in dieser Konstellation zukommt, wird gerne metaphorisch umschrieben. Brook skizziert das Abhängigkeitsverhältnis: »Die Rolle des Regisseurs ist seltsam: er will kein Gott sein, und doch ist das in seiner Rolle enthalten. Er will fehlbar sein, und doch besteht eine instinktive Verschwörung der Schauspieler, ihn zum Richter zu setzen, denn ein Richter wird die ganze Zeit so dringend gebraucht. In gewisser Weise ist der Regisseur ein Betrüger, ein Führer bei Nacht, der das Gelände nicht kennt, und doch hat er keine Wahl – er muss führen und den Weg beim Gehen kennenlernen« (Brook 1983b; 53). Unterwegs ist er voll verantwortlich für das Ziel der Arbeit und ihr Ergebnis, gleichzeitig aber selbst Teil des Prozesses und dazu da, die konditionierten Reflexe seiner selbst und der Spieler in die Schranken zu weisen. Er muss attackieren, nachgeben, provozieren und sich an der richtigen Stelle, im richtigen Moment, zurückziehen, um die »Überproduktion« zu fördern und die »übersprudelnde Energie« bis »zum Chaos und zur Verwirrung« zu begleiten (vgl. Smith 1974; 77). Nun folgt seine Aufgabe, das Zuviel wegzuräumen und das theatrale Geschehen auf das Wesentliche zu verdichten, mehr und mehr in die Probenarbeit einzugreifen und festzulegen, was die Schauspieler in ihren Versuchen bereits herausgefunden haben. Wesentlich für die produktive Balance solch unterschiedlicher Aktionsfelder ist bei Brook eine diffizile Kunst des Zuhörens: »Wenn Sie nie auf jemanden hören, wird ihre Arbeit niemals dieselbe Qualität haben, als wenn Sie lernen, zusammen zuzuhören. Und zuhören ist nicht immer so leicht, wie es klingt. Was zuhören wirklich bedeutet, der Akt des Zuhörens, ist ein Geheimnis. In dem Moment, in dem Sie feststellen, dass das alles praktische Dinge sind und Sie ohne diese praktischen Dinge nicht arbeiten können, dass Sie ohne bestimmte Dinge nicht arbeiten können, dass Sie ohne eine gewisse Konzentration nicht arbeiten können, dass Sie ohne Zuhören nicht arbeiten können und dass Sie nicht arbeiten können, ohne zu erkennen: Wenn etwas zum Vorschein kommt, geschieht es nicht wegen Ihnen, sind Sie – einzeln und alle zusammen – zu einem offenen Instrument geworden, durch das etwas Gestalt annimmt, was weit über Sie hinausgeht« (Brook 2003; 147). Die beiden Komponenten, Reiseleiter und Zuhörer, sind bei Tabori fast identisch vorzufinden, wenn auch etwas legerer und unprätentiöser formuliert: »Der Spielleiter eines Kreises leitet, er führt nicht; er versucht, ein aufmerksamer Zuhörer/Zuschauer zu sein, vielleicht ein Reiseleiter mit Landkarte, der die anderen, durch den dunklen Wald tappend, ins Licht zu begleiten versucht. Von außen sehend und beobachtend, ermöglicht er den Spielern, sich nicht von außen sehen, beobachten und hören zu müssen, was nur zur Schizophrenie führen würde« (Tabori 1993; 87). Das der zu beherrschende Sachverhalt nicht zwingend gleichzusetzen ist mit Sachkenntnissen, wird in seinem Zugeständnis deutlich, dass er in Bezug auf Operninszenierungen anführt: »Eigentlich verstehe ich nichts von Opern, ich tue das, um zu lernen. Für mich ist das Ganze ein Lernpro-

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zess, die Sänger müssen mir sagen, was sie brauchen. Das Gleiche mache ich mit den Schauspielern« (Tabori, zit.n. Feinberg 2003; 129). Dockt man an der offenbarten Schwäche an, können Machtstrukturen im Sinne von einseitiger Überlegenheit hinfällig werden. Die in einer Probensituation fruchtbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten sind weniger hierarchisch und absolut zu verstehen, sondern vielmehr auf ein sich sinnvoll ergänzendes Ineinander angewiesen. Eine Machtverteilung, die der Heterogenität und wechselseitigen Abhängigkeit und Angewiesenheit Spielraum verschafft über ein klug arrangiertes Spielhaben der Teilkräfte, ist dann die schlüssige Folgerung. Wilsons bevorzugte Metapher setzt die Arbeit des Regisseurs mit der Verantwortung eines Gastgebers für eine Party oder ein Essen gleich: Er hat verschiedene Leute zusammenzubringen, mit unterschiedlichen Begabungen, Hintergründen, verschiedenen Alters und physischer Konstitution. Um das Mahl zuzubereiten, muss er herausfinden, wer davon ein Hühnchen zubereiten kann, wer die Spaghetti kocht, den Salat zubereitet oder für den Nachtisch sorgt. Dieser Austausch von Fertigkeiten und Fähigkeiten garantiert ein gutes Essen (vgl. Holmberg 1996; 4). Wie bei Brook und Tabori schließt auch Wilsons Verständnis für die Gemeinsamkeit ein, dass es immer gut ist, Mitglieder zu haben, die einem widersprechen, einen nicht mögen, um die Arbeit widersprüchlicher und damit glaubhafter zu machen.98 Sein Perfektionismus steht ihm allerdings immer wieder im Weg, denn der Gastgeber Wilson weiß zu genau, was er gerne wie gekocht hätte: »Das Schwierige an der Regie ist: Am liebsten würde ich alles selbst machen, weil ich bestimmte Ideen habe. Und ich vergesse, dass die anderen ihre eigenen Methoden und Ideen haben« (Wilson, zit.n. Ott-Bernstein 2006; Film). Dennoch ist ihm die eigene Zuhörerschaft für Methoden und Ideen anderer wichtig. Er bevorzugt für seine Kreativität den gefüllten Probenraum, Menschen, die ihn anregen und von denen er lernen kann. Tabori reagiert auf die Frage, wie er den Irrationalismus für das Theater fruchtbar machen will, mit den Worten: »Ich glaube, dass das Irrationale wie das Unbewusste ungeheuer zerstörerisch und gefährlich sein kann, besonders wenn es nicht beachtet oder verdrängt wird. Es kann beherrscht werden nicht durch äußere Kontrolle, sondern allein, indem man es anerkennt und zum Ausdruck bringt« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 17).99 Sein von ihm als Eitelkeit titulierter Anspruch an das Zusammen98 | Diesen Widerspruch sucht er auch auf einer formaleren Ebene: Neben technisch völlig ausgereizten Inszenierungen, die auf perfektionistischer Lichtmaschinerie und computergesteuerten elektronischen Bühnenaufbauten basierten, mit professionellen Schauspielern an den namhaften großen Häusern, arbeitete Wilson über lange Zeit immer wieder in schlichten Umgebungen mit minimalem technischem Aufwand und Darstellern ohne schauspielerische Ausbildung. 99 | Tabori verdeutlicht: »Mein einziges Hobby ist Schach, sicher das rationalste aller Spiele. Aber es ist klar, dass bei all seiner hohen Rationalität und Logik

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spiel markiert den Widerspruch, in dem sich diese Irrationalität bewegt: »Ich habe mit Thomas Holtzmann und Peter Lühr in München Warten auf Godot gemacht, und Holtzmann hat später über die Arbeit zwei Sachen gesagt: Er habe nie vorher auf der Bühne einen Kollegen wirklich berühren können. Und: ›George hat uns absolute Freiheit gegeben, und wir haben sie nicht benützt. Darin liegt meine Eitelkeit‹« (Tabori, zit.n. Kässens 2004; 67). Dem Anderen so viel Freiheit zu geben, dass dieser das Spielpotenzial darin erkennt, ausschöpft und trotz allem ein selbstloses Spiel betreibt, den Raum öffnend für wiederum einen Anderen, durch sein Spiel das Feld zwischen Wir und Ich einlöst. »Das Anders-Sein, Anders-Schreiben, Anders-Regiemachen und Anders-Spielen ist für mich das Wichtigste. Das bestätigt, dass ein jeder Mann, eine jede Frau anders ist« (ebd.; 131), ein jeder Mensch »jeden Tag anders« ist (ebd.; 145), dies kennzeichnet für Tabori das Faszinosum an theatraler Zusammenarbeit. Aus dieser Verschiedenartigkeit heraus ist es möglich, so kann man mit Brook fortführen, etwas Einmaliges miteinander zu erzeugen: »Der große Reichtum des Theaters besteht darin, zu einem Werk zu gelangen, das den individuellen Standpunkt aller Personen, die daran arbeiten, übersteigt; aus diesem Grund ziehe ich es vor, dass man mich Animateur nennt in dem Sinne, dass ich der bin, der mit Leben erfüllt, der dem Geist in Erscheinung zu treten hilft« (Brook, zit.n. Ortolani 2005; 255). Tabori bringt die Art des Handelns methodisch auf den Punkt: »Als ich sie [Helene Weigel; ms] das letzte Mal sah, bat ich sie, Brechts Methode in ihren Worten zusammenzufassen. Sie sagte: ›Er machte den Schauspielern die Dinge leicht.‹ Dies ist in Kürze auch mein Versuch, ein äußerst schwieriger, aber der einzige, den ich unternehmen möchte« (Tabori 1981; 21). Bekenntnisse. Nimmt man nochmals Scheuerls Hinweis auf, dass nur aus der Innensicht der Spieler das spezifische Potenzial konkreter Spiele ermittelt werden kann, geben Erfahrungsberichte von Schauspielern und Mitarbeitern Indizien für transformatorische Bildungsprozesse. Den Reflexionen eingeschriebene Veränderungen im Selbst- und Weltverhältnis unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zwischen Spieler und Regie, Chor und Chorführung auszutarieren, ist für die charakteristische Dynamik zwischen beiden Polen aufschlussreich. Eine enge Mitarbeiterin und Koregisseurin von Wilson beschreibt ihr symptomatisches Verhältnis zu ihm: »I’m always curious about what he’s thinking, and he won’t tell me, I won’t ask him, and I just hope the audience feels the same way. That there’s this mystery, and there’s a whole history of a person in the die entscheidenden Züge stets durch Qualitäts-Sprünge im Unterbewussten bestimmt werden oder, genauer, durch die Fähigkeit des Spielers, die Verbindung zum Unterbewusstsein aufrechtzuerhalten. Fischer schlug Spasski, einen sehr rationalen Spieler, weil er jederzeit fähig und willens war, seine Aggressionen auszuspielen, statt zu unterdrücken« (ebd.).

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background, it’s his history and his memories, and also the ones that he thinks Hamlet and Ophelia might have had [...]. What’s interesting here? ›He won’t tell me, and I won’t ask him.‹ The production promotes reserve, mystery, a ›freedom‹ to interpretation where common meanings – even amongst the production team, do not need to be agreed« (Rommen, zit.n. Lavender 2001; 167). Das Geheimnis der Interpretation bleibt ebenso im Feld der Fantasie wie das Geheimnis der Person, die eine Fantasie realisiert. Wilson zelebriert fast schon eine Aura der Unnahbarkeit und Unberechenbarkeit, die dennoch deutlich von emotionaler Zuwendung zeugt. »Er ist ziemlich widersprüchlich«, findet der Musiker Tom Waits, »einerseits verschlossen, andererseits sehr emotional. Für einen Moment kommt er dir vor wie ein Glas Wasser, das überläuft. Dann, nur eine Sekunde später, ist er wie ein Haus, bei dem man alle Fenster zugemauert hat« (Waits, zit.n. Böhm/Shareghi 1996; 7). Von dieser Haltung geht für Waits gleichzeitig eine Offenheit aus, die entscheidend ist, denn »die Arbeit mit Bob verändert einen komplett. Weil er so offen ist und er lässt einen so lange bohren, bis die Sache funktioniert« (Waits, zit.n. Video »Absolute Wilson«). Wilsons durch seine persönliche Haltung ausgelöste ambivalente Wahrnehmung kann andere Schauspieler vor den Kopf stoßen: »This Wilson can’t fool me. I started out at the Deutsches Theater with Max Reinhardt. I know what a director is. Wilson is not a director. He’s a light designer« (Hoppe, zit.n. Holmberg 1996; 137). Das gleiche Beziehungsgefüge kann bei anderen Kollegen eine produktive Definitionsnot auslösen: »Der kann einen so faszinieren, der nimmt jemanden völlig für sich ein, dass es manchmal schon zu viel ist. Heute schenkt er mir die volle Zuneigung und konzentriert sich auf mich, und ich denke, jajaja, mit dem gehe ich bis ans Ende der Welt. Und am nächsten Tag ist es grauenvoll, und man denkt, was macht der denn und warum, und warum arbeitet man überhaupt für ihn, und man hasst ihn aus ganzer Seele [...]« (Paulmann, zit.n. Böhm/Shareghi 1996; 8). Der Widerstand, den Wilson durch seine Person in den Arbeitsprozess einbringt, provoziert sowohl eine Infragestellung der Selbstverständlichkeiten des eigenen Tuns – und seines Tuns – als auch den Umsturz für unbestreitbar gehaltener künstlerischer Darstellungsregeln: »The most important lesson I learned from Bob was to let things take the time they take, that it’s okay to write a scene in which nothing happens except a sense of being, not a sense of dramatic movement« (Glass, zit.n. Holmberg 1996; 21). In der Reibung mit den theatralen Vorstellungen Wilsons ist, so die Konsequenz, eine ›Sprachentwicklung‹ möglich, in der nicht nur das Vokabular erweitert und verfeinert, sondern herrschende Sprach- und Sprechgewohnheiten infrage gestellt, überholt und erneuert werden können – sowohl in gestalterischer Hinsicht als auch im Hinblick auf kommunikative und interaktive Prozesse, die künstlerische Praxis befördern. »Es ging nie darum, ein Konzept zu erfüllen, sondern sich selbst als Konzept zu begreifen«, berichtet Günter Einbrodt über seine Erfahrung als Schauspieler bei Tabori im Rückblick (Einbrodt, zit.n. Schulze-Reimpell

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1997; 12). Diese Rückkoppelung der Erfahrung an das eigene Selbstverständnis als Darsteller und die damit einhergehende produktive Verunsicherung hebt auch Felix von Manteuffel hervor: »Wenn ich als Schauspieler ans Theatermachen denke, fallen mir Vokabeln ein wie: Angst vor der Rolle, Angst auch vor dem Regisseur und seinen Intentionen, die den eigenen zuwiderlaufen; Text lernen fällt mir ein, Unzulänglichkeitsängste steigen in mir hoch und die Furcht vor Routinemechanismen setzt ein; kurz: der ganze Kram, der mit dem immer wieder fremden Vorgang von sogenannter kreativer Arbeit mit Getöse auf den Schauspieler einstürzt, wird mir gegenwärtig. – Wenn ich ans Theatermachen mit George Tabori denke, sind diese ganzen grausamen Spielformen der Angst gleichfalls vorhanden, doch scheinen sie mir tiefer, ›existentieller‹ und mir mehr zugehörig. Die Ängste sind größer, aber auch näher. Das Wort Chaos bekommt seine Bedeutung, und auch die Lust daran. Fröhliche Anarchie bemächtigt sich meiner, im Bewusstsein auch, dass der Schritt zum Dilettantismus oft nur ein kleiner ist. Was die Arbeit mit George Tabori mit dem Kunstvorgang Theater zu tun hat, weiß ich nicht, allerdings weiß ich ohnehin nicht, was Kunst ist« (von Manteuffel, zit.n. Welker/Berger 1979; o.S.). Einen ähnlichen Erfahrungswert im Zusammenspiel mit Brook notiert der Schauspieler Michel Piccoli, der schreibt: »[...] bei Peter gibt es niemals Sentimentalität. Ich glaube, dass die Übungen, die er uns machen lässt, auch dazu dienen, die Sentimentalitäten zu verjagen, die man gegenüber sich selbst haben kann, gegenüber der Figur, die man spielt, gegenüber dem Partner und auch Peter gegenüber [...]« (Piccoli, zit.n. Ortolani 2005; 224).

3.4 Zwischenstopp Auffallend ist, dass bei allen Regisseuren ein Hin und Her von strikter Vorgabe und sorgsamer Nachsicht thematisch wird, beides in ein ausgewogenes Verhältnis kommen muss. Die Chance schauspielerischer Freiheit und der Gewinn von Freiheit im Handeln stehen in einem ambivalenten Wechselspiel mit der Entscheidungsmacht des Regisseurs und seiner Verantwortung für den künstlerischen Prozess. Dabei werden keine Produktergebnisse bewertet, sondern ein Vermittlungsanliegen kommt zur Sprache, das persönliche und künstlerische Weiterentwicklung fokussiert. Die bei aller Strenge unbedingt geforderte solidarische Haltung gegenüber den Darstellern und der Wert des bedingungslosen Probierens markieren den Mittelpunkt des Lehrverständnisses und Führungsstils. Hinschauen, Zuhören und Einlenken finden ein Gegengewicht in der Beharrlichkeit, in Willen und Eigensinn, der von Regieseite und Schauspielern aktiv eingelöst werden muss. Affekt und Konzept greifen ineinander und gehen ineinander über. Die Souveränität in den PraxisHaltungen der Regisseure zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die außerordentlich hohe Integrität gegenüber den Spielern auffällt, die sowohl das schauspielerische Handeln und Hand-

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werk umfasst wie auch den Respekt vor dem Schauspieler als schützenswerter Person. Nie werden Schauspieler interpretiert, nie Eigenschaften einer Person aufgeführt, die sie positiv oder negativ von anderen abheben. Die an der Sache orientierte Auseinandersetzung definiert das Sprechen und Handeln über den Arbeitszusammenhang und Vermittlungsanliegen bleiben von einer übertragbaren Gültigkeit, die an den Besonderheiten der künstlerischen Herausforderung ansetzt, anstatt Schwächen oder Mängel der Schauspieler allgemeiner oder individueller Natur herauszustreichen. Die eingangs von externen Beobachtern hervorgehobenen therapeutischen und freundschaftlichen Ambitionen finden in den Selbstaussagen der Regisseure keinen Widerhall. Die aktive und aktivierende Funktion des Regisseurs wird immer wieder hervorgehoben. Obwohl über weite Strecken des Experimentierens Zurückhaltung und Besonnenheit entscheidende Kompetenzen darstellen, ist die Art, wie Leitung ausgeübt wird, Voraussetzung für das Etablieren eines autonomen Spielfelds für die Darsteller. Verbunden mit dem Wunsch nach gegensätzlichen und widersprüchlichen Positionen innerhalb eines Ensembles werden die Offenheit für den Konflikt und das Wissen um dessen produktive Reibungskraft deutlich, die Begegnung und Bewegung aufeinander zu erst als immanenten Teil künstlerischer Prozesse denkbar machen und Lernen durch Osmose erlauben. Konflikten konstruktiv zu begegnen gelingt allerdings nicht immer so, dass für alle Seiten eine zufriedenstellende Lösung gefunden werden kann. Gerade in den familienähnlichen Systemen theatraler Probengemeinschaften reflektieren einzelne Aussagen nur situative Ausschnitte, die von jedem der Beteiligten anders erfahren werden können. Dennoch ist die Integrität gegenüber der Gruppe eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitssprache. Dass dabei nicht nur persönliche Stärken der Regie, sondern auch deren Schwächen transparent gemacht und als natürlicher – aber eben nicht selbstverständlicher – Anteil in den Probenprozess eingehen, bestätigt die Verantwortung für die kommunikativen Vorgänge innerhalb des Ensembles seitens der Leitungsperson. Das bisher Gesagte verdeutlicht, dass Konstellationen der Macht und Situationen der Ohnmacht das Zusammenspiel des Regisseurs mit seiner Gruppe charakterisieren. Das Risiko der Regiepraxis liegt nicht zuletzt im Erfordernis, Machtverhältnisse und Irrationalitäten so in die Waagschale zu legen, dass einerseits ein Pendeln beide Kräfte in Bewegung hält, andererseits die Klarheit der Regeln, unter denen dieses Spiel vonstattengeht, nicht ins Wanken gerät, die Unbedingtheit des Spiels nicht mit einer Unbedingtheit menschlicher Selbstaufgabe verwechselt wird. Die Qualität künstlerischer Praxis liegt in der Kohärenz von Widersprüchen. Probenprozesse so zu gestalten, dass die Darsteller ihre Person in das Experiment eingeben können, sich selbst überschreiten, ohne dabei eine sentimentale Haltung sich oder anderen gegenüber einzunehmen, ist nur möglich, wenn der Gegenstand der theatralen Prozesse keinen Moment

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aus den Augen verloren wird. Insbesondere die Regie muss diese Balance austarieren, Angstfreiheit und Risikobereitschaft in der Schwebe halten. In der Dynamik zwischen Praxis und Haltung ist dazu seitens des Regisseurs Mut in zweierlei Hinsicht gefordert: Die eigene Probier- und Experimentierlust muss in experimenteller Manier den Spielern überantwortet werden, eigene Vorstellungen sind so weit aus der Hand zu geben, dass dadurch Andere/Anderes ins Spiel gebracht und in seiner Eigendynamik entfaltet werden kann. Gleichzeitig muss der Regisseur couragiert für die gemeinsame Absicht eintreten und den Glauben an ein verfolgenswertes Ziel ausstrahlen, das er mit allen Mitteln zu erreichen versucht. In diesem Spannungsfeld sind weniger bestimmte Techniken und Normen ausschlaggebend, die die Regie oder die Schauspieler in den Prozess einbringen, sondern die Bereitschaft, ein offenes Spiel zu spielen, in dem die Kunst des Zuhörens Veränderungen zulässt, Richtungen und Reaktionen des Experiments auszeichnet. In der Verantwortung für das Spielhaben der Kräfte ist der Wechsel von kontrollierender Lenkung des Spielprozesses und dem Zulassen und Nachgeben von sich ereignenden Spielmomenten wesentliches Element. Autorität und Irrationalitäten, Freiheit und Notwendigkeit, Kontrolle und exploratives Handeln in eine Pendelbewegung zu bringen, kennzeichnet diese Aufgabe und führt zu kohärenten Widersprüchen, die Sache und Person, Methode und Zufall, Prozesse und Ergebnisse bestimmen. Gelingen und eine künstlerisch relevante Dynamik entfalten kann dies nur, wenn der Regisseur mit seinem Handeln und seinen Handlungsmöglichkeiten spielend experimentiert.

4 S PIELEND DENKEN V Was hat der Theaterpädagoge im Sinn, wenn er eine Schulklasse im Rahmen einer Theater-Projektwoche zur Geschichte »Wo die wilden Kerle wohnen« dazu auffordert, sich die Füße bis zur Aufführung nicht mehr zu waschen? Ist es nur eine Vorgabe, die bei den Eltern zu Hause für Verwunderung sorgt, von den Spielern eisern befolgt und mehr und mehr selbstverständlich wird? Welche Spiele finden statt, wenn eine Gruppe mit Kamera, Schreibheft und Aufnahmegerät ausgestattet beginnt, ihre Suche nach einem Recherchethema zu dokumentieren, um den Prozess des Suchens theatral zu inszenieren? Werden nachts um halb vier bildungsrelevante Erfahrungen generiert, wenn sieben Spieler sich dazu verpflichten, zu dieser Zeit schreibend eine Stunde die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit auszuloten? Die Probensituation ist begleitet von Setzungen und Rahmungen, die der Theaterpädagoge vornimmt oder mit den Spielern vereinbart. Sie vermitteln zwischen sozialen und theatralen Wirklichkeiten. Je bewusster ein spezifischer Rahmen etabliert wird, desto eindeutiger kann die Differenz zu anderen Wirklichkeitsrahmen wahrgenommen, damit gespielt wer-

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den. Die Vorbereitung auf ein nicht alltägliches Handeln darf durchaus in die soziale Wirklichkeit hineinreichen, ungewöhnliche Verhaltensmuster vorübergehend zur Spielregel machen oder das Arbeitsmaterial in sozialen Kontexten generieren. Der initiierte Rahmen kann eine für selbstverständlich gehaltene kulturelle Praxis vorübergehend verwandeln, die Schwelle zwischen Spiel und sozialer Wirklichkeit zum Anlass für Perspektivwechsel auf inkorporierte Wirklichkeitskonstruktionen nehmen oder die Mitglieder einer Theatergruppe durch subversive Rahmungen der Probensituation zur konspirativen Gemeinschaft verbinden. In  der Art der Rahmung der Situation wird zugleich eine Kultur des Umgangs und der Zusammenarbeit etabliert, die alle weiteren Interaktionen innerhalb dieser Arbeitssituation grundiert. Eine neue Kultur entsteht, wenn der Rahmen eine außergewöhnliche Wirklichkeit für die individuellen Subjekte schafft, andere Gesetzmäßigkeiten des Handelns ins Spiel implementiert und bestehende Wahrnehmungskanäle zu neuen Rhizomen verschaltet. Einen produktiven Rahmen zu errichten, der widersprüchlich genug ist, das Kippen zwischen ästhetisch-künstlerischen und sozialen Prozessen für eine Gruppe lustvoll erlebbar zu machen, zeigt, dass die Präsenz des Theaterpädagogen für die Spieler mindestens genauso wichtig ist wie eine Präsenz der Spieler. Innerhalb des Rahmens kann das nichtwissende Umkreisen des Materials eine unmittelbare Auseinandersetzung fördern, dank derer die gedankliche Montage und Demontage eines inhaltlichen oder stofflichen Ausgangspunkts einsetzen. Das gezielte Mäandern durch Kontexte erzeugt eine Pendelbewegung zwischen eigenen und fremden Perspektiven auf Texte, Räume, Situationen, Geschichte etc., in der vertraute Wahrnehmungsweisen irritiert werden können. Die Auseinandersetzung damit kann bereits ein Spiel mit einer anderen Sprache nahelegen, kann Bild und Ton, textliches oder szenisches Handeln evozieren, um neue, noch unscharfe Sichtweisen skizzenhaft zu formulieren. Über welche medialen Kanäle mit den Spielern kommuniziert wird, ist Teil einer kommunikativen Strategie des Theaterpädagogen. Den dialogischen Rahmen inhalts- und situationsbezogen auswählen und variieren zu können, stellt ein elementare, konzeptionelle Spielkomponente in der Vermittlungspraxis dar. Im Spiel mit Kontexten rahmt der Theaterpädagoge das Ineinander von eigenen und fremden Sprachen. Je breiter das Assoziationsmaterial angelegt ist, desto verschiedenartigere Resonanzräume lassen sich damit erschließen. Eine gerichtete Spurensuche im Material ermöglicht eine gezielte Erforschung intendierter Verknüpfungsabsichten, die Vielfalt von Quellen das offene Erforschen individueller Zugänge. Beides kann Teil der Darstellungskonzeption und -konstruktion werden oder aber unspezifischer die eigene Begegnung mit fremden Wirklichkeiten anregen. Aus dem eingeleiteten Wechselspiel der Perspektiven können auf mentaler und körperlicher Ebene theatrale Vorgänge entwickelt werden, die individuelle Resonanzräume umspielen.

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Im Mut zur kreativen Recherche, zur Auseinandersetzung und Reibung mit Materialien, die nicht nur historische oder thematische Hintergründe erhellen, sondern andere Verbindungen zum theatralen Stoff anregen und überraschenden Sinn stiften, hat der Theaterpädagoge ein Reservoir an Impulsgebern in der Hand, die unkonventionelle Wahrnehmungsprozesse befördern und als Sprungbrett zu anderen Denkspielen eingesetzt werden können. Nutzt er dieses Reservoir, kann er mit der Alltagswirklichkeit spielen, Erfahrungen anders thematisieren, neu kombinieren und kontextualisieren. Je risikobereiter er ist, aus dieser Recherchepraxis heraus experimentell Prozesse des Produzierens zu erfinden, desto deutlicher definieren sie einen originären Spielgrund des konkreten Ensembles. Gehen Rahmen und Recherchen über in die Konstruktion von Darstellung, muss der Theaterpädagoge entscheiden, wie transparent er Rollenkonstruktionen, dramatische Struktur und Erzeugungsstrategien für die gemeinsame Spiel- und Erzählabsicht machen kann oder will. Wie weit kollektiv nach Inhalten, dramatischen oder dramaturgischen Strukturen gefragt wird, hängt ab von der Sicherheit, mit der ein Theaterpädagoge dieses konzeptionelle Spiel anzetteln und führen kann. Verzichtet er jedoch gänzlich auf die Offenlegung seiner gedanklichen Konstruktionen, die ein theatrales Ereignis so und nicht anders formen, verspielt er die Chance, an diesem Punkt Reibung zu erzeugen, Konstruktionsweisen künstlerischer Praxis zu diskutieren und dem gemeinsamen Experimentieren zur Verfügung zu stellen. Die Praxis der Recherche setzt sich in den Spielen um Sprache, Körper und Imagination mit anderen Mitteln fort. Hier werden in Trainings und Vorbereitungen auf eine szenische Praxis neue Rahmungen vorgenommen und zu Teilen des Spiels um Sprache, Körper und Imagination. Im Spiel um Sprache den analytischen Umgang mit Texten zu unterlaufen ist der erste Schritt, der Sprache und Sprechen als Praxis einfordert. Dazu kann Sprache vom Inhalt gelöst und verflüssigt werden, sodass das Sprechen selbst zu suchen und zu untersuchen ist. Der Theaterpädagoge kann die Spieler auf die Suche schicken nach einem Subtext, den es nicht gibt, mit ihnen ein Arsenal an Situationen und Sprechanlässen finden, musikalisch komponierte Räume zwischen Inhalt und Klang errichten oder das Innenleben der Sprache suchen, um lebendiges Sprechen zu ermöglichen. Immer führt der Weg über ein sprechendes Entdecken von Texten. Der Blick des Theaterpädagogen auf den Spieler ist begleitet von der Frage, was dieser an Veränderungen braucht, um einer anderen Sprachlichkeit begegnen zu können. Dies kann von der begleiteten Aneignung eines dramatischen Texts über das Spiel mit einfachsten Sätzen bis hin zur klanglichen Erkundung fremder Laute reichen. Der permanente Wechsel von Lesen und Sprechen gesetzter Sprache, die improvisierende Annäherung an gespieltes Sprechen, Versuche, einen Text durch verschiedene Situationen in eine andere Nähe oder Distanz zum Inhalt zu bringen, sind Hilfsmittel auf diesem Weg. Für theaterpädagogische Praxis

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spannungsvoll ist das Spiel mit Fremdsprachen, mit fremden Sprachen. Nimmt man das Fremde in der Sprache zum Anlass des suchenden Experimentierens, kann man das Spiel mit Fremdsprachen weiter treiben als nur in nebeneinander verhandelten Sprachen, die auf die Herkunft der Akteure verweisen. Die Erfahrung, fremde Sprache sprechend zu entdecken, das Spiel mit ihrer Laut- und Klangstruktur sinnlich-sinnstiftend zu beleben und als Potenzial von Differenzerfahrung dort einzukalkulieren, macht klangliche und stimmliche Praxis zu einem aufregenden Entdeckungsfeld für theatralen Ausdruck. Die theatrale Wirklichkeit legt nahe, die Sprache und den Körper als fremdes Gegenüber zu etablieren und über das experimentelle Erkunden dieser Fremdkörper Ausdrucksweisen zu finden, in denen individualisierte Erfahrungen gesellschaftlich konnotiert und kontextualisiert werden. Wie beim Sprechen können auch in den Spielen um Körper bestehende Sprachfertigkeiten des Körpers bewusst gemacht und potenziert werden. Eigene Körperschemata der Spieler nutzen, irritieren und neu ausbilden erfordert immer eine Entgegensetzung nicht alltäglicher Verwendungspraxis. Wenn ein Spieler Kämpfen spielen soll, dann muss er kämpfen können lernen. Kämpfen als körperliches Prinzip zu vermitteln, das durch Kampftechniken verinnerlicht und als Motiv begreifbar und einsetzbar wird, ist ein Weg dorthin. Über körperliche Praxis kann das eigene innere Prinzip in Begegnung mit Anderem gebracht werden, bis neue Bewegungsmuster körperlich und mental begreifbar sind und aus ihnen heraus ein anderer Ausdruck szenisch Gestalt gewinnen kann. Ein Spannungsverhältnis zwischen dem eigenen anderen Körpern wird erzeugt. Die sprachliche und körperliche Integrität der Spieler wird durch die Interventionen und Interaktionen des Theaterpädagogen bewusst in eine Spaltung getrieben, die den dynamischen Pendelbewegungen der Spiele um Sprache und Körper eine Fährte öffnet. Dies kann ebenso durch formale Vorgaben provoziert, über choreografische Scores erzeugt oder in der Durchlässigkeit des Körpers für die Begegnung mit dem eigenen Anderen entwickelt werden. Das szenische Spiel verdichtet sich im Gegeneinander von Körper und Text, Körper und Imagination, durch das das theatrale Geschehen zum Ereignis wird. Die Akteure so in szenische Konstruktionen zu verwickeln, dass mit den Objekt- und Subjektbeziehungen zum Körper gespielt wird, erfordert ein Arrangement aus kalkulierten Gegensätzen. Die Zuhilfenahme von inneren Bildern, vorgestellten situativen Kontexten oder  die biografische Unterfütterung des Handelns können Imaginationen hervorbringen, die  körperliche und mentale Ausdruckskräfte ineinander weben. Die vom Alltag in einer bestimmten Weise genutzten Wahrnehmungskanäle freizuschalten und die Sinne anders zu aktivieren sind Passagen auf dem Weg zu einem leeren, offenen Innenraum. Innere und äußere Leerstellen herbeizuführen, aus denen heraus Spielwirklichkeiten sich als andere Wirklichkeiten entpuppen, erfordert eine »Dekomposition des Wahrnehmens« (Lehmann 1999a; 142). Der leere Raum als Innenraum und Außenraum, der sukzessive entrümpelt

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wird, um die Konzentration auf Notwendiges zu verdichten, erzeugt eine ungewohnte, verwirrende Beziehungslosigkeit, die im »Entzug von SinnThesis das Angebot zu einer Gemeinschaft der unterschiedlichen, singulären Phantasien« ihren strategischen Spielraum hat: »[...] der menschliche Sinnesapparat erträgt Beziehungslosigkeit nur schwer. Entzieht man ihm Verknüpfungen, so sucht er sich eigene, wird ›aktiv‹, phantasiert ›wild‹«, so  Lehmann (ebd.; 143). Schickt man den Spieler durch diesen Kanal, beginnt er neue Zusammenhänge und Spuren zu suchen, die in der »ratlosen Konzentration des Wahrnehmens auf dargebotene Dinge« kulminieren (vgl. ebd.; 144). Die Konsequenz dieses Wahrnehmungsmechanismus beschreibt Lehmann im Hinblick auf ästhetische Praxis: »Wenn Wahrnehmen schon dialogisch funktioniert, indem die Sinne auf Angebote und Ansprüche der Umwelt antworten, zugleich aber auch eine Disposition dafür aufweisen, das Mannigfaltige allererst zu einer Wahrnehmungstextur zusammenzufügen, es also als Einheit zu konstituieren, so bieten ästhetische Praxisformen die Chance, diese synthetisierende, leibliche Aktivität sinnlicher Erfahrung gerade auf dem Weg ihrer gezielten Erschwerung zu intensivieren und als Suche, Enttäuschung, Entzug und Wiederfinden bewusst werden zu lassen« (ebd.; Hervorhebung im Original). Indem theaterpädagogische Interventionen und Interaktionen in den Spielen um Imagination an den Wahrnehmungskonventionen der Spieler ansetzen, diese herausfordern und zeitweise überfordern, können Aufmerksamkeiten anders ausgerichtet und Prozesse des theatralen Produzierens damit verknüpft werden. Didaktische Prinzipien, mit denen der Theaterpädagoge eine Pendelbewegung zwischen verschiedenen Kräfteverhältnissen evozieren kann, sind immer an Spiele mit der Imagination gebunden. Transformationsprozesse zwischen Nicht-Spiel und Spiel wie innerhalb von Spielen zehren von den Wechselwirkungen zwischen mentalen, körperlichen und imaginativen Vorgängen. Das Pendeln der Kräfteverhältnisse kann in Bewegung gebracht werden, indem das Experimentierfeld mit Materialien, Requisiten, Skizzen und Referenztexten aufgefüllt wird und der Entzug dieser Hilfsmittel eine Leere signalisiert, die es anders zu füllen gilt. In der Wechselwirkung von mitgebrachten, alltäglichen, natürlichen Ausdrucksqualitäten und der Konstruktion einer artifiziellen Wirklichkeit kann das Pendeln Austauschprozesse stimulieren, die neue Sprachfertigkeiten generieren. Dabei können im Hin und Her von simplen und komplexen Darstellungs- und Erzeugungsstrategien willkürliche und unwillkürliche Spielvorgänge Teil theatraler Konstruktionen werden. Das  Pendeln zwischen individuellen Erfahrungsbesonderheiten und gesellschaftlicher Kontextualisierung bringt Eigenes und Anderes in ein Spannungsgefüge, das kollektive Spiel- und Denkbewegungen deutlich macht. Momente des Kontrollverlusts und des Innehaltens begleiten das Spielhaben von assoziativen und dissoziativen Prozessen. Mit  diesen gegenläufigen Bewegungsdynamiken einher geht der Wechsel von Kontinuität und Diskontinuität in der Verfahrensweise, die der Theaterpädagoge dem Expe-

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riment zur Verfügung stellt. Das Hin und Her zwischen diesen beiden Komponenten verläuft weder linear noch kausal. Es richtet sich vielmehr nach der wahrgenommenen Qualität der Spielereignisse. Ein beharrendes Verweilen bei einem Prinzip kann jeweils so lange vorangetrieben werden, bis die potenzielle Leerstelle als Raum geöffnet ist und ein Wahrnehmungswechsel über den Wechsel der Aufgabenstellung ergänzende Spielräume erschließen kann. Theaterpädagogische PraxisHaltungen zeichnen sich durch die Kunst aus, mit Rahmen so zu spielen, dass reale und fiktive Wirklichkeiten in ein immer wieder neues Spannungsgefüge gebracht werden, Kontexte für das Spiel mit Realitäten, die außerhalb des Theaters liegen, genutzt werden können, um mit den Spielern in ein theatrales Experimentieren zu finden. Kann der Theaterpädagoge dabei vorschnellen Erwartungshaltungen unvoreingenommen immer wieder neue Rahmen und Regeln entgegnen, die die Vorstellung davon, was Theater ist und wie es hergestellt wird, in einer kritischen Praxis hinterfragen, lassen sich im gemeinsamen Experiment neue Haltungen und eine andere Praxis (er)finden. Die Öffnung für Konstruktions- und Dekonstruktionsprozesse gespielter Wirklichkeiten macht sichtbar, dass Sprachlichkeit im Theater nur als Vielsprachigkeit kenntlich werden kann. In ganz unerwarteter Weise ein Grundvokabular zu vermitteln, mit dem Kommunikation möglich ist, und von dort aus eine Suche nach eigenen, anderen Sprachspielen zu unternehmen, bringt Spieler und Theaterpädagogen in gemeinsames Handeln. Das Erspielen und Zeigen, wie und was mit dieser Sprache möglich ist, bringt eine soziale Ästhetik hervor, die von den je konkreten Spielen getragen ist und zugleich eine originäre künstlerische Praxis sowie Haltungen zu dieser Praxis auslöst.

VI Schluss

Ausgehend von der Frage, unter welchen Bedingungen theaterpädagogisches Handeln für nichtprofessionelle Darsteller bildungswirksam wird, ist in der Untersuchung dargelegt worden, dass dem Spiel analoge Denkund Interaktionsprozesse neue Wirklichkeiten generieren. Im Zusammentreffen von Denken und Spielen machen experimentelle Haltungen den Theaterpädagogen in der Praxis handlungsfähig. Ein theaterpädagogisches Selbstverständnis kann das Spiel zur didaktischen Basis erklären, aus der PraxisHaltungen resultieren, die in der Begegnung mit den Spielern zur theatralen Auseinandersetzung mit dem Anderen ermutigen und dieses Andere bewusst herausfordert. Theaterpädagogische Praxis beginnt in Folge im Kopf, theaterpädagogisches Denken in der Praxis. Die diesen Vorgängen zugehörigen PraxisHaltungen zeigen sich in der Art und Weise, wie mit konzeptionellen und szenischen Prozessen umgegangen wird. Das subjekt- und wirklichkeitsüberschreitende Moment des Spiels, das ein Spielhaben der miteinander in Verbindung tretenden Kräfte voraussetzt, ist weder über die Reproduktion methodischer Modelle noch durch eine Nachahmung von theatralen Repräsentationen herzustellen. Es fordert vielmehr dazu auf, mit bekannten Methoden und bewährten Darstellungsstrategien zu spielen, um sie produktiv auf den jeweils konkreten Kontext beziehen zu können und die Prozesse des Produzierens so zu gestalten, dass dichte Momente einer suchenden Intensität erzeugt werden. Dies setzt voraus, dass dem Spiel ein experimenteller Status zugestanden wird, aus dem heraus sich Neues, Un-Gewusstes entwickeln kann. Ein Experimentieren mit dem Spiel bedingt, dass der Theaterpädagoge Teil dieses Geschehens wird. Indem er beginnt, Rahmen und Regeln für die gemeinsame Begegnung im Medium Theater zu setzen, schält sich ein vom Ereignis getragenes Ablaufgeschehen heraus, das er unter zwei Gesichtspunkten aufmerksam verfolgen muss: das Spielgeschehen selbst in seinen theatralen Qualitäten und die darin angelegten Reibungsmöglichkeiten mit dem Fremden/Anderen. Die darüber ausgelöste Dynamik zwischen dem Spiel und den Spielern, dem Spiel und dem Stoff erfordert von dem Theaterpädagogen Inter-

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aktionen und Interventionen, die die Spieler dazu anstacheln, sich selbst zu überholen. Die eigene Selbstüberholung, also die Erweiterung des eigenen Verhältnisses zu sich selbst durch das Öffnen neuer Erfahrungsfelder, ist sowohl in Übungssequenzen als auch in Improvisationen oder konzeptionellen Arbeitsschritten anzustreben und für alle Beteiligten, auch den Theaterpädagogen, einzulösen. Sie umfasst die Recherchepraxis ebenso wie das Einspielen von Texten und Kontexten in die gemeinsame Arbeit oder die Annäherungen an Erzählabsichten und Figurenkonstruktionen. Sie verdichtet sich im Spiel mit szenischem Material, Körper, Sprache und Imagination umfassend. In all diesen Bereichen steht die Verknüpfung von mentalen und körperlichen Bewegungsdynamiken im Mittelpunkt. Der Wechsel von explorierenden und präzisierenden Vorgehensweisen begleitet die Auseinandersetzung in den unterschiedlichen Feldern und transformiert sukzessive gedankliche und spielerische Ereignisse in theatrale Vorgänge sowie theatrale Ereignisse in gedankliche und spielerische Vorgänge. Selbstüberholung kann beginnen, wenn Rahmen und Regeln so ineinandergefügt werden, dass ein Spiel in eine Schwebe gerät, in der die Kräfte der Verunsicherung mit den Sicherheiten der äußeren Gegebenheiten, den Rahmenbedingungen des Spiels, in eine Balance finden. Verfahrensweisen, diese Schwebe herzustellen, sind immer zugleich Strategien eines vermeintlichen Umwegs. Sie können darin bestehen, dem Ensemble einerseits die größtmögliche Sicherheit in Form von klaren Spielregeln und einfacher Aufgabenstellung zu geben und den Einstieg in das Experimentierfeld Probe zu unterstützen. Ob die Spieler in einer ungezwungenen Atmosphäre einen entspannten Umgang teilen oder die Sicherheit und Klarheit einer bestimmten Vorgehensweise (zum Beispiel ausgedehnte Leseproben am Tisch oder eine sukzessive Übersetzung visueller Skizzen in den dreidimensionalen, bewegten Körperraum) Stabilität und Kontinuität suggerieren, ist Teil einer individuellen Probenstrategie, die reflektiert und variiert werden kann. Die andere Seite, die produktive Verunsicherung des anscheinend stabilen Gefüges, ist unerlässliche, ergänzende Triebfeder, um die Schwebe herzustellen und Selbstüberholungen in Gang zu bringen. Nach und nach kann sie die vermeintliche Sicherheit unterwandern, kann durch plötzliche Wechsel der Aufgabenstellungen, durch eine Änderung der Fragerichtung oder der gezielten Fokussierung eines Widerstands Teil der Probe werden und geregelte Grenzüberschreitungen hervorrufen. Die konstante Infragestellung der im Experiment gesammelten Erkenntnisse, das Verwerfen aller gefundenen szenischen Ideen, die permanente Neudefinition von Situationen oder Kontexten, die erschöpfenden, anscheinend aussichtslosen Versuche, sich eine fremde Körperpraxis einzuverleiben, einen verschlüsselten Sprachinhalt zu befreien, eine Entsprechung für einen Spielvorgang im eigenen Innen zu finden, müssen vorangetrieben werden, bis Motive gefunden sind, die dem Spieler einen

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Rahmen geben, in dem er bestimmte Erfahrungen erzeugen und immer wieder neu beleben kann. Der Wechsel von stabilisierenden und destabilisierenden Suchprozessen sichert Spannung und Entspannung in den einzelnen Spielfeldern, erlaubt, exploratives und konsolidierendes Spiel miteinander zu verschränken, und kennzeichnet die kulturelle Grunddisposition der Probenpraxis. Bei einer Vereinseitigung des Herangehens droht das Ensemble in selbstgefälligem Treiben oder ohnmächtiger Blockade zu erstarren. Von Überholungen des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses, von transformatorischen Bildungsprozessen kann dann nicht mehr die Rede sein. PraxisHaltungen des Theaterpädagogen sind Sicherheiten in der Schwebe. Das strategisch geschickt eingesetzte, absichtsvolle Spiel mit Versicherungen und Verunsicherungen des Subjekts heißt für den Theaterpädagogen, Rückkoppelungsprozesse auszuhalten, nicht gegen, sondern mit dem Widerstand der Spieler zu arbeiten, Vertrautheit in kollektive, künstlerische Reibung mit dem Anderen zu kanalisieren und gegebenenfalls Impulse gegen seine eigenen strategischen Irrwege setzen zu können. Die experimentelle Haltung zum Spiel ist zwingend gepaart mit einer souveränen Haltung zur Suche.

1 Z USAMMENFASSUNG DER E RGEBNISSE Eingangs der Untersuchung wurde gezeigt, dass künstlerische und pädagogische Strategien in Probenprozessen immer Hand in Hand gehen. Sobald über Wechselwirkungen von künstlerischen und pädagogischen Vorgehensweisen nachgedacht wird, Überlegungen zum Umgang mit Darstellern angestellt werden, die der Suche nach theatralen Ereignissen dienen, findet didaktisches Denken statt. Für die Gestaltung von Prozessen des Produzierens ist Handlungsfantasie gefragt, die Denken und Spielen produktiv aufeinander bezieht und das Anliegen verfolgt, den Spieler über die Verstrickung mit sich und dem Anderen in theatrale Prozesse zu führen. Mit der Verortung des Untersuchungsfelds innerhalb der allgemeinen Didaktik wurde eine bildungstheoretische Positionierung dargelegt und im Rahmen eines aktuellen Bildungs- und Subjektverständnisses begründet. Transformatorische Bildungsprozesse im Rahmen theaterpädagogischer Arbeit sind körpergebunden und sozial verankert. Der Einbruch des Anderen/Fremden als notwendige Voraussetzung für Veränderung und Entwicklung der Relationen zwischen Ich und Welt bedingt, Bildungsprozesse als Erfahrungskrisen zu verstehen, die intersubjektiv angelegt sind. Teil dieses intersubjektiven Gefüges ist in besonderem Maße die Person des Vermittlers. Mittels der Präsenz des Lehrenden überlagern sich in unterrichtsähnlichen Kontexten reale und fiktive Situationen, das gemeinsame Handeln wird durch die Annahme eines nur für den Unterricht konstruierten Problems, der Idee einer anderen räumlichen oder

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zeitlichen Situation begleitet. Der konstitutive Rahmen ›Unterricht‹ oder in der Theaterpädagogik ›Theaterprojekt‹ oder ›Probe‹ verknüpft die Erwartungen an das Geschehen innerhalb dieses Rahmens mit didaktischen Ansprüchen. Diese zeichnen sich durch Vorstellungen davon aus, was angesichts des Fremden/Anderen sein könnte. Der Lehrende, der Theaterpädagoge, vertritt exemplarisch den Status dieses Anderen und fordert die Andersheit der Lernenden, der Spieler, heraus. Zugleich findet das Gedanken- und Begegnungsspiel in realer Zeit und realem Raum statt, ist unmittelbar an die Haltung gebunden, mit der die dialogische Begegnung zwischen Spieler und Theaterpädagoge getragen wird. Es verweist aber immer auch auf noch unbekannte Situationen, in denen die hier und jetzt geöffneten Handlungs- und Bildungsspielräume zum Tragen kommen sollen. Die Antizipation einer nicht gewussten Zukunft gibt den theaterpädagogischen Spiel- und Denkbewegungen ihre spezifische Gestalt. Lehr-Lern-Gefüge als zugleich fiktive und reale Situationen, in denen das Andere/Fremde sich ereignet und zum Modus der Begegnung zwischen den Inhalten, Verfahrensweisen und den beteiligten Subjekten wird, machen Interaktionen und Interventionen zu Lerngegenständen, die nicht nur die Kultur des Lernens und Lehrens kennzeichnen, sondern transformative Bildungsprozesse stimulieren. Bildungstheoretisch unabdingbar ist eine Praxis der Solidarität, die für alle Beteiligten eine Freiheit des Sich-verhalten-Könnens erwirkt und fördert. Theaterpädagogische Zugänge zur Dramaturgie des Probens haben in dieser Ausgangslage ihr unhintergehbares Fundament. In der weiteren Betrachtung hat sich gezeigt, dass für kunstpädagogische Prozesse des Produzierens liminale Differenzsituationen entscheidende didaktische Wegmarken sind. Sie machen andere Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungsspielräume erforderlich, die partizipatorisch ausgerichtet und dadurch charakterisiert sind, dass sie »Denkweisen praktizieren, statt Wissen (zu) vermitteln« (Otto 1999b; 198). Partizipation wird unter diesem Gesichtspunkt erzielt, wenn »durch Einladung, Verlockung, Überwältigung, Schock und Gefährdung« die Devise, »den Schüler da abzuholen, wo er ist«, erweitert wird um die Dimension, »den Schüler dahin zu schicken, wo er noch nie war« (ebd.; 199). Partizipation innerhalb von Lehr-Lern-Situationen ist erst gegeben, wenn die Aktivität des Lernenden aus einer Haltung des Lehrenden erwächst, miteinander in ein gemeinsames Tun einzutreten. Sie ist die wechselseitige Teilhabe an den Prozessen des Anderen. Für Lehr-Lern-Situationen sind Übergänge und Anschlüsse, die diese Schwelle konfigurieren, zentral. Der Wechsel vom pädagogischen Modeparadigma des lebenslangen Lernens hin zu einem ergebnisoffenen, lebensverändernden Lernen kann demzufolge nur gelingen, wenn Lehren sich in performativen Akten vollzieht. Lehren in künstlerischer Praxis bedingt das Inszenieren einer Suche, die keinen didaktischen Gewissheiten vertraut, sondern durch die Schulung »in didaktischer Ungewissheit« (ebd.) Situationen in ihrem jeweils konkreten Kontext zu konzentrieren vermag. Eine transparente Be-

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schreibung von möglichen Suchprozessen in der Praxis wird damit zum wesentlichen Leitmotiv für fachdidaktische Anschlüsse. In Folge wurde nach der Charakteristik von bildungstheoretisch verankerten, performativen Lehr-Lern-Prozessen gefragt. Vor dem Hintergrund bestehenden Wissens kann für die Theaterpädagogik von einer Pendelbewegung ausgegangen werden, die den Prozessen des Produzierens im Medium Theater eingeschrieben ist. Alle für den theaterpädagogischen Theoriediskurs nennenswerten Autoren unterstreichen die Verortung ästhetischer Bildung im Medium Theater zwischen kategorialen Polen: zwischen Suchen und Finden, zwischen Spieler und Figur, Zwischen Körper-Haben und Körper-Sein, zwischen Produzieren und Reflektieren. Immer werden die dynamischen Kräfterelationen betont, die zu transformatorischen Bildungsprozessen Anlass geben. Dieser Pendelbewegung gilt es auf die Spur zu kommen, sie nicht aus dem Auge zu verlieren und in ihrem Eigenwert zu erkennen. Ästhetisch bildend sind unter dieser Prämisse ephemere Phänomene, die nicht durch einspuriges, zielgerichtetes Denken und Handeln befördert und eingelöst, sondern nur in einem Hin und Her divergierender Momente entfaltet werden können. Für eine theaterpädagogische Fachdidaktik ist dieses nichtlineare Verschränken von Vorgehensweisen und den damit korrespondierenden Spiel- und Denkprozessen konstitutiv. Innerhalb der dynamischen Pendelbewegung kann sich das Subjekt durch die ausgelösten Selbstbewegungen neu produzieren und reflektieren, sich manipulierender Mechanismen und habitualisierter Gewohnheiten vorübergehend entziehen und im Anschluss reformulieren. Der Theaterpädagogik ist daran gelegen, begünstigende Voraussetzungen für diese Bewegungen zu klären. Je präziser man diesbezüglich Auskunft geben kann, desto fassbarer werden Handlungsspielräume, die das Pendel in Bewegung setzen, in Gang halten und in inszenatorische Vorgänge weiterführen können. Die Wechselwirkungen, in die das Subjekt zu verstricken ist, können allerdings weder von definiten Subjekteigenschaften ausgehen noch lassen sie sich phänomenologisch eindeutig nachweisen. Von den gesuchten transformatorischen Bildungsprozessen ableiten lässt sich jedoch die Suche nach Bewegungsimpulsen, die subjektzentrierte und zugleich subjektüberschreitende Wirkungen ermöglichen. Theaterpädagogisches Handeln kann bildungswirksam werden, wenn Proben so konfiguriert sind, dass diese Bewegungsdynamiken in theatralen Prozessen erzeugt und in darstellerische Vorgänge übersetzt werden können. Eine didaktische Schnittstelle für die Beschreibung und Analyse solcher Bedingungsgefüge stellt das Spiel dar. Als paradoxales Prinzip ist es in dem Gefüge von Kunst, Pädagogik und Wissenschaft eine vermittelnde Instanz, deren Erforschung und Reflexion eine spielend denkende Haltung voraussetzt, will man das Wesen des Spiels nicht einseitig korrumpieren. Als Ausgangspunkt für eine offene Erforschung der Wechselwirklungen von Inhalt, Verfahrensweise und Interaktion in theatraler Praxis wird das Spiel zur Basisstation theaterpädagogischer Fachdidaktik.

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Die im Spiel aufeinandertreffenden und neu zu vernetzenden körperlichen und mentalen Prozesse machen es zu einem bildungswirksamen Phänomen. Spielinstinkt und Spielintelligenz drücken sich in Impulsen aus, die Spiele steuern und verändern oder subtil und subversiv unterwandern können. Gleichzeitig kann Spiel nur spielend erlernt werden, es bedarf der Praxis, um es gedanklich zu durchdringen. Sein Potenzial, eigene Sprachen auszubilden, zu entwickeln und immer wieder neu zu erfinden, macht es zu einem vermittelbaren und gleichzeitig anschmiegsamen Rahmen für theaterpädagogische Kontexte unterschiedlichster Couleur. Dem Spiel als Experiment kommt innerhalb dieser generativen Verfahren zur Ausbildung neuer Sprachlichkeiten ein besonderer Stellenwert zu. Im Medium der Kunst wird das Spiel erst produktiv, wenn es als ästhetisches Experiment gedacht und gemacht wird. Ästhetische Experimente sind an den sinnlichen Vollzug gebunden mit der Absicht, Sinn zu gestalten. Als neue Sinngebungsversuche im sinnlich-konkreten Material sind es Entwürfe ins Unbekannte, Unvorhergesehene. Ästhetische Experimente fügen sich durch je neue Konstellationen und Ordnungen in der Kombination bestimmter Materialien und Operationen an und mit diesem Material zu Kompositionen zusammen, die sinnfällig werden können. Im dargelegten Sinn ist das Experiment als Spiel wie auch das Spiel als Experiment ästhetische Praxis. Experimentelle Spielanlagen und Verfahrensweisen erfordern ein stabiles und solides Grundlagenwissen, aus dem heraus in flexibler und spontaner Reaktion Neues gewagt und in künstlerische Praxis vorgedrungen werden kann. Die Verantwortung für das Experiment liegt beim Theaterpädagogen. Durch seine Interaktionen und Interventionen wird die Probe zu einem Spiellabor und Experimentierfeld, in dem Versuch und Irrtum Platz finden, Erkundungen des wechselnden Zusammenspiels von Rahmen und Regeln durch Wiederholungen und Variationen thematisiert werden können, ein Möglichkeitsraum für subjektüberschreitende, unvorhergesehene Erfahrungen und überraschende, plötzlich auftauchende theatrale Ereignisse aufgehen kann. An diesen Schnittstellen treten künstlerische Prozesse und Bildungsmomente gemeinsam auf, werden Proben in ihrer theatralen Spezifik bildungsrelevant. Im ästhetischen Experiment, das auf transformatorische Bildungsprozesse baut, wirkt das kommunikative Tun direkt auf die Praxis des Produzierens ein. Die wechselseitige Einflussnahme aller Kräfte kann nicht determiniert werden, bedarf aber im Hinblick auf die konkreten Spieler und das angestrebte künstlerische Vorhaben eines kalkulierten Zusammenspiels. »Die ganze Fülle traditionellen und avantgardistischen Produzierens und auch alle möglichen außerkünstlerischen Methoden, Interessen und Ziele können«, so Lehnerer, »in Kunstwerken formal und inhaltlich zum Tragen kommen. Kunstwerke müssen keineswegs (und können auch gar nicht) abstrakt auf die Darstellung und Demonstration des freien kommunikativen Spiels reduziert sein. Im Gegenteil, je reich-

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haltiger, intelligenter und komplexer die Rahmenbedingungen künstlerischer Arbeit, desto interessanter die Kunst« (Lehnerer 1994; 113). Das didaktische Fundament kunstvermittelnder Praxis vereint demnach eine virtuose Handhabung des Spiels und seiner strukturellen Verfassung, Wissen und Fertigkeiten im Umgang mit künstlerischen und außerkünstlerischen Verfahrensweisen und das Engagement für eine Sache oder einen Inhalt, der mit den Spielern gemeinsam erkundet und bearbeitet werden soll. Unter methodischen Gesichtspunkten bewegen sich die didaktischen Kompetenzen der Kunstvermittlung also weder allein entlang der retrospektiven Kenntnis konkreter Verfahrensweisen künstlerischer Praxis noch im Feld allgemeingültiger Modelle konkreter Handlungsanleitungen. Das methodische Panorama entfaltet sich dazwischen, in der Vermittlung von Darstellung und Erzeugung, von Anleiten und Handeln. Es ist seinem Wesen nach performativ. Als performativer Prozess bezieht Lehren in künstlerischer Vermittlungspraxis »alle Sinnesbereiche ein. Er [der performative Prozess; ms] ist biographisch geprägt. Er ist subjektiv. Er stellt eher eine sowohl der Handlung vorausgehende wie handlungsgebundene Denkweise als ein Denkergebnis vor. Er macht einen Modus des Denkens sui generis wahrnehmbar, nicht aber sinnliche Erfahrung als Vorstufe begrifflichen Denkens« (Otto  1999b; 201). Die Bildungsbedeutung des Theaterspielens ist demzufolge nicht allein in singulären schauspielerischen Akten zu lokalisieren, sondern bedarf ergänzender PraxisHaltungen, aus denen heraus Spiel- und Denkvorgänge theatraler Praxis geschickt ineinander verzahnt werden. Diese können, so wurde dargelegt, insbesondere in solchen Probenprozessen zur Anschauung kommen, die konzeptionelle und situative Praxis miteinander ins Spiel bringen und beide Komponenten in Probenprozessen verketten und verknüpfen. Für die Analyse von Probendokumenten wurden Kategorien gebildet und beschrieben, die zentrale Spielräume in Probenprozessen berücksichtigen. Mit dem Augenmerk auf liminalen Differenzsituationen und Kippmomenten in der Wahrnehmung sind zwei zentrale Bereiche für die Untersuchung von besonderem Interesse gewesen: Transformationsprozesse zwischen Nicht-Spiel und Spiel sowie zwischen Spiel und Spiel. Ergänzend wurde das Zusammenspiel von Regie und Spieler befragt. PraxisHaltungen konnten so entlang von Rahmungen, Kontexten und Konstruktionen sowie in den Spielen um Körper, Sprache und Imagination systematisch ausgeleuchtet werden. In allen Kategorien kamen konzeptionelle und situative Aspekte zur Sprache, die abschließend um Perspektiven auf diese Probenpraxis aus Sicht von Beobachtern, den Regisseuren selbst und von Schauspielern ergänzt wurden. Die Analyse von Probendokumenten aus der Praxis von George Tabori, Robert Wilson und Peter Brook hat gezeigt, dass, bei aller Verschiedenartigkeit der drei Regiestile, ähnliche Prinzipien erkennbar werden. Die Pendelbewegung wird durch jeweils spezifische Spielarten der Ima-

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gination ausgelöst und kann charakterisiert werden als ein Hin und Her zwischen: Ň Auffüllen und Reduzieren von Kontexten, mit denen gespielt werden kann Ň alltäglichen und artifiziellen Wirklichkeitskonstruktionen im Spiel Ň simplen und komplexen Darstellungs- und Erzeugungsstrategien Ň individuellen Erfahrungen und kollektiver Vergesellschaftung Ň assoziativen und dissoziativen Prozessen Ň Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Handelns Ň kontrolliertem und unkontrolliertem Geschehenlassen der Ereignisse Leerstellen zu finden, in denen das Spielgeschehen selbst die Führung übernimmt und innere wie äußere Wirklichkeit in einen Prozess des unvorhersehbaren Nicht-Wissens eintreten, sind Wegmarken und Ziele im Spiel mit den verschiedenen Kräftefeldern theaterpädagogischen Handelns. Spielend Lehren. Den Einbruch des Fremden in die Lehrsituation an der Lehrperson selbst festzumachen, zeichnet Unterricht als eine besondere Konstruktion von Wirklichkeit aus. In diesem realen »Als-ob«, das den paradoxen Rahmen der Situation kennzeichnet, findet eine Suche nach konzentrierten Ereignissen statt, die das Subjekt transformieren und es zur Auseinandersetzung mit dem Fremden/Anderen anregen. Unterricht und Unterrichten sind folglich dem Wesen nach analog zu Spiel und Spielen. Lehre und Theater überschneiden sich in besonderer Weise im Modus des Spiels, denn hier werden sowohl Bildungsprozesse angeregt als auch theatrale Darstellungsereignisse produziert. In der Theaterpädagogik ist die Verbindung beider Seiten konstitutiv. Der Versuch, theaterpädagogische Zugänge zu einer Dramaturgie des Probens dennoch begrifflich zu konkretisieren und be-greifbar zu machen, war ein Anliegen der Untersuchung. Für eine kunstpädagogische Didaktik wird hier der Vorschlag unterbreitet, Spielen und Denken als miteinander hervorzubringende Tätigkeiten der Vermittlung zu verstehen. Auf  diesen beiden miteinander verschränkten Parametern bauen sich PraxisHaltungen auf. Sie bringen didaktische und ästhetische Prozesse gemeinsam hervor und zielen auf die Ausbildung einer Sprachkompetenz, die im und durch das Spiel gebildet wird, zugleich aber die Wirklichkeit jenseits des Spiels in diese Praxis einbezieht. Damit kann sie transformatorische Bildungsprozesse auslösen, die sozial wirksam werden und die eigene soziale Definition in einer anderen Sprachlichkeit, jener der künstlerischen Praxis, thematisieren und neu zur Sprache bringen. Die PraxisHaltungen des Theaterpädagogen spielen und denken mit Bausteinen aus beiden Wirklichkeitsbereichen und schaffen unerwartete, überraschende Bezüge, die definitorische Setzungen in die Schwebe bringen. »Eine Kunst im sozialen Interesse braucht subversives Know-how und ein Gespür für parado-

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xe Wendungen. Sie braucht Agenten, die den Subjekten gegenüber verpflichtet sind, aber nicht dulden, dass der Eigensinn der Künste durch subjektivistische Aneignung entschärft wird, die dafür sorgen, dass der durch künstlerisch-theatrale Interventionen eingeleitete Bildungsprozess bewusst wird, sich in die Herzen gräbt, das Denken prägt« (Seitz 2005; 40). Ohne das Einhalten dieser Konstituenten kann die Theaterpädagogik ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen. Das Selbstverständnis des Theaterpädagogen baut darauf auf, unterschiedliche Spielräume öffnen und Spiel in der Schwebe halten zu können, verschiedene Spielfelder zu besetzen, Spielstrategien im Verlauf einer Probe zu revidieren, zu verwerfen oder neue zu etablieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit erprobten Verfahrensweisen, auf die das eigene Vorgehen bezogen werden kann, gibt dem Theaterpädagogen dann förderliche Impulse, wenn daraus didaktische Fantasien für die eigene experimentelle Praxis entspringen. Der Wert der Bezugnahme auf überlieferte theatrale Praktiken und Künstlertheorien liegt nicht in der sukzessiven Einverleibung vorgestanzter Denk- und Spielsysteme, wie es methodische Systeme häufig nahelegen. Entscheidend ist die Durchdringung der Bedingungen und des Regelwerks, mit denen jeweils ein Umgang gesucht wird, um von dort aus in einer experimentellen Haltung neue Spielversuche zu unternehmen. Sieht man mit fragendem Blick auf Selbstbewegungsprozesse, die das jeweilige Vorgehen anregen oder eben verhindern und ausblenden, kann neben der Einschätzung des Werts eines Verfahrens für bestimmte Probenkonstellationen und -situationen abgewogen werden, wie ein eigenständiger Zugriff zielgerichtet Veränderungen in den Spielanlagen verursacht. In der eigenen, spielend denkenden Adaption von Verfahrensweisen geht es darum, den potenziellen Wert einer Methode aufzuspüren, um sie für das jeweilige Vermittlungsinteresse bewusst zu machen und entsprechend reflektiert analoge oder abgewandelte experimentelle Spielanlagen in den Vordergrund zu stellen. Die Kunst des Spielens ist auf diesem Weg in vielerlei Hinsicht gefragt: Der besondere Umgang mit körperlichen und sprachlichen Mitteln steht im Zentrum des Schauspiels. Darstellerische Vorgänge, die erst als gespielte ihre Wirklichkeit entfalten, sind handlungsleitend: das Spiel mit Imaginationen, der besondere Raum- und Zeitaspekt theatraler Ereignisse inklusive der Situation des Miteinanders eines Ensembles, die Selbstverdoppelung im Spiel-Zeige-Vorgang, die Kopräsenz von Eigenem und Anderem/Fremdem etc. Die der Schauspielpraxis immanenten Spielprozesse und -techniken bieten vielfältige Anknüpfungsflächen und können von der Theaterpädagogik ausgeschöpft werden. Der schauspielmethodischen Perfektion, der Könnerschaft oder dem Handwerk übergeordnet steht in theaterpädagogischen Probenkontexten die im spielerischen Zugriff erzeugte Kluft zur Wirklichkeit jenseits des Spiels. Diese erlaubt erst, das Spiel als eigene Wirklichkeit zu entfalten.

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Schauspielmethodische Konzepte und Darstellungsstrategien können Anlass für theaterpädagogische Probenpraxis werden, wenn neben der affirmativen Angleichung an Verkörperungstechniken des Schauspielers eine Suche nach Spielmomenten und -motiven beginnt, die in der theatralen Praxis tragfähige eigene Erfindungen auf der Basis darstellerischer Strategien generiert. Von didaktischem Wert wären zum Beispiel die hinter den Inhalten und Zielen schauspielmethodischer Konventionen verborgenen Konstruktionsregeln. Dies hieße, die PraxisHaltungen von Tabori, Wilson und Brook als Anregung zu verstehen und mit ihren konzeptionellen und praktischen Ansätzen von Darstellung und Verkörperung zu spielen. Aufzuzeigen, wie beispielsweise epische Momente platziert werden können oder wodurch die Diskrepanz zwischen Spieler und Figur in theatralen Situationen sichtbar wird, könnte in der szenischen Verwendung ein Spiel mit Unterbrechung, Reflexion und Irritation von theatralen Konstrukten ergeben. In den Darstellungsprozess integriert, bieten sie Spiegelungen und Brechungen der eingegangenen Illusionen oder angenommenen Wirklichkeiten an und werden wiederum selbst zum Spielmaterial. In der theaterpädagogischen Probenpraxis gilt es, die darin enthaltenen Differenzerfahrungen zu »radikalisieren«, indem mit dem »Raum zwischen den Darstellern und dem Dargestellten« gespielt, er vergrößert, beweglich gehalten und sichtbar ausgestellt wird (vgl. Hentschel 2004; 53). In der theaterpädagogischen Praxis geht es weniger um die Entwicklung und das Präsentieren einer schauspielerischen Exzellenz, sondern um künstlerische Praxis, die das Spiel als ambivalentes und ambigues Erfahrungsfeld nutzt und die Kontexte der Spieler dort so einspielt, dass andere Erfahrungen gemacht, neue Sichtweisen erzeugt und unverwechselbare theatrale Ereignisse gezeigt werden können. Spiele mit den Referenzräumen der nichtprofessionellen Darsteller, biografische Aspekte, habitualisiertes Verhalten, Ansichten und Fantasiewelten der Akteure sind Teil theaterpädagogischer Probenplanung und -reflexion. Sie können ins Spannungsverhältnis zu den schauspielerischen Vorgängen gebracht werden und diese – offensichtlich oder subtil – unterwandern. Mindestens zwei Komponenten lassen sich unterscheiden: zum einen die Relation der Spieler zum Stoff, der auf der Bühne verhandelt wird, zum anderen der Status des vorgegebenen Spiels. Ist Erstes ausgerichtet auf die Fragen »Was und wie denke ich?«, wäre Zweites stärker gebunden an ein »Was und wie spiele ich?«. Die gedanklichen Konstrukte der Spieler in die Darstellung einzubinden kann bei kleinen Randbemerkungen beginnen, die Teile des Spielplots werden. Sie lassen sich weiterentwickeln bis hin zum Spiel mit Behauptungen und Reaktionen, deren realer Gehalt von den fiktionalen Aussagen und Handlungen ununterscheidbar ist. Das Spiel mit dem Spiel manifestiert sich, wenn der Fortlauf der Handlung infrage steht. Die Unterbrechung, der Spielabbruch, das Aussteigen aus der vermeintlich geplanten Inszenierung sind hierfür beispielhafte, bekannte Motive. Von besonderem Interesse ist die Zeitspanne danach: Was geschieht? Wie wird das Scheitern vor

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Zuschauern thematisiert, wie damit umgegangen? Was kann in solchen Momenten von der Realität – oder der behaupteten Realität – der Darsteller neu und anders sichtbar werden? Wo werden Maskierungen und Demaskierungen zu theatralen Spielprozessen, die den Blick auf das Geschehen in eine überraschende Wendung bringen? Der Spielrahmen, der das Als-ob theatraler Darstellung konstituiert, wird dabei immer wieder zur ambivalenten Grenze, auf der lustvoll balanciert werden kann. Diese Balance löst in der Kommunikation mit dem Zuschauer die Frage aus: Was glaube ich wem, wie und wodurch? Die Spieler andererseits können eine Souveränität gegenüber ihrem Publikum gewinnen, die ihnen eine Spielpraxis jenseits fest verabredeter Spielzüge ermöglicht. Beide Komponenten thematisieren und bespielen die oszillierende Bühnenrealität, die in theaterpädagogischen Projekten durch soziale, kulturelle oder biografische Aspekte der Darsteller von vornherein einen Unterschied zum professionellen Schauspiel markiert.

2 K ONSEQUENZEN Für die theaterpädagogische Arbeit sind PraxisHaltungen zu finden, die produktive Zumutungen für die Spieler sind. Dies ist immer mit einem Abwägen verbunden, was in und mit einer konkreten Gruppe riskiert werden kann, um eine ergebnisoffene Suche anregen, dringlich machen und Selbstüberholungen damit auslösen zu können. Das Entwickeln von konstruktiven Verunsicherungsprozessen setzt voraus, dass der Theaterpädagoge Verfahrensweisen von Spiel und Theater kennt, darin eigene PraxisHaltungen formulieren und auf die Probe stellen kann. Verfahrenskenntnisse sind so immer unter der Folie der eigenen Resonanz auf bestimmte pädagogische und künstlerische Handschriften, auf ein eigenes Klangspektrum des Handelns und der Haltungen ausgerichtet. Sie setzen an den Erfahrungen, die das Subjekt im Spiel damit machen kann, an, stellen Korrespondenzen und Resonanzen zwischen Subjekt und Vorgehensweise ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Erfahrungskrisen anzuregen und in szenisch-theatrale Praxis übersetzen zu können bedingt, die Modelle des Vorgehens variieren und verwandeln zu können, sodass sie für beide Seiten, Spieler und Theaterpädagogen, neue, andere Erfahrungen generieren. Die Auswahl von bevorzugten Verfahrensweisen bedingt aber auch eine Haltung, die bestimmte Mentalitäten zur Praxis schafft. Theaterpädagogische Verfahrensforschung und Verfahrensfindung werden zum dynamischen Prinzip, in dem fremde Praxis mit eigenem Denken zu verbinden ist, eigene Praxis durch Wissen um andere Verfahrensmöglichkeiten spielend neu verhandelt wird. Dabei wird die eigene andere Praxis im Spiel hervorgebracht und in Folge Haltungen zur eigenen Praxis infrage gestellt, neu befragt. Wesentlich daran sind die Lust und Neugier, mit Verfahrensweisen zu spielen und sie für eine konkrete Probenpraxis produktiv machen zu können.

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Kohärenz von Widersprüchen. Im Spiel mit Perspektivwechseln kann der Theaterpädagoge Widersprüche offenlegen und über ein Hin und Her die Zusammenhänge von eigenen und anderen Haltungen bewusst machen. Durch eine konsequente Infragestellung von habitualisierten Denk- und Spielweisen können so ungewohnte Haltungen generiert werden, die mit veränderten Darstellungs- und Erzeugungsstrategien interferieren. Nutzt er den forschenden Blick zugleich szenisch und dramaturgisch, können Erzählanliegen Fragen an einen Stoff thematisieren, statt Lösungen und Antworten aufzeigen zu wollen. Werden Wirklichkeitsverhältnisse konterkariert, begibt sich der Theaterpädagoge in ein Feld von gegenläufigen Ansprüchen und Anforderungen an ihn und seine Vermittlungsaufgabe. Indem er nicht gegen Widerstände arbeitet, sondern Reibung zwischen widersprüchlichen Kräften fordert, kann er diese Widersprüche aushalten und ausbalancieren. Sie werden zum Motor für experimentelle Haltungen und die Begegnung mit dem Fremden im Eigenen. Wo Unsicherheiten in der Gruppe existenziell werden, darf die Suche nicht ziellos erscheinen, der Theaterpädagoge muss gerade dann eigenen Verunsicherungen produktiv begegnen und Wege ersinnen, die theatrale Darstellungsstrategien erkennbar und begreifbar machen. Die Verunsicherungen offenlegen kann er dort, wo Sicherheit kein für die eigene PraxisHaltung und die Dramaturgie des Probens nutzbringendes Moment darstellt, sondern durch das Aufheben von für sicher gehaltenen Konstruktionen dem Ensemble ein offener Spielraum übergeben wird. Dies wiederum gestattet, neue Handlungs- und Bildungsspielräume gemeinsam mit dem Ensemble zu erschließen und folgerichtig auszuspielen. Krisenfest und didaktisch fantasievoll interagieren zu können bedeutet, mit der Gruppe gegen die Gruppe zu arbeiten, indem der Theaterpädagoge gewohnte Handlungsmuster, Vermeidungsstrategien und das bekannte Eigene lustvoll und spielerisch durchkreuzt. Eine gemeinsame experimentelle Suche anzuregen und zu entwickeln gehört zu den Aufgaben zwischen Regie und Spiel, die sowohl Führungsverantwortung als auch aktive Nichtinanspruchnahme der Führung verlangen, jeweils getragen von der Verantwortung für den Anderen. Kalkül der Gegensätze. Pendeln zwischen Regie und Spiel, verantwortlich führen und ergebnisoffen suchen, gestalten und Gestaltung dekonstruieren, all dies zeichnet die gegensätzlichen Kräftefelder aus, zwischen denen der Theaterpädagoge vermittelt. Das Spiel mit dem Bruch, der Unterbrechung, der Verkehrung von realen und fiktiven Elementen erzeugt einen Wechsel der Aufmerksamkeiten für die Konfliktfelder, in die der Spieler verwickelt werden kann. Die einzelnen theatralen Mittel so einzusetzen, dass sowohl Trennen als auch Synthetisieren von Spielvorgängen bewusst vollzogen und dramaturgisch verknüpft werden kann, gibt szenischen Ereignissen Gestalt. Geschick und Gespür für das Maß, in dem unterschiedliche Prozesse in Gang gesetzt werden, die ein Spielhaben der Kräfte bewirken und selbst-

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und wirklichkeitsüberschreitendes Potenzial generieren können, wird in der Reflexion von PraxisHaltungen ausgebildet. Sich so oft wie möglich zu widersprechen, immer wieder das Gegensätzliche und Unerwartete zu tun ist generelles Leitmotiv der Arbeit. Nicht  vorhersehbar zu machen, was als Nächstes passieren wird, gegen seine Erwartungen zu agieren, entspricht dem Aufbau von Codes und ihrer permanenten Zerstörung. Thema und Variation sind, wie in der Musik, die elementaren künstlerischen Prinzipien. Im aufmerksamen Hin und Her zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Führen und Folgen entdeckt und generiert sich bildungswirksame Theaterpraxis zwischen Theaterpädagoge und Spielern. Perzeptive Multistabilität von PraxisHaltungen. Ausschlaggebend für theaterpädagogische PraxisHaltungen ist das Vermögen, die unterschiedlichsten Anforderungen von Probenkonstellationen zu reflektieren und darauf praktisch zu antworten. Den Dialog in aller Klarheit und Deutlichkeit führen zu können impliziert, über ein Repertoire an Verfahrensweisen zu verfügen, die je nach Situation bewusst ausgewählt, angepasst und so verändert werden können, dass sie die Zusammenarbeit produktiv machen und experimentelle theatrale Praxen hervorbringen. Ein Wechsel der eingesetzten Interaktionen und Interventionen darf unberechenbar und plötzlich erfolgen, dient aber immer der Begegnung zwischen Spieler, theatraler Praxis und Theaterpädagoge, die sich am Anderen reibt. Wesentlich für theaterpädagogische PraxisHaltungen ist, dass es völlig verschiedene Seiten gibt, die zum Kippen kommen können. Obwohl Haltungen sich aus diesen verschiedenen Facetten zusammensetzen und unterschiedliche didaktische Prinzipien und Handlungsstrategien umfassen, darf nicht nach einer Harmonisierung und Verschmelzung der divergierenden Aspekte gesucht werden. So unberechenbar wie möglich und so stabil wie nötig in der persönlichen Haltung zum Spiel, zum Verfahren/Vorgehen, zum Gegenüber/Mitspieler zu sein und zu bleiben führt zu einer multiperspektivischen Verbindung zwischen künstlerischer Verfahrensweise und spielendem Subjekt. Sie macht sich am spielenden Denken des Theaterpädagogen fest. Praxis braucht Haltung. Je reflektierter, desto besser. ›Reflektiert‹ heißt auch, auf heutige gesellschaftliche Situationen bezogen zu bleiben, sich darin Widerborstigkeit zu leisten, nicht gefallen zu wollen, sondern um Freiheit zu ringen – weniger für sich als für den Anderen. Der Perspektivwechsel als Modus in den Transformationen von Spiel zu Nicht-Spiel sowie von Spiel zu Spiel ist verwurzelt in dem Potenzial des Theaterpädagogen, mehrperspektivische Spielprozesse anzuleiten. Werden dabei Dargestelltes und Darzustellendes nicht durch eine einzelne Verfahrensweise homogenisiert, sondern durch diese Multiperspektivität stark gemacht, ist der Weg für eigenständige theaterpädagogische Didaktiken und originäre Inszenierungen vorbereitet.

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Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance Februar 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen August 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten April 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Nicole Colin Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945 Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer Juli 2011, ca. 768 Seiten, kart., mit CD-ROM, ca. 55,80 €, ISBN 978-3-8376-1669-9

Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Juni 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Karin Nissen-Rizvani Autorenregie Theater und Texte von Sabine Harbeke, Armin Petras/Fritz Kater, Christoph Schlingensief und René Pollesch Juli 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1731-3

Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Juni 2011, ca. 420 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6

Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen

Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike

2010, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1585-2

2010, 376 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6

2010, 378 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1413-8

Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart

Stefan Tigges Von der Weltseele zur Über-Marionette Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung

2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5

Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform Einar Schleefs Chor-Theater

2010, 450 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1138-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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